Gelebtes Denken 3849817326, 9783849817329

Am 4. Juni 2021 jährt sich der Todestag des bedeutenden Philosophen, Literaturhistorikers und politischen Theoretikers G

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German Pages [229] Year 2021

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Gelebtes Denken (Georg Lukács im Gespräch über sein Leben)
Georg Lukács: Gelebtes Denken
Georg Lukács: Die ontologischen Grundlagendes menschlichen Denkens und Handelns
Agnes Heller: Der Schulgründer
Werner Jung: Die Fortsetzung von etwas. Nachwort zu »Gelebtes Denken«
Drucknachweise
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Gelebtes Denken
 3849817326, 9783849817329

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Georg Lukács

Gelebtes Denken

Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung

AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2021

Abbildung auf dem Umschlag: Georg Lukács (undatiertes Foto, ca. 1970) © ullstein foto

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2021 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Alle Rechte vorbehalten © The Lukács Estate (Mosóczi Zoltán) Budapest, 2016 e-mail: [email protected] All rights reserved Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Ebook ISBN 978-3-8498-1733-6 Print ISBN 978-3-8498-1732-9 www.aisthesis.de

Inhaltsverzeichnis Gelebtes Denken (Georg Lukács im Gespräch über sein Leben) [1965 – 1971] ........................................................................................

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Georg Lukács Gelebtes Denken [1970 – 1971] ........................................................................................ 157

Georg Lukács Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns .......................................... 183

Agnes Heller Der Schulgründer ................................................................................ 197

Werner Jung Die Fortsetzung von etwas Nachwort zu »Gelebtes Denken« ........................................................ 215

Drucknachweise ....................................................................................... 222

Gelebtes Denken (Georg Lukács im Gespräch über sein Leben) [1965 – 1971]

Redaktionelle Anmerkung Als Georg Lukács über seine verhängnisvolle Krankheit informiert wurde, unternahm er außerordentliche Anstrengungen, um die Korrekturen an seiner Arbeit Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins in beschleunigtem Tempo noch abschließen zu können. Die schnelle Verschlechterung seines Zustands hinderte ihn allerdings daran, diese ihm so wichtige Arbeit in der gewohnten Intensität durchführen zu können. In dieser Zeit machte er sich an die Skizzierung seines Lebenslaufs, teils wegen der damit verbundenen geringeren theoretischen Inanspruchnahme, teils um damit einem Wunsch seiner verstorbenen Frau nachzukommen. Nachdem die Skizze fertig war, zeigte es sich deutlich, daß er zu ihrer Ausarbeitung keine Kraft mehr haben würde. Die Tätigkeit des Schreibens selbst erwies sich als eine Aufgabe, die seine physischen Kräfte in zunehmendem Maße überstieg. Da er aber ein Leben ohne Arbeit nicht ertragen hätte, folgte er dem Rat ihm nahestehender Schüler und sprach seinen Lebenslauf auf Tonband, indem er aufgrund seiner biographischen Skizze (Gelebtes Denken) unter zunehmendem physischem Verfall auf Erzsébet Vezérs und meine Fragen antwortete. Derartige Tonbandinterviews hatten wir früher auch schon mit Georg Lukács (vor allem 1969) gemacht. Bei der Zusammenstellung und redaktionellen Bearbeitung verfolgte ich zwei Ziele. Zum einen wollte ich lückenlos den Inhalt der Interviews wiedergeben, das heißt all das, was Georg Lukács für wichtig hielt, über sich und seine Zeit zu sagen. Zum anderen bemühte ich mich um einen lesbaren und zusammenhängenden Text. Deshalb nahm ich bei den Tonbandinterviews außer den üblichen stilistischen Korrekturen auch strukturelle Veränderungen vor. Nach Möglichkeit ordnete ich die Textteile chronologisch an. Bei Wiederholungen entschied ich mich für die ausdrucksintensivere und vollständigere Variante. An manchen Stellen entschied ich mich statt der entsprechenden Formulierungen von 1971 für die Ausdrücke und Episoden früherer Interviews, und zwar vor allem deshalb, weil Georg Lukács 1969 noch im Vollbesitz seiner Ausdruckskraft war. Stellenweise modifizierte ich entsprechend der Antwort die Fragen und behandelte die Fragen der beiden Interviewer, als stammten sie nur von einer Person. In die biographischen Ausführungen fügte ich auch einige theoretische Erörterungen ein, weil diese Exkurse Georg Lukács selbst an der Schwelle des Todes genauer charakterisieren als alles andere.

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Im philologischen Wortsinn sind die von mir publizierten Interviews also nicht »authentisch«. Sie sind aber authentisch in dem Sinn, daß alle Äußerungen durch Tonbandaufnahmen abgesichert sind. Ich habe auf die Publikation all jener Darlegungen verzichtet (selbst wenn ich mich an Gespräche genauestens erinnern kann), die ich nicht dokumentieren kann. Zur Authentizität gehört auch, daß ich zwischen den Äußerungen Georg Lukács’ keine inhaltliche Auswahl getroffen habe. Ich sah mich weder durch politische Überlegungen noch durch andere Rücksichten zu einer zensierten Auswahl veranlaßt. Während der Arbeit am Interviewtext wurde ich nicht nur dadurch ermutigt, daß ich bereits zu Lebzeiten von Georg Lukács für diesen ähnliche Arbeiten erledigt hatte, sondern auch dadurch, daß ich nach meiner Einschätzung im Geiste Georg Lukács’ vorgegangen bin. Denn sein ganzes Leben lang hielt er von jener Art Treue, die sich die Wiedergabe des Wesentlichen einer Form oder eines Prozesses zum Ziel setzt, mehr als von einer Buchstabentreue und einer philologischen Pedanterie. István Eörsi

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Georg Lukács im Gespräch über sein Leben

I Kindheit, Berufsbeginn INTERVIEWER: Ich glaube, wir halten uns am besten an die Chronologie des Lebenslaufs. Als Ausgangspunkt betrachten wir »Gelebtes Denken«. LUKÁCS: Ich bin der Ansicht, meine Entwicklung ist Schritt für Schritt vor sich gegangen, und ich glaube, wenn man sich damit befaßt, dann sollte man das am besten chronologisch tun, denn die Dinge hängen sehr stark in meinem Leben zusammen. So muß man eigentlich dort beginnen, wo die Entwicklung ihren Anfang nimmt. INTERVIEWER: Die ersten beiden Sätze über Ihre Kindheit lauten wie folgt: »Aus rein jüdischer Familie. Gerade darum: Ideologien des Judentums gar keinen Einfluß auf geistige Entwicklung.« Das »gerade darum« verstehe ich nicht. LUKÁCS: Die Familien aus der Leopoldstadt waren in religiösen Fragen vollkommen gleichgültig. Dementsprechend interessierte uns die Religion eigentlich nur insofern, als sie ein Teil des häuslichen Protokolls war, als sie bei der Eheschließung und bei der Abwicklung sonstiger Zeremonien eine Rolle spielte. Ich weiß nicht, ob ich schon jene Anekdote erzählt habe, daß mein Vater am Anfang der zionistischen Bewegung sagte, daß er bei Konstitution des jüdischen Staats Konsul in Budapest sein wolle. Mit einem Wort, bei uns herrschte der jüdischen Religion gegenüber vollkommene Gleichgültigkeit. INTERVIEWER: Demnach, Genosse Lukács, haben Sie in der Leopoldstadt gewohnt? Wo haben Sie dort gewohnt? LUKÁCS: Ich habe nicht in der Leopoldstadt gewohnt, sondern in der Gegend der Andrássy ut. In der Andrássy ut 107, dann in der Nagy János utca 11. INTERVIEWER: Mit der Bezeichnung »Leopoldstadt« wollten Sie also eine Gesellschaftsschicht markieren? LUKÁCS: Die Umgebung der Andrássy ut lag damals an der Peripherie der Leopoldstadt. In der Umgebung der Andrássy ut lebten die vornehmen Leopoldstädter. INTERVIEWER: Es gibt hier auch einen Hinweis auf eine andere Anekdote: »Geschichte mit Kinderfrau«.

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LUKÁCS: Die Geschichte deutet eine wichtige Sache an. Ich lehnte alles Protokollmäßige vollkommen ab. Und zum Protokollmäßigen gehörte meines Erachtens auch der Kontakt mit Tanten und Onkeln. Meine Mutter erzählte, ich hätte als ganz kleines Kind immer gesagt: »Fremde Gäste grüß’ ich nicht, ich hab’ sie nicht gerufen.« Das Protokoll beginnt da, wo man sich damit abfindet, daß man fremde Gäste begrüßen muß. Dessenungeachtet habe ich einen Beweis dafür, daß man mit mir auch in meiner Kindheit reden konnte, wenn man die entsprechende Art und Weise dafür fand. Wir hatten eine alte Kinderfrau, die uns beim Spielen beaufsichtigte. Ich fragte sie einmal, wo sich dieses und jenes Spielzeug befände. Sie antwortete mir: »Schorsch, es ist dort, wo Sie es hingelegt haben.« Und dieses »wo Sie es hingelegt haben« beeindruckte mich zutiefst, weil mir bisher von den Erwachsenen immer nur Unsinn gesagt worden war, wie zum Beispiel, ich müßte zu Tante Irma »Küß die Hand« sagen. Das Spielzeug sei dort, wohin ich es getan hätte, das war vernünftig, darauf konnte man hören. Und ich erinnere mich auch tatsächlich nicht daran, in meiner Kindheit sehr unordentlich gewesen zu sein. Das setzte ich dem Protokoll entgegen. Zum Protokoll gehörte ja übrigens die Heuchelei dazu. Unsere Eltern nahmen uns Kinder auf eine Reise durch Europa mit. Wir waren in Paris und London, und überall führten sie uns in die Gemäldegalerien. Ich hielt das für den Gipfel der Heuchelei, weil mich in den Gemäldegalerien absolut nichts interessierte. Dafür wußte ich aber, daß es in London einen ausgezeichneten Zoo gibt. Ich meinte also, wir sollten in den Zoo gehen! Ich verübelte es meinem älteren Bruder schrecklich, daß er die Galerie akzeptierte und keine Sehnsucht nach dem Zoo hatte. INTERVIEWER: Und wie geht das vor sich, daß man zu guter Letzt den fremden Gast dennoch begrüßt? LUKÁCS: Ich hatte es satt, daß nach jedem fremden Gast ein großer Krach und ein großer Skandal ausbrachen, und ich dachte bei mir, es sei ja nichts dabei. Warum also sollte ich zu jener Tante Irma nicht »Küß die Hand« sagen? Das sei Protokoll. Aber warum sollte ich mich deshalb mit der Familie verkrachen? INTERVIEWER: Ähnlich dachten Sie, als Sie von Ihrer Mutter in die Holzkammer gesperrt wurden. LUKÁCS: Gegen meine Mutter führte ich einen Partisanenkrieg. Meine Mutter war nämlich streng mit uns. In der Wohnung gab es eine Holzkammer, eine Dunkelkammer. Es gehörte zu den Strafen meiner Mutter, daß sie uns dort einsperrte, bis wir sie um Verzeihung baten. Meine Geschwister baten auch sofort um Verzeihung, während ich scharf differenzierte. Wenn sie mich morgens um zehn einsperrte, dann bat ich fünf Minuten nach zehn um Verzeihung, und alles war in Ordnung. Mein Vater kam

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um halb zwei nach Hause. Meine Mutter vermied es nach Möglichkeit, daß es bei der Ankunft meines Vaters Spannungen gab. Dementsprechend hätte ich um nichts in der Welt um Verzeihung gebeten, wenn ich nach ein Uhr eingesperrt wurde, weil ich wußte, daß ich fünf Minuten vor halb zwei auch herausgelassen werden würde, ohne um Verzeihung gebeten zu haben. INTERVIEWER: Eine andere charakteristische Anekdote beschreibt, wie Sie lesen gelernt haben. LUKÁCS: Ach ja, das ist eine amüsante Geschichte. Mein Bruder war ein Jahr älter als ich, und er wurde natürlich privat im Lesen unterwiesen. Ich setzte mich ebenfalls an den Tisch, meinem Bruder gegenüber, und lernte aus dem umgekehrt liegenden Buch ebenfalls lesen. Aus dem umgekehrt liegenden Buch lernte ich eher lesen als mein älterer Bruder. So mußte ich dann dem Unterricht fernbleiben. Erst nach mehr als einem Jahr wurde mir erlaubt, auf normale Weise zu lesen. INTERVIEWER: Können Sie sich an Ihre erste Lektüre erinnern? LUKÁCS: Das erste Leseerlebnis beeinflußte mich, als ich neun Jahre alt war. Ich las damals die ungarische Prosaübersetzung der Ilias. Sie machte mir einen gewaltigen Eindruck, weil ich für Hektor Partei ergriff und nicht für Achilles. Zur selben Zeit las ich auch Der letzte Mohikaner. Beide Bücher hatten für mich große Bedeutung. Denn obwohl mein Vater ein sehr anständiger und ordentlicher Mensch war, vertrat er doch als Bankdirektor die Weltanschauung, daß das Kriterium richtigen Handelns der Erfolg sei. Ich lernte aus diesen beiden Büchern, daß der Erfolg kein Kriterium ist und daß ein Mensch dann richtig handelt, wenn er keinen Erfolg hat. Das kam in Der letzte Mohikaner noch deutlicher zum Ausdruck als in der Ilias, weil jene Indianer vollkommen recht hatten, die unterdrückt und unterworfen worden waren, und nicht die Europäer. Dann lernten wir zu meinem Glück zuerst englisch und nicht französisch, wie das damals in Budapest üblich war. Mein Vater war ein großer Anglomane. So lasen wir Bücher wie beispielsweise die Shakespeare-Märchen, die mich mächtig beeindruckten. Außerdem lasen wir Mark Twains Romane: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Diese Lektüre ließ mich die Existenz von Lebensidealen erkennen. Was in meinen ersten Leseerlebnissen nur als negative Erfahrung auftrat, zeigte sich hier in positiver Form, wie nämlich ein Mensch eigentlich leben sollte. Das Ideal meiner Kindheit war, daß der Mensch so leben müßte wie Tom Sawyer. Später beeinflußte mich auch Auerbachs Spinozaroman, vor allem Spinozas Widerstand gegen die Religion und die religiöse Ethik.

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INTERVIEWER: Es gibt noch einen Hinweis auf die Jugendzeit. Als Sie von Ihren Schuljahren sprechen, erwähnen Sie, daß Sie von Ihren Altersgenossen in der Schule annahmen, sie wären aus besserem Stoff als Ihr Bruder und jene Jungen, mit denen Sie damals gesellschaftlich zusammenkamen. Danach steht folgender Satz: »Hoffnung – trotz Lektüreskepsis – auf Arme.« LUKÁCS: Ich stand jener Legende, derzufolge ein armer Junge ein guter Schüler und ein hervorragender Mensch sei, skeptisch gegenüber. In D’Amicis’ Buch, das in jener Zeit von den Kindern viel gelesen wurde, findet sich diese Behauptung auf Schritt und Tritt. Die einzige Anstrengung in meiner Gymnasialzeit bestand darin, daß ich gegenüber den Lehrern die Vorteile eines guten Schülers genießen wollte, ohne in der Klasse als Streber zu gelten. Das mußte ich miteinander in Einklang bringen. In meiner Zeit als Sekundaner passierte eine kleine Episode. Beim Eintreten des Lehrers standen wir jedesmal auf. Einmal begab sich ein Junge mit einem Zeugnis oder etwas Ähnlichem nach vorn zum Lehrer, und als er auf seinen Platz zurückging, boxte er mich in die Magengrube, was vom Lehrer nicht bemerkt wurde. Ich versetzte dem Jungen daraufhin einen Schlag ins Kreuz. Das sah der Lehrer und machte daraus einen Skandal, woraufhin ich angab, daß ich von dem Jungen zuvor in die Magengrube geboxt worden sei. Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich dafür bis auf den heutigen Tag schäme. Die Tatsache, daß ich mich im öffentlichen Leben ordentlich aufführe, ist mit darauf zurückzuführen, daß ich mich damals als Sekundaner furchtbar geschämt habe. Ich glaube, daß eine derartige Beschämung im Leben eines Menschen eine positive Sache ist. INTERVIEWER: Freunde in der Kindheit? LUKÁCS: Ich hatte in meiner Kindheit absolut keinen Freund. Ich muß anmerken, daß ich auch in der Schule jahrelang zu niemandem einen besonders engen Kontakt hatte. In einem gewissen Maß verstand ich mich mit den Hauslehrern meines älteren Bruders gut. Natürlich wurden die Erzieher und insbesondere die Erzieherinnen in großbürgerlichen Familien als zweitrangige Menschen angesehen. Ich nahm daher die Erzieherin meinem Bruder gegenüber in Schutz. Das ist so eine spezielle Leopoldstädter Sache: Die Kinder waren zwar gezwungen, den Erzieherinnen zu gehorchen, aber im Grunde genommen verachteten sie diese und hielten sie für qualifizierte Dienstboten. Bei uns waren in diesen Jahren bereits nur französische und englische Erzieherinnen. Ich solidarisierte mich immer mit den Erzieherinnen meines Bruders. Ich brauchte überhaupt nichts zu lernen. Und das war ein unerhörtes Glück, weil ich unerhört leicht lernte. Nachmittags um halb vier bis dreiviertel vier war ich in der Regel mit allen Hausaufgaben fertig. Aus meiner Gymnasiastenzeit erinnere ich mich daran, daß meine Mutter immer meinen Bruder protegierte. Und das ist eine amüsante Geschichte.

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Dementsprechend wurde von ihm natürlich erwartet, daß er der gute Schüler, der Stolz der Familie werden würde. Als mein Bruder die Sekunda erstmals an einem öffentlichen Gymnasium besuchte und dann die Prima, stellte es sich heraus, daß sich die Angelegenheit genau umgekehrt verhielt. Die Theorie meiner Mutter dazu war die, daß ich sehr fleißig sei, mein Bruder dagegen faul, weshalb er ein schlechter Schüler sei und ich ein guter. In Wirklichkeit verhielt es sich aber so, daß ich nachmittags um halb vier bis dreiviertel vier meine Hausaufgaben fertig hatte und Fahrrad fahren ging und daß mein Bruder, wenn ich gegen sieben Uhr nach Hause kam, immer noch lernte. INTERVIEWER: Wurde Ihre Entwicklung in der Höheren Schule auch nicht durch das Problem des Judentums beeinflußt? LUKÁCS: Nein. Weder pro noch kontra. INTERVIEWER: Wirkte sich das Judentum auch in dem Sinn nicht auf Ihre Entwicklung aus, daß es Ihnen unabhängig von Ihrem Bewußtsein Schwierigkeiten machte und… LUKÁCS: Am evangelischen Gymnasium war die Leopoldstadt die Aristokratie. Ich spielte dort nie als Jude eine Rolle, sondern als Leopoldstädter Jüngling, der an dieser Schule als Aristokrat galt. Folglich tauchten die Fragen des Judentums nicht auf. Daß ich Jude bin, wußte ich immer, doch hatte das niemals wesentlichen Einfluß auf meine Entwicklung. INTERVIEWER: Ich frage das, weil Gyula Illyés über den Genossen Lukács einmal gesagt hat, wie ich unlängst gehört habe, daß er den Genossen Lukács deshalb besonders achte, weil bei dessen Entwicklung zum Revolutionär die jüdische Rache keinerlei Rolle gespielt habe. LUKÁCS: Weil ich mich nicht als Jude gefühlt habe. Ich nahm mein Judentum als eine Tatsache der Geburt hin, und damit war die Sache erledigt. INTERVIEWER: Doch es läßt sich voneinander unterscheiden, wie jemand die eigenen Angelegenheiten betrachtet und wie diese von anderen gesehen werden. LUKÁCS: Natürlich wurden im damaligen Ungarn zwischen einem Juden und einem Nicht-Juden Unterschiede gemacht. Ich hatte aber das Glück, den Krisztina-LukácsPreis zu gewinnen. Solange das Kuvert nicht geöffnet wurde, wußte niemand, wer den Wettbewerb gewonnen haben würde. Dementsprechend wurde ich von Beöthy und Alexander einfach in deren Clique aufgenommen. In der nächsten Generation, bereits

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nach der Diktatur, war das eine viel schwierigere Frage. Vor der Diktatur spielte das keine ernstzunehmende Rolle. INTERVIEWER: Wir könnten jetzt zu den beruflichen Anfängen übergehen. LUKÁCS:* Wenn ich von meiner sogenannten literarischen Laufbahn erzählen wollte, dann müßte ich mit der Geschichte ungefähr bei meinem fünfzehnten Lebensjahr beginnen. Ich las viel, wie jedes Kind. Einige Dinge hatten auf mich auch schon früher eine bleibende Wirkung ausgeübt, aber im Alter von fünfzehn Jahren dachte ich zum erstenmal daran, daß ich auch selbst Schriftsteller werden könnte. Dieser Prozeß wurde bei mir durch zwei Motive eingeleitet. Das eine war ein ausländischer Impuls. Als liberaler Leser der Neuen Freien Presse besaß mein Vater in der Privatbibliothek zufällig Max Nordaus Entartung. Ich las das Buch, und mir wurde dadurch klar, was äußerste Dekadenz bei Ibsen, Tolstoi, Baudelaire, Swinburne usw. selbst solche Dramen im Geist Ibsens und Hauptmanns zu schreiben. Hinzu kam noch ein zufälliger heimischer Impuls. Meine Schwester ging zusammen mit Marcell Benedeks Schwester zur Schule. Und als sie uns einmal besuchten, lernte ich auch Marcell Benedek kennen. Mit den Einzelheiten der Begegnung will ich mich nicht befassen, weil er all das in seiner Biographie erzählt hat. Auf jeden Fall wurde meine literarische Tätigkeit durch diese Freundschaft außerordentlich begünstigt, und hierbei spielte ein nicht eindeutig literarischer, sondern ein literaturethischer Einfluß, den Elek Benedeks Persönlichkeit auf mich ausübte, eine Rolle. Ich muß hinzufügen, daß ich dem Schriftsteller Elek Benedek niemals etwas abgewinnen konnte, auch damals nicht. Aber auf seine puritanische Art trat Elek Benedek immer für seine eigenen Wahrheiten ein, und zwar im Widerspruch zu seinem Milieu, in dem der Erfolg, der durch Kompromisse und auch durch Schlimmeres erreicht wurde, sozusagen einziges Kriterium menschlicher Werte war. Ich kann sagen, weder damals noch später interessierte mich, worum es in dieser Wahrheit ging. Doch die Tatsache an sich, die Tatsache der Parteinahme, hatte zur Folge, daß Elek Benedek als moralische Person in meiner Jugend mit den nachhaltigsten Einfluß auf mich ausübte. Zu diesen Impulsen kam hinzu, daß ich ständiger Leser der Hét (Woche) war. All dem zusammen ist es »zu verdanken«, daß ich in dieser Zeit begann, solche an Ibsen und Hauptmann orientierte Dramen zu schreiben. Gott sei Dank ist nichts davon geblieben. Sie waren sicher

* Die mit einem Stern versehenen Textstellen sind wortgetreue Zitate aus einem Interview, das István Eörsi und Erzsébet Vezér am 26. November 1966 mit Georg Lukács geführt haben und das in der Publikation Emlékezések 1 (Erinnerungen 1) des Petöfi Irodalmi Muzeum (Literarisches Museum Petöfi) erschienen ist. Der Interviewtext ist von Georg Lukács durchgesehen und genehmigt worden. Da die vorliegende Zusammenstellung chronologisch angeordnet ist, mußten wir auf eine fortlaufende Veröffentlichung des Interviews verzichten.

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schrecklich schlecht. Mit ungefähr achtzehn Jahren verbrannte ich alle meine Manuskripte. Von da an hatte ich ein geheimes Kriterium für die Grenze der Literatur, daß nämlich schlecht sei, was ich ebenfalls schreiben könnte. Literatur beginnt dort, wo ich den Eindruck habe, Vorliegendes nicht schreiben zu können. Es spielte für mich in der Jugend als geheimes Kriterium eine Rolle, und Nutzen zog ich insoweit daraus, als ich vier bis fünf sehr schlechte Dramen schrieb. Doch ergab sich hieraus auch eine andere Konsequenz: Das Schreiben veranlaßte mich dazu, daß ich mit der Lektüre der damaligen deutschen Kritik begann. Der impressionistische Stil Alfred Kerrs machte großen Eindruck auf mich. Durch familiäre Beziehungen erhielt ich als Oberprimaner bei der außerordentlich gering verbreiteten Zeitung Magyar Szalon (Ungarischer Salon) einen Auftrag als Theaterkritiker. Wesentlich daran war, daß sich der Redakteur dadurch eine Premierenkarte sichern wollte. Er besuchte die Premiere, während er die Karte für die zweite Vorstellung mir gab. Ich schrieb dann monatlich im Magyar Szalon im Stil Alfred Kerrs Theaterrezensionen. INTERVIEWER: Ohne Namenszeichnung? LUKÁCS: Nein. Diese Rezensionen erschienen mit Namen. In der Oltványi-Bibliographie sind sie auch vermerkt. Die neueste Konsequenz meiner literarischen Entwicklung zeigte sich darin, daß ich mich in jugendlicher Frechheit (ich war achtzehn) gegen die gesamte ungarische Kritik wendete. Im Nationaltheater wurde damals Sándor Bródy gegeben: der Zyklus Königsidyllen, der mit Pauken und Trompeten durchfiel. Sándor Bródy wurde als vaterlandslos abgestempelt, und es wurde behauptet, er hätte die ungarische Geschichte verfälscht. Mir dagegen gefielen diese Stücke sehr, und ich artikulierte meine Begeisterung gegenüber der Kritik sehr ehrlich. Das hatte zur Folge, daß Sándor Bródy durch einen gemeinsamen Bekannten den Kontakt zu mir suchte. Ich glaube, Bródy war enttäuscht, als er in dem Kritiker, der ihn als einziger gelobt hatte, einen Gymnasiasten kennenlernte. INTERVIEWER:* Ady verteidigte von Großwardein aus die Königsidyllen ebenfalls. LUKÁCS:* Das kann sein, aber davon hatte ich damals keine Ahnung. Jedenfalls waren die damaligen Pester Kritiken in ihren Hauptbestandteilen negativ. Bródy schluckte seine Enttäuschung und sagte, ich solle mich gelegentlich bei der Jövendö (Zukunft) melden, die er damals gerade plante. Ich meldete mich auch bei der Jövendö und publizierte darin gleichfalls im Stil Alfred Kerrs einen Artikel über Hauptmann und einen anderen über Hermann Bang. Hier begann eigentlich meine literarische Laufbahn, die sehr bald unterbrochen wurde, weil ich mich mit Bródy überwarf. Ich sollte ihm nämlich eine Studie über Mereschkowskis Leonardo da Vinci schreiben, wofür er sich sehr begeisterte. Ich dagegen haßte das Buch. In jungen Jahren ist man nicht allzu di-

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plomatisch. Wir überwarfen uns, und ich gab die Jövendö auf. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß wir uns bei einer normalen Entwicklung ausgesöhnt hätten, denn Bródy war nicht nachtragend. Hätte ich ihn vier Wochen später aufgesucht, hätte er mich wieder aufgenommen. Aber inzwischen vollzog sich ein Umschwung, durch den diese ganze Periode abgeschlossen wurde, die vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr gedauert hat, vorausgesetzt, daß man diesen kindlichen Dilettantismus als Periode bezeichnen darf. An der Universität lernte ich László Bánóczi kennen, und es trat wieder eine allgemeine Wende ein, wie sie früher moralisch durch die Persönlichkeit Elek Benedeks ausgelöst worden war. Jetzt wurde ich durch Bánóczis Milieu beeinflußt. Als Erklärung mag genügen, daß ich das evangelische Gymnasium besuchte, dessen wissenschaftliches Niveau sehr niedrig war. Ich suchte nach einem eigenen Weg, doch ich war nicht nur als Schriftsteller hundsmiserabel, sondern auch als Kritiker. Ich war ein richtiger Dilettant. Nun lernte ich in der Familie Bánóczi, wie man sich auf nicht-mechanische Weise, wie man sich wissenschaftlich und ernsthaft mit Theorie und Geschichte beschäftigen mußte. László Bánóczis Vater, Jószef Bánóczi, war ein sehr feinsinniger, resignierter alter Herr, keine allzu große Begabung, aber ein intelligenter Mensch, der in der Art von Anatole France jeden Dilettantismus mit epikureischer Ironie behandelte. Mir wurde klar, daß die ganze Literatur zum einen, wie ich bereits gesagt habe, nichts wert war und daß zum anderen dieser ganze Kerrsche Impressionismus eine Seifenblase war. Nach der Auseinandersetzung ging ich vor allem deshalb nicht zu Bródy zurück, weil ich mich zum Lernen entschlossen hatte. Von da an schrieb und publizierte ich ungefähr vier Jahre lang nichts. Diese Lehrzeit hängt zusammen mit dem, worüber ich nicht ausführlich sprechen will, da es allgemein bekannt ist, daß wir gemeinsam mit Bánóczi, Marcell Benedek und Sándor Hevesi die Thalia-Gesellschaft in Gang brachten. Das war eben eine der wichtigsten Methoden dieser Lehre, denn ein Regisseur ist aus mir ohnehin nie geworden, doch lernte ich dadurch, daß ich die Texte auf der Bühne lebendig werden sah, dramaturgisch und hinsichtlich der Dramentechnik und der dramatischen Form unheimlich viel. Ich hatte zu diesen jungen Schauspielern – wie zum Beispiel zu Dobi, zu János Doktor, zu Rózsi Forgács usw. – ein sehr gutes persönliches Verhältnis. Allabendlich gingen wir zusammen in das Kaffeehaus Baross, wo Pethes immer am oberen Tischende saß, Pethes, den wir den Fürsten nannten und den wir in allen Theaterfragen für die größte Autorität hielten. Mit einem Wort, es begann eine umfassende Studienperiode, verbunden mit Lektüre und Aneignung theoretischer Werke. Als Ergebnis davon trat an die Stelle bloßer impressionistischer Kritik eine durch die deutsche Philosophie fundierte und zur Ästhetik tendierende Kritik. In dieser Zeit lernte ich unter den Philosophen Kant kennen und dann in der zeitgenössischen deutschen Philosophie die Werke Diltheys und Simmels.

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INTERVIEWER: In Ihrer biographischen Skizze taucht auch der Name Pethes auf, als jemand, den Sie als Ihren Führer empfunden haben. LUKÁCS: Also Führer, das ist kein gutes Wort. Wir nannten ihn Fürst. Er hatte in allen Dingen des Theaters ein untrügliches Urteilsvermögen. Wenn er sagte, die rechte Hand müsse emporgehoben und die linke Hand dürfe nicht herabgesenkt werden, dann hatte er ganz sicher hundertprozentig recht. In uns lebte so eine Art illusionärer Unfehlbarkeitsglaube an ihn. Wir bewunderten Pethes vorbehaltlos und erkannten ihn in den Thaliazeiten als Modellfigur an. INTERVIEWER: Sie lernten sich in der Organisationsphase der Thalia-Gesellschaft kennen? LUKÁCS: Pethes, Ódry und andere Schauspieler hatten ein freundschaftliches Verhältnis zu Sándor Hevesi. Wir baten Sándor Hevesi darum, das Thalia zu gründen und zu leiten. Hieraus entstand eine Kaffeehausgesellschaft, in der Pethes, der niemals im Thalia gespielt hat, die Rolle des ungekrönten Königs zukam. INTERVIEWER: Stand er dem Thalia auch aktiv zur Seite? LUKÁCS: Mit Ratschlägen unbedingt. Es muß ausdrücklich betont werden, daß er ein Schauspieler war, der seine Sache bewußt machte, gerade durch Betonung des bewußten, des kraftvollen Elements. Folglich kam eine Gesprächsatmosphäre zustande, in der er die Hauptrolle spielte. INTERVIEWER: Genosse Lukács, welche Tätigkeit haben Sie außer der Organisation im Thalia ausgeübt? LUKÁCS: Außer der Organisation habe ich keine Tätigkeit ausgeübt. In dieser kurzen Laufbahn erlebte ich auch zwei Enttäuschungen. Zum einen wurde mir klar, daß ich kein Schriftsteller sei, und zum anderen wurde mir klar, daß ich kein Regisseur sei. Mir wurde bewußt, daß ich zwar den Zusammenhang von Idee und dramatischer Handlung sehr gut erfassen konnte, daß ich aber keinerlei Begabung in der Erkenntnis dessen besaß, daß es in gewisser Hinsicht von entscheidender Bedeutung sei, ob ein Schauspieler die rechte oder die linke Hand emporzuheben hatte. INTERVIEWER: Und welche Funktion hatte Bánóczi inne? LUKÁCS: Bánóczi war ein sehr geschickter Organisator, und er trieb die Sache sogar noch lange Zeit voran, nachdem das Thalia versagt hatte. Wir hatten zu diesem Zeit-

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punkt bereits alle das Interesse an dem Projekt verloren, weil sich unser Interesse auf die Literatur und Schauspielkunst beschränkte. Wir verbrachten unsere Zeit mit der Aufführung des Baumeisters Solness oder von Hebbels Maria Magdalena. Zu etwas anderem blieb uns weder Zeit noch Energie. INTERVIEWER: Marcell Benedek erwies sich als begabt? LUKÁCS: Marcell Benedek war ein sehr gutmütiger und ausgezeichneter Mensch, der allerdings, so würde ich sagen, keine ausgesprochene Begabung besaß. Er war ein Literat… INTERVIEWER: Ein Schöngeist? LUKÁCS: Ein Schöngeist. Das ist der richtige Ausdruck. INTERVIEWER: Haben Sie bei der Zusammenstellung des Programms mitgewirkt? LUKÁCS: Ja. Ich habe zum Beispiel die Inszenierung von Hebbels Maria Magdalena durchgesetzt. INTERVIEWER: Als Übersetzer? LUKÁCS: Nein. INTERVIEWER: Aber Die Wildente, Genosse Lukács, haben Sie übersetzt? LUKÁCS: Die habe ich übersetzt. INTERVIEWER: Und Die Wildente wurde auch in dieser Übersetzung gespielt? LUKÁCS: Ja. Im Thalia. INTERVIEWER: Haben Sie noch etwas anderes übersetzt? LUKÁCS: Nein. INTERVIEWER: Und als Schriftsteller haben Sie es auch nur mit Dramen versucht? LUKÁCS: Ja, nur mit Dramen. Es mag sein, daß es dazwischen auch Romanfragmente gegeben hat, aber im wesentlichen waren das Dramen.

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INTERVIEWER: Lyrik haben Sie nie…? LUKÁCS: Nein, Lyrik nie. INTERVIEWER: In Ihrer biographischen Skizze erwähnen Sie unter Ihren Jugendfreunden den Namen Leo Popper. LUKÁCS: Leo Popper war vielleicht die größte Begabung, der ich im Leben begegnet bin. Er besaß ein untrügliches Gefühl für Qualität. In den meisten Fällen befindet sich der Sinn für Qualität im Widerspruch zum theoretischen Verständnis. Es besteht eine gewisse Divergenz. Doch bei ihm war die absolut nicht vorhanden. Deshalb war er so ein ganz spezieller Fall in der Geschichte der Kritik. INTERVIEWER: Als Sie in der biographischen Skizze Ihre Freundschaft erwähnen, weisen Sie darauf hin, daß Sie darauf später noch zu sprechen kommen wollten, weil diese Beziehung ein so wichtiges Moment in Ihrer Entwicklung gewesen sei. Ob Sie vielleicht von den näheren Umständen dieser Freundschaft erzählen würden, wann Sie sich kennengelernt haben und… LUKÁCS: Leos Vater, David Popper, gab meiner Schwester Cellounterricht, und die Poppers verkehrten ständig bei uns. In dieser Zeit kam zwischen mir und Leo eine Freundschaft zustande, und zwar dadurch – das muß man tatsächlich so sagen –, daß ich Ehrfurcht und Achtung vor seinem Sinn für Qualität empfand, weil der in mir nur gering entwickelt war. Besonders zu dieser Zeit. Seitdem habe ich sehr viele Erfahrungen gesammelt. Doch habe ich hier gelernt, daß der Sinn für Qualität in der Kunst am wichtigsten ist. INTERVIEWER: Wann haben Sie sich kennengelernt? LUKÁCS: In der Gymnasialzeit. INTERVIEWER: Haben Sie auch gemeinsam an einem Werk gearbeitet? LUKÁCS: Wir haben nicht zusammen gearbeitet, weil ich mich vor allem mit Literatur befaßte und er sich vor allem mit bildender Kunst. Bereits unter seinem Einfluß schrieb ich über bestimmte Sachen in der bildenden Kunst. INTERVIEWER: Hat er nicht irgendein Werk des Genossen Lukács vom Ungarischen ins Deutsche übersetzt?

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LUKÁCS: Nein, dergleichen hat es nicht gegeben. Er schrieb zwar besser deutsch als ungarisch, dennoch schrieb er aber auch ungarischsprachige Artikel. INTERVIEWER: Wer hat Die Seele und die Formen ins Deutsche übersetzt? LUKÁCS: Ich selbst. Ich habe es sowohl ungarisch als auch deutsch geschrieben. Zuerst schrieb ich es ungarisch, und dann übersetzte ich es zwischen 1910 und 1911 ins Deutsche. INTERVIEWER: In der biographischen Skizze wird angedeutet, daß Sie wegen der Verleihung des Krisztina-Lukács-Preises für Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas verzweifelt gewesen seien und daß Sie aus dieser Krise durch Leo Popper gerettet worden seien. Worin lag der Grund für diese Krise, und welches waren die Umstände der Rettung? LUKÁCS: Ich war der Meinung, daß die ganze Gesellschaft für die Beurteilung dieser Sache nicht kompetent war. Demzufolge bedeutete die Preisverleihung an mich zwangsläufig, daß in meinem Buch etwas schlecht sein mußte. Ich suchte nach diesem Schlechten, konnte es jedoch nicht ausfindig machen. Und hier half mir mein Freund Leo Popper… INTERVIEWER: Bestand die Hilfe darin, daß er Ihnen sagte, was an dem Buch schlecht sei? LUKÁCS: Nein, sondern er sagte mir, was an dem Buch gut sei. INTERVIEWER: Hierher gehört auch die Absicht, aus Ihnen einen Abgeordneten der Tisza-Partei zu machen. Aber, Genosse Lukács, Sie haben über dieses Ansinnen nur gelacht. LUKÁCS: Als ich den Krisztina-Lukács-Preis gewann, war ich natürlich eine Zeitlang ein bekannter Mann. Mein Vater, der Anhänger der Tisza-Partei war, wollte, daß ich als Abgeordneter der Tisza-Partei auftrete. Ich lachte darüber. INTERVIEWER: Hatten Sie in jener Zeit politische Ambitionen? LUKÁCS: Ich hatte Ambitionen, die Dinge zu verändern, das heißt, meine Ambitionen waren auf die Veränderung des alten ungarischen Feudalismus ausgerichtet. Dagegen konnten sie naturgemäß niemals zu einer aktuellen politischen Absicht werden, weil es im damaligen Budapest keine derartige Bewegung gab.

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INTERVIEWER: Die Familie… LUKÁCS: Von der Familie, zumindest von einem Teil der Familie, war ich vollkommen entfremdet. Demzufolge hatte ich entweder überhaupt keine familiären Beziehungen oder… Meine Mutter war eine kluge Frau, die anfing, die Situation zu begreifen. Sie war schwerkrank, sie starb an Brustkrebs. Auf Zureden von zu Hause schrieb ich ihr einen Brief. Als sie diesen Brief erhielt, sagte sie: »Ich muß sehr krank sein, wenn mir Doktor Georg einen Brief schreibt.« INTERVIEWER: Und was ist später mit Ihrem Bruder passiert? LUKÁCS: Mein Bruder ist unter den Faschisten umgekommen. INTERVIEWER: Was hatte er für eine Position inne? LUKÁCS: Er hatte eine mittlere Position bei irgendeiner Bank, und als er zum Arbeitsdienst einberufen wurde, sagte er, statt daß er die Einberufung als Warnung genommen hätte, sich zurückzuziehen und zu verziehen, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen, er sei unschuldig. Und er ging zum Arbeitsdienst und kehrte auch nicht zurück. INTERVIEWER: Wie ging Ihre literarische Tätigkeit nach der vierjährigen Pause weiter? LUKÁCS:* 1906 trat ich wieder an die Öffentlichkeit. Wichtigste Episode hierbei, man könnte auch sagen meine dritte literarische Entdeckung, fiel mit dem Beginn des Szerda (Mittwoch) zusammen. Ich reichte Ignotus einen kleinen Artikel ein. Dem gefiel die Schrift außerordentlich. Er gab sie sofort beim Szerda ab, wo sie auch erschienen ist. Wir kamen mit Ignotus überein, daß ich aus Berlin Theaterreportagen schikken würde, denn ich traf Vorbereitungen, um im Winter nach Berlin zu gehen. Aus den Reportagen ist dann nichts geworden, weil der Szerda inzwischen bankrott gemacht hatte. Trotzdem ist es interessant, von meiner ersten Unterhaltung mit Ignotus zu erzählen, weil er mich – wie gesagt – außerordentlich freundlich und nett aufgenommen und meinen Artikel sehr gelobt hatte. Doch am Ende unserer Unterhaltung sagte er mit plötzlichem Ernst: »Sehen Sie, mein Junge, ich halte Sie für begabt. Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie sich für Ihr ganzes Leben merken können. Ihr Artikel ist außerordentlich klug, außerordentlich geistreich, und wie Sie sehen, werden wir ihn ja auch bringen. Aber merken Sie sich, von all dem, was Sie geschrieben haben, hätte man genauso auch das Gegenteil schreiben können.« Mit dieser Lebensweisheit verabschiedete mich Ignotus. Natürlich konnte ich auf diese Weise auch mit meinem dritten Entdecker keinen engen Kontakt haben. Ich muß hinzufügen, daß Ignotus in-

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teressanterweise bis zu einem gewissen Grad immer zu mir gehalten hat und daß ich nur deshalb ständig im Nyugat (Westen) schreiben konnte, weil er mich gegen Osvát in Schutz genommen hat. Ich glaube nicht, daß ich ohne Ignotus im Nyugat erschienen wäre und daß ich auch nur annähernd so oft hätte publizieren können, wie ich publiziert habe. Als junger Mensch spürte ich keinerlei Dank. Ich hatte zwar Nutzen von Ignotus’ Anerkennung, doch hielt ich von dessen Impressionismus absolut nichts. Die Polemik gegen den Impressionismus in meinem Artikel Az utak elváltak (Die Wege haben sich getrennt), den ich nach der Kernstok-Ausstellung schrieb, richtete sich offensichtlich hauptsächlich gegen Ignotus, ohne natürlich dessen Namen zu erwähnen. Auf dieser Linie gelangte ich, so könnte man sagen, bis an die Schwelle der Literatur. INTERVIEWER: In der biographischen Skizze kommt der Name von Irma Seidler vor. Ihr haben Sie Die Seele und die Formen gewidmet. LUKÁCS: Irma Seidler gehörte zu dem verwandtschaftlichen Kreis der Familie Polányi, und ich hatte mit Irma Seidler 1907 eine außerordentlich bedeutende Begegnung. Ob man dies nun als Liebe deklariert oder nicht, das ist ein späteres Problem. Aber sie hatte auf meine Entwicklung zwischen 1907 und 1911 einen außerordentlich starken Einfluß. 1911 beging sie Selbstmord. Danach erschien meine Studie Über die seelische Armut. Das ist die Beschreibung ihres Todes und Ausdruck meines Schuldbewußtseins. INTERVIEWER: Wo haben Sie die Universität besucht? LUKÁCS: Zuerst besuchte ich die Philosophische Fakultät in Budapest. Einmal ging ich für ein Semester nach Berlin. Ein zweites Mal verbrachte ich dort eine kürzere Zeitspanne. Aber vor 1911 hielt ich mich nicht für längere Zeit im Ausland auf. INTERVIEWER: Als Sie zum erstenmal ins Ausland gingen, haben Sie sich damals gleich dem Kreis um Weber angeschlossen? LUKÁCS: Ich wollte ein deutscher Literaturhistoriker werden. Ich ging mit dem naiven Glauben ins Ausland, daß diese Literaturhistoriker die Dinge tatsächlich in Bewegung bringen. Ich möchte hierzu eine Anekdote erzählen, weil es sozusagen für mein Leben von entscheidender Bedeutung war, daß da draußen gerade von der Augenfarbe der Lotte aus dem Werther die Rede war. Im Werther habe Lotte blaue Augen gehabt, in Wirklichkeit seien ihre Augen aber schwarz gewesen. Darüber hatte jemand einen großen Aufsatz geschrieben. Ich sah darin die Verkörperung dessen, was Hatvany die Wissenschaft des Nicht-Wissenswerten nennt.

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INTERVIEWER: Das hat bei Ihnen offensichtlich eine große Ernüchterung verursacht. LUKÁCS: Das verursachte bei mir keine so große Ernüchterung, weil ich die unteren Stufen der Ernüchterung schon längst hinter mir hatte. Eigentlich wurde dadurch eine Entwicklung abgeschlossen, in deren Verlauf ich von der Literaturgeschichte abgefallen bin. INTERVIEWER: Und dann begann eine Neuorientierung… LUKÁCS: … in Richtung Philosophie. Damals begann Simmels und später Webers Einfluß. INTERVIEWER: Wie würden Sie das Positive an diesem Einfluß zusammenfassen? LUKÁCS: Ich würde das dahingehend zusammenfassen, daß Simmel den gesellschaftlichen Charakter der Kunst ins Gespräch gebracht hat, womit er mir einen Gesichtspunkt vermittelt hat, auf dessen Grundlage ich – weit über Simmel hinausgehend – die Literatur abhandelte. Die eigentliche Philosophie des Dramenbuches ist die Philosophie Simmels. INTERVIEWER: Und das Wesentliche an Webers Einfluß? LUKÁCS: Webers Einfluß kam später und war stärker. Simmel hatte frivole Seiten. Weber dagegen wollte ohne Simmels frivole Seiten eine umfassende Literaturtheorie schaffen. Ich sollte vielleicht erwähnen, weil das in meinem guten Verhältnis zu Weber eine Rolle spielte, daß ich zu Weber einmal gesagt habe, nach Kant sei das ästhetische Urteil das Wesen des Ästhetischen. Ich meinte, daß das ästhetische Urteil keine Priorität besitze, sondern die Priorität komme dem Sein zu. »Es existieren Kunstwerke. Wie sind sie möglich?« Diese Frage stellte ich Max Weber, und sie machte ihm tiefen Eindruck. Das ist das Grundproblem meines Heidelberger Ästhetik-Fragments. INTERVIEWER: Bei der Beurteilung von Simmel und Weber nehmen Sie später, hauptsächlich in der Zeit der Zerstörung der Vernunft, eindeutig einen negativen Standpunkt ein. LUKÁCS: Bloß daß meine Einstellung zu Weber, moralisch gesehen, immer positiv war, während ich bei Simmel eine gewisse Frivolität kritisierte, und deshalb haben wir uns einander entfremdet. Doch bei Weber ist diese Entfremdung nicht eingetreten. INTERVIEWER: In dieser Zeit begann Ihre Freundschaft mit Bloch?

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LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: In Heidelberg lernten Sie auch Lask kennen. Verband Sie mit ihm eine engere Freundschaft? LUKÁCS: Das war eine schöne Freundschaft. Aber es kann keine Rede davon sein, daß Lask meine Entwicklung beeinflußt hätte. Bloch hatte auf mich gewaltigen Einfluß, denn er hatte mich durch sein Beispiel davon überzeugt, daß es möglich sei, in der althergebrachten Weise zu philosophieren. Ich hatte mich bis dahin im Neukantianismus meiner Zeit verloren, und nun begegnete ich bei Bloch dem Phänomen, daß jemand philosophierte, als würde die gesamte heutige Philosophie nicht existieren, daß es möglich war, wie Aristoteles oder Hegel zu philosophieren. INTERVIEWER: Weshalb besuchte Bloch Budapest? LUKÁCS: Bloch war Simmels Schüler, und er hatte bei Simmel Emma Ritoók kennengelernt. Durch Emma Ritoók kam ich mit Bloch zusammen. Nebenbei gesagt – das ist vielleicht als Anekdote interessant – war Blochs erster Eindruck von mir sehr schlecht. Er sagte, ich sei ein Ästhet und kein ernsthafter Mensch und so weiter. Emma Ritoók erzählte mir das natürlich wieder, und ich habe damals darauf geantwortet: »Zur Psychologie eines großen oder bedeutenden Philosophen gehört es nicht, daß er auch ein guter Menschenkenner sein muß.« Meine Reaktion auf sein Urteil hat Bloch sehr imponiert. Von da an bestand zwischen uns eine vertrauliche Freundschaft. INTERVIEWER: Bis wann hat diese Freundschaft gedauert? LUKÁCS: Solange Bloch in Heidelberg war. Sagen wir, von 1909 bis 1911. Dann haben wir uns getrennt, weil Bloch vor dem Krieg in die Schweiz auswich, während ich zu Hause blieb. INTERVIEWER: In dieser Periode haben Sie Ihre schriftstellerische Laufbahn in Ungarn bereits ausgebaut. LUKÁCS:* Mein eigentliches literarisches Auftreten beginnt teils mit der Entstehung des Dramenbuches und teils mit der Mitarbeit im Nyugat (Westen). Hierzu muß ich noch eine sehr wichtige Sache anfügen, die ich eigentlich damals nicht verstanden habe, worin ich erst jetzt Klarheit habe, nämlich welchen entscheidenden Einfluß diese Sache auf meine ganze literarische Entwicklung und sogar auf meine über die Literatur hinausgehende Entwicklung gehabt hat. Wir befanden uns gerade im Jahre 1906. Damals erschien Uj versek (Gedichtband, Neue Gedichte). Die Neuen Gedichte (von

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Endre Ady; Anm. d. Übers.) hatten einen absolut umwälzenden Einfluß auf mich, grob ausgedrückt, die Neuen Gedichte waren das erste Werk in der ungarischen Literatur, in dem ich nach Hause gefunden und das ich für einen Teil von mir gehalten hatte. Meine jetzige Meinung über die alte ungarische Literatur ist eine andere Frage. Das ist bereits die Folge langer Erfahrungen. In jener Zeit, muß ich gestehen, hatte ich keinen inneren Zugang zur klassischen ungarischen Literatur. Formende Einflüsse erhielt ich nur aus der Weltliteratur, in erster Linie aus der deutschen Philosophie. Die Wirkung der deutschen Philosophie hielt mein ganzes Leben lang an. Und daran änderte natürlich im Grunde genommen auch jenes erschütternde Erlebnis nichts, das ich durch Ady gehabt habe. Durch dieses Erlebnis wurde die Wirkung der deutschen Philosophie nicht aufgehoben, und es führte mich nicht nach Ungarn zurück. Man könnte sagen, daß Ungarn für mich damals Adys Gedichte waren. Doch es war etwas geschehen, dessen Bedeutung ich erst später verstand, daß sich nämlich in der deutschen Entwicklung, und zwar nicht nur bei Kant, den ich damals schon kannte, sondern auch bei Hegel (drei bis vier Jahre später hatte ich mich von Kant an Hegel herangetastet) sowie bei jenen modernen Deutschen, die ich las, eine gehörige Portion konservativer Weltanschauung verbarg. Ich weiß, daß ich mich nun eines Anachronismus schuldig mache, wenn ich ein späteres Ady-Gedicht zitiere, aber bei Ady ist von Anfang an jene »Ich lasse mich nicht kommandieren«-und »Ugocsa non coronat«-Stimmung vorhanden, die bei mir Hegels Phänomenologie und Logik immer als Begleitmusik untermalt hat. Auf diese Weise kam eine Mischung zustande, die in der damaligen Literatur nicht existiert hat, daß nämlich jemand als Hegelianer und als Vertreter der Geisteswissenschaft gleichzeitig einen linken und sogar bis zu einem gewissen Grad einen revolutionären Standpunkt einnahm. Ich spreche jetzt nicht von der enormen dichterischen und literarischen Wirkung auf mich. Aber ich muß auf jeden Fall feststellen, daß die Begegnung mit den Ady-Gedichten auch unabhängig von ihren literarischen Bezügen mit zu den entscheidendsten Erlebnissen in meinem Leben gehört hat. Das war keine zufällige Entdeckung, wie sie sich in der Jugend oft ergibt, vielmehr bin ich, und das muß ich vielleicht gar nicht extra erwähnen, Adys Werk mein ganzes Leben lang treu geblieben. Das ist keine Projektion, denn ich war der erste in Ungarn, der drei bis vier Jahre danach über Adys persönlichen Zusammenhang mit der Revolution geschrieben hat, daß Ady ein Revolutionär war, der die Revolution zu seiner Selbstverwirklichung für notwendig hielt. Wenn ich jetzt diese verworrene erste Impression auf 1906 datiere, dann mache ich mich vermutlich keines großen Anachronismus schuldig. Aber ich muß natürlich betonen, daß ich damals keine blasse Ahnung von der Bedeutung der Sache hatte. Ich empfand nur für die AdyGedichte eine vorbehaltlose Begeisterung. Wie gesagt, eigentlich hat meine literarische Periode in dieser Zeit begonnen. Zwischen 1906 und 1907 war ich in Berlin, wo ich den ersten Entwurf meines Dramenbuches schrieb, den ich bei der KisfaludyGesellschaft einreichte und wofür ich 1908 den Krisztina-Lukács-Preis bekam. Eben-

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falls 1907 gab ich beim Nyugat (Westen) meinen Novalis-Artikel ab, der, wenn ich mich nicht irre, Anfang 1908 erschienen ist. Ich will nicht über die Einzelheiten meines literarischen Auftretens sprechen, da die Bücher ja bekannt sind. Ich möchte nur den von mir subjektiv eingenommenen Platz im damaligen Literatur- und Kunstbetrieb Ungarns ein wenig umreißen, weil es darüber keine zuverlässigen literarischen Aufzeichnungen gibt. Hier muß ich mit einem gewissen Vorbehalt beginnen, denn wenn ich von den persönlichen Relationen ausgehe, stellt sich heraus, daß an jenem Punkt, wo das für mich am wichtigsten gewesen wäre, keinerlei persönliche Beziehungen zustande gekommen sind. Ich denke hierbei an Ady. Ich habe ihn einmal in meinem Leben getroffen, doch wann, daran erinnere ich mich nicht genau. Fest steht nur, daß es nach dem Herbst 1908 war, weil zu dem Zeitpunkt meine Kritik zum Holnap (Morgen; Anthologie, Anm. d. Übers.) erschien, worin ich zum erstenmal über Ady geschrieben habe. Ohne also ein bestimmtes Datum sagen zu wollen, würde ich diese Begegnung auf den Winter 1908 oder das Frühjahr 1909 datieren. Diese Begegnung war durch einen engen Freund zustande gekommen, durch den Maler Dezsö Czigány, der auch ein Porträt von Ady gemacht und zu diesem ein sehr gutes Verhältnis hatte. Er nahm mich einmal mit in die Három Holló (Gaststätte Zu Den Drei Raben). Ich muß sagen, aus unserem Zusammensein ergab sich absolut nichts. Das war ein Abend, als die Három Holló voll war mit Adys Gentry-Freunden. Und ich konnte mich absolut nicht in die Unterhaltung einschalten. Ich will allerdings hinzufügen, weil das von einem anderen Gesichtspunkt aus sehr wichtig ist, daß das für mich keinerlei Enttäuschung bedeutet hat. Bedeutenden Männern gegenüber habe ich mich Zeit meines Lebens zum Standpunkt von Goethes Philine bekannt: »Und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?« So ist es also absolut kein Zufall, daß ich zu meinem bedeutendsten Zeitgenossen, zu Bartók, keinerlei Beziehungen hatte. Dabei wären die Umstände in diesem Fall viel günstiger gewesen, denn Bartók unterrichtete meine Schwester, die Cellistin war, als Schülerin an der Musikakademie in Musiktheorie. Bartók hatte auch ansonsten ständigen Kontakt zu unserer Familie. Nach 1919 wohnte er beispielsweise eine Zeitlang in der Villa meines Vaters auf dem Blocksberg. Da ich aber damals nicht fähig war, mein Verhältnis zur Musik zu artikulieren, war ich gegen Bartók äußerst zurückhaltend. Nur während der Diktatur kam zwischen uns eine Beziehung zustande, als Bartók, Kodály und Dohnányi das Musikdirektorium bildeten. Damals hatte ich als Volkskommissar häufigen Kontakt mit ihnen. Aber das bedeutet natürlich gleichfalls keine persönlichen Beziehungen. Ich sage das nur, um dadurch deutlich zu machen, daß diese Dinge letztlich nicht ausschlaggebend sind. Es sei allerdings bemerkt, daß ich auch zu Ervin Szabó, zu jenem Mann, der unter denjenigen Budapestern, die ich am meisten verehrte, an dritter Stelle stand, daß ich auch zu Ervin Szabó nur einen flüchtigen Kontakt hatte. Diese Distanz war zwar nicht so ausgeprägt wie im Fall Bartóks und Andys, aber trotzdem war auch diese Verbindung ziemlich lose, obwohl Ervin Szabó unter den damaligen ungarischen

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Denkern der einzige war, dem ich ernsthaft Dank schulde. Da wir schon hiervon sprechen, will ich kurz erwähnen, daß ich durch ihn den französischen Syndikalismus kennengelernt habe, den ich damals für die einzige ernstzunehmende oppositionelle sozialistische Bewegung hielt. – Ich möchte nur noch ergänzen, damit kein falsches Bild von mir entsteht, das noch mehr verzerrt würde, wenn ich mein persönliches Verhältnis zu zum Nyugat (Westen) charakterisieren würde, daß ich absolut kein verschlossener einsamer Hirsch war. Zum Beispiel hatte ich – und das ist sehr auffallend – ein gutes und herzliches Verhältnis zu den damaligen bildenden Künstlern. Ich war nie ein Experte für bildende Kunst. Ich habe lediglich einige diesbezügliche Artikel geschrieben. Schon sehr früh schrieb ich im Huszadik század (Zwanzigstes Jahrhundert) einen Gauguin-Artikel und über die Ausstellung der Nyolcak (Acht) einen Artikel, der sich mit Kernstok und den anderen befaßt. Doch unabhängig davon verband mich außer mit Dezsö Czigány auch mit Márk Vedres seit frühester Jugend eine herzliche Freundschaft, obwohl er viel älter war als ich. Des weiteren bestanden gute Gesprächskontakte zur älteren Malergeneration, zu Károly Ferenczy, Adolf Fényes, Jószef Rippl-Rónai, dann zu Márffy, Tihanyi, später zu Nemes-Lampért, Béni Ferenczy, Noémi Ferenczy. Mit einem Wort, in der bildenden Kunst unterhielt ich zu einem ziemlich breiten Kreis ständige Beziehungen. Dagegen hatte ich weder zu den führenden Kreisen des Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhundert) noch zu denen des Nyugat (Westens) irgendein persönliches Verhältnis. In bezug auf Osvát könnte man sagen: »Liebe auf den ersten Blick und Antipathie auf den ersten Blick.« Wir konnten uns vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Er vertrat die Meinung, und die sprach er auch offen aus, daß ich ein sehr schlechter Schriftsteller sei. Hierin stimmte er mit János Horváth überein. Und das war eine verbreitete Meinung. Ich wehrte mich auch gar nicht dagegen. Heute halte ich den Stil von Die Seele und die Formen bereits für außerordentlich manieriert und kann ihn mit meinen späteren Maßstäben auch nicht akzeptieren. Das bedeutet allerdings nicht, daß ich Osvát in dieser Sache recht geben würde, denn was er für eine gute Arbeit hielt, das hielt ich nicht dafür. Doch bleiben wir nicht bei dieser irrationalen Darstellung! Ich machte mir sehr schnell bewußt, weshalb ich Osvát nicht mochte. In der ungarischen Literaturkritik gab es einen bestimmten Typ, der vor Osvát von Zoltán Ambrus und bis zu einem gewissen Grad von Jenö Péterfy vertreten worden war. Sie rezipierten die neuesten westlichen, insbesondere Pariser Strömungen (bei Ambrus ist das besonders augenfällig) in außerordentlich progressiver Weise und übertrugen sie auf den ungarischen Konservativismus, der bis hin zu Ferenc Herczeg und Ferenc Molnár gegenüber jeder miserablen Richtung am nachsichtigsten war. Diesen vornehmen Konservativismus verachtete ich zutiefst, ihn verachtete ich auch bei Osvát. Und wie recht ich hatte, das sah ich nach meiner Rückkehr nach Ungarn nach 1945, als Osváts gesammelte Kritiken herausgegeben wurden. Hierunter gibt es eigentlich nur eine sehr scharfe Kritik, die Kritik gegen Ibsen. Gleichzeitig allerdings sind sie voller Anerkennung für die schlechtesten

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Schriftsteller, angefangen von Ferenc Herczeg bis hin zu István Szomahäzy. Ich weiß, das widerspricht der Osvát-Legende, doch steht uns in diesem Fall Gott sei Dank ein gedruckter Text zur Verfügung, und die Nachwelt kann anhand des gedruckten Bandes Osváts kritisches Genie studieren. INTERVIEWER:* Genosse Lukács, Sie haben einmal eine Geschichte erzählt, als Osvát von Hegel sagte… LUKÁCS:* Ja, wegen meiner Artikel ging ich in das jetzige Hotel Duna, das damals Cafe Bristol hieß. Vormittags saß Osvát dort. Und als ich mit den Büchern unterm Arm aus der Universitätsbibliothek kam – damals war die Aktentasche keine Mode –, sah sich Osvát wie immer an, was ich las. Das machte er bei jedem. Zufälligerweise hatte ich einige Bände Hegel bei mir. »Hegel, das ist ein schlechter Schriftsteller«, sagte er und klappte das Buch zu. Nebenbei bemerkt hat unser großer Legendenmacher Oszkár Gellért verbreitet, Osvát hätte ihm schon damals diese Geschichte erzählt und hinzugefügt, Hegel sei ein schlechter, Engels jedoch ein guter Schriftsteller. Hier sieht man, wie man beim Legendenmachen aufpassen muß. Es ist ausgeschlossen, daß Osvát Gellért abends erzählt haben soll, worüber er sich vormittags mit mir im Bristol unterhalten hat. Dazu war ich beim Nyugat (Westen) als Schriftsteller eine viel zu episodische Erscheinung. Diese Anekdote ist eine ungerechtfertigte Projektion meiner heutigen literarischen Position auf das Jahr 1909. Zum anderen ist es auch nicht wahr, daß Osvát Engels für einen guten Schriftsteller gehalten hat. Osvát hat niemals im Leben auch nur eine einzige Zeile von Engels gelesen. Oszkár Gellért schafft eine Legende, um Osvát zu einem präbolschewistischen Marxisten umzumodeln. Von all dem ist natürlich kein einziges Wort wahr. – Für mein Verhältnis zu den Mitarbeitern des Nyugat ist es sehr auffallend, daß ich in jener Zeit zwar von den Redaktionsbesprechungen Osvát, Fenyö und Ignotus kannte, jedoch beispielsweise Schöpflin nie getroffen und kennengelernt, Zsigmond Móricz nie getroffen habe, obwohl ich sogar über sein erstes Buch geschrieben hatte. Ich kannte Kosztolányi nicht persönlich, über den ich ebenfalls geschrieben habe, ich kannte Karinthy nicht, ich kannte Gyula Krudy nicht, mit einem Wort, der sogenannten Stammgarde des Nyugat bin ich nicht einmal begegnet. Ich wiederhole, der Grund hierfür war nicht meine persönliche Zurückhaltung. Deshalb erwähnte ich zuvor meine Bekannten unter den bildenden Künstlern, mit denen ich organisatorisch nichts zu tun hatte, die ich aber trotzdem regelmäßig im Café Japan und an anderen ähnlichen Stellen traf. Zu den Zusammenkünften des Nyugat-Kreises jedoch ging ich nie. Meine erste Begegnung mit Mihály Babits fand ebenfalls sehr spät statt: 1916. Ervin Szabó hatte Babits, Béla Balázs, Andor Gabor und mich zu einer Sitzung eingeladen, auf der es darum ging, wie man die Schriftsteller gegen den Krieg aktivieren könnte. Nicht lange danach, 1916 oder Anfang 1917, aßen wir einmal durch Karl Mannheims Vermittlung zu dritt mit Babits zu Abend, und da-

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nach ging ich mit ihm auch ein bißchen spazieren, doch es kam keinerlei engerer Kontakt zustande. Vom ganzen Nyugat-Kreis hatte ich nur zu Margit Kaffka, Anna Lesznai und Béla Balázs persönlichen Kontakt. Über Margit Kaffka kann ich nicht viel sagen. Wir hatten gute, aber keine sehr engen freundschaftlichen Beziehungen. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, daß sie als Lehrerin nach Pest gekommen war und sich erst später davon freimachen konnte. Und hierbei spielte auch mein Vater durch seine Stellung beim Rat der Stadt eine große Rolle. Ich meine, wir haben der Kaffka geholfen, nach Pest zu kommen. Und als sie einmal in Berlin war, hat sie mich besucht. Also so herzliche Beziehungen hatten wir. Mit Anna Lesznai verband mich eine echte Freundschaft, die ein ganzes Leben lang gehalten hat. Ich glaube, Sie wissen, daß wir auch 1965 und 1966 viel zusammen waren, als sie sich in Budapest aufgehalten hat. Und ich freue mich wirklich sehr darüber, daß ich die Geburt ihres Romans miterlebt habe. – In ihrer Jugend machten nur ihre Gedichte von sich reden. Ich freue mich auch darüber, daß ich Gelegenheit hatte, Anna Lesznai zu sagen, für wie hervorragend ich ihren Roman halte. Ihr gegenüber drückte ich das so aus, daß der erste Band meiner Meinung nach ein Meisterwerk sei und der zweite Band ein guter Roman. Ich wiederhole, es ist für mich eine große Freude, daß diese Freundschaft ein ganzes Leben lang gehalten hat.

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II Krieg, Revolutionen INTERVIEWER: Kommen wir zu 1914, zum Kriegsausbruch. LUKÁCS: Im Zusammenhang mit dem Krieg kann ich wirklich nichts anderes sagen, als daß ich vom ersten Augenblick an gegen den Krieg war. Und auch in meiner eigenen Umgebung war ich jenen gegenüber sehr ungeduldig, die zu irgendeiner Parteinahme für den Krieg neigten. Ungeduldig war ich sogar in einem solchen Fall, wo es sich nicht direkt um eine Parteinahme für den Krieg handelte, wie beispielsweise im Fall von Bela Balázs: »Geh und leide ebenfalls!« Wenn auch nicht in der Öffentlichkeit, so habe ich ihm doch privat sehr scharf meine Meinung gesagt, und insbesondere habe ich den Schluß des Buches mißbilligt. Dort gibt es eine Unterhaltung zwischen ihm und Anna Lesznai, worin Balázs die österreichisch-ungarische Monarchie vorbehaltlos als eine Art Nationalitätenschweiz verherrlicht, was ich für eine dumme Schmeichelei hielt, weil ich in dieser Frage die schlechteste Meinung von den heimischen Zuständen hatte. Bezüglich des Krieges kann ich also nur sagen, daß ich schärfster Kriegsgegner war. Ich weiß nicht, ob ich es schon gesagt habe. Sollte ich es noch nicht erzählt haben, dann erzähle ich es jetzt. Mein Standpunkt war damals etwa folgender: »Die deutschen und die österreichischen Armeen werden vielleicht die Russen schlagen, und dann werden die Romanows stürzen. Das ist in Ordnung. Es kann auch sein, daß das deutsche und das österreichische Heer von dem englischfranzösischen Heer geschlagen wird und daß auch die Habsburger und die Hohenzollern gestürzt werden. Das ist auch in Ordnung. Aber wer wird uns dann vor der westlichen Demokratie schützen?« Diese Frage stellte sich. Und hier können Sie sehen, daß meine Positivismus-Gegnerschaft auch politische Gründe hatte. So sehr ich nämlich die ungarischen Zustände verurteilte, so war ich doch absolut nicht bereit, den englischen Parlamentarismus als Ideal zu akzeptieren. Aber in jener Zeit sah ich nichts, was ich an die Stelle des Bestehenden hätte setzen können. Und von diesem Gesichtspunkt aus war die Revolution von 1917 ein so großes Erlebnis, denn dort zeigte sich mit einemmal am Horizont, daß die Dinge auch anders sein könnten. Gleich welche Einstellung man zu diesem »Anders« hatte, dieses »Anders« hat unser aller Leben, das Leben eines beträchtlichen Teils meiner Generation verändert. INTERVIEWER: Sie haben einmal im Zusammenhang mit einer Stellungnahme zum Krieg einen Simmel-Brief erwähnt…

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LUKÁCS: Der Simmel-Brief ist nur insofern interessant, als ich sehr stark argwöhne, daß die Menschen ihre eigene Vergangenheit entsprechend ihren Wünschen umstilisieren. So fragte ich mich also mit einem gewissen Argwohn oder, besser gesagt, mit kritischem Zweifel, ob es wahr sei, daß ich vom ersten Tag an Kriegsgegner gewesen sei. Und da fiel mir sofort ein, daß ich einmal – ich konnte nur das Datum nicht sagen – mit Marianne Weber, Max Webers Frau, eine Unterhaltung gehabt hatte, in der sie den moralischen Wert der Heldentaten lobte, worauf ich antwortete, je besser die Heldentaten seien, desto schlimmer sei es. Jetzt bekam ich zufällig ein Buch in die Hand, das Simmel zu Ehren herausgegeben worden ist. Hierin wird ein Teil seiner Briefe publiziert, darunter ein Brief an Marianne, datiert vom August 1914, worin er schreibt, wenn Lukács nicht in der Lage sei, die Großartigkeit dieses Krieges zu begreifen, dann sei das eine hoffnungslose Sache, man könne diesen Krieg nur intuitiv begreifen, so habe es in diesem Fall auch gar keinen Sinn, mit ihm darüber zu sprechen. Hierdurch wird belegt, daß sich unsere Unterhaltung Anfang August abgespielt haben kann. Marianne berichtete Simmel darüber, und das war Simmels Antwort darauf. Das bestärkt mich darin, daß ich mich tatsächlich richtig erinnere, daß ich bereits in den Augusttagen gegen den Krieg gewesen bin. Man muß sehr aufpassen, denn Sie wissen ja, unlängst ist dem armen Déry in der Rajk-Affäre jenes Malheur passiert, weil er vergessen hat, daß er anno dazumal einen Artikel geschrieben hat…1 INTERVIEWER: Simmel hat darin recht, daß man die Großartigkeit des Krieges nur intuitiv begreifen kann… LUKÁCS: Darin gebe ich ihm recht, aber mich interessiert die Sache nur insofern, als es hier einen objektiven Beweis dafür gibt, daß sich diese Unterhaltung in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch abgespielt hat. INTERVIEWER: Genosse Lukács, Sie waren damals in Berlin? LUKÁCS: Nein, ich war damals in Heidelberg. 1912 zog ich nach Heidelberg, und man kann sagen, ich lebte dort bis zum Kriegsende, bis ich nach Pest zurückkehrte. INTERVIEWER: Wann? LUKÁCS: Ja, wann? Im Herbst 1917 reiste ich nach Pest, dann war ich im Sommer 1918 wieder in Heidelberg, 1918 im August fuhr ich mit der Vorstellung zurück nach

1 Tibor Déry vergaß in seiner Gedenkschrift zur Rajk-Affäre, daß er selbst ebenfalls im Jahre 1949 einen Artikel gegen Rajk geschrieben hatte.

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Pest, daß ich im kommenden Frühjahr wieder nach Heidelberg zurückgehen würde, aber das ist natürlich nicht mehr geschehen. INTERVIEWER: Wie sind Sie um das Militär herumgekommen? LUKÁCS: Das hängt wieder damit zusammen, daß der Sohn eines Bankdirektors nicht dienen mußte, wenn er das nicht wollte. Wir wurden natürlich in die Kaserne gebracht. Dort wurde mir sofort gesagt, daß ich vor eine Ärztekommission kommen würde. Und die Untersuchung konstatierte bei mir eine schwere Neurasthenie. INTERVIEWER: An dieser Krankheit haben Sie in Ihrem Leben am wenigsten gelitten. LUKÁCS: Diese schwere Neurasthenie wurde meine Krankheit. Ich muß hinzufügen, daß sie von Koranyi konstatiert worden war. Die ungarische Korruption muß als vielweiterreichend und ernster angesehen werden, als das allgemein üblich ist, denn Korányi war ein Mensch, der nicht für jeden ansprechbar war, aber für meinen Vater war er ansprechbar, und folglich wurde ich während des Krieges Hilfsdienstler. INTERVIEWER: Bis zum Kriegsende? LUKÁCS: Nein. Nur solange – diese Anekdote muß ich erzählen, weil sie auch wegen der beteiligten Personen ziemlich amüsant ist –, bis mein ehemaliger Schulkamerad und der spätere Innenminister, Iván Rakovszky, meinen Vater aufsuchte. Und da er meinen Vater aufsuchte, weil er sich eine Direktoriumsmitgliedschaft bei einem Kreditbankunternehmen verschaffen wollte, lief die Unterhaltung natürlich per Onkel Josi, und selbstverständlich tauchte auch die Frage auf, was wohl der Georg machte, und mein Vater klagte ihm dann sein Leid, daß ich als Hilfsdienstler in Pest leben und mich sehr unwohl fühlen würde. Daraufhin sagte Rakovszky, Onkel Josi solle achtgeben, es werde nichts passieren, er solle dem Schorsch sagen, er möge ihn im Parlament aufsuchen, dort würden sie die Sache besprechen. Und wir haben die Sache tatsächlich besprochen. Vier Wochen später war ich befreit und habe mit der Armee nie wieder etwas zu tun gehabt. Rakovszky dagegen bekam eine Stelle bei der Kreditbank. INTERVIEWER: Das nennt man Happy-End. LUKÁCS: Wenn wir meine Entwicklung in den Jugendjahren betrachten, dann dürfen wir dieses Moment daraus nicht entfernen. Die Tatsache, daß ich der Sohn des Direktors der Kreditbank war, hatte keinen literarischen Einfluß, dennoch sind solche lebensbedingten Einflüsse sehr wichtig. Wer weiß, in welchem russischen Lager ich gestorben wäre, hätte diese Beziehung nicht existiert.

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INTERVIEWER: Und wie konnten Sie sich in Heidelberg vom Kriegsgeschehen fernhalten? In Ihrem biographischen Fragment steht zu lesen: »Heidelberg: Hilfe von Jaspers (sehr gegen seine eigene Einstellung)…« LUKÁCS: Jaspers stellte mir ein ärztliches Attest aus. Da er den Krieg befürwortete, widersprach das seiner Überzeugung. INTERVIEWER: Warum stellte er es dann aus? Waren Sie Freunde? LUKÁCS: Zwischen uns bestand eine gewisse Freundschaft, und ich glaube, daß ich seine Hilfe einer geistreichen Replik zu verdanken habe, und diese Replik bewährte sich auch später. Ich sagte ihm, weil er die Frage aufwarf, ob ich mich zurückzöge, weil ich um mein Leben Angst hätte: »Sehen Sie, sollte ich einmal zum Kriegsende einberufen werden, dann werde ich Sie nicht um ein ärztliches Attest bitten.« Das hatte ihn offensichtlich beeinflußt. INTERVIEWER: Er ist auch nicht zum Militär gegangen, oder doch? LUKÁCS: Eingezogen. INTERVIEWER: Wenn Sie von den Kriegsjahren sprechen, fällt auch der Name Ihrer ersten Frau: Jelena Grabenko. LUKÁCS: Sie war Russin und gehörte in Rußland zur Sozialrevolutionären Bewegung, von der sie sich aber schon seit langem distanziert hatte. Wir lebten während des Krieges – das sind persönliche Dinge, die sind nicht weiter interessant –, wir lebten während des Krieges getrennt, das heißt, sie lebte zusammen mit ihrem Freund, und da sie Russin war und kein Einkommen hatte, unterstützte ich sie materiell. 1918 trennte sie sich von ihrem Freund, ich weiß nicht warum, und kam nach Pest. Doch bis dahin war die Ehe zwischen uns schon längst auseinandergefallen. INTERVIEWER: Wo hat sie eigentlich während des Krieges gelebt? LUKÁCS: Jelena Grabenko? Anfangs in Heidelberg und später in Bayern. INTERVIEWER: In der ungarischen Literatur wird sie ja von mehreren Autoren erwähnt. Zum Beispiel von Béni Ferenczi oder in Sinkós Roman… LUKÁCS: Sie war ein außerordentlich intelligenter Mensch, abgesehen davon, daß sie auch eine begabte Malerin war. Als sie nach Budapest kam und Kun sah, entstand bei

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ihr der Eindruck, Kun sei so wie Vautrin. Ich halte das für eine außerordentlich geistreiche und gute Bemerkung. Ich habe sie auch damals gebilligt. Aus dieser Bemerkung kann man bereits ersehen, daß sie ein sehr scharfsinniger Mensch gewesen sein muß. In Budapest freundete sie sich mit der jungen Generation an, mit dem BéniFerenczi-Kreis, mit Révai, mit Sinkó und so weiter. Sie lebte dort im Sowjet-Haus, und zum Mittag- und zum Abendessen und auch zu anderen Gelegenheiten kamen sie zusammen. Sie gehörte zu diesem Kreis, ohne daß sie in die kommunistische Partei eingetreten wäre. Und das setzte sich in Wien fort, wo sie auch weiterhin zum Beispiel ein gutes Verhältnis zu Révai aufrechthielt. INTERVIEWER: Sie ist auch emigriert? LUKÁCS: Sie ist auch emigriert. INTERVIEWER: Sie haben sich in Heidelberg kennengelernt? LUKÁCS: Nein. In einem italienischen Badeort. Sie war von Paris her mit den Balázs’s befreundet. Sie besuchte die Balázs’s, und dort haben wir uns kennengelernt. INTERVIEWER: Wie beurteilen Sie Ihr während der Kriegszeit entstandenes Hauptwerk, Die Theorie des Romans? LUKÁCS: Mit Fichte bezeichnet Die Theorie des Romans dieses ganze Zeitalter als Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit. Eine Besonderheit dieses Buches über den Roman ist darin zu sehen, daß es methodisch ein geistesgeschichtliches Buch ist. Aber ich glaube, es ist das einzige nicht rechts orientierte geistesgeschichtliche Buch. Moralisch halte ich das ganze Zeitalter für verwerflich, und die Kunst ist aus meiner Sicht gut, sofern sie sich dieser Entwicklung entgegenstellt, und hier kommt vom Aspekt meiner Entwicklung dem russischen Realismus Bedeutung zu, denn Tolstoi und Dostojewski haben uns darin unterwiesen, wie man in der Literatur ein ganzes System in Bausch und Bogen verurteilen kann. Bei ihnen ist nicht davon die Rede, daß der Kapitalismus die und die Fehler habe, sondern Tolstois und Dostojewskis Meinung zufolge ist das ganze System, so wie es ist, unmenschlich. INTERVIEWER: Ist es auf diese Erkenntnis zurückzuführen, daß Genosse Lukács auch vom Sieg der Engländer keine Verbesserung erwartet hat? LUKÁCS: Schauen Sie, ich war hinsichtlich der bürgerlichen Demokratie immer skeptisch. Anatole France sagt manchmal so etwas, daß es dem Reichen wie dem Armen gleichermaßen verboten sei, unter der Brücke zu liegen. Ich befand mich zu dieser

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Gleichheitsidee immer in Opposition. Doch bedeutete das natürlich keinerlei konkrete politische Stellungnahme. Damals erfuhr ich, daß es davon auch eine konkrete politische Form gab, als Liebknechts1 Auftreten dies in Deutschland evident machte. INTERVIEWER: In jener Zeit muß es eine umwälzende Neuigkeit gewesen sein, daß Sie die Romanform mit der Geschichte in Verbindung gebracht haben. LUKÁCS: Es gibt dort gewisse richtige Beobachtungen. Insgesamt gesehen jedoch geht das Buch von einer Konzeption aus, die Tolstoi und Dostojewski als den Gipfelpunkt des revolutionären Romans in der Weltliteratur betrachtet, was als Konzeption falsch ist. Auf jeden Fall erörtert dieses Werk – natürlich noch innerhalb der bürgerlichen Literatur – die Theorie des revolutionären Romans. In jener Zeit gab es so etwas noch nicht. Es existierte eine geisteswissenschaftliche Konzeption des Romans, die künstlerisch und ideologisch gleichermaßen konservativ war. Meine Theorie des Romans war im Sinne des sozialistischen Revolutionarismus nicht revolutionär. Gemessen an der damaligen Literaturwissenschaft und Romantheorie jedoch war sie revolutionär. Letztendlich ist Die Theorie des Romans nichts anderes als die Fortsetzung des AdyArtikels, gattungsmäßig und thematisch eine internationale Verallgemeinerung. INTERVIEWER: Genosse Lukács, deprimiert Sie die heutige Wirkung der Theorie des Romans, oder sind Sie darüber eher erfreut? Ich frage das, weil Sie an anderer Stelle schon erklärt haben, wonach Sie Die Theorie des Romans nicht als Bestandteil Ihres Lebenswerks betrachteten. LUKÁCS: Das ist eine sehr komplizierte Frage, weil wir auch heute in einer Übergangszeit leben, und ein solches Zwischenprodukt, wie es Die Theorie des Romans ist, muß als Zwischenprodukt bewertet werden. INTERVIEWER: Ich habe das Gefühl, daß man die Frage nur zum Teil damit erledigen kann, daß es sich um eine Übergangssache handelt, wenn ein solches Produkt wie Die Theorie des Romans mehr als fünfzig Jahre lang fortlebt und Einfluß ausübt. Offensichtlich sind darin nicht nur Übergangswerte realisiert worden. LUKÁCS: Schauen Sie, Fichtes Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit bedeutet, daß Europa aus jener Pseudokonsolidation, in der die Menschen bis 1914 gelebt haben, dorthin gestürzt ist, wo es sich jetzt befindet. Demzufolge entspricht dieses Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit negativ vollkommen der Wahrheit. Nur fehlt hierin natürlich noch, was Lenin hieraus entwickelt hat, daß die gesamte Gesellschaft von 1 Karl Liebknecht stimmte im Deutschen Reichstag als einziger gegen den Krieg.

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Grund auf verändert werden muß. Das war in der Theorie des Romans noch nicht vorhanden. INTERVIEWER: Es ist jedenfalls interessant, daß Sie das Buch 1914 geschrieben haben, daß es aber erst nach dem Krieg erscheinen konnte… LUKÁCS: Das ist so nicht richtig. Die Theorie des Romans ist während des Krieges in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft erschienen. In Buchform ist es erst nach dem Krieg erschienen. INTERVIEWER: Als Sie nicht mehr damit einverstanden waren. LUKÁCS: In dieser Zeit ging die Einheit der Gesinnung über die Einheit der Überzeugungen. INTERVIEWER: Haben Sie an die Herausgabe des Heidelberger Manuskripts, an die Herausgabe des ästhetischen Fragments, überhaupt nicht gedacht? LUKÁCS: Nein. INTERVIEWER: Diese Arbeit ist Fragment geblieben? LUKÁCS: Sie ist vollkommen Fragment geblieben. Ein Kapitel daraus ist in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft oder in Logos erschienen. Ich weiß jetzt nicht mehr, in welcher. Doch die Heidelberger Ästhetik habe ich bald aufgegeben, weil ich 1917 anfing, mich für ethische Probleme zu interessieren, und da ließ ich diese ästhetischen Fragen bereits links liegen. INTERVIEWER: Das erschienene Kapitel ist auch nicht in der Gesamtausgabe enthalten, die jetzt herausgegeben wird? LUKÁCS: In den Jugendwerken ist es vorhanden. Das heißt ein Kapitel. INTERVIEWER: Existiert das Manuskript als ganzes nicht mehr? LUKÁCS: Ein Teil davon ist vorhanden, aber ich weiß gar nicht, wo und bei wem. INTERVIEWER: In Ihrer autobiographischen Skizze erwähnen Sie mit Hinblick auf diese Periode den Budapester Kreis. Es handelt sich offensichtlich um die sogenannte Sonntagsgesellschaft. Wer hat dazugehört?

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LUKÁCS:* Die Sonntagsgesellschaft war der Zusammenschluß eines Freundeskreises, der sich um Béla Balázs und um mich gebildet hatte. Wir schlossen uns im Weltkrieg zusammen. Ich verbrachte 1915 und 1916 als Hilfssoldat in Budapest, und in der Zeit kam diese Gesellschaft zusammen. Béla Balázs und Anna Lesznai gehörten dazu, dann schlossen sich uns von allen möglichen Seiten auch andere an, beispielsweise Emma Ritoók, die eine sehr alte Bekannte von Balázs war, dann eine Masse jüngerer Theoretiker, beispielsweise Béla Fogarasi. INTERVIEWER:* Und Révai? LUKÁCS:* Nein, Révai nicht. INTERVIEWER:* Anna Lesznai erwähnt auch Révai. LUKÁCS:* Máli irrt sich. In Wirklichkeit ist Lajos Fülep zuerst zu uns gestoßen, zu dem ich schon früher gute Beziehungen hatte. Dann gehörte Frederik Antal dazu, der später über die italienische Malerei und über Hogarth geschrieben hat, der junge Karl Mannheim und Arnold Hauser gehörten dazu und so weiter. Gegen 1918 schlossen sich dieser Gesellschaft tatsächlich einige junge Leute an, unter ihnen war auch Gergely, Anna Lesznais späterer Mann, und vor allem der begabteste unter ihnen, der Kunsthistoriker Charles de Tolnai, aber Révai, der, wenn ich recht informiert bin, ein Schulkamerad von ihnen war, hat nicht zu dieser Gruppe gehört. INTERVIEWER: Und Margit Kaffka? LUKÁCS:* Eine Zeitlang verkehrte auch die Kaffka bei uns, aber dann heiratete sie Béla Balázs’ Bruder, Ervin Bauer. Diese beiden haßten sich derart, wie sich Geschwister für gewöhnlich hassen, so daß dadurch also die Kaffka aus unserer Gesellschaft ausschied. INTERVIEWER: Sie halten diese Gesellschaft für »ideologisch bunt«. LUKÁCS: Adys Einstellung zum Krieg war die eigentliche Grundlage der ganzen Gesellschaft. Aber die Kriegsgegnerschaft war sehr differenziert. Ich zum Beispiel gelangte zu einem Standpunkt allgemeiner Kriegsgegnerschaft. Mannheims oder Hausers Stellungnahme ging nicht so weit. INTERVIEWER:* Was bestimmte die Diskussionen der Sonntagsgesellschaft?

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LUKÁCS:* Die Diskussionen bewegten sich zwischen außerordentlich verworrenen und auch sich gegenseitig widersprechenden liberalen Anschauungen. Man kann absolut nicht behaupten, daß es einen einheitlichen Sonntagskreis-Standpunkt gegeben hätte. Beispielsweise tendierte die allgemeine Stimmung der Gesellschaft in Richtung der westlichen Demokratien à la Mihályi Károlyi. Ich glaube, ich vertrat als einziger jene Anschauung (an einer Stelle habe ich das auch geschrieben): »Gut, ÖsterreichUngarn und Deutschland können Rußland schlagen, dann werden die Romanows stürzen, und das ist in Ordnung. Es kann auch passieren, daß Deutschland und Österreich von den westlichen Staaten geschlagen werden, dann stürzen die Hohenzollern und die Habsburger. Das ist in Ordnung. Aber wer wird uns dann vor den westlichen Demokratien schützen?« Im Sonntagskreis hielt man das natürlich für ein schreckliches Paradoxon. Was mich angeht, ich bekam die Antwort von der Revolution 1917, jene dritte Möglichkeit, nach der ich auch schon früher gesucht hatte. Unseren gemeinsamen Standpunkt könnte man in der Form artikulieren, daß wir jede Konzession gegenüber der ungarischen Reaktion ablehnten und in dieser Hinsicht auch für das Bündnis mit dem Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhundert) einstanden. Weltanschaulich allerdings befanden wir uns in scharfem Gegensatz zu dem freidenkerischen Positivismus. Hieraus ging dann die Freie Schule der Geisteswissenschaften hervor, die 1917 ihre Tätigkeit aufnahm. Hier hielten Lajos Fülep, Béla Balázs, Emma Ritoók und auch Mannheim Vorträge. Ich hielt ebenfalls Vorträge. Diese Institution hatte im übrigen offiziell kein feindliches Verhältnis zu der Gruppe um Jászi. Ervin Szabó zum Beispiel sympathisierte mit der Gründung dieser Schule und betrachtete sie überhaupt nicht als Reaktion auf Jászis Gruppe. Es muß natürlich hinzugefügt werden, daß man unseren Radikalismus nicht im heutigen Sinn und insbesondere nicht in bolschewistischem Sinn überschätzen darf, denn ich selbst hatte auch gewisse Krisen zu bewältigen, ehe aus dem Sonntagsgesellschafter ein Kommunist wurde. Es entspricht absolut nicht den Tatsachen, die später von der Konterrevolution, beispielsweise von Emma Ritoók, behauptet werden, daß nämlich die Sonntagsgesellschaft eine bolschewistische Versammlung gewesen sei. Für die Unterschiedlichkeit der Standpunkte innerhalb der Sonntagsgesellschaft ist es charakteristisch, daß ich der einzige war, der anfing, einen hegelianisch-marxistischen Standpunkt zu vertreten. Lediglich Frederik Antal hatte einen gewissen Hang zum Marxismus. Lajos Fülep nahm einen geisteswissenschaftlichen Standpunkt ein, während Emma Ritoók im Grunde genommen konservativ war. Die Lesznai kann man natürlich keiner dieser Richtungen zuordnen. Die Sonntagsgesellschaft konnte man nur durch nachträgliche Stilisierung zu einer präbolschewistischen oder gar zu einer bolschewistischen Versammlung umfunktionieren. INTERVIEWER:* Vielleicht auch noch ein paar Worte über Ihre Beziehung zum Kreis des Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhunderts).

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LUKÁCS:* Ich habe ihn schon in meiner Studentenzeit in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts über Bánóczi kennengelernt. Sie wissen vielleicht, daß Margit Bánóczi später Somlós Frau geworden ist. Aber der ganze Kreis hatte zu Bánóczis Kontakt. Über andere Verbindungen hatte ich auch Ervin Szabó ziemlich früh kennengelernt. In der damaligen Zeit war es selbstverständlich, daß man dazugehörte. Ich will ein Beispiel erwähnen: 1905 oder 1906 versuchte die Gruppe um Jászi in der Gesellschaftswissenschaftlichen Gesellschaft die Gruppe um Pál Wolfner und Andrássy zu Fall zu bringen. INTERVIEWER:* Das war 1906. LUKÁCS:* Ich erinnere mich nur daran, daß ich in der Tatra Ferien machte und nur unter größten Schwierigkeiten durchsetzen konnte, daß ich Geld bekam, um aus dem Tatragebirge zur Hauptversammlung zu fahren, um für die Gruppe um Jászi Partei ergreifen zu können, gegen das Lager um Pál Farkas und Andrássy. Ich sage das nur, um damit zu illustrieren, daß ich von Anfang an Anhänger derartiger gesellschaftlicher Bestrebungen des Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhunderts) war. Aber den gesamten Jászischen Positivismus verurteilte ich philosophisch auf das schärfste. Seit ich denken kann, war ich immer gegen den Positivismus. Ich füge hinzu, daß ich Jászi immer für einen Wirrkopf und theoretisch für einen sehr minderbegabten Menschen gehalten habe. Ich schätzte dagegen Gyula Piklers Verstand und würdigte die wissenschaftlichen Fähigkeiten Bódog Somlós. Zu Somló hatte ich übrigens ein ziemlich gutes persönliches Verhältnis, und sehr gute Beziehungen hatte ich zu dem früh verstorbenen Ede Harkányi. Also ich war durch einige schwache Fäden mit den Mitgliedern der Gesellschaftswissenschaftlichen Gesellschaft verbunden, aber den französischenglischen Positivismus der Gruppe habe ich philosophisch immer abgelehnt. Jászi traf ich manchmal. Wir unterhielten uns. Ich mochte ihn nicht besonders, und ich glaube auch nicht, daß Jászi mich besonders sympathisch gefunden hat. Derartige Probleme wie mit Osvát hatte ich mit ihm nie. Ich erinnere mich nicht, daß Jászi etwas nicht veröffentlicht hätte, was ich ihm gegeben habe. Wie Sie wissen, ist es vielmehr so, daß Osvát den Ady-Artikel abgelehnt und Jászi ihn gebracht hat. Wirklich verehren tat ich in dem ganzen Kreis nur Ervin Szabó. Er spielte als einziger tatsächlich eine Rolle in meiner Entwicklung. Würden Sie mich jetzt fragen, was ich von Jászi gelesen habe, ja, bei Gott, ich habe alles vergessen. Es ist nichts davon geblieben. Viele haben gesagt, auch Ady hat das gesagt, sie würden in Jászi ihren Führer sehen. Ich habe niemals in ihm meinen Führer gesehen. INTERVIEWER:* Vielleicht ist auch Jászis Tugend eher in seiner Moralität zu sehen?

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LUKÁCS:* So eigenartig das klingen mag, wenn ich Jászi mit jenem tiefen Erlebnis vergleiche, mit der Bedeutung, die Elek Benedeks Moralität für mich hatte, Jászis Moralität beeindruckte mich viel weniger. Es war dann eine bestimmte Portion Empfindsamkeit vorhanden, die mir nicht gefiel. Beispielsweise wurden Kristoffy und seine Leute von der Gruppe um Jászi unterstützt. Infolgedessen hielt ich es für vollkommen verständlich, daß Jászi später von Darányi aus dem Ministerium hinausgeworfen wurde. Das war meiner Meinung nach vollkommen logisch, ich verstand absolut nicht die moralische Empörung des Jászi-Kreises und von Jászi persönlich. Denn wer zum Teufel konnte von Ignác Darányi demokratisches Verständnis erwarten? Ich war auch damals realistisch genug, um das zu verstehen. Außerdem habe ich auch aus der Zeit der Diktatur an Jászi eine unangenehme Erinnerung. Ich weiß nicht, ob das für Jászis Gesamtpersönlichkeit bezeichnend ist, dennoch wirft es kein gutes Licht auf ihn, daß er mich nach dem Ausbruch der Diktatur aufgesucht und mir vorgeschlagen hat, die Gesellschaftswissenschaftliche Gesellschaft sollte die im Kommunismus aktiven Theoretiker in das Direktorium wählen: Elek Bolgár, Fogarasi und mich. Ich habe ihm geantwortet: »Schau, wir sind seit langen Jahren in der Öffentlichkeit aktiv. Wenn ihr uns bisher nicht in das Direktorium gewählt habt, dann gibt es keinen Grund dafür, uns jetzt als Minister oder weiß ich was hineinzuwählen.« Daraufhin fragte mich Jászi, was mit dem Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhundert) werden solle. Ich antwortete ihm: »Laß das Huszadik Század erscheinen! Solange ihr darin keine offene Konterrevolution macht«, das habe ich mit diesen Worten gesagt, »wird euch nichts passieren.« Es ist ein Märchen, daß Jászi verfolgt worden wäre und daß er deshalb geflüchtet sei. Das entspricht nicht einmal bei Anna Lesznai den Tatsachen. Absolut niemand hatte vor, Jászi zu verhaften. Er ist emigriert, weil er die – berechtigte – Befürchtung hatte, daß die Diktatur gestürzt werden würde und daß die konterrevolutionäre Verfolgung bei der Diktatur nicht haltmachen, sondern weitergehen würde. In dieser Hinsicht hatte Jászi vollkommen recht. Doch unter der Diktatur hätte Jászi ruhig bleiben können. INTERVIEWER:* Ihre Beziehungen zum Galilei-Kreis? LUKÁCS:* Zum Galilei-Kreis hatte ich keine besonderen Beziehungen. Ich kannte Karl Polányi gut, und manchmal suchte ich den Galilei-Kreis auf. Vielleicht habe ich dort sogar auch einen Vortrag gehalten. Daran erinnere ich mich nicht mehr. Enge Beziehungen sind jedenfalls zwischen uns nicht entstanden. Die radikalen Galileiisten, die sich um Korvin gruppiert hatten, lernte ich erst 1919 kennen. Sie waren früher eine illegale Gruppe, weshalb sie zu mir als einem bürgerlichen Schriftsteller kaum Beziehungen aufgenommen hätten. Als ich in die kommunistische Partei eintrat, bekam ich nicht nur zu Korvin Kontakt, sondern auch zu den jüngeren Vertretern, zu Duczynska, Csillag und auch zu den anderen. Zu einigen, zum Beispiel zu Csillag,

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bekam ich ein sehr gutes Verhältnis. Aber zum Galilei-Kreis bestanden nie wirkliche Beziehungen. INTERVIEWER: Hatten Sie auch dann keine echten Beziehungen zum Galilei-Kreis, als der sich bis zu einem gewissen Grad radikalisierte? LUKÁCS: Meine erste echte Beziehung hatte ich, abgesehen von halbwegs freundschaftlichen Beziehungen, zur kommunistischen Partei. Vor der kommunistischen Partei war ich weder bei der radikalen Partei noch bei der sozialdemokratischen Partei anzutreffen. Ich hatte keine blasse Ahnung davon, was sich in diesen Parteien abspielte. INTERVIEWER: Polányi schreibt in seinen Erinnerungen, er habe Ady auf der AdyTrauerfeier in militantem antimaterialistischem Geist gewürdigt, während Genosse Lukács Ady in militantem bolschewistischem Geist gewürdigt habe. LUKÁCS: Was Polányi am 6. Februar 1919 gedacht hat, das kann ich heute nicht kontrollieren, ich kann auch nicht genau kontrollieren, was ich damals gedacht habe. Hier verfolgen Sie als Literaturhistoriker mit überzogener Aufmerksamkeit die Entwicklung eines Schriftstellers, den ein Großteil der Dinge zum Zeitpunkt ihres Geschehens schrecklich wenig interessiert hat. Ich war Zeit meines Lebens ein großer Verehrer von Ady, und als Polányi mich darum gebeten hat, einen Vortrag zu halten, habe ich natürlich einen Vortrag gehalten. Doch daß dem irgendeine Bedeutung vom Gesichtspunkt meines Werdegangs zugekommen wäre, daß ich dieses oder jenes gedacht habe, das sind literaturgeschichtliche Übertreibungen. INTERVIEWER: Kehren wir wieder zum Hauptthema zurück. Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten die Ästhetik aufgegeben, weil Sie angefangen hätten, sich für ethische Probleme zu interessieren. Welche Arbeiten resultierten aus diesem Interesse? LUKÁCS: In Schriftform sind in jener Zeit keine Werke entstanden. Das Interesse an der Ethik hat mich zur Revolution geführt. INTERVIEWER: Trotzdem sind aber Artikel zur Ethik erschienen, zum Beispiel Taktik und Ethik… LUKÁCS: Das ist ein späterer Artikel, der 1919 entstanden ist. INTERVIEWER: Aber er ist doch Ergebnis dieses Interesses?

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LUKÁCS: Selbstverständlich. Hier werfe ich jenes Problem auf, den ethischen Konflikt, wie man unethisch und dennoch richtig handeln kann. INTERVIEWER: Das Hebbel-Problem… Judiths Dilemma… LUKÁCS: »Wenn Du zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellst: wer bin ich, daß ich mit Dir darüber hadere, daß ich mich Dir entziehen sollte!« INTERVIEWER: Ein wunderschöner Satz. Aber wie leider alle klugen und schönen Sätze, gibt auch er Gelegenheit zum Mißbrauch. LUKÁCS: Einen Satz, der keine Gelegenheit zum Mißbrauch geben würde, gibt es nicht. INTERVIEWER: Ihre theoretische Tätigkeit begann mit der Ästhetik. Dann kam das Interesse an der Ethik. Hierauf folgte das Interesse an der Politik. Von 1919 an dominiert das politische Interesse. LUKÁCS: Meiner Meinung nach darf man nicht vergessen, daß dieses politische Interesse zugleich auch ein ethisches war. »Was tun?«, das war für mich immer das Hauptproblem, und durch diese Frage wurden die ethische und die politische Problematik miteinander verbunden. INTERVIEWER: In welcher Form bezogen Sie während Károlyis Asternrevolution Stellung? LUKÁCS: Man darf die Dinge nicht nachträglich stilisieren. Ich gehörte zu jener breiten intellektuellen Schicht – die Deutschen sagen: Mitläufer –, die die gesamten damaligen Zustände für unhaltbar hielt. Als bezeichnendes Beispiel will ich hier erzählen, daß ich auch bei der Schießerei an der Kettenbrücke dabei war. Wir waren dort etwa vier- bis fünfhundert; ich war einer darunter. Von der ganzen Sache erinnere ich mich nur noch daran, daß ich auf dem Vörösmarty Platz mit László Dienes’ mir sehr sympathischer Frau stand, die Chemikerin war, eine sehr intelligente Frau, und wir gingen zusammen los und rannten unter die Arkaden am Donauufer. In dieser Demonstration spielte ich absolut keine besondere Rolle. Das ist bezeichnend für den Zeitraum der gesamten Oktoberrevolution. Ich war sehr wohl ein Anhänger der Oktoberrevolution, spielte jedoch aktiv keinerlei Rolle darin. Ich konnte gar keine aktive Rolle darin spielen, denn außer der kleinen Sonntagsgesellschaft hatte ich keinerlei Beziehungen. Aktiv wurde ich erst nach dem Sieg der Revolution, als die Probleme in Verbindung mit dem Auftritt der Kommunisten anfingen interessant zu werden. Ich

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muß gestehen, und dafür gibt es auch ein Dokument, daß ich mich der kommunistischen Partei erst nach einem gewissen Schwanken angeschlossen habe. Das ist eine eigenartige Sache, doch in der Realität passiert so etwas. Obwohl ich mir über die positive Rolle der Gewalt in der Geschichte vollkommen im klaren war und obwohl ich gegen die Jakobiner nie etwas einzuwenden gehabt hatte, zeigte sich, als hier die Frage der Gewalt auftauchte und die Entscheidung, daß ich die Gewalt durch meine eigenen Aktivitäten fördern sollte, daß sich die Theorie im Kopf des Menschen nicht genau mit der Praxis deckt. Und es mußte ein gewisser Prozeß ablaufen, im November, damit ich mich Mitte Dezember der kommunistischen Partei anschließen konnte. INTERVIEWER: In dieser Zeit entstand Taktik und Ethik? LUKÁCS: In jener Zeit entstand Taktik und Ethik. Dieser Artikel erschien im Januar. Er war eine innere Abrechnung, die mir den Eintritt in die kommunistische Partei ermöglichte. INTERVIEWER: Durch den Eintritt war der innere ideologische Kampf sicher nicht abgeschlossen? LUKÁCS: Trotz meiner bereits skizzierten kriegsfeindlichen und positivismusfeindlichen Einstellung hatte ich früher zur Bewegung keine Beziehungen und gelangte zu keinerlei konkreter politischer Stellungnahme. Daß eine konkrete politische Form des Widerstands möglich ist, das erfuhr ich erst, als es durch Liebknechts Auftreten in Deutschland evident geworden war. Nun darf man aber niemals vergessen – und das ist kein biographischer Fakt, sondern eine allgemeingültige Sache –, gleich was man über Lenins Theorie und Lenins Praxis denkt – und es wird heutzutage darüber sehr viel Unrichtiges und Schlechtes gedacht –, daß es quasi ausschließlich Lenins Verdienst ist, die Ehre der Internationale gerettet zu haben, indem er verkündete, daß der Umsturz des Kapitalismus gerade im Zusammenhang mit dem Krieg die Aufgabe der Arbeiterklasse sei. Wir vermochten uns dieser Erkenntnis ausschließlich durch Lenin zu nähern. Allerdings ging diese Annäherung nicht ohne Krisen vonstatten. Und ich will das nicht leugnen, auch in meiner Entwicklung hat es eine Periode des Schwankens gegeben, die zwar nur ein paar Wochen angedauert hat, trotzdem aber hat sie existiert. Man darf nicht vergessen, und hierfür steht uns glücklicherweise ein ziemlich gutes Dokument zur Verfügung, Ervin Sinkós Roman Die Optimisten, welche verworrene ideologische Beziehung die Intelligenz in der damaligen Zeit zum Kommunismus aufgebaut hat. Es ist bezeichnend für diese Verwirrung, daß ich damals noch zu denjenigen gehörte, die verhältnismäßig klargesehen haben. Ich will mich nicht selbst loben, ich will nur die allgemeine Stimmung charakterisieren. Die marxistische Bildung war selbst bei Leuten wie mir, die Marx gelesen hatten, sehr gering.

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Über Erfahrungen in der Bewegung oder gar über revolutionäre Erfahrungen verfügte niemand, und fügen wir hinzu, auch wenn ich damit vom orthodoxen Standpunkt abweiche, daß die politische Reife der aus Moskau Gekommenen von den Leuten furchtbar überbewertet wurde. INTERVIEWER: Hat sich die Partei schon damals zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung in moskauorientierte und nicht-moskauorientierte Richtungen gespalten? LUKÁCS: Nein. Damals war die Lage ziemlich chaotisch, und wir freuten uns eigentlich über jeden Moskauer, von dem wir uns effektive Informationen versprachen, ein Bild darüber, wie die Lage »draußen« war und was diese Ereignisse theoretisch bedeuteten. Ich habe alles versucht, und hierbei halfen mir auch persönliche Beziehungen, zum Beispiel mein alter Freund Emö Seidler, aber ich darf behaupten, daß wir von den Moskauern über diese Dinge nichts Vernünftiges gehört haben. INTERVIEWER: Haben Sie die Diskussionen in sich selbst ausgetragen oder… LUKÁCS: Diese Diskussionen liefen zum Teil in der Sonntagsgesellschaft, und dann hielt ich einen großen Vortrag in der Akademie der kommunistischen Partei, und zwar, wenn ich mich richtig erinnere, gerade über das Problem der Gewalt. Die Diskussionen und Dialoge – Sinkó beschreibt das auch richtig – fanden auch in der Visegrádi Straße unaufhörlich statt. Ich war nicht der einzige, der nicht klar sah. Die Lage war sehr kompliziert. Einerseits waren wir davon überzeugt, daß dies nicht nur für Ungarn, sondern für die gesamte Menschheit der einzige Ausweg aus der damaligen Lage wäre, andererseits hatten wir keine blasse Ahnung von der theoretischen Begründung und den einzelnen Etappen dieses Auswegs. Die heutige Geschichtsschreibung der Partei kann sich nicht vorstellen, daß ein Funktionär von etwas keine Ahnung hat. Folglich existiert diese Lage für die Geschichte der Partei nicht. Und die Dinge werden so dargestellt, als wären Kun und seine Leute mit leninistischem Wissen in Budapest eingetroffen und hätten dieses dann über die entsprechenden Kanäle unter den anderen verteilt und als hätte es nach einer bestimmten Zeit bereits ein erstklassiges Wissen, ein zweitklassiges Wissen und so weiter gegeben. Ich gestehe Ihnen, daß ich in der Emigration in Wien angefangen habe, mir einen Einblick in die wirkliche theoretische Bedeutung Lenins zu verschaffen. Weder von Kun, noch von Szamuely, noch von jemand anderem der aus Rußland Gekommenen war hierüber eine ernstzunehmende Information zu bekommen. INTERVIEWER: Konnte man damals von Lenin nichts lesen?

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LUKÁCS: In jener Zeit war lediglich Staat und Revolution übersetzt. Allerdings, lassen Sie mich das hinzufügen, so gut Staat und Revolution geschrieben war, der NichtEingeweihte und der marxistisch Ungebildete konnte das nicht verstehen, denn ein solcher Leser glaubt, er hätte es mit irgendeiner Marx-Philologie zu tun. Staat und Revolution behandelt sämtliche hierher gehörenden Marxschen Erörterungen. Und dadurch kann ein solcher Eindruck erweckt werden. Ich gestehe, ich habe auch erst später die gewaltige theoretische Bedeutung dieses Werks verstanden. Was meine Person betrifft, kann ich nur sagen, daß ich vollkommen unvorbereitet in die Partei eingetreten bin und daß ich in der Partei in dieser Hinsicht überhaupt nichts gelernt habe. Und die eigentlichen erzwungenen Lehrjahre begannen in der Diktatur und nach dem Zusammenbruch der Diktatur, als sich ein Teil der Kommunisten daranmachte, den im kommunistischen Sinn des Wortes verstandenen Marxismus kennenzulernen und sich anzueignen. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie früher nie zu irgendeiner Gruppierung gehört, die sich der kommunistischen Partei angeschlossen hat? LUKÁCS: Nein. INTERVIEWER: Welchem Umstand schreiben Sie es dann zu, daß Sie verhältnismäßig schnell Volkskommissar geworden sind? Ihrem Renommee? LUKÁCS: Teils dem Umstand, daß Kun und Szamuely in dieser Hinsicht praktische Menschen waren. Letztendlich war ich ein, wenn auch nicht erstklassiger, dennoch aber ein sogenannter berühmter Schriftsteller. Das bewerteten sie als Positivum. Und ich bin überzeugt davon, daß ich ohne mein Renommee auch nicht meinen ersten Vortrag im Rahmen der großen Vortragsreihe hätte halten dürfen. Der zweite Grund mochte gewesen sein, daß nach Béla Kuns Verhaftung im Februar ein zweites Zentralkomitee gegründet worden war und die Vörös Ujság (Rote Zeitung) unter deren Regie erschien. Nun war es uns aber gelungen, im Kreis der linken Sozialdemokraten, im Kreis der Landler-Gruppe und der ihr Nahestehenden, ein gewisses Ansehen zu erringen. Sie waren nämlich überrascht, daß die Vörös Ujság nach Festnahme der gesamten Garnitur der kommunistischen Partei trotzdem erschien und ihrer Meinung und eines Teils der öffentlichen Meinung zufolge besser war als die alte. Ich kann das nicht beurteilen, aber ich erinnere mich an jene Anekdote, daß mein Vater, mit dem ich freilich über solche Fragen niemals sprach und der Präsident oder so etwas Ähnliches des Bundes der kapitalistischen und Privatangestellten mit einer Art sozialpolitischen Orientierung war, einmal jemanden traf, der zu seiner Überraschung sagte: »Sehen Sie, Herr Direktor, das ist wirklich großartig, seit Ihr werter Herr Sohn die Vörös Ujság redigiert, ist sie viel besser geworden als früher.«

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INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie die Zeitung redigiert, oder waren Sie der Chefredakteur? LUKÁCS: Die Zeitung wurde von einer Gruppe redigiert. Der offiziell ernannte Redakteur wäre Ferenc Rákos gewesen, doch der zählte nicht. Aber Alpári, Bolgár, Révai und ich waren dort, und wir redigierten die Zeitung de facto. Es ist eine andere Frage, wieso in der Öffentlichkeit die Meinung vorherrschte, daß ich der Redakteur sei. Vermutlich hängt das wieder damit zusammen, daß ich letztlich doch der bekannteste Name in der ganzen Gruppe war. INTERVIEWER: Wie hat Ihre Beziehung zur kommunistischen Partei organisatorisch begonnen? LUKÁCS: Ich hatte zu Ernö Seidler von der Führung der kommunistischen Partei ein altes freundschaftliches Verhältnis, und Seidler, der früher als Kun und seine Leute in Budapest eingetroffen war, hatte sich mit mir viel über diese Fragen unterhalten. Ich habe schon erwähnt, ich sympathisierte von Anfang an mit der russischen Revolution, und ich sympathisierte auch mit der Ausrufung der Räterepublik. Doch letzten Endes war ich ebenfalls unter bürgerlichen Vorurteilen aufgewachsen. Folglich löste die Losung der Diktatur des Proletariats bei mir eine gewisse ideologische Krise aus, deren Produkt in der Zeitung Szabadgondolat (Freier Gedanke) erschien, wo ich in einem Artikel gegen die Diktatur Stellung nahm. Nachdem sich diese Krise im Dezember 1918 gelöst hatte, nahm mich Seidler zu einer Unterhaltung zu Kun und Szamuely mit. INTERVIEWER: Zu dem Zeitpunkt hatte sich die kommunistische Partei bereits konstituiert. LUKÁCS: Die kommunistische Partei konstituierte sich Mitte November. Das heißt, ich gehöre nicht zu den Gründungsmitgliedern der kommunistischen Partei. INTERVIEWER: Genosse Lukács, Sie gelangten in die Führung, nachdem die erste Garde verhaftet worden war? LUKÁCS: Ja, richtig. Als ich in die Partei eintrat, sollte ich nach Kuns und Szamuelys Willen einen Platz in der Redaktionskommission der theoretischen Zeitschrift einnehmen. Ich akzeptierte das, und wenn ich mich richtig erinnere, erschien auch ein Artikel von mir in der Internationale. Als Kun und seine Leute festgenommen worden waren, fingen einige Genossen an zu sondieren, welche Kommunisten für eine eventuelle Führung in Frage kommen würden. Jemand – ich weiß nicht mehr, wer – brach-

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te mich mit dem illegalen Zentralkomitee zusammen. Man muß sagen, daß hier – ich glaube nicht, daß es hierfür historische Spuren gibt – zwei Strömungen existierten. Die einen waren durch die Festnahme und die Tatsache, daß Kun und seine Leute geschlagen wurden, ziemlich erschrocken und befürchteten, daß in Ungarn eine extremreaktionäre Richtung an die Macht kommen würde. Sie vertraten den Standpunkt, wir sollten uns zu einer Art Ervin-Szabó-Kreis umorganisieren und auf rein theoretischideologischer Grundlage weiterarbeiten. Die anderen – zu ihnen gehörte auch ich – vertraten die Meinung, die Arbeit der ersten Garnitur müßte fortgesetzt werden, wenn es sein müßte, illegal, wenn es nicht sein müßte, auch weiterhin legal. INTERVIEWER: Wer gehörte zur ersten Gruppe? LUKÁCS: Das könnte ich jetzt nicht sagen. INTERVIEWER: Und in die zweite? LUKÁCS: In die zweite zum Beispiel Tibor Szamuely, der sich damals in der Illegalität befand. Er unterstützte die zweite Gruppe wärmstens. Ich könnte jetzt nicht sämtliche Mitglieder der beiden Gruppen aufzählen, und das ist auch nicht sehr wichtig, denn hier ging es um eine interne Beratung, ohne äußere Konsequenzen. Die kommunistische Partei blieb bestehen, und die vervollständigte Führung setzte die alte Politik fort. Mit einem einzigen geringen Unterschied. Und ich darf sagen, daß ich daran auch Anteil hatte. Kun unterhielt nämlich ein gutes persönliches Verhältnis zu Landler. Kun wollte Landlers linke sozialdemokratische Gruppe durch geschickte Überzeugung und Überredung an die Partei heranführen. Einige von uns in der Führung vertraten den Standpunkt, daß die Landler-Gruppe jetzt zwischen zwei Standpunkten schwanken würde und wenn wir dieses Schwanken kritisierten, dann würden wir die Annäherung von Landler und seinen Leuten an die kommunistische Partei begünstigen. Es stimme nicht, daß wir dadurch einen Graben zwischen uns schaffen würden. Ich will anmerken, daß Landler selbst, als ich mit ihm darüber in der Diktatur gesprochen habe, zugegeben hat, daß die kommunistische Presse mit ihrer scharfen Kritik an seinem Schwanken zwischen den beiden Parteien sehr wohl einen Einfluß auf seine spätere Stellungnahme gehabt habe. INTERVIEWER: War sich die Führung während der Diktatur in so höchst wichtigen Fragen wie beispielsweise der Bodenreform einig? LUKÁCS: In der Frage der Bodenreform waren wir uns leider alle einig. Teils noch unter sozialdemokratischem Einfluß, teils weil einige dachten, die Bodenverteilung sei sowieso nur eine Übergangsmaßnahme, und da die kapitalistische Entwicklung Un-

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garns fortgeschrittener sei als die russische, hätten wir diese Übergangsmaßnahme nicht nötig, und wenn wir den Großgrundbesitz in Produktionsgenossenschaften umwandelten, dann würden wir durch Überspringen der bürgerlich-revolutionären Stufe direkt in den Sozialismus gelangen. Diesem Fehler waren wir alle verfallen. Und was mich nun angeht, so halte ich es für merkwürdig, daß ich mich auf dem Gebiet der Kultur in vollem Umfang dazu bekannte, daß man sich zur Durchführung des wahren revolutionären Wandels auf die bürgerlichen revolutionären Elemente stützen muß, daß ich aber in der Bodenfrage, da ich kein Politiker war und mich damit nicht eingehend beschäftigt hatte, den Standpunkt der Partei akzeptierte. Ich will die Sache nicht beschönigen, ich verhielt mich nicht oppositionell, obwohl ich in der Zeit, als ich als Politkommissar zur Armee gekommen war, mehrmals die Erfahrung gemacht hatte, daß die Bauern uns gegenüber wegen der unterbliebenen Bodenverteilung mißtrauisch waren. INTERVIEWER: Gab es Fragen, in denen die Parteiführung in der Zeit der Diktatur gespalten war? LUKÁCS: In kleineren Fragen kam das vor, weil Kun, der ein ziemlich geschickter Taktiker war, zu Weltner und Böhm sehr gute Beziehungen unterhielt und quasi alle Fragen erst einmal mit ihnen beriet. Einige von uns vertraten die Meinung, er würde die Parteitaktik allzusehr in der von Weltner und seinen Leuten zugelassenen Bahn festlegen. Dagegen gab es eine Opposition, mit der auch Tibor Szamuely sympathisierte. Otto Korvin, Gyula Lengyel, László Rudas und Elek Bolgár gehörten hierhin. Ich gehörte auch hierhin. Diese intellektuelle Opposition versuchte, wie wir das damals sagten, Béla Kun ein bißchen nach links, in Richtung der Kommunisten zu mobilisieren. Diese Opposition war allerdings noch sehr weit davon entfernt, eine reine Fraktion oder Richtung zu werden. INTERVIEWER: Aber Sie haben die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien befürwortet? LUKÁCS: Da die Macht in unseren Händen war, legten wir im allgemeinen zu großes Gewicht auf die Befürwortung der Vereinigung. Bei mir resultierte das natürlich aus einem speziellen persönlichen Umstand. In mir lebten die Überreste von Ervin Szabós Syndikalismus fort. So erhoffte ich mir also von der Vereinigung der Parteien den Durchbruch der syndikalistischen Tendenz, wonach jene Organe, die das Proletariat in die Diktatur führen, höherentwickelt sein würden, als es die Parteien waren. Meinen Artikel Partei und Klasse muß man als letzte Welle des von Ervin Szabó geprägten Syndikalismus begreifen und nicht etwa als wichtiges Prinzip meiner Entwicklung,

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denn die Praxis der Diktatur hat mir dann sehr bald gezeigt, daß dieser Standpunkt unhaltbar war. INTERVIEWER: Sind Sie auch heute der Meinung, daß Kuns Beziehungen zur Sozialdemokratie zu eng waren? LUKÁCS: Kun mußte diese Beziehungen zu den Sozialdemokraten in einem bestimmten Umfang unterhalten. Andererseits waren wir unzufrieden, daß die Diktatur nicht in Meilenschritten jenes Paradies auf Erden schuf, als welches wir den Kommunismus… wenn ich Paradies auf Erden sage, so muß man sich dieses auf sehr sektiererischasketische Weise vorstellen. Es ging absolut nicht um das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen, sondern es ging um die Veränderung der entscheidenden Lebensfragen. Diese Stimmungen waren in der Diktatur sehr präsent und offenbarten sich auch in bestimmten konkreten Fragen, und zwar in Fragen, in denen die Opposition meiner Meinung nach recht hatte. Eine solche Frage war der Fall der ClemenceauNote, als sich auch der Staatsmann Kun hereinlegen ließ. Er glaubte Clemenceau nämlich, daß die Rumänen ihre Truppen ebenfalls zurückziehen würden, wenn wir unsere Soldaten von der tschechischen Grenze zurückzögen. Béla Kun ist von Clemenceau einfach betrogen worden, und wir in der Opposition waren insofern klüger als Kun, als wir wußten, das sei lediglich eine Falle und wir würden durch die Annahme der Clemenceau-Note nichts gewinnen. Doch all das ist absolut kein Grund dafür, daß man hier in irgendeinem Sinn von einer Fraktion sprechen könnte. INTERVIEWER: Würden Sie etwas zu Ihrer Tätigkeit als Volkskommissar sagen? LUKÁCS: Darüber ist sehr wenig zu sagen. In den Menschen war ein sehr starker Haß gegen den Kapitalismus und alle seine Formen. Diese wollten wir um jeden Preis und so schnell wie möglich vernichten. Das spielte zweifellos in der Kulturpolitik der Partei eine Rolle. Es wurden Versuche unternommen, die grundlegend richtig waren, deren Durchführung jedoch auf naive Weise erfolgte, Versuche, den Warencharakter der Kunstwerke zu beseitigen und sie aus dem Warenverkehr herauszuziehen, das heißt, wir wollten den für den Kapitalismus charakteristischen Warencharakter des Künstlers und der Kunst beseitigen. Die sogenannten Schriftsteller- und Künstlerkataster dienten diesem Ziel. Wir wollten den Künstler vom Verkauf oder Nichtverkauf seiner Werke materiell unabhängig machen. Es ist offensichtlich, und kurze Zeit nach der Diktatur sahen wir das auch bereits ganz deutlich, daß das eine naive Sache war, und es wäre lächerlich, dies als kommunistische Maßnahme zu verteidigen. Andererseits hatte unsere Politik die sehr positive Seite, daß sie die Lenkung der Kunst und Literatur durch die literarischen und künstlerischen Direktorien in die Hände der Künstler legte. Am deutlichsten äußerte sich das auf jenem Gebiet, wo echte bewußte Künstler

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in die Führungsposition gelangten. Das Musikdirektorium wurde nämlich von Bartók, Kodály und Dohnányi gebildet, und auf dem Gebiet der Musik übten sie eine Diktatur aus, durch die der Bartók-Kodály-Richtung zum Sieg verholfen wurde. Aber sie führten auch eine Opernreform durch, was auch dadurch belegt wird, daß während der Diktatur eine große Premiere stattgefunden hat, und zwar die ungarische Erstaufführung von Verdis Othello. In nicht ganz so eindrucksvoller Weise bestand auch auf dem Gebiet der bildenden Kunst eine ähnliche Situation. Hier spielten Leute wie Béni Ferenczy, Noémi Ferenczy, Nemes Lampérth eine führende Rolle. Sie schlossen sich mit sehr begabten jungen Kunsthistorikern zusammen, mit Kálmán Pogány, János Wilde und dem später bekannt gewordenen Frederik Antal. Mit ihrer Hilfe führten sie die Sozialisierung der im Privatbesitz befindlichen Kunstwerke durch. Ergebnis dieser Sozialisierung war im Sommer 1919 eine Ausstellung, die auf der ganzen Welt kaum ihresgleichen hatte. Ich kann mich auf einen wirklichen Sachkenner wie Dvorak berufen, der diese Ausstellung als absolut mustergültig und großartig bezeichnet hat. Politisch war Dvorak ein konservativer Mensch, dem es aber trotzdem gefiel, daß man den Sammlern die Bilder wegnahm und ins Museum brachte. In noch schwächerer Form gab es all das auch auf dem Gebiet der Literatur. Ich will noch ein Moment zur Charakterisierung der Kulturpolitik erwähnen. In der Zeit unmittelbar vor der Diktatur hatte sich unter den Lehrern, vor allem unter den Gymnasiallehrern eine radikale Bewegung entwickelt, und dem Volkskommissariat für Unterrichtswesen gelang es, im Ministerium vom Ministerialsekretär aufwärts alle führenden Leute der alten Garde hinauszuwerfen, und an ihre Stelle setzten wir in sämtlichen führenden Positionen der Universitätsabteilungen die führenden Leute dieser radikalen Lehrer-Gewerkschaftsbewegung ein. In Parenthese gesagt habe ich mich hierin in einer Nacht gegen Kunfi durchgesetzt, da ich die besseren Nerven hatte. Morgens gegen drei machten Kunfis Nerven nicht mehr mit, und er stimmte der Sache zu. Insofern war hier tatsächlich eine Veränderung passiert, was natürlich lediglich bedeutet, daß wir uns von Anfang an mit der Ausarbeitung eines ernsthaften Programms befaßt haben. Und man muß hier erwähnen, daß dieses Programm durch die 45er Revolution verwirklicht worden ist. Die achtjährige Schulpflicht, die vier Gymnasialklassen und die sich daran anschließende Universität waren nämlich bereits im Reformprogramm der Diktatur enthalten. INTERVIEWER: Welche Beziehungen unterhielten Sie in jener Zeit zu den Schriftstellern? LUKÁCS: Die Schriftsteller hatten auch so ein Schriftsteller-Direktorium… INTERVIEWER: Hat Kassák dazugehört?

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LUKÁCS: Kassák gehörte auch dazu. Selbst Déry gehörte dazu. Von Osvát bis Déry und Kassák waren so ungefähr alle Richtungen vertreten. INTERVIEWER: Babits? LUKÁCS: Sicher gehörte er dazu. Er bekam sogar ein Katheder. INTERVIEWER: Hatten Sie dagegen nichts einzuwenden? LUKÁCS: Ja, diese Geschichte von dem angeblichen Zwang. Schauen Sie, wer kann schon jemanden zur Annahme eines Katheders zwingen? Unangenehmer ist, was Kassák in seiner Biographie schreibt, nämlich daß ich ihn mit einem Revolver an die Front hätte zwingen wollen. Das ist vor allem erst einmal Blödsinn, denn wenn Kassák zufällig als Politkommissar draußen an der Front gewesen wäre und sich in meinem Gebiet aufgehalten hätte, dann hätte ich ihn nach Hause geschickt. An die Front hätte ich ihn jedenfalls bestimmt nicht geschickt. Das hängt mit meiner politischen Überzeugung zusammen, denn ich hielt das Hinausgehen an die Front für einen Kommunisten oder für einen Parteilosen für eine große Auszeichnung. Jemanden mit Waffengewalt an die Front zu zwingen, wäre mir total fremd gewesen. Im übrigen hätte Kassák an der Front die größten Schwierigkeiten heraufbeschworen. Als ich an die Front ging – und das ist eine Tatsache, auf die ich mich berufen kann –, wimmelte es an der Front von solchen ultralinken Kommunisten. Ich habe sie ohne Ausnahme alle nach Hause geschickt. Ich brauchte sie nicht. Meine Untergebenen wählte ich aus jenen anständigen kommunistischen Arbeitern in der Armee aus. Doch letztlich hat Kassák nicht als einziger im Bericht über diese Periode gelogen. Da ist zum Beispiel der Fall von Mihály Babits, der behauptet, 1919, in jener Zeit, als Kun und seine Leute in Haft waren, hätten Béla Balázs und ich ihn aufgefordert, in die Partei einzutreten. Das ist natürlich absolut lächerlich, und diese Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage. INTERVIEWER: Besaßen Sie als Volkskommissar keine Pistole? LUKÁCS: Ich besaß noch aus der Zeit lange vor der Diktatur eine Taschenpistole, die ich früher auf Reisen auch mitgenommen hatte. Aber diese Pistole habe ich während der Diktatur nur ein einziges Mal hervorgeholt, da allerdings in einer witzigen Situation mit großem Erfolg. Es gab nämlich in Budapest Anarchisten, mit denen uns eine Freundschaft verband wie zwischen Hund und Katze. Einmal allerdings hatten sie im achten Bezirk zu viele Wohnungen requiriert, und da bei mir Beschwerden von Jungarbeitern eingingen, warf ich sie dort hinaus und setzte die Jungarbeiter in diese Wohnungen. Daraufhin stellt sich bei uns eines schönen Tages eine Anarchistendelegation

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ein. Im Vorzimmer schieben sie den Sekretär beiseite. Sie verschaffen sich genau so Zutritt wie jetzt die Deutschen und fangen an zu schreien. Und der eine schreit, für das, was der Genosse Lukács mache, müßte man den Genossen Lukács einfach erschießen. Daraufhin griff ich in die Hosentasche, holte den Revolver hervor und legte ihn auf den Tisch: »Bitte.« Daraufhin trat eine große Stille ein. Fünf Minuten später setzten sich die Anarchisten, und wir besprachen die ganze Angelegenheit friedlich. Insofern, das kann ich wohl sagen, habe ich in der Diktatur großen Erfolg gehabt. INTERVIEWER: Hat es mit Kassák keinerlei Zerwürfnis gegeben? LUKÁCS: Kassák konnte mich wahrscheinlich genau so wenig leiden, wie ich umgekehrt Kassák nicht leiden konnte. Ich hatte dafür meine Gründe. Ich empfand niemals besondere Hochachtung vor Kassáks Dichtung, aber als ich in die Partei eintrat, schwirrte Kassák dort schon als Eingeweihter umher, und ich erkannte ihn absolut als kommunistischen Schriftsteller an. Dann flog Kun mit seinen Leuten im Februar auf. Und plötzlich erschien in Kassáks Blatt ein Artikel, es sei eine Verleumdung, daß sie Kommunisten seien, Kassák sei Anhänger der permanenten Revolution, unabhängig von allen Parteien und menschlichen Gruppierungen. Hierzu hatte ich bereits meine eigene Meinung. Als Kassák dann am 21. März wieder offizieller Hofdichter des Kommunismus sein wollte, war das für meinen radikalen bürgerlichen Magen bereits zu viel, und seitdem verachte ich Kassák als einen unangenehmen Gesellen. Nun war es aber immer Kassáks Ehrgeiz, offizieller Dichter der Kommune zu sein, wogegen ich immer Protest erhob. Meiner Meinung nach braucht jede Kommune keinen offiziellen Dichter. Jede tolerierbare Richtung im Kommunismus soll frei schreiben, und jene Ideologie, die sich durchsetzen kann, soll sich durchsetzen. Andererseits nahm ich Kassák und seine Leute immer in Schutz, als die Sozialdemokraten und die Gewerkschaftsbürokratie eine Kampagne gegen sie einleiteten und sie an die an die Wand drücken wollten. Daß sie geknebelt wurden, ließ ich nicht zu. Doch ihre Anerkennung als offizielle Künstler duldete ich nicht. Nebenbei bemerkt erfolgten solche Versuche, die eigene Position durch Einbeziehung der Kommunisten offiziell festigen zu wollen, nicht nur bei Kassák und seinen Leuten, sondern ununterbrochen auch bei den Sozialdemokraten und bei Jászi und seinen Leuten. Ich glaube, ich habe das schon in Verbindung mit Jászi erzählt, auch in Verbindung mit Kunfi tauchte dieselbe Frage auf. Als die Sozis die Uj Idök (Neue Zeiten) übernahmen, schlug Kunfi mir vor, in das Redaktionskollegium einzutreten. Ich lehnte das ab und sagte ihm, wenn sie die Uj Idök übernommen hätten, dann sollten sie die Uj Idök machen, wie sie wollten, ich würde mich da nicht einmischen. Dieselben Beziehungen hatte ich auch zu Kassák und seinen Leuten. INTERVIEWER: Hatte Ihre Freundschaft mit Balázs während der Kommune Bestand?

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LUKÁCS: Ja. Doch auf jeden Fall sind sämtliche Geschichten, daß Balázs eine privilegierte Rolle gespielt habe, unwahr. Balázs arbeitete im Volkskommissariat und ging für eine kurze Zeit an die Front. INTERVIEWER: Diese Geschichten erhielten offensichtlich dadurch Nahrung, daß Sie, Genosse Lukács, nach allgemeiner Auffassung Balázs in Ihrem Buch Balázs Béla és akiknek nem kell (Béla Balázs und seine Feinde) stark überbewertet haben… LUKÁCS:* Die Sache steht so, daß ein Antikapitalismus bei ihm sozial noch weniger gerechtfertigt war als bei mir, doch auch bei ihm war irgendein romantischer Antikapitalismus vorhanden. Und jenes tertium datur, das ich gegenüber dem freien Denken in der Art des Huszadik Század (Zwanzigsten Jahrhunderts) und gegenüber Ottokár Prohászka vertrat, fand ich auch bei ihm wieder, fand ich in seinen Gedichten und Dramen. Ich will nicht entscheiden, inwieweit ich sie damals überschätzt habe, aber wenn heute so sehr betont wird, daß ich Béla Balázs’ Leistung zu hoch bewertet hätte, so hängt das auch damit zusammen, daß meiner Meinung nach die Bedeutung von Béla Balázs’ Lyrik vor 1918 unterbewertet wird. Béla Balázs spielte in dieser Periode als Lyriker eine größere Rolle, als das heute dargestellt wird. Für die Konstruktionsverzerrung der Proportionen ist es bezeichnend, daß heute beispielsweise aus Gyula Juhász ein großer Dichter gemacht wird, und ich würde sogar noch weitergehen, es ist meine Privatmeinung, daß selbst Árpád Tóth nach 1919 ein besserer Dichter war als vor 1918. Und auch das Jónás könyve (Jonasbuch) steht unerreichbar hoch über der Produktion des jungen Babits usw., das heißt also, wenn wir diese Leute wirklich einschätzen wollen, müssen wir auch über die fragliche Periode hinaus ihre Entwicklung nach 1919 berücksichtigen. – Hier folgt natürlich der tatsächlich problematische Punkt der Béla-Balázs-Frage. Menschlich außerordentlich verehrungswürdig an ihm war, daß er die Revolution von 1919 mit größter Begeisterung und Hingabe mitgemacht und ihr auch später die Treue bewahrt hat. Doch in einem gewissen Maß war das für ihn auch ein Unglück. Denn mit dem Kommunismus ist das ein bißchen so eine Sache, wie man zu sagen pflegte, qui mange du pape en meurt, vom Marxismus kann man keine Kostproben nehmen. Zum Marxismus muß jemand entweder tatsächlich übertreten – und ich weiß, daß das nicht leicht ist, mich hat es zwölf Jahre gekostet, ehe dieser Übertritt gelungen ist, oder aber man kann die Welt auch von einem linken bürgerlichen Standpunkt aus ganz gut betrachten. Bei Balázs ist eine üble Mischung zwischen einem oberflächlichen Marxismus und der Fortsetzung seiner alten dichterischen Intentionen zustande gekommen, und meiner Meinung nach hat er – abgesehen von einigen tatsächlich schönen Gedichten des Férfi-ének (Männergesang) – nichts Nennenswertes mehr geschaffen. Von da an war Béla Balázs ein Schriftsteller, der seinen Weg verfehlt hat, und es ist kein Zufall, daß es in den zwanziger Jahren zwischen uns zum Bruch gekommen ist. Gut, daß ich gerade erst Anna

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Lesznais Fall erwähnt habe, weil daran deutlich wird, daß mein Urteil nichts mit irgendeinem kommunistischen Sektierertum zu tun hat. Es steht außer Zweifel, daß Anna Lesznais Lyrik jeglichem Kommunismus immer viel fremder war als Béla Balázs’ Lyrik. Trotzdem habe ich Anna Lesznais Lyrik auch in meiner Zeit als Kommunist als Lesznai-Lyrik akzeptiert, obwohl ich wußte, daß diese Lyrik meinen gesellschaftlichen Überzeugungen fremd war. Der Grund dafür, daß ich jene halbherzige Mischung, die bei Balázs zustande gekommen war, nicht anerkennen konnte, war nicht darin zu suchen, daß sie nur oberflächlich kommunistisch war, sondern mein Einwand dagegen war, daß sie halbherzig war. Und diese Halbherzigkeit prägt auch seine Leistung als Dichter. So erstreckt sich meine Beziehung zu Balázs eigentlich nur auf die Nyugat (Westen)-Zeiten und meine Artikelsammlung über ihn war nicht der Anfang unserer Zusammenarbeit, sondern deren Abschluß und Ende. INTERVIEWER: Und wer hat sich von den anderen Schriftstellern mit offiziellen Wünschen an das Volkskommissariat gewendet? LUKÁCS: Beinahe alle Schriftsteller haben das Volkskommissariat aufgesucht. Kosztolányi beispielsweise wollte ein Kollektiv zur Übersetzung des Kapitals gründen. INTERVIEWER: Es wäre nicht schlecht gewesen, wenn Kosztolányi das Kapital übersetzt hätte. LUKÁCS: Für das Ungarische wäre es nicht schlecht gewesen. Vergessen Sie jedoch nicht die ideologisch abgrundtiefe Verachtung seitens der ungarischen Schriftsteller gegen mich, bei der Hegel eine viel größere Rolle als Marx spielt. Für die öffentliche Meinung in der Zeit vor der Diktatur ist es ziemlich charakteristisch – und jetzt beziehe ich mich gar nicht einmal auf einen Schriftsteller, sondern auf Polányi –, daß Polányi einmal in einem Seminar, wo ich zugegen war, aus der Phänomenologie des Geistes las, als würde er eine Humoreske lesen. Er las einen langen Satz vor, dem ein riesiges Gelächter folgte, dann las er wieder einen langen Satz, und dann folgte wieder ein großes Gelächter. Mit einem Wort, ich habe starke Zweifel, ob Kosztolányi Marxens stilistisches Verhältnis zu Hegel ins Ungarische hätte übertragen können. INTERVIEWER: Ich muß allerdings sagen, als ich aus dem Kapital Zitate übernehmen mußte, stellte sich heraus, daß auch in der Übersetzung von Rudas und Tamás Nagy beinahe kein Satz zu gebrauchen ist. Und auch inhaltlich ist die Übersetzung nicht gut. LUKÁCS: Das kann sein.

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INTERVIEWER: Kosztolányis Text wäre wenigstens eine gute volkstümliche Lektüre geworden. LUKÁCS: Ich zweifle aber sehr stark daran, daß von den originalen Inhalten Marx’ etwas geblieben wäre. INTERVIEWER: Genosse Lukács, außer im Bildungswesen hatten Sie auch eine militärische Funktion. LUKÁCS: Ja. Aber das war nur eine Episode, obwohl sie sechs Wochen gedauert hat. INTERVIEWER: Welchen Posten hatten Sie inne? LUKÁCS: Ich war Politkommissar der fünften Division. Als im April der tschechischrumänische Angriff einsetzte, beschloß der Rat der Volkskommissare, daß die Hälfte der Volkskommissare, wenn ich mich richtig erinnere, als politische Führer zu den größeren militärischen Einheiten gehen sollten. Damals wurden Vágó und Pogány Korpskommandanten. Landler wurde später Oberbefehlshaber. Das waren keine politischen, sondern militärische Funktionen. Doch zu einer Menge Einheiten kamen die Kommunisten als Politkommissare. Ich meldete mich für diese Arbeit und wurde nach Tiszafüred geschickt, wo wir uns in Verteidigungsstellung befanden. Die Verteidigung Tiszafüreds war sehr schlecht gelungen, weil die Budapester Rotarmisten, ohne auch nur einen Schuß abzugeben, davonliefen, und dadurch konnten auch die beiden anderen Bataillone, die bereit gewesen wären, Tiszafüred anständig zu verteidigen, ihre Stellungen nicht halten, so daß die Rumänen hinter die Frontlinie gelangten und Tiszafüred fiel. Und da habe ich auf sehr energische Weise die Ordnung wiederhergestellt, das heißt, als wir nach Poroszló übersetzten, rief ich ein außerordentliches Kriegsgericht zusammen und ließ dort auf dem Marktplatz acht Leute dieses davongelaufenen Bataillons erschießen. Dadurch war dort die Ordnung im großen und ganzen wiederhergestellt. Später verwandelte sich meine Mission insofern, als ich Politkommissar für die ganze fünfte Division wurde. Zusammen rückten wir bis nach Rimaszombat (Großsteffelsdorf) gegen die Tschechen vor. Bei der Einnahme von Rimaszombat war ich noch dabei, dann wurde ich nach Budapest zurückbeordert, und damit hörte meine Verbindung zur Roten Armee auf. INTERVIEWER: Wer hat in der Zwischenzeit das Volkskommissariat geleitet? LUKÁCS: Die Abteilungsleiter. Und wenn es einen ruhigen Tag gab, besorgte ich mir einen Sonderzug, der aus einer Lokomotive und einem Wagen dritter Klasse bestand, und wenn dann nach Einschätzung des Generalstabs vierundzwanzig Stunden Ruhe-

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pause folgen könnten, reiste ich abends mit meinem Sonderzug nach Budapest, und nachmittags fuhr ich damit zurück. INTERVIEWER: Gut, daß wir so ein kleines Land sind. In Rußland wäre das schwieriger gewesen. LUKÁCS: Aber hier in Ungarn konnte man das machen. INTERVIEWER: Welchen Einfluß hatten Sie auf die militärischen Ereignisse? LUKÁCS: Militärisch konnte ich natürlich nur in den auffälligsten Fällen Kontrolle ausüben. Ich hatte hier für mich eine gute Methode erfunden. Unser ausgesprochen konterrevolutionärer Generalstabschef zumindest platzte immer vor Wut, wenn ich diese Methode anwendete. Ich sagte ihm: »Sehen Sie, Sie sind Soldat, Sie haben Ihre eigene Soldatensprache, wie ich meine Philosophensprache habe. Aber von militärischen Dingen habe ich keine Ahnung. Wenn Sie sagen, daß dieses Bataillon von hier nach dort abkommandiert werden muß, dann dürfen Sie mir nichts von einer Gruppierung, einer Zusammenziehung und von allen möglichen Spezialdingen erzählen, weil ich davon keine Ahnung habe, sondern erklären Sie mir die Sachen so, daß ich als einfacher Mann begreife, warum Sie das so und nicht anders machen.« Er war von kleinem Wuchs, der Generalstabschef der Division, ein ehemaliger Hauptmann oder Major. Natürlich bekam er furchtbare Wutanfälle, weil er tatsächlich sabotierte, und weil man das in der Zivilsprache tatsächlich nicht erklären konnte. Von Clausewitz wußte ich nämlich, daß man einen ernsthaften militärischen Plan sehr wohl in Zivilsprache erklären kann, aber die Sabotage konnte man natürlich nicht erklären. INTERVIEWER: Genosse Lukács, ich glaube, vor ziemlich langer Zeit, noch vor 1956, haben Sie erzählt, sooft Sie bei der Truppe eingetroffen seien, hätten Sie immer bei der Küche… LUKÁCS: Ich suchte die Front nämlich ständig auf. Aber zwei bis drei Kilometer vor der Front hielt ich mein Auto an, versteckte es in irgendeinem Busch und tauchte bei den Truppen unerwartet auf, und zwar zuerst in der Küche. Und in der Küche ließ ich mir sofort etwas von den Speisen geben, so daß die Köche vor mir zitterten. Sie waren sich nie sicher, wann ich in der Küche auftauchen würde und sie nichts mehr vertuschen könnten. INTERVIEWER: Auf Divisionskommissarsebene ist das die praktische Konsequenz des Materialismus, daß man bei der Küche anfangen muß.

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LUKÁCS: Im Denken der Menschen waren zwei Dinge wichtig. Das eine war die Küche, das andere die Post, daß sie die Briefe pünktlich bekamen. Ich halte mich nicht für einen hervorragenden militärischen Organisator, aber diese beiden Sachen habe ich bei der Division in Ordnung gebracht. Die Soldaten bekamen anständige Verpflegung und erhielten täglich ihre Post. INTERVIEWER: Hatten Sie zu der höheren Heeresführung, zu Stromfeld und Böhm, keinen Kontakt? LUKÁCS: Im allgemeinen führten wir jene Befehle aus, die wir erhielten. Ich habe nur in einem Fall eine Order sabotiert, und zwar in der Zeit der großen rumänischen Offensive vor dem ersten Mai. Unsere Division bewegte sich auf der Linie TiszafüredEger (Erlau). Größere ungarische Truppen gab es dann nur noch in Szolnok, und dort gab es inzwischen bei Kisköre eine Theißbrücke, die von niemandem verteidigt wurde. Ich forderte die Heeresführung auf, entweder die Verteidigung der Brücke zu organisieren oder, wenn sie dazu nicht in der Lage sei, die Brücke sprengen zu lassen, weil sonst die Tschechen einfach zwischen uns und Szolnok hineinspazieren könnten und das unser Ende sein würde. Stromfeld wollte sich darauf aus allen möglichen militärischen Gründen nicht einlassen, woraufhin ich die Brücke ohne Genehmigung sprengen ließ. INTERVIEWER: Ist Ihnen deshalb nichts passiert? LUKÁCS: Nein. Stromfeld hat nachträglich anerkannt, daß ich – militärisch – recht gehabt hätte. INTERVIEWER: Haben Sie ihn gut gekannt? LUKÁCS: Nein. Wir haben uns später angefreundet, als er schon zur kommunistischen Partei gehörte. INTERVIEWER: Ihre Bekanntschaft mit Gábor Gaál stammt auch von der Front? LUKÁCS: Ja. Ich bat das Verteidigungsministerium um einen zur kommunistischen Partei gehörenden Reserveoffizier, den man als Adjutanten gebrauchen könnte. Und man empfahl mir Gábor Gaál. Ich ging mit ihm an die Front, und mit ihm war ich jene sechs Wochen zusammen oder wieviel es gewesen sein mögen, die ich an der Front verbracht habe. Aus dieser Zeit kenne ich Gábor Gaál. Ich hatte den besten Eindruck von Gábor Gaál, und zwischen uns entwickelte sich eine persönliche Freundschaft.

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INTERVIEWER: Bestand diese Beziehung in irgendeiner Form auch später? LUKÁCS: In Wien unterhielten wir freundschaftliche Beziehungen zueinander. Dann ging Gábor Gaál aus Wien weg, und in jener Zeit existierte kaum eine Privatkorrespondenz, so daß wir uns damals, man kann nicht sagen entfremdet hatten, sondern wir hatten uns de facto getrennt, und ich wußte jahrelang nur aus der Presse, was Gábor Gaál machte. Ich weiß, daß er aus deutschen, ungarischen und auch russischen Zeitungen übernahm, was von mir erschien. Ich glaube, er hat daraus ziemlich viel publiziert. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie keine Arbeiten direkt an ihn geschickt? LUKÁCS: Ich schickte meine Sachen an niemanden direkt. Ich gab sie an der zuständigen Parteistelle ab. Für ihr Erscheinen sorgte dieses Parteiforum. Wo die Sachen gedruckt worden sind, darauf könnte ich heute nicht mehr antworten. INTERVIEWER: Wie ich weiß, wurden Sie, Genosse Lukács, und Korvin nach dem Sturz der Diktatur von Béla Kun beauftragt, in Budapest zu bleiben. LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: Was hatten Sie für einen Auftrag? LUKÁCS: Wir sollten die kommunistische Partei organisieren. Als die Rumänen kamen, war ich an der Front, wo ich den Auftrag hatte, nach Möglichkeit die fünfte Division in Ordnung zu bringen. Das war mir damals nicht gelungen, und ich traf spät abends mit dem Auto ein und fragte die dort anwesenden Genossen nach der Meinung der Partei. Und die Meinung der Partei war die, daß Korvin und ich im Land bleiben sollten, um die illegale Bewegung am Leben zu halten und zu führen. Ich hätte die ideologische Führung übernehmen müssen, während Korvin für die organisatorische Leitung zuständig sein sollte. Ich hatte auch damals schon Zweifel daran, ob Korvin und ich am geeignetsten für diese Aufgabe sein würden, denn wenn es Kommunisten gab, die viele kannten, dann waren wir das. Bei Korvin kam auch noch sein Äußeres als Hindernis dazu: Er hatte einen Buckel. INTERVIEWER: Sie hielten diesen Auftrag für eine Äußerung feindseliger Gesinnung? LUKÁCS: Beweisen läßt sich das nicht. Die kommunistischen Führer saßen dort zu viert, zu fünft gemeinsam mit Kun im Parteihaus, und als ich von der Front zurückkehrte, erwartete mich schon ein fertiger Beschluß.

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INTERVIEWER: »Vermutung über Kun«, was hat diese Notiz in Ihrer biographischen Skizze zu bedeuten? LUKÁCS: Schauen Sie, das Verhältnis zwischen Kun und mir war schon während der Diktatur ziemlich schlecht. Der Ausspruch meiner ersten Frau ist für dieses schlechte Verhältnis bezeichnend. Ich habe das schon zitiert. Als meine Frau Kun sah, entstand bei ihr der Eindruck, daß er wie Vautrin sei. Ich halte das für eine außerordentlich geistreiche und gute Bemerkung und habe ihr auch damals zugestimmt. Schon damals bestanden zwischen uns andauernd sich zuspitzende Differenzen. Damals lediglich in moralischen Fragen der Bewegung. Also, ich hatte über diesen Auftrag eine sehr zynische Meinung. Ich formulierte das damals so, daß Korvin und ich für das Martyrium geeignet seien. INTERVIEWER: Hatte Korvin ebenfalls Differenzen mit Kun? LUKÁCS: Ja. Korvins scharfe klassenkämpferische Einstellung geriet nämlich sehr oft in Widerspruch zu Kuns Kompromissen. Als Korvin auch nur geringfügig abweichende Meinungen wegen der Haltung gewisser zentristischer Sozialdemokraten äußerte, unterstützten Weltner und seine Leute natürlich die Sozialdemokraten, und Kun stellte sich nicht hinter Korvin. INTERVIEWER: Was passierte, nachdem Korvin aufgeflogen war? LUKÁCS: Korvin flog ungefähr nach einer Woche auf, und da er mir naturgemäß und vernünftigerweise Namen und Adressen von seinen Mitarbeitern und Leuten nicht mitgeteilt hatte, geriet ich folglich in eine völlig isolierte Situation. Und unter derartigen Umständen hatte es absolut keinen Sinn, in Budapest zu bleiben. Hinzu kam noch, daß bei Olga Máthé, der Witwe Béla Zalais, wo ich mich versteckte, infolge einer Anzeige aus dem Haus unter Leitung eines Offiziers eine Haussuchung vorgenommen wurde. Und es gehört zu den für mein Leben bezeichnenden glücklichen Umständen, daß sie mich nicht erwischt haben. INTERVIEWER: Das ist beinahe unvorstellbar, daß man bei einer Haussuchung davonkommen kann. LUKÁCS: Die Sache ist viel einfacher, als die Leute meinen. Ich muß hinzufügen, daß ich dabei auch gewisse Verdienste hatte. Olga Máthé war Fotografin, eine sehr mutige Frau. Ihre Wohnung bestand aus einem kleinen Zimmer, wo sie mit ihrer Tochter wohnte, einem großen Eßzimmer und einem Atelier, an das sich der Boden anschloß. Im Atelier befand sich eine Chaiselongue, worauf ich schlief. Wir hatten jeden Tag

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Streit miteinander, weil Olga Máthé mir um jeden Preis das Bett machen wollte, während ich mich dagegen wehrte, denn ich meinte, wenn nachts geklingelt werden würde, dann könnte ich ohne weiteres auf den Boden hinübergehen. Auf dem Boden kannte ich mich sehr gut aus, und ich hatte mir schon vorher ausgeklügelt, daß es dort eine große Kiste gab, hinter der man sich verstecken konnte. Und wenn man die Chaiselongue in ungemachtem Zustand vorfände, würde niemand daran denken, daß sich jemand in dem Atelier verstecken könnte. In diesem Kampf konnte ich Olga Máthé nur schwer bezwingen. Eines Morgens gegen drei wurde tatsächlich geklingelt, und es kam eine schöne normale Haussuchung zustande, die ich mir hinter der Kiste anhörte. Und da sich die Anzeige darauf bezog, daß Olga Máthé angeblich Béla Kun empfangen und fotografiert habe, und nicht darauf, daß sich jemand bei ihr versteckt halte, stöberten sie auch nicht weiter herum. Ich ging nachmittags ohne Gepäck zu ihr hinauf, und zu einer Fotografin gingen natürlich andauernd Leute. Für die Hausmeisterin, die mich im Fahrstuhl hinaufbrachte, war auch nichts Auffallendes daran, daß ein Herr zu Olga Máthé hinaufging, denn damals gingen jeden Nachmittag fünf oder sogar zehn dorthin. So ahnten sie also auch nicht, daß sich dort jemand verstecken könnte. Natürlich hatte diese Wohnung dadurch für mich im wesentlichen aufgehört zu existieren, denn noch eine Haussuchung durfte ich nicht riskieren. So wurde dann aufgrund einer Besprechung mit den damaligen Genossen der Beschluß gefaßt, daß ich nach Wien gehen sollte, um die Emigration zu verstärken. Das geschah dann auch Ende August, Anfang September. Budapest wurde damals von Mackensens Armee besetzt gehalten, und deren Offiziere reisten zwischen Budapest und Wien hin und her. In der Zeit der Diktatur brachten sie Weiße nach Wien außer Landes und nach der Diktatur gegen gutes Geld Rote. Meine Familie bestach so einen Oberleutnant aus Mackensens Armee. Mit dem verließ ich als dessen Chauffeur das Land. Da ich aber nicht Auto fahren konnte, banden wir meinen Arm hoch, als hätte ich unterwegs einen Unfall gehabt, und der Offizier chauffierte das Auto. Die Wahrheit ist, daß die Angelegenheit ein reines Geschäft war.

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III In der Emigration INTERVIEWER: Bis wann hielten Sie sich in Wien auf? LUKÁCS: Man kann sagen, vom Verlassen des Landes, also von Ende August, Anfang September 1919, bis hin zum II. Parteitag, also bis 1930/31, hielt ich mich in Wien auf. INTERVIEWER: Damals begann Ihr Zusammenleben mit Ihrer Frau Gertrud? LUKÁCS: Das Zusammenleben begann in der Emigration. Unsere Bekanntschaft war natürlich schon älter. Ich kannte sie schon sehr lange, doch eine engere Beziehung zwischen uns entwickelte sich erst nach meinem Ethikvortrag von 1918. Durch das Gespräch und die Diskussion über meinen Ethikvortrag war zwischen uns eine derartige geistige und moralische Gemeinsamkeit zustandegekommen, die bei mir von da an eine führende, eine dominierende Rolle spielte. Eigentlich war ich nie einer Frau begegnet, zu der ich eine derart intime Beziehung hätte haben können. INTERVIEWER: Wovon haben Sie in Wien gelebt? LUKÁCS: Ich schrieb, verkaufte alte Sachen, und ich besaß noch alles mögliche… Irgendwie lebten wir. INTERVIEWER: Parteigehalt gab es damals keines… LUKÁCS: Am Anfang, so könnte man sagen, führte ich für ganz kurze Zeit ein kümmerliches Dasein. Dann war ich drei Jahre lang Redakteur beim Torgowü Bülten, dem Handelsblatt der russischen Botschaft. Dafür bekam ich monatlich hundert Dollar. Davon konnten wir gut leben. 1928 starb dann mein Vater, und über alle möglichen komplizierten Mittel und Wege kam ich doch an das Erbe heran. Davon lebten wir bis zu meiner Ausreise nach Rußland. INTERVIEWER: Als Schriftsteller verdienten Sie nichts in jener Zeit? LUKÁCS: Ich schrieb, aber von Schriftstellerhonoraren konnte damals ein kommunistischer Schriftsteller, ein theoretischer Schriftsteller nicht existieren, obwohl es auch damals große Bestsellererfolge gab.

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INTERVIEWER: Wurden Sie von den österreichischen Behörden in Ruhe gelassen? LUKÁCS: Hierfür gab es verschiedene Grade. In der ersten Zeit war ich ein großer Herr, weil die Polizei damals selbst noch nicht wußte, wer wir waren, flüchtige Mörder oder künftige Minister. Ich persönlich hatte außerdem noch das besondere Glück, daß ich einige Theoretiker aus der sozialdemokratischen Partei aus Heidelberg kannte. Und wenn sich die Polizei mir gegenüber sehr unverschämt verhielt, wie es auch einmal passiert ist, dann ging ich zu einem von ihnen, um mich zu beschweren. Der informierte dann Renner, Renner telefonierte mit dem Polizeichef und erklärte diesem, daß das so nicht ginge. Danach waren sie wieder sechs Monate lang außerordentlich freundlich. Als der reaktionäre Umschwung erfolgte, konnten sie auch nichts gegen uns machen, weil sich der ungarische Auslieferungsantrag ebenso auf die Sozialdemokraten bezog wie auf uns. Hätten sie sich entschlossen, uns auszuliefern, dann hätten sie Böhm, Kunfi und die anderen ebenfalls ausliefern müssen. Demzufolge saßen wir ruhig im Schatten von Böhm und dessen Leuten. Dieser Zustand verschlechterte sich kontinuierlich. Aber die Sache verhielt sich so, daß ich an der österreichischen kommunistischen Bewegung nicht teilnahm, sondern nur an der ungarischen. Und die war derart konspirativ, daß man mir eigentlich nie etwas beweisen konnte. INTERVIEWER: Ich kenne einen Brief von Thomas Mann an Kanzler Seipel… LUKÁCS: Ja. Als Kun nämlich 1928 in Wien festgenommen wurde, wollten sie mich ausweisen, und da haben Freunde von mir an Thomas Mann geschrieben, und Thomas Mann hat einen Brief gegen meine Ausweisung geschrieben. INTERVIEWER: Also bis 1928 haben Sie aus Ungarn keine materielle Unterstützung erhalten? LUKÁCS: Zum Glück hatten wir wenig Vorurteile. Wir lebten schon zusammen, aber wir entschlossen uns, nicht zu heiraten, weil Gertrud als Witwe eines Staatsbeamten Pension bekam und Geld für die Kinder, und wir hatten absolut keinen Grund, auf dieses Geld zu verzichten. Als es 1923 den Anschein hatte, daß ich einen Ruf als Professor nach Jena bekommen sollte, mußten wir uns zur Heirat entschließen, weil schließlich ein unverheirateter Mann nicht mit Frau und Kindern nach Jena gehen konnte. Folglich heirateten wir in Wien. Als dann der Jenaer Plan ein paar Wochen später scheiterte, zeigte sich Gertrud sehr mutig – das war wirklich eine schöne und mutige Tat von ihr – und tat so, als würde die Ehe überhaupt nicht existieren und ließ kurz darauf ihren Witwenpaß auf der ungarischen Botschaft erneuern, so daß zwischen uns bis 1933, bis wir nach Rußland gingen, keine Ehe bestanden hat.

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INTERVIEWER: Wodurch wurde die Jenaer Professur vereitelt? LUKÁCS: Weil es in Sachsen und Thüringen eine Koalition zwischen linken Sozialdemokraten und Kommunisten gab, die aber infolge des Drucks, der auf die sozialdemokratische Linke ausgeübt wurde, platzte. Die Sozialdemokraten nahmen Sachsen und Thüringen in Besitz, und dadurch war es mit der Möglichkeit vorbei, an der Jenaer und Leipziger Universität derartige Reformen einzuführen. INTERVIEWER: Wo haben Sie in Wien gewohnt? LUKÁCS: Gertrud wohnte bei ihrer älteren Schwester in Hütteldorf, und ich bekam dort auch ein Zimmer. Wir lebten die ganze Zeit über in einer gemeinsamen Wohnung. In Berlin war es sogar so, daß Gertrud sich eine Wohnung nahm und ich in der Wohnung ein möbliertes Zimmer mietete. Wir heirateten eben nur nicht, weil wir der Meinung waren, daß es absolut nicht einsehbar war, warum der ungarische Staat Gertruds Auskommen nicht in Form von Pension und Kindergeld zahlen sollte. INTERVIEWER: Hatten Sie in Österreich keine Schwierigkeiten mit den Behörden? LUKÁCS: Schauen Sie, es gab keinerlei Schwierigkeiten, weil das ein anständiges bürgerliches Haus war, und es war um nichts auf der Welt etwas Auffallendes daran, daß die Hausbesitzerin der Schwester eine Etage überließ und daß auch deren Kinder dort lebten. Und es war auch überhaupt nichts dabei, daß Gertrud an jemanden ein Zimmer abgab. INTERVIEWER: Haben Sie Attila Jószef ebenfalls in Wien kennengelernt? LUKÁCS: Ja, in Wien. INTERVIEWER: Das war eine flüchtige Bekanntschaft? LUKÁCS: Ziemlich flüchtig, weil Attila Jószef nur kurze Zeit in Wien war. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann habe ich ihn durch Anna Lesznai kennengelernt. Ich hatte von Anfang an eine sehr hohe Meinung von Attila Jószef. Und aus dieser Meinung habe ich auch in der Partei nie einen Hehl gemacht. INTERVIEWER: Es existiert auch ein Dokument, ein Brief von Attila Jószef an Jolán Jószef…

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LUKÁCS: … wie herzlich ich mich über seine Gedichte geäußert habe. Ja, darüber existiert ein Attila-József-Brief, der in dieser Zeit in Wien geschrieben worden ist. INTERVIEWER: Hatten Sie damals Kenntnis von Attila Józsefs parteiinternem Konflikt, von seinem Ausschlußverfahren? LUKÁCS: Schauen Sie, man darf nicht vergessen, daß ich bis 1930 aktives Mitglied der Partei war, das über alles in Kenntnis gesetzt wurde. 1929, nach den Blum-Thesen, schied ich aus der ungarischen Bewegung aus. Als der Konflikt mit Attila Jószef stattfand, hatte ich keinerlei Beziehungen mehr zur ungarischen Bewegung. INTERVIEWER: Organisatorisch sind Sie in die deutsche Partei übergetreten? LUKÁCS: Nein, bis 1930 war ich Mitglied der österreichischen Partei, und in Rußland wurde ich dann Mitglied der sowjetischen Partei. Von 1931 bis 1933 gehörte ich zur deutschen Partei, und als wir dann 1933 nach Rußland zurückgingen, wurde ein allgemeiner Beschluß gefaßt, daß die emigrierten Mitglieder der deutschen Partei deutsche Parteimitglieder bleiben und nicht von der russischen Partei übernommen werden sollten. Auf diese Weise war ich bis 1945 Mitglied der deutschen Partei. INTERVIEWER: In der Zwischenzeit waren Sie aber Mitglied des Redaktionskollegiums einer ungarischen Zeitschrift? LUKÁCS: Bei der Uj Hang (Neue Stimme), ja, das ist richtig. Darum kümmerten sich die Deutschen nicht viel, weil sie wußten, daß ich Ungar bin und mich demzufolge daran beteilige. INTERVIEWER: Sie waren nicht einmal bis zu den Blum-Thesen Mitglied der ungarischen Partei? LUKÁCS: Offiziell war ich Mitglied der österreichischen Partei. Jeder, der in Österreich als ungarischer Kommunist lebte, mußte österreichisches Parteimitglied werden, weil die ungarische Partei illegal war. INTERVIEWER: Offiziell waren Sie also Mitglied der österreichischen Partei, aber organisatorisch gehörten Sie zur ungarischen Partei? LUKÁCS: Ja.

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INTERVIEWER: Attila Jószef haben Sie also in Gesellschaft von Anna Lesznai getroffen? LUKÁCS: Wir trafen uns auch bei anderer Gelegenheit. Ich habe ihn lediglich durch Anna Lesznai kennengelernt. Und aus Paris kommend, auf der Reise nach Ungarn, besuchte mich auch Illyés. Mit ihm hatte ich ebenfalls eine längere Unterhaltung. Lajos Nagy besuchte mich ebenfalls in Wien. Mit ihm hatte ich ebenso eine längere Unterhaltung. Ich unterhielt also einige Beziehungen zu ungarischen Schriftstellern, auch wenn ich selbst nicht schrieb. INTERVIEWER: Und zur nicht-kommunistischen Emigration? LUKÁCS: Ich sage ja, zu Kassák hatte ich ein schlechtes Verhältnis, und zu Sándor Bartha entwickelte sich eine gute Beziehung, als Bartha und seine Leute nach links tendierten. INTERVIEWER: Wie ist in der Emigration der parteiinterne Fraktionskampf entstanden? LUKÁCS: Dafür gibt es sehr verschiedene Gründe. Gleich zu Beginn des Exils gruppierte sich ein Teil der Emigration um Landler und ein anderer Teil um Kun. Die Situation entsprach ausgesprochen einem Schwebezustand, denn ich erinnere mich, es mochte ungefähr im Dezember 1919 gewesen sein, als ich nach Landlers Rückkehr aus der Karlsteiner Internierung mit diesem ein Gespräch hatte, in dem er mir quasi ein Bündnis gegen Kun vorschlug. Ich kann nur die Tatsachen berichten, daß ich ihm darauf nämlich überhaupt keine prinzipielle Antwort gab. Ich sagte ihm, daß seine Umgebung, Jószef Pogány und andere, um keinen Deut besser sei als Kuns Umgebung. Ich sei genauso wenig geneigt, mich mit Pogány zusammenzutun wie mit Béla Vágó. Um die Situation zu charakterisieren, will ich erwähnen, daß Pogány ja später, wie Sie vielleicht wissen, zu Kun übergetreten ist. Und es bildete sich eine andere Art von Differenzierung heraus, was natürlich auch dadurch begünstigt wurde, daß die zur Untätigkeit verdammte Führungsschicht der Emigration in Wien die Zeit dennoch zu einer gewissen Orientierung und Umorganisation nutzte. Hier ist die Frage nach Béla Kuns Methoden ein sehr wesentlicher Ausgangspunkt, denn sie zeigten, wie ich nachträglich sehe, daß Kun mit Lenin schrecklich wenig gemein hatte, obwohl er diesen ein- oder zweimal getroffen hat. Im Grunde genommen war er in Sinowjews Bartmacherschule (?) (Im ungarischen Text steht ebenfalls »Bartmacher«, mit einem Fragezeichen versehen; Anm. d. Übers.) gegangen. Er war ein typischer Sinowjew-Schüler, der sich durch Demagogie, Gewalt und, wenn es sein mußte, durch Bestechung Partei und Renommee schuf, und deshalb brach der erste Konflikt um eine Bestechungsaffäre aus, um die sogenannte Goldaffäre. Kun war nämlich im Sommer 1920 nach Mos-

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kau gegangen, und dann geschah es eines Tages – ich hatte zufällig, ich weiß selbst nicht weshalb, persönliche Beziehungen zu einigen Leuten der sowjetischen Botschaft –, daß ich darauf aufmerksam gemacht wurde, daß an Vágós Adresse ein Paket angekommen war, das gemessen an seiner Größe ein allzu großes Gewicht hätte. Das teilte ich Landler mit. Wir schöpften alle Verdacht, daß Kun seinen Anhängern Geld geschickt habe, um fünf bis sechs führenden Genossen eine aus Rußland stammende Apanage zukommen zu lassen. Ich könnte jetzt nicht sämtliche Einzelheiten aufzählen, jedenfalls schöpften wir Verdacht, daß Rudas ebenfalls zu den finanziell Begünstigten gehören würde. Daraufhin versuchte ich, Rudas einzuschüchtern, was nicht allzu schwer war, weil Rudas zu den größten Feiglingen gehörte, die man sich vorstellen kann. Wir hatten damals zufällig in derselben Wohnung möblierte Zimmer gemietet, und ich versetzte Rudas in Schrecken, was für schlimme Folgen daraus entstehen könnten, man könnte ihn aus der Partei ausschließen und so weiter. Mit einem Wort, Rudas ging mir vollkommen auf den Leim und gab zu, daß, wenn ich mich recht erinnere, fünf Kilo Gold in Form von Münzen angekommen seien, die Vágó aufgrund einer von Kun erhaltenen Liste ausgeteilt habe. Rudas zeigte mir auch seinen eigenen Anteil. Gemeinsam mit Landler überredeten wir Rudas damals, Vágó das Geld mit der Begründung zurückzugeben, daß er als ehrlicher Kommunist an solchen Sachen nicht teilnehme. Damit war die Affäre pro forma momentan beigelegt, doch war daraus zwischen Vágó und Rudas eine tödliche Feindschaft entstanden, die einmal auf einer Sitzung in der Emigration zum Ausbruch kam. Während einer Streitigkeit warfen sie sich gegenseitig die Goldgeschichte vor, worauf dann eine Kommission eingesetzt wurde, Vágós Ausschluß und so weiter. Die ganze Angelegenheit mußte der Komintern unterbreitet werden. Das erfolgte im Frühjahr 1921, und die ungarische Delegation, die zum III. Kongreß gefahren war, hatte den Auftrag erhalten, diese Frage in irgendeiner Form zu erledigen. Die Sache kam vor die Komintern. Hier wurden die für Kun unangenehmen Dinge in einer Kommission vertuscht. Die Komintern ernannte ein Zentralkomitee, in dem vier Mitglieder Kun-Anhänger und drei – nämlich Landler, Hirosik und ich – Landleristen waren. Kuns wichtigster Mann in diesem Zentralkomitee war Jószef Pogány, und der versuchte, mit Sinowjewschem Radikalismus und allen möglichen Scheinaktionen ungarische Politik zu machen. Bei der Entstehung der Fraktionen spielte Kuns alte Verbindung zu Sinowjew eine große Rolle. Das Problem, worin wir uns unterschieden, war nämlich gerade die Frage, welche Rolle wir der Emigration zuschreiben sollten. Im Einverständnis mit Sinowjew schrieb Kun der Emigration eine sehr große Rolle zu. Es war sogar davon die Rede, daß die Emigranten massenweise rückgesiedelt werden müßten. Im Zusammenhang damit nahm Landler eine sehr skeptische Haltung ein. Er vertrat die Meinung, daß die eigentliche Bewegung in Ungarn in Gang kommen müßte und daß die Emigration nichts anderes tun könne, als vom Ausland aus unter Berücksichtigung ihres ideologisch höheren Entwicklungsstands die ungarische Bewegung ideologisch zu unter-

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stützen. Aber in den Augen der Landler-Fraktion war die Emigration immer der heimischen Bewegung unterstellt. INTERVIEWER: Worin bestand der Grundkonflikt? LUKÁCS: Der Konflikt brach in einer sehr wichtigen Frage aus, in der Frage des Gewerkschaftsbeitrags. Sie wissen wahrscheinlich, daß in der alten sozialdemokratischen Partei der Gewerkschaftsbeitrag auch den Parteibeitrag enthielt, und so zahlte ipso facto jeder, der in die Gewerkschaft eintrat, auch an die sozialdemokratische Partei Parteibeitrag. Kun und seine Leute erklärten es zur Prinzipienlosigkeit, daß die Gewerkschaftsmitglieder auf diese Weise automatisch auch zu Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei würden. Sie verlangten, die Kommunisten sollten diese Übereinkunft aufkündigen und die Bezahlung des sozialdemokratischen Parteibeitrags verweigern. Landler widersetzte sich dieser Forderung als intelligenter Mensch sofort. Er sagte, in diesem Fall würden die illegalen Kommunisten in Ungarn in eine unmögliche Lage geraten. Sie könnten die Zahlung der sozialdemokratischen Parteisteuer aus zwei Gründen verweigern, entweder weil sie Kommunisten seien, und dann würde man sie sofort einsperren, oder weil sie »gelb« seien, und dann würde ihre Situation in der Partei unmöglich werden. Wir vertraten die Meinung, wenn die ungarischen Kommunisten legal in der Arbeiterbewegung arbeiten wollten, dann müßten sie diesen Eintrittspreis zahlen. Als Pogány diese sektiererische und unangemessene Maßnahme um jeden Preis und mit allen Mitteln durchsetzen wollte, verließen Landler, Hirosik und ich die Sitzung des Zentralkomitees. Wir erklärten unseren Austritt aus dem Zentralkomitee und unterbreiteten diese Frage der Wiener Partei. Das war an und für sich das Wesen der Parteispaltung. Als Kun und seine Leute verlangten, dieser Beschluß solle in der Zeitung veröffentlicht werden, schied die Landler-Fraktion aus und gründete wenig später eine Gegenzeitung. INTERVIEWER: Die Fraktion besaß damals einen eigenen organisatorischen Rahmen und verfügte über eine Führung … LUKÁCS: Selbstverständlich. INTERVIEWER: Es ist sehr interessant, daß die Fraktionen aus einer so wichtigen, jedoch durchaus praktischen Frage… LUKÁCS: Landler unterschied sich von Kun dadurch – und das ließ mich zu Landlers treuem Anhänger werden –, daß er kein Programm machte, mit dessen Hilfe er vor der Welt als Führer der Kommunisten hätte auftreten können, sondern daß er ausschließlich die praktischen Möglichkeiten einer Wiederbelebung der ungarischen Be-

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wegung im Auge behielt. Das machte auf mich einen sehr großen Eindruck, und von da an war ich in allen Fragen Landlers begeisterter Anhänger. INTERVIEWER: Wie war Kun zu dem Gold gekommen? Es gab eine Klatschgeschichte – Kosztolányi ist darauf auch am Anfang seines Romans Anna Édes eingegangen –, daß Kun, als er über Ungarn geflogen sei… LUKÁCS: Nein, nein, solche Märchen sind später entstanden. Das Gold hatten sie sich während der russischen Revolution durch die Requirierungen verschafft, das heißt, Kuns Anhänger oder eine Gruppe seiner Anhänger hatten irgendwo Gold requiriert und das dann einfach gestohlen. Mit einem Wort, zweieinhalb Kilo Gold lagen dort bei Kun zu dessen privater Verfügung. Ich bin überzeugt davon, daß die russischen Partisanen ebenfalls Beute gemacht und gestohlen haben. Partisanen, die alles immer nur abliefern, gibt es auf der ganzen Welt nicht. INTERVIEWER: Hatten Geschichte und Klassenbewußtsein, das zu dieser Zeit erschienen ist, und die internationale Resonanz des Werks keine Auswirkung auf die Fraktionskämpfe der ungarischen Partei? LUKÁCS: Schauen Sie, insofern schon, als Sinowjew und Kun die Diskussion ausnutzten, um meine Lage innerhalb der Partei zu verschlechtern. Doch in der ungarischen Bewegung kümmerte sich niemand darum, so daß Geschichte und Klassenbewußtsein für mich auf ungarischer Linie keine ernsthaften Konsequenzen hatte. Insofern gab es natürlich schon Auswirkungen, als Rudas dagegen schrieb. Und so erhielt die Kritik einen Fraktionscharakter. Alle Kunisten hielten es für ihre Pflicht, die Arbeit anzugreifen. Aus der Moskauer Zeit gibt es eine sehr nette Anekdote: Auf einer ungarischen Versammlung in Moskau griffen Rudas und seine Leute Geschichte und Klassenbewußtsein scharf an. Sie sagten, Genosse Lukács sei ein Idealist. Und da stand ein aus Wien gekommener Stahlarbeiter auf, der zu Landlers Partei gehörte und sagte, ja natürlich sei Genosse Lukács ein Idealist, er sei nicht nur auf sein leibliches Wohl bedacht wie Genosse Rudas. Das war das Niveau. Es lohnt sich nicht, es der Nachwelt zu überliefern. INTERVIEWER: Die Kun-Fraktion versammelte sich in Moskau und die LandlerFraktion in Wien? LUKÁCS: Die Landler-Fraktion war eigentlich nur in Wien. Später zum Beispiel, nach der Auflösung der Wiener Emigration, ließen sich Jenö Hamburger in Moskau nieder, Gyula Lengyel in Berlin, so daß auch dort solche Zentren entstanden. Aber der Schwerpunkt der Kun-Fraktion war natürlich in Moskau.

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INTERVIEWER: Genosse Lukács, inwieweit wurden Ihr Leben und Ihr Schaffen durch diesen Fraktionskampf beeinflußt? LUKÁCS: Für wesentlich halte ich, daß wir allesamt messianistische Sektierer waren. Wir glaubten an die morgen bevorstehende Weltrevolution. Die ungarische Arbeit wurde von Landlers Realismus in den real bestehenden ungarischen Fragen bestimmt. Dadurch kam ein Dualismus zustande: International waren wir messianistische Sektierer, in ungarischen Belangen dagegen Realpolitiker. Dieser Dualismus endete schließlich mit dem Sieg des ungarischen Realismus in den Blum-Thesen. INTERVIEWER: Hatte die Kun-Fraktion rein messianistische Vorstellungen? LUKÁCS: Mit der Kun-Fraktion – das ist freilich eine komplizierte Frage – hatte das allgemeine Sektierertum begonnen. Das war ein messianistisches Sektierertum. Hierher gehörten Leute wie zum Beispiel Roland Holst. In Moskau, in der Komintern, begann sich mit Sinowjew das bürokratische Sektierertum herauszubilden. Und dieses Sektierertum wurde im allgemeinen von der Kun-Fraktion vertreten. Es existierte beispielsweise ein Plan, sämtliche Kriegsgefangenen, die überall verstreut in Rußland lebten, müßten massenweise nach Ungarn rückgeführt werden, um als Basis für die illegale Partei zu dienen. Das war natürlich Blödsinn, weil jeder Heimkehrer aus Moskau unter dreifacher Polizeiaufsicht stand. Das war eine dümmliche bürokratische Konzeption, die davon ausging, daß man nicht langsam und Schritt für Schritt, sondern auf einen Schlag eine Massenpartei machen könne. INTERVIEWER: Inwieweit mischte sich die Internationale in solche Pläne ein? LUKÁCS: Kun war in der Internationale, wie man damals zu sagen pflegte, Sinowjews Schammes, und Sinowjew unterstützte Kun in allem. INTERVIEWER: Und wodurch wurde die Arbeit der Landler-Fraktion ermöglicht? LUKÁCS: Es war da dieser bedauerliche Umstand, daß die Landler-Fraktion recht hatte. In der damaligen Komintern spielte das eine gewisse Rolle. Folge davon war, daß die Landler-Fraktion in den prinzipiellen Beschlüssen immer recht bekam und daß dann Kun und seine Leute im Zentralkomitee die Mehrheit hatten. So sah Sinowjews Politik auf diesem Gebiet aus. INTERVIEWER: Genosse Lukács, lassen Sie mich im Zusammenhang mit Geschichte und Klassenbewußtsein auch eine heute aktuelle Frage stellen. Welchen Eindruck haben Sie von der internationalen Wirkung dieses Werks in der Gegenwart?

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LUKÁCS: Dieses Buch besitzt einen gewissen Wert, weil darin auch Probleme aufgeworfen werden, denen der Marxismus damals auswich. Es wird allgemein anerkannt, daß hier erstmals das Problem der Entfremdung aufgeworfen wird und daß in dem Buch der Versuch unternommen wird, Lenins Revolutionstheorie organisch in die Gesamtkonzeption des Marxismus einzuordnen. Grundlegender ontologischer Fehler des Ganzen ist der, daß ich eigentlich nur das gesellschaftliche Sein als Sein anerkenne und daß in Geschichte und Klassenbewußtsein, da hierin die Dialektik der Natur verworfen wird, jene Universalität des Marxismus vollkommen fehlt, die aus der anorganischen Natur die organische ableitet und aus der organischen Natur über die Arbeit die Gesellschaft. Und hier ist noch anzufügen, daß in der gesamten gesellschaftlichen und politischen Auffassung das bereits erwähnte messianistische Sektierertum einen großen Anteil hat. INTERVIEWER: Und letzterem hat das Buch seine gegenwärtig erneut große Wirkung zu verdanken? LUKÁCS: Ich glaube, ja. Teils ist seine Wirkung aber darauf zurückzuführen, daß es eine marxistische philosophische Literatur eigentlich kaum gibt. Trotz aller vorhandenen Fehler in Geschichte und Klassenbewußtsein ist dieses Buch immer noch intelligenter und besser als sehr vieles anderes, was jetzt von bürgerlicher Seite über Marx zusammengeschmiert wird. INTERVIEWER: Ich habe beobachtet, daß Geschichte und Klassenbewußtsein in Frankreich nach den 68er Maiereignissen von sehr vielen Studenten gelesen wurde. Ein Studentenführer führte Geschichte und Klassenbewußtsein in einer Erklärung sogar als eines seiner drei Lieblingsbücher auf. Geschichte und Klassenbewußtsein entspricht einer Psychologie, wie sie im Willen zur Revolution bei Ablehnung der konkreten politischen Kräfte zum Ausdruck kommt. LUKÁCS: Da in der Problembehandlung des Klassenbewußtseins auch idealistische Elemente vorhanden sind und demzufolge der ontologische Materialismus des Marxismus hier weniger anzutreffen ist als in den späteren Arbeiten, ist dieses Buch natürlich auch den Bürgerlichen zugänglich. INTERVIEWER: Wie kam es zu den Blum-Thesen? Weshalb wurden sie Blum-Thesen genannt? LUKÁCS: Blum war damals mein Pseudonym in der Bewegung. INTERVIEWER: Was war den Blum-Thesen vorangegangen?

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LUKÁCS: Als der II. Parteitag vorbereitet wurde, wurde ich beauftragt, die politische und gesellschaftliche Strategie der Partei zu formulieren. Das geschah mit den BlumThesen. Die Blum-Thesen wurden damals, wie Sie wissen, von Kun auf das entschiedenste abgelehnt. Ich weiß nicht, ob ich schon jene höchst amüsante ManuilskiEpisode erzählt habe, wodurch deutlich wird, auf welchen prinzipiellen Höhen die Komintern damals stand. Ich hielt mich mit einem illegalen Auftrag in Budapest auf, als in Berlin eine Sitzung des Exekutivkomitees einberufen wurde, woran auch Révai teilnahm – meine Information stammt von Révai –, auf der Manuilski zur Eröffnung sagte, er müsse die Verdienste der ungarischen Partei hervorheben: Die Komintern habe auf ihrem VI. Kongreß flüchtig die Frage der demokratischen Diktatur aufgeworfen und schon existiere hierzu in der ungarischen Partei ein ernsthafter Beschluß. Am nächsten Morgen sagte Manuilski auf der Konferenz, es sei furchtbar schlimm, daß bei uns derartige liquidatorische revisionistische Tendenzen wie die Blum-Thesen zur Geltung kommen würden! In der Zwischenzeit hatte er offensichtlich ein Telegramm aus Moskau erhalten. INTERVIEWER: Es hat den Anschein, daß das Regieren per Telegramm eine ziemlich große Vergangenheit hat. LUKÁCS: Ganz richtig. Man darf folglich nicht vergessen, obwohl das bei uns immer vergessen wird – weil von jener vollkommen abstrakten Kategorie ausgegangen wird, daß die damaligen ungarischen Führer Lenins Schüler gewesen seien: In Wirklichkeit hatte Lenin in Ungarn keinen einzigen Schüler. Kun und seine Anhänger gehörten zu der Umgebung von Sinowjew, und in Sinowjews Internationale spielten bereits gewisse Tendenzen eine Rolle, die später auch von Stalin übernommen wurden. Diese Verfahrensweise, wie sie in der Manuilski-Episode deutlich wird, war ausschließlich für die Sinowjew- und Kun-Schule charakteristisch. Es ist lächerlich, Kun als LeninSchüler zu betrachten. Lenin hatte eine äußerst schlechte Meinung von Kun und interessierte sich nicht allzu sehr für ihn. Um unparteiisch zu sein, muß ich jetzt sagen, daß Lenin auch von mir eine sehr schlechte Meinung hatte. Man soll hier nichts stilisieren. Lenin sagte über meinen Parlamentarismus-Artikel sehr grob seine Meinung. Während er Kun als Sinowjew-Schüler betrachtete, hielt er mich für einen einfachen Ultralinken. INTERVIEWER: Hat Lenin jemanden aus der ungarischen Partei besonders geschätzt? LUKÁCS: Nicht daß ich wüßte.

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INTERVIEWER: Hatten die nach Lenins Tod in der sowjetischen Partei beginnenden Fraktionskämpfe in den Diskussionen der ungarischen Partei irgendwelche Auswirkungen? LUKÁCS: Keine allzu starken. Nur insofern, als in der ungarischen Partei – und ich muß hinzufügen, auch bei mir –, da Kun zu Sinowjews Partei gehörte, eine gewisse Sympathie für Stalin entstand. INTERVIEWER: Damals befanden sich doch Stalin und Sinowjew in einer Front gegen Trotzki, nicht wahr? LUKÁCS: Sie befanden sich an derselben Front. Jedoch hatte sich in dieser Zeit bereits der Konflikt zwischen Stalin und Sinowjew angebahnt. Und ich muß sagen, meine Anti-Kun-Haltung spielte eine Rolle dabei, daß ich Stalins Anti-Sinowjew-Bestrebungen mit einer gewissen Sympathie verfolgte. INTERVIEWER: Trotzki hatte in der ungarischen Partei keine bedeutenden Anhänger? LUKÁCS: Der Trotzkismus war in der ungarischen Partei sehr unbedeutend. Es existierte keine trotzkistische Fraktion. INTERVIEWER: Wurde das Schicksal der Blum-Thesen durch den Konflikt zwischen der sowjetischen Partei und der von Sinowjew geleiteten Internationale beeinflußt? LUKÁCS: Das glaube ich nicht. Ich denke, Révai charakterisierte die Lage in einem Brief an Kun sehr richtig, worin er zu den Blum-Thesen erklärt, er sei mit ihnen nicht einverstanden, jedoch artikulierten diese Thesen konsequent jene Landlersche Politik, die nach Ablehnung der Kunschen Gewerkschaftsthesen zur Gründung der USAP geführt habe. Die Blum-Thesen müßten als theoretische Zusammenfassung dieser Richtung betrachtet werden. INTERVIEWER: Révai war mit den Blum-Thesen nicht einverstanden? Aber er gehörte doch zur Landler-Fraktion. LUKÁCS: Er gehörte zur Landler-Fraktion. Doch Landler starb 1928. Man könnte sagen, die Blum-Thesen haben danach die Landler-Fraktion vernichtet. Die Theoretiker der Fraktion – Révai und andere Gesinnungsgenossen – waren nicht damit einverstanden, daß die ungarische Bewegung auf der USAP-Linie gemacht werden sollte. Sie liefen zur Kunschen Linie über, die von oben, direkt von Moskau aus, eine Bewegung

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machen wollte. So verließen also Révai und Julius Háy, der damals ein sehr begabter junger Mann war, die Landler-Fraktion. INTERVIEWER: Gab es bei Révai auch schon früher Anzeichen dafür, daß er sich von der Landler-Fraktion trennen würde? LUKÁCS: Bei einem Menschen wie Révai läßt es sich sehr schwer sagen, wo und wann genau die Trennung erfolgt. INTERVIEWER: Von dieser Zeit an hat Ihr Kontakt zu Révai in Moskau aufgehört? LUKÁCS: Er hat nicht aufgehört, er hat sich aber vollkommen gewandelt. INTERVIEWER: Demnach hätte die Révai-Tragödie hier begonnen? LUKÁCS: Révai nahm einerseits einen sehr extremen Standpunkt ein, denn vergessen Sie nicht, daß Geschichte und Klassenbewußtsein von einer einzigen Rezension kritisiert wird, weil sie dem Rezensenten nicht radikal genug ist – und diese Rezension stammt von Révai und befindet sich im Grünberg-Archiv. Andererseits entwickelte sich bei Révai in dieser Zeit das Bewußtsein, daß er der ungarische providentielle Staatsmann sei, der eben deshalb auf jeden Fall in der Führung der ungarischen Partei sein müsse. Er vertrat die Meinung, daß er deshalb zu jedem Opfer bereit sein müsse. Hierin besteht die Révai-Tragödie. INTERVIEWER: Dann habe ich mich vielleicht nicht einmal sehr getäuscht, als ich sagte, hier begänne die Révai-Tragödie. Sobald er zu der Linie übergegangen war, daß man eine Emigrationspartei machen müsse, die von außen gelenkt werden sollte, hatte er eigentlich seine spätere Rolle entdeckt, die Rolle dessen, der die Fäden von außen und oben in der Hand hielt. LUKÁCS: Genau. So ist es. INTERVIEWER: Ihre persönlichen Beziehungen zu Révai hatten noch in Ungarn begonnen… LUKÁCS: Noch vor der Diktatur, vor allem, als nach Kuns Verhaftung das zweite Zentralkomitee zustande kam. Sowohl Révai als auch ich waren Mitglieder im Redaktionsausschuß der Vörös Ujság (Roten Zeitung) und arbeiteten hier ständig zusammen. So hatten wir also bereits während der Diktatur einen sehr guten persönlichen Kontakt zueinander.

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INTERVIEWER: Beruht jene Anekdote in Ervin Sinkós Roman auf Tatsachen, wonach diese Beziehung so angefangen haben soll, daß Révai in irgendeiner theoretischen Frage zu diskutieren begann und vom Genossen Lukács im Diskussionsverlauf »bekehrt« worden ist? LUKÁCS: Ja, er sagte irgend etwas, woran ich mich jetzt nicht mehr genau erinnere. Ich weiß nur, was ich ihm geantwortet habe: »Schauen Sie, das sage nicht ich, sondern das sagt Marx in seiner Einführung Zur Kritik der politischen Ökonomie.« Daraufhin kam Révai anderntags zu mir und sagte: »Sie haben recht.« INTERVIEWER: Kehren wir zurück zur Auflösung der Landler-Fraktion. LUKÁCS: Nach Auflösung der Landler-Fraktion orientierten sich erstklassige Leute an Kun, da sich in jener Zeit in der ungarischen Partei die Fraktion um Sándor Szerényi herausbildete. Aus dieser Orientierung an Kun ergab sich eine Übergangsperiode, die mit dem VII. Kongreß und der daraus resultierenden Politik ihren Abschluß fand. Hierdurch wurden die Blum-Thesen bereits vollkommen bekräftigt. INTERVIEWER: Welche Positionen vertrat Sándor Szerényi? LUKÁCS: Er war Kun-feindlich, und er vertrat einen Standpunkt, der auf rein ungarischen Grundlagen basierte und vollkommen unhaltbar war. INTERVIEWER: War das eine ernstzunehmende Fraktion? LUKÁCS: Das war eine ernstzunehmende Fraktion, die nach dem III. Kongreß die Macht übernommen hatte und im Besitz der Macht alles mögliche machte. Révai beispielsweise vertrat die Meinung, und die artikulierte er auch Gertrud gegenüber, daß er lieber Horthys Gefangener wäre als Szerényis Untergebener. Er ging dann auch nach Ungarn, wo er aufflog und ungefähr zweieinhalb Jahre lang saß. INTERVIEWER: Genosse Lukács, inwieweit wurde Ihre Laufbahn durch die Situation nach den Blum-Thesen beeinflußt? LUKÁCS: Bis zu den Blum-Thesen war ich Funktionär der ungarischen Partei. Demzufolge wurde mein Aufgabenbereich weitgehend durch diesen Umstand bestimmt. Nach den Blum-Thesen, als ich eingesehen hatte – und das ist das Wesentliche an den Blum-Thesen –, daß die proletarische Revolution und die bürgerlich-demokratische Revolution, sofern es sich um eine wirkliche Revolution handelt, nicht durch eine chinesische Mauer voneinander getrennt werden, betrat ich ein Gebiet, auf dem ich

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mich frei bewegen konnte und auf dem für die Ethik dieses demokratische Gebiet gegeben war. Lassen Sie mich eine Art Bekenntnis machen: Nach der Abfassung der Blum-Thesen ist mir einerseits klar geworden, daß ich kein Politiker bin, weil ein Politiker die Blum-Thesen in dieser Zeit nicht geschrieben oder zumindest nicht veröffentlicht hätte. Andererseits habe ich bei der Ausarbeitung der Blum-Thesen begriffen, daß die proletarische Revolution kein isoliertes Ereignis ist, sondern die Vollendung eines geschichtlichen Prozesses. Demzufolge haben die Blum-Thesen eine gute Seite, daß sie nämlich die ideologische Entwicklung in Richtung Demokratie befreien. Um in dieser als wichtig erkannten Frage freie Hand zu haben, unterwarf ich mich vollkommen der ungarischen Linie, ich wollte Béla Kun im Zusammenhang damit keinen Triumph gönnen, ich wollte nicht, daß er die Blum-Thesen zu einer internationalen Frage machen konnte. Auf diese Weise wurde die Affäre zu einer ungarischen Frage reduziert, und der Inhalt meiner gesamten Philosophie veränderte sich. Ich wechselte von der ungarischen zur deutschen, beziehungsweise zur russischen Linie über. INTERVIEWER: Könnte man ein wenig überzogen sagen, daß Der junge Hegel Fortsetzung der Blum-Thesen ist? LUKÁCS: Bei mir ist jede Sache die Fortsetzung von etwas. Ich glaube, in meiner Entwicklung gibt es keine anorganischen Elemente. INTERVIEWER: Ich wollte nur sagen, daß das Studium der revolutionären Periode der kapitalistischen Gesellschaft mit der Erkenntnis zusammenhängen könnte, daß es zwischen der proletarischen Revolution und der bürgerlichen Revolution keine chinesische Mauer gibt. LUKÁCS: Ja. In dieser Sache haben Sie vollkommen recht. Ich fing an, die ideologische Seite des Problems zu erforschen, was ich später in den Mittelpunkt meiner Untersuchungen stellte. INTERVIEWER: Sie erwähnten zuvor, daß Sie sich in jener Zeit auch illegal in Ungarn aufgehalten haben. LUKÁCS: 1929. INTERVIEWER: Welchen Auftrag hatten Sie?

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LUKÁCS: Ich sollte die Bewegung führen. Die Mitglieder des Außenausschusses gingen abwechselnd für drei Monate nach Ungarn, um die Bewegung persönlich zu führen. In der Emigration herrschte die allgemeine Auffassung, daß hierbei nur Kun und Landler eine Ausnahme bildeten, daß sie nicht nach Ungarn fahren dürften. In der Emigration gab es eine Gruppe, die mich ebenfalls als Ausnahme behandeln wollte. Da das aber bei Kun auf großen Widerstand gestoßen wäre, konnte ich mich in dieser Frage der Anschauung meiner Freunde nicht anschließen. Ich war der Meinung, daß man einerseits ein Auffliegen vermeiden könnte, wenn man vorsichtig genug war und nicht zufällig mit einem Spitzel zusammentraf, und daß andererseits, selbst wenn ich auffliegen würde, es in meinem Fall so viele internationale Proteste geben würde, daß ein Todesurteil nicht ausgesprochen werden würde. INTERVIEWER: Sie brachten drei Monate in Ungarn zu? LUKÁCS: Drei Monate. INTERVIEWER: Und die illegale Wohnung und sonstiges wurden von Wien aus vorbereitet? LUKÁCS: Ja. Es wurde alles von Wien aus vorbereitet, aber es wurde alles schlecht vorbereitet. Die Wohnung war beispielsweise sehr schön. Sie lag im Stadtwäldchen, jedoch zehn Schritte entfernt von der Redaktion des Nyugat (Westen). Damit konnte ich mich schließlich nicht abfinden. Ich hatte hier eine Verbindungsperson, meine angebliche Cousine. Ich gab ihr den Auftrag, sie sollte nachmittags völlig aufgeregt zu mir kommen, ihre Mutter sei völlig aus der Fassung geraten, weil in Szeged mit dem Testament ihres Onkels die und die Schweinereien passierten und nur ich allein könnte Ordnung schaffen, wenn ich nach Szeged führe. Das erzählte ich meiner Wirtin, und für alle Fälle bezahlte ich das Zimmer einen Monat im voraus. So vereinbarten wir also schön, daß diese Cousine mich am nächsten Tag abholen und mich an den Zug nach Szeged bringen werde. Es kam allerdings ein kleines Mißgeschick dazwischen, und das erzähle ich nur, weil ich stolz darauf bin, daß ich kaltes Blut bewahrt habe. Abends stellte sich meine Wirtin bei mir ein und sagte, ihr Neffe habe bei ihr gelebt, und der Neffe habe ihren Schrank ausgeraubt, er habe soundsoviel Geld gestohlen, und sie sei nun schon auf der Polizei gewesen. Das war sehr interessant. Als weiteres humoristisches Moment kam hinzu, daß meine Wirtin zufällig Schweinitzers Cousine war, und folglich war sie natürlich zu Schweinitzer gegangen. Meine Wirtin fragte mich, ob ich an ihrem Neffen nichts bemerkt hätte. Darauf antwortete ich ihr: »Aber gnädige Frau, in was für einer Welt leben wir denn? Ich bin hier bei der gnädigen Frau eingezogen, ich habe nicht gefragt, ob das Zimmermädchen vertrauenswürdig ist oder nicht. Demzufolge lasse ich den Schrankschlüssel, wie Sie sehen können«,

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und ich zeigte auf den Schrank, »stecken, denn wenn Sie sagen, gnädige Frau, daß jemand vertrauenswürdig ist, dann vertraue ich dem in vollem Umfang. Daraufhin sollte ich jetzt am Neffen der gnädigen Frau Zweifel hegen? Also in was für einer Welt leben wir denn?« Daraufhin lamentierte sie, und in der Folgezeit war alles in bester Ordnung. Ich bin darauf stolz, denn das habe ich gut gemacht. INTERVIEWER: Sie haben früher einmal erwähnt, daß man Sie erster Klasse reisen lassen wollte. LUKÁCS: Das war reiner Blödsinn, Idiotie. Ich will zugeben, nicht unbedingt, denn Leute wie Zoltán Szántó konnten ruhig von Wien aus im Schlafwagen fahren, ohne daß ihnen etwas passiert wäre. Aber wenn ich in einen Schlafwagen eingestiegen wäre, hätte ich nicht wissen können, wann ein ehemaliger Klassenkamerad oder jemand Ähnliches hineinkommen würde, der mich sofort erkannt hätte. INTERVIEWER: Dritter Klasse war also besser? LUKÁCS: Ich fuhr nach Preßburg, und von Preßburg aus fuhr ich dritter Klasse im Schnellzug Berlin-Budapest nach Hause. INTERVIEWER: Was haben Sie dort erledigt? LUKÁCS: Ich hatte mit acht bis zehn Leuten Kontakt, mit den Führern der verschiedenen Gruppen. Ich nahm an den Sitzungen des hiesigen Zentralkomitees teil, und de facto führte ich in jener Zeit, in jenen drei Monaten die hiesigen Angelegenheiten. INTERVIEWER: Dieser Aufenthalt hatte also irgendeinen Sinn. LUKÁCS: Er hatte einen gewissen Sinn. Und es war auch nützlich, daß die Illegalität von den Leuten nicht fetischisiert wurde. In der Illegalität war das so – freilich wurde das nicht überall durchgesetzt, denn in Budapest ließ sich das nicht durchsetzen –, daß man die Dinge bei großer Genauigkeit absolut erledigen konnte. Es besteht eine minimale Wahrscheinlichkeit, und zwar eins zu tausend, daß gerade in dem Augenblick jemand auftaucht, der mich von früher kennt. Diese Möglichkeit kann man natürlich nicht ausschließen. Aber Budapest hatte mehr als eine Million Einwohner, und die Wahrscheinlichkeit für ein solches Zusammentreffen war schrecklich gering. Während meines Aufenthaltes in Budapest gab es eine Periode, in der in größerem Umfang Festnahmen erfolgt waren. In dieser Zeit konnte man die normalen Beziehungen nicht in Anspruch nehmen. Ich ließ also Imre Sallai, der zu der Zeit die Zeitung machte, ausrichten, daß wir uns dann und dann zehn Uhr fünf Minuten an der und der Stra-

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ßenecke treffen sollten und ich ihm das Manuskript übergeben würde. Zehn Uhr fünf Minuten traf ich Sallai dort an der Ecke und übergab ihm eine Mappe. Sallai ging nach rechts, ich nach links, und um nichts auf der Welt ist man uns auf die Schliche gekommen. Bei solchen Treffen tauchen technische Probleme auf. Verspätet Sallai sich, dann ist die Gefahr des Auffliegens nicht zehnmal so groß, sondern noch viel größer. Denn wenn ich dort auf und abspaziere, und von so einem Auf-und-Abspazierenden nimmt jemand etwas entgegen, dann ist das höchst auffällig. Mit solchen Möglichkeiten muß man rechnen. Es gab auch eine andere Strömung, ebenfalls bei Illegalen, daß man nicht auf großen Bahnhöfen ankommen und von dort auch nicht abfahren sollte, sondern man sollte für derartige Zwecke einen kleineren Bahnhof benutzen. Ich halte einen kleinen Bahnhof für sehr gefährlich. Denn wieviele Leute steigen in Gödöllö in den Schnellzug nach Wien ein? Wer an der Gödöllöer Eisenbahnstation auf den Schnellzug nach Wien wartet, ist von vornherein ein verdächtiges Subjekt. Wenn dagegen jemand zum Beispiel zum Einsteigen auf dem Ostbahnhof eintrifft… ich habe es zum Beispiel so gemacht, daß ich nicht die Fahrkarte an der Sperre vorgezeigt, sondern eine Bahnsteigkarte gelöst habe. Und ein Genosse, ebenfalls im Besitz einer Bahnsteigkarte, trug meinen Koffer hinein. Er ging in den Wagen hinein, hielt sich dort zwei Minuten auf, ich ging ebenfalls in den Wagen hinein. Das fiel niemandem auf, weil ein solcher Fall auf dem Ostbahnhof bei jeder Zugabfahrt hundertmal vorkommt. Man muß nur darauf achtgeben, daß alles so gleichgültig geschieht wie nur irgend möglich. In diesem Fall ist die Chance aufzufliegen nämlich sehr gering. INTERVIEWER: Können Sie namentlich Kommunisten nennen, mit denen Sie 1929 in Ungarn zusammengetroffen sind? LUKÁCS: Schauen Sie, diese Leute sind jetzt nicht interessant. Von den heutigen Größen kannte ich unter anderem beispielsweise Sándor Szerényi. Oder um einen anderen Fall, einen besseren Fall zu nennen: István Friss war damals als junger Mann Redakteur der illegalen Zeitung. INTERVIEWER: Im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats sprachen wir von Kuns Rolle bei der Schaffung von Märtyrern… Waren diese Aktivitäten für den gesamten Zeitraum charakteristisch? LUKÁCS: Nein. Ich unterstelle Kun hier etwas, wofür es von seiner Seite nicht einmal Anspielungen gibt. Ich bin aber persönlich davon überzeugt, daß er einen derartigen Hintergedanken gehabt hat. INTERVIEWER: Jetzt ist ein Band von Julius Hays Biographie erschienen. Ich habe sie nicht gelesen, aber ich habe gehört, Julius Hay behaupte in seiner Biographie, Kun

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habe seine politischen Gegner nach Ungarn geschickt, damit sie dort auffliegen und umgebracht werden sollten. LUKÁCS: Das ist nicht ausgeschlossen. Ich will über Béla Kun keine moralischen Erklärungen abgeben, aber soweit ich Kuns Charakter kenne… Ich habe ja schon meine erste Frau zitiert, die ihn sehr treffend einen Vautrin nannte. INTERVIEWER: Es gibt also keine Daten oder Fakten, sondern nur Ahnungen? LUKÁCS: Das sind Dinge, die sich nicht beweisen lassen. Letztlich bin ich selbst auch nach Budapest gegangen und bin heil davongekommen. Also ich habe das nicht für eine bewiesene Schweinerei gehalten. Für eine Schweinerei hielt ich Kun selbst, Kun als moralische Person. Aber was diese Sache angeht, so habe ich mich selbst darum bemüht, nach Budapest gehen zu können… INTERVIEWER: Genosse Lukács, die Tatsache, daß Sie heil davongekommen sind, beweist absolut nichts zu Kuns Gunsten. Schließlich mußten Sie ja schon am ersten Tag umziehen… LUKÁCS: Es gibt Zufälle. Der Zufall im Zusammenhang mit meiner Wohnung geht nicht auf Kuns Konto, denn um die Wohnung hatten sich einheimische Leute gekümmert, und die konnten nicht wissen, welch enge Beziehungen zwischen mir und dem Nyugat (Westen) bestanden haben… INTERVIEWER: Mit einem Wort, Hays Behauptung kann wahr sein und auch nicht wahr sein. LUKÁCS: Man kann sie nicht für erwiesen ansehen. Eines ist sicher, daß Kun die Illegalität der sogenannten schwierigen Leute locker gehandhabt hat. Aber ob das nun aus politischer Überzeugung oder Nachlässigkeit oder gar aus Bosheit geschah, dafür gibt es keinerlei Beweise. INTERVIEWER: Ich glaube, Hay erwähnt diese Geschichte im Zusammenhang mit Sallai. LUKÁCS: Diese Vermutung ist lediglich in Verbindung mit Sallai gerechtfertigt, weil Sallai während der Diktatur Korvins Stellvertreter war. Folglich war es ganz sicher, daß man ihn aufhängen würde, wenn man seiner habhaft werden sollte. Das hätte man natürlich nicht riskieren dürfen. Andererseits stimmt es aber auch, daß Sallai unbedingt nach Ungarn gehen wollte. Es stimmt nicht, daß er geschickt worden ist. Es be-

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stand die spezielle Lage, daß ein führender Mann, wenn er nie nach Ungarn ging, auf die Dauer in der ungarischen Partei keine Rolle spielen konnte. Hierin, meine ich, waren nur Kun und Landler Ausnahmen. INTERVIEWER: Da Hays Name gerade aufgetaucht ist: Welche Beziehungen hatten Sie zu Hay? LUKÁCS: In der ersten Zeit hatte ich zu Hay ein gutes freundschaftliches Verhältnis, denn seine ersten Dramen, Gott, Kaiser und Bauer und Haben gefielen mir sehr gut. Von da an wechselte Hay zur Garde der Theatermacher über, und unsere Beziehung kühlte vollkommen ab. INTERVIEWER: Wo haben Sie sich kennengelernt? LUKÁCS: In Moskau. INTERVIEWER: Hatten Sie nach 1945 keinerlei freundschaftliche Kontakte? LUKÁCS: Nach 1945 hatten wir keinerlei Beziehungen. Hay war ein vollkommener Macher geworden. INTERVIEWER: Sein Mißgeschick war vermutlich, was bei einem Philosophen oder in welchem Fach auch immer nicht tragisch ist, für einen Schriftsteller jedoch einen großen Schlag bedeutet, daß er keine Muttersprache hatte, daß er eigentlich keine Sprache richtig konnte. Deutsch konnte er wohl etwas besser als ungarisch. Die erforderliche Prägnanz und Brillanz der Bühnensprache jedoch fehlten Hay völlig. Sie fehlten sogar in seinen ersten Stücken. LUKÁCS: Dafür gab es aber in seinen ersten Stücken einen tatsächlichen Konflikt. Ohne Zweifel gibt es in Haben einen ernsthaften Konflikt. Sie dürfen nicht die damalige Situation des ungarischen Dramas vergessen. Das war natürlich damals eine gewaltige Sache. INTERVIEWER: Das wäre auch jetzt noch eine gewaltige Sache. Konflikte sind auch jetzt in den Stücken rar gesät. LUKÁCS: In den ungarischen Stücken gibt es keine Konflikte. Hays damaliges Auftreten bedeutete in der Sache des ungarischen Dramas eine tatsächliche Wende. INTERVIEWER: Wo haben Sie nach Ihrem illegalen Abstecher nach Ungarn gelebt?

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LUKÁCS: Nach den Blum-Thesen fuhr ich zum II. Parteitag nach Moskau… INTERVIEWER: Wann haben Sie Moskau zum ersten Mal besucht? LUKÁCS: Zum ersten Mal war ich in der Zeit des III. Kongresses der Komintern, 1921, in Moskau, allerdings nur für ein paar Wochen, solange der Kongreß dauerte. Nach dem II. Parteitag blieb ich dann jedoch länger als ein Jahr dort. Von dort ging ich nach Deutschland und kehrte nach Hitlers Machtergreifung in die Sowjetunion zurück und blieb hier bis zur Befreiung. INTERVIEWER: Wo haben Sie während Ihres ersten längeren Aufenthalts in Moskau gearbeitet? LUKÁCS: Ich arbeitete im Marx-Engels-Institut. Über die ungarischen Blum-Thesen haben wir schon gesprochen. Aber es ergab sich dort eine sehr interessante Entwicklung. Wenn man jetzt die Stalinära betrachtet, dann müßte man natürlich die tatsächlichen Überreste der Stalinära viel strenger untersuchen und damit abrechnen, als das gegenwärtig üblich ist, andererseits jedoch ist die Vorstellung, daß Stalin nur unrichtige und antimarxistische Dinge gesagt hätte, ein Vorurteil. Das erwähne ich jetzt im Zusammenhang damit, daß 1930, bei meinem ersten längeren Aufenthalt in der Sowjetunion, die sogenannte Philosophiedebatte stattfand, die von Stalin gegen Deborin und dessen Schule eröffnet worden war. Natürlich kamen in dieser Debatte auch viele spätere stalinistische Züge zum Vorschein, trotzdem aber vertrat Stalin einen außerordentlich wichtigen Standpunkt, der in meiner Entwicklung eine sehr positive Rolle gespielt hat. Stalin griff nämlich die sogenannte Plechanow-Orthodoxie an, die für Rußland in der damaligen Zeit so wichtig war. Er verwahrte sich dagegen, daß man Plechanow als großen Theoretiker betrachten müsse, der als Vermittler von Marx gelte. Stalin behauptete, daß vielmehr die Marx-Lenin-Linie – und unausgesprochen auch die Stalin-Linie – des Marxismus Geltung habe. Betrachtet man Stalins hierbei verfolgten Hauptzweck, so ist das natürlich ein stalinistischer Gedanke, der für mich jedoch eine sehr wichtige Konsequenz hatte: Stalins Kritik an Plechanow veranlaßte mich auch zu einer Kritik an Mehring. Plechanow und Mehring hielten es nämlich für erforderlich, Marx zu ergänzen, sofern andere als gesellschaftlich-ökonomische Fragen zur Debatte standen. Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß Mehring in Marx’ Theorie die Kantsche Ästhetik einbaut und Plechanow eine im wesentlichen positivistische Ästhetik. Ich interpretierte Stalins Kampf gegen die Plechanowsche Orthodoxie so, daß darin jene Auffassung enthalten sei, wonach der Marxismus keine gesellschaftlich-ökonomische Theorie ist, neben der auch andere Dinge Platz haben, sondern eine universale Weltanschauung, und demnach müßte es auch eine eigenständige Marxsche Ästhetik geben, die der Marxismus weder von Kant noch von anders-

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wo übernommen hat. Diesen Gedanken haben Lifschitz und ich damals zusammen ausgearbeitet. Ich arbeitete damals zusammen mit Lifschitz im Marx-Engels-Institut. Mit der Ausarbeitung dieses Gedankens wurde unsere ganze spätere Entwicklung in Gang gesetzt. Die Feststellung ist heute in der Philosophiegeschichte nicht üblich, dennoch ist es eine Tatsache, daß wir die ersten waren, die von einer spezifisch Marxschen Ästhetik gesprochen haben, und nicht etwa von dieser oder jener Ästhetik, durch die das Marxsche System ergänzt werde. Der Gedanke, daß die Ästhetik einen organischen Teil des Marxschen Systems bildet, ist in meinem Artikel vorhanden, den ich über die Sickingen-Debatte zwischen Marx und Lassalle geschrieben habe, und bei Lifschitz ist dieser Gedanke in seinem in frühen Jahren geschriebenen Buch über den jungen Marx vorhanden. Auf dieser Grundlage fingen wir an, den Gedanken auszubauen, daß eine Marxsche Ästhetik existiere und daß bei der Entwicklung dieser Ästhetik von Marx auszugehen sei. Im Gegensatz zu unseren anderen Sachen ist dieser Gedanke interessanterweise in Rußland sehr verbreitet. Und es ist dieser schnellen Verbreitung zuzuschreiben, daß es niemandem bekannt ist, daß eigentlich Lifschitz und ich diese Wende gemacht haben. INTERVIEWER: Welche Meinung haben Sie zusammenfassend von Lifschitz? LUKÁCS: Meine Meinung über Lifschitz ist die, daß er zu den größten Talenten gehörte, die in jener Zeit gelebt haben, vor allem auf der rein literarischen Ebene. Er sah das Realismus-Problem sehr klar. Aber er dehnte es dann nicht auf die anderen Teile der Kultur aus. Vergessen Sie nicht, daß ich in den dreißiger Jahren mein Hegel-Buch geschrieben habe, das sich natürlich gegen die gesamte offizielle Linie richtete, denn Shdanow vertrat den Standpunkt, daß Hegel einer der romantischen Kritiker der Französischen Revolution sei. Ich will gar nicht davon reden, daß ich damals auch mit der Arbeit an der Zerstörung der Vernunft begonnen habe. Hierin wende ich mich ebenfalls gegen jenes Dogma, daß die neuzeitliche Philosophie ausschließlich auf dem Gegensatz von Materialismus und Idealismus basiere. Ich bezog hier eine Position, die im Gegensatz zum Irrationalismus und zum Rationalismus stand, sei es nun in idealistischer oder materialistischer Form. Das heißt, ich ging auch damals schon thematisch weit über Lifschitz’ Linie hinaus. Der arme Lifschitz ist in Rußland geblieben, ich nehme ihm das keineswegs übel. Was konnte er schon in Rußland machen? Er unterstützte jene Linie, daß die moderne Literatur nicht gut sei. Seine Auffassung wurde durch und durch konservativ. Ich will nicht sagen, daß die zwischen uns bestehende Freundschaft dadurch aufgehört hätte. Aber natürlich habe ich jene Sachen, über die Lifschitz bis heute noch nicht hinweg ist, theoretisch sehr weit hinter mir gelassen.

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INTERVIEWER: Trotzdem war aber mit ihm irgend etwas nicht in Ordnung, denn nach 1945 durfte sein Name in Ungarn kaum ausgesprochen werden. LUKÁCS: Ja, das stimmt, aber das hing mit der Judenfrage zusammen. Er war eigentlich in der Hinsicht, daß nur die materialistische Philosophie mit der realistischen Kunsttheorie in Einklang zu bringen sei, immer sehr orthodox. INTERVIEWER: Worin sehen Sie die modernen literarischen Phänomene, in denen sich zwischen Ihnen Gegensätze zeigen? Schließlich, Genosse Lukács, lehnen Sie auch eine ganze Menge moderne Phänomene ab. Ich denke beispielsweise an Dramen von Ionesco oder Beckett. Welches sind die modernen Phänomene, die Sie, Genosse Lukács, akzeptieren und die von Lifschitz entschieden zurückgewiesen werden? Welcher Art sind diese Phänomene? LUKÁCS: Im modernen Drama tauchen zweifelsohne Spuren oder Anfänge des Tragischen auf. Ich habe diese Spuren oder Anfänge mit außerordentlicher Sorge beobachtet, weil man meiner Meinung nach darauf hinweisen muß, daß diese Dinge auch heute noch vorhanden sind, wenn auch schwach und problematisch. Lifschitz verhielt sich diesem Phänomen gegenüber völlig ablehnend. INTERVIEWER: Genosse Lukács, bei welchen Schriftstellern haben Sie dieses Auftreten des Tragischen beobachtet? LUKÁCS: In Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame beispielsweise ist dieser Zusammenhang zweifelsohne vorhanden. Dürrenmatts spätere Entwicklung verfolge ich sehr kritisch, aber sein erstes Drama… INTERVIEWER: Bestanden in der bildenden Kunst ebenfalls Gegensätze zwischen Lifschitz und dem Genossen Lukács? LUKÁCS: Der Gegensatz bestand darin, daß ich die Höhepunkte der modernen Malerei bei Cezanne und Van Gogh erblickte, während Lifschitz diese Höhepunkte viel früher ansetzte. INTERVIEWER: In welcher Zeit? LUKÁCS: In der Renaissance. INTERVIEWER: Die liegt sehr weit zurück. Bestand in der Musik derselbe Unterschied?

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LUKÁCS: Die Musik war in jener Zeit nicht so wichtig, denn die Frage der Musik war für mich wichtig geworden, als ich mit dem Bartók-Problem konfrontiert wurde. INTERVIEWER: Genosse Lukács, was hatte Sie veranlaßt, danach nach Berlin zu ziehen? LUKÁCS: Das ist sehr einfach. Ich wollte Moskau verlassen. Rjasanow hatte nach den Blum-Thesen einen geistreichen Spruch, als ich mich bei ihm meldete. Er sagte: »Ah, Sie sind kominterniert!« (Anm. d. Übers.: im Originaltext deutsche Formulierung) Das kann man leider nicht übersetzen. INTERVIEWER: Und was ist aus Rjasanow geworden? LUKÁCS: Rjasanow war Direktor des Marx-Engels-Instituts. Er war ein berühmter Marxist, der noch in den alten Zeiten die große Marx-Engels-Ausgabe gemacht hatte. Er war ein exzentrischer Mensch, aber außerordentlich gebildet und wirklicher MarxKenner. Er hatte schon während meines dortigen Aufenthalts irgendwelche Unannehmlichkeiten, weshalb er in die Provinz versetzt wurde, und in der Zeit der großen Prozesse ist er schließlich verschwunden. Die Einzelheiten kennt man nicht. INTERVIEWER: Weshalb haben Sie sich gerade für Berlin entschieden? LUKÁCS: Wien interessierte mich nur als ungarisches Zentrum, aber nach Wien konnte ich nicht gehen, weil die ungarische Partei, das heißt Kun und seine Leute, dagegen protestiert hätte. Ich entschied mich dann für Berlin, weil ich ganz richtig dachte, ich könne in der deutschen Partei ernsthaft arbeiten. In den zwei bis drei Jahren meines Berlin-Aufenthalts leistete ich ausschließlich deutsche Arbeit. INTERVIEWER: Andor Gábor ist in Wien geblieben? LUKÁCS: Nein, er ist schon in den zwanziger Jahren nach Berlin umgezogen. INTERVIEWER: Und Béla Balázs? LUKÁCS: Balázs ist ebenfalls nach Berlin gegangen und dann nach Moskau. Aber mit Béla Balázs bin ich in der Emigration ganz auseinandergekommen. INTERVIEWER: Weshalb?

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LUKÁCS: Davon sprachen wir schon. Balázs stand politisch links. Er machte jedoch einen weltanschaulichen Wandel durch, das heißt, er baute seine alte Weltanschauung in den offiziellen Kommunismus ein. Dadurch kam eine Dualität zustande, die ich weder theoretisch noch künstlerisch ertragen konnte. Abgesehen von seinem ersten Lyrikband, dem Männergesang, krankten die Sachen, die er in der Emigration geschrieben hat, an dieser Dualität und dadurch sind wir dann allmählich auseinandergekommen. Ich füge hinzu, damit Sie sehen, daß es hier nicht um irgendein Sektierertum geht: Ich habe Balázs immer abgeraten, in die Partei einzutreten. Ich vertrat nämlich die Meinung, diese weltanschauliche Frage würde nicht in solcher Schärfe auftauchen, wenn er ein mit den Kommunisten sympathisierender bürgerlicher Schriftsteller bliebe. Dann hätte ihn niemand auf den Marxismus verpflichtet, und er hätte ein linker, bürgerlicher Schriftsteller bleiben können. Aber er wollte um jeden Preis in die Partei eintreten. INTERVIEWER: Vertreten Sie auch über Balázs’ filmtheoretische Leistung eine so vernichtende Meinung? LUKÁCS: Was den Film angeht, so hatte Balázs Glück, daß es keine marxistische Theorie über den Film gab. Folglich konnte er darüber nach Gutdünken schreiben, und dieser Dualismus kam nicht zur Geltung. Aber ich weiß nicht, ob Sie Cinka Panna gesehen haben, den Kodály nach 1945 sogar vertont hat? Es war einfach schrecklich. Einerseits wollte er unbedingt als marxistischer Forscher auftreten, und so machte er Rákóczi und Bercsényi zu Opportunisten, und Laszló Ocskai repräsentierte ihnen gegenüber die plebejisch demokratische Linie. Das war schon an sich der Gipfel der Idiotie. Und nun hat er sich folgendes ausgedacht: Ein Abgesandter Bercsényis geht mit einem Schlachtplan zu Ocskai. Das Besondere daran ist, daß der Schlachtplan genau mit Ocskais ursprünglichem Schlachtplan übereinstimmt. Da aber der Plan von Bercsényi geschickt worden ist, will er ihn nicht ausführen. Das Werk steckt voller solcher Einfältigkeiten, und ich habe Balázs natürlich schon in Moskau gesagt, er solle das Manuskript verbrennen. INTERVIEWER: Wie tief ging der weltanschauliche Wandel bei Andor Gábor? LUKÁCS: Andor Gábor hat dieses messianistische Sektierertum, das nach 1919 entstand, sich auf ungarischer Seite in glühendem Haß gegen Horthy und seine Leute äußerte und in Wien nicht einmal einen sektiererischen Charakter hatte, sehr leicht akzeptiert. Gerade in der Übergangsphase zu Stalin wurde Gábor dann von einer tiefgreifenden Enttäuschung erfaßt, und daran ist der Alte eigentlich zugrunde gegangen. Denn ich glaube, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der seine spätere Dichtung, jene zehn Bände – unglücklicherweise hat Gábors Frau eine zehnbändige Ausgabe auf

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die Beine gestellt – lesen würde. Zu nennen wären seine Wiener Gedichte und seine pamphletartigen Artikel in der Bécsi Magyar Ujság (Wiener Ungarischen Zeitung), die sind ausgezeichnet. Sie gehören zu den besten ungarischen Pamphleten. Ich muß leider sagen, daß es meiner Meinung nach außer mir keinen ungarischen Schriftsteller gibt, der in der Stalinära mit heiler Haut davongekommen wäre. Von Hay haben wir schon gesprochen. Also, Révai hat in Ungarn auf dem Parteitag einen sehr unrichtigen Standpunkt vertreten, als er die Exilliteratur verteidigte. Und die in Ungarn gebliebenen Schriftsteller hatten völlig recht mit der Ablehnung dieses Standpunkts. Weder Balázs noch Gábor noch Julius Hay und so weiter… INTERVIEWER: Von Béla Illés ganz zu schweigen. LUKÁCS: Béla Illés, Sándor Gergély… INTERVIEWER: Aber Béla Illés konnte sogar noch schlechter werden, denn sein erstes Buch war gar nicht einmal so schwach… LUKÁCS: Die Karpaten-Rhapsodie kann man als Buch noch lesen. Aber was er danach gemacht hat, das ist schrecklich. INTERVIEWER: Nun können wir zur Berliner Periode übergehen. Wann sind Sie in Berlin eingetroffen? LUKÁCS: Im Sommer 1931. INTERVIEWER: Und Sie sind bis zu Hitlers Machtergreifung dort geblieben? LUKÁCS: Hitler war im Januar an die Macht gekommen, und ich fuhr im März nach Moskau. INTERVIEWER: Es scheint eine herkömmliche Gewohnheit gewesen zu sein, daß Genosse Lukács noch zwei Monate am Ort des Geschehens blieb, nachdem die Konterrevolution triumphiert hatte. LUKÁCS: Schauen Sie, ich bin noch in Berlin geblieben, weil die Partei die ebenfalls sehr unrichtige Auffassung vertrat, daß ich die intellektuellen Organisationen auf die Illegalität umstellen sollte. Das war natürlich eine Naivität, denn wer wußte damals schon, wie die Illegalität unter Hitler aussehen würde. Aber auf jeden Fall blieb ich bis etwa Mitte März nach Hitlers Machtergreifung.

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INTERVIEWER: Was haben Sie in Berlin getrieben? Haben Sie geschrieben? LUKÁCS: In Berlin habe ich hauptsächlich geschrieben. INTERVIEWER: Haben Sie bei einer Zeitung gearbeitet oder bei einer Zeitschrift? LUKÁCS: Schauen Sie, ich hatte keinen Vertrag, aber ich habe kontinuierlich beispielsweise für die Linkskurve und für andere kommunistische Blätter gearbeitet. INTERVIEWER: Sind die verhältnismäßig zahlreichen Linkskurve-Artikel alle in dieser Zeit entstanden, oder haben Sie der Linkskurve auch schon von Wien aus Arbeiten geschickt? LUKÁCS: Nein, diese Artikel sind alle dort entstanden. Sie sind jetzt erschienen. Im vierten Band meiner Werke. INTERVIEWER: Haben Sie im deutschen Schriftstellerverband irgendeine Rolle gespielt? LUKÁCS: Im deutschen Schriftstellerverband arbeitete eine große linke Gruppe, wovon ein Teil Kommunisten waren. Ich gehörte zur Führung dieses kommunistischen Teils der Gruppe. INTERVIEWER: Konnte man sich in jener Zeit in Deutschland offen als Kommunist bekennen? LUKÁCS: Schauen Sie, die Tatsache, daß ich Kommunist war, konnte man nicht verheimlichen. Aber das bezog sich nicht nur auf mich, sondern sagen wir auch auf Wittfogel und auf Becher, die in jener Zeit eine große Rolle gespielt haben. Es war jedem bekannt, daß sie Kommunisten waren. INTERVIEWER: Genosse Lukács, und die Lage wurde auch dadurch nicht erschwert, daß Sie ein emigrierter Kommunist waren und so organisatorisch…? LUKÁCS: Bevor Hitler kam, spielte das keine Rolle. Ich weiß nicht, ob das auch bei anderen so gewesen wäre. Aber ich war ein ziemlich bekannter deutscher Schriftsteller – und das sage ich jetzt nicht in kommunistischem Sinne –, ich war ein Schriftsteller, über den Thomas Mann und andere schrieben. Also, ich gehörte zur sogenannten schriftstellerischen Elite. So hat man es dann toleriert, daß ich Kommunist war.

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INTERVIEWER: In dieser Zeit, also bis 1933, bis zum Ende Ihrer deutschen Emigrationsperiode, hat sich im großen und ganzen Ihre marxistische Anschauung herausgebildet, zu der Sie sich auch heute bekennen? LUKÁCS: Schauen Sie, die Anfänge dieser Anschauung finden sich in dieser Zeit. Besonders deutlich wird das darin, daß ich Bredels Naturalismus in der Linkskurve kritisierte, während die offizielle deutsche kommunistische Richtung in Bredel ihren großen proletarischen Vertreter sah. Ich habe ein solches naturalistisches Kommunistsein künstlerisch immer abgelehnt. INTERVIEWER: Stammt Ihre Bekanntschaft mit Brecht ebenfalls aus dieser Zeit? LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: Über Ihr Verhältnis zu Brecht erscheint jetzt in Ostdeutschland so vieles, sogar Verleumdungen… INTERVIEWER: Ich hielt Brecht damals in Berlin für sektiererisch, und zweifellos besitzen Brechts erste Stücke, seine Lehrstücke, einen sehr starken sektiererischen Charakter. Folglich habe ich der Brechtschen Richtung gegenüber eine gewisse kritische Position eingenommen, die sich dann sehr zugespitzt hat. Das Hauptverdienst gebührt hierbei Brechts Frau, die immer – wie man das ja auch gegenwärtig beobachten kann – den offiziellsten Standpunkt vertritt, um Brechts dichterischen Erfolg zu fördern. Das geschah anno dazumal genauso. Ich will in diesem Zusammenhang eine Episode erzählen. Meine Situation in Deutschland war die, daß man mir kulturelle Aktivitäten als Schriftsteller offiziell genehmigt hatte. Mir wurde nur gesagt, ich sollte mich von der Politik fernhalten. Nun wurde ich aber auf einer Parteiversammlung von Frau Brecht angegriffen, ich sollte auf der Bezirksparteiversammlung in der und der Frage politisch so und so Stellung nehmen, woraufhin ich ihr einfach sagte, ich würde Frau Brecht sehr bitten, sie sollte das bei der Polizei sagen und nicht hier. INTERVIEWER: Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Brecht in den späteren Jahren entwikkelt? LUKÁCS: Die Sache steht so, daß es zwischen uns in der Expressionismusdebatte zweifellos Differenzen gegeben hat. Es steht außer Zweifel, daß Brecht eher mit den Expressionisten sympathisiert hat als mit mir. Aber während des Krieges – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr – haben wir uns einmal in Moskau getroffen. Er hatte ursprünglich eine Zeitlang in Dänemark und in Finnland gelebt. Von dort war er über die Sowjetunion nach Amerika gereist. Wir trafen uns in Moskau, und damals sagte

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Brecht mir in einem Kaffeehaus: »Sehen Sie, es gibt eine Unmasse von Leuten, die mich um jeden Preis gegen Sie hetzen wollen, und ganz sicher gibt es genauso viele Leute, die Sie gegen mich aufhetzen wollen. Wir sollten uns darauf nicht einlassen.« Die Unterhaltung endete ganz humorvoll, weil wir darin übereinkamen, daß wir uns eine Stunde nach Friedensschluß in dem und dem Kaffee in Berlin treffen wollten. Also, wir haben uns in Moskau ganz freundschaftlich getrennt, obwohl ich in der Expressionismusdebatte alles mögliche kritisiert hatte. Aber ich habe mir ein literarisches Versäumnis zuschulden kommen lassen, was darauf zurückzuführen ist, daß mich die ungarischen Angelegenheiten zu stark in Anspruch genommen haben: Nachdem mir die große Bedeutung von Brechts letzter Periode klar geworden war, habe ich darüber keinen Artikel geschrieben. Hätte ich das getan, wäre es heute sehr deutlich, welche Meinung ich von dieser Periode Brechts hatte. Tatsache ist, daß ich in jener Zeit bei jedem meiner Berlinbesuche Brecht aufgesucht habe und daß wir oft zusammen waren. Ich teilte ihm meine Meinung mit, wir diskutierten auch darüber. Und man kann sagen, es entwickelte sich zwischen uns ein ausgesprochen gutes Verhältnis, was auch dadurch illustriert wird, daß ich auf Bitten von Brechts Frau zu jenen gehörte, die unmittelbar nach seinem Tod über ihn in Berlin gesprochen haben. Ich hielt mich gerade in einem deutschen Kurort auf, von wo ich nach Berlin gebeten wurde, um diese Rede zu halten. INTERVIEWER: Ich glaube, wenn ich ein bißchen kritisch sein darf, das Versäumnis hat auch noch eine andere Seite, denn es kann sein, daß Brechts frühe Dramen mit Ausnahme der Dreigroschenoper nicht bleiben werden… LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: … aber seine frühe Dichtung hat unbedingt bleibenden Wert. LUKÁCS: Schauen Sie, mit Brechts Lyrik habe ich mich eigentlich nie eingehend befaßt. Demgegenüber schätzte ich diese späten Dramen sehr hoch ein. Darüber spreche ich auch in der Ästhetik und anderswo. Ich habe einfach den Fehler gemacht, daß ich in den dreißiger Jahren, als ich sehr stark beschäftigt war, keinen einzigen Artikel in einer deutschen Zeitung darüber geschrieben habe, um wie vieles anders doch die späten Brecht-Dramen seien als die früheren. INTERVIEWER: In den dreißiger Jahren? Nicht vielmehr in den vierziger Jahren? LUKÁCS: In den vierziger Jahren.

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INTERVIEWER: Denn in Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur konnten Sie diese Dramen noch nicht kennen, da Sie das Werk ja in den dreißiger Jahren geschrieben haben. LUKÁCS: Nein, nein, in den vierziger Jahren, ich habe mich einfach geirrt. INTERVIEWER: Weshalb ist Brecht nach Ihrer Beurteilung als Emigrant nicht in der Sowjetunion geblieben. Hat er sich dazu geäußert? LUKÁCS: Schauen Sie, Brecht wollte immer, wie soll ich es ausdrücken, auf phantastischste Art und Weise für sich einerseits innerhalb der Partei einen gesicherten und koscheren Platz reservieren und andererseits völlige Freiheit bewahren. So ist es für ihn auch bezeichnend, daß er sich, bevor er nach Ostberlin zog, erst die österreichische Staatsbürgerschaft besorgte. Als österreichischer Staatsbürger fuhr er nach Berlin und war bis zum Schluß österreichischer Staatsbürger. INTERVIEWER: Soweit ich weiß, hatte er sein Geld in einer skandinavischen Bank deponiert und die Urheberrechte an den westdeutschen Suhrkamp Verlag verkauft, das heißt, daß er insgesamt vier Länder in die Absicherung seines Lebens und seines Werks einbezogen hatte. LUKÁCS: Mit einem Wort – und darin hat auch seine Frau eine sehr große Rolle gespielt –, Brecht war ein außerordentlich vorsichtiger Mensch, der bei Absicherung seiner Freiheit keine Scheu vor guten Geschäften hatte. INTERVIEWER: Welche Kontakte hatten Sie in Berlin zu anderen bedeutenden Schriftstellern? Zum Beispiel zu Anna Seghers? LUKÁCS: Zu Anna Seghers hatte ich sozusagen bis zu den letzten Jahren ein freundschaftliches Verhältnis. Auch unser Briefwechsel hatte einen sehr freundschaftlichen Anstrich. Aber seit sich Anna Seghers – meines Erachtens vollkommen überflüssig und kopflos – diesen hinterletzten Ulbrichtschen literarischen Tendenzen unterworfen hat, ist unsere Verbindung ohne viel Aufhebens abgerissen. INTERVIEWER: Aber sie hatte doch schon damals in Berlin begonnen? LUKÁCS: In den dreißiger Jahren in Berlin, noch in der Zeit vor Hitler. INTERVIEWER: Soviel ich weiß, hatte sie einen ungarischen Mann.

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LUKÁCS: Sie hatte einen ungarischen Mann, aber einen von der üblen Sorte, er war mir nicht allzu koscher. Unter »nicht koscher« verstehe ich, daß er im schlechten Sinne des Wortes ein parteitreuer Mensch war. Ich glaube, in dieser Hinsicht hatte er auf Anna Seghers einen schlechten Einfluß. INTERVIEWER: Und andere Schriftsteller? Bloch, Becher… LUKÁCS: Zu Bloch hatte ich einen gewissen Kontakt. Mit Becher verband mich eine freundschaftliche Beziehung. Er war das wichtigste Bindeglied zu den deutschen Schriftstellern, weil meine alten literarischen Bindungen sozusagen vollkommen aufgehört hatten. Teils waren die Menschen gestorben, teils aber darf man nicht vergessen, daß beispielsweise Thomas Mann seine Beziehung zu mir außerordentlich diplomatisch auffaßte. INTERVIEWER: Und worin bestand seine Diplomatie? LUKÁCS: Seine Diplomatie bestand darin, daß er niemals etwas Gutes von mir behauptete, ohne zugleich einen Vorbehalt anzumelden. INTERVIEWER: Tat er das nun aus politischer Diplomatie oder aber um seines bürgerlichen Prestiges willen? LUKÁCS: Schauen Sie, ich glaube, ich muß in Thomas Manns Augen so etwas wie – ich weiß nicht, wie ich mich ungarisch ausdrücken soll – eine unheimliche (Anm. d. Übers.: vorstehendes Wort im Orig. deutsch) Erscheinung gewesen sein. Ich halte es absolut nicht für ausgeschlossen, daß das von Anfang an so gewesen ist und daß das gar nicht einmal mit dem Kommunismus zusammenhängt, sondern mit unser beider Charakter. Unlängst hat sich ein sehr verdächtiger Sachverhalt herausgestellt. Ein amerikanischer Professor schrieb mir nämlich, daß er im Thomas-Mann-Archiv das Manuskript von Tod in Venedig untersucht habe, und dort seien wortwörtlich und ohne Anführungsstriche Zitate aus Die Seele und die Formen. Wenn aber jemand Thomas Manns Jugendzeit kennt, dann weiß er, daß Thomas Mann sofort Beziehungen zu einem Kritiker aufgenommen hat, wenn sich dazu nur irgendeine Möglichkeit geboten hat. Zu mir hat er nie Beziehungen aufgenommen. Dabei war ich damals noch nicht einmal Kommunist. Mit einem Wort, hier muß es etwas geben, dessen Grund ich nicht aufdecken kann und weshalb ich für ihn – mir fällt hierfür kein treffendes ungarisches Wort ein – eine unheimliche (Anm. d. Übers.: vorstehendes Wort im Orig. deutsch) Erscheinung gewesen sein muß…

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INTERVIEWER: Ein Beweis hierfür mag sein, daß nach literarischer Überlieferung auch die Figur Naphtas… LUKÁCS: Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß er bei der Figur Naphtas mich als Modell genommen hat. Er war jedoch zu intelligent, als daß er nicht gewußt hätte, daß Naphtas Anschauungen nicht meine Anschauungen waren. Auch zu diesem Thema gibt es in den Briefen schrecklich viel Diplomatisches. Zum Beispiel hatte er einen Briefwechsel mit einem deutschen Literaturhistoriker französischer Abstammung, den er sehr darum bat, nichts über die Naphta-Frage zu schreiben, weil ich mich bisher schon sehr freundlich über dieses große Buch, über den Zauberberg, geäußert hätte, das heißt, offensichtlich hätte ich nicht bemerkt, daß Naphta sich auf mich bezöge. INTERVIEWER: Als ob es Sie interessiert hätte, Genosse Lukács, daß… LUKÁCS: Schauen Sie, ich habe einmal im Spiegel ein Interview gegeben, worin ich sagte, wenn mich Thomas Mann in Wien gefragt hätte, ob er mich als Modell verwenden dürfe, so hätte ich dem genauso zugestimmt, als wenn er gesagt hätte, er habe sein Zigarettenetui zu Hause vergessen, ich solle ihm eine Zigarre geben. INTERVIEWER: Es gibt noch eine Stelle, durch die sich philologisch belegen läßt, daß Thomas Mann bei der Zeichnung Naphtas Genossen Lukács vor Augen gehabt haben muß. In Thomas Manns Brief an Kanzler Seipel gibt es einige Stellen, die beinahe wortwörtlich mit dem übereinstimmen, was Hans Castorp über Naphta denkt… LUKÁCS: Ja, ja, das läßt sich überhaupt nicht bestreiten, daß Thomas Mann in Naphta mich porträtieren wollte. Aber ich meine, wenn ich in seinen frühen Novellen bestimmte deutsche Schriftsteller erkannte und mich darüber sehr amüsierte und mir diese Porträts sehr gefielen, warum sollte ich dann einen Unterschied machen, als von mir die Rede war. Genauso werde ich niemals untersuchen, ob ein Mensch, der von einem x-beliebigen Schriftsteller porträtiert worden ist, tatsächlich dem betreffenden Menschen ähnelt oder nicht, weil diese Frage nicht interessant ist. Interessant ist vielmehr, ob es dem Schriftsteller gelungen ist, den Typus darzustellen, den er darstellen wollte. Genauso werde ich auch nicht untersuchen, inwieweit Naphta mir ähnelt. In Naphtas Fall ist diese Darstellung gelungen. Folglich ist mit Naphta alles in Ordnung. INTERVIEWER: Ein Schriftsteller sucht sich seine Modelle entweder unter seinen Bekannten, oder aber er geht bis zu einer Abstraktion, in der sich niemand mehr oder aber jeder sich erkennen kann.

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LUKÁCS: Wenn Thomas Mann andauernd darauf geachtet hätte, daß man mich ja nicht erkennt… Man muß natürlich hinzufügen, daß der Schriftsteller manchmal wegen Objektgegebenheiten vom Modell abweichen muß. Um nur ein ganz einfaches Beispiel zu erwähnen: Im August 1919 habe ich Budapest verlassen, und ich hatte natürlich kein Geld. Denselben Anzug, in dem ich die Reise angetreten hatte, trug ich 1919 und 1920, da dies mein einziger Anzug war, und in diesem Anzug besuchte ich Thomas Mann. Er konnte also nicht gesehen haben, daß ich elegant sei. Meine Eleganz hatte er der Figur zuliebe erfunden. Ich will hinzufügen, daß ich nie elegant gewesen bin. Es gibt einen sehr netten Ausspruch von Liebermann, er habe jemanden ähnlicher gemalt als er in Wirklichkeit sei. Der Schriftsteller braucht eine gewisse Gestalt. Auch Thomas Mann hat von mir den Impuls bekommen. Und alles, was er brauchte, hat er vollkommen frei verändert. Ich glaube nicht, daß er besonders darauf geachtet hätte, ob ich elegant sei oder nicht. INTERVIEWER: Er hat sicher etwas davon in die Figur hineininterpretiert, daß Genosse Lukács aus einer reichen Familie stammt… LUKÁCS: Richtig, dergleichen ist möglich, dennoch steht aber fest, daß ich nicht elegant gewesen bin, als ich Thomas Mann im Mai 1920 aufsuchte. INTERVIEWER: Sie haben sich auch anläßlich des Schiller-Vortrags 1955 getroffen. LUKÁCS: Das war wiederum sehr bezeichnend für Thomas Mann. Als in Jena die Schiller-Feier veranstaltet wurde, wohnte ich im selben Hotel wie er. Die Mahlzeiten hingegen waren so organisiert, daß die höchsten Bonzen, die hohen Tiere, Ulbricht und wie sie alle heißen, und von den Schriftstellern Becher sowie von den bürgerlichen Schriftstellern Thomas Mann in einem extra Zimmer speisten, während ich zusammen mit der Mittelklasse dort im Hotel speiste. Und Thomas Mann fiel es kein einziges Mal ein, Becher zu sagen: »Lad doch den Lukács auch mal zum Essen ein!« INTERVIEWER: Der Gedanke war Becher ebenfalls nicht gekommen. LUKÁCS: Weil Becher ein ebensolcher Diplomat war wie Thomas Mann. INTERVIEWER: Dafür hatte seine Diplomatie aber schlimme Folgen für ihn. Während Thomas Manns Diplomatie keine Auswirkungen auf seine Werke hatte, wurde Bechers Begabung durch die Diplomatie zugrunde gerichtet. LUKÁCS: Ich bin in solchen Dingen, wie Sie sehen, sehr liberal. Einem guten Schriftsteller gestatte ich sozusagen alles. Ich hatte einmal mit Thomas Mann einen Brief-

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wechsel – der in Wien leider vernichtet worden ist –, bei dem ich befürchtete, daß wir uns überwerfen würden. Ich schrieb ihm in der Zeit des Szántó-Prozesses, er solle bei Horthy telegrafisch gegen den Prozeß protestieren. Daraufhin schrieb mir Thomas Mann einen langen Brief, daß er jetzt in Polen an einer Sitzung des PEN-Clubs teilgenommen habe und wie schön doch im Gegensatz zur Politik, an der er sich nicht beteiligen möchte, diese großen ideologischen Zusammenhänge seien. Daraufhin schrieb ich ihm einen saugroben Brief, wonach er die Politik so verstünde, daß man auf der PEN-Linie Pilsudskis Halbfaschismus, wenn es sein müßte, ohne Umschweife ideologisch unterstützen würde, und davon sei er begeistert. Wenn es aber gelte, einen anständigen Kommunisten vor dem Tod zu retten, dann würde die Politik plötzlich zu einer schrecklichen Sache. Ich war überzeugt davon, daß alle Beziehungen zwischen uns nach diesem Brief abgebrochen sein würden. Statt dessen bekam ich drei Tage später ein Telegramm: »Habe Horthy telegrafiert.« Es tut mir sehr leid, daß dieses Telegramm nicht mehr vorhanden ist. INTERVIEWER: Aber der Brief wird vielleicht im Thomas-Mann-Archiv vorhanden sein. LUKÁCS: Der Brief ist auch nicht mehr da. Ich habe ihn vernichtet. INTERVIEWER: Aber der Brief, den Sie geschrieben haben, Genosse Lukács? LUKÁCS: Das kann sein, aber sie werden sich damit natürlich nicht rühmen. INTERVIEWER: Aber dann müßte ja die Kopie von Thomas Manns Brief vorhanden sein. Denn soviel ich weiß, hat er sich von allem, was man sich nur denken kann, einen Durchschlag gemacht, zum Teil für die Nachwelt, damit die Sachen zur Eröffnung des Archivs vorhanden sein sollten. LUKÁCS: Es ist möglich, daß der Brief irgendwo vorhanden ist. Wir zumindest waren damals der Meinung, daß man Thomas Mann auch in anderen Fällen ausnutzen könnte und das auch tun müßte. Folglich müßte man aufpassen, daß bei einer Haussuchung bei mir keine Thomas-Mann-Briefe gefunden werden könnten. Deshalb haben wir diesen Briefwechsel vernichtet. INTERVIEWER: Hat Ihre Freundschaft mit Ernst Fischer in den Wiener Jahren begonnen? LUKÁCS: Nein, in Moskau.

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INTERVIEWER: Denn meines Wissens hat auch Ernst Fischer mit Thomas Mann in einer ähnlichen Angelegenheit korrespondiert. LUKÁCS: Ernst Fischer war von Anfang an ein Kommunist, der zu Parteilosen Kontakt hatte und Beziehungen suchte. INTERVIEWER: Kommen wir zu den Jahren in Moskau. LUKÁCS: Am 30. Januar war Hitler Reichskanzler geworden. Es war offensichtlich, daß für mich in Berlin kein Bleiben mehr war. Die Partei hatte allerdings den Wunsch, wie schon erwähnt, daß ich helfen sollte, die Organisationen, soweit das möglich war, auf die Illegalität umzustellen. Das war freilich eine lächerliche Sache, weil man die Illegalität in der Hitlerära mit keiner früheren Illegalität vergleichen konnte und weil keine Organisation existierte, in der sie hätte bestehen können. Jedenfalls bin ich aus diesem Grund bis Mitte März in Berlin geblieben und Mitte April nach Moskau gefahren. INTERVIEWER: Zu der Zeit schon vollkommen illegal? LUKÁCS: Ich bin immer illegal gereist. Ich hatte keinen Paß, denn die Ungarn gaben mir keinen Paß. Folglich reiste ich mit einem Paß aus der illegalen Werkstatt, und zwar auch in der Zeit, als ich als ungarisches ZK-Mitglied längst zwischen Wien und Prag und Wien und Berlin hin und her fuhr. Vor 1945 bin ich in Europa nie mit einem legalen Paß gereist. INTERVIEWER: Haben Sie nach Ihrer Rückkehr nach Moskau Ihre Arbeit am MarxEngels-Institut fortgesetzt? LUKÁCS: Nein, in das Marx-Engels-Institut bin ich nicht zurückgegangen, weil in der Zwischenzeit auf Initiative Stalins eine Kampagne eingesetzt hatte, die durchaus ihre positiven Seiten hatte, nämlich im Kampf gegen die RAPP (Anm. d. Übers.: Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller). Die Kampagne erfüllte eigentlich den guten Zweck, den Trotzkisten Awerbach, den Vorsitzenden der RAPP, unmöglich zu machen. Stalin war bei dieser Angelegenheit ausschließlich hieran interessiert. An dieser Kampagne waren aber auch Judin und vor allem Ussewitsch beteiligt, die die Funktionärsaristokratie der RAPP angriffen und die statt der engstirnigen RAPP, die nur kommunistische Schriftsteller in ihre Reihen aufnahm, einen allgemeinen russischen Schriftstellerverband forderten, in dem jeder russische Schriftsteller aus der Sowjetunion Platz haben und der dann die Angelegenheiten der russischen Autoren erledigen würde. Ich schloß mich dieser Bewegung ebenfalls an. Bis zu einem gewis-

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sen Grad spaltete sich die Bewegung in zwei Teile. Der rein stalinistische Flügel gab sich damit zufrieden, Awerbach isoliert zu haben. In der Folgezeit wurde er denn auch beseitigt. Awerbach wurde im Laufe der Prozesse vernichtet. Aus dem anderen Flügel ging die Zeitschrift Literaturnij Kritik hervor, die sich um die revolutionäre demokratische Umwälzung der russischen Literatur bemühte. Im letzten Abschnitt meines Rußlandaufenthaltes nahm ich daran teil. INTERVIEWER: Welchen Spielraum hatte dieses Blatt in der Zeit des wachsenden Stalinismus? LUKÁCS: Man darf jenen besonderen Umstand nicht vergessen, daß der praktische Einfluß des Stalinismus dennoch über den zentralen Parteiapparat zum Tragen kam. Ich weiß nicht aus welchem Grund, jedenfalls betrachtete Stalin auch die Philosophen Mitjin und Judin als seine Leute. Folglich spielten sie im Zentralkomitee eine wichtige Rolle, und auf diese Weise konnte Judin über die Ussewitsch für die Richtung der Literaturnij Kritik Konzessionen aushandeln. Aus diesem Grund blieb nicht nur ich in der Zeit der großen Prozesse verschont; auch unter den Aktiven der gesamten Literaturnij Kritik fiel niemand den großen Verfolgungen zum Opfer. Die Ussewitsch, und das war mein Glück, war meine Moskauer Freundin. Sie wiederum war mit Judin gut befreundet. Dadurch fungierten wir als eine Fraktion im Zentralkomitee, obwohl Fadejew und andere, die Mitglieder der anderen Fraktion waren, uns ununterbrochen angriffen. Meine Festnahme wurde infolge meines sprichwörtlichen Glücks durch das Zusammenwirken unzähliger Dinge verhindert. Zum einen standen wir auch unter Judins Protektorat. Zum anderen spielte ich zu meinem Glück in der ungarischen Partei keine Rolle mehr, und so fand sich in der ungarischen Partei kein Mensch, der sich privatim an mich auch nur erinnert hätte. Die Prozesse fanden zwischen 1936 und 1937 statt. Die Zeit der Blum-Thesen war 1930. Wenn jemand in der Zwischenzeit der ungarischen Partei so lange vollkommen ferngeblieben war, dann hatte man ihn vergessen. Die persönlichen Dinge waren damals nicht so feststehend wie heutzutage, in der Zeit der großen Protokolle und weiß ich wovon. Es kam hinzu, und jetzt führe ich ein sehr zynisches Motiv an, daß ich eine sehr schlechte Wohnung hatte, und die übte auf die Leute des NKWD eine geringere Anziehungskraft aus. INTERVIEWER: Im Zusammenhang hiermit findet sich in Gelebtes Denken noch ein Hinweis, den ich nicht verstehe: »Glück in Katastrophenzeit, Bucharin-Radek 1930…» LUKÁCS: Als ich 1930 nach Moskau zurückging, wurde ich von Bucharin sehr freundlich aufgenommen. Er hatte für mich freundlicherweise einen Kontakt vorbereitet, den ich ablehnte.

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INTERVIEWER: Dann könnte sich das Glück darauf beziehen … LUKÁCS: Wäre dieser glückliche Umstand nicht gewesen, dann wäre ich natürlich in Stalins Prozeß hineingeraten. INTERVIEWER: Und was hat das zu bedeuten: »Doch Glück 1941?« LUKÁCS: 1941 bin ich dann trotzdem aufgeflogen. INTERVIEWER: Das bezeichnen Sie als Glück? LUKÁCS: Unter Glück verstehe ich, daß ich erst zu diesem Zeitpunkt aufgeflogen bin, weil damals alle diese Hinrichtungen nicht mehr stattfanden. INTERVIEWER: Genosse Lukács, im Verlauf Ihrer Erinnerungen kann man ständig hören: »Ich hatte großes Glück.« Ich kann nichts dafür, aber mir fällt Solschenizyns Held Iwan Denissowitsch ein, der ebenfalls in einem fort sehr großes Glück gehabt hat. LUKÁCS: Ich bin durch eine der größten Verhaftungskampagnen der Welt gegangen. Ich wurde am Ende der Kampagne, als die eigentlichen Momente der Kampagne keine Rolle mehr spielten, für zwei Monate festgenommen. Das kann man nur als Glück begreifen. INTERVIEWER: Hat sich herausgestellt, weshalb man Sie festgenommen hat? LUKÁCS: Als man mich ins Gefängnis brachte, sagte man mir, daß man mich als Moskauer Repräsentanten der ungarischen politischen Polizei festgenommen habe. INTERVIEWER: Aufgrund welcher Anzeige? LUKÁCS: Ich habe keine Ahnung, da keinerlei Akten zur Verfügung gestanden haben. Als ich verhaftet wurde, fand eine Haussuchung statt, und man beschlagnahmte eine Mappe, in der sich Lebensläufe im Zusammenhang mit meinen Stellenbewerbungen bei verschiedenen Parteistellen und anderen Stellen befanden. Sämtliche Fragen standen damit im Zusammenhang. Das Niveau der Fragen können Sie aufgrund dessen beurteilen, was mir der Kerl, der mich verhörte, einmal gesagt hat: »Ich habe diese Sachen gelesen, ich sehe, daß Sie zur Zeit des III. Kongresses ein Ultralinker, also ein Trotzkist waren.« Daraufhin habe ich ihm gesagt: »Also, Sie werden verzeihen, an dieser Behauptung stimmt lediglich, daß ich zur Zeit des III. Kongresses ein Ultralin-

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ker war, aber es stimmt nicht, daß Trotzki damals ein Trotzkist gewesen wäre, weil Trotzki damals Lenin unterstützt hat.« Daraufhin fragte er mich, wer denn dann Trotzkist gewesen sei. Ich sagte ihm, ein Teil der italienischen Kommunisten, ein Teil der polnischen Kommunisten seien Trotzkisten gewesen, von den deutschen Kommunisten Maslow, Ruth Fischer, Thälmann. Als ich Thälmanns Namen ausgesprochen hatte, wurde der Kerl rot, schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte, ich würde lügen. Ich sagte ihm daraufhin, wir sollten nicht über Lüge und Wahrheit sprechen, ich würde ihm etwas empfehlen, in ihrer Bibliothek sei das Protokoll des III. Kongresses vorhanden. Er solle Thälmanns Rede lesen, er solle lesen, was Lenin darauf geantwortet habe, und er solle auch Trotzkis Reden lesen. Wir kamen auf diese Frage nicht mehr zurück. INTERVIEWER: Bücher wurden nicht beschlagnahmt? LUKÁCS: Nein, es wurde nichts beschlagnahmt. INTERVIEWER: Besaßen Sie Bücher, die man hätte beschlagnahmen können? LUKÁCS: Nein. Man sagte mir, die Bibliothek sei beschlagnahmt, aber Gertrud paßte auf, daß sie nichts mitnahmen. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie diejenigen Bücher, die Sie für gefährlich hielten, vernichtet? LUKÁCS: Das mußte man tun, denn wenn sie bei jemandem Trotzki-Bücher gefunden hätten, das wäre sehr gefährlich gewesen. INTERVIEWER: Haben Sie hauptsächlich Trotzki vernichtet? LUKÁCS: Hauptsächlich Trotzki, Bucharin und die dazugehörten, die Bücher von denjenigen, die in das Getriebe der Maschinerie gekommen waren. Ich will anmerken, Andor Gábor hatte mich zu dieser Sache gezwungen. Eines Tages erschien er mit seiner Frau und einem großen Sack und brachte sämtliche Trotzki- und Bucharin-Bücher aus der Bibliothek fort und warf diese Bücher noch am selben Abend in den Fluß. INTERVIEWER: Diese Szene muß jener Szene sehr ähnlich gewesen sein, die Tibor Déry in Kein Urteil beschreibt, als Andor Gábor ihn gewarnt hat, er solle aufpassen und sein Buch umschreiben. Gabór muß ein vorsichtiger Mensch gewesen sein.

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LUKÁCS: Gabór war ein sehr eigenartiger Mensch. Am liebsten hätte er alle Leute vor solchen Situationen bewahrt. Er selbst jedoch war in dieser Hinsicht sehr mutig. Beispielsweise korrespondierte er ständig mit Inhaftierten, schickte ihnen ständig Lebensmittel usw. Und überhaupt, Andor Gabór war ein selten anständiger Mensch. INTERVIEWER: Und welchem Umstand haben Sie Ihre schnelle Befreiung zu verdanken? LUKÁCS: Wie ich nachträglich erfuhr, hatte Dimitroff sich für mich eingesetzt. INTERVIEWER: Hatten Sie zu ihm persönliche Beziehungen? LUKÁCS: Noch in meiner Wiener Zeit, als er sich dort als bulgarischer Emigrant aufhielt. Dimitroff wurde immer wieder von allen möglichen englischen und amerikanischen Journalisten aufgesucht, und da ich gut englisch kann, wenn auch meine Aussprache schlecht ist, habe ich für Dimitroff und seine Leute des öfteren übersetzt. Von hier stammt unsere Bekanntschaft. INTERVIEWER: In Moskau hatten Sie keine Beziehungen zu ihm? LUKÁCS: In Moskau trafen wir uns nicht. Denn er war ein so großer Mann und ich ein so kleiner, daß in Moskau ein normales Treffen nicht möglich war. INTERVIEWER: Wie erfuhr Dimitroff von ihrer Verhaftung, Genosse Lukács? LUKÁCS: Sehr einfach. Gertrud sagte Becher Bescheid. Becher, Revai und Ernst Fischer gingen zusammen zu Dimitroff und erzählten ihm die Sache. Da Dimitroff von mir eine sehr gute Meinung hatte – ich weiß nicht, wie das in Wien zustande gekommen war –, startete er sofort eine Aktion. Glücklicherweise war auch László Rudas zusammen mit mir verhaftet worden, so daß sich auch die ungarische Partei dieser Aktion sofort anschloß. In jener Zeit fungierte Mátyás (Anm. d. Übers.: Mátyás = Mátyás Rákosi) bereits als künftiger Führer und hatte natürlich ein sehr gutes Verhältnis zu Rudas. Als Dimitroff nun Rákosi anbot, eine Aktion für Lukács und Rudas zu machen, konnte dieser schlecht sagen, für Rudas und gegen Lukács. Das hätte sehr gegen Rákosis Physiognomie gesprochen. INTERVIEWER: Rudas’ Festnahme war mir gar nicht bekannt. Demnach hat es ja kaum einen Menschen gegeben, der nicht inhaftiert gewesen wäre.

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LUKÁCS: Es gab nur sehr wenige Menschen, die überhaupt nicht inhaftiert gewesen waren. INTERVIEWER: Révai? LUKÁCS: Révai war nicht inhaftiert. INTERVIEWER: Béla Illés ebenfalls nicht. LUKÁCS: Béla Illés ebenfalls nicht. Aber Béla Illés war eine Zeitlang irgendwo interniert. Die kunfeindliche Welle hatte ihn ein bißchen mit sich gerissen. INTERVIEWER: Also die anderen Mitglieder von Literaturnij Kritik, Lifschitz und auch die Ussewitsch, sind von allen Prozessen verschont geblieben? LUKÁCS: Die Ussewitsch ist bis zum Schluß davongekommen. Sie war ein außerordentlich altes Parteimitglied. Als junges Mädchen war sie in Lenins Sonderzug mit nach Moskau gefahren. Sie besaß eine sehr große Parteivergangenheit. INTERVIEWER: Die haben andere auch besessen. LUKÁCS: Aber außer in der Literatur hat sie in keinerlei Fragen Stellung genommen. Sie war weder Trotzkistin noch Bucharinistin. Folglich geriet sie nicht in die Prozesse. Übrigens stammte sie aus einer außerordentlich alten bolschewistischen Familie. Ihr Vater, Felix Hon (?), hatte in der polnischen Partei eine große Rolle gespielt, und stolz erklärte die Ussewitsch, daß es keinen polnischen Aufstand gegeben habe, an dem die Familie nicht beteiligt gewesen wäre. Die Ussewitsch gehörte schon aufgrund ihrer Abstammung zur führenden Schicht der Partei. INTERVIEWER: Das allein hätte Stalin nicht beeinflußt. LUKÁCS: Das allein nicht, aber in der Philosophie stützte sie sich auf Mitjin und Judin, und Judin war vor Stalin und überall immer solidarisch mit der Ussewitsch. Das hatte natürlich für die Ussewitsch viel zu bedeuten, zumal Stalin im engeren Sinn des Wortes literarische Fragen nicht interessiert haben. INTERVIEWER: Und verdient das Gesamtwerk der Ussewitsch beachtet zu werden? LUKÁCS: Unbedingt. Aber übersetzt ist nichts von ihr.

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INTERVIEWER: War es der Literaturnij Kritik in der Zeit der zunehmenden Stalinschen Repression möglich, von der Stalinschen Hauptlinie abweichende… LUKÁCS: Wir haben die Stalinsche naturalistische Orthodoxie angegriffen. Man darf nicht vergessen, daß in jener Zeit Engels’ Brief zur Balzac-Frage erschienen ist, und in außerordentlich scharfem Gegensatz zum Stalinismus warfen wir die Frage auf – ohne daß das ernsthafte Konsequenzen gehabt hätte –, daß die Ideologie kein Kriterium für die ästhetische Beschaffenheit eines Werks sei und daß auch trotz einer schlechten Ideologie, wie sie der Royalismus Balzacs darstelle, sehr gute Literatur entstehen könnte, was wir dann in der Form übersetzt haben, daß bei einer ganz guten Ideologie auch schlechte Literatur entstehen könne. Auf dieser Linie griff beispielsweise die Ussewitsch – ich gar nicht einmal so sehr, weil ich kein Russisch konnte – die politische Dichtung ihrer Zeit außerordentlich scharf an, ohne daß sie deshalb ins Gefängnis gekommen wäre. INTERVIEWER: Offensichtlich ist Ihnen aufgefallen, daß Stalin von Lenins Richtlinie abwich. Inwiefern wurde Ihre Weltanschauung in der weiteren Entwicklung dadurch beeinflußt? LUKÁCS: Ich kann sagen, daß ich das in vollem Umfang ignoriert habe. Abgesehen von literarischen Fragen hat man sich aus solchen Gründen in die Arbeit nicht eingemischt, das heißt, nur Fadejew war unser Gegenspieler. Ihm hatte man erlaubt, gegen uns polemisch aufzutreten. Es wurde dann auch anläßlich einer Umorganisation die Zustimmung zur Einstellung der Literaturnij Kritik erteilt. Allerdings hat man ihm uns gegenüber keine Befugnisse gegeben, die bis zu einer Festnahme hätten führen können, obwohl das mit Fadejews Linie nicht unvereinbar gewesen wäre. Was jedoch die Philosophie angeht, so habe ich in jener Zeit mit meinem philosophischen Schaffen angefangen und befand mich in völligem Gegensatz zu der von Stalin vertretenen Linie. Damals habe ich mein Hegel-Buch geschrieben, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, zu einer Zeit, als Shdanow bereits sagte, Hegel sei eigentlich der Ideologe der feudalistischen Reaktion gegen die Französische Revolution, und man wird nicht behaupten können, daß mein Hegel-Buch eine Darlegung dieses Gedankens sei. Später stellt Shdanow gemeinsam mit Stalin die gesamte Philosophiegeschichte als den Kampf zwischen Materialismus und Idealismus hin. Die Zerstörung der Vernunft dagegen, die im großen und ganzen während des Weltkriegs entstanden ist, stellt einen ganz anderen Gegensatz in den Mittelpunkt der Betrachtung, nämlich den Kampf zwischen rationaler und irrationaler Philosophie. Es stimmt zwar, daß die Irrationalisten alle Idealisten waren, aber sie hatten auch rationalistisch-idealistische Antagonisten. So ist also jener Gegensatz, den ich in der Zerstörung der Vernunft darstelle, wiederum mit der Shdanowschen Theorie vollkommen unvereinbar.

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INTERVIEWER: Sie haben Die Zerstörung der Vernunft während des Krieges geschrieben? Ich dachte, Anfang der fünfziger Jahre. LUKÁCS: Anfang der fünfziger Jahre habe ich das Buch abgeschlossen, aber der größte Teil des Manuskripts war bereits während des Krieges vorhanden. Wohlgemerkt war jene Auffassung, daß der Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus alleiniger Gegensatz in der Geschichte der Philosophie sei, auch noch in den fünfziger Jahren gültig, denn, Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern, nach dem Erscheinen der Zerstörung der Vernunft wurde ich gerade von links mit der Begründung angegriffen, ich würde diese wichtigste Frage vernachlässigen. INTERVIEWER: Eine der Grundthesen der Zerstörung der Vernunft ist die, daß es keine unschuldigen Philosophien gebe. Nietzsche und auch die früheren irrationalen Tendenzen seien schuld am Faschismus. Genosse Lukács, könnte man auf dieser Basis Ihrer Meinung nach nicht Marx für den Stalinismus verantwortlich machen? LUKÁCS: Wenn ich Ihnen sage, daß zweimal zwei vier ist und Sie jedoch als mein orthodoxer Anhänger sagen, daß zweimal zwei sechs sei, dann bin ich dafür nicht verantwortlich. INTERVIEWER: Mit demselben Recht könnte man sagen, daß Nietzsche, der als Person wahrscheinlich nicht Hitlers Anhänger geworden wäre, ebenfalls nicht dafür verantwortlich sei, was man aus seinen Lehren gemacht habe. LUKÁCS: Es handelt sich wieder darum, ob man eine Theorie tatsächlich befolgt oder nicht. Wenn ich Tolstoi damit erkläre, womit Engels Balzac erklärt hat, daß es zwischen der Ideologie und der Kunst eine Dissonanz gibt, dann ist Engels in einem gewissen Maß für mein Tolstoi-Verständnis verantwortlich. Wenn ich hingegen den Charakter dessen, was Engels gesagt hat, vollkommen verkehre, ist Engels dafür nicht verantwortlich. Die historische Verantwortung reduziert sich auf die tatsächliche Fortsetzung der Gedanken. Ich bestreite zum Beispiel, daß die Engelssche Negation der Negation eine rechtmäßige Fortsetzung der Negation der Hegelschen Negation wäre. Letzteres ist eine rein logische Kategorie. Marx sagt in seinen Pariser Manuskripten: »Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.« Das heißt, ein Seiendes, das keine Gegenständlichkeit besitzt, kann nicht sein. Das Sein ist mit der Gegenständlichkeit identisch. Demgegenüber geht die Hegelsche Logik von einem Sein ohne Gegenständlichkeit aus, und der erste Teil der Hegelschen Logik bemüht sich, unter Einbeziehung von Quantität und Qualität aus der Ungegenständlichkeit ein gegenständliches Sein zu machen. Das ist nur mit logischen Tricks möglich. Und zu den logischen Tricks gehört es, was meiner Meinung nach in der ontologischen Untersuchung des

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Marxismus eine große Rolle spielt, daß wir durch die Überbewertung der Logik und der Erkenntnistheorie anfangen, der Negation eine Seinsform zu geben, obwohl die Negation nur in sehr übertragenem Sinn eine Seinsform ist. Es ist nicht nur von der Negation der Negation die Rede, sondern bei uns kommt beispielsweise auch die von Hegel übernommene omnis determinatio est negatio vor. INTERVIEWER: Das ist von Spinoza übernommen, nicht wahr? LUKÁCS: Ja. Aber bei Spinoza ergibt das einen Sinn. Bei Spinoza bedeutet das, daß die Dinge wirklich sind, wenn sie untrennbare Teile der Substanz sind. Sobald sie zu selbständigen Dingen werden, negiert ihre Selbständigkeit diese substantielle Einheit. Hier hat die Negation also irgendeinen Sinn, obwohl wir sie ohne den Spinozaschen Substanzgedanken auf nichts in der Welt anwenden könnten. Hegel hat hier eine Weiterentwicklung gebracht, als er das Anderssein als Negation definiert hat. Natürlich ist im Anderssein ein gewisses Element der Negation vorhanden. Ich kann sagen, daß das ein Tisch sei und kein Stuhl. Aber was den Tisch zum Tisch macht, das ist nicht dieses Negativum, sondern das sind jene positiven Züge, die in ihm vorhanden sind, durch die ein Anderssein zwischen Tisch und Stuhl geschaffen wird. In meiner plebejischen Art pflegte ich zu sagen, daß ich unter diesen Umständen, daß omnis determinatio est negatio, auch setzen könnte, wonach der Löwe keine Rasiercreme sei. Dieser Satz ist logisch einwandfrei, weil der Löwe tatsächlich keine Rasiercreme ist. Doch derartige Sätze könnte man millionenfach sagen, und kein einziger dieser Sätze hätte einen wirklichen Sinn, weil die Verneinung im Anderssein ein untergeordnetes Moment ist. Sie entsteht bei dem Vergleich, und auch hier ist sie nur ein untergeordnetes Moment, denn das gegenseitige Anderssein des Stuhles und des Tisches beispielsweise kommt aus vollkommen positiven Dingen zustande, und der Umstand, daß der Tisch kein Stuhl ist, ist ein außerordentlich untergeordneter Faktor und spielt eigentlich im praktischen Denken gar keine Rolle. Dagegen fällt der Negation, unabhängig davon, daß ihr wahrer Sinn bereits verblaßt ist, eine große Rolle zu, sobald wir die Wirklichkeit auf rein logischer Grundlage verstehen wollen. Eine tatsächliche Negation ist beispielsweise, wenn ich sage: »Zweimal zwei ist nicht fünf.« Wenn ich sage, »Drachen existieren nicht«, so ist es auch eine berechtigte Negation. Die überwiegende Mehrheit der Negationen jedoch sind in Wahrheit keine wirklichen Negationen. Wenn ich sage, der Löwe sei keine Rasiercreme, so ist das absolut keine wirkliche Negation, sondern nur eine rein logische Konsequenz einer nebensächlichen logischen Behauptung. INTERVIEWER: Ich verstehe. Ich glaube sogar, daß wir auch im Fall der Drachen etwas verneinen, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht.

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LUKÁCS: Die Verneinung besteht gerade darin, daß der Seinsbegriff nicht auf die siebenköpfigen Drachen angewendet werden kann. INTERVIEWER: Das ist also eine positive Setzung. LUKÁCS: Wenn man diese Bestimmung auf das Krokodil anwenden kann und auf den siebenköpfigen Drachen nicht, dann hat dieses »nicht« tatsächlich etwas zu bedeuten. Aber eines wird für gewöhnlich vergessen, wenn die Negation überzogen wird, daß jede Negation im praktischen Leben eine Setzung bedingt. Wenn ich sage, ich sei Republikaner, dann behaupte ich damit, daß ich keine Monarchie haben will. Das ist nicht dasselbe wie: daß es keinen siebenköpfigen Drachen gibt, denn die Monarchie existiert. Die Beseitigung und Zerstörung gehören ebenso zur Arbeit, wie Arbeit selbst. Das ist die Eigenart menschlichen Handelns. Wenn ich eine Steinaxt anfertige, ist es unumgänglich, daß ich von der künftigen Axt Steinstücke abtrage. Dieses Abtragen ist natürlich eine negative Tätigkeit, denn die abgetragenen Steinstücke werfe ich einfach weg und kümmere mich nicht weiter um sie. Mit einem Wort, in meinem Handeln gibt es ein negatives Element. Doch dieses Element ist nicht identisch mit der logischen Verneinung. Die logische Negation kann im extremsten Fall sagen, daß etwas nicht sein soll, oder etwas nicht ist. Wenn ich aber von dem ursprünglichen Steinstück Teile abtrage, um eine Steinaxt anzufertigen, so ist darin weder ein »nicht sein« noch ein »nicht sein sollen« enthalten… INTERVIEWER: Das »sollen« ist dominant. LUKÁCS: Das »sollen« ist dominant. INTERVIEWER: Das »nicht sein sollen« könnte man höchstens so ausdrücken, daß »dieser Stein nicht rund sein soll, sondern scharf sein soll«. LUKÁCS: Das Wesen der Sache ist jedoch, daß er »scharf sein soll«, denn daneben, daß er »nicht rund sein soll«, könnte ich auch noch sagen, daß er »nicht elliptisch sein soll«, daß er »nicht parabolisch sein soll«, und ich könnte noch Millionen solcher Dinge sagen, durch die man keine einzige Steinaxt bestimmen könnte. INTERVIEWER: Lassen Sie mich nun auf Die Zerstörung der Vernunft zurückkommen und fragen, ob Sie, Genosse Lukács, nicht den Mangel des Werks spüren, daß darin nicht jene Art Irrationalismus kritisiert wird, der sich im Stalinismus herausgebildet hat. Ich denke beispielsweise an den Führerkult, der zweifellos ein irrationales Moment ist, oder…

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LUKÁCS: Im Stalinismus herrscht philosophisch ein Hyperrationalismus. Was Sie Irrationalismus nennen, das ist eine Form des Hyperrationalismus. Von Schelling an gewinnen dem Rationalismus sich widersetzende Tendenzen in der deutschen Philosophie – Kierkegaard eingeschlossen – an Bedeutung. Diesen Tendenzen wird Wirklichkeitswert zugesprochen. Mit Stalin erhält der Rationalismus eine Form, in der er in eine gewisse Absurdität übergeht. Dennoch ist diese Absurdität ein weiterer Begriff und auch etwas anderes als der Irrationalismus. INTERVIEWER: Gehört das nicht auch in irgendeiner Form zur Zerstörung der Vernunft? LUKÁCS: Ich habe nie gezweifelt und habe auch immer behauptet, daß der Stalinismus eine Art von Zerstörung der Vernunft ist. Ich würde es nur nicht für richtig halten, Stalin dort zu kritisieren, wo man, sagen wir, eventuell irgendeine Parallele zu Nietzsche entdecken könnte, weil wir dadurch niemals zum wahren Wesen des Stalinismus vordringen werden. Das eigentliche Wesen des Stalinismus besteht meiner Meinung nach darin, daß die Arbeiterbewegung den praktischen Charakter des Marxismus theoretisch aufrechterhält, daß aber in der Praxis das Handeln nicht durch die tiefere Einsicht der Dinge geregelt wird, sondern daß die tiefere Einsicht zur Taktik des Handelns hinzukonstruiert wird. Bei Marx und Lenin war die grundlegende Linie der gesellschaftlichen Entwicklung, die in einer bestimmten Richtung verläuft, vorgegeben. Innerhalb dieser grundlegenden Linie ergeben sich in jeder Zeit gewisse strategische Probleme. Innerhalb dieser grundlegenden Linie tauchen die jeweiligen taktischen Probleme auf. Stalin kehrte diese Reihenfolge um. Er hielt das taktische Problem für primär und leitete die theoretischen Verallgemeinerungen daraus ab. Beispielsweise wendete Stalin bei dem Abschluß des Stalin-Hitler-Pakts Hitler gegenüber eine richtige Taktik an, doch zog er daraus den völlig falschen theoretischen Schluß, daß der Zweite Weltkrieg dem Ersten ähnlich sei, das heißt, daß Liebknechts »Der Feind befindet sich im eigenen Land« auch für die hitlerfeindliche Verteidigung der Franzosen und Engländer gültig sei, was offensichtlich nicht gestimmt hat. Auch jetzt besteht die Schwierigkeit der russischen Politik darin, daß sie sich nie die Frage stellt, was vom Gesichtspunkt der welthistorischen Entwicklung ausschlaggebend sei, sondern von gewissen taktischen Fragen ausgeht. Denken wir nur an den Konflikt zwischen Israel und Ägypten. Aus einer reinen Großmachttaktik leitet sie dann ab, daß die Ägypter Sozialisten und die Israelis hingegen keine Sozialisten seien. Dabei ist natürlich keiner von beiden sozialistisch. INTERVIEWER: Genosse Lukács, Ihre Auffassung zur Umkehrung von Theorie und Taktik ist unbedingt zutreffend, aber ich glaube, der Superrationalismus, von dem Sie jetzt sprachen, ist in vielen Punkten in einen gewöhnlichen Irrationalismus umge-

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schlagen. Zum Beispiel darin, um nichts anderes zu sagen, daß sich die welthistorische Weisheit personifiziert. Nicht nur in Stalins Person, sondern auch in der jeweiligen Taktik der Partei… LUKÁCS: Zweifellos gibt es in der überzogenen Ratio eine gewisse Möglichkeit des Umschlagens in Richtung Irratio, weil sich die Ratio immer auf konkrete Dinge bezieht. Wenn ich die abstrakten Züge dieses Konkreten überziehe, gelange ich an einen Punkt, wo die Rationalität des früheren rationalen Zusammenhangs aufhört. INTERVIEWER: Im Verlauf eines früheren Gesprächs, Genosse Lukács, haben Sie das im Zusammenhang mit der Kategorie der Notwendigkeit gesagt. Die Überziehung der Notwendigkeit führt letzten Endes zur Theologie. LUKÁCS: Ich bin der Meinung, und ich glaube, das deckt sich auch mit der Auffassung der modernen Naturwissenschaft, daß die im klassischen Sinn verstandene Notwendigkeit nur in der Mathematik existiert. In der Wirklichkeit muß untersucht werden, wie groß die Wahrscheinlichkeit des Ablaufs von darin stattfindenden irreversiblen Prozessen ist. Wenn beispielsweise die Funktionswahrscheinlichkeit einer Maschine 99,8 Prozent beträgt, so arbeite ich damit, als wäre das notwendig. Ich vernachlässige die 0,2 Prozent, obwohl theoretisch nicht von einer Notwendigkeit die Rede ist, sondern lediglich von einer 99,8-prozentigen Wahrscheinlichkeit. Jedermann kann im täglichen Leben beobachten, daß wir maximale Wahrscheinlichkeiten als Notwendigkeiten auffassen. Ich glaube, in ihrem klassischen Sinn kommt die Notwendigkeit in der Wirklichkeit gar nicht vor. INTERVIEWER: Wurde der Stalinismus philosophisch nicht durch die Übertreibung der Notwendigkeit charakterisiert? Zum Beispiel wird behauptet, daß der Sieg der Revolution, genauer die Zerschlagung des Zarismus und die Enteignungen, nach der und der Zeit notwendigerweise zum Sozialismus führen würde. Das ist letzten Endes eine Übertreibung der Notwendigkeit, die schon an den Irrationalismus grenzt. LUKÁCS: In der Zerstörung der Vemunft habe ich mich mit einer spezifischen Form des Irrationalismus befaßt. Auch in der Stalinschen Auffassung ist die überzogene Notwendigkeit vorhanden, die sinnlos wird. Diese Sinnlosigkeit grenzt in einem gewissen Maß an den Irrationalismus. Aber ich glaube nicht, daß das zum Verständnis der Sache wichtig wäre. Das ist ein Nebenmotiv. INTERVIEWER: Und worin würden Sie das wesentliche Motiv sehen, wenn Sie nach den philosophischen Wurzeln des Stalinismus forschen würden?

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LUKÁCS: Ich glaube, vor allen Dingen ist es sehr wichtig – und ohne diese Verzerrung wäre der Stalinismus nicht möglich –, daß Engels und in seinem Gefolge manche Sozialdemokraten sich hinsichtlich des Einflusses der Gesellschaft gegenüber jenem wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhang, von dem Marx spricht, auf einen Standpunkt der logischen Notwendigkeit gestellt haben. Marx sagt eigentlich immer, daß x Menschen der betreffenden Gesellschaft auf x Arten auf irgendein gegebenes Arbeitssystem reagieren und daß sich aus diesen x Reaktionen der in der Gesellschaft stattfindende Prozeß synthetisiert. Das kann ipso facto nicht mehr in dem Sinn notwendig sein, wie zweimal zwei vier ist. INTERVIEWER: Welche Arbeiten haben Sie außerdem während Ihres Aufenthalts in der Sowjetunion geschrieben? LUKÁCS: Die Arbeiten zur Geschichte des Realismus. Dann gab ich ein Buch heraus, in dem es um theoretische Fragen geht, dann eine Essaysammlung über Goethe, Balzac, Tolstoi und so weiter. Mehr Bücher habe ich nicht herausgegeben. Ich schrieb sehr viele Artikel, aber beispielsweise die Herausgabe von Der historische Roman war in Rußland unmöglich, obwohl ich ihn bei einem Verlag eingereicht hatte. INTERVIEWER: Das Hegel-Buch ist auch nicht erschienen. LUKÁCS: Ich war zwar in den großen Wellen nicht verhaftet worden, aber in den Augen der Verlage war ich eine verdächtige Erscheinung, verdächtig nicht in dem Sinn, als wäre ich ein Feind, sondern als jemand, der den von Fadejew vorgeschriebenen Marxismus nicht befolgte. INTERVIEWER: Da Sie gerade wieder die Verhaftungswellen ansprachen, Genosse Lukács, wie konnten Sie diese Prozesse ideologisch aufarbeiten? LUKÁCS: Die Prozesse hielt ich für Abscheulichkeiten, und ich tröstete mich damit, daß ich mir sagte, wir stehen heute auf Robespierres Seite, obwohl der Prozeß gegen Danton, wenn wir ihn vom rechtlichen Aspekt untersuchen, nicht viel besser war als der Prozeß gegen Bucharin. Mein anderer Trost war der, und das war ein entscheidendes Moment, daß in dieser Zeit die wichtigste Frage die Vernichtung Hitlers war. Hitlers Vernichtung war vom Westen nicht zu erwarten, sondern nur von den Sowjets. Und Stalin war die einzige existierende Anti-Hitler-Macht. INTERVIEWER: Teilen Sie Ihre damalige Auffassung auch heute noch? Und wenn ja, in welchem Umfang? Meine Frage bezieht sich nicht im allgemeinen auf Stalin, sondern auf die Prozesse.

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LUKÁCS: Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich im Zusammenhang mit den Prozessen nichts machen können. Ein einziges Mal schien sich eine Möglichkeit zu bieten, nach Amerika zu gehen, aber das wollte ich nicht. INTERVIEWER: Meine Frage bezog sich nicht auf Ihr persönliches Auftreten, sondern darauf, ob Ihre damalige Erklärung der Prozesse mit Ihrer gegenwärtigen Auffassung übereinstimmt? LUKÁCS: Insofern sehe ich die Situation heute anders, als Stalin diese Prozesse absolut nicht nötig gehabt hat. Mit dem Bucharin-Prozeß hatte er die Opposition vollkommen erledigt, und politisch ergab sich aus der großen Verhaftungswelle keinerlei Nutzen. Nach dem Bucharin-Prozeß war es vollkommen ausgeschlossen, daß jemand gewagt hätte, gegen Stalin aufzutreten. Stalin jedoch setzte seine taktische Linie fort, die Einschüchterung der Menschen. In dieser Hinsicht halte ich die Prozesse für überflüssig. INTERVIEWER: Meiner Meinung nach ist die Sowjetunion durch die Prozesse nicht gestärkt, sondern vielmehr geschwächt worden. Ich denke vor allem an die Militärprozesse. LUKÁCS: Mit den Militärprozessen hat dieser Vorgang begonnen, und ich glaube, Stalin vertrat jene dilettantische Auffassung, daß der eine Soldat ruhig durch den anderen Soldaten ersetzt werden könnte. Diese Anschauung gab er zu Kriegsbeginn auf, denn er ließ die Generale aus den Gefängnissen holen. INTERVIEWER: Die zu Kriegsbeginn im Westen erlittene Niederlage, zu der es eine umfangreiche Literatur gibt, wird darauf zurückgeführt, daß zuvor der gesamte erfahrene sowjetische Generalstab verhaftet worden war. LUKÁCS: Das hängt mit Stalins Mentalität zusammen. Da Stalin das Abkommen mit den Deutschen taktisch für notwendig hielt, baute er mehr auf die Festigkeit dieses Abkommens, als es verdient hätte. INTERVIEWER: Waren die Emigranten in diesem Punkt mit Stalin einverstanden? LUKÁCS: Ich nicht. INTERVIEWER: Haben Sie dieses Abkommen immer skeptisch betrachtet? LUKÁCS: Ich habe es immer skeptisch betrachtet.

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INTERVIEWER: Genosse Lukács, Sie haben einmal im Zusammenhang mit den Prozessen gesagt, die Prozesse seien für Sie deshalb annehmbar geworden, weil während der deutschen Gefahr alle Kräfte hätten vereint werden müssen, und letztlich hätte jeder, der gegen die zentrale Führung aufgetreten wäre, die Sowjetunion geschwächt. Wenn ich mich richtig daran erinnere, so haben Sie gesagt, daß Sie die Prozesse selbst, obwohl Sie an das Tatsachenmaterial der Prozesse nicht geglaubt hätten, ideologisch, genauer gesagt taktisch nicht mißbilligt hätten. LUKÁCS: Man kann nicht sagen, daß wir die Prozesse taktisch nicht mißbilligt hätten. Taktisch waren wir neutral. Ich wiederhole, wenn Stalin gegen Trotzki dieselben Waffen verwendet wie Robespierre gegen Danton, dann kann man das unter heutigen Umständen nicht berücksichtigen, da nämlich unter damaligen Umständen die entscheidende Frage war, auf welcher Seite Amerika in den Krieg eingreifen würde. INTERVIEWER: Halten Sie die Parallele zwischen Robespierre-Danton und StalinBucharin auch aus heutiger Sicht für richtig? LUKÁCS: Ich halte sie nicht für richtig, aber ich halte sie aus der Perspektive eines damals in Rußland lebenden ungarischen Emigranten für verständlich. INTERVIEWER: Wenn Sie diese Parallele heute ideologisch kritisieren müßten, wovon würden Sie dabei ausgehen? LUKÁCS: Ich würde davon ausgehen, daß Danton natürlich niemals ein Verräter war und niemals die Republik aufgegeben hat, wie es Robespierre von ihm behauptete. In bezug auf die Angeklagten in den Prozessen bestand dieser Sachverhalt nicht so einwandfrei. INTERVIEWER: Weil sie sich in den Prozessen selbst als Verräter bezeichnen mußten. Selbst Bucharin mußte das von sich behaupten. Das ist ein schrecklich großer Unterschied, jedoch nur in moralischem Sinn. LUKÁCS: Das ist nur ein moralischer Unterschied, aber von Bucharin spreche ich nicht, weil ich ihn für einen außerordentlich anständigen Menschen halte. Ich halte ihn für einen schlechten Marxisten, was kein Grund zur Hinrichtung ist. Aber Sinowjew und die anderen haben außerordentlich viel dafür getan, um der Stalinschen Richtung zur Macht zu verhelfen. Sie sind die Opfer ihres eigenen Handelns. INTERVIEWER: Und welche Rolle haben hierbei Trotzki und die hingerichteten Trotzkisten gespielt?

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LUKÁCS: Die Trotzkisten kannte ich kaum. Trotzki selbst kannte ich vom III. Kongreß her, und er war mir überhaupt nicht sympathisch. Unlängst las ich in Gorkis letztem Briefband, daß Lenin einmal gesagt hätte, Trotzki habe sich im Bürgerkrieg große Verdienste erworben, er gehöre zu ihnen, sei aber nicht ihr Mann, es sei in ihm ein schlechter Zug von Lassalle. Diesen Vergleich teile ich absolut. INTERVIEWER: Aber ich glaube, gegenüber der Gesellschaft um Kamenew und Sinowjew kann man Trotzki und seinen Mitarbeitern, zum Beispiel Joffe, der Selbstmord beging, nicht absprechen, daß sie Revolutionäre gewesen sind. LUKÁCS: Kamenew und Sinowjew verwandelten sich nach der Revolution in Bürokraten. Bei Trotzkis unmittelbaren Anhängern hatte sich dieser Prozeß noch nicht abgespielt. Ich machte allerdings keinen großen Unterschied zwischen ihnen, weil ich Trotzki und die Trotzkisten wegen dieses Lassalle-Motivs absolut nicht mochte. INTERVIEWER: Und Trotzkis Schriften? LUKÁCS: Trotzki war ein außerordentlich geistreicher und intelligenter Schriftsteller. Als Politiker, als politischer Theoretiker halte ich absolut nichts von ihm. INTERVIEWER: Und als Historiker? Was halten Sie von seinen historischen Arbeiten über die Revolution von 1905 und 1917? LUKÁCS: Die kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall konnte man den Trotzkismus, und hierunter sind jetzt auch Sinowjew, Kamenew und Bucharin zu verstehen, in jener Zeit nicht anders auffassen als eine Möglichkeit, um in den Kämpfen gegen Hitler die öffentliche Meinung Amerikas und Englands gegen die Sowjetunion aufzubringen. Es ist bezeichnend, daß sich Bloch in Amerika sozusagen mit denselben Worten weigerte, sich mit Trotzki und seinen Leuten zu solidarisieren. INTERVIEWER: Genosse Lukács, nach Ihrer Beurteilung hätte also Trotzkis Auftreten in den Augen der öffentlichen Meinung Amerikas der Sowjetunion mehr geschadet als die Prozesse? Ich habe das Gefühl, daß die Prozesse größeren Schaden angerichtet haben. LUKÁCS: Das kann man so nicht auf die Waage tun. Daß die Prozesse Schaden angerichtet haben, ist überhaupt keine Frage. Es steht auch außer Zweifel, daß ihre bloße Existenz Schaden angerichtet hat. Ich meine, wir haben es hier mit einem großen Komplex zu tun. Es ging damals um die Frage der gesamten Stalinschen Führung, es ging darum, ob die Stalinsche Führung nicht eine schlimmere Diktatur gebracht hat,

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als von Trotzki und seinen Anhängern zu erwarten gewesen wäre. Diese Frage beantworteten wir natürlich mit nein. INTERVIEWER: Aber schließlich ging es hier nicht um die Frage, ob eine Stalinsche oder eine Trotzkische Diktatur anzustreben ist, denn es könnte ja sein, daß Trotzki zwar bis zur Mitte der zwanziger Jahre in der Praxis ein schlechter Politiker und ein schlechter Ideologe war, aber später hätte es sein können, daß er, sei es nun aus Zwang oder aus einer gewissen Taktik, auch aufgrund seiner eigenen Fehler alles mögliche eingesehen hätte und… LUKÁCS: Ich bezweifle nicht, daß Trotzki ein außerordentlich anständiger Mensch war, ein begabter Politiker, ein hervorragender Redner und so weiter. Ich sage nur, daß er mit all dem zusammen für Stalin kein Rivale werden konnte, den man im Westen und im Osten gleichermaßen als Rivalen anerkannt hätte. Und vergessen Sie nicht, Trotzki war mit jener Stalinschen Linie, die allein in der Lage war, gegen Hitler de facto Widerstand zu leisten, nicht in Einklang zu bringen. Denn der Beginn des eigentlichen Widerstands war der Stalinsche Pakt. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie am Anfang des Krieges, in der Periode des deutschen Vormarsches, einen deutschen Sieg für möglich gehalten? LUKÁCS: Nein. Nein. Ich vertraute die ganze Zeit über darauf, daß Rußland, das schon einmal einen größeren Mann als Hitler, Napoleon, vernichtet hatte, auch Hitler vernichten würde. INTERVIEWER: Das war also in erster Linie ein in Rußland gesetztes Vertrauen? LUKÁCS: Ein in Rußland gesetztes Vertrauen. INTERVIEWER: Und daß sich die Verbündeten schließlich auf diese Seite gestellt haben… LUKÁCS: Auf welche Seite sich die Verbündeten stellen würden, das war tatsächlich eine wichtige Frage, denn hätten England und Amerika Hitler beigestanden, dann weiß ich nicht, wie der Krieg ausgegangen wäre. So aber, zusammen mit den englischfranzösisch-amerikanischen Angriffen, schlug die Waage zugunsten von Hitlers Gegnern um.

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INTERVIEWER: Herrschte bei den Angehörigen der Emigration im allgemeinen genommen der Glaube an den Sieg vor, oder gab es in diesen Kreisen eine Art von Defätismus? LUKÁCS: Es gab einen Defätismus, einen starken Defätismus. INTERVIEWER: In ungarischen Kreisen oder im allgemeinen? LUKÁCS: In ungarischen Kreisen. Aber er war auch für Becher bezeichnend, der ein sehr feiger und impressionabler Mensch war. INTERVIEWER: Wann ist Ihre trotzkismusfeindliche Haltung entstanden? LUKÁCS: Ich arbeitete am Institut für Philosophie, und meine Haltung wurde endgültig dadurch bestimmt, daß die russische Philosophie Hitler gegenüber eine eindeutige und einheitliche Front bildete. Lediglich die Trotzkisten waren dagegen. Folglich war ich gegen die Trotzkisten. INTERVIEWER: Wogegen waren die Trotzkisten genau? LUKÁCS: Die Trotzkisten opponierten gegen die Anti-Hitler-Einheitsfront. INTERVIEWER: Interessant. Opponierte Trotzki selbst auch dagegen? LUKÁCS: Das weiß ich nicht. INTERVIEWER: Denn soweit ich mich erinnern kann, ist Stalin vor dem Stalin-HitlerPakt von Trotzki schrecklich scharf angegriffen worden, freilich vielleicht aus taktischen Gründen, Trotzki prophezeite, Stalin würde sich sogar mit Hitler verbünden. LUKÁCS: Das Abkommen mit Hitler war Voraussetzung dafür, daß Hitler England und Frankreich angreifen und damit einen europäischen Krieg heraufbeschwören würde und daß dann in diesem europäischen Krieg diese Staaten und sogar auch Amerika mehr oder weniger vertrauenswürdige Verbündete der Sowjetunion sein würden. INTERVIEWER: Wurde in der Sowjetunion im ersten Abschnitt des Krieges durch die Affäre mit Polen, den Baltischen Staaten und Finnland keine Antipathie ausgelöst? LUKÁCS: Durch alle diese Geschichten wurden Antipathien ausgelöst. Es gab keine zwei Menschen, zumindest nicht unter denen, die ich in der Emigration kannte, die

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morgens mit der Erklärung aufgestanden wären, für Stalin zu sein, und sich abends hingelegt hätten mit der Erklärung, weiterhin für Stalin zu bleiben. Es ist eine andere Frage, daß einem nach gewissen Überlegungen klar geworden ist, daß die Stalinsche Politik ein europäisches Bündnis gegen Hitler zustande bringen würde. Das war eine intellektuelle Erkenntnis und keine spontane Empfindung der Emigration. INTERVIEWER: Ich habe jetzt eine Äußerung von Malraux gelesen, worin Malraux erzählt, daß ihm Bucharin Anfang der dreißiger Jahre während eines Spaziergangs ohne stalinfeindliche Vorwürfe und Anschuldigungen erzählt habe, daß aus Stalins Politik der vollkommene Ausbau der persönlichen und diktatorischen Macht resultiere. Ihn zum Beispiel, meinte Bucharin, würde Stalin hinrichten lassen. Nach Malraux’ Darstellung klang das wie eine einfache Feststellung des Tatbestandes. Konnte man in jener Zeit tatsächlich spüren oder wissen, welchen Verlauf die Ereignisse nehmen würden? LUKÁCS: Es ist sehr leicht vorstellbar, daß Bucharin, dieser alte Kommunist, der in den Fraktionskämpfen mehrjährige Erfahrung besaß und der Stalin noch aus jener Zeit, als dieser noch ein ganz kleiner Mann war, gut kannte, also daß ein solcher Mann wie Bucharin das vorhergesehen hat. INTERVIEWER: Genosse Lukács, erinnern Sie sich an Ervin Sinkós Buch, an den Roman eines Romans? LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: Sinkó war als Mann der Bewegung nicht allzu klug, aber aus seinem Roman, den er freilich nachträglich geschrieben hat, gestützt auf seine Tagebuchaufzeichnungen, geht hervor, daß 1934-1935, zu der Zeit, als der Romanbericht einsetzt, in Moskau in literarischen Kreisen und in Kreisen der Bewegung die allgemeine Stimmung eindeutig signalisierte, daß diese furchtbare Entwicklungstendenz unaufhaltsam voranschreiten würde. Ich weiß nicht, inwieweit das Sinkós subjektive… LUKÁCS: Eine gewisse Rolle hat hier auch Sinkós subjektive Situation gespielt. Allerdings gab es in Moskau natürlich keinen Menschen mit intaktem Verstand und gesunden fünf Sinnen, der das nicht zur Kenntnis genommen hätte. INTERVIEWER: Haben Sie Sinkó in Moskau getroffen? LUKÁCS: Nein. Als Sinkó nach Moskau kam, brachte er eine Empfehlung von Romain Rolland an Béla Kun und an die Komintern mit. Da ich zu Béla Kun und zu

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Komintern ein sehr gespanntes und schlechtes Verhältnis hatte, wollte ich mich mit Sinkó nicht treffen. Er hatte mich angerufen und gefragt, wann wir uns treffen könnten, und ich antwortete ihm darauf, daß wir uns nicht treffen könnten. Ich hatte Angst, daß er mit Kun unter einer Decke steckte und sie zu zweit gegen mich etwas aushecken würden. INTERVIEWER: So ein Verdacht war im allgemeinen vollkommen gerechtfertigt, aber in Sinkós Fall… LUKÁCS: In Sinkós Fall war dieser Verdacht zufällig nicht gerechtfertigt, aber eigentlich bedaure ich nicht, diesen Verdacht artikuliert zu haben, weil er ein reales Problem war. Ich polemisierte nicht gegen die Kritik der Blum-Thesen, sondern ich verteidigte mich, indem ich mich von sämtlichen ungarischen Angelegenheiten zurückzog. Auf die Weise verschwand dann für Sas (Anm. d. Übers.: Sas = Sándor Szerényi) und seine Leute und später auch für Kun der reale Grund, die Blum-Thesen anzufeinden. So sprach dann, als Kun nach dem VII. Kongreß gestürzt worden und ich zu den Ungarn zurückgelangt war, niemand mehr von den Thesen, sie waren bei allen in Vergessenheit geraten. INTERVIEWER: Haben Sie in jener Zeit auch zu Ihren ungarischen Freunden keinen Kontakt gehabt? LUKÁCS: Zu meinen alten Freunden schon, aber von denen waren sehr wenige in Moskau. Jenö Hamburger lebte dort. Zu ihm hatte ich Kontakt. Er zahlte jeden Monat meinen Beitrag im ungarischen Klub ein. Aber meine Kontakte zu Hamburger waren vollkommen privat, und er hatte mit den ungarischen Angelegenheiten absolut nichts zu tun, vor allem auch deshalb nicht, weil das nämlich jene Periode war, in der es Kun nach dem Sturz von Sas und seinen Leuten gelungen war, die besten Leute der Landler-Fraktion, unter ihnen beispielsweise Révai, für seine eigene Linie zu gewinnen. Da Gertrud in Wien war, als Révai nach Budapest abkommandiert worden war, trafen sie sich am letzten Abend, und Révai sagte zu Gertrud – ich zitiere das beinahe wortwörtlich –, seine ganze Tour sei sehr schlecht vorbereitet, und er sei sich beinahe sicher, daß er bald auffliegen werde. Er habe jedoch die Meinung, daß es besser sei, in Budapest im Gefängnis zu sitzen, als unter Sas und Genossen eine ungarische Bewegung zu machen. INTERVIEWER: Wo haben Sie sich während des Krieges aufgehalten? LUKÁCS: Ein Jahr lang in Taschkent und dann in Moskau.

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INTERVIEWER: Was haben Sie in Taschkent gemacht? Gearbeitet? LUKÁCS: Die Moskauer Schriftsteller waren nach Taschkent abkommandiert, und so lebten wir hier, so gut wir konnten. Wir beteiligten uns an allen möglichen Sachen und beteiligten uns auch nicht daran. Ich hatte es eigentlich noch ziemlich gut, denn Alexei Tolstoi besuchte als Delegierter des Schriftstellerverbands Taschkent, und er kannte mich als im Ausland namhaften Schriftsteller. Folglich rechnete er mich mit zur Elite. Übrigens habe ich ihn wohl nur einmal für ein paar Minuten getroffen, aber das hatte keinerlei Bedeutung. INTERVIEWER: Gab es in Taschkent außer Ihnen noch mehr Ungarn? LUKÁCS: Ja natürlich, sogar unheimlich viele. INTERVIEWER: Überall auf der Welt gibt es unheimlich viele Ungarn. – Jetzt noch eine persönliche Frage: Soviel ich weiß, war Ferenc Jánossy ebenfalls verhaftet? LUKÁCS: Ja, aber unabhängig von mir. INTERVIEWER: Hat er damals schon in der Sowjetunion gearbeitet? LUKÁCS: Er hatte bereits seit zehn Jahren in einem Betrieb gearbeitet. Und er hat einen Fehler begangen, den er heute schon zugibt. Als nämlich der Krieg ausbrach und der größte Teil des Betriebs nach Westsibirien evakuiert wurde und nur ein kleiner Teil der Menschen in Moskau blieb, entschied er sich für das Dortbleiben. Wäre er nach Sibirien gegangen, hätten sie ihn nie festgenommen. INTERVIEWER: Bis wann war er in Haft? LUKÁCS: Bei ihm hat das Jahre gedauert. 1945 ist er freigekommen. Als die Partei meinen sechzigsten Geburtstag feierte, kam Jenö Varga zu uns und bot mir an, in Ferkós (Anm. d. Übers.: Ferkó = Ferenc Jánossy) Angelegenheit zu intervenieren. Ich sollte ihm lediglich einen Brief schreiben. In jener Zeit kam die Nachricht, daß ich in Ungarn als Abgeordneter gewählt worden sei. Es wäre ein unmöglicher Zustand gewesen, daß er dort in einem Internierungslager bleiben sollte, während ich in Ungarn Abgeordneter sein würde. So schrieb ich dann diesen Brief.

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IV Wieder in Ungarn

INTERVIEWER: Unter welchen Umständen sind Sie aus der Sowjetunion nach Ungarn zurückgekehrt? LUKÁCS: Für die Umstände der Rückkehr nach Ungarn ist es charakteristisch, daß meine sämtlichen Moskauer Ketzereien vergessen waren. Es ist sehr bezeichnend, daß in irgendeiner Zeitschrift eine Publikation erschienen war, durch die die Blum-Thesen vollkommen annulliert wurden. Das heißt, es wurde mitgeteilt, der II. Kongreß hätte in der Sache der Demokratie und der Diktatur einen unrichtigen Beschluß gefaßt, und dieser unrichtige Beschluß sei von Stalin korrigiert worden. Über die Blum-Thesen wurde kein einziges Wort verloren, so als würden sie gar nicht existieren. Ich führe das im Zusammenhang damit an, daß meine Existenz oder Nicht-Existenz hier in Ungarn immer eine sehr problematische Sache war. 1959 zum Beispiel, anläßlich des Jubiläums der Diktatur, stellte das Petöfi-Museum eine Plakette von 1919 aus, und dort hatte man meinen Namen überklebt. Es ist klar, daß ich 1959 infolge meines Verhaltens in den Jahren 1956/1957 kein Volkskommissar von 1919 gewesen sein konnte. Volkskommissar konnte nur jemand gewesen sein, der sich in der Zeit von 1956 und 1957 richtig und parteigemäß verhalten hatte. Das muß man zur Kenntnis nehmen. So ist also all das, was die offizielle Parteigeschichte über mich schreibt, gelinde gesagt, im Hinblick auf die Wahrheit außerordentlich problematisch. Und ich spreche jetzt nicht von der Einschätzung, denn die Einschätzung ist das Recht jeder Geschichtsschreibung. Daß jedoch jemand 1919 kein Volkskommissar gewesen sein konnte, weil er sich 1957 schlecht betragen hat, das gehört zu den Spezifika der ungarischen Partei. INTERVIEWER: Ich glaube nicht, daß das ein Spezifikum der ungarischen Partei ist, denn Trotzki konnte 1905 ebenfalls kein… LUKÁCS: Selbstverständlich, das war eine Spezialität der Stalinära, und mit Trotzki hatte das eben begonnen. INTERVIEWER: Er war Vorsitzender des Petersburger Arbeiterrats… LUKÁCS: Er durfte das nicht gewesen sein, weil ja ein Gegenspieler Stalins kein Revolutionär gewesen sein konnte. In geringerem Umfang, denn in Ungarn spielt sich alles in geringerem Umfang ab, hat sich das auch in Ungarn abgespielt.

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INTERVIEWER: Zurück zu 1945: Anfangs wünschte man sich im Zusammenhang mit der Vergangenheit ein unbeschriebenes Blatt, ein stilisiertes unbeschriebenes Blatt? LUKÁCS: Ein stilisiertes unbeschriebenes Blatt. Das Besondere an der Zeit zwischen 1945 und 1948 ist, daß man mir alles gestattete. Die beiden Arbeiterparteien kämpften nämlich miteinander um die Erhöhung der Mitgliederzahlen. Und hierbei spielte natürlich die Stellungnahme der Intelligenz eine besonders große Rolle. Deshalb gestattete man mir von 1945 bis 1948, bis 1949 alles. Die Rudas-Debatte brach bereits nach der Vereinigung der beiden Parteien aus, das heißt, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen, folglich wird Lukács nicht mehr gebraucht. INTERVIEWER: Welches waren aus heutiger Sicht die entscheidenden ideologischen Gründe, weshalb der Mohr gegangen worden ist? LUKÁCS: Im wesentlichen ging es um die demokratische Schlichtung der ideologischen Fragen. Ich verfolge seit den Blum-Thesen eine ungebrochene und niemals geleugnete Linie. Das wurde von Rákosi und seinen Leuten in der ersten Zeit akzeptiert. Das heißt, sie akzeptierten das in dem Sinn, daß sie es tolerierten. Glauben Sie nicht, daß meine Ideologie von irgend jemandem als offizielle Ideologie aufgefaßt worden wäre. Aber es wurde auch kein Protest laut. Um nun eine extreme Sache zu sagen, es wurde nicht einmal gegen das Häschen Protest laut. Das nutzte der in der sozialdemokratischen Partei durchgeführten Propaganda der kommunistischen Partei. Sie dürfen nicht vergessen, daß Rákosi und auch Gerö darin reine Utilitaristen waren. Und natürlich änderte sich ihre Meinung, sobald sich die Meinung in Moskau änderte. Ich glaube nicht, daß der Meinungswandel in meiner Angelegenheit unbedingt primär aus Moskau gekommen wäre, sondern er war einfach darauf zurückzuführen, daß der Mohr, wie ich grade gesagt habe, seine Schuldigkeit getan hatte, der Mohr konnte gehen. Ich muß sagen, daß auch meine eigene Stellungnahme unrichtig war, denn infolge der Rajk-Affäre war ich der Meinung, daß mein Leben und meine Freiheit auf dem Spiel ständen und daß es wegen literarischer Fragen nicht erlaubt sei, ein solches Risiko einzugehen. Notabene will ich als Faktum erwähnen, daß ich durch Révai von der Rudas-Debatte erfahren hatte. Er rief mich an und fragte mich, ob ich wüßte, daß Rudas gegen mich eine abscheuliche Schmähschrift verfaßt habe. Und demnach hatte Révai diese Debatte natürlich der Rákosi-Linie angepaßt. Mein Irrtum bestand darin – ich mache mir deshalb keinen Vorwurf, weil es nicht schwer war, sich in der Zeit des Rajk-Prozesses zu irren –, daß ich nicht wußte, daß Gerö und Rákosi aus Moskau eine Anweisung erhalten hatten, der zufolge einzig die Moskauer Emigration vertrauenswürdig sei, während die in Ungarn Gebliebenen und die aus dem Westen zurückgekehrten Emigranten zweifelhafte Vertrauenswürdigkeit besäßen. Ich wußte das nicht, und deshalb geschah es, daß ich in einer Sache Konzessionen machte, in der ich viel-

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leicht keine Konzessionen hätte machen müssen. Wenn von dieser Zeit die Rede ist, erwähne ich jedenfalls selbstkritisch, daß ich in der Rudas-Debatte in der Frage der Konzessionen wahrscheinlich nicht so weit hätte gehen müssen wie ich gegangen bin. Zu meiner Rechtfertigung kann ich sagen, wenn Rajk in Ungarn hingerichtet worden ist, dann konnte man keine ernsthafte Garantie dafür haben, daß einem im Fall des Widerstands nicht eine ähnliche Sache passieren könnte. INTERVIEWER: Ein Angelpunkt der Rudas-Debatte war der, daß Sie, Genosse Lukács, den Anklägern zufolge den Klassencharakter der Volksdemokratie falsch eingeschätzt und die Rolle der Diktatur des Proletariats in der Volksdemokratie herabgewürdigt hätten. LUKÁCS: Nach meiner Auffassung, die auf die Blum-Thesen zurückgeht, ist die Volksdemokratie ein aus der Demokratie herauswachsender Sozialismus. Dem anderen Standpunkt zufolge ist die Volksdemokratie von Anfang an eine Diktatur und von Anfang an jene Form des Stalinismus, zu der sie sich nach der Tito-Affäre entwickelt hat. INTERVIEWER: Ich stelle eine Frage, die vielleicht vollkommen undialektisch und unhistorisch ist. Genosse Lukács, würden Sie es aus heutiger Sicht für vorstellbar halten, daß die ganz und gar aus innerer Kraft resultierende volksdemokratische Entwicklung zum Sozialismus zustande gekommen wäre, wenn die außenpolitischen Faktoren nicht derart gravierend gewesen wären? LUKÁCS: Ich glaube, ja. Aber natürlich nur dann, wenn es in der Sowjetunion keinen Stalinismus gegeben hätte. Bei stalinistischen Methoden wäre eine solche Entwicklung unvorstellbar gewesen, weil man dann nicht einmal in der geringsten Nuance von der offiziellen Linie hätte abweichen können. Wenn ich Rajks Fall nehme, so dürfen wir nicht vergessen, daß Rajk ein orthodoxer Rákosist war. Es ist nicht wahr, daß er ein Oppositioneller gewesen wäre. Ich hatte gerade jetzt eine etwas unangenehme Konfrontation mit Frau Rajk, die es mir sehr verübelt hat, daß ich in meinem einseitigen Artikel für den Rajk-Band geschrieben habe, was für eine sympathische Erscheinung Rajk doch gewesen sei, ein Oppositioneller sei er aber absolut nicht gewesen. Was man mit ihm gemacht hat, das war ein präventiver Mord, und das trifft auch dann noch zu, wenn sich um Frau Rajk eine Welt, ein Weltverständnis herausbildet, dem zufolge Rajk ein Oppositioneller gewesen wäre. Ich habe Marosáns zweiten Band im Manuskript gelesen. Dort ist das ausgezeichnet beschrieben. Interessant, daß er in der Zeit vor 1949 gerade mit Révai und Rajk am meisten sympathisiert hat. Zu ihnen hat er den besten Kontakt. Er schreibt mit größter Aufrichtigkeit darüber, was für ein orthodoxer Rákosist Rajk gewesen ist. Es gibt unheimlich viele solcher Legenden, und

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ich weiß nicht, womit Frau Rajk belegen wird, daß Rajk Oppositioneller gewesen ist. Es ist einfach jeder erledigt worden, von dem sie den Verdacht hatten, daß er sich nicht begeistert Stalins Linie angeschlossen hat. Das ist eigentlich das Wesentliche der Rudas-Debatte. Révai erwähnt ja auch die Blum-Thesen am Ende eines seiner Artikel als den Ursprung meiner Fehler. Und die ganze Debatte beweist, daß die Diktatur, die in den fünfziger Jahren ausbrach, von Anfang an eine Diktatur war und daß es nicht wahr ist, daß ihr eine demokratische Periode vorausgegangen wäre. Auf solche Weise hängt die Rudas-Debatte mit den Blum-Thesen zusammen. Und ich habe daraus ebenfalls die Lehre gezogen – und auch heute, nachdem ich gesehen habe, daß sogar so absolut orthodoxe Leute wie Rajk hingerichtet wurden, kann ich nachträglich nichts anderes sagen, als daß man sich nichts anderes vorstellen konnte –, daß generell jede abweichende Anschauung ein solches Schicksal ereilen würde. INTERVIEWER: Die Selbstkritik enthielt ein reelles Element, daß Sie nämlich, Genosse Lukács, sich tatsächlich geirrt hatten: Eine volksdemokratische Entwicklung aufgrund der Blum-Thesen war tatsächlich nicht vorstellbar. LUKÁCS: Das stimmt, allerdings mit dem Unterschied, daß ich das in der Selbstkritik als ein soll nicht sein hingestellt habe, obwohl ich es in Wirklichkeit nur als ein ist nicht betrachtete. Hierin verbirgt sich das nicht-wahre Wesen meiner Selbstkritik. INTERVIEWER: Worin sehen Sie den Unterschied zwischen den Moskauer Prozessen und dem Rajk-Prozeß? LUKÁCS: Schauen Sie, die Sache steht so: Bei den Prozessen der dreißiger Jahre lassen die Leute außer acht, daß sich die Prozesse bereits im Schatten des beginnenden Zweiten Weltkrieges abspielten. Damit will ich die Prozesse nicht verteidigen, aber verteidigen will ich, noch dazu zu Recht verteidigen will ich die damit zusammenhängende Stellungnahme anständiger Leute. Es gab in dieser Zeit Leute, die gesagt haben, was auch immer in Moskau passieren würde, sie würden Hitler beim Angriff auf Moskau nicht unterstützen. Das hat allerdings für den Rajk-Prozeß keine Gültigkeit, weil es damals eine derartige Bedrohung nicht gab. In einem gewissen Grad gab es einen Kalten Krieg, doch das war keine Rechtfertigung… INTERVIEWER: Teils war das ein Grund für die Entstehung des Kalten Krieges. LUKÁCS: Nein, das glaube ich nicht. Stalin hat dem Westen bei der Entwicklung des Kalten Kriegs sehr geholfen, aber die grundlegende Ursache für den Kalten Krieg war Dulles’ sogenannte roll-back-Politik, daß nämlich die Abkommen von 1945 durch allmählichen Druck und alle möglichen sonstigen Mittel rückgängig gemacht werden

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müßten. Diese Politik existierte damals tatsächlich, und daß sie unserer Dummheit zu Hilfe geeilt ist, das ist eine andere Frage, das bestreite ich nicht. Also hier in Ungarn – und das bezieht sich nicht nur auf uns, sondern auf die Prozesse in sämtlichen Volksdemokratien – entbehrten diese Prozesse jeglicher Grundlage. Ich bezweifle ja gar nicht, daß auch zwei tatsächliche Spione hängenbleiben können, wenn man zehntausend Menschen verhaftet. Aber das ist reiner Zufall. Was soll man dazu sagen – dabei ist das schon 1941 passiert –, als ich in der Ljubjanka einsaß, wurde die Anschuldigung gegen mich vorgebracht, ich sei der Resident der Moskauer Spionage der ungarischen Polizei. Als ich dann entlassen wurde, antwortete ich auf Lifschitz’ Frage: »Es war sehr komisch.« (Anm. d. Übers.: Zitat im Original deutsch.) Freilich war das in einer günstigen Zeit passiert, denn sie ließen sich mir gegenüber keinerlei ernsthaftere Atrozität zuschulden kommen. Dagegen wurden Rajk und dessen Leute auf das bedenklichste gefoltert. INTERVIEWER: Obwohl die Anklage ebenfalls »sehr komisch« war. LUKÁCS: Die Anklagen waren richtig komisch und vollkommen erfunden. Meiner Meinung nach muß man historisch zwischen zwei Prozeßwellen unterscheiden. Die Radek-Bucharin-Sinowjew-Prozesse verwandelten sich später. Um 1937 bis 1938 gingen sie in eine vollkommen ungerechtfertigte Verfolgung über, und wer auf ungarischer Seite umgekommen ist – Sándor Bartha, Gyula Lengyel und so weiter –, hatte sich zumeist um nichts auf der Welt etwas zuschulden kommen lassen. Es kann dagegen nicht bezweifelt werden, daß Béla Kun Sinowjews Adlatus war. Und Béla Kun ist zusammen mit Sinowjews Anhängern aufgeflogen. Das heißt, Sinowjew besaß in der Komintern und auch in Leningrad eine ernst zu nehmende Fraktion. Nun war aber diese Fraktion bis zu diesem Zeitpunkt ideologisch bereits zerschlagen, und Chrustschow hat meiner Meinung nach vollkommen recht, wenn er die Prozesse kritisiert, weil sie überflüssig gewesen seien, obwohl natürlich dieser gewisse Unterschied existiert, denn zwei Jahre zuvor waren die Leute um Sinowjew noch jemand und gar nicht einmal unbedeutend. Denn wenn man Deutschers Buch liest, kann man sehen, daß die Organisation der Trotzkisten eigentlich auch damals bestanden hat und eine potentielle Opposition war. Dagegen ist mir allerdings nichts davon bekannt, daß es unter Rákos irgendeine Opposition gegeben hätte. Eigentlich auch wegen der TitoAffäre nicht. INTERVIEWER: Zurück zur Periode nach Ihrer Heimkehr. Genosse LUKÁCS, was war Ihre Arbeit? Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie Mitglied des Zentralkomitees. LUKÁCS: Nein.

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INTERVIEWER: Auch nicht für kurze Zeit? LUKÁCS: Nein, auch nicht für kurze Zeit. Ich hatte keinerlei offizielle Funktion inne. Freilich erreicht die Fälschung heute einen unerhörten Grad. Zum Beispiel ist mir erzählt worden, daß Szabolcsi mich in einer internen Diskussion im Sötér-Institut – diese Diskussion ist noch nicht publiziert – in das Rákosi-System einbauen wollte, indem er erklärte, ich sei damals Mitglied des Zentralkomitees gewesen. Aufgrund der Parteitagsprotokolle läßt sich genau feststellen, daß ich in der Rákosi-Ära niemals Mitglied des Zentralkomitees gewesen bin. INTERVIEWER: Aber selbst die Mitglieder konnten beispielsweise gegen den RajkProzeß nichts machen… LUKÁCS: Jetzt geht es nicht darum. Es geht darum, ob ich Mitglied war oder nicht. Darüber braucht man nicht zu diskutieren, das ist eine Frage der Tatsachen. Ich weiß sogar, daß Rákosi und Gerö zu jener Zeit, als ich den größten Einfluß auf die Intelligenz ausübte, vorgeschlagen wurde, man sollte mich in das Zentralkomitee wählen. Daraufhin antworteten sie, und besonders Gerö hob nachdrücklich hervor, daß unter den zum Apparat gehörenden Intellektuellen nur ich in Betracht kommen könnte, jedoch könne ich nicht in Betracht kommen. Es lohnt sich nicht einmal, darüber zu sprechen, weil diese Geschichte einfach eine Lüge ist. INTERVIEWER: Den Lehrstuhl an der Universität hatten Sie damals schon? LUKÁCS: Den hatte ich schon. INTERVIEWER: Und die Redaktion des Forum? LUKÁCS: Ich glaube, ein Jahr später hatte ich die ebenfalls. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Zeitpunkt. INTERVIEWER: Bedeutete das für Sie eine aktive redaktionelle Arbeit? LUKÁCS: Es bedeutete eine aktive redaktionelle Arbeit und den Versuch, meine Richtlinie durchzusetzen. Denn Sie dürfen nicht vergessen, daß die Arbeit des Forum nach der Rudas-Debatte eingestellt wurde. INTERVIEWER: Wer waren die Redakteure des Forum?

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LUKÁCS: Vértes und Darvas. Grundlage des gesamten Forum war das Volksfrontproblem, und deshalb ging es hier in allen Fragen darum, ob die Diktatur des Proletariats aus der Volksfront hervorgehen würde. INTERVIEWER: Hatten Sie zu den Redakteuren auch früher schon Beziehungen? LUKÁCS: Vértes kannte ich ganz oberflächlich als einen oppositionell gesinnten Menschen aus dem alten System, und ich hielt ihn für geeignet, um meine Ziele in der Literatur durchzusetzen. Révai hatte anfangs Einwände gegen Vértes. Als ich jedoch auf Vértes bestand, opponierte er nicht. Und das deutet wieder an, worin der Unterschied zwischen 1945 und, sagen wir, 1948 bestand. INTERVIEWER: Zu Darvas hatten Sie früher keinerlei Beziehungen? LUKÁCS: Meine Beziehung zu Darvas war im wesentlichen dadurch bestimmt – und ich war bestrebt, dieses Bestimmtsein während der ganzen Zeit des Forum aufrechtzuerhalten –, daß ich bemüht war, aus dem Forum ein Volksfrontblatt und kein kommunistisches Blatt zu machen, ein Volksfrontblatt, das innerhalb der Volksfront die Wahrheit des Kommunismus verkündet. INTERVIEWER: Sie haben noch nichts zu dem dritten Redakteur gesagt, zu Gyula Ortutay. LUKÁCS: Gyula Ortutay war ebenso wie Darvas ein Vertreter der linken bürgerlichen Bewegungen, und ich konnte mit Ortutay genauso gut zusammenarbeiten wie mit Darvas. Innerhalb des Forum gab es in der Hinsicht Übereinstimmung, daß zwischen dem radikalsten Teil der nichtkommunistischen Bewegungen und der kommunistischen Bewegung eine intime Beziehung geschaffen werden müsse, teils infolge der Radikalisierung der betreffenden Schichten und teils infolge der Demokratisierung der kommunistischen Schichten. Diese Beziehung war bis zur Rudas-Debatte ungestört. INTERVIEWER: Zu welchen Schriftstellern hatten Sie nach Ihrer Heimkehr politische oder persönliche Beziehungen? Zu Déry? Zu Illyés? LUKÁCS: Zu Déry bekam ich ein sehr gutes Verhältnis, weil ich seine sozialistischen Kundgebungen in vollem Umfang billigte und auch literarisch für wichtig hielt. Folglich war ich ein persönlicher Anhänger Dérys, und es tat mir leid, daß Déry nach Révais Kritik in den Hintergrund gedrängt werden mußte. Die Beziehung zu Illyés war komplizierter, weil Illyés niemals in dem Sinn wie Déry zu uns gehört hat. Déry hielt sich in der damaligen Zeit für einen kommunistischen Schriftsteller,

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und Der unvollendete Satz und Die Antwort sind tatsächlich kommunistische Schriften, die der damaligen Zeit entsprechen. Illyés blieb die ganze Zeit über bei seiner alten, halb nationalistischen, halb sozialistischen Weltanschauung. Das heißt, persönlich hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu Illyés, mit seiner Politik jedoch war ich nie einverstanden. INTERVIEWER: Zu Péter Veres…? LUKÁCS: Zu Péter Veres unterhielt ich immer eine höfliche und auf gegenseitiger Achtung basierende Beziehung. Unter den Populisten war Ferenc Erdei derjenige, den ich als einen der unseren betrachtete. INTERVIEWER: Zu ihm hat sich auch eine persönliche Freundschaft entwickelt? LUKÁCS: In der ersten Zeit bestand zwischen uns ein sehr gutes Verhältnis, ja sogar eine persönliche Freundschaft, und die ist dann später auseinandergegangen. INTERVIEWER: Lajos Nagy? LUKÁCS: Lajos Nagy hielt ich für einen bedeutenden kommunistischen Erzähler, und als solchen schätzte ich ihn auch die ganze Zeit über. INTERVIEWER: Sie kannten ihn schon aus den Nyugata (Westen)-Zeiten? LUKÁCS: In den Nyugat-Zeiten kannte ich ihn nicht. Aber als er sich Anfang der dreißiger Jahre mit Illyés in Moskau aufhielt, auf dem Schriftstellerkongreß, bekam ich zu Lajos Nagy ein sehr gutes persönliches Verhältnis. Ich war Lajos Nagy nicht radikal genug. Wir hatten einmal ein Gespräch, in dem er mich fragte, wie lange meiner Meinung nach Hitlers Herrschaft noch dauern werde. Daraufhin sagte ich ihm, noch neun bis zehn Jahre, zehn Jahre würde ich noch der Stabilisierung von Hitlers Herrschaft geben und so weiter, worauf Lajos Nagy furchtbar wütend wurde und mir sagte, was das für eine Sache sei, wenn es sogar den Revolutionären gleichgültig sei, wann die Revolution ausbrechen würde. INTERVIEWER: Wenn ich mich richtig erinnere, so hat er gesagt, er sei kein so guter Kommunist, daß… LUKÁCS: … es ihm gleichgültig wäre, wann die Revolution ausbrechen würde.

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INTERVIEWER: Er ist dann ziemlich desillusioniert aus Moskau zurückgekommen. Nicht wahr? LUKÁCS: Er war von unserem Regime sehr enttäuscht. INTERVIEWER: Hat er sich dazu in freundschaftlichen Gesprächen auch schon in Moskau geäußert? LUKÁCS: Ja, das hat er. INTERVIEWER: Und Illyés? LUKÁCS: Illyés war ein viel größerer Opportunist als Lajos Nagy. Illyés nahm eigentlich damals einen ziemlich orthodoxen Standpunkt ein. INTERVIEWER: Da wir gerade bei Illyés sind, Genosse Lukács, erinnern Sie sich daran, daß Illyés sich in seiner letzten Entgegnung in der Népszabadság (Volksfreiheit) darauf beruft, daß Ihre Behauptung, Genosse Lukács, derzufolge er nicht zu den verfolgten Schriftstellern gehalten habe, unwahr sei, weil er gemeinsam mit Babits und Schöpflin einen Protest verfaßt habe. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? LUKÁCS: Genaue Informationen besitze ich darüber nicht, aber es existieren hier zwei Versionen. Der einen Version zufolge hat er den Protest verfaßt, der anderen Version zufolge hat er an der öffentlichen Unterschriftenaktion teilgenommen. Diese zweite Behauptung läßt sich aber leicht kontrollieren. INTERVIEWER: Ich besitze eine Kopie, aufgrund der sich feststellen läßt, daß er nicht unterschrieben hat. Freilich hat er auch seine Erklärung entsprechend formuliert: »Schließlich habe ich den Protest verfaßt«, was nicht eindeutig heißt, daß er ihn auch unterschrieben hat. In Wahrheit hat er einen anderen Protest verfaßt, der nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Angeblich hat er den Protest nicht unterschrieben, weil der im Szép Szó (Schönen Wort) erscheinen sollte und er nicht bereit war, im Szép Szó eine Rolle zu spielen. LUKÁCS: Das sind alles Ausflüchte. Das Szép Szó hat auch so exklusive Sachen gemacht, und ich habe anno dazumal auch am Szép Szó Kritik geübt, weil es zwischen den beiden Richtungen absolut keine Einheit gab, was wiederum zeigt, daß Illyés’ Einheitsbegriff nicht im entferntesten so reif war, wie er es heute gern hinstellen möchte.

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INTERVIEWER: Unlängst hat Illyés in der Studentenbühne einen Vortrag gehalten, wo er gesagt hat, daß die ungarische Literatur die Literatur der Populisten sei. Am phantastischsten ist dabei, daß er sich gerade auf Attila Jószef beruft. Er sagte, Attila Jószef habe das Programm der Populisten in Mein Vaterland artikuliert. LUKÁCS: Wenn wir unter der Literatur der Populisten verstehen, was Attila Jószef darunter verstanden hat, dann kann man das tatsächlich akzeptieren. Und eigentlich gibt es in der ungarischen Literatur auch keinen bedeutenden Schriftsteller, der sich nicht an einen solchen Begriff vom Volk angelehnt hätte. Das ist jedoch nicht Illyés’ Begriff. Andererseits ist mir auch nichts davon bekannt, daß Attila Jószef im engeren Sinne des Wortes tatsächlich zur Bewegung der Populisten Beziehungen gehabt hätte. INTERVIEWER: Beziehungen hat er zu ihnen insofern gehabt, als er sich mit ihnen überworfen hat. Ihre Beziehungen haben sich darin erschöpft, daß er bis an sein Lebensende nicht bereit war, mit ihnen gemeinsam aufzutreten. LUKÁCS: Die Sache steht so, daß infolge des Zusammenbruchs von 1919 bei den bäuerlichen Populisten gegenüber den Arbeitern ein tiefes Mißtrauen besteht. Das läßt sich nicht leugnen. Und das ist meiner Meinung nach in der ungarischen Geschichte eine Tatsache, die man objektiv nicht hätte herunterspielen dürfen, denn letztendlich ist das eine Konsequenz der schlechten Bauernpolitik der Räterepublik. Wenn man das Mißtrauen der Vertreter der Bauernschaft gegenüber den Kommunisten untersucht, darf man nicht vergessen, daß es hierfür Gründe gibt. Ich will nicht sagen, daß ich diese Vertreter damit vollkommen rechtfertigen will. Darum geht es nicht, es geht lediglich darum, daß ihr Widerwille nicht aus der Luft gegriffen ist und nicht auf reaktionären Verleumdungen basiert, sondern darauf, daß sie die Bauernpolitik der Räterepublik ablehnen. INTERVIEWER: Kommen wir auf andere Schriftsteller zu sprechen. Was für eine Beziehung hatten Sie zu Mílan Füst? LUKÁCS: Schauen Sie, die Beziehung zu Mílan Füst ist eine schrecklich einfache Angelegenheit; sie war eine parteipolitische Frage. Mílan Füst war nämlich noch vor meiner Zeit von einem Universitätsprofessor die Habilitation versprochen worden. Ich vertrat damals eine Volksfrontpolitik, und ich war der Meinung, wenn man einem so prominenten Mitglied der alten Nyugat-Generation wie Mílan Füst eine Universitätsdozentur versprochen hatte, so mußte man dieses Versprechen einhalten. Es gibt sogar ein Zeugnis davon in einem Buch über Mílan Füst, daß Mílan Füst mit der Beurteilung, die ich bei der Fakultät über ihn abgegeben hatte, sehr zufrieden gewesen ist. Es sei völlig gleichgültig, was für ein Universitätsdozent er werden würde. Das würde

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politisch nicht zählen. Man müßte ihn jedoch unbedingt ernennen, damit nicht der Anschein entstünde, als würden wir einen hervorragenden Angehörigen des Nyugat nicht zum Professor machen wollen. INTERVIEWER: Ich habe Mílan Füst anno dazumal gehört. Er war unvergleichlich amüsanter und besser als Waldapfel und ähnliche zusammengenommen. LUKÁCS: Das kann ich mir vorstellen. Schauen Sie, das ist ganz sicher, daß Mílan Füst tatsächlich ein Schriftsteller und Dichter war und als solcher in Fragen der Dichtung neben sehr unrichtigen Dingen auch sehr richtige Dinge gesagt hat. INTERVIEWER: Hinzu kommt noch die allgemein verbreitete Ansicht, daß Mílan Füst seine eigene Meinung wiedergab. Und das konnte man außer bei ihm in der damaligen Zeit nur noch bei Ihnen, Genosse Lukács, spüren. LUKÁCS: Es steht außer Zweifel, daß Mílan Füst im Sinne des Nyugat (Westen) ein bedeutender Schriftsteller war. Nur am Rande bemerkt eine humoristische Sache, daß ich nämlich in gewisser Hinsicht von Mílan Füst sehr enttäuscht war, weil ich glaubte, er sei ein außerordentlich arroganter Mensch, ein Mensch, der sich seiner schriftstellerischen Größe bewußt ist. Er dagegen stattete mir noch vor der Habilitation Besuche ab, genauso wie ein kleiner Habilitand seinen ordentlichen Professor besucht. Gertrud brachte er bei jeder Gelegenheit einen Blumenstrauß mit und so weiter. Mit einem Wort, er hat mir eine große Enttäuschung bereitet… INTERVIEWER: Gerade heute erzählte mir Miksa Fenyö, daß Füst Osvát für gewöhnlich die Hände geküßt habe. LUKÁCS: Das ist nicht ausgeschlossen. Ansonsten war er ein außerordentlich arroganter Mensch, ein Mensch, der in einem engeren Kreis arrogant war. Aber seinen schriftstellerischen Rang habe ich nie angezweifelt. INTERVIEWER: Oszkár Gellért? LUKÁCS: Oszkár Gellért war ein oszkárgellértzentrischer Mensch, bei dem sich alles darum drehte, was man für ein Verhältnis zu Oszkár Gellért hatte. Ehrlich gesagt interessierte mich das in den Nyugat-Zeiten nicht, und es interessierte mich auch in der Periode nach dem Nyugat nicht. INTERVIEWER: Was für persönliche und ideologische Beziehungen hatten Sie zu den anderen Professoren?

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LUKÁCS: Ich war weitgehend selbständig und kümmerte mich nicht viel um die Meinung meiner Kollegen. INTERVIEWER: Vor der Rudas-Debatte hatte der Philosophische Lehrstuhl mindestens achtzig aktive Hörer. Die Ästhetikseminare waren auch unheimlich gut besucht. Nach der Debatte waren fünf oder sechs Hörer übriggeblieben. LUKÁCS: Selbstverständlich. Die Sache steht nämlich so, daß ich gezwungen bin, mit einem Béla-Kun-Zitat zu beginnen: Als sich 1919 das Zentralkomitee konstituierte, wurde ich Mitglied und Rudas nicht. Um des lieben Friedens willen sagte ich damals zu Kun: »Schauen Sie, wozu ist das gut, ich erledige meine Arbeit auch ohne Mitgliedschaft im Zentralkomitee, und hier ist doch der Rudas, für den eine Mitgliedschaft schrecklich wichtig wäre.« Daraufhin sagte Kun zu mir, und ich betone, ich habe mir das wortwörtlich gemerkt: »Schauen Sie, das ist absurd, was Sie da sagen. Ich bin Ihr Gegner. Ohne Zweifel besitzen Sie aber eine Überzeugung, und Sie verkünden Ihre Überzeugung innerhalb des Kommunismus, selbst wenn ich Ihre Überzeugung mißbillige. Aber diese Überzeugung ist vorhanden, und sie ist in der kommunistischen Partei eine Macht. Dem Rudas«, sagte Kun, »gibt man Geld, und der Rudas schreibt.« Das war Béla Kuns Meinung über Rudas 1919. INTERVIEWER: Bereits 1919? Demnach hätte Béla Kun also für Menschen einen Blick gehabt? LUKÁCS: Er hatte einen sehr zynischen Blick. Er beobachtete die negativen Dinge außerordentlich scharf. Er war nicht in der Lage, bei Menschen positive Eigenschaften zu entdecken. INTERVIEWER: Welche Ihrer Arbeiten sind nach 1945 erschienen? LUKÁCS: Vor allem gab ich den größten Teil meiner zwischen 1919 und 1945 geschriebenen Arbeiten heraus. Danach erschienen Die Theorie des Romans und Geschichte und Klassenbewußtsein ohne meine Genehmigung deutsch. Diese Titel rechnete ich damals nicht mehr zu meinem Œuvre. Ich hatte mit Somlyó eine Polemik über mein Lebenswerk. Somlyó warf mir vor, ich hätte kein Recht, mein Lebenswerk zu verleugnen. Dabei habe ich mit meinem Lebenswerk absolut nichts zu tun. Und überhaupt, die Geschichte stellt nachträglich fest, ob ein Lebenswerk vorhanden ist oder nicht. Wer ein Lebenswerk schaffen will, der richtet sich von Anfang an auf eine Lüge ein.

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INTERVIEWER: Obwohl es auch große Künstler gegeben hat, die sich bewußt um die Schaffung eines Lebenswerkes bemühten, die ständig auf die Einheit ihrer Werke bedacht waren. Bei Thomas Mann spürt man andauernd, daß er von jedem Werk im vorhinein weiß, wie es sich in sein Gesamtwerk einfügen wird. LUKÁCS: Das ist wahr, dennoch distanzierte er sich von seiner Einstellung zum Krieg. Und er hätte niemals den Doktor Faustus geschrieben, wenn er an seinem Kriegsbuch festgehalten hätte. Das ist das »Und solang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde!« Gerade das hatte Goethe nämlich so deutlich gesehen. Ohne das gibt es keine menschliche Entwicklung. Ich sage nicht, daß man jeden Augenblick seine Meinung ändern muß. Wenn es aber schwerwiegende Argumente dafür gibt, muß man sich zu dieser Meinungsänderung bereitfinden. Und wenn diese Bereitschaft in mir nicht vorhanden ist, so fehlt mir die intellektuelle Ehrlichkeit, und dieser Mangel ist eine der größten Schwächen in der heutigen Welt. INTERVIEWER: Wie haben sich Ihre Beziehungen zu Révai nach 1945 entwickelt? LUKÁCS: Nach den Blum-Thesen haben Révai und ich vollkommen miteinander gebrochen. Im Verlauf der Vorbereitung auf den VII. Kongreß sagte mir Révai allerdings in Moskau in einem Privatgespräch, daß die Blum-Thesen als Vorläufer des VII. Kongresses behandelt werden müßten. Révai hat das natürlich nicht in irgendeiner offiziellen Form erklärt. Tatsache ist allerdings, daß er nach dem VII. Kongreß nicht einmal mehr andeutungsweise auf die Blum-Thesen zurückgekommen ist. Vielmehr gelangte das Verhältnis zu den populistischen Richtungen in den Vordergrund. Innerhalb der Partei gab es auf diesem Gebiet nämlich gewisse Gegensätze. Andor Gábor zum Beispiel sympathisierte mit dem Liberalismus des Szép Szó (Schönes Wort), während ich, wie Sie wissen, das Szép Szó und auch die Válasz (Antwort) gleichermaßen kritisierte, und in dieser Hinsicht befand ich mich mit Révai auf einer Linie. INTERVIEWER: Diese Gemeinsamkeit hatte auch nach 1945 Bestand? Bis zur RudasDebatte? LUKÁCS: In vollem Umfang, denn wie ich zuvor erwähnte, hat er mich als guter Freund vorgewarnt. Dann schloß sich der gute Freund der entgegengesetzten Richtung an. Und das resultierte wiederum aus Révais Eigenschaft, die ich für gewöhnlich so formulierte, daß Révai sich die ungarische Partei nicht ohne seine führende Rolle vorstellen konnte. Folglich hat er alles unternommen, um seine führende Rolle behaupten zu können. Die Révaischen Kompromisse darf man nicht von irgendwelchen niedrigen Gesichtspunkten her beurteilen. Grundlage seiner Kompromisse war, daß Révai

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in der höchsten Parteiführung bleiben wollte, und deshalb machte er in allen Fragen außerordentlich große Konzessionen, unter anderem auch in der Frage der mit der Volksdemokratie zusammenhängenden demokratischen Strömungen. INTERVIEWER: Genosse Lukács, Ihrer Meinung nach waren nicht nur persönliche Momente für seine Sehnsucht verantwortlich, unbedingt in der Führungsspitze bleiben zu wollen? LUKÁCS: Ich glaube, hier waren nicht nur persönliche Momente maßgebend. Man muß Révai nämlich als tragische Erscheinung betrachten, als einen Menschen, der sehr viele wichtige und tatsächliche Probleme außerordentlich klar sah und dennoch in diesen Problemen die falsche Entscheidung traf, weil er davon ausging, daß er sonst nicht in der Führung bleiben könnte. Und was wäre die ungarische Partei ohne Révais Führung? INTERVIEWER: Aus dieser satirischen und ironischen Formulierung könnte man schließen, daß Sie, Genosse Lukács, meinen, Révai habe gehofft, Rákosi und Gerö in der richtigen Richtung beeinflussen zu können. LUKÁCS: Révai vertrat die Meinung, daß die Richtung der Partei immer richtig sei. Folglich schloß er sich der Parteirichtlinie nicht aus Opportunismus oder aus Karrierismus an, sondern deshalb, weil die Partei recht hat, und folglich jeder den rechten Standpunkt der Partei unterstützen muß. INTERVIEWER: Inwiefern wurde Ihre Freundschaft nach 1949 durch diese Einstellung Révais beeinflußt? LUKÁCS: Nach 1949 kühlte die Beziehung zwischen uns natürlich außergewöhnlich stark ab. Danach wurde Révai aus der Parteiführung entfernt, und in jener Zeit renkte sich das gute Verhältnis zwischen uns wieder ein. INTERVIEWER: Genosse Lukács, wie erklären Sie Révais große Sympathien für die Populisten? War das bei ihm eine Taktik? Oder steckt dahinter eine »Versöhnung mit der ungarischen Wirklichkeit«? LUKÁCS: Das ist sehr wahrscheinlich. Révai kannte unter den Führern Ungarn am besten, und er stand den in Ungarn herrschenden Ideologien am nächsten. Es ist so gut wie sicher, daß zwischen ihm und den Populisten gewisse Beziehungen bestanden haben.

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INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie László Németh persönlich getroffen? LUKÁCS: László Németh habe ich einmal im Leben getroffen, und zwar bei Révai, als László Németh, ich und Gyula Illyés zu einer Viererberatung zusammengekommen waren. Bei dieser Gelegenheit kam es zwischen mir und László Németh zu einer scharfen Auseinandersetzung, weil ich sagte, László Németh habe einen unmöglichen Standpunkt eingenommen, als er im Zweiten Weltkrieg über das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland gesagt habe, die Annäherung an Deutschland demoliere das Frankreich der Advokaten. László Németh bestritt, so etwas geschrieben zu haben. Am nächsten Tag schickte ich ihm eine Postkarte, auf der ich die Seitenzahlen genau anführte, und damit war unsere Beziehung beendet. INTERVIEWER: Was ist Ihre Meinung zur NÉKOSZ-Bewegung (Anm. d. Übers.: Verband der Arbeiter- und Bauern-Fakultät)? LUKÁCS: Ich befürwortete die NÉKOSZ-Bewegung als Volksbewegung vollkommen und unterstützte sie. Mein Einwand gegen den NÉKOSZ war der, daß in seinen Reihen die Sehnsucht nach einem Aufstieg in die Führungsschicht stark war. Die NÉKOSZ-Schüler – ich hatte hauptsächlich mit Studenten an der Universität zu tun – wollten an der Universität nicht vorrangig studieren, sondern sie wollten die Führung erlernen. Sie stellten sich vor, daß sie bald in der gemeinsamen Partei die geistige, politische und ideologische Führung übernehmen würden. Nun war ich allerdings niemals bereit anzuerkennen, und so war ich auch beim NÉKOSZ nicht bereit anzuerkennen, daß sich eine Schicht von vornherein als Führungsschicht betrachtet. INTERVIEWER: Welche Beziehungen hatten Sie in dieser Zeit zu den Sozialdemokraten? LUKÁCS: Zu den Sozis hatte ich niemals Beziehungen. Ich war ein ungarischer radikaler Kommunist besonderen Schlags, der im Kommunismus Demokratie verkündete, jedoch die sozialdemokratische Abschwächung des Diktaturgedankens nie akzeptierte. Ich stand zwischen zwei Lagern: Ich sympathisierte nicht mit den Sozialdemokraten, und ich sympathisierte nicht mit jenen, die den Kommunismus mit diktatorischen Mitteln einführen wollten. Nach 1945 war eine neue Situation entstanden. In der sozialdemokratischen Partei trat eine ernstzunehmende Opposition auf: Zoltán Horváth, Marosán und die anderen, ich will sie nicht alle aufzählen. Mit ihnen hatte ich ein direktes Bündnis. Das charakteristischste an den Zuständen nach 1945 ist vielleicht, daß Rákosi meine Auffassung akzeptierte und keinerlei Einwände gegen meine Vorträge vorbrachte. Rákosi hatte nämlich richtig erkannt, daß es einfacher war, die Intelligenz mit meiner Methode zu gewinnen als mit seiner. Anschließend erfolgte dann die Ver-

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einigung der beiden Parteien, natürlich nur zu sehr geringem Teil infolge meiner Methode. Doch als sie schon in einer Partei vereint waren, dachten Rákosi, Gerö und so weiter, nun würden sie entscheiden, was zu tun sei, und nicht so ein Mensch, wie ich einer war, der völlig überflüssig, ja sogar schädlich sei. Das ist der Hintergrund der Rudas-Debatte. Die Rudas-Debatte fiel nicht nur zeitlich mit der Vereinigung der beiden Parteien zusammen, sondern in Wirklichkeit besteht zwischen diesen beiden Dingen ein äußerst enger Zusammenhang. INTERVIEWER: In der Folgezeit ist die Frage nach Ihrer Beziehung zu den Sozis nicht mehr aktuell, weil es die Sozis nicht mehr gab. LUKÁCS: Mit Marosán verbindet mich auch jetzt eine Freundschaft. Auch zu Zoltán Horváth hatte ich ein ziemlich gutes Verhältnis. Ich hatte mit den Sozis, die mit uns vereint worden waren, nie Probleme, abgesehen davon, daß ich sie für zu liberal hielt. Als sich die Parteien vereinigten, wurde Marosán von Rákosi gefragt, wen er sich aussuchen wollte, um in die Grundlagen des Kommunismus eingeführt zu werden. Und Marosáns Wahl fiel auf mich. INTERVIEWER: Genosse Lukács, wer unterhielt zu Ihnen in den schweren Jahren auch weiterhin freundschaftliche Beziehungen? LUKÁCS: Das ist sehr schwer zu sagen. Zum Beispiel muß ich anerkennen, daß Vértes zu mir gehalten hat. Unter den Schriftstellern zeigte Ferenc Erdei wirkliche Sympathien mit meinen Bestrebungen. INTERVIEWER: War Déry durch die Rudas-Debatte beeinflußt? LUKÁCS: Déry war durch die Rudas-Debatte nicht beeinflußt, jedoch wurde er dadurch beeinflußt, daß Rákosi meinte, seine Rolle in Ungarn werde in der Antwort nicht genügend hervorgehoben. Hierin bestehe der Fehler der Antwort. Und deshalb ereiferte sich Révai denn auch gegen die Antwort. INTERVIEWER: Wie verhielt sich zur Zeit der Rudas-Debatte die kulturelle Öffentlichkeit? LUKÁCS: Ich glaube, man sympathisierte eher mit mir als mit Révai, weil die ästhetischen Qualitäten der Antwort sehr stark gegen Révai sprachen. Die Antwort ist eben doch der beste sozialistische Roman, der bisher in Ungarn zustande gekommen ist. Von der Jugend wurde er angenommen, obwohl Déry sofort beim Einsetzen der scharfen Kritik bekanntgab, daß er an der Antwort weder Korrekturen vornehmen

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noch diesen Roman fortsetzen werde. Dabei war ein sehr interessanter und wesentlicher Zug der Antwort der, daß der Romanheld erst nach 1945 Kommunist geworden wäre. Nach Dérys Konzeption wird ein Mensch dieses Typs erst nach der Ausrufung der Diktatur Kommunist. Aber die Rákosi-Révai-Gruppe war natürlich nicht bereit, das als gültig anzuerkennen. INTERVIEWER: Es zeugt von günstigen Rahmenbedingungen, wenn die oberste Führung eines ganzen Landes mit der Fortsetzung eines Romans sich so intensiv auseinandersetzt. LUKÁCS: Dahinter verbirgt sich eine sehr wichtige Frage. Rákosi und seine Leute vertraten nachträglich die Meinung, daß in der ungarischen Befreiung von Anfang an die Diktatur anwesend war und daß der Diktatur keine demokratische Periode vorangegangen ist. INTERVIEWER: Die Auffassung von Rákosi und seinen Leuten zeigte eigenartige Widersprüche. Einerseits wollten sie glauben machen, daß die Freiheit von der kommunistischen Partei erkämpft worden sei und daß die kommunistische Partei eine große Massenbasis gehabt habe, andererseits begründeten sie ihre Regierungsmethode damit, daß das ganze Volk faschistisch gesinnt sei. Diese beiden Auffassungen hätten sie sich im Roman vereint gewünscht. Aber ein solcher Roman müßte erst noch geschrieben werden, der zwei konträre Lügen gleichzeitig rechtfertigen würde. LUKÁCS: Déry war in diese Konzeptionen nicht einzubauen, und es traf dann leider auch ein, daß er dadurch vollkommen aus der Reihe der sozialistischen Schriftsteller ausschied. INTERVIEWER: Genosse Lukács, Sie führen Dérys stark skeptische und nicht-sozialistische Entwicklung auf diese Kritiken zurück? LUKÁCS: Ja. Natürlich finden sich hierfür eigene Gründe in Dérys Gesamtpersönlichkeit. Wenn man aber Dérys Biographie liest, kann man sehen, daß Déry die eigene partikuläre Persönlichkeit immer in den Mittelpunkt der Welt stellt. Es gab eine Periode, in der sich hier eine Konvergenz eingestellt hatte, und aus dieser Konvergenz heraus sind der Unvollendete Satz und die Antwort entstanden. Mit der Kritik an der Antwort hörte diese Beziehung auf, und es entstanden die späteren Romane, in denen er den Sozialismus bereits als sehr fragwürdiges und verwaschenes und unechtes Problem hinstellt. Es ist furchtbar, wie viele Schriftstellerkarrieren bei uns durch die Entwicklung nach 1945 vernichtet worden sind.

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INTERVIEWER: Der tragischste Bruch in seiner Entwicklung als Dichter ist meiner Meinung nach bei Juhász eingetreten. LUKÁCS: Eine gewisse Tragödie gibt es auch in Dérys Entwicklung. Aber in der Zwischenzeit entstanden Sachen wie die Zwei Frauen, die für sich allein genommen geeignet sind, daß Déry bleiben wird. Oder jetzt zum Beispiel dieses Gedicht, das er gemeinsam mit Illyés in einem Band herausgegeben hat. Ich halte dieses Gedicht für außergewöhnlich schön. Meiner Meinung nach ist Déry damit unter die bedeutenden Lyriker eingegangen. INTERVIEWER: So ist es. – Juhász halte ich für tragisch, weil er eine gewaltige Begabung besitzt. LUKÁCS: Juhász ist eigentlich ein Produkt der ganzen ungarischen Krise. Er ist ein hochbegabter Dichter, einer der begabtesten. Sehen Sie, der alte Tolstoi war ein sehr kluger Mensch, als er sich gegen die Fetischisierung der Begabung wandte. Daß nämlich die Begabung nur eine unentbehrliche Komponente der künstlerischen Entwicklung sei, aber eben nur eine Komponente und nicht alles. Vielleicht gibt es in Ungarn nicht einmal einen begabteren Lyriker als Juhász. Und interessant das andere Extrem, Benjamins Fall, von dem große Gedichte bleiben, obwohl er aufgrund seiner Begabung nicht zu den größten Lyrikern gehört. Denn zum Beispiel die Arany-Ode gehört zu den schönsten ungarischen Gedichten. Also ich glaube, daß Tolstoi sehr wohl recht hat, wenn er gegen die Fetischisierung der Begabung protestiert. INTERVIEWER: Ich habe Sie nicht nach Ihren Beziehungen zu den Schriftstellern aus der Moskauer Emigration nach der gemeinsamen Rückkehr nach Ungarn gefragt. Welche Beziehungen hatten Sie also nach 1945 zu Béla Balázs, Andor Gábor, Béla Illés und Sándor Gergély? LUKÁCS: Mit Béla Balázs und Andor Gábor stimmte ich in sehr vielen Fragen nicht überein. Dennoch schätzte ich sie als Schriftsteller. Ohne diese Wertschätzung traf das auch auf die anderen zu. INTERVIEWER: Blieben Ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Andor Gábor und Béla Balázs auch weiterhin bestehen? LUKÁCS: Zu Andor Gábor ja, zu Béla Balázs nein, weil Béla Balázs gemessen an seiner schriftstellerischen Bedeutung viel mehr und größere Kompromisse einging als Andor Gábor. Demzufolge schätzte ich Béla Balázs’ Schriftstellerpersönlichkeit in den letzten Jahren nicht mehr so sehr wie früher.

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INTERVIEWER: In der Zeit nach 1945 haben Sie an einigen internationalen Kongressen teilgenommen? LUKÁCS: Das waren im engeren Sinn des Wortes keine internationalen Kongresse, sondern Friedenskongresse. Ich habe nur an Friedenskongressen teilgenommen. INTERVIEWER: Aber es hat auch einige Philosophenkongresse gegeben, zum Beispiel den Genfer… LUKÁCS: An der Genfer Konferenz habe ich aufgrund einer persönlichen Einladung teilgenommen, die für die Partei keinerlei Bedeutung hatte. In der Hinsicht war die Genfer Konferenz für mich sehr aufschlußreich, als in jener Zeit Amerikas way of life im Westen noch sehr stark verbreitet war, so daß ich – obwohl ich von früher persönlich und auch als Schriftsteller bekannt war – ein bißchen in der Art empfangen wurde – Sie erinnern sich vielleicht aus den Persischen Briefen daran –, »Monsieur est Persan? Comment peut-on être Persan?«, beziehungsweise wie könne jemand Marxist sein, der mehrere Sprachen spricht, gebildet und kultiviert ist. Eine kleinere Konfrontation hatte ich auch mit Jaspers. Im wesentlichen ging es dabei darum, ob man den Marxismus als wissenschaftliche Weltanschauung aufrechterhalten und propagieren könne. INTERVIEWER: Haben Sie Bloch nach dem Krieg getroffen? LUKÁCS: Ich habe ihn getroffen, und ich hatte Anteil daran, daß er an der Leipziger Universität Professor geworden ist. Die Sympathie zwischen uns blieb auch bestehen, nachdem er Ostdeutschland verlassen hatte, obwohl wir uns danach nicht mehr trafen und auch nicht weiter korrespondierten. INTERVIEWER: Sie beurteilen das Verlassen Ostdeutschlands anders als das Verlassen Ungarns? LUKÁCS: Selbstverständlich. – Ich halte Bloch für einen außerordentlich verehrungswürdigen und anständigen Menschen. INTERVIEWER: Kommen wir zu der 1953 beginnenden Periode. LUKÁCS: Sie beginnt damit, daß ich nach der Rudas-Debatte auf sämtliche Funktionen im literarischen Leben verzichtete und sogar auch einen Beschluß des Zentralkomitees erwirkte, demzufolge ich von literarischen Aktivitäten befreit wurde. Damit wurden sozusagen die negativen Konsequenzen der Debatte beseitigt, weil ich an den

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weiteren Scharmützeln nicht mehr teilnahm. Sie erinnern sich vielleicht daran, als in den fünfziger Jahren die Schriftstellerbewegung gegen Rákosi einsetzte, daß ich daran ebenfalls nicht teilnahm, nicht aus sehr erhabenen Beweggründen, sondern aus einer taktischen Überlegung, denn ich kannte die Partei besser als die anderen, und ich wußte, daß man es als Fraktionsbildung betrachten würde, wenn die Schriftsteller in einer bestimmten Richtung kollektiv aufbegehren. Wenn man nun aber einem von ihnen wegen Fraktionsbildung mit Parteiausschluß drohen würde, dann würden sich alle zurückziehen. Und so ist es auch tatsächlich gekommen. Da ich mich aber nicht zurückziehen wollte, nahm ich an der ganzen Sache erst gar nicht teil. So war also meine Rolle in den literarischen Aufständen, die 1956 vorausgegangen waren, gleich Null. INTERVIEWER: Haben Sie schon vor 1956 an der Eigenart des Ästhetischen gearbeitet? LUKÁCS: Ja. INTERVIEWER: Könnte ein Grund für Ihre damalige Zurückhaltung nicht auch gewesen sein, daß Sie sich bei Ihrer Arbeit gestört fühlten, als man Sie mit einbeziehen wollte… LUKÁCS: Ich habe noch niemals gesagt, daß mich die Bewegung bei der Arbeit gestört hätte. Die Bewegung bringt einem bei der Arbeit eigentlich immer nur Nutzen, weil die Tendenzen dadurch schärfer umrissen werden und deutlich wird, was die Menschen wollen und so weiter. INTERVIEWER: Welche Perspektiven sahen Sie nach dem XX. Parteitag? LUKÁCS: Ich kann auch jetzt nur sagen, was ich damals gesagt habe, als dieser Komplex zum erstenmal aufgetaucht ist: Es ist nicht wahr, daß man diesen Komplex auf den Personenkult reduzieren kann. Es handelt sich hier um ein viel weitergehendes Phänomen als um den Personenkult. Reformen sind nötig. Zweifelsohne, und das würde ich auch nicht leugnen, glaubte ich in den ersten Wochen daran, daß Imre Nagy Reformen einführen würde. Später mußte ich mich von dieser Illusion trennen. INTERVIEWER: Wann haben Sie Imre Nagy kennengelernt? LUKÁCS: Sehr früh. Man darf nicht vergessen, daß Imre Nagy in Rußland als Kriegsgefangener gelebt hat. In den zwanziger Jahren ist er nach Ungarn zurückgekehrt, wo er in der Provinz arbeitete. Als ich 1929 in Budapest arbeitete, habe ich sogar mehrmals mit ihm zusammengearbeitet, und diese Zusammenarbeit war ziemlich erfolgreich. In der späteren Periode war ich dann nicht bereit, Imre Nagys führende Rolle

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anzuerkennen, und so wurde ich von Studenten aufgesucht – Sie waren vielleicht auch darunter, ich weiß nicht genau –, die meinten, es sei dennoch nicht richtig, daß wir keine Beziehung zueinander hätten. Darauf antwortete ich, Imre Nagy habe es genauso weit zu mir wie ich zu ihm. Sollte doch Imre Nagy die Initiative ergreifen! Das war nicht nur eine Prestigefrage. Aber wenn ich zu Imre Nagy gegangen wäre, wäre auch ich in den Onkel-Imre-Strom hineingezogen worden, der damals in Ungarn verbreitet war. Wenn sich jedoch Imre Nagy mir nähern würde, dann könnte ich ihm in einem vertraulichen Gespräch unter vier Augen sagen, daß man eine Revolution ohne Programm nicht machen könne. INTERVIEWER: Kehren wir für einen Augenblick zur Periode vor 1953 zurück. Zur Zeit der Rudas-Debatte wurde Imre Nagy wegen seines Landwirtschaftsprogramms aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen. Haben Sie sich bis 1953 überhaupt nicht getroffen? LUKÁCS: Da wir zur sogenannten zweiten Klasse der Führungsschicht gehörten, begegneten wir uns an Orten wie beispielsweise in Mátraháza, die für diese Schicht reserviert waren. Ich hatte auf Konversationsebene ein gutes Verhältnis zu Imre Nagy. Mehr jedoch kam nicht zustande. INTERVIEWER: Genosse Lukács, nach Ihrer Einschätzung hatte Imre Nagy keinerlei Programm, oder fehlte nur ein umfassendes Programm? LUKÁCS: Natürlich hatte er ein allgemeines Reformprogramm. Aber er hatte absolut keine Ahnung, wie dieses Reformprogramm auf den verschiedenen Gebieten verwirklicht werden könnte, was konkret zu geschehen hatte, worin in dieser Umwälzung Rechte und Pflichten der einzelnen Kommunisten bestehen sollten. INTERVIEWER: Hatte er auch kein Landwirtschaftsprogramm? LUKÁCS: Das war auch so ein Programm, zu dessen Verwirklichung sozusagen überhaupt nichts passierte. Vergessen Sie nicht, daß unter Imre Nagy sehr wenig von der Landwirtschaftsreform verwirklicht worden ist. INTERVIEWER: Allerdings war Imre Nagy unter Imre Nagy, abgesehen von einer Woche, innerhalb der Partei in der Minderheit. LUKÁCS: Das ist wahr. Wenn ich allerdings innerhalb der Partei in der Minderheit bin, dann übernehme ich entweder nichts oder aber stelle gewisse Bedingungen: Ich würde die Führung übernehmen, sofern man das und das und das und das machen wird. Imre

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Nagy machte nichts dergleichen, sondern blieb der Großvater des Staats oder was weiß ich. Und schuf eine Gruppe, zu der bis zu einem gewissen Grad die schlechtesten Reformer gehörten. Andererseits gab es keinerlei konkretes Programm, daß man jetzt dies und jenes tun, auf etwas anderes verzichten müsse und so weiter. Deshalb kamen wir auch nicht im Jahr seiner Ministerpräsidentenschaft zusammen. Ich schätzte Imre Nagy als anständigen Menschen, als klugen Menschen, als einen Menschen, der in der ungarischen Agrarfrage kompetent ist. Dagegen hielt ich ihn nicht für einen richtigen Politiker. INTERVIEWER: Eigentliche Marxisten gab es in der Gruppe um Imre Nagy überhaupt nicht? LUKÁCS: Das könnte ich jetzt nicht einmal bestätigen. INTERVIEWER: Ferenc Donáth? LUKÁCS: Ferenc Donáth war mit Imre Nagy befreundet und nahm an diesen Zusammenkünften mit Imre Nagy teil. Ebenso wie auch Szilárd Ujhelyi und andere teilgenommen haben. Aber ich weiß nicht, wie Donáth in der fraglichen Zeit zu dieser Sache stand, weil ich erst später engere Beziehungen zu ihm bekam und es später den Anschein hatte, daß er Imre Nagy sehr kritisch gegenüberstand. INTERVIEWER: Tatsache ist, daß Sie, Genosse Lukács, an diesen Bewegungen nicht teilgenommen haben, aber Tatsache ist auch, daß Sie, Genosse Lukács, als die Diskussionen im Petöfi-Kreis einsetzten, sofort unter den ersten waren, die in den Vordergrund des Interesses und der Erwartung gerieten. Genosse Lukács, weshalb haben Sie sich damals bereitgefunden, eine politische Rolle zu übernehmen? LUKÁCS: Die Sache steht so, daß ich 1956 als eine große Bewegung begreife. Diese spontane Bewegung brauchte eine gewisse Ideologie. Ich erklärte mich bereit, diese Aufgabe in verschiedenen Vorträgen zu übernehmen. Beispielsweise versuchte ich zu klären, inwieweit sich unser Verhältnis zu den anderen Völkern verändert hatte und ob jetzt eine Zusammenarbeit, eine Koexistenz tatsächlich möglich war und welches die Bedingungen für diese Koexistenz waren. Also derartige ideologische Absichten hatte ich. Ich glaube, darüber hinaus hatte ich keine Absichten. INTERVIEWER: Haben Sie diesen Beitrag zu der spontanen Bewegung vor den Ereignissen innerhalb des Petöfi-Kreises geleistet?

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LUKÁCS: Nein, nicht nur innerhalb des Petöfi-Kreises, denn ich habe auch an der Parteihochschule einen Vortrag gehalten, der ebenfalls in diesen Komplex hineingehört hat. INTERVIEWER: Wie wurde dieser Vortrag aufgenommen? LUKÁCS: Höflich. INTERVIEWER: Danach war die Parteiführung… LUKÁCS: Danach war alles schlecht, was ich auch machte. Damals ließen sie den Kerlen freien Lauf, den Rudas-Schülern, und sie durften über mich schreiben, was immer sie wollten. INTERVIEWER: Ich dachte nicht an die Zeit nach dem 4. November 1956. Ich erinnere mich ebenfalls an die höfliche Aufnahme des Vertrags, denn ich war auch dort. Also ich meine den Zeitraum noch vor Oktober, zwei bis drei Wochen nach dem Vortrag. Was hat die Parteiführung unter Rákosi unternommen… LUKÁCS: Es passierte gar nichts, denn sie waren derart verängstigt, daß sie nicht wagten, etwas zu unternehmen. INTERVIEWER: In welcher Form sind Sie selbst von den Oktoberereignissen betroffen gewesen? Welche praktischen Konsequenzen hatten diese Ereignisse für Sie? LUKÁCS: Zum ersten hatten sie die Konsequenz, daß ich in das Zentralkomitee gewählt wurde. Zum zweiten geriet ich innerhalb des Zentralkomitees in eine gewisse Opposition zu Imre Nagy. Um die wichtigste Frage zu erwähnen: als Imre Nagy aus dem Warschauer Vertrag austrat, stimmten Zoltán Szántó und ich dagegen. Und wir forderten Imre Nagy auf, solche prinzipiell wichtigen Entscheidungen in Zukunft nicht vor die Öffentlichkeit zu bringen, bevor wir nicht innerhalb der Partei darüber verhandelt hätten. INTERVIEWER: Sie haben zu zweit gegen den Austritt aus dem Warschauer Vertrag gestimmt? Von den anderen wurde der Beschluß unterstützt? LUKÁCS: Die anderen unterstützten ihn. INTERVIEWER: Hat es in der Führung auch noch sonstige Differenzen gegeben?

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LUKÁCS: Das war die entscheidende Differenz, und dadurch wurden sämtliche anderen Konflikte bestimmt. Aber es stellte sich überall die Frage, ob ein endgültiger Bruch mit dem alten System oder aber eine Reformierung des alten Systems erfolgen sollte. Und ich sage ehrlich, ich war ein Anhänger der Reformierung. INTERVIEWER: Lange Zeit auch Imre Nagy. LUKÁCS: Ja, aber bei Imre Nagy war es niemals klar, welchen Standpunkt er eigentlich vertrat. INTERVIEWER: Ich glaube, er hat ebenfalls den Reformstandpunkt vertreten. Nur stand er eben unter dem direkten Druck der verschiedenen Gruppen des militärischen und zivilen Aufstandes. Dieser Druck hat ihn meiner Meinung nach mit sich gerissen. LUKÁCS: Das ist sehr leicht möglich. Ich behaupte absolut nicht, daß Imre Nagy ein Konterrevolutionär gewesen wäre oder gar ein Anhänger des Kapitalismus… also ich behaupte nichts dergleichen. Ich behaupte nur, daß er kein Programm gehabt hat. An einem Tag sagte er dies, am anderen Tag jenes. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie aus prinzipiellen Gründen gegen den Austritt aus dem Warschauer Vertrag opponiert, oder haben Sie sich von taktischen Erwägungen leiten lassen, namentlich aus Angst vor der sowjetischen Einmischung? LUKÁCS: Zum ersten hatte ich natürlich prinzipielle Gründe. Ich bejahte einfach die Mitgliedschaft Ungarns im Warschauer Vertrag. Zum zweiten spielte bei meiner Entscheidung natürlich auch eine Rolle, daß wir den Russen keinerlei Anlaß geben sollten, sich in die ungarischen Angelegenheiten einzumischen. Als Motiv spielte das natürlich auch eine Rolle. INTERVIEWER: Genosse Lukács, wir wissen also, daß Sie im Oktober 1956 in das aus sechs Mitgliedern bestehende Zentralkomitee der Partei aufgenommen worden sind. Über Ihre staatliche Funktion haben wir noch nicht gesprochen. LUKÁCS: Das Ministeramt war dadurch zustande gekommen, daß Ferenc Erdei zu weiß ich was gemacht worden war, und er hatte mich als Kultusminister vorgeschlagen. INTERVIEWER: Hatten Sie irgendeine Vorstellung, irgendein Programm?

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LUKÁCS: Nein, nein, gar nichts, ich habe meinen Fuß nicht einmal in das Ministerium gesetzt. INTERVIEWER: Soweit ich mich erinnere, haben Sie irgendeine Erklärung abgegeben, etwa in der Zeitung Szabadság (Freiheit), wo Sie als Programm angegeben haben, daß Sie den Wunsch hätten, das Ministerium aufzulösen. LUKÁCS: Das ist unwahrscheinlich. INTERVIEWER: Nicht den Teil für das Unterrichtswesen, sondern die Abteilung für Volksbildung. Etwa in dem Sinn, daß dieses Ministerium eine Masse Funktionen innehabe, die keinen Sinn hätten. Beispielsweise würden die Literatur und der Film von dort aus gelenkt. LUKÁCS: Das ist sehr leicht möglich. Eine derartige Erklärung könnte ich abgegeben haben. INTERVIEWER: Hat man es Ihnen später verübelt, daß Sie den Ministerposten übernommen haben? LUKÁCS: Selbstverständlich. INTERVIEWER: Sind Ihnen auch konkrete Vorwürfe gemacht worden? Oder hat man nur den üblichen Text vorgebracht? LUKÁCS: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. In meinem Leben ist so viel Schlechtes über mich geschrieben worden, daß ich mich nicht mehr an die einzelnen Verurteilungen erinnern kann. INTERVIEWER: Sind Sie vom 4. November überrascht worden, oder glaubten Sie an die Möglichkeit eines Abkommens zwischen der sowjetischen und der ungarischen Regierung? LUKÁCS: Das ist eine sehr schwere Frage, weil ich sozusagen aus physischen Gründen – und das ist mir kaum je im Leben passiert – einen Fehler gemacht habe. Am 3. November kam ich spätabends aus dem Parlament nach Hause, und kaum, daß ich mich hingelegt hatte, riefen Szántós an, ich sollte mit Gertrud zu ihnen kommen. Dort proponierten sie gleich, wir müßten in die jugoslawische Botschaft gehen, weil die Russen kämen. Ich gestehe, in unausgeschlafenem Zustand habe ich diesen Gedankengang akzeptiert, obwohl ich – und das sage ich wiederum zu meiner eigenen Ver-

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teidigung –, sobald ich in der Botschaft ein bis zwei Stunden geschlafen hatte, die Sache bereits bereute, aber da war an ein Weggehen nicht mehr zu denken. INTERVIEWER: Waren die Meinungsverschiedenheiten unter denjenigen, die in der jugoslawischen Botschaft Zuflucht gesucht hatten, zu dem Zeitpunkt bereits zu spüren, oder zeigten sich die Differenzen erst bei dem späteren Aufenthalt in Rumänien? LUKÁCS: Selbstverständlich wurden die Meinungsverschiedenheiten schon in der Botschaft deutlich. Man darf natürlich nicht vergessen, daß die Menschen aus den verschiedensten Gründen dorthin gekommen waren. Zoltán Vas zum Beispiel hatte sich in die jugoslawische Botschaft geflüchtet, weil er glaubte, zusammen mit den vorrükkenden Truppen würde auch seine Frau kommen und ihn als Windhund zur Verantwortung ziehen, da er damals nämlich bereits mit seiner jetzigen Frau zusammenlebte. Hiermit will ich lediglich illustrieren, welch unterschiedliche Motive hier eine Rolle gespielt haben. Unser Standpunkt war von Anfang an der, daß wir nach Hause gehen wollten. Diese Absicht – und das ist ein interessantes Moment – wurde im Hinblick auf bestimmte Leute, darunter auch auf mich, akzeptiert. Als wir die Absicht jedoch ausführen wollten, wurden wir verhaftet und in ein russisches Lager, oder wie man es nennen soll, gebracht. INTERVIEWER: Wessen Fortgehen hat man noch zugelassen? LUKÁCS: Das Fortgehen von sehr vielen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Fortgehen von Szilárd Ujhelyi, Zoltán Szántó und Zoltán Vas. Im engen Sinne des Wortes gab es außer der Gruppe um Imre Nagy eine ziemlich große Gruppe, die fortgehen wollte. INTERVIEWER: Was passierte, als Sie die Botschaft verließen? LUKÁCS: Als wir uns ins Auto setzten, schloß sich uns sofort ein Polizeiwagen an, und man verlangte von uns, unser Chauffeur solle dem Polizeiwagen folgen. Wir bogen in eine Seitenstraße ein, und dort mußten wir uns in jene Autos setzen, die uns in das russische… INTERVIEWER: Wie war dort die Behandlung? LUKÁCS: Die Behandlung war von Anfang an gut und höflich.

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INTERVIEWER: In Budapest kursiert eine Anekdote, derzufolge jeder aufgefordert worden sei, seine Waffe zu übergeben, woraufhin Genosse Lukács angeblich seinen Füllfederhalter übergeben habe. LUKÁCS: Das ist eine Legende. Von uns wurden keinerlei Waffen verlangt. Zoltán Szántó, Zoltán Vas und ich waren als erste in dem russischen Lager eingetroffen. Ich weiß nicht, ob in dieser Gruppe noch mehr waren. Drei bis vier Tage später traf dann die ganze Gesellschaft ein. Danach wurden wir nach Rumänien gebracht. INTERVIEWER: Hatten Sie dort Gelegenheit zu arbeiten? LUKÁCS: Eigentlich gab es Möglichkeiten. Die Bibliotheken waren uns zugänglich, so daß man also lesen konnte, was man wollte. Auf diesem Gebiet wurden uns keine Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Es blieb unserem freien Ermessen überlassen, was wir machen wollten. INTERVIEWER: Genosse Lukács, haben Sie gearbeitet? LUKÁCS: Ich las Dinge, zu deren Lektüre ich früher wegen der Parteiarbeit nicht gekommen war. Es fällt schwer, eine solche Tätigkeit als Arbeit zu bezeichnen. Aber daß ich nicht beschäftigt gewesen wäre, das ist nicht vorgekommen. INTERVIEWER: Ich habe noch eine Anekdote gehört. In Rumänien hätte angeblich ein rumänischer Gefängnisaufseher den Auftrag erhalten, den Genossen Lukács ideologisch zu überzeugen. LUKÁCS: Das ist möglich. Ich kannte tatsächlich so einen Bullen, das war allerdings eine ziemlich harmlose Sache. INTERVIEWER: Man erzählt sich, daß der Bulle nach einer mehrwöchigen Diskussion in die Nervenheilanstalt gekommen sei. LUKÁCS: Das kann ich jetzt nicht mehr sagen. Als ich Rumänien verließ, war er noch nicht in der Nervenheilanstalt. INTERVIEWER: War er ein intelligenter Mensch? LUKÁCS: Auf Parteiebene hält man solche Leute für intelligent. Das ist alles, und das ist nicht viel.

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INTERVIEWER: Haben Sie einen Vorstoß unternommen, um nach Ungarn zurückkehren zu können? LUKÁCS: Ja, und hier trat ein Problem auf. Meine Vernehmer sagten mir, ich sei kein Gefolgsmann Imre Nagys gewesen, und das wüßten sie, und weshalb ich dann eigentlich nicht gegen Imre Nagy aussagen könnte. Darauf antwortete ich, sobald wir einmal alle beide, Imre Nagy und ich, in Budapest frei spazierengehen würden, würde ich über sämtliche Aktivitäten Imre Nagys meine Meinung sagen. Über meinen Mitgefangenen könnte ich mich nicht äußern. INTERVIEWER: Ist diese moralische Haltung von allen durchgehalten worden? LUKÁCS: Wohl von allen. INTERVIEWER: In Budapest kursierten Gerüchte, wonach Zoltán Szántós Haltung nicht ganz korrekt gewesen sein soll. LUKÁCS: Das weiß ich nicht. Ich besitze darüber keine konkreten Kenntnisse, weil jeder getrennt verhört worden ist, und anschließend erzählte jeder, was ihm gefiel und angenehm war. Ich halte es aber für wahrscheinlich, daß Zoltán Szántós Aussagen für Imre Nagy ungünstig waren. Denn es hatte dort eine Sitzung gegeben, an der die gesamte Emigration oder sagen wir lieber, alle, die dort interniert waren, teilnahmen. Und auf dieser Sitzung meldete sich auch Zoltán Szántó zu Wort und sprach ziemlich stark gegen Imre Nagy. Imre Nagy war ebenfalls zugegen. INTERVIEWER: Haben diese Sitzungen unter strenger Beobachtung gestanden? LUKÁCS: Selbstverständlich. Diese zwanzig bis dreißig Leute waren… Und dann war da das russische beziehungsweise rumänische Personal. INTERVIEWER: Meine gezielte Frage nach Zoltán Szántó erklärt sich daraus, daß ich mich daran erinnere, daß Ihre engere Freundschaft mit Zoltán Szántó in dieser Zeit erschüttert worden ist. LUKÁCS: Ich war mit Zoltán Szántós Verhalten nicht einverstanden, und deshalb kühlte unser Verhältnis natürlich bis zu einem gewissen Grad ab. INTERVIEWER: Als wir uns 1956 über Zoltán Szántó unterhalten haben, bezeichneten Sie, Genosse Lukács, ihn als den begabtesten kommunistischen Führer der Gegenwart.

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LUKÁCS: Zoltán Szántó war ein ausgezeichneter Parteiarbeiter, und Anfang der fünfziger Jahre spielte er bei der Umbildung der ungarischen Partei eine sehr aktive Rolle. Er wurde von Rákosi und seinen Leuten in den Hintergrund gedrängt, und so kam jene eigenartige Lage zustande, daß Szántó seine eigene Rolle viel höher einschätzte, als sie in Wirklichkeit war. INTERVIEWER: Hatte er ideologisch keine besondere Bedeutung? LUKÁCS: Ideologisch war er ein korrekter Mensch. INTERVIEWER: Genosse Lukács, unter welchen Umständen erhielten Sie im Mai 1957 ein Angebot zur Rückkehr nach Ungarn? LUKÁCS: Die Rückkehr nach Ungarn erfolgte Ende März/Anfang April. INTERVIEWER: Wurden daran Bedingungen geknüpft? LUKÁCS: Nein. Nein. INTERVIEWER: Wie gestalteten sich in dieser Zeit Ihre Beziehungen zur Partei? LUKÁCS: Als die Partei reorganisiert wurde, und die Partei ihren jetzigen Namen erhielt, teilte ich mit, daß ich weiterhin auf einer Parteimitgliedschaft bestünde. Ich schrieb dem Zentralkomitee einen Brief. Ich schrieb darin, seit wann ich Parteimitglied sei und daß mein gesamtes Parteileben vor der Partei offen zutage liege, seit ich Parteimitglied sei. Es gebe also keinerlei Gründe, meinen Mitgliedsantrag in der Partei abzulehnen. Dieser Antrag wurde natürlich trotzdem abgelehnt, beziehungsweise ich erhielt auf diesen Brief keine Antwort. Und erst zehn Jahre später trat wieder die Frage der Beantwortung auf. INTERVIEWER: Im 1962 herausgegebenen Konversationslexikon schreibt Jószef Szigeti, daß Sie aus der Partei ausgeschlossen worden seien. LUKÁCS: Das ist nicht wahr. Es ist aber leicht möglich, daß man das geschrieben hat, weil ich bis in die sechziger Jahre einer vollkommenen moralischen Verurteilung unterlag. Es ist leicht möglich, daß solche Gerüchte über mich verbreitet waren. Mich hatte man jedenfalls nicht aus der Partei ausgeschlossen, man hatte mir nur auf jenen Brief, in dem ich schrieb, daß ich Parteimitglied sein wollte, eben keine Antwort gegeben.

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INTERVIEWER: Offensichtlich hat man Ihnen keine Antwort gegeben, weil sich keiner wagte, ein Ja oder auch ein Nein zu unterschreiben. LUKÁCS: Sicher hat es irgendsoeinen Grund gegeben. Jedenfalls tauchte das Problem erneut auf, als ich im Zusammenhang mit der Einführung der neuen ökonomischen Methode der Unità ein Interview gegeben hatte, in dem in etwa stand, daß ich diese Richtlinie befürwortete, da sie notwendigerweise mit der Demokratisierung der Partei und der Erneuerung des Marxismus einherginge. INTERVIEWER: Dieses Unità-Interview war der Beginn Ihres erneuten Auftretens in der Öffentlichkeit? LUKÁCS: Ja, bis zu einem gewissen Grad. Man muß die Dinge wiederum so nehmen, wie sie sind: Als passives Denkmal des Revisionismus spielte ich auch bis zur Einführung der Wirtschaftsreform in der Öffentlichkeit eine Rolle, und diese Funktion verlor bis zum genannten Zeitpunkt auch nicht an Brisanz. INTERVIEWER: Zu dieser Zeit haben Sie noch an der Ästhetik gearbeitet? LUKÁCS: In der ersten Periode schloß ich noch die Ästhetik ab. Und natürlich bestand keinerlei Aussicht, daß die Ästhetik im Ausland würde erscheinen dürfen, geschweige denn in Ungarn. Daraufhin schrieb ich Kádár einen Brief, in dem ich die Vorgehensweise verurteilte. Ich meine nämlich, daß jeder Verlag das Recht hat, herauszugeben, was ihm beliebt. Dagegen hat aber kein einziger Verlag das Recht zu verhindern, daß andere Verlage die Bücher publizieren. Ich protestierte also in meinem Brief an Kádár gegen diese Vorgehensweise. Folge davon war dann, daß ich vorgeladen wurde. Wie hieß noch dieser Kerl im Politbüro? Szirmai. Von Szirmai wurde ich vorgeladen, und der teilte mir mit, mir würde bitteschön, wenn ich das wollte, ein Auswanderungspaß zur Verfügung stehen. Daraufhin sagte ich Szirmai: »Schauen Sie, die Macht ist in Ihrer Hand. Sie können mit mir tun, was Sie wollen. Wenn ich jetzt dieses Zimmer verlasse und an der Tür legt mir ein Polizist die Hand auf die Schulter, dann bin ich ein Gefangener und kann nichts machen. Sie haben jedoch nicht die Macht, mich aus Ungarn hinauszukomplimentieren, wann es Ihnen paßt.« Und damit haben sie die Sache wieder für gut anderthalb Jahre ad acta gelegt. INTERVIEWER: Wann war der Plan für eine deutsche Gesamtausgabe entstanden? LUKÁCS: Schon vor sehr langer Zeit. Vor 1956.

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INTERVIEWER: Letztlich ging der Kampf darum, daß Sie die Ästhetik an Benseler schicken wollten? LUKÁCS: Genau darum ging es. INTERVIEWER: Konnten in dieser Zeit andere Manuskripte im Ausland erscheinen? LUKÁCS: Was ich hinausschmuggeln konnte, das ist erschienen. INTERVIEWER: Sind Sie deswegen nicht zur Rede gestellt worden? LUKÁCS: Deshalb bin ich von niemandem zur Rede gestellt worden. Nachdem dann der Frieden wiederhergestellt war, habe ich mich darüber mit Aczél unterhalten, und ich sagte ihm damals: »Schau, solange Ihr ein Erscheinen im Ausland verbietet, solange werde ich seelenruhig schmuggeln, denn ich erkenne Euer Recht nicht an, daß Ihr die deutsche Veröffentlichung meines Buches verhindert. Wenn ich eine Garantie dafür erhalte, daß meine Sachen auf gesetzlichem Weg im Ausland erscheinen dürfen, dann werde ich mit dem größten Vergnügen auf mein Recht zum Schmuggeln verzichten.« Das geschah bereits in der Zeit des beginnenden Friedens. INTERVIEWER: Nach Ihrer Rückkehr nach Ungarn haben Sie sich eine Zeitlang an der Unterstützung von in Schwierigkeiten geratenen Menschen beteiligt. LUKÁCS: Das ist selbstverständlich geschehen. Ich könnte jetzt nicht mehr sagen, wen wir oder was wir oder in welcher Form wir unterstützt haben. Ich bin immer gegen die seitens der Regierung ausgeübte Gewalt aufgetreten, und es wird niemand behaupten können, daß ich Imre Nagys Hinrichtung befürwortet hätte und so weiter, aber es hat Differenzen gegeben, die in einzelnen Fällen weitgehend taktischer Natur waren, nämlich für wen Aussicht auf Hilfe bestünde, für wen es aussichtslos sei und so weiter. INTERVIEWER: Woran haben Sie in dieser Zeit neben der Ästhetik noch gearbeitet? LUKÁCS: An der Vorbereitung meiner Ontologie. Die Ästhetik war eigentlich die Vorbereitung zur Ontologie, sofern sie das Ästhetische als Moment des Seins, des gesellschaftlichen Seins abhandelt. INTERVIEWER: Soweit ich weiß, hatten Sie nach der Ästhetik die Abfassung der Ethik geplant.

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LUKÁCS: Die Ontologie hatte ich eigentlich als philosophische Begründung der Ethik geplant, und auf dieser Basis ist die Ethik durch die Ontologie verdrängt worden, da es nämlich um die Struktur der Wirklichkeit geht und nicht um eine separate Form. INTERVIEWER: In dieser Zeit sind auch politische Artikel entstanden, ja sogar auch eine politische Studie über das Verhältnis von bürgerlicher Demokratie und sozialistischer Demokratie. Diese Studie ist in keiner einzigen Sprache erschienen. Sie ist geschrieben worden im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei. LUKÁCS: Die tschechischen Angelegenheiten sind erst sehr spät aufgetreten. Und ich habe in den tschechischen Angelegenheiten einen ausdrücklich protschechischen Standpunkt vertreten. Unter Berufung auf mein Recht als Parteimitglied schrieb ich Kádár einen Brief, in dem ich ihn davon in Kenntnis setzte, daß ich in der tschechischen Angelegenheit weder das Auftreten der Partei noch insbesondere sein Auftreten befürworte. Das habe ich Kádár geschrieben. Allerdings – und meine damalige Handlungsweise halte ich auch heute für richtig – war ich zu einem Philosophenkongreß nach Wien eingeladen, und ich sagte meine Teilnahme ab, weil dort natürlich jedes zweite Wort im Zusammenhang mit der tschechischen Frage gestanden hätte, wenn ich dort gewesen wäre, und das wollte ich nicht. INTERVIEWER: Ist Ihre Haltung zu 1956 durch die tschechischen Ereignisse in einem gewissen Umfang modifiziert worden? Ich verstehe die Frage so, daß die Tschechen offensichtlich nicht aus dem Warschauer Vertrag austreten wollten, dennoch erfolgte die Intervention. Könnte man daraus schließen, daß Imre Nagys Austritt aus dem Warschauer Vertrag lediglich als Vorwand zu dieser Intervention gedient hat? LUKÁCS: Eine solche Entscheidung war in jener Zeit nicht möglich. Ich meinerseits nahm eine protschechische Haltung ein, obwohl ich für eine rumänische Zeitung einen Artikel darüber schreiben wollte – und ich habe ihn lediglich wegen der Kürze der Zeit nicht geschrieben –, daß sich in der Frage der Tschechen, in der Frage des tschechischen Demokratismus innere Widersprüche feststellen ließen. Mit einem Wort, ich nahm den Tschechen gegenüber eine kritische Haltung ein, allerdings die Haltung eines Sympathisanten. INTERVIEWER: Wenn ich mich richtig erinnere, hätte dieser Artikel im Zusammenhang mit der Masaryk-Frage gestanden. LUKÁCS: Während der Diktatur drangen die tschechischen Truppen unter Masaryks Führung in Ungarn ein. Und ich hätte geschrieben, daß ich eine Demokratie, die ge-

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gen die Diktatur des Proletariats eines Landes demokratische Waffen einsetzen will, nicht allzu sehr schätze. INTERVIEWER: Sonstige Debatten in dieser Periode? LUKÁCS: Die Sache steht so, und ich sage das dem Genossen Aczél für gewöhnlich auch immer in vertrauter Gesprächsrunde, daß er ein außerordentlich wohlwollender und ordentlicher Mensch sei, daß ich ihn sehr mögen und schätzen würde, daß er jedoch die Dinge so lösen wolle, daß jeder zufrieden sein könnte. Das gehe aber nicht. Es sei eine unlösbare Aufgabe, den Schmuggel zu beseitigen und gleichzeitig auch die Schmuggler zufriedenzustellen. Danach polemisierte Aczél in der Népszabadság gegen das, was ich die Révai-Tragödie nenne. Ich sagte Aczél – das kam nicht in die Népszabadság –, daß aus der Zeit der Rákosi-Ära Hunderte und Tausende übriggeblieben seien. An dem einen Pol stünde Mihály Farkas, dieser Erzschuft, und auf der anderen Seite stünde András Hegedüs, der Rákosis Ministerpräsident gewesen und heute eine der wichtigsten Figuren der Reform sei. Wenn wir jetzt einfach davon ausgehen würden, daß jeder mehr oder weniger Schwierigkeiten gehabt hat – wir wollen jetzt nicht über Einzelheiten sprechen –, so würde das bedeuten, daß wir letzten Endes zwischen Mihály Farkas und András Hegedüs Gleichheitszeichen setzen würden. Das wäre nicht gerecht. Und eine wichtige Forderung der Gegenwart ist die, daß wir dem Mihály-Farkas-Typ ein haßerfülltes Nein sagen und ein Ja dem András-Hegedüs-Typ. Ich spreche jetzt von Menschentypen und nicht von Menschen. Dazwischen gibt es unheimlich viele Schattierungen, die von der Kunst wirklichkeitsgetreu dargestellt werden müssen, aber dazu muß man die Skala sehen. Wenn wir das vergessen, gelangen wir tatsächlich zu dem Standpunkt, daß es halt allen möglichen Ärger gegeben habe, doch jetzt seien wir darüber hinweg, wir sollten ihn also vergessen. Wir dürfen ihn aber nicht vergessen. Dieses Problem ist in unserer Literatur bereits in einer großartigen Form aufgetaucht, und zwar in Makarenkos großem pädagogischen Roman. Dort besteht die Methode der sozialistischen Erziehung darin, daß das Vergessen der Beschämung und der Katharsis folgt. Das Vergessen kann also erst nach der Katharsis an die Reihe kommen. Wenn wir den Sozialismus wirklich wollen, können wir auf eine derartige Erziehungsarbeit nicht verzichten. Ohne diese Erziehungsarbeit werden wir ideologisch in einem Pseudosozialismus leben. Oder nehmen wir die Frage des revolutionären Terrors. Wenn Mihály Farkas der revolutionäre Terror ist, dann gelangen wir zu einer ganz falschen Formel. Wenn Ottó Korvin der revolutionäre Terror ist… Lassen Sie mich wieder eine Geschichte erzählen! Als in der Diktatur Wahlen stattfanden, kamen nach der Wahl meine Frau – wir waren damals noch nicht verheiratet – und ihre Freundin zu mir, es sei eine schreckliche Sache passiert, der Bruder der Freundin, ein Lehrer, habe eine große Wahlrede gehalten, daß die ganze Wahl ein Schwindel, eine Hochstapelei sei, worauf er von der Polizei festgenommen worden

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sei. und was werde nun geschehen, man werde ihn sicher aufhängen. Ich versprach daraufhin, am nächsten Morgen Ottó Korvin anzurufen. Und ich rief ihn tatsächlich vom Volkskommissariat aus an, und er sagte mir nur: ach, diesen verrückten Kerl habe er schon längst freigelassen. In einem anderen Fall jedoch, in der Stenczel-Nikolényi-Verschwörung, kämpften sowohl Korvin als auch ich im Rat der Volkskommissare leidenschaftlich gegen die sozialdemokratische Auffassung, daß diese beiden Menschen begnadigt werden müßten. Wir vertraten den Standpunkt, daß man sie sehr wohl hinrichten müsse, weil hohe Polizeioffiziere in ihren Wohnungen ganze Waffenarsenale für die Konterrevolution einrichteten. Nun behaupte ich, daß diese beiden gegensätzlichen Standpunkte Korvins keine Inkonsequenz bedeuten. Wenn ich den Unterschied zwischen Korvin und Mihály Farkas verwische und mich auf den heute modernen Standpunkt des allgemeinen Verzeihens stelle, geht der echte revolutionäre Held, der Korvin in Wirklichkeit war, vollkommen verloren. Otto Korvin besitzt heute in Ungarn keinerlei Namen oder Prestige, und das ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß durch die mittelmäßige allgemeine Amnestie der positive Typ des Revolutionärs in der Versenkung verschwindet. Otto Korvin wird dargestellt, als wäre er ein gemäßigter Mihály Farkas gewesen, gemäßigt zwar, aber letztlich dennoch ein Mihály Farkas. Wissen Sie, ich würde mich freuen, wenn die Menschen verstehen würden, daß meine sehr scharfe Kritik eine sozialistische Kritik ist. Ich spreche nicht aus dem Blickwinkel eines sogenannten bürgerlichen Humanismus. Aus taktischen Erwägungen kann ich mir so eine verwaschene Einstellung in der Art »Breiten wir den Schleier der Vergessenheit über die Vergangenheit aus« vorstellen. Vergessen Sie nicht, daß man dieses »Breiten wir den Schleier der Vergessenheit über die Vergangenheit aus« 18671 gesagt hat. Und in meiner Kindheit war die Erinnerung an die Dreizehn von Arad2 noch in einem jeden lebendig. Es stimmt nicht, daß dieses Schleierausbreiten mehr als eine bürokratische Maßnahme gewesen ist. Ich wäre absolut dagegen, über die Mihály-Farkas-Periode den Schleier des Vergessens auszubreiten. Denn solches Schleierausbreiten hat faktische Konsequenzen, wenn auch nicht so katastrophale wie in früheren Zeiten. Wenn aber Zoltán Horváth mehr als ein Jahr unter Hausarrest gestanden hat, weil er sich in einer privaten Gesellschaft abschätzig über Kállay geäußert hat, so ist das eigentlich die Rückkehr der MihályFarkas-Zeit.

1 Anm.d. Übers.: Die nach der Niederlage der Revolution 1848-49 in Ungarn restaurierte österreichische Monarchie wurde infolge der Verschärfung der inneren Gegensätze des Vielvölkerstaates und durch die Verschlechterung der außenpolitischen Lage zum Ausgleich mit Ungarn gezwungen. Auf der Grundlage des von Ferenc Deák ausgearbeiteten Planes kam es 1867 zur Bildung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. 2 Anm. d. Übers.: Am 6. Oktober 1849 wurden auf Heynaus Befehl zu Arad 13 ungarische Generale hingerichtet.

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INTERVIEWER: Ich glaube, Aczéls Polemik gegen Sie, Genosse Lukács, bezieht sich grade darauf, daß er eine ständige Balance fordert, das heißt, wenn wir anfangen, etwas Negatives zu sagen, dann sollten wir auch sofort das Positive hinzufügen, was natürlich ein Nonsens ist. LUKÁCS: Das ist eine völlig überflüssige Angelegenheit, weil ich bereit bin anzuerkennen – ich weiß das nicht, aber es ist ja immerhin möglich –, daß Mihály Farkas ein guter Familienvater war. Aber ich halte es nicht für meine Aufgabe als Historiker, in seinem Porträt die Eigenschaft des guten Familienvaters zu berücksichtigen. Es ist eine ganz andere Sache, wenn bei einem Menschen eine Dialektik von guten und schlechten Eigenschaften vorhanden ist, wie beispielsweise zweifelsohne bei Trotzki und anderen. Dann muß man diese Dialektik darstellen, allerdings nicht, um das Positive und das Negative auszugleichen, sondern weil man bei dem Betreffenden ohne diese Dialektik die Handlungsmotive nicht aufdecken könnte. Schauen Sie, in unserer Jugend waren wir sehr begeistert, als Endre Ady István Tisza als männliche Variante von Elisabeth Báthory bezeichnete1. Er führte keine einzige gute Eigenschaft von István Tisza an, obwohl István Tisza ein intelligenter Mensch war, persönlich ein ehrlicher und überzeugter Mensch. Und Ady hatte recht, als er ihn als eine männliche Variante von Elisabeth Báthory bezeichnete. INTERVIEWER: Bei Ady toleriert man, daß er gewisse Wahrheiten leidenschaftlich beurteilt. Dasselbe jedoch wird bei uns niemals akzeptiert. LUKÁCS: Ohne diese Leidenschaft werden wir nicht vorankommen. Da ist zum Beispiel in Jancsós Film der Fall des Grafen Ráday, der vielleicht ebenfalls positive Seiten hatte. Ich würde das bestreiten, aber das spielt keine Rolle. INTERVIEWER: Oder Jancsós letzter Film Csend és Kiáltás (Stille und Schrei)… LUKÁCS: Ich mag diesen Film sehr. Es gibt darin sehr viele wertvolle Dinge, und ich kann nichts anderes sagen, als daß wir sowohl von Jancsó als auch von Kovács auf diesem Gebiet noch sehr viel erwarten können. Hierzu ist es aber notwendig, daß sie von den Freunden des Films unterstützt werden, damit die Enthüllung der negativen Seiten der Gegenwart und Vergangenheit eine positive Sache und für den Sozialismus eine Hilfe ist.

1 Anm. d. Übers.: Elisabeth Báthory (gest. 1614) badete der Sage zufolge im Blut ermordeter junger Mädchen, um sich die Haut zu verschönen.

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INTERVIEWER: Es ist kein Zufall, daß der ungarische Film in dem Augenblick erfolgreich wird, da er sich der Aufrichtigkeit verschreibt. LUKÁCS: Es ist eine groteske Tatsache, daß Stalin über die Aufgabe der Literatur sagte: »Schreibt die Wahrheit!« Nur duldete er eben nicht, daß die Wahrheit geschrieben wurde. Ich bin in dieser Hinsicht geneigt, Stalins Losung sogar zu akzeptieren und zu sagen: »Schreibt die Wahrheit!« INTERVIEWER: Jetzt noch einige persönliche Fragen. Als Sie aus Rumänien nach Ungarn zurückgekommen sind, lebte Révai noch. Haben Sie sich getroffen? LUKÁCS: Wir haben uns noch getroffen, denn Révai hatte man nämlich zu dieser Zeit aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen, und folglich befand er sich in einer unglücklichen Lage, und ich hätte es nach dreißigjähriger Freundschaft nicht gutgeheißen, ihn in diesem Moment im Stich zu lassen. Unsere Kontakte waren nicht übertrieben freundschaftlich oder übertrieben eng, aber alle vier Wochen trafen wir uns einmal. INTERVIEWER: Hat Révai seinen Standpunkt in nichts revidiert? LUKÁCS: Révai revidierte gar nichts, im Gegenteil, er war bemüht, in allen Fragen seinen alten Standpunkt als allein richtige Auffassung aufrechtzuerhalten. INTERVIEWER: Als Déry aus dem Gefängnis kam… LUKÁCS: Déry hatte eigentlich seinen Glauben, daß man in Ungarn einen sozialistischen Roman schreiben könnte, nicht im Gefängnis verloren, sondern im Verlauf der von Révai inszenierten Debatte. Von dieser Zeit an kamen Dérys spätere Schriften bis hin zur Biographie zustande, die natürlich außerordentlich begabte Sachen sind, mit dem Sozialismus jedoch bereits sehr wenig oder sozusagen gar nichts zu tun haben. INTERVIEWER: Ihre persönlichen Beziehungen blieben weiterhin bestehen? LUKÁCS: Ich sympathisiere mit seiner Person und auch mit seiner Frau. Folglich haben wir Kontakt miteinander, denn eigentlich haben wir nie etwas gegeneinander unternommen. Warum also sollten wir uns nicht treffen? Obwohl ich natürlich jetzt nicht mehr aufrechterhalte, was ich Anfang der dreißiger Jahre über Dérys Sachen geschrieben habe. INTERVIEWER: Zu welchen Schriftstellern haben Sie in den letzten Jahren Beziehungen unterhalten?

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LUKÁCS: Zu Déry und Illyés habe ich auch weiterhin ein gutes freundschaftliches Verhältnis. Richtiger müßte ich eigentlich sagen: eine gute Konversationsbeziehung. Mit Illyés steht es allerdings auch so, daß er tatsächlich ein plebejischer Demokrat war, obwohl er eigentlich kein Sozialist war. Und ich habe den Eindruck, daß er jeglichen Glauben verloren hat, und folglich reichen seine neuen Schriften trotz des hohen literarischen Niveaus nicht im entferntesten an die großen Werke des jungen Illyés heran. Von den anderen Schriftstellern wäre da noch László Benjamin zu nennen, den ich in den Zeiten nach 1957 ein paarmal getroffen habe. Aber zu wem soll ich eigentlich Beziehungen pflegen? Es gibt keinen Schriftsteller, auf dessen schriftstellerischen Charakter ich viel geben würde. So einen Schriftsteller – außer den drei erwähnten, und in Benjamins Fall bezieht sich das nur auf einige seiner Gedichte –, so einen Schriftsteller gibt es nicht. Mit wem sollte ich verkehren? INTERVIEWER: Jetzt noch einige Worte über Ihre Schüler. Zu welchen Ihrer Schüler bestehen die längsten Beziehungen, und wen schätzen Sie unter Ihren Schülern am meisten? LUKÁCS: Vor allem Ágnes Heller, Ferenc Fehér und noch einige andere. INTERVIEWER: Márkus? LUKÁCS: Márkus ist kein Schüler von mir. Márkus ist zu 75 Prozent als fertiger Mensch aus Moskau zurückgekommen, und ich sage nicht, daß ich keinen Einfluß auf ihn ausgeübt hätte, aber als meinen Schüler kann man ihn nicht bezeichnen. INTERVIEWER: Vajda? LUKÁCS: Vajda ja. Vajda war eigentlich Ágnes Hellers Schüler, als die Heller an der Universität lehrte, und ich habe Vajda von ihr als Schüler übernommen… Schüler kann man eigentlich nicht sagen, weil er bereits mehr oder weniger als fertiger Mensch zu mir gekommen ist. Von Anfang an waren eigentlich nur Ágnes Heller und Ferenc Fehér meine Schüler. INTERVIEWER: Unter den Musikästheten? LUKÁCS: Unter den Musikästheten habe ich ebenfalls Schüler, zum Beispiel Dénes Zoltay. In Bence Szabolcsis Umgebung und meiner Umgebung werden sie natürlich immer Menschen finden, auf die ich als Lehrer Einfluß ausübe.

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INTERVIEWER: Da wir gerade beim Thema Musik sind: Im Gespräch machen Sie oft Unterschiede zwischen Kodály und Bartók. LUKÁCS: Ich halte Kodály für einen hervorragenden Erneuerer der alten ungarischen Musik, dessen hierher gehörenden Werke natürlich das alte, idyllische Ungarn zeigen. Die Cantata Profana dagegen ist nicht das alte idyllische Ungarn, sondern das rebellische Ungarn. Wenn ich von dem jungen Kodály absehe, den ich nicht zu beurteilen wage, da ich kein Musiker bin, so sehe ich zwischen Bartók und Kodály keine gemeinsame Entwicklung. INTERVIEWER: Bence Szabolcsi bestreitet das, nicht wahr? LUKÁCS: Bence Szabolcsi bestreitet das. In dieser Hinsicht halte ich ihn jedoch nicht für kompetent, weil ich nicht von der Musik spreche, sondern zum Beispiel davon, daß Kodály die Erneuerung der alten ungarischen Musik für notwendig hält. Für Bartók ist die ungarische Musik nicht vornehmer und nicht bäuerlicher als die ägyptische Musik und so weiter. Für Bartók, wenn man das so sagen darf, ist die Erneuerung der bäuerlichen Welt in dem Sinn wichtig, wie Lenin einmal von Tolstoi gesagt hat, daß es vor diesem Grafen noch nie einen Bauern in der russischen Literatur gegeben habe. In diesem Sinne ist auch in der Musik noch kein Bauer vorgekommen, und das ist das Wesentliche an Bartók. Und nicht, daß er ein ungarischer Bauer oder ein rumänischer Bauer oder weiß ich was, sondern daß er Bauer ist. Er ist jener Hirsch, der nicht zu den Menschen zurückkehren will. Hier besteht meines Erachtens ein gewaltiger Unterschied zwischen Bartók und Kodály, und ich bin nicht bereit, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es ist wahr, auch um Kodály hat sich ein Mythos gebildet, ein nicht unberechtigter Mythos, weil bei ihm zweifellos das Verhältnis des alten, des vorkulturellen Ungartums zu den Bauern zum Ausdruck kommt. Ich bezweifle das absolut nicht. Ich bezweifle nur, daß bei Kodály die internationalen und revolutionären Bezüge dieses Verhältnisses vorhanden wären. Seine Bauern sind nicht die Bauern der Cantata Profana, nicht die Hirsche, die nicht zurückkehren wollen, sondern sie sind Bauern, die schön tanzen und alle mögliche uralte traditionelle Musikalität vertreten, ohne auch nur ein einziges Wort gegen das alte Ungarn zu sagen. Ebenso, wie man in der Literatur die Linie Csokonay-Petöfi-Ady-Attila Jószef nicht von den anderen Linien trennt, genau so macht man auch in der Musik keinen Unterschied. Es wird von Bartók und Kodály gesprochen. Und das ist ebenso, als würde ich sagen: »Ady und Babits.« Ich zweifle nicht daran, daß Babits ein wahrer Dichter gewesen ist, wenn aber Babits am Ende des Ersten Weltkriegs sagt: »Fragen wir nicht, wer schuldig ist, laßt uns Blumen pflanzen!« und so weiter, dann würde er sich um des Friedens willen sogar mit István Tisza versöhnen wollen. Endre Ady dagegen wollte sich nie

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mit Tisza versöhnen. Der Unterschied zwischen Bartók und Kodály ist genauso tiefgreifend wie zwischen Ady und Babits. INTERVIEWER: Würden Sie abschließend ein paar Worte zu Ihrem letzten Werk, zur Ontologie, sagen? LUKÁCS: Nach Marx stelle ich mir die Ontotogie als die eigentliche Philosophie vor, die auf der Geschichte basiert. Nun ist es aber historisch nicht zweifelhaft, daß das anorganische Sein zuerst ist, und daraus – wie, das wissen wir nicht, aber wann, das wissen wir ungefähr – geht das organische Sein hervor, und zwar in dessen pflanzlichen und tierischen Formen. Und aus diesem biologischen Zustand geht dann später durch außerordentlich viele Übergänge das hervor, was wir als menschliches gesellschaftliches Sein bezeichnen, dessen Wesen die teleologische Setzung der Menschen ist, das heißt die Arbeit. Das ist die entscheidendste neue Kategorie, weil sie alles in sich faßt. Vergessen Sie nicht, daß wir auch in allen möglichen Wertkategorien sprechen, wenn wir vom menschlichen Leben sprechen. Welches ist der erste Wert? Das erste Produkt? Entweder entspricht ein Steinschlägel seinem Zweck, oder er entspricht seinem Zweck nicht. In dem einen Fall wird er wertvoll sein, in dem anderen Fall wird er wertlos sein. Wert und Wertlosigkeit kommen auch in der biologischen Existenz noch nicht vor, denn eigentlich ist der Tod ein ebensolcher Prozeß wie das Leben. Zwischen ihnen gibt es keinen Wertunterschied. Der zweite grundlegende Unterschied ist das »Sollen«, das wir ungarisch mit »Legyen!« bezeichnen, das heißt, die Dinge verändern sich nicht von selbst, nicht durch spontane Prozesse, sondern infolge bewußter Setzungen. Die bewußte Setzung bedeutet, daß der Zweck dem Ergebnis vorausgeht. Das ist die Grundlage der gesamten menschlichen Gesellschaft. Jener Gegensatz, der sich zwischen Wert und Nicht-Wert, zwischen Zustandegebrachthaben und Zustandegekommensein spannt, macht eigentlich das ganze menschliche Leben aus. INTERVIEWER: Inwiefern hat Marx selbst diese Theorie ausgearbeitet? LUKÁCS: Marx hat vor allem ausgearbeitet, und das halte ich für den wichtigsten Teil der Marxschen Theorie, daß es die grundlegende Kategorie des gesellschaftlichen Seins ist, und das steht für jedes Sein, daß es geschichtlich ist. In den Pariser Manuskripten sagt Marx, daß es nur eine einzige Wissenschaft gibt, nämlich die Geschichte, und er fügt sogar noch hinzu: »Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.« Das heißt, eine Sache, die keine kategorialen Eigenschaften besitzt, kann nicht existieren. Existenz bedeutet also, daß etwas in einer Gegenständlichkeit von bestimmter Form existiert, das heißt, die Gegenständlichkeit von bestimmter Form macht jene Kategorie aus, zu der das betreffende Wesen gehört. Hier trennt sich die Ontologie

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scharf von der alten Philosophie. Die alte Philosophie skizzierte nämlich ein Kategoriensystem, innerhalb dessen auch die historischen Kategorien vorkamen. Im Kategoriensystem des Marxismus ist jedes Ding primär ein mit einer Qualität, einer Dinglichkeit und einem kategorialen Sein ausgestattetes Etwas. Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen. Und innerhalb dieses Etwas nun ist die Geschichte die Geschichte der Veränderung der Kategorien. Die Kategorien sind also Bestandteile der objektiven Wirklichkeit. Es kann absolut nichts existieren, was nicht in irgendeiner Form Kategorie wäre. In dieser Hinsicht trennt sich der Marxismus unwahrscheinlich scharf von den vorhergehenden Weltanschauungen: Im Marxismus macht das kategoriale Sein des Dinges das Sein des Dinges aus, während in den alten Philosophien das kategoriale Sein die grundlegende Kategorie war, innerhalb derer sich die Kategorien der Wirklichkeit herausbildeten. Es ist nicht so, daß sich die Geschichte innerhalb des Kategoriensystems abspielt, sondern es ist so, daß die Geschichte die Veränderung des Kategoriensystems ist. Die Kategorien sind also Seinsformen. Sofern sie natürlich zu Ideenformen werden, sind sie Widerspiegelungsformen, primär jedoch Seinsformen. Auf solche Weise kommen ganz andere Kategoriengruppen und Kategorieninhalte zustande. Nehmen wir das historisch berühmte Beispiel, wie Leibniz den Prinzessinnen erklärt hat, daß es keine zwei gleichförmigen Baumblätter gebe. Er hätte ihnen auch erklären können, daß es keine zwei gleichförmigen Kieselsteine gebe. Die Einzigartigkeit der Gegenstände ist von ihrem Sein untrennbar und kann auf nichts zurückgeführt werden. Das heißt, ich würde sagen, daß das Kategoriensystem vom Aspekt der Einzigartigkeit jene Entwicklung zeigt, in deren Verlauf sich die Kategorie der Einzigartigkeit aus der Einzigartigkeit des Kieselsteins als Ergebnis einer außerordentlich langen Entwicklung bis hin zur Einzigartigkeit des Menschen entwickelt.

Gelebtes Denken [1970 – 1971]

Jede Selbstbiographie: subjektiv, nicht aus gesellschaftlicher Entwicklung menschliche – sondern im Rahmen einer gegebenen Entwicklung wie Mensch zu sich kommt oder sich verfehlt. Objektivität: richtige Zeitlichkeit. Gedächtnis: Tendenz zum Vorverlegen. Durch Tatsachen kontrollieren. Jugend: Benedek; 1914 Simmels Briefe an Marianne Weber. Aber nur Tatsächlichkeit in Korrektur. Ausschalten a) bürgerliche [?] Darstellung. Beispiel Zitta 101. b) Parteigeschichte. Trotzky (auch bei mir). Daß dabei Ignorieren Möglichkeit bona fide: Victor Serge 213; Gedächtnis (später geschrieben). Widerspruch zu Praxis (Zeit, auch später). V. S. a) Datum (213) stimmt nicht (nicht 28/9 – nicht in Rußland gewesen). Aber auch Wien [betreffend]: b) Große unveröffentlichte Bücher (212). Dazu »Autor von ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹«: einziges Buch dieser Zeit, veröffentlicht 1923 (211), c) Landler 213/4, Kreml. V. S’s Generaltendenz: Späteres schon früher – Solche Kontrolle überall wo möglich. In diesem Rahmen innere und in Praxis geäußerte Entwicklung, so wie sie subjektiv war. Absicht: meine Entwicklung unmittelbar darstellen. Das Objektive: worauf, wie reagiert. Aufgabe: werde, der Du bist, richtig darstellen. Die Charakteristik des Menschen von hieraus Hoffnung: damit auch Objektives darstellen – ohne Prätention einer umfassenden, historischen Charakteristik. Richtig, wenn Treffen bestimmter wesentlicher Züge. Nicht mein Leben im unmittelbaren Sinn. Nur, wie (menschlich wie) aus Leben diese Denkrichtung, diese Denkweise (dieses Verhalten) zum Leben entstanden. Heute, nachträglich: nicht Individualität als Ausgangspunkt oder Endziel. Sondern: wie persönliche Eigenschaften, Neigungen, Tendenzen bei – den Umständen gemäß – maximaler Entfaltung, gesellschaftlich typisch, in meiner heutigen [Denkweise] gattungsmäßig geworden, in Gattungsmäßigkeit sich zu münden versucht haben. Kein Dichter. Nur Philosoph. Abstraktionen. Auch Gedächtnis darauf so gerichtet. Gefahr: Spontanes zu früh verallgemeinern. Aber Dichter: Erinnerung an konkrete Gefühle, vor allem Situationen ihrer Äußerung. Schon damit: im zeitlichen Ablauf an richtige Stelle. Vor allem: Kindheit. Da aber dort dauernd wichtige Tendenz – in Kauf nehmen. Autobiographie: Prätention hier konkret: Berichtigung bestimmter Einstellungen zum gesellschaftlichen Leben. Aktualität, Manipulation: partikulare Person als Zentralfrage. Apparat bildet dies aus (Gauloise-Zigarette – geht bis zur Frage des künstlichen Aufputschens). Kampf dagegen: in Objektivationen schon bisher: sowohl ästhetisch wie allgemein philosophisch.

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Hier leben: über 80 – subjektiv Interesse für Wirklichkeit erhalten – in Zeit, wo sehr oft Kontakt zu früher Jugend verloren geht. Langes – und nicht verleugnbar noch immer arbeitsames – Leben – Recht zum Versuch der Rechtfertigung dieser Einstellung. Damit Zusammenhang mit Kampf um M-ismus. Individualität und Problem der Gattungsmäßigkeit. Hier gerade Zusammenstoß von Partikularität und praktisch verwirklichter Gattungsmäßigkeit. (Also: Gegensatz niemals ins Transzendente übergehend / Stellung zu allem Religiösen negativ: reine irdische Diesseitigkeit in Überwindung von Partikularität/.) Auch in dieser Hinsicht – worin praktische Stellungnahme zu den geistigen Tendenzen der Zeit mit enthalten sind – Ergänzung und Kommentar zu dem, was eventuell schriftstellerisch bis jetzt geleistet wurde. Subjektivität der Selbstbiographie als Ergänzung und Kommentar der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit. In dieser Hinsicht Subjektivität unüberwindbar. (Freilich nur für Darstellung. / Letzten Endes: Geschichte. Urteil inappellable, d.h. von Weiterverlauf der Geschichte selbst appellable.) Solchen Urteilen unterwirft sich auch – überzeugt – diese Darstellungsweise.

I. Kindheit und Schule Aus rein jüdischer Familie. Gerade darum: Ideologien des Judentums gar keinen Einfluß auf geistige Entwicklung. Vater: Konsul in Budapest. Auch sonst: episodisch als Protokoll Leben d. Kindheit beeinflußt: gesellschaftliche Teilnahme an Heirat, Begräbnis, etc. von Bekannten: Teilnahme an Zeremonien. Da selbst auf das Erlernen des Hebräischen kein Gewicht gelegt, für Kind diese ohne jeden Inhalt, rein »protokollarisch« (Hut in der Kirche, verlernt, daß dort gesprochene oder gesungene Texte überhaupt einen Sinn haben können). Damit Einordnen der Religion in normales gesellschaftliches Leben: ob man einen (unbekannten) Gast respektvoll begrüßen, auf seine – für das Kind zumeist völlig sinnlose – Fragen und Erklärungen höflich (scheinbar interessiert) antworten mußte: gleich. Das normal-kindliche Leben von diesem System formal sinnloser Reaktionsverpflichtungen eingebaut: charakteristisch schon für erste Kindheitsjahre. Spontane Revolte. Keine direkte Erinnerung. Schon nach Angabe (circa 5/6 Jahre) mütterliches Zitat (wie »schlimm« ich früher war): »fremde Gäste grüß’ ich nicht, ich hab’ sie nicht gerufen«. Widerstand vorher – aber Unterwerfung mit Bewußtsein: es geht mich nicht an; wenn ich will, daß die Erwachsenen mich in Ruhe lassen: Unterwerfung, mit dem Gefühl: die ganze Sache hat keinen Sinn; ob und eventuell wie damals / selbst formuliert: keine Ahnung. Nur sicher: kein wildrevoltierendes Kind, keine spontan-blinde Auflehnung gegen jede Ordnung, gegen jeden Gehorsam. Geschichte mit Kinderfrau: noch bis heute Erinnerung, auch die des Befolgens: Ord-

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nung in Spielzeug, später: Bücher, Hefte. Vernunft eingesehen; keine Revolte. Auch bei »Sinnlosigkeit« keine Auflehnung mehr; nur deutliches Bewußtsein: man muß sich unterwerfen, obwohl die Sache selbst keinen Sinn (formell, wenn auch inzwischen Formulierung vergessen). Erinnerung: Paris – London – Galeriebesuche. Ich: Forderung des Tiergartens. Das Versailler Schlachtbild. Also deutliche Entgegensetzung: was mich angeht, fördert – was rein formelle Unterwerfung den Dummheiten der Erwachsenen, das »Protokoll«. (Guerillakampf mit Mutter: Dunkelkammer circa 8 Jahre. Vater: Befreiung ohne Sichentschuldigen / Protokoll kontra Protokoll /.) All dies: sehr schlechtes Verhältnis zur Mutter. Klug und – was man damals gebildet nannte im Sinne unseres Verkehrs (spätere Beobachtung), ohne jedes Interesse dafür, wie Dinge wirklich, wie Bedürfnisse echt sind. Also vollkommen konventionell, und da sie das, was ich hier Protokoll nenne, gescheit, ja zuweilen geistvoll erfüllen konnte, war sie in eigenen Kreisen angesehen. Auch mein Vater (als Selfmademan) verehrte sie sehr; ihn schätzte ich (Arbeit und Verstand) als Kind ziemlich, war aber über diese seine Schätzung meiner Mutter empört, habe ihn deswegen zuweilen verachtet (Blindheit). Das wirklich gute Verhältnis stellte [sich] erst ein, als – im Einzelnen vielleicht nicht immer ohne meine Mitwirkung – er zu meiner Mutter kritischer zu stehen begann. (Das ist aber eine viel spätere Zeit.) In Kindheit beherrschte meine Mutter Atmosphäre und Ideologie unseres Hauses. / Dazu gehört – fast als Mittelpunkt –, meinen Bruder als ein sehr vielversprechendes Kind anzusehen, neben wem ich vollständig im Hintergrund. Hier wieder Einteilung in Wirklichkeit und Protokoll wichtig. Denn mich hat diese Bewertung nie berührt: alle Tatsachen widersprachen: Lesenlernen. Das Lesenlernen: Ausweiten der Wirklichkeit über das Kinderzimmer hinaus. Aber hier: von Anfang an: Kritik auf Grundlage der Protokollauffassung. Vor allem Schriften über Kindheit. Große Skepsis bezüglich »Cuore«. Hier fand ich sehr viel Protokoll (Schule!), aber auch die historischen Erzählungen (etwa Helden der Türkenkriege); gerade im Heldentum viel bloß Protokollarisches. Die Tapferkeit der Helden der Türkenkriege erinnerte an die geistige Überlegenheit der »Tanten« und »Onkeln« im Leben. Aber gerade hier: Ausbreitung und Vertiefung. Mit 9 Jahren: kleine Prosaliteratur (Hektor und Achilles, die letzten Mohikaner). Beides gegen Weltanschauung zuhause (auch Vater): Erfolg, Kriterium des Richtigen. Besonders Cooper: der Besiegte hat recht, ist der Echte den bloß protokollarischen Siegern gegenüber. Dies – l bis 112 Jahre später – gesteigert: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Wichtige Ausbreitung: das echt Wirkliche kein allgemeines Schema, sondern individuell: eigene Wege zum Wirklichen. Höchste Steigerung – damals englisch gelernt – »Tales of Shakespeare«: unermeßlicher, von mir aus unübersehbarer Reichtum der echten Wirklichkeit und seiner Anerkennung. Shakespeare selbst viel früher gelesen als Fähigkeit zur Annäherung zum wirklichen Verständnis; spätere bessere Lektüre – keine Widerlegung, sondern Weiterführung in der Richtung des wirklichen Verständnisses.

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Naturgemäß: all dies schwebte in Luft (Wirklichkeit zuhause – und Mohikaner), Annäherung an wirkliche Kritik des Bestehenden, verknüpft mit Perspektive des eigenen richtigen Handelns – später. Ab und zu Lektüre von Klassikern. Nicht / ohne Eindruck (nur: Anti-Schiller), aber keine echte Verbindung. Am ehesten: schwache Novelle Auerbachs über Spinoza: hier Gegenstand: Entscheidung gegen Konvention zu selbsterfaßbarer Wirklichkeit; gegen Religion, Steigerung dieser Wirkung. Vorausgeeilt: mit nicht ganz 9: Schule. Erleichterung: nicht den ganzen Tag zuhause; zusammen mit Altersgenossen, von denen ich sicher annahm, sie wären aus besserer Materie als mein Bruder und jene Jungen, mit denen ich damals gesellschaftlich zusammenkam. Hoffnung – trotz Lektüreskepsis – auf Arme. Dies bewährte sich. Obwohl in Schule (Enttäuschung in Armen) kaum eine auch nur etwas tiefere Freundschaft. Denn auch sie vielfach Protokoll – teilweise vorausgesehen, aber – das richtig geahnt – lockerer, mit mehr Spielraum als die Heimat. Vorausgesehen; erfüllt. Ohne Furcht: Erfahrung des leichten Lernens; dies damals als allgemein. Selbst wo ich ganz unbegabt war und geblieben bin (etwa Mathematik), bewährte sich das bis ans Ende des Gymnasiums. War also, ohne jede Anstrengung, stets Vorzugsschüler. Die Schule besetzte den Vormittag, aber die Lektionen für den nächsten Tag kaum eine Stunde des Nachmittags. Ich konnte also am Nachmittag ruhig für mich lesen, Radfahrausflüge machen, Schlittschuhlaufen etc. Nach etwa einer Stunde Lernens war ich frei. Dies Zunahme der Freiheit zuhause, besonders seit den ersten guten Zeugnissen. Freilich die häusliche »Ideologie« blieb doch unerschüttert. Meine Mutter engagierte Hauslehrer – für mich, da ihrer Ansicht nach mein Bruder keine Hilfe brauchte; als nach einigen Wochen die Umkehrung stattfand und mein Bruder bis zum Abend mit dem Hauslehrer büffelte, stets mit Mühe dem entging, die Klasse wiederholen zu müssen, entstand die Legende von seiner Faulheit und meinem Fleiß. Die Tatsachen waren drastisch genug, um die Verlogenheit dieser Legende immer neu zu dementieren und unwirksam zu machen. Aber für mich: auch Schule als Protokoll. Spontan: bin sogenannter guter Schüler geworden. Gesellschaftliche Problematik: Streber – verachtet sein. Langsame Lösung: praktische Solidarität mit den mittelmäßigen und schlechten / Schülern. Allmähliche Ausbildung im Laufe der Schuljahre. Zuletzt: hatte in Augen der Lehrer die Vorteile der Guten (schlechte Antwort als »Zufall« betrachtet) ohne als »Streber« der täglichen Gemeinschaft fernzustehen. Kleine Opfer: z. B. später Form des Übersetzens – sogar Arbeitsersparen. Alles in allem: Gymnasium-Zeit zwischen Kindheit und bereits auf Produktion eingestellte Jugend eher bloß ausgefüllt als wesentlich und konkret gefördert. Weg dazu: aus kindlicher Protokollablehnung zu sich konkretisierender Kritik der Gesellschaft langsam, wenig bewußt, voll großer Pausen. Erst um das 15te Jahr: Wendung. Finden Nordaus »Entartung« in Vaters Bibliothek. Hier mußte »nur« Umkehrung von 180 Grad stattfinden um zu entdecken: Baudelaire, Verlaine, Swinburne,

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Zola, Ibsen, Tolstoi als wegweisende Gestalten. Kritik: Protokoll = Konvention, damit notwendiges Element gegenwärtiger (zu bekämpfender) Gesellschaftlichkeit. Selbstverteidigung der Kindesharmonie kann durch solche Erlebnisse, durch ein derartiges – wenn auch anfänglich höchst abstraktes – Begreifen des Wesens der sozialen Umwelt zum Leitfaden der gesellschaftlichen Praxis, zur Richtschnur des Sichfindens des Menschen in diesem Prozeß erwachsen. Diesen radikalen Umwandlungsprozeß [hat] – wenn auch anfangs sehr abstrakt und erfüllt von falschen Tendenzen – diese Lektüre ausgelöst. Sicher kein Zufall, daß jetzt: erste Freundschaften, die diesen Namen verdienen. Mit der wichtigsten (Leo Popper) später, denn ihre Bedeutung ist breiter und tiefer als dieser allererste Übergang zu meiner ansetzenden eigentlichen Produktivität. In dieser ersten Übergangsetappe a/ ein Schulkollege (M[arcell] H(ammerschlag]), aus Musikerfamilie, der damals etwas ähnlichen Übergang [erlebte]. Auseinandersetzung mit der Problematik R. Wagner. b/ breiter und dauernder: M[arcell] B[enedek] (Vater: nicht als Schriftsteller – und [doch] als Muster unbrechbarer subjektiver Anständigkeitsmoral). Mit Hilfe dieser Freundschaft: Übergang der »bewußt« gewordenen Opposition in Produktion. Unser Bündnis: das junger, anfangender Schriftsteller. (Meine Verehrung seiner stilistischen [Vers-]Technik, bei gleichzeitigem Gefühl: an Konfliktsinn überlegen zu sein.) (Dieser Unterton spielte kaum eine Rolle; von »Konkurrenz« keine Rede; Schranke: »die Sache« selbst.) Anfang doppelt: Kritik – schon öffentlich: Nicht ohne Erfolg. Bródy. Unausgenützt: Dogmatismus (Mereschkowsky). Wichtiger – nach Abitur – Thalia. Erste »Bewegung«, erster »Führer« (Pethes).

2) [II.] Literarische Anfänge Thalia führt hinaus über halbkindliche Anfänge. Nicht unser Verdienst: zur Initiative Regisseur Hevesi und Schauspieler: reale Wirkung in Klärung von Theaterfragen, als Ansatz einer – nie verwirklichten – Umwälzung. Nur deren Konturen hervorgetreten. Für mich – wiederholen! – erste Teilnahme an einer Bewegung. Bedenken dennoch permanent. Aber auch bei größter Entfaltung des Schriftstellertums nie wieder Erfüllung, solange Rahmen bürgerlich geblieben. Zwei wichtige Konkretisierungen meines Weges in die Literatur. a) mit Benedek, noch vor »Thalia«, Bánóczi (Charakteristik; späterer Weg), Hintergrund (L. Popper). Einsicht, daß keine echte schriftstellerische Begabung. Nicht lange nach Gymnasium: alle Manuskripte vernichtet. Daraus spontaner Maßstab: wo fängt wirkliche Literatur an? b) Illusion zusammenbrechen punkto Theater. Gerade Thaliapraxis demonstriert; keine Begabung zum Regisseur. Besondere Form der Transposition hier - und Kritik u. Theorie. Ähnliche Klärung wie a). Damit Vorbereitung zu Kritiker, Theoretiker, Historiker der Literatur: größerer Impuls. / Kenntnisse immer mehr:

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Georg Lukács Autobiographische Texte

Deutschland. (Von Radikalen propagierter französischenglischer Positivismus ohne wesentliche Wirkung.) Deutschland: Enttäuschung an Lit[eratur]geschichte, schon kurze Besuche an Berliner Universität (von Erich Schmidt abwärts: Lottes Augen – Wissenschaft des Nichtwissenswerten). Dagegen: Dilthey, Simmel – einzelne Kritiken schreibende Schriftsteller: Paul Ernst. Gleichzeitig auch Marx. Von Simmel oberflächlich bestätigt – wesentlich verzerrt. Trotz allem: theoretische Analyse der Literatur nie ganz Boden der Gesellschaft verlassen. Soc[ial]dem[okrat]ische Theorie: negativ – selbst weitgehend zu Mehring. Starker Einfluß: Lessing, Briefwechsel Schiller-Goethe, Athenäumromantik. Lektüre: Schopenhauer u. Nietzsche. In Hintergrund gedrängt via Kierkegaard (bekannt via Kassner – der selbst Einfluß in dieser Richtung). So: erster Versuch zu Lit[eratur-]-Theorie auf Basis einer – als grundlegend statuierten – Gesellschaftlichkeit (Einfluß von M[arx] sichtbar), aber konkrete Kategorien basieren weitgehend auf konservativer Lit[eratur]geschichte und ästh[etisch]er Theorie. Bei alledem: diese Entwicklung: doch Fortsetzung von Früherem. Bei allen neuen Methoden der gedanklichen Bewältigung – doch Kontinuität: Haß gegen Überbleibsel des ungarischen Feudalismus, gegen jenen Kapitalismus, der auf dieser Basis sich entfaltet. (1906. Ady »Neue Gedichte«.) Für mich mächtiger Ruck: Principien dessen, was wirklich als »neu« aufgefaßt werden soll. Damit Formrevolution: Mittel, dies zum Ausdruck zu bringen. In deutscher Literatur weit weniger deutlich. Aber a) dämmert, daß Höhe der deutschen Klassik mit franz. Rev. u. Napoleon zusammenhängt, b) daß Gegenwart ein Zustand elender Kompromisse in allen wichtigen MenschenFragen ist. Von hier aus: Bewunderung für Radikalität skandinavischer und russischer Literatur (Anfänge der Wirkung Tolstois). Das innerliche Treubleiben zum Menschenideal (Peer Gynt und Peter Martensgärd). Gegen – wenn auch radikal – »oberflächlichen« Positivismus und »innerliche« Revolution (auch wenn äußere Form nicht revolutionär). Diese Tendenzen bloß anfänglich. Ohne Teilnahme in ungarischer Lit.Bewegung, ohne bedingungslose Bejahung von Adys Revolution: unbedingt Sackgasse. Diese Doppeltheit in »Thalia«, die Freundschaft mit B. Balázs (ab 1908). Vorerst vielleicht widerspruchsvoll verwirrte Motive, aber alle mit innerer Tendenz: Suchen von neuer Revolutionsform (später Tolstoi und Dostojewski). Wenige Studien in Übergangszeit – so: Zusammenfassung: Dramabuch, geschrieben 1906-7, vollendet Januar 1907. Bei Versuch einer Zusammenfassung: Marx-Tendenz stark im Vordergrund. Sociologische Theorie: Drama als Produkt von Klassenniedergang (Vergangenheit – besonders Renaissance – viel schematische Abstraktion; Griechenland – Polis, obwohl ohne eindringende specifische Forschung etc.). Bürgerlichkeit: Synthese der Problematik aus Kindheit und Jugend: sinnvolles Leben in Kapitalismus unmöglich; Streben danach: Tragödie und Tragikomödie, letztere spielt in Analysen große Rolle; hat zur Folge, daß modernes Drama nicht nur Produkt von Krise, sondern in allen Elementen u. Zusammenhängen auch unmittelbar-künstlerisch: wachsende Problematik.

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Bei einer Konkurrenz der K[isfalud]y Gesellschaft eingereicht. Erhielt Preis 1908 Februar. / Bei tiefer Verachtung der führenden Männer – auf Preis nicht gerechnet; wollte – à la Schopenhauer – als nicht prämiiert herausgeben. Sieg unter schmeichelhaften Bedingungen: darauf kurze Verzweiflungskrise (Retter L. Popper). Aufnahme: achtungsvolle Lauheit (einzige Ausnahme Kritik von Feleky). Trotzdem: Auswirkung auf literarische Position günstig; vor allem zuhause: mein Vater – damalige Entwicklung kurz skizzieren – wird mein Maecen. Klugheit und Kulturbedürfnis (Jugendwunsch für Laufbahn), aber ganz atheoretisch: Aufforderung Abgeordneter in Tisza Partei. Ausgelacht. Nicht beleidigt. Setzt Maecenentum fort – Erfolge freilich nötig – aber Anerkennung bedeutender Männer genügt (Max Weber, Th. Mann). Hält sogar über Diktatur. Sonst zuhause absolute Entfremdung. Vor allem Mutter; fast kein Verkehr, Bruder überhaupt nicht (Tod). Brief während letzter Krankheit. Nur Vater und – Peripherie – Schwester. Wichtiger: Zusammen mit Preis: Periode der Essays beginnt. Bedürfnis: Vielseitigkeit der Phänomene (mit abstrakten Theorien nicht erfaßbar). Gefühl für Simultaneität von Allseitigkeit des einzelnen Phänomens bei nicht mechanischen Verknüpfungen mit den allgemeinen großen Substanzen (Totalitäten). Um dies erfassen: Romantik, Kierkegaard, Meister Eckart, orientalische Philosophie. Zumeist willkürlich nur das gerade Passende ausgewählt (Kierkegaard Ausnahme). Bei alledem: allgemeine Linie (bis zu Marx) nicht aufgegeben. Illusion hier neuartige Synthese zu treffen (wieder: Kierkegaard). So »Seele und Formen« in dieser Periode entstanden. Erster Essay (Novalis) fast gleichzeitig mit Preis (Dramabuch). Essayzeit also nicht Annäherung an herrschenden (freilich vielfach positivistisch orientierten) Impressionismus, ja Zuspitzung, weil hier letzthinnige Objektivität (Gesetze viel schärfer betont). Bedeutung von Cézanne, parallel mit altitalienischer Malerei (Giotto). Rede bei der ersten Ausstellung eines solchen, bereits an Matisse orientierten ungarischen Maler[s]: direkt gegen Impressionismus (d. h. modernen Subjektivismus). So: Tendenz zur Absolutheit der großen Kunst (Ablehnung eines jeden »historisch« orientierten Konservativismus). Kierkegaard-Periode: nicht ohne Regine Olsen. Irma Seidler, deren Andenken »Seele und Formen« gewidmet. Wie bei Modell – spontan, sicher nicht bewußt beabsichtigt: Rahmen der streng bürgerlichen Konventionen (Bruch: Outcast. Fall Zalai. Höchstens: früh geschiedene junge Frauen – wenn kein Kind aus Verhältnis – geduldet). So wäre in diesem Fall nur Heirat Möglichkeit sexuell-erotischer Lösung. Dagegen bei mir – Unabhängigkeit zu Produktion, absolute, gerade darum stumme Ablehnung. So »große Liebe« im engsten Rahmen des herrschenden gesellschaftlichen »Anstands« abgespielt. Für meine damalige Lebenseinstellung: Ausbildung einer »essayistischen« Lebensführung; für sie: berechtigtes Ungenügen an der Halbseidig[keit] der Lösung.

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Darum (Ende 1908) Ehe – später als schlecht erwiesen – mit Malerkollegen. Bruch – wichtiges Motiv in dieser Essayzeit – zeigt Einheit von einer aufs Einzelne gerichteten Auflösung jeder mechanischen Systematik mit der Perspektive eines neuen Dogmatismus. Dies in ersten Essays nur imman[en]t enthalten. Nach ihrem Selbstmord (1911) (unglückliche Ehe, Scheitern im Versuch neues Liebesleben – nicht mit mir – aufzubauen) Abschluß der Essayzeit (1911). Dialog »Armut am Geiste«: Versuch einer ethischen Abrechnung mit meiner Mitschuld am Selbstmord. Hintergrund: Differenzierung der Möglichkeiten ethischer Stellungnahme als geistige Erneuerung des Kastenwesens. Hier Sackgasse deutlich sichtbar.

III. Ausblicke auf Philosophie So – nicht zufällig – solcher Abschluß der Essayperiode. Darin freilich höchst wichtige Rolle von E. Bloch. Widerspruch: Entscheidend – und doch ohne konkretisierbaren Einfluß. Die Begegnung in Budapest. Korrektur des Mißerfolges im ersten Gespräch. Gute Beziehung. Mein Erlebnis: eine Philosophie im klassischen (und nicht im heutigen epigonalen Universitäts-) Stil durch B’s Persönlichkeit für bewiesen und damit auch für mich als Lebensweg eröffnet. Zugleich aber: letzter Inhalt und Aufbau ohne jede beeinflussende Wirkung. Einige Jahre nach Begegnung von B. selbst bestätigt. (»Spuren«, [S.] 246). Hier bereits: Ablehnung jeder – menschenähnlichen –/ Vollendung (auch Problems) in der vermenschlichten Naturwirklichkeit. Hier bereits Programm von »G. u. K.« ausgesprochen. Freilich dies noch lange nicht echter Historismus von M[arx] (»Zurückweichen der Naturschranke« als Entwicklungsprinzip). Bei Bl. damals Naturphilosophie im Zentrum. Das zur natürlichen Folge: bei aller Faszination – hier immer bestimmte Abgrenzung beiderseits. Und die ist – in verschiedener Weise – immer geblieben. Zweifel aber, ob ohne (:ihn:) Bloch’s (:Wirkung:) Impuls ich Weg zur Phil. gefunden hätte. (:Aber im wes[en]tlichen:) Sicher durch seinen Anstoß entstanden Phil[osoph]ie, keinerlei direkter oder konkreter Einfluß. Achtung – gerade phil-[osoph]isch – stark distanziert. Für Charakter, Persönlichkeit – ohne Schranke (Bl. in St[alin]-Zeit, heute). Gerade wo bei Adorno: Phil[osoph]ie der Kompromisse – bei Bl. der alte, klassische Typus. Erster Eindruck: richtig. Äußerlich zeigt sich: Wendung von Essay zur Ästhetik. (Im Winter 1911/2 in Florenz: erster Entwurf.) Merkwürdig, daß sie [die] sehr langsame, an Widersprüchen und – oft – an Rückfällen reiche Entwicklung, die bei mir ein Verdrängen der logischen und erkenntnistheoretischen Erwägung zur ontologischen noch völlig unbewußt sofort einsetzt. Variation zu Kant: »Es gibt Kunstwerke – wie sind [sie] möglich?« Anstelle von Urteilsform dies Ansatz zu Ontologie. (Freilich scheint mir, daß – wie primitiv u. verzerrt [auch] – diese Tendenz schon Fundament der Essayperiode.)

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Mit solchen Plänen zusammen mit Bl. nach Heidelberg. Daß – unter seinem Einfluß – aus ontologischer Begründung des Ästhetischen ihre metaphysische Kritik wurde (Prinzip damals des Luciferischen), ist für diese Übergangszeit charakteristisch: erst die Rückkehr zu M[arx], die Ausbildung eines historischen Weltbildes in seinem Sinn hat die Aufbewahrung der richtigen Tendenzen in dieser phantastisch falschen [Annäherungsweise] den richtig intentionierten Kern (die konkrete Eigenart des Ästhetischen im gesellsch-en Sein) auffinden lassen. Erst nach Überwindung von »G. u. K.« / taucht Umwandlung konkret auf: die eigene Ästhetik des M[arxism]us (Gegensatz zu Plechanow und Mehring). Also: Richtigstellung historischer Rolle des M-us möglich geworden. (Spätere Etappe meiner marxistischen Entwicklung.) Davon damals noch weit entfernt. Damalige Konzeption noch rein ideologisch. Freilich da[ß] dabei das konsequente Bekämpfen der Überreste der feudalen Ideologie (Lenin: preußischer Weg) eben infolge der Entwicklung der heimatlich-ungarischen Entwicklung den Ausgangspunkt bildete und die russische Literatur (vor allem Tolstoi und Dostojewski) immer als wegweisendste Richtung erschien. Auf dieser Grundlage war es aber unmöglich, zu einer fundiert einheitlichen philosophischen Auffassung zu gelangen. Einerseits (es gibt Kunstwerke) – Immanenz, immanente, mit fremden Maßstäben nicht erfaßbare Beschaffenheit der Kunst als Grundlage; scharfe Abgrenzung a) von bloßem Dasein, bloßer subjektiver »Erlebtheit« – gegen modernen Subjektivismus und Naturalismus, Naturalismus nicht Vorstufe, Vorbereitung des künstlerischen Realismus – sondern der Gegensatz; b) Ablehnung jeder »Metaphysierung« der Kunst – etwa Schopenhauer. Kierkegaard: Ablehnung der Kunst als Lebensprinzip im Namen einer sich allmählich, sehr widerspruchsvoll konstituierenden Ethik. Gegen »Lebenskunst« (schon Essays). Jetzt das »Luciferische« einer solchen »Weltsetzung« im Namen der ethisierenden Revolution, die zu wirklicher »Erlösung« (metaphysische erste Formulierung des Menschwerdens des Menschen) führen soll. Alldies, bei einigen, teils richtigen Feststellungen (homogenes Medium der Qualität in Kunst – L. Poppers Gedanken weitergeführt), absolute Immanenz, / innere Komplettheit eines jeden Kunstwerks. Einordnen in höhere Zusammenhänge (Genretheorie) methodologisch verschieden und unabhängig von gedanklichen Abstraktionen (Gattungsmäßigkeit in Wissenschaften). Während Gattung – erkenntnistheoretisch – stabil, der Exemplar eingeordnet wird, ist Erscheinung in Kunst (episch, dramatisch etc.) eine Allgemeinheit, deren Bestimmungen in jeder echten Verwirklichung modifiziert werden – ohne damit ihre allgemeine Geltung verlieren zu müssen (Shakespeare und Griechen bis Lessing). Soweit hier neue, der Materie angemessene Verallgemeinerungsformen gesucht, bestimmte Fruchtbarkeit – ohne über Gedankenwelt der Essays radikal hinauszugehen. Wirklich verallgemeinert zu völlig falschen Prinzipien (eben das Luciferische). Was darin mit Tatsachen übereinstimmt, kann in diesem System nicht zur Entfaltung gebracht werden (Lebensunfruchtbarkeit der Ästhetik als Lebensprinzip). Ich habe mich

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also hier in eine theoretische Sackgasse hineinmanövriert. Direkt gab es keinen Ausweg. Wenn’s also zum besten ging, wäre ich ein »interessant«-excentrischer Privatdozent in Heidelberg geworden.

IV. Auf dem Wege zur Schicksalswende Aber nicht eine so entstehende Einsicht weitergeführt: die Gesellschaft stellte mit dem Krieg radikal neue Probleme. Wie es sich gleich zeigen wird: auch diese führten nicht aus der Unlösbarkeit der Fundamente hinaus. Indem sie aber – für das Leben – ganz anders geartete Fragen stellten, wurde zumindest die normale Seinssystematik zerschlagen und damit – ohne daß ich selbst die Bedeutung der Wendung begriffen hätte – der Gesamtstrom der Problemerfassung in eine neue Richtung gedrängt. Diese war, an sich betrachtet, ebenso eine Sackgasse der theoretischen Widersprüche. Sie war aber doch so beschaffen, daß die sich immer verschärfende gesellschaftliche Sachlage mir neue Stellungnahmen aufzwingen konnte (Beziehung zur ungarischen Ideologie vor Krieg). Das war der Krieg. Er enthüllte das Falsche, das Unmenschliche an jener Statik, die damals in mir zum System zu erstarren drohte: denn die Gegenmenschlichkeit als zentrale Bewegungskraft unseres Lebens, die mir in meinen ersten Anfangskonstruktionen der Philosophie unbewußt, erhielt in ihnen eine derart dominierende, / alles beherrschende Gestalt, daß man der geistigen Konfrontation unmöglich entgehen konnte. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die ich seit früher Jugend haßte und geistig zu vernichten bestrebt haben [war], haben sich vereinigt, um den ersten, universellen und zugleich universell ideenlosen, ideenfeindlichen Krieg hervorzubringen. U. zw. nicht als ein bestimmendes Moment des Lebens, sondern als universelle Bestimmungen des Lebens, in seiner extensiven wie intensiven Totalität. Man konnte nicht mehr neben dieser neuen Wirklichkeit des Lebens existieren, wie noch zu Zeiten alter Kriege. Er war universell: das Leben ging in ihm auf, ob man dieses Aufgehen bejahte oder verneinte. Ich war vom ersten Augenblick auf der Seite der Verneiner: ein von Unmenschlichkeit strotzendes Leben sollte uns allen aufgezwungen werden, um jene Lebensmächte, die schon vorher in ihrer Unmenschlichkeit verachtenswert schienen als zentral, allseitig bejahte, zu konservieren. Meine Heimat, die Habsburgmonarchie, erschien mir – normalerweise – als eine zur Zerstörung bestimmte menschliche Sinnlosigkeit. Nun sollte man das eigene Leben daran setzen, am universellen Mord sich beteiligen, damit dieses Hindernis einer Menschwerdung durch die strenge, geistlos-strenge Ordnung des deutschen Reichs weiter erhalten bleibe. Man sollte individuell Mörder, Verbrecher, Opfer etc. werden, um dies in dieser Weise weiter in Existenz zu erhalten. Wenn ich all dies vehement ablehnte, so hat dieser Radikalismus nichts mit pacifistischen Stimmungen gemein. Nie habe ich in der Gewalt als abstrakter Gewalt ein an

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sich menschenfeindliches Übel gesehen. Ohne Marathon, ohne Völkerwanderung, ohne 1789 und 1793 hätte das Beste, was am Mensch der Gegenwart menschlich ist, nie wirklich werden können. Nicht Gewalt im allgemeinen, die Gewalt der Reaktion, des Wilhelm II. und seinesgleichen, die Gewalt als Hindernis des Menschwerden sollte, wenn nötig mit Gewalt, vernichtet werden. Und man mußte zugleich sehen, daß die westliche Form einer kapitalistischen Demokratie nicht jene Gegenkraft sein konnte, die hier in Betracht kam. Ja: Jaurès gegen Wilhelm II. – das klingt fast vernünftig –, aber auch die Mörder von Jaurès?! Die Dreyfusaffäre, ihr Vertuschen etc. ist mit moderneren Mitteln durchgeführt worden, als den Hohenzollern- oder HabsburgRegimen je zur Verfügung standen. Bleiben sie aber – an sich betrachtet – nicht ebenso verwerflich und gegenmenschlich? Wenn ich also den Krieg nicht pacifistisch oder westlichdemokratisch ablehnte, sondern in der Beurteilung der Kriegsgegenwart auf Fichtes »Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« zurückgriff, so bin ich damit meinen bisher vertretenen Anschauungen treuer geblieben, als bei den damals weitverbreiteten Antinomien der Lebenswege, des Handelns. Krieg als die jetzt hervortretende zentrale negative Charakteristik des Bestehenden: Inhalt dieses Hasses: Fortsetzung der Jugendeinstellung zum feudalen Ungarn (Wirkung Adys). Perspektive nur insofern geändert, als jetzt die TolstoiDostojewskische »Revolution« die utopische Perspektive und damit das moralische Maß bildet. Darum: Rückgriff auf Fichte nicht diese Konsequenz. Diese Perspektive aber nicht beeinflußt: Darstellung der Phänomene selbst: geisteswissenschaftlich. Linke Ethik zusammen mit rechter Erkenntnistheorie: Charakteristik des in dieser Periode erreichten Marxismus. Theorie des Romans als Ausdruck dieser eklektischen Geschichtsphilosophie. Leben: Außerhalb bleiben. Da mehr als »Th. d. R.« als Protest damals für mich unmöglich. Sympathie für Jaurès und Liebknecht ohne die leiseste Möglichkeit, ihren Weg zu gehen. Heidelberg: Hilfe von Jaspers (sehr gegen seine eigene Einstellung) ganz nicht gelungen[?]. Budapest: nicht Front; Briefzensor; nach einem Jahr: Befreiung – zurück nach Heidelberg. In Privatleben infolge des Krieges: ähnliche Verworrenheit. J. Grabenko Sommer 1913 (Freundin des Balázs’. Verliebtheit + Freundschaft. Beides Basis guten – immer kündbaren – [Verhältnisses]). / Szabad literátor élet: megfelelö alap. Heidelbergi helyzet: házasság szükséges. Háború. J. Gr.: orosz, egyedüli védelem: magyar állampolgárság. Anyagi bázis: [egy] év. Az elöreláthatö (J. még ebben a formában is akut [?] lehetöségnek tartotta): szerelme muzsikussal. Együttlakás 3masban: próbára tette as egyesülés loyalitását. Belsö elválás, házassági kapcsolat mellett. Igazi megoldás: baráti elválás csak háború után. Bei allen freundschaftlichen Wegen und Mitteln dieses Zusammenlebens während Krieg: zugleich Auflösung jener modernistischen Konstruktion, mit deren Hilfe wir unser Leben gleichzeitig menschlich echt und »modern« zu begründen bestrebt waren.

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Als Ljena nach ihrer Trennung vom Musiker während der Diktatur mich besuchte, bestand zwischen uns zwar verständnisvolle Freundschaft, die aber bei keinem die eigenen zentralen Lebensprobleme berührte. Achtung und Sympathie, ohne bis zum Lebenszentrum reichende Zusammengehörigkeit. Ihren scharfen, klarblickenden Verstand, ihre Fähigkeit, das Wesen eines Menschen mit einem Blick zu erfassen – immer geschätzt. (B. Kun – Vautrin, etc.) Aber Zentrum des Lebens: anders gelagert. Opposition gegen Krieg: Zentrum des Interesses von Ästhetik zu Ethik (Vorlesung Budapest, Frühjahr 1917). Kreis in Budapest (Heidelberg seit Bloch fast völlig isoliert. In diesen Fragen selbst mit M[ax] W[eber] keine Gemeinschaft möglich). Auch Budapester Kreis ideologisch sehr bunt: allgemeinste Grundlage: Alte Opposition (Ady, Verhalten zum Krieg: sehr konvergent). Vorherrschen der Moral: B.B. [Béla Balázs] u. Krieg: aus ethischen Motiven (Solidarität mit menschlichen Opfern): selbst an die Front. (Im Hintergrund – abgelehnte – Anpassung; Versöhnung mit HabsburgMonarchie.) Solche Differenzen doch kein Hindernis. Privatgesellschaft. Später Auftreten als Freie Schule für Geisteswissenschaften. (In Einklang mit XX. Század. Bedeutung überbewertet – wegen Rolle, die – viel später – Mannheim, noch später Hauser in Emigration [spielten]). Zuhause: entscheidend Jahr 17/18: Beziehung zu russischer Revolution. Eigener Weg: widerspruchsvolle Fascination, mit Rückfällen: 1918 K.P. / Leben: Vorlesung 1918 (Ethik: Gertrud), unsere frühere Bekanntschaft (Ljena’s Erzählung über Begegnung). 17/18: Entstehung der neuen Verbundenheit: unübersichtlich, aber Gefühl, daß endlich – zum erstenmal in meinem Leben: Liebe: Ergänzung, solide Lebensbasis (Denkkontrolle) – nicht Gegenüberstehen. Unmittelbarer Gesprächsgegenstand: sekundär. Inhalt immer: ob das, was ich denke und fühle, wirklich ist, d. h. meine wirkliche Individualität (subjektiv: echt, objektiv: gattungsmäßig) zum Ausdruck bringt. Diese Kontrolle, die sich anfangs oft bloß in spontanen Gesten, Wortbetonungen zum Ausdruck brachte, ist langsam zu einer neuen Lebensform geworden: gedoppelte permanente Kontrolle der Echtheit. Ich weiß nicht, ob ohne Hilfe dieser Kontrolle die innere Umwandlung meines Denkens (1917-19) verwirklichbar gewesen wäre. Nicht nur weil jetzt – zum erstenmal im Leben – weltanschauliche Entscheidung – Änderung der ganzen Lebensweise, sondern zugleich als Weltanschauung Alternativen ganz anderer Art. Vor allem Ethik (Lebensführung) nicht mehr Verbot von allem, was eigene Ethik als sündhaft verdammt, fernzubleiben, sondern dynamisches Gleichgewicht der Praxis, in der das (in der Einzelheit) Sündhafte zuweilen unvermeidlicher Bestandteil des richtigen Handelns, zuweilen ethische Beschränkung (als allgemein gültig anerkannt) Hindernis des richtigen Handelns werden kann. Gegensatz: nicht einfach: allgemeine (ethische) Prinzipien versus praktische Erforderungen des konkreten Handelns. Dies zwar genereller Hintergrund, aber nie strikt gesetzmäßig. Im späteren Verkommen (bis zur Bürokratisierung) oft Motiv: erstarren einer – ausnahmsweise – gestatteten Handlungs-

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weise zur generellen Richtschnur des Handelns. (Sehr oft bei ganz üblen mechanisierten Bürokraten solche Erstarrungen als Hintergrund des menschlichen Verkommens. Und andererseits kann das jeweils Einzigartige der Wahl in Krisenlage zur Unterlage eines zynischen Verkommens werden.) Natürlich 1918/19 alldies nur als – weit scheinende – Horizontperspektive sichtbar und für den sich dazu umwandelnden Menschen keineswegs als Dilemma der Grundlagen und Perspektiven konkret erlebbar. (Obwohl hinter Entscheidungen bei konkreten Alternativen zuweilen am Horizont sichtbar.) Also: gerade weil Entscheidung unmittelbar schwere sociale Konsequenzen, Durchdachtheit, Differenziertheit des individuellen Entschlusses, der darauf folgenden individuell-praktisch-theoretischen Verhaltungsweisen größer, abgestufter als in Entscheidung vor dieser Krise. Die gesellschaftlichen Momente natürlich: klar, robust. Aber Transposition in Änderung individuellen Lebens durch solche Bestimmungen. Aber selbst diese: unmittelbare Wechselwirkung mit Individualität. Für mich: Kultur. Weiterführung von Ady-Linie (Bedeutung der falschen Lösung in Bauernfrage – später, in Wien erkannt. Darin wichtig: keine wirkliche Kenntnis Lenins /ganze Frage der Emigration. Bedeutung Wiener Aufenthalts/. Dagegen Kultur: L’s + Taten + entsprechende Fortsetzung der Ady-Linie; ausreichend.) Bedeutung G’s in diesem Übergang: erstes Mal im Leben. Unterschied zu Früherem (Irma, Ljena): meine Linie immer festgestanden / Beziehung – auch Liebe – innerhalb gegebener Entwicklungslinie. Jetzt bei jeder Entscheidung G. starken Anteil daran: gerade in den menschlich-persönlichsten Bestimmungen. Ihre Reaktion auf diese oft entscheidend. Also: nicht daß ich ohne sie den Weg zum Kommunismus überhaupt nicht gegangen wäre. Das war, wie früher von meiner Entwicklung aus gegeben, aber gerade hier sehr komplizierte und in ihren Folgen höchst wichtige persönliche Nuancen des jeweiligen Wie hätten sich ohne sie sicher ganz anders entwickelt. Und damit vieles Allerwesentlichste an meinem Leben. Und lange bevor sich zwischen uns eine geistige Gemeinschaft ausgebildet hätte, war dieses unwiderstehliche Bedürfnis nach Harmonisieren, dieses Bejahtwerden durch sie, für unser Verhältnis eine Zentralfrage. Seit ich G. traf, ist von ihr bejaht zu werden zum Zentralproblem meines persönlichen Lebens geworden. Und da sie auch in geistigen Dingen – von den ethischen gar nicht zu reden – eine instinktive Strenge hatte, die man in G. Kellers Frauen zuweilen findet, gab es in dieser Zeit zwischen uns zuweilen Momente des Entfremdens. Meine Beziehung zu ihr unterschied sich jedoch darin von jeder früheren, daß diese Momente für mich unerträglich waren. (Früher gehörten Differenzen, sogar in menschlich wichtigen Fragen, zum Reiz des Verhältnisses: wir waren eben verschiedene Menschen, deren Verschiedenheit zur wechselseitigen Anziehung mit zugehörte.) Auch bei G. denke auch [ich] nicht an Tendenzen zur Identifizierung. So etwas gibt es nicht, und kann ohne Momente der Abweichung von den Tatsachen nicht verwirklicht werden. Es handelte sich vielmehr

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darum, meine geistigen und praktischen Bestrebungen mich [mit] dem gegenwärtigen Weltgeschehen fruchtbar (nicht nur objektiv praktisch richtig, sondern zugleich für meine menschliche Entwicklung günstig) auseinanderzusetzen. Hier wuchs die neue Lage zu einer qualitativen Neuheit: die Wahl zwischen zwei Weltsystemen. Niemand – mit (in bestimmtem Sinne) Ausnahme Lenins – hat erkannt, daß beide Prozesse letzthin – welthistorisch angesehen – identisch sind, d. h. daß das gesellschaftliche Entstehen des neuen Menschen eine faktische Synthese aus allen Einzelbestrebungen ist, sich mit der neuen Wirklichkeit ehrlich revolutionär auseinanderzusetzen. Obwohl an der Umwälzung in Ungarn viele teilnahmen, die in der russischen Rev[oluti]on sogar relativ (lokal) führend beteiligt waren, war meine Mühe vergeblich, etwas wie ein Bild über ihn zu erhalten. Alle verehrten den »unfehlbaren« politischen Führer, aber selbst B. K[un] sagte mir in einem Privatgespräch unter vier Augen: er glaube – bei alledem – wäre doch Bucharin der eigentliche Theoretiker d. Revolution. Erst in Wien ergab sich für mich die Möglichkeit, mit L. wirklich bekannt zu werden, die Bedeutung seiner geistigpraktisch-moralischen Physiognomie für mich mit wachsender Klarheit darzulegen. / Unter solchen Umständen in Budapest, bei schicksalhaften Entscheidungen (Anschluß an die Kommunisten oder Verbleiben in einer »linkssozialistischen« Position) war [G’s Verhalten] – bei all ihrer bescheidenen Passivität, daß sie sich nämlich mit diesen Fragen nicht auseinandergesetzt hat – letzthin ausschlaggebend. In unseren damaligen Gesprächen gab es zwar (eben wegen Bescheidenheit der bürgerlich-abseits Lebenden) dem gelehrten Theoretiker gegenüber nie eine leidenschaftlich-heftige theoretische Auseinandersetzung. Wenn sie jedoch in (ablehnende) Passivität ausweichend mir etwa sagte: das müssen Sie besser verstehen, ich habe mich damit kaum befaßt, und sich tatsächlich passiv zu meinen einzelnen Wendungen verhielt, so war darin eine menschliche Ablehnung so deutlich fühlbar, daß ich immer wieder mich gezwungen sah, zu neuen inneren Auseinandersetzungen überzugehen. Dort, wo ihr stilles und bescheidenes Mitgehen offenbar wurde, habe ich davon immer starke Impulse zum Weitergehen erhalten. (Daß diese Wirkungen im ersten Stadium: Entschluß, sich dem Kommunismus anzuschließen, extensiv stärker waren als später, ergibt sich vor allem aus der Art der verschiedenen Scheidewege. Daß ich dabei einen geistig-moralischen Anschluß an meine alten ideologischen Attacken gegen die Überreste des ungarischen Feudalismus fand, daß ich deshalb mit diesen demokratischen Tendenzen Möglichkeiten guter Zusammenarbeit fand, ohne mich deshalb dem – schon damals gehaßten und verachteten – »Liberalismus« anzunähern, war – wenn auch gleichfalls selbst nie klar ausgesprochen – ein wichtiger Bestandteil unserer sich verstärkenden Harmonie.) Die Entwicklung zum Kommunisten ist schon die größte Wendung, Entwicklungsergebnis in meinem Leben. Wo bis jetzt bestenfalls – wie in den bildenden Künsten – eine lose ideologische Zusammenarbeit möglich war, entstand ein Bündnis, in wel-

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chem die praktische Vorbereitung zur Diktatur des Prol[etariat]s, die Durchführung der von demokratischen Reformen aufgestellten Forderungen die Grundlage der kulturellen Verwirklichung in der Dikt[at]ur des Prol[etaria]ts bildete. Feld ausgedehnt: vor allem mit pädagogischer Reformbewegung. Wegfegen aller Überreste des Feudalismus: selbstverständliche Voraussetzung der Reformen. Dadurch nicht nur breite Massen beteiligt, konkrete Übergangsformen bestimmt. Dadurch gesichert a) breite Massenteilnahme, b) Verbindung mit revolutionärer Vergangenheit, aus ihr Sozialismus: nicht fremd, nicht »Import«, c) sein historischer Charakter, d) antibürokratisch: Im Namen Entwicklung keine »offizielle« Kunst (Kassákgruppe). Diese Stellungnahme fremd: a) Durchschnittskommunisten, b) Socialdemokraten. Galt als radikaler Kommunist – ohne mit ihrem Dogmatismus zu tun zu haben. Darum Kulturreformen wenig verteidigt, haben sich inoffiziell durchgesetzt. (Die socialdemokratischen Volkskommissare gegen Reformwerk gleichgültig.) Für mich gerade hier: Zusammenhang mit alten radikalen Massenbestrebungen. Auf Kultur konzentriert. Sah nicht Fehler ein. Agrarfrage: Selbst wo in Armee viel damit zu tun (kurz über Armeekommissariat), zentrale Bedeutung erst in Wien verstanden.

V. Lehrjahre der Lebensführung und des Denkens Nach Sturz: Korvin und ich (Vermutung über Kun), Illegalität, Flucht nach Wien. Auseinandersetzungen mit Lenins Lehren. Für mich: eigentliches Marx-Studium. Philosophie von M.: bei Ablehnung eines jeden Revisionismus (Kant etc.): Hegel. Dies Richtung: einheitliche philosophische Grundlage des Mar[xism]us (keine »Ergänzung« nötig). Revolution als essentielles Moment d. M[arxism]us. Daraus damals: ultralinks: Radikalismus, Fortsetzung der Novembertage. Stocken der rev[olutionär]en Bewegung innerlich nicht anerkannt, Hoffnung durch »Aktionen« lebendig erhalten. Zugleich Verdacht gegen bürokratischen Dogmatismus von Komintern (Sinowjew – Kun als dessen Schüler u. Anhänger verstanden). Zeitschrift: Kommunismus (L’s Kritik anerkannt). Die ungarische Krise. Beziehung zu Landler. Theoretische Wichtigkeit »kleiner« Ursachen [?] / von Parteispaltung. Aufmerksamkeit von »großen« Fragen (eventuell nur geforderte Existenz) zu realen Fragen der Bewegung – hier: Wirkung revolutioniert. Politik erzieht zu Verhalten (Wichtigkeit der Realität) – Theoretisches Doppelleben: Beispiel Märzaktion (1921) versus ungarischer Politik. Ihre wachsende Bedeutung. M. Sz. M. P. – Republik – demokratische Diktatur. (Beides noch ineinander verschlungen in »Gesch. u. Klass-sein«.) Frühjahr 1920 Gertrud in Wien. Lebt bei Schwester in Hütteldorf mit Kindern, ich vorläufig in Wien. Nur freie Tage zusammen; erst später: auch ich in Hütteldorf. Da-

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mit wird ihre Lebensform (Familie, 3 Kinder) dominierend auch für mich. Teilnahme an Erziehung (mit ihr): tägliche Auseinandersetzung mit bestimmter menschlicher Wirklichkeit. Diese Art Leben für mich unmöglich gehalten – jetzt G. a) keine Störung von Arbeitskonzentration, kein »Aufgehen« in Tagesangelegenheiten. Isolierung, b) gemeinsame Mahlzeiten als Aussprache mit Kindern. Kenntnisnahme ihrer Probleme, Versuch, sie zu beantworten (Ethik, vieles in neuem Licht). G. Einheit von Duldsamkeit und Unduldsamkeit; weitgehende menschliche Toleranz bei Haß auf alles Niedrige. Neue Stellungnahme: gegen Ethik Typus Kant; jetzt nicht weniger streng in Alternativen, aber Überwindung der darin enthaltenen Tendenzen zu einer abstraktiv begründeten Unmenschlichkeit: damit für mich neues unmittelbares Verhältnis zu Kindheitsproblemen (ganz freie Diskussion). Die natürlich nur kleiner Teil, nur Voraussetzung zur Harmonie mit G. Ihre vehemente Entwicklung in Wien, »Anpassung« an Kampfgenossen (Gábor, Lengyel), Lektüre von M., nie Anfänger, sofort Zentrum der Oekonomie. Unerhört bald: Akkumulation (Luxemburg – Bauer – Bucharin). Schon damit: Intimität in theoretisch wichtigsten Fragen. Obwohl sie ihre Sonderposition in Umwandlung festhält – Scheitern [beim] Versuch, Oekonomie normal zu synthetisieren, Charakter des individuellen »Abenteuers« bleibt (a) nicht Varga-Institut, um Routine erwerben und hinter sich zu lassen, b) selbst in Notizenbereich [?] bleibt Individualität). Ich oft: dilettantische Stümperei – in Wahrheit: lebendiges / für Leben essentielles Aneignen wichtigster Zusammenhänge – ohne Bedürfnis allgemein mitteilbarer wissenschaftlich methodologisch geordneter Systematisation (Verhältnis zu Ferkó. Schmerzloser Verzicht auf eigene Produktion: Verwirklichung im Sohn). Oekonomie so Träger gesellschaftlicher Ausbreitung ihrer Weltbeurteilung geworden, ohne je subjektiviert zu werden und zugleich ohne Individualität der einzelnen Beurteilungen zu verallgemeinern. Die Kontrolle, die ihr Dasein und Denken auf mich ausübte – so immer intensiver. Obwohl sie in einigen wichtigen sachlichen Diskussionen, gerade wegen ihres ausgezeichneten Sinnes für Oekonomie, recht behielt – nicht das wesentlich (sonst nur eine anregende Freundschaft). Wirklichkeit: je mehr sich mein Denken, oft unbewußt, ontologisierte, desto wichtiger wurde Echtheit des Ausgangspunkts und Einstellung (Mimesis nie photographisch): ist etwas wirklich seiend: involviert Echtheit des subjektiven Impulses (via Unwahrheit – nie Sein getroffen). So Akzent: erstes Auftauchen oft in einer noch kaum sprachlich gewordenen Form. Hier: Gewicht der Echtheit. Aber auch dies menschlich-lebendig: Verwerfen nicht unbedingt Zeichen absoluter Negativität, sondern oft Eindringen falscher (unechter) Nuancen in erstes Erfassen. Korrektur – wieder mit ihrer Hilfe – möglich. Daneben: gleiches Interesse (gleiche Kritik) an totaler Darstellung (letzteres sich allmählich ausgebildet, ist in Ästhetik größer und gewichtiger als in »G. u. Kl.«). Fürs Ganze wichtig: Methode und Inhalt der ungarischen Fraktionskämpfe. Landler: der andere Glücksfall in diesem Übergang. Persönlichkeit. Politisch Wirkung auf mich.

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Wieder: lebendiger Zusammenhang zwischen Einzelheit und Allgemeinheit. Realität als Prinzip (Parole der Republik nach Landler). / Beides zusammen: in Phil[osoph]ie: Drang nach Totalität: eine Allgemeinheit, die – historisch (also: in Wirklichkeit) – zugleich Züge der Einzelheit trägt. Damit Punkt, wo Theorie, Politik u. Geschichte sich als Erscheinungsweisen desselben bewegten Seins zeigen. Theorie und Geschichte: allgemeine Tendenz, was Majorität der Menschen (beziehungsweise ausschlaggebende Schicht) tun wird (Richtung des Tuns). – Politik – auf solcher Grundlage – wie Richtung, Intensität etc. dieses voraussehbaren Tuns, quantitativ wie qualitativ, beeinflußbar sein kann. In allen Fällen aus »Post festum« festgestellten Processen Folgerungen auf Zukunft. Diese unmöglich rein wissenschaftlich; nur wenn die waltenden Kräfte in post festum Erkenntnis auf Zukunftsvor[aus]setzung extrapolierbar wären. Das ist – zu 100% – prinzipiell unmöglich: geschichtliche Wandlung – immer zugleich (wenn auch konkret oft kaum wahrnehmbar) Strukturwandel (Menschenwandel als Grundlage) und damit auch inhaltliche Veränderung. Folgerungen aus post festum festgestellten Entwicklungen (die deshalb keineswegs notwendig in ihrer wahren Kausalität erkannt sein müssen) beinhalten stets auch Änderungen des Entwicklungsinhalts; im Verhältnis zur generellen Tendenz – individuelle Abweichungen. Wichtig: Proportion. So Richtigkeit in Theorie, Geschichte u. Politik aus individueller Stellungnahme herauswachsend – aber über diese dem Sein zu hinausgehend. (Verwerfen von Unechtheit, aber Echtheit keine Garantie für Richtigkeit.) So neue Einstellung zu Wirklichkeit: allmähliche Überwindung alter (noch erkenntnistheoretisch orientierter) Positionen. In dieser Umorientierung in geistiger Haltung: Entwicklung der 20-er Jahre. Entscheidend: Leben mit G. – Erprobung: ungarische Politik. Dies im Kampf mit generellen (abstraktiven) sektiererischen Tendenzen: »G. u. Kl.« noch Mischung. Aber wichtig: Radikalismus (ultralinks) Fortsetzung von / marxistischer Linie: Probleme (von gegenwärtiger Gesellschaft) aufgeworfen, in dieser nicht lösbar. Lenin: dies in 1914 offen zutage getreten. Abschwächung der akut revolutionären Spannung kein Beweis, daß diese Grundlage nicht mehr funktioniert. Dies theoretische Grundlage für Opposition gegen Sinowjews Kominternpolitik. (Zurück in bloß bürgerliche – nur in Theorie revolutionäre – Politik: Grundlage meiner Opposition.)

VI. Die ersten Durchbrüche Ausgangspunkt praktisch: Republik oder Räterepublik als ungarische Perspektive. Ersteres: wahres Dilemma: zwang gegen Grundprinzipien der Horthyzeit praktisch u. prinzipiell auftreten. Zweites kann allgemeine Perspektive sein, anerkannt, aber ohne innewohnende Verpflichtung zum Handeln. Opposition zur Bürokratisierung: solche

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Perspektiven, aus denen beliebige Handlungsweisen »deduziert« werden können, haben ihre – subjektive wie objektive – Echtheit verloren. Dies – negativ – »G. u. Kl.«: das Leugnen des Seinstypus »Naturdialektik« (zugleich Modell für Auffassung des Wirkens der Oekonomie): »G. u. K.« Versuch, Notwendigkeiten der Welt für echtes Handeln freizumachen. So sehr dabei eine radikale Wendung im politischen Verhalten stattgefunden hat, bedeuten die »Blum-Thesen« die Vollendung dieser Tendenz. Für den II. Kongreß der KPU geschrieben, ist ihr Wesen, daß bei einer so tiefen Krise des Horthysystems, die revolutionäre Perspektiven eröffnet, ihr socialer Inhalt nicht die Diktatur des Proletariats, sondern das, was L. 1905 »demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern« [nannte], wäre. (Vorsicht: z.B. VI. Kongreß der K. I., sonstige Analysen) – Skandal. Periode der Konsequenzen (meine politische Vernichtung; Manuilski in Berlin. Auflösung der Landler-Fraktion. Révai über Thesen). Wirkung doppelt: politisch: vernichtende Niederlage. Gefahr Ausschluß aus K. I. Schicksal von Korsch. Ohnmacht zur Zeit von Faschismuskrise. Andererseits: Anstoß zu Höherentwicklung und Wirksamermachen der Theorie. Diese Doppeltheit: erstes [politisches Wirken] aufgeben, zweites [ideologisches Wirken] ausbauen. Grund zur Reaktion/auf Periode der Konsequenzen; zweifellos da: Kun’s Absicht und Möglichkeit mich vernichten (mundtot machen). Alles andere nur dessen Vermeidung (Lokalisierung) ohne Klarheit: wie viel Wahrheitsgehalt Hoffnungen (theoretische Perspektive) de facto enthalten. Prinzip: Periode der Konsequenzen kann biologisch notwendig sein (z.B. heute Krebs). Gesellschaftlich: Tendenz mit sehr hohen negativen Wahrscheinlichkeiten. Nur Frage: sind diese nicht doch – innerhalb bestimmbarer Grenzen – beeinflußbar (L. III. Kongreß: keine ausweglose Lage). In diesem Fall: objektives Optimum: Frage bleibt intern ungarische Parteifrage. (Objektiv: gerade hier Maximum der praktischen Arbeitslosigkeit.) Wenn ich also meine zukünftige (sehr geänderte, nicht mehr unmittelbar politische, sondern wesentlich ideologische) Aktivität retten wollte, so Weg: Versuch einer Beschränkung der unvermeidbaren Kritik auf das ungarisch Parteimäßige; nicht als in Ungarn entstehende Richtung mit allgemein theoretischen Ansprüchen. Daher: bedingungslose Kapitulation auf ungarischer Linie (praktisch sowieso ohne jede Aussicht): dann Kun kein Interesse mehr, Sache in Komintern weiter zu forcieren – umsomehr: neue Fragen (Machtfragen). Für mich: Verschwinden aus ungarischer Bewegung: Vergessenheit dort, macht Fortsetzung, Ausdehnung etc. der Kritik überflüssig. Umstände erleichternd. So Blumthesenkritik allmählich ausgestorben. Als Kuns Sturz 1935 (VII. Kongreß) Kooperation mit Ungarn wieder möglich gemacht, schon längst in Vergangenheit geraten. Positiv: »G. u. Kl.« nochmals durchdenken. Resultat: nicht Antimaterialismus daran wichtig, sondern Zuendeführen von Historismus in M., damit letzthin Universalität das M[arxismu]s als Philosophie: phil[osophisch]e Debatte (Antideborin). Gegen Plechanowsche und Mehringsche »Orthodoxie«: diese beiden insofern gleichfalls revi-

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sionistisch als M[arxismu]s – z.B. in Ästhetik – aus bürgerlicher Philosophie »ergänzt« werden./ Hier Bündnis mit Lifschitz. Sickingendebatte (er M’ens Jugend): Ästhetik organischer Teil der M’schen Theorie; rein aus ihren Wirklichkeitsthesen entstehend. Also: Universalismus der M’schen Theorie (30-er Jahre: »Lit.-Kritik« wichtige literaturtheoretische Richtung; Antirapp, Antimodernismus etc.). Bei mir weiter: Tendenz auf [zu] genereller (letzthin einheitlicher, sonst eher differenzierter) Ontologie als wirkliche phil[osophisch]e Grundlage des M[arxismu]s. Also: gerade durch philosophische Einheit der M’schen Theorie Weg zu ihrer Universalität. Damit in neuen Zusammenhängen: alte Tendenz: Richtung auf Ontologie ins Leben gerufen. Alte erkenntnistheoretische Fragestellung »es gibt… wie möglich« zu Ende gedacht lautet: »es gibt… durch welche historische Notwendigkeit entstanden«? Was war und ist reale Funktion in historischer Entfaltung des gesellschaftlichen Seins? Erst von hieraus: Gegensatz von Erkenntnistheorie und Ontologie – Ausschalten jeder idealistischen Fragestellung. Wenn für M. Ideologie ≠ falsches Bewusstsein (richtiger: erkenntnistheoretisch gesucht), sondern von Wirtschaft verursachte Fragen für Sein zu beantworten – spielt sich alles als Entwicklungsform des Seins ab. Durchführbar nur bei [wenn] (Deutsche Ideologie) universelle Grundlage: Geschichte.* Sogenannte Naturdialektik nicht mehr (in »G. u. Kl.« abgelehnte) Parallele zur Dialektik in Gesellschaft, sondern ihre Vorgeschichte. Programm bei Entstehung noch keineswegs klar durchdacht. Vorläufig – auf Ästhetik beschränkt – nur Versuch des Beweises, daß M’sche Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung zugleich Theorie der Entstehung, Entfaltung, Wirkung!?!, Wesen des Ästhetischen; ist so – seinsmäßig – vorhanden; kann (wenn verstanden) entsprechend entwickelt, aber nie manipuliert werden. Zugleich gegen »Modernismus« und Stalinsche Manipulation./

[VII.] Ausdehnung des Konfliktfeldes Unmittelbar: gesellschaftliche Genesis im Vordergrund als Erklärungstendenzen von Wesen und Wert (Bedeutung der Mimesis in diesem Zusammenhang; teleologische Setzung als ihre Voraussetzung Sinn d. Parteilichkeit in Mimesis (Alltag). In Übergang auf weitere Gebiete (Anfang: »der junge Hegel«) Frage formell noch »wissenschaftlich« beschränkt: zeigen, daß die subtilsten gedanklichen Reaktionen der Philosophie auf die Welt – letzten Endes – aus der angemessenen Verallgemeine-

* Nur durchführbar, wenn (s. D.I.) Geschichte allgemeine Grundlage (im Orig. ungarisch; Anm. d. Übers.).

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rung der primären Lebensreaktionen (auf oekonomischen Gegenstandskreis) entspringen. Darum schon bei H.: Forderung als allgemeine Methode der Genesis in der Geschichte des Denkens (Genesis hier mehr als bloßes Entstehen, als erstes Bewußtsein) in den Vordergrund. Die »Zerstörung d. Vernunft« ist wieder die soziale Geschichte eines typischen Perverswerdens des Denkens. Von hieraus: Weiter zur Universalität der Geschichte. Wesenserkenntnis und historische Erkenntnis: tiefste Konvergenz (Gattungsmäßigkeit historisch). Kunst als Gattungsmäßigkeit (die permanente Reproduktion des Tragischen in Geschichte der Ideologien): Selbstbewußtsein der universellen Historizität. Damit schon damals: Opposition gegen Stalinsche Ideologie universell, nicht auf Ästhetik beschränkt. (Freilich das meiste – so Hegel – damals nicht zu veröffentlichen.) Merkwürdig: diese Isolation (Lit.-Kritik hört auf; Int.-Literatur oft sehr problematisch) nach VII. Kongreß Komintern: ungarische Möglichkeiten: Volksfront-Tendenzen auch in Moskauer Literatur – Tendenzen zur richtigen Bewertung geistiger Richtungen innerhalb des Hortyregimes und in ideologischer Abwehr von Faschismus. Möglichkeit marxistischer Form der Erneuerung alter demokratischer Tendenzen (Ady), Kritik des Streites zwischen »urbanistischen« (bürgerlich-demokratischen) und »volkstümlichen« (bäuerlich-demokratischen) Tendenzen; Fortsetzung der Opposition gegen feudale Überreste geeignet Nichtidentität von Demokratie und bloß bürgerlicher zu sehen als reale Kraftdifferenzen zwischen […] Ausdehnung des Tätigkeitsfeldes: Ausdehnung der Konflikte geschieht beinahe unmerklich, noch keineswegs als direkte und bewußte Wendung gegen das Stalinsche System, obwohl dessen bürokratische Enge und Starrheit in den Debatten immer klarer hervortritt (Aufsatz: Volkstribun oder Bürokrat) – Anfang: Leninsche Differenzierung gegen St’sche mechanische Einheitlichkeit. Ebenso: immer stärkeres Indenvordergrundtreten von E’schem »Sieg des Realismus« – gegen Regelung der Ideologie von »oben«. Es gibt eben – in Kunst, für Kunst – gar keine solche absolute Lenkbarkeit: nicht Vorsatz, Absicht der Schriftsteller (die ge[maß]regelt werden können) ist das Ausschlaggebende, sondern Gestaltung, die dem »Sieg des Realismus« unterworfen bleibt. Ideologie kann also – zumeist indirekt – Einstellungsweisen beeinflussen. Dies Grund: Erforschung der Genesis, Mimesis – demzufolge: was? Wie? [Durch] Genesis der Mimesis verliert »Sieg des Realismus« jede irrationalistische Nuance: in ihm bricht eben die Wahrheit der Geschichte durch. Genesisfrage: über Literatur hinaus: allgemeine Ideologie: Hegel u. französische Revolution (konkreter: und kapitalistische Oekonomie). Wirkliche Ideologienlehre: Ideologie (M’sche Bestimmung): Kulmination der (gegensätzlichen) Wirkung der Oekonomie auf Leben, Handlungsweise, Bewußtheit der Menschen: einheitlicher historischer Prozeß: Wahrheit des Tuns: innere Vereinigung von individueller und geschichtlicher Entwicklung des Menschen. Bedeutung der Goethe-Hegelzeit. Balzac bereits: nur Vorspiel zur M’schen Philosophie. Spätere Entwicklung – bis zu: »Zerstörung der Vernunft«.

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Gegensätze schärfer: Phil[osophisch]e Werke nicht mehr erschienen. (Inzwischen auch Literatur. Ende von Lit. Kritik.) Periode der großen Kaderausrottung. Stellungnahme (Parallele: Bloch). Glück in Katastrophenzeit (α) Bucharin-Radek 1930; (β) ungarische Bewegung, (γ) Wohnung. Doch Glück 1941 Lage/ Innere Ungleichmäßigkeit dieser Zeit: Periode der großen Processe – zugleich VII. Kongreß von Komintern: Volksfront. Große Gegensätze nebeneinander (ja ineinander verschlungen). Objektiv: Anfang der Auflösung von Krisenperiode. Möglichkeiten. Ungarisch (VII. Kongreß) Analyse der demokratischen Bewegung. (Für Volksdemokratie – Kritik Liberalismus). Blumthesen-Kritik verschwunden. Persönlich: nicht ohne Schwere (2 Verhaftungen). Trotzdem: menschlich harmonischstes: Verhältnis zu G. Nicht »Verschönerung«, nichts von »Optimismus« Aber Gefühl: nicht nur Annäherung an (eigentlich gemeinten) richtigen Weg: M[arxism]us als historische Ontologie, sondern zugleich: Perspektiven – ideologisch – etwas von dieser Tendenz verwirklichen zu können.

[VIII.] Verwirklichungsversuche in Heimat Heimkehr mit Hoffnungen. Ihr Begründetsein (sehr temporär): Taktik von Rákosi und Gerö. Dies jahrelang prinzipielle und erfolgreiche Propaganda des demokratischen Übergangs ermöglicht. (Aus ihrer ideologischen Gleichgültigkeit – Freiheit für mich.) Gute Folgen für Lebensanpassung: Heimkehr im eigentlichen Sinn (obwohl – objektive Gründe – wenig alte Freunde und Genossen; Gertrud: ja, mit wenigen oberflächliche bündnishafte Zusammenarbeit). Trotzdem Heimkehr. Wieder: da G. auch bei mir. Sehr wichtig: Verbindungen und Gespräche. Die ersten Schüler. Ein sich-Finden in den pädagogischen Bezügen (G’s Einfluß). Seminar-Charakter: offizielle Meinungen (damals nicht entscheidend). So allmählich: vielversprechende Jugend. Niveau immer höher – dessen Lebensgrundlage: G., Unterricht (Seminar). Möglichkeit eines – freilich stark modifizierten, aber in Grundprinzipien begründeten: Anschluß an Jugendtendenzen (M-us: qualitative Änderung, aber nicht Bruch in Entwicklung, wie bei vielen). Viele Intellektuelle meinen M-us als (subjektiv) echt, nicht einfach angelernt oder angenommen. Daher fruchtbare Dialoge möglich. Gute Beziehungen zu den bedeutendsten: Déry und Illyés./ Tolerieren (Schweigen): nur politisch-soziale Verbindung wichtig (d.h. Abstimmung gegeben mit K.P.). Einzelanteile etc. hier: Stellung zu literarischen Problemen: dulden. Hier sogar Diskussionen – bei nötiger Vorsicht – möglich. Obwohl ich im politischen Leben (z.B. Agrarfrage, Verteilung v. Grund und Boden) bereits Tendenzen antidemokratischer Art wahrnehmen konnte, glaubte ich doch an

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Solidität der mir – taktisch – gestatteten Kulturpolitik. Selbst der wirkliche Wendepunkt (Vereinigung der Arbeiterparteien) war für mich damals keine wirkliche Warnung (Révais Anzeige des Rudasaufsatzes). Beginn der Rajkaffaire: deutliche Wendung zur Prozeßperiode Stalins (warum noch schlechter?). Diskussion von diesen Umständen bestimmt: Bestreben: sich zurückziehen zu können, ohne Opfer der RajkPeriode zu werden. (Irrtum. Verständlich.) Rückzug. Bleibe nur Ideologe – aber nunmehr nur persönlich, nicht als Funktion. Keinerlei socialer Auftrag. Akademie: Zusammenarbeit mit Fogarasi; er als Vermittler. Damit volle Freiheit für meine Person: sogar Ablehnung offizieller Strömungen möglich.

[IX.] »Nur Ideologe« Doppelte Entwicklung (Einheit: G.) a) immer entschiedenere Opposition gegen Rákosisystem, immer klarere Einsicht in (Verbindung mit) frühen Tendenzen zu einem demokratischen Ungarn, b) damit: Ebenso, wie bisher gegen Rákosi, aber auch gegen alle, die von Einführung einer bürgerlichen Demokratie die Erneuerung suchen. Deshalb selbständige (ja isolierte) Position zur damaligen Opposition. Von Imre Nagy wenig erwartet. Während kurzer, erster Führung – gar keine Verbindung mit ihm (Programmlosigkeit). Dies auch nach 20-tem Kongreß. – Schon erstes Auftreten: wesentlich: nicht »Personenkult« (Dessen Prinzipien, wie später klargeworden, können in Kollektiven ebenso wirksam bleiben). Wichtig: Bruch mit (autokratisch-)taktisch geleiteter Innen- und Außenpolitik. Prinzipien des M-us: demokratische Neuordnung der Produktion (innere Beziehung von qualitativer Produktion und Demokratisierung). Kap[italism]us in bestimmten Markttendenzen wirksam, wo unmöglich gesamte Produktion zentral zu manipulieren. Es wäre aber Illusion: solche Marktmomente könnten soc. Produktion auf den richtigen demokratischen Weg führen. Dadurch Lage klar: gegen Rákosi, gegen Illusionen sowohl einer partikularen, immanenten »Reform« seines Regimes, wie gegen bürgerlich-liberale Reformtendenzen (auch in Nagy Imres unmittelbarer Umgebung verbreitet. Umschlag dazu auch bei orthodoxen Rákosisten). Nagy: kein Programm. So Position: rein ideologisch. Diese Forderungen des XX. Kongresses als Postulat an öffentliche Meinung, damit Stimmung entsteht, dies auch politisch zu verwirklichen. Diese Position beibehalten in ganzer Nagy-Periode. Keine Annäherung, nur in den späten Novembertagen: doch in ihm (seiner Popularität) die Kraft, die spontane (sehr heterogene) Bewegung doch in sozialistischem Rahmen zu halten. Darum z. B. Mitgliedschaft, ja Ministerium angenommen – um darin mithelfen zu können. Versuch Neuorganisierung von Partei (Donáth-Szántó). Von Ereignissen überwältigt. Schuldfrage (ohne Programm-Perspektive). Darum am Schluß große Konzession: Warschauer Pakt.

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Jug. Botschaft: Brutaler Fehler. Periode der Konsequenzen; Beibehaltung von Standpunkt erweist sich als Ausweg. Heimkehr (Beziehung zur Partei) Freibeute der Sektierer. Beibehalten Linie. In Auslandspublikationen (zuhause nicht möglich): Fortsetzung und Konkretisierung Kritik Stalins. Erst positive Stellungnahme zu oekonomischer Reform: Änderung der Lage. (Positiv = Möglichkeit von Demokratie und Rückkehr zu M’us). Damit – trotz Aufnahme in Partei (Details) – Möglichkeit: bei genereller Unterstützung (inkonsequent durchgeführter) Tendenzen: Polemik gegen Kontinuität. Dies beibehalten – Ausdruck verschieden. (Heute Optativus statt Indikativus.) Sich schon relativ äußernde Tendenz zur Demokratisierung, als Bejahung der Tendenz (als Tendenz, mit allen Hindernissen u. Hemmungen) als Grundlage: nicht Opposition, sondern Reform. Aber Reform diese Funktion: Grundfragen der / Demokratie: wirkliche Lösung. Immer wiederholtes Beispiel: Gewerkschaften, Lenin versus Trotzky. (Gleichgültigkeit oder wilder Streik. Polen als symbolische Gefahr für alle Volksdemokratien.) Damit überall Problem: Übergang auf wirkliche, soc[ialistisch]e Demokratie (Demokratie des Alltagslebens) oder permanente Krise. Heute nicht entschieden (entscheidend: SU). Dies Zukunftsperspektive der Welt – gerade weil im Kap-us: beginnende Krisenzeichen. (Die St-sche Priorität der Taktik: verwirrt echte Probleme, entfernt von Lösung: Arabien, Israel.) Beide großen Systeme: Krise, Bedeutung des echten Marxismus als alleiniger Ausweg. Darum: in soc. Ländern: Marxsche Ideologie als Kritik des Bestehenden, als Förderung der immer notwendiger werden[den] Reformen. Subjektiv: Versuche, Prinzipien der M’schen Ontologie zu formulieren: dazu Hauptanlage (Selbstbiographie, subjektive Ergänzung, Illustration, Begründung etc.). Freilich: individuell-menschliche Voraussetzungen für eine richtige Erfassung der ontologischen Probleme. Darum: Konvergenz: Gattungsmäßigkeit des Menschen als Lösung des großen Zeitproblems (Individualität als Folge der immer reiner gesellschaftlichen Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft. Scheinimmanenz; wirklich: Gattungsmäßigkeit). Selbstbiographie subjektive Tendenzen (in Entwicklung) zur praktischen Verwirklichung der eigenen Gattungsmäßigkeit (= wirkliche Entfaltung der Individualität). Hier tiefste Wahrheit des M’us: Menschwerdung des Menschen als Inhalt des Geschichtsprocesses, der sich – sehr variiert – in jedem einzelnen menschlichen Lebenslauf verwirklicht. So ist jeder Einzelmensch – einerlei, mit wieviel Bewußtheit – aktiver Faktor im [des] Gesamtprozesses, dessen Produkt er zugleich ist: Annäherung an Gattungsmäßigkeit im individuellen Leben ist die reale Konvergenz der untrennbaren beiden realen Entwicklungswege. Richtung und Resultat: Richtung (Rolle der individuellen Entscheidung; historisch + (untrennbar) zutiefst persönlich). Ergebnis. Begabung: auch nicht einfach »gegeben«. Verhältnis von Richtung – entscheidend, ob

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wirkliche Begabung sich entfalten kann. Lebensführung als Kampf von (echter!) Neugier und Eitelkeit – Eitelkeit als Hauptlaster: nagelt Menschen in Partikularität fest (Frustration als Stehenbleiben auf Niveau der Partikularität). !Vázlat, külön lapon! 1. Kezdet psychologiája. Utolsó gymnáziumi évek (Nordau – Dolgozatok) Kerr Magyar Szle. Hatter!?! drámák 2. Thalia. Dráma vége. Tanulás. Német müveltség (Kant – Irodalom tört.) 3. Drámakönyv. Lélek és Formák. Viszony Nyugathoz és XX. Századhoz. Ady. Balázs Béla 4. Háborútól – forradalomig. Idealizmus és Marxizmus harca. Diktatura / :véletlen elemek:/: új viszony: magyar valóság, magyar élet. 5. bécsi emigráció. Nemzetközi Sektarianizmus – Magyar valóság. Landler. M. Sz. M. P. Blumtézisek. 6. Moszkvai fordulat. Marx és irodalom. Berlin. Moszkva (Lit.Kritik) 7. Uj hang. Választás: magyar 8. 1945-49 9. Rudas vita után. Nemzetköziség új értelme

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Übersetzung von ungarischsprachigen Stellen aus Gelebtes Denken Seite 209: Freies Literatenleben: entsprechende Grundlage. Heidelberger Lage: Heirat notwendig. Krieg. J. Gr.: Russin, einziger Schutz: ungarische Staatsbürgerschaft. Materielle Basis: ein Jahr. Vorhersehbar (J. hielt das sogar in dieser Form noch für eine aktuelle Möglichkeit): ihr Liebesverhältnis mit einem Musiker. Wohnen zu dritt: stellte Loyalität der Verbindung auf die Probe. Innere Trennung bei ehelicher Beziehung. Richtige Lösung: Scheidung in Freundschaft erst nach dem Krieg. Seite 213: M. Sz. M. P. – Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Seite 222: Entwurf auf einem extra Blatt 1. Psychologie des Anfangs. Letzte Gymnasialjahre. (Nordau – Aufsätze) Kerr Magyar Szemle (Ungarische Rundschau, Anm. d. Übers.). Hintergrund!?! Dramen 2. Thalia. Ende des Dramas. Studium. Deutsche Bildung (Kant – Literaturgeschichte) 3. Dramenbuch. Die Seele und die Formen. Verhältnis zu Nyugat und XX. Század. Ady. Béla Balázs 4. Vom Krieg bis zur Revolution. Kampf zwischen Idealismus und Marxismus. Diktatur (zufällige Elemente): neues Verhältnis: ungarische Wirklichkeit, ungarisches Leben. 5. Exil in Wien. Internationales Sektierertum – Ungarische Wirklichkeit. Landler. Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei. Blum-Thesen. 6. Moskauer Wende. Marx und Literatur. Berlin. Moskau (Lit.Kritik) 7. Új Hang (Zeitschrift Neue Stimme; Anm. d. Übers.). Wahl: ungarisch 8. 1945-1949 9. Nach der Rudas-Debatte. Neue Bedeutung des Internationalismus

Georg Lukács

Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns I. Die Schwierigkeit, wenigstens die allgemeinsten Prinzipien dieses Fragenkomplexes in einem Vortrag auch nur einigermaßen zu beleuchten, ist eine doppelte. Einerseits müßte man die heutige Problemlage kritisch überblicken, andererseits den prinzipiellen Aufbau einer neuen Ontologie, wenigstens in ihrer Grundstruktur ins Licht rücken. Um wenigstens die zweite, die sachlich ausschlaggebende Frage, einigermaßen bewältigen zu können, müssen wir auf eine, wenn auch noch so abgekürzte Darlegung der ersten verzichten. Jeder weiß, daß in den letzten Jahrzehnten, in radikaler Weiterbildung alter erkenntnistheoretischer Tendenzen, der Neopositivismus mit seiner prinzipiellen Ablehnung einer jeden ontologischen Fragestellung als unwissenschaftlich, absolut herrschend war. Und zwar nicht nur im eigentlichen philosophischen Leben, sondern auch in der Welt der Praxis. Wenn einmal die theoretischen Leitmotive der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führung der Gegenwart ernsthaft analysiert werden, wird sich zeigen, daß sie  –  bewußt oder unbewußt  –  von neopositivistischen Denk­ methoden bestimmt sind. Das hat ihre fast unbeschränkte Allmacht begründet; das wird, wenn einmal die Konfrontation mit der Wirklichkeit bis zur offenen Krise geführt hat, vom politisch-ökonomischen Leben bis zum Philosophieren im weitesten Sinne des Wortes große Umwälzungen herbeiführen. Da wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen, möge diese Andeutung genügen. Unser Vortrag wird sich auch nicht mit den ontologischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte beschäftigen. Wir beschränken uns auf die bloße Erklärung, daß wir sie für äußerst problematisch halten und verweisen nur auf die letzte Entwicklung eines so bekannten Initiators dieser Richtung wie Sartre, um die Problematik und ihre Richtung wenigstens anzudeuten. Sie zeigt sich im Verhältnis zum Marxismus. Wir wissen sehr wohl, daß dieser philosophiehistorisch selten als Ontologie aufgefaßt wurde. Dieser Vortrag stellt sich dagegen die Aufgabe, aufzuzeigen, daß das philosophisch Entscheidende an der Tat von Marx war: den logisch-ontologischen Idealismus Hegels überwindend theoretisch wie praktisch die Umrisse einer materialistisch-historischen Ontologie aufzuzeichnen. Die vorbereitende Rolle Hegels beruht darauf, daß dieser in seiner Weise die Ontologie als eine Geschichte auffaßte, die – im Gegensatz zur religiösen Ontologie – von »unten«, vom allereinfachsten, eine notwendige Entwicklungsgeschichte bis nach »oben«, bis zu

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den kompliziertesten Objektivationen der menschlichen Kultur, entwarf. Es ist natürlich, daß dabei der Akzent auf das gesellschaftliche Sein und dessen Produkte fiel, wie es gleichfalls charakteristisch für Hegel ist, daß der Mensch bei ihm als Schöpfer seiner selbst erscheint. Die Marxsche Ontologie entfernt aus der Hegelschen alle logisch-deduktiven und entwicklungsgeschichtlich teleologischen Elemente. Mit diesem materialistischen »auf die Füße stellen« muß auch die Synthese des Einfachen aus der Reihe der bewegenden Momente des Prozesses verschwinden. Bei Marx ist weder, wie bei den alten Materia­ listen, das Atom, noch wie bei Hegel, das abstrakte Sein schlechthin der Ausgangspunkt. Es gibt hier ontologisch keinen solchen. Alles Existierende muß immer gegenständlich sein, immer bewegender und bewegter Teil eines konkreten Komplexes. Das hat nun zwei grundlegende Folgen. Erstens ist das gesamte Sein ein Geschichtsprozeß, zweitens sind die Kategorien nicht Aussagen über etwas Seiendes oder Werdendes, auch nicht (ideale) Formungsprinzipien der Materie, sondern bewegende und bewegte Formen der Materie selbst: »Daseinsformen, Existenzbestimmungen«. Indem die radikale – auch radikal vom alten Materialismus abweichende – Position von Marx vielfach im alten Geiste interpretiert wurde, entstand die falsche Vorstellung, Marx unterschätzte die Bedeutung des Bewußtsein dem materiellen Sein gegenüber. Daß diese Anschauung falsch ist, wird später konkret beleuchtet. Hier kommt es nur darauf an, festzustellen, daß Marx das Bewußtsein als ein spätes Produkt der materiellen ontologischen Entwicklung auffaßte. Wenn das im Sinne des religiösen Schöpfergottes oder eines platonischen Idealismus interpretiert wird, kann fraglos ein solcher Anschein entstehen. Für eine materialistische Entwicklungsphilosophie dagegen muß das späte Produkt niemals ein an ontologischer Bedeutung minderwertiges sein. Daß das Bewußtsein die Wirklichkeit widerspiegelt und auf dieser Grundlage ihre modifizierende Bearbeitung möglich macht, bedeutet seinsmäßig eine reale Macht, nicht, wie von irrealen Überspannungsaspekten aus beurteilt, eine Schwäche.

II. Hier können wir uns nur mit der Ontologie des gesellschaftlichen Seins beschäftigen. Wir können jedoch seine Eigenart unmöglich erfassen, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, daß ein gesellschaftliches Sein nur auf der Basis eines organischen und ein solches nur auf der des anorganischen Seins entstehen und sich weiterentwickeln kann. Die vorbereitenden Formen des Übergangs aus einer Seinsart in die andere beginnt die Wissenschaft bereits aufzudecken. Dabei sind die prinzipiell wichtigsten Kategorien der komplizierteren Seinsformen im Gegensatz zu den einfacheren bereits ins Licht getreten: Reproduktion des Lebens im Gegensatz zum bloßen Anderswerden, aktive, die Umgebung bewußt verändernde Anpassung an sie, im Gegensatz zur bloß passiven.

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Es ist auch klar geworden, daß die einfachere Form des Seins, mag sie noch so viele Übergangskategorien hervorbringen, vom wirklichen Entstehen der komplizierteren Seinsform doch durch einen Sprung getrennt ist; diese ist etwas qualitativ Neues, dessen Genesis aus der einfacheren Form nie einfach »abgeleitet« werden kann. Auf je einen solchen Sprung folgt der Ausbau der neuen Seinsform. Sosehr dabei stets etwas qualitativ Neues entsteht, scheint dieses Neue in vielen Fällen doch nichts weiter zu sein, als eine Abwandlung der Reaktionsweisen des fundierenden Seins in neue Wirkungskategorien, in jene, die das Neue am neuentstandenen Sein eigentlich ausmachen. Man denke daran, wie das Licht, das auf die Pflanzen noch in rein physisch-chemischer Weise wirkt (damit freilich schon hier spezifische Lebenseffekte auslösend), im Sehen höherer Tiere spezifisch biologische Reaktionsformen auf die Umgebung entwickelt. So nimmt der Reproduktionsprozeß in der organischen Natur immer seinem eigentlichen Wesen entsprechendere Formen auf, wird immer entschiedener ein Sein sui generis, obwohl das Begründetsein auf die ursprünglichen Seinsfundamente niemals aufgehoben werden kann. Ohne diesen Problemkomplex auch nur andeuten zu können, sei hier bemerkt, daß die Höherentwicklung des organischen Reproduktionsprozesses, das im eigentlichen Sinne immer reiner und ausgesprochener Biologischwerden, mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen auch eine Art von Bewußtsein ausbildet, ein wichtiges Epiphänomenon als ein höheres Organ seines erfolgreichen Funktionierens. Eine bestimmte Entwicklungshöhe der organischen Reproduktionsprozesse ist unerläßlich, damit die Arbeit als dynamisch-struktive Grundlage einer neuen Seinsart entstehen könne. Auch hier müssen wir an den zahlreich vorhandenen Ansätzen zur Arbeit, die bloß Ansätze bleiben, vorbeigehen, auch an jenen Sackgassen, wo nicht nur eine Art von Arbeit, sondern auch ihre notwendige Entwicklungsfolge, die Arbeitsteilung, entstand (Bienen etc.), weil letztere, indem sie sich als eine biologische Differenzierung der Gattungsexemplare fixiert, kein Prinzip der Weiterentwicklung zu einem neuartigen Sein werden konnte, sondern eine entwicklungslose Stabilität blieb, eben eine Sackgasse in der Entwicklung. Das Wesen der Arbeit besteht gerade darin, daß sie über dieses Gebanntsein der Lebewesen in die biologische Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt hinausgeht. Nicht die Vollendung der Produkte bildet das wesentlich trennende Moment, sondern die Rolle des Bewußtseins, das gerade hier aufhört, ein bloßes Epiphänomenon der biologischen Reproduktion zu sein: das Produkt ist, sagt Marx, ein Resultat, das beim Beginn des Prozesses »schon in der Vorstellung des Arbeiters«, also schon ideell vorhanden war. Es scheint vielleicht auffallend, daß gerade bei der materialistischen Abgrenzung des Seins der organischen Natur vom gesellschaftlichen Sein dem Bewußtsein eine derart ausschlaggebende Rolle zugeschrieben wird. Man darf aber dabei nicht vergessen, daß die hier auftauchenden Problemkomplexe (ihr höchster Typus ist der von Freiheit

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und Notwendigkeit) nur bei einer aktiven Rolle des Bewußtseins  –  gerade ontologisch – einen wahrhaften Sinn erhalten können. Wo das Bewußtsein keine wirksame Seinsmacht geworden ist, kann dieser Gegensatz überhaupt nicht auftreten. Dagegen muß überall, wo dem Bewußtsein objektiv eine derartige Rolle zukommt, die Lösung von diesen Gegensätzen beladen sein. Man kann mit gutem Recht den arbeitenden Menschen, das durch die Arbeit zum Menschen gewordene Tier, als ein antwortendes Wesen bezeichnen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß jede Arbeitstätigkeit als antwortgebende Lösung des sie auslösenden Bedürfnisses entsteht. Man würde jedoch am Wesen der Sache vorbeigehen, würde man hier ein unmittelbares Verhältnis voraussetzen. Der Mensch wird im Gegenteil gerade dadurch zu einem antwortenden Wesen, daß er mit der gesellschaftlichen Entwicklung parallel, in zunehmender Weise – seine Bedürfnisse, die Möglichkeiten ihrer Befriedigung, zu Fragen verallgemeinert und in seiner Antwort auf das sie auslösende Bedürfnis seine Tätigkeit durch derartige oft weitverzweigte Vermittlungen begründet und bereichert. So ist nicht nur die Antwort, sondern auch die Frage unmittelbar ein Produkt des die Tätigkeit leitenden Bewußtseins. Damit hört jedoch das Antworten nicht auf, das seinsmäßig Primäre in diesem bewegten Komplex zu sein. Das mate­rielle Bedürfnis, als Motor des individuellen wie sozialen Reproduktionsprozesses, setzt erst den Arbeitskomplex wirklich in Bewegung und alle Vermittlungen sind seinsmäßig nur dazu da, um es zu befriedigen. Freilich mit Hilfe von Vermittlungsketten, die sowohl die die Gesellschaft umgebende Natur wie die in ihr tätigen Menschen, ihre Beziehungen etc., ununterbrochen umwandeln, indem sie in der Natur Kräfte, Relationen, Eigenschaften etc. praktisch wirksam werden lassen, die sonst unmöglich solche Wirkungen hätten auslösen können, indem der Mensch im Freisetzen und Beherrschen dieser Kräfte selbst eine Höherentwicklung seiner Fähigkeiten zustande bringt. Mit der Arbeit ist also die Möglichkeit ihrer Höherentwicklung, die der sie ausübenden Menschen, ontologisch mitgegeben. Schon dadurch, aber vor allem infolge der Verwandlung der bloß reagierenden passiven Anpassung des Reproduktions­prozesses an die Umwelt, durch deren bewußte und aktive Umgestaltung, wird die Arbeit nicht bloß zum Faktum, in welchem die neue Eigenart des gesellschaftlichen Seins zum Ausdruck gelangt, sondern – gerade ontologisch – zum Modellfall der ganzen neuen Seinsform. Je genauer wir ihr Funktionieren betrachten, desto deutlicher wird dieser Charakter. Die Arbeit besteht aus teleologischen Setzungen, die jeweils Kausalreihen in Gang setzen. Diese schlicht-konstatierende Feststellung eliminiert jahrtausendalte ontologische Vorurteile. Im Gegensatz zur Kausalität, die das spontane Gesetz darstellt, in dem alle Bewegungen sämtlicher Seinsformen ihren allgemeinen Ausdruck erhalten, ist Teleo­logie eine  –  stets von einem Bewußtsein vollzogene  –  Setzungsweise, die, sie in bestimmte Richtungen leitend, doch nur Kausalreihen in Bewegung setzen kann. Wenn also in früheren Philosophien die teleologische Setzung nicht als eine derartige Besonderheit des gesellschaftlichen Seins erkannt wurde, mußte einerseits

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ein transzendentes Subjekt, andererseits eine besondere Beschaffenheit der teleologisch wirkenden Zusammenhänge ausgeklügelt werden, um Natur und Gesellschaft Entwicklungstendenzen teleologischer Art zusprechen zu können. Die Gedoppeltheit in diesem Tatbestand, daß in einer Gesellschaft, die wirklich gesellschaftlich geworden ist, zwar die Mehrzahl jener Aktivitäten, deren Totalität die Gesamtheit bewegt, teleologischen Ursprungs ist, ihre reale Existenz, gleichviel ob einzeln geblieben oder zusammengefaßt, aber doch aus Kausalzusammenhängen besteht, die nie und nirgends, in keiner Beziehung teleologischen Charakters sein können, ist hier der entscheidende Gesichtspunkt. Jede gesellschaftliche Praxis, wenn wir die Arbeit als ihr Modell betrachten, vereinigt in sich diese Gegensätzlichkeit. Einerseits ist sie eine Alternativentscheidung, denn stets muß jeder Einzelmensch jedesmal, wenn er etwas tut, sich dazu oder zur Enthaltung davon entscheiden. Jede gesellschaftliche Tat entspringt also aus einer Alternativentscheidung über zukünftige teleologische Setzungen. Die gesellschaftliche Notwendigkeit kann sich nur in dem – oft anonymen – Druck auf die Individuen, ihre Alternativentscheidungen in einer bestimmten Richtung zu vollziehen, durchsetzen. Marx bezeichnet diese Lage richtig so, daß die Menschen »bei Strafe des Untergangs« von den Umständen in einer bestimmten Weise zu handeln gedrängt werden. Die Menschen müssen aber ihre Handlungen, letzten Endes, doch selbst vollziehen, auch wenn sie dabei oft gegen ihre Überzeugungen handeln. Aus dieser unaufhebbaren Lage des in der Gesellschaft lebenden Menschen lassen sich  –  natürlich die komplizierteren in komplizierteren Situationen berücksichtigend – alle realen Probleme des Komplexes, den wir Freiheit zu nennen pflegen, ableiten. Ohne das Gebiet der Arbeit im eigentlichen Sinne zu überschreiten, können wir auf die Kategorien von Wert und Sollen hinweisen. Die Natur kennt weder das eine noch das andere. Die Wandlungen von Sosein ins Anderssein in der anorganischen Natur haben selbstredend nichts mit Werten zu tun. In der organischen Natur, wo der Reproduktionsprozeß seinsmäßig eine Anpassung an die Umgebung bedeutet, kann bereits von deren Gelingen oder Mißlingen gesprochen werden, aber auch dieser Gegensatz überschreitet  –  gerade seinsmäßig  –  nie die Grenzen des bloßen Andersseins. Ganz anders bereits in der Arbeit. Die Erkenntnis unterscheidet im Allgemeinen sehr deutlich das objektiv seiende Ansichsein der Gegenstände von ihrem bloß gedachten Fürunssein, das sie im Erkenntnisprozeß erhalten. Nun wird aber in der Arbeit das Fürunssein des Arbeitsprodukts zu seiner gegenständlichen real seienden Eigenschaft, gerade zu jener, durch welche es, wenn richtig gesetzt und verwirklicht, seine gesellschaftlichen Funktionen erfüllen kann. Dadurch wird es wertvoll (im Falle des Mißlingens: wertlos, wertwidrig). Das wirkliche Gegenständlichwerden des Fürunsseins ist es, wodurch allein Werte real entstehen können. Daß diese auf höheren Stufen der Gesellschaftlichkeit geistigere Formen aufnehmen, hebt die fundamentale Bedeutung dieser ontologischen Genesis nicht auf.

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Ähnlich steht es um das Sollen. Das Sollen beinhaltet eine durch gesellschaftliche Zielsetzungen (und nicht nur bloß naturhafte oder spontan menschliche Neigungen) bestimmte Verhaltensweise des Menschen. Nun gehört aber zum Wesen der Arbeit, daß in ihr jede Bewegung, die sie vollziehenden Menschen, von im voraus bestimmten Zielen dirigiert werden müssen. Jede Bewegung ist also einem Sollen unterstellt. Auch hier ändert sich nichts seinsmäßig Ausschlaggebendes, wenn diese dynamische Struktur auf rein geistige Wirkungsgebiete übertragen wird. Es zeigen sich im Gegenteil die seinsmäßigen Verbindungsglieder, die vom Anfänglichen zu den späteren geistigeren Verhaltensweisen führen, in voller Klarheit, im Gegensatz zu den erkenntnistheoretisch-logischen Methoden, bei denen der Weg, der von den höheren Formen zu den anfänglichen führt, unsichtbar wird, ja wo diese vom Gesichtspunkt jener geradezu als Gegensätze erscheinen. Wenn wir nun vom setzenden Subjekt einen Blick auf den Gesamtprozeß der Arbeit werfen, so zeigt sich sogleich, daß dieses zwar die teleologische Setzung bewußt vollzieht, jedoch niemals so, daß es imstande sein könnte, alle Bedingungen seiner eigenen Tätigkeit geschweige denn alle ihre Folgen zu überblicken. Selbstverständlich hält das die Menschen vom Handeln nicht ab. Gibt es doch unzählige Lagen, in denen bei Strafe des Untergangs unbedingt gehandelt werden muß, trotz der Einsicht, daß man nur einen winzigen Teil der Umstände zu übersehen imstande ist. Aber auch in der Arbeit selbst weiß der Mensch oft, daß er nur einen kleinen Kreis ihrer Umstände beherrschen kann, daß er sie aber – da das Bedürfnis drängt und die Arbeit auch so dessen Befriedigung in Aussicht stellt – doch irgendwie zu vollziehen imstande ist. Diese unaufhebbare Lage hat zwei wichtige Konsequenzen. Erstens die innere Dialektik der ständigen Vervollkommnung der Arbeit, indem während ihres Vollzugs, infolge der Beobachtung ihrer Ergebnisse etc. der Umkreis der erkennbar gewordenen Bestimmungen ständig zunimmt und demzufolge die Arbeit selbst immer vielfältiger, immer größere Gebiete umfassend, extensiv wie intensiv immer höher geartet wird. Da aber dieser Prozeß der Vervollkommnung die Grundtatsache, die Unerkennbarkeit sämtlicher Umstände, nicht aufheben kann, erweckt – parallel mit ihrem Wachstum – diese Seinsweise der Arbeit auch das Erlebnis einer transzendenten Wirklichkeit, deren unbekannte Mächte der Mensch irgendwie zu seinen Gunsten zu wenden versucht. Es ist hier nicht der Ort, sich mit den verschiedenen Formen der magischen Praxis, des religiösen Glaubens etc., die aus dieser Lage herauswachsen, zu beschäftigen. Aber ganz unerwähnt durften sie auch nicht bleiben, obwohl sie selbstredend nur eine Quelle dieser ideologischen Formen bilden. Besonders weil die Arbeit nicht nur der objektiv-ontologische Modellfall einer jeden menschlichen Tätigkeit ist, sondern in den hier erwähnten Fällen auch das direkte Vorbild für die göttliche Schöpfung der Wirklichkeit, für jedes durch einen allwissenden Schöpfer teleologisch produzierte Gebilde. Arbeit ist ein bewußtes Setzen, setzt also ein wenn auch nie vollkommen konkretes Wissen von bestimmtem Ziel und Mittel voraus. Da, wie gezeigt wurde, die

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Entwicklung, die Vervollkommnung, zu ihren ontologischen Wesenszeichen gehört, bildet sie sich, indem sie gesellschaftliche Gebilde höherer Ordnung ins Leben ruft. Die vielleicht wichtigste dieser Differenzierungen ist die zunehmende Verselbständigung der Vorarbeiten, die, immer relative, Loslösung der Erkenntnis von Ziel und Mittel in der konkreten Arbeit selbst. Mathematik, Geometrie, Physik, Chemie etc. waren ursprünglich Teile, Momente dieses Vorbereitungsprozesses der Arbeit. Allmählich erwuchsen sie zu selbständigen Erkenntnisgebieten, ohne diese ursprüngliche Funktion je vollständig verlieren zu können. Je universeller und selbständiger diese Wissenschaften werden, desto universeller und vollkommener wird auch die Arbeit; je mehr sie sich ausbreiten, intensivieren etc., desto größer wird der Einfluß der so entstandenen Erkenntnisse auf Zielsetzung und Mittel der Durchführung der Arbeit. Eine derartige Differenzierung ist bereits eine relativ hoch ausgebildete Form der Arbeitsteilung. Diese selbst ist aber die elementarste Folge der Entwicklung der Arbeit selbst. Noch bevor sie zur vollen intensiven Entfaltung gelangt war, etwa in der Sammlerperiode, taucht diese Folgeerscheinung etwa bei der Jagd bereits auf. Das für uns ontologisch Bemerkenswerte ist dabei das Auftreten einer neuen Form der teleologischen Setzung: es soll nämlich dabei nicht ein Stück Natur den menschlichen Zielsetzungen entsprechend bearbeitet werden, sondern ein Mensch (oder mehrere) sollen dazu veranlaßt werden, teleologische Setzungen in einer vorbestimmten Weise zu vollziehen. Da eine bestimmte Arbeit, mag die sie charakterisierende Arbeitsteilung noch so differenziert sein, nur ein einheitliches Hauptziel haben kann, müssen Mittel gefunden werden, diese Einheitlichkeit der Zielsetzung in der Vorbereitung und Durchführung der Arbeit zu garantieren. Darum müssen diese neuen teleologischen Setzungen simultan mit der Arbeitsteilung in Wirksamkeit treten und sie bleiben auch weiter ein unentbehrliches Mittel in jeder arbeitsteiligen Arbeit. Mit höherer gesellschaftlicher Differenzierung, mit der Entstehung von Gesellschaftsklassen mit antagonistischen Interessen, wird diese Art der teleologischen Setzungen die geistigestruktive Grundlage dessen, was der Marxismus Ideologie nennt. In den Konflikten nämlich, die die Widersprüche der entwickelteren Produktionen aufwerfen, ergibt die Ideologie die Formen, in denen die Menschen sich dieser Konflikte bewußt werden und sie ausfechten. Solche Konflikte durchdringen das gesamte gesellschaftliche Leben immer stärker. Von privaten und unmittelbar privat gelösten Gegensätzen in der Einzelarbeit und im Alltagsleben reichen sie bis zu jenen gewichtigen Problemkomplexen hinauf, die die Menschheit bis jetzt in ihren großen gesellschaftlichen Umwälzungen auszufechten bestrebt war. Der fundamentalste Strukturtypus zeigt aber überall wesentlich gemeinsame Züge: so wie für die Arbeit selbst das reale Wissen über die in Betracht kommenden Naturprozesse unvermeidlich war, um eben den Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur erfolgreich abzuwickeln, so ist hier ein gewisses Wissen über die Beschaffenheit der Menschen, ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zueinander

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unerläßlich, um sie zu veranlassen, die erwünschten teleologischen Setzungen zu vollziehen. Wie aus solchen lebensnotwendig entstandenen Erkenntnissen, die anfangs die Formen von Sitte, Tradition, Gewohnheit, auch von Mythen aufnehmen, später rationalisierte Verfahrensweisen, ja Wissenschaften erwachsen sind, ist, nach Fontanes Worten, ein weites Feld. Es kann deshalb in einem Vortrag unmöglich behandelt werden. Wir können nur darauf hinweisen, daß die den Stoffwechsel mit der Natur beeinflussenden Erkenntnisse von den teleologischen Setzungen, die zu fundieren sie entstanden sind, leichter ablösbar sein müssen, als jene, die auf das Beeinflussen von Menschen und Menschengruppen gerichtet sind. Hier ist die Beziehung zwischen Zweck und erkenntnismäßiger Begründung viel intimer. Diese Feststellung soll aber keineswegs zu einer erkenntnistheoretischen Überspannung von Einheitlichkeit oder absoluter Differenz führen. Es sind ontologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichzeitig vorhanden, die nur in einer konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Dialektik ihre Lösung finden können. Hier konnte bloß auf das gesellschaftlich-ontologische Fundament hingewiesen werden. Jedes gesellschaftliche Geschehen entspringt aus teleologischen Einzelsetzungen, ist aber selbst rein kausalen Charakters. Die teleologische Genesis hat naturgemäß wichtige Konsequenzen für alle gesellschaftlichen Prozesse. Einerseits können Gegenstände mit all ihren Folgen entstehen, die die Natur selbst nie hätte produzieren können; man denke, um auch diesen Tatbestand auf primitiver Stufe aufzuzeigen, etwa an das Rad. Andererseits entwickelt sich jede Gesellschaft dahin, daß die Notwendigkeit aufhört, mechanisch-spontan zu wirken, ihre typische Erscheinungsweise wird immer stärker, die Menschen zu bestimmten teleologischen Entscheidungen je nach dem zu veranlassen, zu drängen, zu pressen etc. oder von ihnen abzuhalten. Der Gesamtprozeß der Gesellschaft ist ein kausaler, der seine eigenen Gesetzlichkeiten hat, nie aber ein objektives Gerichtetsein auf Ziele. Auch wo es Menschen oder Menschengruppen gelingt, ihre Zielsetzungen zu verwirklichen, bringen die Ergebnisse der Regel nach etwas vom Gewollten durchaus Verschiedenes hervor. (Man denke daran, daß die Entwicklung der Produktivkräfte in der Antike die Grundlagen der Gesellschaft zersetzte, daß sie in einem bestimmten Stadium des Kapitalismus periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen hervorrief usw. usw.) Diese innere Diskrepanz zwischen den teleologischen Setzungen und ihren kausalen Folgen steigert sich mit dem Wachstum der Gesellschaften, mit der Intensivierung des gesellschaftlich-menschlichen Anteils an ihnen. Natürlich muß auch dies in seiner konkreten Widersprüchlichkeit verstanden werden. Bestimmte große ökonomische Ereignisse (man denke etwa an die Krise von 1929) können mit dem Schein einer unwiderstehlichen Naturkatastrophe auftreten. Die Geschichte zeigt aber, daß gerade in den größten Umwälzungen, man denke an die großen Revolutionen, die Rolle dessen, was Lenin den subjektiven Faktor zu nennen pflegte, gerade sehr bedeutend war. Die Verschiedenheit der Zielsetzungen und ihrer Folgen äußert sich allerdings als faktisches Übergewicht der materiellen Elemente

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und Tendenzen im Reproduktionsprozeß der Gesellschaft. Das bedeutet jedoch nie, daß dieser sich stets zwangsläufig, keine Widerstände duldend, durchsetzen könnte. Der subjektive Faktor, entsprungen aus der menschlichen Reaktion auf solche Bewegungstendenzen, bleibt auf vielen Gebieten ständig ein zuweilen modifizierender, zuweilen sogar ausschlaggebender Faktor.

III. Wir haben zu zeigen versucht, wie die entscheidenden Kategorien und ihre Zusammenhänge im gesellschaftlichen Sein bereits in der Arbeit gegeben sind. Der Umfang dieses Vortrags gestattet nicht, den stufenweisen Aufstieg von der Arbeit bis zur Totalität der Gesellschaft, auch nur andeutend zu verfolgen. (Wir können z. B. auf so wichtige Übergänge wie vom Gebrauchswert zum Tauschwert, wie von diesem zum Geld etc. gar nicht eingehen.) Meine Hörer müssen mir also gestatten – um die Bedeutung der bisher skizzierten Ontologien schon für die Gesamtgesellschaft, ihre Entwicklung, deren Perspektiven wenigstens andeutend aufzuzeigen  –  sachlich höchst bedeutende Vermittlungsgebiete einfach zu überspringen, um wenigstens den allerallgemeinsten Zusammenhang dieses genetischen Anfangs von Gesellschaft und Geschichte mit ihrer Entwicklung selbst etwas deutlicher ins Licht treten zu lassen. Vor allem kommt es darauf an, zu sehen, worin jene ökonomische Notwendigkeit besteht, die Freunde und Feinde von Marx am Gesamtbild seines Werks mit so wenig Verständnis zu lobpreisen oder verächtlich zu machen pflegen. Gleich eingangs soll die Selbstverständlichkeit, daß es sich nicht um einen naturhaft notwendigen Prozeß handelt, betont werden, obwohl Marx selbst, mit dem Idealismus polemisierend, zuweilen solche Ausdrücke gebraucht. Auf den fundamentalen ontologischen Grund – Kausalität, in Gang gebracht durch teleologische Alternativentscheidungen – haben wir ja bereits nachdrücklich hingewiesen. Das hat zur Folge, daß unsere positiven Erkenntnisse darüber im konkret Wesentlichen einen post-festum-Charakter haben müssen. Es werden natürlich generelle Tendenzen sichtbar, diese setzen sich aber konkret derart ungleichmäßig durch, daß wir zumeist nur ein nachträgliches Wissen über ihre konkrete Beschaffenheit erlangen können: die Verwirklichungsweisen der differenzierteren, komplexeren gesellschaftlichen Gebilde zeigen in den meisten Fällen erst deutlich, wohin die Entwicklungsrichtung einer Übergangsperiode wirklich ging. Genau lassen sich solche Tendenzen also erst nachträglich erfassen; die inzwischen gebildeten und für die Entfaltung der Tendenzen selbst keineswegs ganz gleichgültigen gesellschaftlichen Einsichten, Bestrebungen, Voraussichten etc. erhalten ebenfalls erst nachträglich ihre Bestätigung, bzw. Widerlegung. In der bisherigen ökonomischen Entwicklung können wir drei solche Entwicklungsrichtungen wahrnehmen, die sich, freilich oft sehr ungleichmäßig, aber doch

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unabhängig vom Wollen und Wissen, die den teleologischen Setzungen zugrunde lagen, offenkundig durchgesetzt haben. Erstens vermindert sich die zur Reproduktion der Menschen gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit tendenziell stetig. Diese Tatsache wird heute als Generaltendenz niemand mehr bestreiten. Zweitens ist dieser Reproduktionsprozeß selbst immer stärker gesellschaftlich geworden. Wenn Marx von einem ständigen »Zurückweichen der Naturschranke« spricht, so meint er einerseits, daß das Basiertsein des menschlichen (und daher des gesellschaftlichen) Lebens auf Naturprozesse nie ganz aufhören kann, andererseits, daß der quantitative wie qualitative Anteil des bloß Naturhaften, sowohl in der Produktion wie in den Produkten stets abnimmt, daß alle entscheidenden Momente der menschlichen Reproduktion – man denke an derart naturhafte wie Ernährung oder Geschlechtlichkeit – immer mehr gesellschaftliche Momente in sich aufnehmen, von ihnen ständig und wesentlich transformiert werden. Drittens schafft die ökonomische Entwicklung ebenfalls immer entschiedenere quantitative wie qualitative Verbindungen zwischen den einzelnen, ursprünglich ganz kleinen, selbständigen Gesellschaften, aus denen das Menschengeschlecht anfangs objektiv real bestand. Die sich heute immer stärker realisierende ökonomische Vorherrschaft des Weltmarkts zeigt bereits eine – wenigstens allgemein ökonomisch – vereinheitlichte Menschheit. Das Vereinigtsein besteht allerdings nur als ein Sein und Wirksamwerden von realen ökonomischen Einheitsprinzipien. Es verwirklicht sich konkret in einer Welt, in der diese Integration für das Leben der Menschen und Völker die schwierigsten, zugespitztesten Konflikte aufwirft (Negerfrage in den USA). Es handelt sich in allen diesen Fällen um entscheidend wichtige Tendenzen der äußeren wie inneren Umgestaltung des gesellschaftlichen Seins, durch welche dieses seine eigentliche Gestalt erhält, daß nämlich der Mensch aus einem Naturwesen zur menschlichen Persönlichkeit, aus einer relativ hochentwickelten Tiergattung zum Menschengeschlecht, zur Menschheit geworden ist. All dies ist das Produkt der im Komplex der Gesellschaft entstehenden Kausalreihen. Der Prozeß selbst hat kein Ziel. Seine Höherentwicklung beinhaltet deshalb das Wirksamwerden immer höher gearteter, immer fundamentalerer Widersprüchlichkeiten. Der Fortschritt ist zwar eine Zusammenfassung menschlicher Tätigkeiten, aber nie ihre Vollendung im Sinne irgendwelcher Teleologie: darum werden von dieser Entwicklung primitive, noch so schöne, aber ökonomisch bornierte Vollendungen immer wieder zerstört; darum erscheint der objektiv ökonomische Fortschritt stets in der Form neuer gesellschaftlicher Konflikte. So entstehen aus der ursprünglichen Gemeinschaft der Menschen die unlösbar scheinenden Antinomien der Klassengegensätze; darum sind auch die ärgsten Formen der Unmenschlichkeit Ergebnisse eines solchen Fortschritts. So ist in den Anfängen die Sklaverei ein Fortschritt dem Kannibalismus gegenüber; so ist heute die Allgemeinheit der Entfremdung

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der Menschen ein Symptom dafür, daß die ökonomische Entwicklung das Verhältnis des Menschen zur Arbeit zu revolutionieren im Begriffe ist. Einzelheit ist bereits eine Naturkategorie des Seins und Gattung ist es gleichfalls. Diese beiden Pole des organischen Seins können ihre Selbsterhöhung zur menschlichen Persönlichkeit und zur Menschengattung im gesellschaftlichen Sein nur simultan, nur im Prozeß des immer Gesellschaftlicherwerdens der Gesellschaft erhalten. Der Materialismus vor Marx kam hier nicht einmal bis zur Fragestellung. Für Feuerbach gibt es, nach dem kritischen Vorwurf von Marx, nur das isolierte menschliche Individuum auf der einen und eine stumme, die vielen Einzelnen nur naturhaft verbindende Gattung auf der anderen Seite. Die Aufgabe einer historisch gewordenen materialistischen Ontologie ist es dagegen, die Genesis, das Wachstum, die Widersprüche innerhalb der einheitlichen Entwicklung aufzudecken; zu zeigen, daß der Mensch, als Produzent und zugleich als Produkt der Gesellschaft, im Menschsein etwas Höheres verwirklicht, als bloß einzelnes Exemplar einer abstrakten Gattung zu sein, daß Gattung auf diesem Seinsniveau, auf dem des entwickelten gesellschaftlichen Seins, keine bloße Verallgemeinerung mehr ist, deren Exemplare ihr »stumm« zugeordnet bleiben, daß sie sich vielmehr zu einer immer deutlicher artikulierenden Stimme erheben, zur seiendgesellschaftlichen Synthese der Individualitäten gewordenen Einzelnen mit der in ihnen selbstbewußt gewordenen Menschengattung.

IV. Als Theoretiker dieses Seins und Werdens zieht Marx alle Folgerungen aus der historischen Entwicklung. Er stellt fest, daß die Menschen mittels der Arbeit sich selbst zu Menschen machten, daß aber die bisherige Geschichte doch nur eine Vorgeschichte der Menschheit ist. Die echte Geschichte kann erst mit dem Kommunismus als mit dem höheren Stadium des Sozialismus beginnen. Der Kommunismus ist also bei Marx keine utopisch-gedankliche Vorwegnahme eines zu erreichenden Zustands der erdachten Vollendung, sondern im Gegenteil der reale Beginn der Entfaltung jener echt menschlichen Kräfte, die die bisherige Entwicklung als wichtige Errungenschaften der Menschwerdung hervorgebracht, reproduziert, widerspruchsvoll höherentwickelt hat. All dies ist die Tat der Menschen selbst, das Ergebnis ihrer eigenen Tätigkeit. »Die Menschen machen ihre Geschichte selbst«, sagt Marx, »aber nicht unter selbstgewählten Umständen.« Das bedeutet dasselbe, was wir früher so formuliert haben, daß der Mensch ein antwortendes Wesen ist. Es spricht sich hier die dem gesellschaftlichen Sein widerspruchsvoll-untrennbar innewohnende Einheit von Freiheit und Notwendigkeit aus, die bereits in der Arbeit als untrennbar widersprüchliche Einheit der teleologischen Alternativentscheidungen mit den unaufhebbar kausal-zwangsläufigen Voraussetzungen und Folgen wirksam war. Eine Einheit, die sich auf allen gesellschaftlich

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persönlichen Ebenen der menschlichen Aktivität in immer neuen, immer verwickelteren und vermittelteren Formen stets neu reproduziert. Darum spricht Marx von der Periode des Anfangs der echten Menschheitsgeschichte als von einem »Reich der Freiheit«, das aber »nur auf jenem Reich der Notwendigkeit« (der ökonomisch-sozialen Reproduktion der Menschheit, der objektiven Entwicklungstendenzen, auf die wir früher hingewiesen haben) »als seiner Basis aufblühen kann«. Gerade diese Gebundenheit des Reichs der Freiheit an seine gesellschaftlich-materielle Basis, an das ökonomische Reich der Notwendigkeit zeigt die Freiheit des Menschengeschlechts als Ergebnis seiner eigenen Tätigkeit auf. Freiheit, auch ihre Möglichkeit, ist weder etwas Naturgegebenes, noch ein Geschenk von »oben«, auch kein Bestandteil – rätselhaften Ursprungs – des menschlichen Wesens. Es ist das Produkt der menschlichen Tätigkeit selbst, die zwar konkret stets anderes erzielt, als sie gewollt hat, jedoch in ihren realen Folgen – objektiv – den Spielraum der Freiheitsmöglichkeit doch ständig ausdehnt. Und zwar unmittelbar im ökonomischen Entwicklungsprozeß, indem sie einerseits Zahl, Tragweite etc. der menschlichen Alternativentscheidungen ausdehnt, andererseits die Fähigkeiten der Menschen durch Steigerung der ihnen von ihrer Tätigkeit her gestellten Aufgaben ebenfalls erhöht. Das liegt natürlich noch alles im »Reich der Notwendigkeit«. Die Entwicklung des Arbeitsprozesses, des Tätigkeitsfeldes, hat aber auch andere, indirektere Folgen: vor allem die Entstehung und Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Diese hat die Fähigkeitssteigerungen zur unvermeidlichen Basis, ist aber keineswegs deren einfache, geradlinige Fortführung. Ja in der bisherigen Entwicklung besteht zwischen ihnen oft sogar vorherrschend ein Verhältnis der Gegensätzlichkeit. Dieses ist auf den verschiedenen Etappen der Entwicklung verschieden, verschärft sich jedoch mit ihrer Höhe. Heute scheint die sich immer stärker differenzierende Fähigkeitsentwicklung geradezu als Hindernis des Persönlichkeitswerdens zu wirken, als Vehikel zur Entfremdung der menschlichen Persönlichkeit. Schon mit der primitivsten Arbeit hört die Gattungsmäßigkeit der Menschen auf, stumm zu sein. Sie erreicht aber zunächst und unmittelbar bloß ein Ansichsein: das tätige Bewußtsein über den jeweils vorhandenen, ökonomisch fundierten gesellschaftlichen Zusammenhang. So groß die Fortschritte der Gesellschaftlichkeit auch geworden sind, so weit sich ihr Horizont auch ausgedehnt hat, das generelle Bewußtsein des Menschengeschlechts hat diese Partikularität des jeweils gegebenen Standes für Mensch und Gattung noch nicht überschritten. Dennoch verschwand auch die höhere Gattungsmäßigkeit niemals völlig von der Tagesordnung der Geschichte. Marx bestimmt das Reich der Freiheit als eine »menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt«, die also für Einzelmensch wie Gesellschaft gehaltvoll genug ist, um als Selbstzweck zu gelten. Es ist vorerst klar, daß eine solche Gattungsmäßigkeit eine bis jetzt noch bei weitem nicht erreichte Höhe des Reichs der Notwendigkeit voraussetzt. Erst wenn die Arbeit wirklich völlig von der

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Menschheit beherrscht wird, erst wenn ihr deshalb bereits die Möglichkeit innewohnt, »nicht nur Mittel zum Leben« zu sein, sondern »erstes Lebensbedürfnis«, erst wenn die Menschheit jeden Zwangscharakter der eigenen Selbstreproduktion überholt hat, ist der gesellschaftliche Weg für menschliche Tätigkeit als Selbstzweck freigelegt. Freilegen heißt: die notwendigen materiellen Bedingungen herbeizuschaffen; einen Möglichkeitsspielraum für die freie Selbstbetätigung. Beide sind Produkte der menschlichen Tätigkeit. Die erste aber die einer notwendigen Entwicklung, die zweite des richtigen, menschenwürdigen Gebrauchs des notwendig Hervorgebrachten. Die Freiheit selbst kann nicht bloß ein notwendiges Produkt einer zwangsläufigen Entwicklung sein, auch wenn alle Voraussetzungen ihrer Entfaltung erst in dieser die Möglichkeiten ihres Seiendwerdens erhalten. Darum handelt es sich hier nicht um eine Utopie. Denn erstens sind sämtliche realen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung von einem notwendigen Prozeß hervorgebracht. Nicht umsonst wurde ein so großes Gewicht auf das Freiheitsmoment in den Alternativentscheidungen bereits der anfänglichsten Arbeit gelegt. Der Mensch muß seine Freiheit durch eigene Tat erwerben. Er kann es aber nur tun, weil jede seiner Tätigkeiten bereits ein Moment der Freiheit als notwendigen Bestandteil mitenthielt. Es handelt sich jedoch um weitaus mehr. Wenn dieses Moment nicht im Laufe der ganzen Menschheitsgeschichte ununterbrochen auftritt, wenn es nicht eine fortlaufende Kontinuität in ihr bewahren würde, könnte es natürlich auch bei der großen Wendung nicht die Rolle des subjektiven Faktors spielen. Die widerspruchsvolle Ungleichmäßigkeit der Entwicklung selbst hat aber stets solche Folgen gehabt. Schon der rein kausale Charakter der Folgen der teleologischen Setzungen läßt jeden Fortschritt als Einheit in der Gegensätzlichkeit von Fortschritt und Rückschritt in die Welt treten. Mit den Ideologien wird dies nicht nur zur Bewußtheit (oft zu einer falschen Bewußtheit) erhoben und den jeweils gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen entsprechend ausgefochten, sondern immer wieder auch auf die Gesellschaften als lebendige Totalitäten, auf die Menschen als ihren wahren Weg suchenden Persönlichkeiten bezogen. In bedeutenden Einzeläußerungen kommt also das – bisher immer fragmentarische – Bild einer Welt der menschlichen Tätigkeiten, die wert ist, als Selbstzweck zu gelten, immer wieder zum Ausdruck. Ja es ist bemerkenswert, daß, während die meisten, in ihrer Zeit epochemachenden praktischen Neuordnungen spurlos aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden, diese praktisch notwendig vergeblichen, oft zum tragischen Untergang verurteilten Ansätze vielfach unausrottbar in der Erinnerung der Menschheit lebendig erhalten bleiben. Das Bewußtsein des besten Teils der Menschen, die im Prozeß des echten Menschwerdens einen Schritt weiter zu gehen imstande sind, als die meisten ihrer Zeitgenossen, gibt bei aller praktischen Problematik ihren Äußerungen eine solche Dauer. Es kommt in ihnen eine Verbundenheit von Persönlichkeit und Gesellschaft zum Ausdruck, die gerade auf diese vollentwickelte Gattungsmäßigkeit des Menschen intentioniert. Durch

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ihre Bereitschaft, in den Krisen der normal erreichten Möglichkeiten der Gattung ein inneres Weitergehen in Angriff zu nehmen, helfen sie, bei dem materiellen Erfülltsein der Möglichkeiten einer Gattungsmäßigkeit für sich, diese real herbeizuführen. Die meisten Ideologien standen und stehen im Dienst der Erhaltung und Entwicklung der Gattungsmäßigkeit an sich. Sie sind deshalb stets aufs Konkret-Aktuelle ausgerichtet, mit gewollt verschiedenen Arten des aktuellen Ausfechtens ausgerüstet. Nur die große Philosophie und die große Kunst (sowie die beispielgebenden Verhaltensweisen einzelner handelnder Menschen) wirken in dieser Richtung, werden ohne Zwang im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt, akkumulieren sich als Bedingungen einer Bereitschaft: die Menschen für ein Reich der Freiheit innerlich vorzubereiten. Es handelt sich dabei vor allem um ein gesellschaftlich-menschliches Ablehnen jener Tendenzen, die dieses Menschwerden des Menschen gefährden. Der junge Marx hat z.B. in der Herrschaft der Kategorie des »Habens« eine solche zentrale Gefahr erkannt, Nicht zufällig gipfelt der menschliche Befreiungskampf bei ihm in der Perspektive, daß die menschlichen Sinne zu Theoretikern werden sollen. Es ist also sicher kein Zufall, daß neben den großen Philosophen Shakespeare und die griechischen Tragiker eine so große Rolle in der geistigen Formation und in der Lebensführung von Marx spielten. (Auch die Einschätzung der Appassionata bei Lenin ist keine zufällige Episode.) In ihnen kommt zum Ausdruck, daß die Klassiker des Marxismus, im Gegensatz zu ihren auf exaktes Manipulieren eingestellten Epigonen, die besondere Art der Verwirklichbarkeit des Reichs der Freiheit nie aus den Augen verloren haben. Freilich wußten sie ebenso klar die unentbehrlich fundierende Rolle des Reichs der Notwendigkeit einzuschätzen. Heute, bei einem Erneuerungsversuch der Marxschen Ontologie, muß beides festgehalten werden: die Priorität des Materiellen im Wesen, in der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Seins, aber zugleich damit die Einsicht, daß eine materialistische Auffassung der Wirklichkeit nichts mit der heute üblichen Kapitulation vor objektiven wie subjektiven Partikularitäten gemein hat.

Agnes Heller

Der Schulgründer Ich war 18, als ich Georg Lukács das erstemal sah: auf dem Katheder des Vortragssaales Nr. 4 der damaligen Pázmány-Peter-Universität der Wissenschaften, und 42, als ich Abschied nahm vom Sterbenden, im verlassenen Krankenzimmer der Kutvölgyi-Klinik. Um ihn als Lehrer heraufzubeschwören, muß ich zurück zu den Anfangen greifen. Was das repetierende Gedächtnis jetzt wiedererlebt, ist die Offenbarung seines Wesens, so wie ich sie von Jahr zu Jahr sah.

Die Sprache Logos Am Anfang war der Logos. Eilenden Schrittes ging er zum Katheder, auf dem Tisch breitete er das  –  stets lange – Manuskript des Vortrags aus. Dann setzte er sich; dann sprach er; immer sehr leise. Man mußte die Aufmerksamkeit restlos konzentrieren, um ihn zu verstehen. Nie erhob er die Stimme, nie war er um unmittelbaren Effekt bemüht: nur ja keine Theatralität. Er stand nie auf, spazierte nie auf und ab, appellierte nie an die Korona: nur ja keine captatio benevolentiae. Der Text selbst sprach uns an, der unausgeschmückte Gedanke. Der reine Logos. Nicht unsere Phantasie wollte er in Gang setzen, sondern unseren Verstand. Nicht mit dem sogenannten Zauber der Persönlichkeit wollte er glänzen. Den Gedanken verständlich machen, um gemeinsam mit ihm zu denken, damit er verschwinde hinter dem Gedanken: das war seine Intention. Professoren, als Meister der Vortragsweise – des immer schillernden, geistreichen Vortrags – bekannt, konnten es mit ihm nur einige Monate lang aufnehmen. Denn das leise gesprochene Wort und die gewollte, intentionierte Unpersönlichkeit des Gedankens erhielten Glanz. Immer kräftiger die Faszination der Erklärung. Nicht nur aus den Gedanken ging diese Kraft aus, sondern, untrennbar von diesen, aus dem Denker, der sich hinter dem Logos verbergen wollte. Wir hatten keine Ahnung, wer dieser Georg Lukács eigentlich ist: Seine Vergangenheit (damals noch ein Geheimnis, sein Werk – größtenteils –) unbekannt. Und doch kam im Nacheinander der leisen Erklärungen ein fast Unbegreifbares zum Ausdruck, dessen Signale wir, junge Leute von

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damals, »empfangen« und dechiffrieren konnten. Die Emanation der bedeutenden Persönlichkeit. Ein kleiner Mann erklärte mit leiser Stimme auf dem Katheder. Und das wurde, für einige unter uns, zum Schicksal.

Wiederholung »Jetzt wollen wir kurz zusammenfassen, worüber im letzten Semester die Rede war«, lautete der Satz zu Beginn eines jeden neuen Semesters. Die »Älteren« wußten schon, was das heißt: drei ganze Monate hindurch wird Lukács das früher Vorgetragene zusammenfassen. Von Semester zu Semester. Anfangs wurde gerätselt: Kommen die vielen Wiederholungen daher, daß er keine Praxis im Uni-Vortrag hat (er war ja über 60, als er das erstemal im Leben einen Lehrstuhl erhielt – für kurze Zeit), oder spielt ihm das Gedächtnis ein Schnippchen? Langsam nur setzte sich die Erkenntnis durch, daß es bei ihm um ein Prinzip geht, das ebenfalls untrennbar von seiner Persönlichkeit ist. Er benahm sich wie jeder Aufklärer: Wiederholung hatte bei ihm Funktion. Jedermann sollte sich in seinen Gedankengang einschalten können, niemand unter den Schülern sollte im Dunkeln tappen, ohne das logische Kettenglied in den Griff zu bekommen, das den anderen schon klar war. Nichts könne man oft genug wiederholen, denn jedermann müsse alles begreifen. Nicht die »Menge« unserer Kenntnisse wollte er vergrößern; Kenntnisse in bezug auf einen »Stoff« könne jedermann von selbst anhäufen, dazu bedürfe es keines Lehrers. Er brachte uns bei, was »Wissen« heißt, worin es sich vom »Nichtwissen« unterscheidet, wie man Kenntnissen eine Form geben kann, die diese ordnet und ihnen einen Sinn gibt. Georg Lukács brachte uns das Denken bei.

Die trockene Kuh und das Kalb Das Denken beibringen bedeutete bei ihm: das philosophische Denken beibringen. In jedermann setzte er die Fähigkeit des philosophischen Denkens voraus. Wenn wir ein Seminar hatten, offerierte er weder Kuchen noch Bonbons, wie andere; rauchen war verboten, auch ihm, dem leidenschaftlichen Raucher. Das Alltagsleben mußte »suspendiert« werden. Unverzüglich wurde der Gegenstand aufgegriffen: zunächst die Kritik der Urteilskraft, sodann Hegels Ästhetik. Lukács sprach nicht; nun ließ er andere sprechen: »Da kommt jetzt das Problem der Naturschönheit auf. Worin erblicken Sie die Eigenart der Naturschönheit? Bitte …«

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Der Schulgründer

Kurzes Schweigen. Dann meldete sich jemand zu Wort und spricht. Wir verstehen nicht ganz, was er redet, vermutlich auch er selbst nicht recht. Nachdem er aufhört zu sprechen, hört man wieder Lukács’ Stimme: »Was Sie da sagen, hat einen rationalen Kern. Nämlich …« – und dann »entfaltet« er jenen gewissen »rationalen Kern«. Man staunt, sollte das tatsächlich im Beitrag des Kommilitonen enthalten gewesen sein? Möglich. Der Kommilitone aber fühlt sich bestätigt: er habe etwas erkannt, etwas begriffen, was wichtig und wesentlich ist. Und wenn dann Lukács wiederholte, man sollte sich zur Frage äußern, dann sprudelte es Beitrag über Beitrag. Und in ausnahmslos jedem Beitrag fand er einen »rationalen Kern«. – Schließlich debattieren wir untereinander, und am Ende gelangt man irgendwohin. Mindestens eine mögliche Antwort zeichnet sich ab: wir wissen, wir haben etwas verstanden. Niemand hat uns gesagt, was die Eigenart der Naturschönheit sei; wir selbst sind daraufgekommen, von selbst. Niemand verließ ein Lukács-Seminar gedemütigt; niemand fühlte sich dumm und unbegabt. Mehr noch: Niemand mehr war erstrangig daran interessiert, daß er einen Beitrag lieferte, was er sagte. Interessiert war man nurmehr an der Naturschönheit selbst. Indem Lukács in jedermann die Fähigkeit des philosophischen Denkens voraussetzte, leitete er ganz still seine jungen Schüler (freilich die besseren) darauf, nicht auf ihre Fähigkeiten zu achten, sondern auf das Problem zu achten, das einer Lösung harrt. Oft sagten wir im Scherz, Lukács finde selbst in der trockenen Kuh das Kalb. Der Scherz war liebevoll gemeint, doch nicht ohne Kritik: der philosophierende Optimismus von Lukács wurde in Frage gestellt. Heute freilich sehe ich das anders: Besser in zehn trockenen Kühen das Kalb entdecken, als in zehn gedeckten Kühen auch nur ein Kalb nicht aufzufinden. Wenn man nicht voraussetzt, jedermann besitze die Fähigkeit des philosophischen Denkens, so funktioniert das eigene Kenntnissystem sogleich als Vorurteilssystem: nur in dem wird man das Vorhandensein der Fähigkeit voraussetzen, der uns ähnlich denkt. Die Tatsache, daß Lukács im Gedankengang von jedermann den gewissen »rationalen Kern« entdeckte (oder zu entdecken meinte), mit anderen Worten, sein anthropologischer Optimismus war der Grund, daß dieser Mann, dessen Schriften so häufig (und manchmal sogar berechtigt) des Dogmatismus beschuldigt worden sind, der absolut undogmatischste Lehrer von allen war, die mir je im Leben begegneten.

Das Schweigen Bislang beschwor meine Erinnerung vollbesetzte Auditorien  –  jetzt die leeren. 1949 hörten die Lesungen von Lukács auf, Pflichtfach zu sein. Angst griff an der Uni um sich. Die Lukács-Lesungen weiter zu besuchen galt als Demonstration des Muts. Nur zwischen fünf und zehn Studenten harrten neben ihm aus. Und wiederum: Eilenden Schrittes geht er aufs Katheder, er breitet den Text seines Vortrages aus und fängt an, leise zu sprechen. Und wiederum: Kurz faßt er zu-

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sammen, was im vorangegangenen Semester behandelt wurde. Manchmal vor bloß drei Studenten. An ihm aber ist keinerlei Veränderung zu bemerken. Vor drei Studenten spricht er ebenso wie vor dreihundert. Als bemerkte er nichts, als hätte sich nichts geändert. Er spricht mit uns ebenso, fragt uns ebenso, setzt in uns allen (diesen geschrumpften allen) ebenso die Fähigkeit des philosophischen Denkens voraus. Über das Wesentliche schweigt er sich aus. Dieses Schweigen aber ist das Schweigen der Aufmerksamkeit. Die Beobachtung dieses aufmerksamen Schweigens führte mich zu der Erkenntnis: Derselbe Mensch, der in jedermann die Fähigkeit des philosophischen Denkens voraussetzt, setzt die Fähigkeit der Moralität nicht in jedermann; genauer: in niemanden. Sein »geburtshelferischer« Sokratismus galt nur der intellektuellen Leistung – nie der Moral. Denn was man im Menschen nicht setzt, kann man auch nicht aus ihm »herausholen«. Wenn jemand dennoch und trotzdem die Probe der Moral und der Anständigkeit bestand, so betrachtete er dies als Geschenk, als Wunder, fast als Gnade. Doch wußten wir damals nicht – woher hätten wir es auch wissen können –, zu was allem man ihm gegenüber berechtigt ist, wenn man die Probe bestanden hat. Nicht nur Aufmerksamkeit war jedoch in diesem Schweigen; schweigend konnte er auch Urteile fällen. Damals nahm an jeder Lesung ein »Beauftragtem« teil, der dem Professor zu melden hatte, wenn jemand unter den Studenten »undiszipliniert« ist. Es war die erste Gelegenheit, daß dieser eifrige »Aktivist« seine »Pflicht« erfüllte: er sprang auf und meldete »Ich muß Genossen Lukács aufmerksam machen, daß Z. insgeheim ein Buch liest«, und dies lautstark, daß man es auch im Korridor hören konnte. Lukács zuckte keine Wimper, beugte sich unverändert über seine Papiere und las weiter, ohne den Vortrag auch für eine Sekunde zu unterbrechen. Der »Beauftragte« stand wie angenagelt, wiederholte schließlich seine Meldung noch einmal  –  mit ähnlichem Erfolg. Schließlich mußte er einsehen, daß er einfach nichtexistent ist. (Allerdings nur für die Dauer des Seminars.)

Die Kälte Mehr als drei Schritt vom Leibe Wer das erste Mal Kurs auf den 5. Stock des Hauses Belgrad-Kai 2 nahm, marschierte erst dreimal um den Häuserblock, dann stand er sicher noch eine Weile vor der Tür der Lukács-Wohnung herum, bevor er klingelte. Um die Gedanken zu sammeln und noch einmal zu überdenken, welche Probleme er dem Meister darbieten wollte. Denn das war eine königliche Audienz. Ja, eine königliche Audienz, trotz allem anderen Anschein. Dieser König war höflich, freundlich, unvermittelt – wer sich aber von dieser Unmittelbarkeit irreführen ließ, der verließ das Haus nicht psychisch unversehrt.

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Niemals durfte jemand ihm auf die Schulter klopfen; niemandem klopfte er je auf die Schulter. Vernunft hatte dort einen Dialog mit Vernunft, und der Dialog forderte die Ausklammerung von allem, was nicht Sache der Vernunft ist. Als lebendige und hinfällige Menschen wollten wir gern manchmal über unseren Schmerz sprechen, über unsere Zweifel reden, seinen Rat einholen vor Entscheidungen. Stets hörte er uns höflich an, versteckt hinter dem qualmenden Rauch seiner Zigarre, doch war dies die Höflichkeit der Indifferenz. Der »ganze Mensch« interessierte ihn nicht, einen Rat gab er nie. Er betrachtete uns als »Träger« wissenschaftlicher Probleme; deshalb waren wir ihm wichtig. Wir mußten erlernen, dies zu ertragen. Wer es erlernte und damit Rechnung tragen vermochte, konnte sehr, sehr viele Jahre später erleben, wie dieser Eispanzer dahinschmilzt.

Das Kind muß ausgetragen werden Jeder von uns nahm seine erste größere Arbeit in Angriff. An der Lukács-Tür zu klingeln wurde zur Selbstverständlichkeit. Es kam zu immer mehr »Konsultationen«. Jeder von uns konnte das Thema frei wählen. Einen Ratschlag gab er diesbezüglich nur dann, wenn jemand unsicher war und selbst nicht wußte, was anpacken. Nicht nur, daß er das versessene Interesse tolerierte, es war ihm sogar sympathisch. Wer aber einmal eine Entscheidung traf, verlor sein Recht auf neue Wahl. Änderte sich das Interesse im Verlauf der Arbeit, erschien das Thema zu beschränkt oder zu weitgreifend, kam das Gefühl auf, die Schwierigkeiten seien nicht zu überwinden, so konnte man auf keinerlei Toleranz rechnen. »Ein Kind muß ausgetragen werden«, sagte er. »Eine Fehlgeburt im vierten Monat ist unerlaubt.« Diesbezüglich war er abweisend und unnachgiebig, Motive interessierten ihn nicht. Seine Kälte, die wir schmerzhaft erleben mußten, erwies sich als Weisheit. Die Geistesfrucht mochte ein Krüppel sein oder bloß dümmlich, kurz unvollkommen; doch niemand bereute später, daß er sie austragen mußte. Denn die keinerlei Kompromiß gestattende, abweisende Forderung pflanzte uns eine Gewohnheit ein. Die Gewohnheit, dem Angefangenen immer auf den Grund zu gehen. Keinerlei Kompromiß gab es bei ihm auch hinsichtlich der Termine. War die Fertigstellung einer Arbeit für ein halbes Jahr anberaumt, so mußte sie in einem halben Jahr geschrieben werden. Da konnte man inzwischen ein Kind zur Welt bringen, krank gewesen oder verliebt sein oder in einem ungeheizten Zimmer vegetieren: der Termin war und blieb heilig. Jedermann wußte, eine Berufung auf »verzögernde Umstände« hat keinen Zweck, denn unser Sein entsprach in seinen Augen dem Sein des denkenden Menschen. Um seinen Erwartungen zu entsprechen, mußten wir seine Forderung zu unserer ureigensten Forderung machen: Uns selbst galt keine Ausrede mehr, wenn wir im vereinbarten Monat ihm nicht auf den Tisch blättern konnten, was hinzublättern war.

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Auch diese kaltherzige Forderung pflanzte uns eine Gewohnheit ein: sich selbst keine Absolution zu geben – und seien die Gründe noch so triftig – wenn uns die Zeit durch die Finger fließt. Ja, er übergab auch uns, den nichtkalten Menschen, etwas von seiner Arbeitsaskese.

Die Gratulation War die erste Arbeit fertig, hatten wir sie ihm überreicht, so stand er von seinem Tisch auf, reichte die Hand und gratulierte. Auch das eine königliche Geste: er schlug uns zu Rittern. Später gratulierte er nie wieder. Höchstens mochte er sagen: »Das gefällt mir«, oder »Schaun Sie, das gefällt mir im Grunde genommen«. Doch nie wieder stand er auf, nie wieder reichte er die Hand, sondern er ging sofort auf die »kritischen Bemerkungen« über. Wer die Nichtwiederholung der ersten Geste bemängelte, hatte ihn nicht begriffen. Nach dem Ritterschlag gehörten wir bereits zur gleichen »Kaste« – zur Kaste der in Objektivationen und für die Objektivationen Lebenden. Gleichrangigen aber braucht man nicht zu gratulieren; diese muß man kritisieren. Auf solche Kritik war die Antwort nicht mehr als ein Schweigen, auch nicht ein »Danke, Genosse Lukács« oder »Ich werd’s verbessern, Genosse Lukács«. Die Antwort war die Debatte. Wer echter Ritter ist, zückt Schwert gegen Schwert; der akzeptiert nur die Kritik, deren Rationalität er einsieht; der verteidigt seinen Standpunkt; der geht zum Angriff über. Sobald ihm jemand sofort und in jeder Hinsicht Recht gab, langweilte sich Lukács. Das geistige Duell war sein Lebenselement. »Der Mensch ist ein antwortendes Wesen«, schrieb er später in seiner Ontologie. Und er mochte Leute nicht, die nur fragen. Freilich bereitete es ihm Freude, andere zu überzeugen, jedoch nur durch »Kampf«; nur harter Widerstand und Gegenangriff gaben ihm die Freude des »Sieges«. Als guter Kombattant lag es ihm nicht daran, immer und überall zu siegen. Es freute ihn, einem Argument konfrontiert zu sein, auf das er nicht die eigene Antwort fand. »Möglich, daß Sie da recht haben«, pflegte er zu sagen. Das war aber freilich nur möglich.

Der Hochmut Als man ihm, Jahre später, das Namensschild »Dr. Georg Lukács« von der Tür riß, war er froh. Endlich war er den »Dr.« los. Von da an stand auf seiner Tür: Georg Lukács. Der Lukács. Rang, Titel, Preise hatten für ihn keinen Wert. So groß war seine Geringschätzung, daß er sie nicht einmal zurückwies, wenn sie ihm – recht selten freilich – zuteil wurden. Das Gefühl, über jeglichen Rang erhaben zu sein, wurde ihm zur Natur.

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Das einzige, was ihn zutiefst interessierte, war die Verbreitung seines Werks. Nicht als ob er darin eine Bestätigung erblickt hätte. Er bedurfte keinerlei Bestätigung. Wäre kein einziges seiner Werke erschienen, es hätte seine »Selbstsicherheit« nicht beeinträchtigt. »La vérite est lentement en marche et à la fin des fins rien ne l’arrêtera« war seine bevorzugte Devise. Die Wahrheit aber war er selbst. Nie verließ ihn das Lebensgefühl, Verkörperung des Weltgeistes zu sein. Durch die Verbreitung seines Werkes fanden die anderen eine Bestätigung, die, die endlich die Wahrheit erkannten, nicht aber er. Weder Ruhm noch Macht hatten die geringste Bedeutung für ihn bei der Beurteilung anderer. Immer unterschied er Verdienst von Macht. Rákosi war ihm lediglich ein »Bauchladenhändler«  –  er räumte allerdings ein, daß dieser ein ganz guter Manager hätte werden können, wenn er das hätte werden wollen. Er glaubte an die Geschichte, die ihm in allem Recht geben würde – der Weltgeist setzt sich ja immer durch. Hochmütig war er auch, wo er echte Größe erkannte. Als er in Weimar zusammen mit Thomas Mann an der Schiller-Feier teilnahm  –  dieser speiste am Tisch Walter Ulbrichts – traf er kein einziges Mal mit ihm zusammen. »Er hätte mich ebensogut anrufen können wie ich ihn«, sagte er, und dabei blieb’s. Als ihm Katja Mann einen Brief schrieb, ließ er ihn durch seine Frau Gertrud beantworten. So entfaltete sich die Korrespondenz zwischen Thomas Mann und Gertrud Lukács. Er selbst schrieb ihm nicht. Immer demütigt sich der Hochmut; auch dieser hochmütige Mann tat es. Er demütigte sich vor seiner Sache als Repräsentanz des Weltgeistes. Das Gefühl, der Weltgeist verkörpere sich in ihm, war bloß Ausdruck einer tiefen Überzeugung: daß er Gefäß und berufener Ritter des Weltgeistes ist. Als er uns zu Rittern schlug, nahm er uns auf unter die Diener des Weltgeistes. Wir übernahmen die Rolle, wir identifizierten uns mit ihr. Für uns war, letzten Endes, er die Wahrheit.

Die Askese Niemand wird behaupten können, er habe anderen mehr abgefordert als sich selbst. Alle seine Bedürfnisse waren einem einzigen Bedürfnis untergeordnet; mehr noch: alle anderen Bedürfnisse gingen in diesem einen auf. Von früh bis spät saß er an seinem Schreibtisch und arbeitete. Ein einziger Mensch war das Band zum Leben: seine Frau. Seine Freunde waren ihm »ideologische Verbündete«. Er empfand weder Kälte noch Hunger oder Durst. »Unbequemlichkeiten« störten ihn nicht, denn er bemerkte sie nicht. Er hatte keine Ahnung, was er angezogen hatte. Das Alltagsleben kannte er nicht: weder dessen Lasten noch dessen Freuden. Er war kein »zerstreuter Professor«. Und doch erschien er einmal in der Pyjamajacke in der Uni. Heimgekehrt antwortete er auf den verstörten Blick seiner Frau lachend: »Wissen Sie, Gertrud, heute habe ich meinen besten Vortrag gehalten.«

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Einmal – bedeutend später – fiel es schon jedermann auf, wie abgenutzt sein Wintermantel ist; jemand machte eine behutsame Anspielung, daß es an der Zeit sei, einen besseren zu kaufen. »Wozu?« fragte er erstaunt. »Das ist ein vortrefflicher Überzieher, den habe ich noch in Rumänien bekommen; nie im Leben habe ich einen so guten Überzieher gehabt« Und dabei blieb’s. In Wien lebte er lange von der Kartoffelsuppe der Volksküche; in Moskau, bei Kriegsbeginn, arbeitete er in einem ungeheizten Zimmer in einer Pelzjacke. (Auch sie war eine »vortreffliche Pelzjacke«, er sprach uns häufig darüber.) Kaum verließ er die Wohnung. Jahreszeiten kamen und vergingen unbemerkt. Er saß am Schreibtisch und arbeitete: das war sein Leben.

Der Schulgründer Die »Richtung« Wir saßen um den großen Eßtisch. Das erste Mal an seinem Geburtstag, später immer häufiger auch zwischen Geburtstagen. Zum Gespräch. Wir waren die »Richtung«. Die »Tetschenije« – so nannte er das auf russisch – war unser Eponym: eine kleine, um die Literaturnij Kritik gescharte Gruppe. Die »Tetschenije« war sich in jeder theoretischen Prämisse einig. Wir vertreten, so sagte und glaubte es Lukács, den wahren Marxismus im Gegensatz zu aller Fälschung und Verirrung. So sagten und glaubten es auch wir. Diese Richtung müsse sich verbreiten, das Antlitz von Ideologie und Kultur bestimmen, dann würde sich alles zum Besseren wenden. So waren wir alle Kämpfer einer gemeinsamen Sache, alles, was wir machten, erschien ihm wichtig und bedeutsam, denn es vertrat die »gerechte Sache«. Erst viel später, als aus der »Richtung« die – wie er sie nannte – »Budapester Schule« wurde, als wir alle (ihn ausgenommen) der Auffassung waren, »die Wahrheit« habe keinen ausschließlichen Hüter und Inbegriff, erst dann wurde uns klar, wie sehr die Gründung einer »Richtung« oder einer »Schule« zu seinem Wesen, zu seiner Persönlichkeit gehörte. So bedeutend und anerkannt er auch sei, nie wird ein einsamer Denker oder Künstler die ganze Kultur tiefgreifend und nachhaltig beeinflussen können. Zur Persönlichkeit, zur philosophischen Attitüde von Lukács gehörte aber die Abänderung der ganzen Kultur – mehr noch: des Lebens, der Welt – untrennbar dazu. Deshalb gründete er, seitdem er zur Feder gegriffen hatte, immer wieder Richtungen und Schulen; war eine zusammengebrochen, so fing er wieder von neuem an. Schon am Anfang des Jahrhunderts berichtete Béla Balázs von Lukács-Schülern, schon damals hat es solche gegeben. Der Gründer unserer Richtung und Schule schrieb  –  ebenfalls am Anfang des Jahrhunderts! – an Paul Ernst: »Ich habe, seit wir uns trafen, oft an unsere letzten Gespräche über Verlag, Zeitschrift, Theater etc. gedacht, und immer stärker wird meine

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Überzeugung, daß der Sieg der Richtung, der guten Sache also nur bei starker Vereinigung möglich ist … Ich weiß als Autor kann man schon allein durchdringen … doch daß die Sache als Sache durchdringe – das ist eine ganz andere Frage, wie ein isolierter Sieg oder Anerkanntwerden eines isolierten Menschen.« – Die »Sache« mochte sich ändern, die Attitüde blieb. Für Lukács waren Werk und Sache untrennbar. Und da wir seine Sache vertraten, gehörten wir zu seinem Werk. Auch Sokrates, Platon und Aristoteles waren Schulgründer.

Tausend ausgesäte Samen Kaum wurde je ein Meister so häufig und von so vielen verleugnet, wie oft und von wie vielen er verleugnet wurde. Und verraten: Unter seinen Aposteln gab es stets mehr als einen Judas. Es kümmerte ihn nicht besonders, vielleicht sogar zuwenig. Überraschend radikal konnte er Menschen »abschreiben«, Und wen er abgeschrieben hatte, den vergaß er auch. Den Haß kannte er nicht, bloß die Verachtung. Und dies war nicht eine psychische Abwehrreaktion, sondern die natürliche Erscheinung seines Hochmuts. Wurde er verraten, nun, umso schlechter für den Verräter, nicht aber für ihn. Manchmal ging auch ein wenig Mitleid mit der Verachtung einher. Manchmal kreidete er es den Zeiten an, in denen zur bloßen Anständigkeit Heldenmut notwendig ist. Nicht nur die Verräter schrieb er ab, sondern auch die, die im Schaffen versagten. In solchen Fällen war das Mitleid stärker, aber das Vergessen kam ebenso prompt. Für das Talent, das sich nicht bewähren konnte, interessierte er sich nicht lange. Daß seine Mühe, seine Arbeit um das Aufziehen von Schulen, sein mannig­facher Beistand wenig Früchte zeitigte, fand er selbstverständlich. »Das ist auch in der Natur so: Tausend Samen muß der Wind zerstreuen, damit einige Wurzeln schlagen«, pflegte er zu sagen. Und er war stolz, wenn einige von tausend tatsächlich einen Keim aufwiesen.

Ohne Psychologie Er verachtete die Psychologie. Er erblickte darin die Theorie von der Determiniertheit menschlichen Handelns und meinte schon in jungen Jahren: »Die Seele hat keine Vorgeschichte«. Jede Entscheidung begriff er als gleich freie Entscheidung; vielleicht deshalb suchte er nie Ausflüchte für die Mitmenschen – für sich erst recht nicht. Standhaftigkeit in der »Sache« und pausenlose Arbeit für die »Sache«: Das war das einzige Kriterium, nach welchem er den anderen beurteilte. Entsprach man dieser

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Forderung, so gab es niemanden, der hinsichtlich der Dinge »jenseits der Sache« toleranter hätte sein können als er. Nie mischte er sich in die Ganzheit unseres Lebens ein. Er akzeptierte die verschiedensten Attitüden der unterschiedlichsten Charaktere. Nie kritisierte er Menschen wegen ihrer Privatsparren, wegen ihrer Bedürfnisse oder Lebensweise. Auch ließ er nicht zu, daß wer immer einen anderen in seiner Gegenwart kritisierte. Niemandes Seele wollte er haben. Er zelebrierte keine Messe um sich herum, Lobhudelei war ihm nicht nur unerwünscht, er wies sie auch zurück. Wie sich die persönlichen Beziehungen unter uns gestalteten, betrachtete er nicht als etwas, was die Welt, noch minder als etwas, was ihn angeht. Deshalb war Herumplantschen in der Seele in seinem Kreis nie üblich. Woran wir uns anfangs schwer gewöhnten und was wir schwer ertrugen, nämlich seine Kühle, die reine »Geistigkeit« des Kontakts, erhielt einen Sinn. Dieser Sinn läßt sich in einem einzigen Wort ausdrücken: Reinheit.

Auch er ist hinfällig Der Zweifel Treffen im Kaffeehaus, Versammlungen, die Straße. Von der Straße laufen wir zu ihm, in die Wohnung. »Pálffy1 ist rehabilitiert worden«, teilen wir mit. Das ist die neueste Nachricht des Tages. »Unmöglich«, sagt er. Und wir: »Alles war also Lüge.« Er: »Das kann nicht wahr sein!« Es war aber wahr. Der Weltgeist mußte in Frage gestellt werden. Wir machen davon Gebrauch, was er uns beigebracht hat: er vermittelte uns nicht erstrangig Kenntnisse, sondern brachte uns dazu, selbst zu denken. Nun denken wir mit dem eigenen Kopf, über alle Dinge. Und immer häufiger gelangen wir zu anderen Schlüssen als er. Er nimmt es nicht übel. Er hört dem, was wir sagen, aufmerksam zu, er erkennt unser Recht zum Andersdenken an. Aber beeinflussen können wir ihn nicht. Ein Starrkopf, der immer fest daran glaubt, im Recht zu sein. Und er ist überzeugt, einmal würde man einsehen: allem zum Trotz hat er recht.

Die Gegenseitigkeit der Aufklärung Kritisieren durfte man ihn immer, aber es war nicht wem immer gestattet. Wer einmal die Probe der Treue und Anständigkeit bestanden hatte, der hatte bei ihm ein offenes 1 György Pálffy (hingerichtet Oktober 1949), General der Volksarmee; 1956 fand nach der Rückkehr Ernö Gerös, des Nachfolgers Rákosis, aus der Sowjetunion die feierliche Beisetzung einiger Opfer des Stalinismus statt; u.a. wurden L. Rajk, Gy. Pálffy, T. Szönyi und A. Szalai rehabilitiert.

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Konto: der durfte sagen, was er wollte, durfte ihn sogar auslachen. Wer die Probe nicht bestand, demgegenüber war er immer en garde, dem mutete er unlautere Motive zu (meist mit Recht) und wies rigid zurück, was ihm vorgeworfen wurde. »Sie haben überhaupt nicht recht mit der Behauptung, zwischen L’Etre et le Néant und dem Existentialismus-Pamphlet bestehe ein Widerspruch.« Darauf er: »Meinen Sie?« »Sehen Sie mal, Genosse Lukács, es mag ja sein, daß Balzacs Bauern ein vortreffliches Handbuch der Ökonomie ist, Sie werden aber nicht bestreiten wollen, daß dies ein miserabler Roman ist.« Darauf er (lachend): »Da könnten Sie recht haben.« »Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie gegen Kafka streiten; niemand hat sich der Faszination seines Œuvres entziehen können!« Darauf er: »Das könnte eigentlich stimmen.« Böse wurde er nicht einmal, wenn die Debatte – immer häufiger – Scharten in ihm heilige Prämissen riß. Dafür aber lachte er immer öfter. In diesem Lachen lag auch Drama und auch Befreiung. Lachend scheidet der Weltgeist von seiner Vergangenheit. Nie trennte er sich ganz von ihr, doch trat er in die Gegenwart ein. Dieses Lachen war unser zweiter Ritterschlag: er schlug uns zu Freunden. Die Grundsätze, gegen die wir aufbegehrten, verteidigte er, solange er das konnte, wenn er es konnte, immer. Auch lachend. Doch vor gewissen Argumenten mußte er sich beugen. Wir sind ja reine Vernunftwesen, und auch der Aufklärer kann aufgeklärt werden.

Tapferer kleiner Mann Er trat in die Wohnung ein, wo wir ihn schon erwarteten. »Gertrud ist gestorben«, sagte er. Wir küßten ihn; das erste und das letzte Mal im Leben. Ein einziges Mal wurden wir gewahr, daß ihn die Fähigkeit des rationalen Denkens im Stich läßt. Er wollte nicht wahrhaben, daß seine Frau todkrank ist. Lieber wollte er die unwahrscheinlichsten Lügen glauben, als in diese Kluft hinabzublicken. Als aber die Tatsache irreversibel war, machte er stramm. Er saß vor dem leeren Schreibtisch und wußte, er habe zwei Alternativen: den Tod oder die Arbeit. Und ebenso, wie einmal schon in jungen Jahren, entschied er sich für die Arbeit. »Wir werden ja sehen, was meine Philosophie taugt«, sagte er. Tapfer kämpfte er darum, arbeiten zu können. »I go to prove my soul.« Und es gelang. Seine sowieso asketische Lebensführung wurde fortan noch weiter reduziert. Dem eigenen Körper gönnte er nur soviel, als dessen Erhaltung als Arbeitsmaschine erforderte. Zum erstenmal sprach er resigniert über sich. So tapfer war er, daß er sich nicht scheute, die Schwäche zu zeigen.

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Unser alter Freund Die große Welt im kleinen Zimmer Das Telefon klingelt. »Moment«, sagt Tante Piri, die Haushälterin; das ist das einzige Fremdwort, das sie kennt. Weshalb wir fremde Gäste schlechthin »Momente« nannten. Und die Momente kamen. In immer helleren Scharen pilgerten sie zum BelgradKai, bis schließlich jeder Vormittag (von halb Elf bis halb Zwei) ausschließlich ihnen gehörte. Keinem einzigen versagte Lukács den Besuch. Ob sechzehnjähriger Schüler, ob bekannter Professor, ihm war es einerlei: die Tür stand ihm offen. Als wir einmal bemerkten, er sollte vielleicht doch nicht so viel von seiner Zeit solchen Gesprächen widmen, erzählte er aus seiner Jugend. Einmal habe er, klopfenden Herzens, den damals schon weltberühmten Professor Simmel aufgesucht und um Entschuldigung wegen der Störung gebeten. Simmel habe ihn groß angeschaut und geantwortet: »Wozu bin ich denn da?« Vor jedermann, der ihn besuchte, führte er die Gedanken aus, die ihn gerade beschäftigten. Er konnte das Gleiche auch hundertmal wiederholen. Vom Zuhörer verlangte er bloß Aufmerksamkeit. Es fragte sich, wie viele aufmerksam zuhörten und wie viele bloß das Phänomen bestaunten, das da sprach. Einmal wurde er dem berühmten Filmschauspieler Charrier vorgestellt. Es schwante ihm vielleicht, daß sein Partner nicht gerade seinen denkerischen Fähigkeiten zuliebe berühmt ist. Vielleicht. In der zweiten Minute der Bekanntschaft fing er an, die Ontologie zu erklären. Anderthalb Stunden sprach er über die Wechselbeziehungen von Kausalität und Teleologie, über die Gattungsmäßigkeit an sich und für sich. Charrier saß da mit weit aufgerissenen Augen und wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Rührend komisch war der kleine Mann, der mit wachsender Begeisterung erklärte und gestikulierte. »Es hat ihn scheinbar interessiert; ein vernünftiger Mann; dieser Charrier, der hat’s mitbekommen, was ich sagte«, folgerte nachträglich Lukács. Er beantwortete jeden Brief, es gab einen heiligen Tag der Woche, an welchem er ausschließlich Briefe diktierte. Motiviert war er über die Höflichkeit hinaus (denn er war höflich) durch die Achtung des anderen. Auch da unterschied er nicht aufgrund von Rang, Titel, Bekanntheit oder Alter zwischen Mensch und Mensch.

Die Kritiken Immer mehr wurde über ihn geschrieben, und er lachte nicht nur über die Mißverständnisse, sondern auch über die Verfälschungen. »Was der für einen Stiefel über mich

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schreibt«, pflegte er zu sagen. Man schreibe über jedermann viele »Stiefel«, das gehört zum Ruhm. Die Nachwelt wird ’was zum Korrigieren haben. Ein Herr aus England bekundete ihm Freundschaft; ein Jahr später verriß er ihn in einem Aufsatz. Wieder ein Jahr später entschuldigte er sich brieflich. Dieser Brief blieb ausnahmsweise unbeantwortet. »Ich hätte nichts gegen ihn gehabt«, so Lukács, »hätte er nicht den Fehler begangen, sich meinen Freund zu nennen.« Beleidigt zu sein, zeichne niedrige Charaktere aus, meinte Lukács. Keineswegs schonte er Adorno, und dieser schonte Lukács erst recht nicht. Selten wurde ein grausamerer Aufsatz über einen Menschen geschrieben, als Adornos »Erpreßte Versöhnung«. Als ich ihm aber mitteilte, Adorno wünsche einen persönlichen Kontakt, kam er dem Wunsch nach: die Beleidigungen waren abgeschrieben, sie kamen ihm nie wieder in den Sinn. Als ihm aber Adorno schrieb, sie sollten sich gegen Ernst Bloch verbünden, war es aus mit den wiederaufgenommenen Kontakten. Da machte Lukács Schluß. Er fand es selbstverständlich, daß sich keine »hochstehende Entelechie« beleidigen kann. Immer bedauerte er, daß es mit Sartre kein einziges Mal zu einer »guten Aussprache« kam; das sei, meinte er, dem Zufall zuzuschreiben. Denn er war überzeugt, Sartre würde das in Worten gegen ihn Verbrochene ebenso »abschreiben« wie er (und es ist nicht auszuschließen, daß er diesbezüglich recht hatte). Nicht verzeihen konnte er einzig Kritiken, hinter denen nicht die Überzeugung, die »heilige« Sache des Logos stand, sondern Feigheit und niederträchtiges Interesse.

Dieser Goldmann Sein Leben teilte er auf in einen Teil vor und einen Teil nach der Erlösung. Er war stolz, mit den (sogenannten) Irrtümern seiner Jugend abgerechnet zu haben. Gleichzeitig begriff er diesen radikalen Bruch als Sache der schriftstellerischen Ehre. »Diesen Goldmann verstehe ich nicht«, sagte er öfter. »Ein guter Kerl, doch habe ich keine Ahnung, was für ein Fressen er an meinen frühen Sachen findet.« Wir versuchen es ihm zu erklären. Wir selbst verstehen es auch nur langsam. Doch parallel damit, wie wir seine jugendliche Figur und sein Frühwerk zu schätzen erlernen, bemühen wir uns darum, ihm seine vergessene Jugend zurückzugeben. »Zurückzugeben« bedeutet da tatsächlich auch, ihn daran zu erinnern. Denn zweifellos hatte er sein frühes Schaffen nicht nur zurückgewiesen, sondern auch vergessen. Weil er es vergessen wollte. Den Zensor in ihm tasten wir nicht an, das wäre auch nicht möglich. Wir wissen: er hält nichts von Psychologie. Die einzige Instanz, auf die wir uns berufen, ist die einzige, die er anerkennt: die Vernunft.

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Freilich läßt er sich nicht ganz überzeugen. Leise kann er dann und wann sagen: »Daran könnte vielleicht etwas sein.« Er baut seine Jugend in sein Leben ein, indem er sie historisiert; aber er baut sie wieder ein. »Interessant, was dieser Goldmann da sagt.«

Der Minirock Das Leben galt ihm als Gegenstand des Denkens. Als solches interessierte es ihn in allen Aspekten, den wichtigen und den unwichtigen gleichwohl. Genauer: Alles erschien ihm wichtig. Er las die Zeitungen, beobachtete die Menschen, registrierte selbst die geringsten Veränderungen. Die Studentenbewegungen begeisterten ihn. Die Frauenbewegungen desgleichen. Er liebte die Jugend, wie alle Philosophen. Zwar wiederholte er skeptisch die Grundsentenz, jede Hure sei einmal Jungfrau gewesen, Jungfer ist aber schließlich Jungfer, und es ist nicht auszuschließen, daß sie keine Hure wird. Unter der Jugend ausgestreute Samen haben doch größere Wahrscheinlichkeit aufs Fortgedeihen. Ein echter Feminist war er. In früher Jugend schrieb er hochmütig, Weib sei nur Weib. Dies begriff er später als seine größte Verirrung, als er das weibliche über das eigene Geschlecht stellte. In den Frauen mit Lebensweisheit erblickte er die Garantie der Zukunft in der Gegenwart. Und jedes Phänomen, jede Bewegung bestätigte ihm nur eines: daß sich der Mensch nicht über eine bestimmte Grenze hinaus manipulieren läßt. Als Mini die Mode wurde, war er begeistert. Als mit den ersten Maxis eine Gefahr auf Mini zukam, studierte er sorgfältig die Modespalten. »Sie werden sehen«, sagte er, »Maxi wird Mini nicht verdrängen. Menschen lassen sich nicht über eine bestimmte Grenze hinaus manipulieren.«

Ritter des Runden Tisches Bevor er es in die Maschine diktierte, las er uns immer vor, was er geschrieben hatte. Wir saßen um den Tisch und hörten zu. Immer um den Tisch herum, immer auf harten Stühlen. Niemand durfte sich in einem Fauteuil breitmachen, am wenigsten er selbst. Der Zigarrenqualm war zum Schneiden dick. Ein Fenster öffnete er nicht. Das Konzept schrieb er auf die Rückseiten von vervielfältigten Broschüren, Einladungen, Referaten. Nie benutzte er reines Papier für diesen Zweck. Reines Papier war ihm fast ebenso heilig wie das Buch selbst; es erschien ihm als Sakrileg, darauf Konzepte zu schreiben.

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Damals meinten wir, diese Gewohnheit sei in den Jahren entstanden, als er, als armer Emigrant, zu äußerstem Sparen gezwungen war. Seither kennen wir seine Aufzeichnungen aus jungen Jahren: auch die auf einmal gebrauchtem Papier. Offenbar gehörte auch dies zu seiner Persönlichkeit: Nur klaren Gedanken gebührt reines Papier. Seine Vorlesungen waren genauso wie seine Vorträge. Bei den Pointen allerdings sah er uns an: ob sie auch ankommen? Freilich nicht aus Selbstgefälligkeit. Wir waren seine »Rezipienten«, die Vorlesung war die Hauptprobe: er wollte sehen, ob und wie es überhaupt wirkt, was ihm wichtig erschien. In unserer Kritik waren wir immer bemüht, innerhalb seiner Konzeption zu bleiben und ihm nicht die unsrige aufzuzwingen. Auch er ging immer so mit uns vor. Das war wie eine stillschweigende Vereinbarung. Und doch waren wir nicht höflich zueinander. Hatten wir etwas gegen den Grundgedanken, so sagten wir es. Genau das erwartete er von uns. Was nicht heißen soll, daß er nie böse wurde. Unvergeßlich ist die Szene, als er so aufgebracht war, daß er in der Hitze des Wortgefechts mit der Faust auf den Tisch hämmerte. Er hämmerte und hämmerte, bis er plötzlich zu lachen anfing.

Wir »ontologisieren« Viele Jahre hindurch verbrachten wir die Sommerferien immer mit ihm. Er war ein vortrefflicher Tourist, manchmal konnten wir kaum mit ihm Schritt halten. Bergauf, bergab, immer mit der Zigarre im Mund. Ob wir gehen oder ob wir sitzen, ob in Feld, Flur oder Wald – er spricht immer. Er liebte den Anblick der Landschaft: das »Naturschöne« war ihm nicht nur Gegenstand eines Seminars, sondern Erlebnis. Erlebnis allerdings galt bloß als erster Schritt. Nachher sollte es mit Gedanken aufgefüllt, interpretiert, ausgewertet, in irgendwelches Ganze eingefügt werden. Jede Naturerscheinung ist in die Ontologie eingebaut. Der Raum ist dialektisch. Die Kuh weidet eine Kategorie. Morgengrauen und Abendgrauen exemplifizieren die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität. Der Pfad ist die Einheit von Gleichheit und Unterschied. Wenn wir gehen, so praktizieren wir nicht bloß Platzveränderung, sondern eine teleologische Tätigkeit. Anfangs akzeptieren wir alles, dann lehnen wir uns auf. Gras sei keine Kategorie, sondern Gras, sagen wir. Und der Baum nicht die dialektische Einheit von Geradesosein und Gattung, sondern eine alte, schattenspendende Buche, unter der man rasten kann. Wir üben keine teleologische Aktivität aus, sondern wir spazieren. Es wird geblödelt, dummes Zeug geredet und gelacht. Auch er blödelt, redet dummes Zeug und lacht. Plötzlich bleibt er stehen, faßt sich am Kopf und ruft: »Allmäch­ tiger Himmel! Mein Bewußtsein ist nunmehr ein Epiphänomenon!«

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Der Story-teller Nicht Witze erzählte er, sondern Geschichten. Sie waren sorgfältig aufgebaut, bis zur Pointe. Über jede Geschichte lachte er als erster und am längsten, bis ihm die Tränen kamen. Unerschöpflich war seine Lust zum Erzählen. Und doch hörten wir immer wieder Neues; auch die bekannten Stories wurden aber nie langweilig. Ging es um bekannte Größen, leitete er die Geschichte meist mit dem Satz ein: »Ich kannte diese große Zeit, als sie noch ganz klein war.« Menschliche Schwächen, kleine Niederträchtigkeiten und großes Grauen wurden gleichermaßen zu Geschichten gestaltet. Das Gelächter bei der Pointe war bald fröhlich, bald mehr als bitter. Des unermüdlichen Story-tellers gedenkend, fallt mir eine Story ein; nicht er war der Erzähler – er war der Held. Als er aus der Haft entlassen wurde und seine besorgten Freunde wissen wollten, was er erlebt hatte, antwortete er bloß: »Es war sehr komisch«.

Zurück in der Zeit Lag es am Altern oder an der freundschaftlichen Atmosphäre, oder lockerte sich allmählich eine alte Hemmung (wahrscheinlich waren alle drei Faktoren mit im Spiel) – jedenfalls erzählte er immer mehr über sich. Es begann die gemeinsame Reise in die Vergangenheit: in die Mannesjahre zunächst, dann in die Jugend, schließlich in die Kindheit. Mit den heftigsten Emotionen gedachte er des Kindes, das die Mutter für dumm hielt, das tagaus-tagein nur auf dem Fahrrad radelte und in Paris um keinen Preis in den Louvre wollte: es wollte in den Zoo. Des Kindes, das trotzdem früher lesen konnte als der ältere Bruder, obwohl man es nicht unterrichtete: Da es an der anderen Seite des Tisches saß, eignete es sich das Spiegelbild der Buchstaben an. Dieses Kind bat nie um Verzeihung; lieber saß es den ganzen Tag ohne Speis und Trank in den dunklen Holzschuppen eingesperrt, auf den Augenblick wartend, wenn der geliebte Vater heimkehrt, ihn aus dem Verlies holt und in den Armen hinauf in die Wohnung, in sein Arbeitszimmer tragen wird, der gute Vater, der den jüngeren Sohn wählte, weil er selbst: jüngerer Sohn war und die daraus folgenden Demütigungen kannte. Und er erzählte über den Knaben, der, Cooper und Homer lesend, entdeckte, daß es eine echte und wahre Welt gibt, daß die Welt, in der er lebt, nur Lug und Trug ist. Der von da an überzeugt war, das Buch sei wirklicher als das Leben. Er erzählte über Jugendfreundschaften. Über den Sommer, den er bei Elek Benedek2 verbrachte; über die Erschütterung, die ihm die Begegnung mit dem »aufrechten 2 Elek Benedek (1859-1929), ungarischer Schriftsteller.

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Menschen« verursachte. Über seine Begeisterung für Leo Popper; über die Gemeinsamkeit der Nachmittage, die um die gleiche Leidenschaft für die Kunst angeordnet waren. »Er war viel begabter als ich«, sagte er oft über den Jungverstorbenen. Er erzählte über die Stimme von Irma Seidler und über den Nachmittag in Florenz, als er, auf der Terrasse eines Kaffeehauses die Zeitung lesend, die Nachricht ihres Selbstmordes erleiden mußte. Von da an hatte er Platzangst. »Nur das eine noch sollen Sie uns erzählen …«, baten wir ihn immer wieder. Er erzählte es, und langsam lernten wir ihn kennen. Zuallerletzt lagen auf seinem Schreibtisch die Werke von Sigmund Freud.

Im Tod: zurück zum Leben Das Urteil Als wir hörten, er habe Krebs, wußten wir, daß man es ihm wird sagen müssen. Sein Sohn und ein befreundeter Arzt (der einzige Arzt, dem er vertraute, weil er sich nicht als Demiurg im weißen Kittel aufspielte), überbrachten ihm die verhängnisvolle Nachricht; wir erwarteten sie bangend im Vorzimmer. Er nahm das Urteil zur Kenntnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Als dann wir zu ihm ins Zimmer gingen, war er voll und ganz bemüht, unsere Beklemmung aufzulockern. Das war nicht gekünstelt, das war kein Rollenspiel. Er fing einfach an zu plaudern, wie immer. Er hatte es nicht nötig, den stoischen Weisen zu spielen; Stoizismus gehörte zu seiner Person. Mit solcher Selbstverständlichkeit schuf er die gewohnte Atmosphäre, daß wir nicht widerstehen konnten. So war es von diesem Tag an immer und bis zuletzt. Sosehr, daß wir, hätten wir seinen körperlichen Verfall nicht beobachten können, das Urteil vergessen hätten. Er hat es geschafft. Bloch sagte ihm einmal: »Du bist wie eine Pflanze.« Er liebte die Novelle von Tolstoi über die drei Tode; das Sterben des Baumes galt ihm als der humanste Tod. Wir Jüngeren meinten darin einen Mangel der Problemempfindlichkeit zu erkennen. Nun wurde es klar, daß dies seine persönliche Wahl war. Dieses in seinen Werken lebende Vemunftwesen hatte tatsächlich etwas von der gewachsenen Natur in sich selbst. Es stimmt schon: er war wie eine Pflanze und starb wie jener Baum.

Die Liebe Immer ermüdender wurde ihm die Arbeit. Er wollte von ihr nicht ablassen bis zum letzten Moment, doch konnte er am Schreibtisch, mit der qualmenden Zigarre im Mund,

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Agnes Heller

einschlafen. Der Schreibtisch mußte geräumt werden; es verschwand die systematische Unordnung von Büchern und Papieren. Der Mann, der nur im Werk und für das Werk lebte, mußte das Werk aufgeben. So, wie das Werk aussichtslos wurde, wie der sowieso unabschließbare Abschluß außerhalb des Möglichen ruckte, so schmolz vom alten Mann der Eispanzer weg, in den er sich stets einhüllte. Jetzt durften wir ihm auf die Schulter klopfen, auch er klopfte uns auf die Schulter. Alles interessierte ihn plötzlich, was ihm bis dahin fern lag: unter welchen Umständen wir arbeiten, ob wir eine Wohnung haben, was wir essen, ob wir gesund sind. Was uns Kummer und was uns Freude bereitet; er wollte es mit uns teilen. An unseren geringfügigen Angelegenheiten nahm er Anteil, gespannt und mit Mitgefühl. Plötzlich bemerkte er, daß es Kinder gibt. Er beobachtete sie, wie sie heranwachsen, freudig entdeckte er die Geheimnisse ihres Charakters, er spielte mit ihnen. Und sie fanden diesen kleinen alten Mann nett und nannten ihn den »alten Onkel Gyuri«, Als er nicht mehr die Kraft besaß, die an ihn gerichteten Briefe zu lesen, riß er sorgfältig die Briefmarken von den Kuverts: für die Kinder. Einmal hatte er gesagt: »Ich war ein Mensch, den man nicht lieben konnte.« Darin irrte er.

Das Wichtigste Er wurde ganz mager, kaum daß er gehen konnte. Doch das Gefühl der Würde verließ ihn nicht, er übermannte die körperliche Schwäche. Oft zitierte er Plotin, der sich seines Leibes schämte. Auch er schämte sich seines Leibes, des hinfälligen Attributs des Geistes. Krankenhaus. Wir halten seine Hand, sprechen auf ihn ein. Wir sprechen über seine Arbeiten, daß man sie überall liest und verehrt. Daß seine Gedanken nun auch in Amerika bekannt sind, daß man viel über ihn schreibt und diskutiert. Er nickt, aber seine Gedanken waren anderswo. Plötzlich sagte er: »Das Allerwichtigste, das Allerwichtigste, das verstehe ich nicht.« Was dieses Allerwichtigste sei, fragten wir. Worauf er: »Das weiß ich noch nicht.« Auch den Tod wollte er begreifen. Er starb den Tod des Baumes. Und doch war, bis zu allerletzt, der Logos.

Werner Jung

Die Fortsetzung von etwas Nachwort zu »Gelebtes Denken« Sie haben sich wohl beide – bei aller gehörigen Distanz – überaus geschätzt: der deutsche Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger für Literatur Heinrich Böll und der ungarische marxistische Philosoph Georg Lukács. Das drückt sich nicht nur darin aus, dass der Ungar anlässlich des Bändchens zu Bölls 50. Geburtstag einen bemerkenswerten Beitrag unter dem Titel »Lob des neunzehnten Jahrhunderts«1 zugesteuert hat und sich dann noch im Zuge eines von ihm (mit-)initiierten Aufrufs zur Freilassung der inhaftierten US-amerikanischen Aktivistin Angela Davis an den berühmten deutschen Schriftsteller mit Bitte um Unterstützung gewandt hat. Auch hinsichtlich ihres Literaturverständnisses, nicht zuletzt in der Perspektive auf ein (systematisches) Begreifen des Realismus, dürften beide Autoren sich nahegekommen sein. Schaut man zudem auf ihr jeweiliges Selbstverständnis als Schriftsteller und Intellektuelle, dann ergeben sich wiederum ganz erstaunliche Parallelitäten. Früh schon war sich Heinrich Böll seiner schriftstellerischen Bedeutung und Aufgabe bewusst und hat überaus akribisch in sogenannten Arbeitsbüchern unter fortlaufender Nummerierung seine Arbeiten chronologisch verzeichnet, wobei er den Begriff der »Fortschreibung« benutzt hat, um deutlich zu machen, dass seine Arbeiten und das gesamte Schaffen sich in einer progredierenden Form bewegen, dass die Texte und Produktionen aneinander anschließen, sich miteinander verbinden.2 Ganz ähnlich hat es der ungarische Philosoph empfunden. Auch er war schon in jungen Jahren überzeugt von seinem Leistungsvermögen und seinen intellektuellen Kapazitäten, was bereits frühe Aufzeichnungen und Briefe dokumentieren; vollends war der Marxist seit den 20er Jahren sich über seine notwendigen Aufgaben im Klaren. Um es auf den Punkt zu bringen: Unausgesprochenermaßen inszenieren sich beide, Lukács wie Böll, als Klassiker – als klassische Autoren in jenem Sinne, wie Goethe sich als Klassiker verstand und verstanden wissen wollte, mindestens im Blick auf die zeitgenössische Öffentlichkeit. Böll, der die eigene Generation vor die Aufgabe stellte, das Erinnern an Krieg, Leid und Vernichtung hochzuhalten und dabei selbst ein 1 Der Text ist zuerst erschienen in: In Sachen Böll  – Ansichten und Einsichten. (Hg.) Marcel Reich-Ranicki. Köln-Berlin 1968. S. 325-332; dann auch wieder in: Georg Lukács: Essays über Realismus. Werke. Bd. 4. Neuwied, Berlin 1971. S. 659-664. 2 Dementsprechend haben die beiden Herausgeber der Böll-Bibliographie zum Titel ihrer Arbeit auch gewählt: Fortschreibung. Bibliographie zum Werk Heinrich Bölls. (Hg.) Viktor Böll und Markus Schäfer. Köln 1997.

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»Bekenntnis zur Trümmerliteratur« abgab.3 Lukács, dessen ›Confessio‹ darin bestand, mit seinen Arbeiten für eine Erneuerung des Marxismus zu sorgen und damit – ideologische – Grundlagen für die (Weiter-)Arbeit an der Geschichte zu schaffen – also Pfade nach Utopie anzulegen, auf denen sich beide, der christliche Schriftsteller und der marxistische Philosoph, dann sicher häufiger noch begegnet wären. Wenige Monate vor seinem Tod verfasste Georg Lukács, nicht zuletzt von der Krebserkrankung an der Fortsetzung seiner Arbeit an den Prolegomena zur Ontologie arg behindert, vor allem auf Drängen seiner Schüler die Skizze »Gelebtes Denken«.4 Seit längerer Zeit bereits hatte er die Absicht, sich mit der eigenen Biographie zu beschäftigen und damit eine Art Rechenschaft über sein Leben zu liefern, wobei der ethische Impuls die verbindende Klammer des Textes darstellt. »Jede Selbstbiographie«, so gleich der erste Satz, sei zwar immer »subjektiv«, doch gehe es darum zu zeigen, wie ein Mensch »im Rahmen einer gegebenen Entwicklung […] zu sich kommt oder sich verfehlt.« Man muss sofort hinzufügen, dass hier mit der marxistischen Unterstellung gearbeitet wird, wonach die Menschen zwar ihre Geschichte machen, aber immer unter bereits vorgefundenen Verhältnissen, was hinsichtlich des Einzel­ subjekts bedeutet, dass es entsprechend seinen Anlagen und Fähigkeiten handeln muss. Aristoteles’ »Nikomachische Ethik« und Marx’ Geschichtsphilosophie gehen Hand in Hand bei Lukács, wenn er für den eigenen autobiographischen Versuch reklamiert, dass es ihm nicht ums eigene Leben »im unmittelbaren Sinn« gegangen sei. Erklärend fügt er hinzu: »nicht Individualität als Ausgangspunkt oder Endziel«, sondern vielmehr: »wie persönliche Eigenschaften, Neigungen, Tendenzen bei  –  den Umständen gemäß – maximaler Entfaltung, gesellschaftlich typisch, […] gattungsmäßig geworden, in Gattungsmäßigkeit sich zu münden versucht haben.« Noch bevor er dann in neun (teilweise durchnummerierten) Kapiteln die biographischen Stationen seines Lebensweges umreißt, setzt er im Vorspann gleich mit der Feststellung ein: »Kein Dichter. Nur Philosoph. Abstraktionen. Auch Gedächtnis darauf gerichtet.« Rückblickend sieht sich also der alte Lukács in der Rolle des Philosophen, eines Menschen, dessen Bestimmung darin liegt, die Welt – jetzt mit Hegel – mit Denken zu durchdringen und sich am Vermögen der Begriffe abzuarbeiten. Der fragmentarische Charakter von Lukács’ Aufzeichnungen hatte seine Schüler, insbesondere István Eörsi und Erzsébet Vezér, dazu veranlasst, in Tonbandinterviews, die zwischen 1969 (also noch vor den eigentlichen Aufzeichnungen) und 1971 durchgeführt wurden, Lukács zu Erläuterungen und Präzisierungen zu bewegen. So sind schließlich mit der Transkription der Bänder Kommentare zum Text von »Gelebtes Denken« entstanden; beides muss freilich miteinander verbunden werden. Dabei 3 Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952), zit. nach: Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe. Bd. 6. 1952-1953. (Hg.) Árpád Bernáth. Köln 2007. S. 58-62. 4 Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Red.: István Eörsi. Frank­ furt/M. 1981.

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entstehen an den Nahtstellen von Text und Kommentar häufiger Widersprüche, stößt der Leser auf Idiosynkrasien Lukács’ und vermag – heute mit gehörigem historischen Abstand noch deutlicher als früher – besser auch die dunklen Stellen in dieser Jahrhundertbiographie wahrzunehmen. Immer wieder ist von Lukács-Interpreten und -Lesern darüber gerätselt worden, wie ein (groß-)bürgerlich erzogener Mensch scheinbar spontan eine Kehrtwende in seiner Weltanschauung vollziehen kann und dieser neuen Ideologie dann bis ans Lebensende treu bleibt. Darüber haben sich schon Vertraute und Freunde im Umfeld Lukács’ Gedanken gemacht, etwa Emma Ritoók, die bis 1918/19 mit Lukács verkehrte und die in ihren Erinnerungen einmal bemerkt, dass er »von einem Sonntag zum anderen […] von Saulus zu Paulus [wurde].«5 Anhaltend diskutiert worden ist die Entgegensetzung vom jungen und alten Lukács bzw. vom vormarxistischen und marxistischen Œuvre des Philosophen: Gibt es diesen Bruch, von dem Ritoók spricht, oder lässt sich nicht doch eher von einer gewissen Kontinuität (wenn auch im Wandel) reden, von einem einheitlichen Denkweg?6 Folgt man den späten Selbstäußerungen Lukács’, sowohl den Aufzeichnungen von »Gelebtes Denken« wie auch den Gesprächen, dann betont er mehrfach – und beginnt sogleich das erste Gespräch über »Kindheit, Berufsbeginn« damit –, dass bei ihm »die Dinge […] sehr stark in meinem Leben zusammen[hängen]«. Konzentriert dann in der Aussage: »Bei mir ist jede Sache die Fortsetzung von etwas. Ich glaube, in meiner Entwicklung gibt es keine anorganischen Elemente.« Dem korrespondiert eine weitere Stelle aus »Gelebtes Denken«, wo er im Blick auf seine frühe Entwicklung feststellt, dass es stets doch um die »Fortsetzung von Früherem« gehe. Dennoch streicht er bei aller Kontinuität heraus, dass die »Entwicklung zum Kommunisten […] schon die größte Wendung, Entwicklungsergebnis in meinem Leben« bedeutet habe. Kontinuität einerseits, Wendung andererseits? Wie lässt sich das zusammendenken oder gar synthetisieren? Darüber hat sich auch István Eörsi, der Herausgeber der deutschen Erstausgabe von »Gelebtes Denken«, in seinem Einleitungsessay Gedanken gemacht. Unter Hinweis auf zwei ungarische Lukács-Philologen, György Bence und János Kis, spricht Eörsi von

5 Emma Ritoók, hier zit. nach: György Márkus: Die Seele und das Leben. Der junge Lukács und das Problem der ›Kultur‹, in: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. (Hg.) Agnes Heller, Ferenc Fehér, György Márkus, Sándor Radnóti. Frankfurt/M. 1977. S. 99. 6 Ich verweise hier nur ganz pauschal auf einige Titel, die relevant sind auch für die Auseinandersetzung mit »Gelebtes Denken«: neben dem Band »Die Seele und das Leben« auch Werner Jung: Georg Lukács. Stuttgart 1989; ders.: Von der Utopie zur Ontologie. Lukács-Studien. 2. unveränderte Auflage. Bielefeld 2017; László Sziklai: Georg Lukács und seine Zeit 19301945. Wien, Köln, Graz 1986; Arpad Kadarkay: Georg Lukács: Life, Thought, and Politics. Oxford (GB), Cambridge (USA) 1991; Károly Kókai: Im Nebel. Der junge Georg Lukács und Wien. Wien, Köln, Weimar 2002.

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Lukács’ seelischem bzw. sogar religiösem Bedürfnis nach Zugehörigkeit.7 Der Hass auf die großbürgerliche Welt, die er vor allem durch das Protokollartige im Elternhaus, repräsentiert durch die Mutter, gespiegelt sieht, hat ihn seit jeher bestimmt. So lehnt er sich gegen alle Konventionen auf, fühlt sich zugleich aber auch – innerhalb wie außerhalb der Familie – einsam und isoliert und richtet sich, sicher noch unbewusst, in einem Zustand des Nonkonformismus ein, um die Formulierung Eörsis zu gebrauchen. Davon leitet Eörsi dann weiter ab, dass sich Lukács »stark danach gesehnt haben [müsse], zu irgendeiner sinnvollen und großen Gemeinschaft zu gehören.«8 Und darin sieht er endlich auch die Konsequenz des Lukács’schen Lebenswegs »trotz aller Ungereimtheiten.«9 Folgt man seiner Selbsteinschätzung aus »Gelebtes Denken«, dann hat Lukács’ frühe Entwicklung ganz im Zeichen der Suche nach einer gültigen intellektuellen Orien­tierung, einem – in der Diktion seiner »Theorie des Romans« – transzendentalen Obdach gestanden und damit auch nach Denkmöglichkeiten, um die verhasste Welt des Kapitalismus überwinden zu können. Dass auf diesem faszinierend zu beobachtenden Weg grandiose Arbeiten entstanden sind – neben der »Theorie des Romans« etwa die Dramengeschichte oder die beiden Essaysammlungen »Die Seele und die Formen« und »Ästhetische Kultur« – sei nur am Rande vermerkt. Dieser Hass auf die großbürgerliche Gesellschaft und den sie prägenden Kapitalismus, worin man sicherlich auch eine Art Selbsthass erkennen kann – was den jungen Lukács freilich nie davon abgehalten hat, die großzügigen väterlichen Zuwendungen anzunehmen –, hat auch dazu geführt, dass Lukács konsequent den Ersten Weltkrieg abgelehnt hat. Und dies bereits in seiner ersten Phase, die im weiten Rund noch von taumelnder Begeisterung  –  selbst unter führenden Intellektuellen – gekennzeichnet war. Lukács verweist z. B. wiederum gleich eingangs von »Gelebtes Denken« auf einen Brief Georg Simmels an Marianne Weber vom 16. Oktober 1914, worin Simmel  –  einer der Lehrer und damaligen Vertrauten des jungen Lukács, der sich zu Habilitationszwecken bis 1918 die meiste Zeit in Heidelberg aufgehalten hat – von einem Vortrag über die »Forderung des Tages« spricht und weiterhin darüber salbadert, dass er »die Opfer der Kämpfer ohne Gegenleistung annehmen [müsse].« »Aber das ist doch das Unvergleichliche dieser Zeit, daß endlich, endlich einmal die Forderung des Tages und die Forderung der Idee eine und dieselbe sind. Das kann freilich nur ›intuitiv‹ oder vielmehr im praktischen Erleben erfaßt werden und wenn Lukács dieses Erleben nicht hat, so kann man es ihm nicht vordemonstrieren. Dann ist es allerdings ganz konsequent, wenn er ›Militarismus‹ in alle dem sieht […].«10 Das ist ein bemerkenswertes Zeugnis, das zum einen die Verblendung der 7 István Eörsi: Das Recht des letzten Wortes, in: Georg Lukács: Gelebtes Denken a. a. O. S. 11. 8 Vgl. ebd. 9 István Eörsi: Der unliebsame Lukács, in: Ders.: Der rätselhafte Charme der Freiheit. Frankfurt/M. 2003. S. 140. 10 Georg Simmel: Briefe 1912-1918, Jugendbriefe. Gesamtausgabe. Bd. 23. (Hg.) Otthein und Angela Rammstedt. Frankfurt/M. 2008. S. 422.

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deutschen Intelligenz, zum anderen die Ausnahmehaltung des jungen Intellektuellen Lukács verdeutlicht. Was dann folgt, ist Lukács’ Wende, die gewiss nur vor dem Hintergrund der welthistorischen Entwicklungen nachvollziehbar und verstehbar wird. István Eörsi hat in einem späteren Essay unter dem Titel »Der unliebsame Lukács« (1986), dabei auf seine Gespräche mit Lukács wie auf »Gelebtes Denken« zurückweisend, eine ebenso gelungene wie pointierte Zusammenfassung von Lukács’ späterem Lebensweg geliefert, die hier als längere Passage wiedergegeben sein mag: »Das Schema seiner Entwicklung ließe sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Ab 1919 sah er sich als Teil einer Weltbewegung. Davon erhoffte er sich, seine ›monologische‹ Lebensführung für immer aufgeben zu können. Offensichtlich war ihm das wichtiger, als am Leben zu bleiben. Bereitwillig übernahm er lebensgefährliche Aufgaben. Nach dem Sturz der Räterepublik blieb er noch einige Zeit mit der absurden Aufgabe in Budapest, die illegale Kommunistische Partei zu reorganisieren; die gleiche absurde Aufgabe übernahm er in Berlin nach der Machtergreifung Hitlers. Dazwischen hielt er sich ein Vierteljahr illegal in Ungarn auf. Nach 1933 entschied er sich für die Moskauer Emigration, obwohl er sich über die Gefahren im klaren war; sogar während der Prozesse kam es ihm nicht in den Sinn, eine Professur in einem kapitalistischen Land anzunehmen. Auch als er nach 1956 totgeschwiegen werden sollte, war er nicht bereit, in den Westen zu gehen, wohin man ihn rief und auch nur allzugern geschickt hätte. Tod und geistige Vernichtung schreckten ihn nicht, die Möglichkeit aber, aus der Partei ausgeschlossen zu werden, erschien ihm  –  zumindest bis 1956  –  als grauenhafte geistige und moralische Erniedrigung und veranlaßte ihn zu taktischen Entscheidungen, die nicht nur Theateraufführungen, sondern Menschenleben gefährdeten und zur trostlosen Uniformierung des geistigen Lebens beitrugen.«11 Im Blick auf seine intellektuelle Entwicklung, die ebenfalls zentraler Bestandteil auch der späteren Kapitel von »Gelebtes Denken« (ab Kap. V) ist, lässt sich sicherlich mit gutem Recht sagen, dass die frühen marxistischen Texte aus der Übergangszeit bis zu »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) einerseits so etwas wie Lukács’ Eintrittskarte in die kommunistische Weltbewegung darstellen – hat er doch jetzt im Proletariat, näherhin in dessen Klassenbewusstsein endlich jene Totalität, von der der romantische Antikapitalist schon in der »Theorie des Romans« gesprochen hatte, gefunden, eine Totalität, die das Ferment gesellschaftlicher Höher- und Weiterentwicklung der Menschheit bildet  –, dass er andererseits aber auch die schmerzliche Erfahrung machen muss (die sich bis ans Lebensende fortsetzen wird), isoliert und als – name it! – Rechts- bzw. Linksabweichler, als Revisionist oder gar Idealist stigmatisiert zu werden. Was allerdings seiner Anerkennung und Wertschätzung zumal in der 11 István Eörsi: Der unliebsame Lukács, in: Ders.: Der rätselhafte Charme der Freiheit. Frank­ furt/M. 2003. S. 138.

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westlichen Welt keinen Abbruch getan hat. Lukács selbst hat als die eigentlichen marxistischen Lehrjahre die Zeit im Moskauer Exil und seine Zusammenarbeit mit Michail Lifschitz bezeichnet – die Zeit also, in der die großen literarhistorischen Essays entstehen, die wiederum die Vorarbeiten für die große Ästhetik darstellen, aber auch die Hegel-Monographie sowie »Die Zerstörung der Vernunft«. Hierzu noch die bemerkenswerte und aufschlussreiche Feststellung Lukács’, dass er seit der Veröffentlichung der Blum-Thesen (1928), einer Schrift, die sich in die ungarischen Parteiquerelen der KP einmischt, eine einheitliche (Gedanken-)Linie verfolgt habe – eine Linie, die man wohl so zusammenfassen kann, dass es ihm – theoretisch – um eine Erneuerung des Marxismus (in Richtung einer Ontologie und einer freilich nicht mehr zustande gekommenen Ethik), – praktisch – um eine sozialistische Demokratie im Alltagsleben diesseits parteipolitischer Dogmatik gegangen ist, wofür noch einer seiner letzten, postum publizierten Essays unter dem Titel »Demokratisierung heute und morgen« bzw. »Sozialismus und Demokratisierung« (wie die westdeutsche Ausgabe heißt) einstehen kann. Nun mag er sich am Ende schließlich doch noch kurz einmischen, der Verfasser dieses Nachworts, der offen bekennt, seit Studienzeiten von der Person Lukács wie vom Werk dieses Philosophen fasziniert gewesen zu sein. Gewiss mit Einschränkungen, die aber die Hochachtung vor der Lebens- und Denkleistung des ungarischen Intellektuellen nicht schmälern können. Beeindruckend für mich, dass und wie sich der junge Georg (noch) v. Lukács durch Literatur- und Kunstgeschichte bis in die aktuelle Gegenwart hindurchliest und – wie ein Schwamm – alle Angebote aus der Philosophie(geschichte) und den aufblühenden Geistes- und Sozialwissenschaften aufsaugt, sich gedanklich hindurcharbeitet, dabei auf Aporien und Grenzen stößt und unermüdlich weiterdenkt. Wie soll ich es ausdrücken? Erschreckend oder einschüchternd aber auch, mit welcher Insistenz er dabei den Logos einfordert. In einem Brief vom 10. Dezember 1910 an einen der ganz wenigen Freunde, den früh verstorbenen Leo Popper, schreibt der 25-jährige Lukács u. a.: »Was ich im Frühjahr anfing, ist, wie es scheint, gelungen: die Ausschaltung des ›Lebens‹. Das bedeutet nicht unbedingte Askese. Das bedeutet lediglich, daß der Schwerpunkt von allem endgültig und nunmehr unerschütterlich in der Arbeit liegt.«12 Und gegenüber der ebenfalls früh verstorbenen Geliebten Irma Seidler bemerkt er einmal um den 18. April 1911 geradezu kalt-nüchtern: »Ich spüre es nur immer stärker: die wirklich wichtigen Dinge geschehen, wenn man allein ist, man kann über sie nicht einmal reden, geschweige denn sich über sie verständigen oder durch sie verstanden werden; Freundschaften aber stellen diesen Anspruch. Und weil er nie erfüllt wird, ist das Gerede unter Freunden ›Geschwätz‹. Das klingt wie mattes Gerede, ist es aber nicht ganz.«13 Dann die Lektüre von »Geschichte und Klassenbewußtsein«, die mehrfach wiederholte Lektüre eines Klassikers, der schon mehreren Generationen 12 Vgl. Georg Lukács: Briefwechsel 1902-1917. (Hg.) Éva Karádi und Éva Fekete. Stuttgart 1982. S. 174. 13 A. a. O. S.  212.

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die marxistische Philosophie vermittelt hat und der  –  subkutan gewiss  – Anschlussmöglichkeiten bietet, um von hier aus Geistes- und Kulturgeschichte, Kunst- wie Literaturgeschichte besser verstehen zu können. Die problematischen Texte Lukács’ aus den 30er und 40er Jahren, die schwer nachvollziehbaren Invektiven gegen die Moderne und die Avantgarden, zugleich aber wiederum und zwischen den Zeilen die luziden Bemerkungen zu einem systematischen Verständnis von Realismus, was er in geradezu enzyklopädischem Ausmaß dann in der »Eigenart des Ästhetischen« erläutert hat. Zum Ende seines Lebens- und Denkwegs, der sich nie von äußerer Unbill (der Parteiarbeit, der Illegalität, des erzwungenen Exils) hat beeinflussen lassen – darüber wäre jetzt noch viel zu sagen –, fasst Lukács seine marxistische Philosophie in einer »Ontologie des gesellschaftlichen Seins« zusammen, einer Ontologie, deren Ziel- und Fluchtpunkt eine neue Ethik sein sollte. Summe und Quintessenz eines Denkens, das sich ganz in der Tradition des verehrten Goethe verortet und das der unerschütterlichen Überzeugung verpflichtet ist, dass es – objektiv – um die Höherentwicklung der Menschheit und – subjektiv – um »die einheitliche und allumfassende Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit«14 geht. In einem anderen Essay über Goethe resümiert Lukács, was auf ihn selbst mit anderen, nämlich philosophischen Vorzeichen wohl zutreffen mag: »Der Dichter im Sinne Goethes ist der Träger und Verkünder dieser – stets von individuellen Tragödien umwitterten – Höherentwicklung der Menschengattung. Goethe erneuert hier die uralte Sendung von Kunst und Literatur: Vehikel der Bewußtseinsentwicklung der Menschheit über sich selbst zu sein.«15

14 Georg Lukács: Die Leiden des jungen Werther (1936), in: Ders.: Goethe und seine Zeit. Berlin 1955. S. 45. 15 Georg Lukács: Unser Goethe (1949), in: Ders.: Goethe und seine Zeit. Berlin 1955. S. 31. – Ganz ähnlich ist auch, wie der Herausgeber von Lukács’ Ethik-Konspekten, György Mezei, bemerkt, der Fluchtpunkt der geplanten späten Ethik angelegt. (vgl. Georg Lukács: Versuche zu einer Ethik. (Hg.) Györy Iván Mezei. Budapest 1984. S. 14 u. ö.) – Um nicht zuletzt diese Fluchtpunkte von Lukács’ Denkweg und Lebenswerk zugleich besser zu konturieren, drucken wir hier auch Agnes Hellers Essay »Der Schulgründer« nach sowie einen der letzten von Lukács verfassten Texte, den Vortrag »Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns«.

Drucknachweise Georg Lukács: Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns; Abdruck erfolgt nach dem deutschen Erstdruck in: Ad lectores 8. Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1969. S. 148-164. - Der Text ist auch abgedruckt in: Neues Forvm. Nr. 207/208. 1971. S. 19-22; Neues Forvm. Nr. 211. 1971. S. 30-32; in leicht veränderter Form und als Raubdruck auch in: Hundsblume. Edition 5. 1970 [Wien]. 37 S. Agnes Heller: Der Schulgründer, Abdruck erfolgt nach: Rüdiger Dannemann, Werner Jung (Hg.): Objektive Möglichkeit. Beiträge zu Georg Lukács’ »Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins«. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1995. S. 105-125.

Georg Lukács

Werke Band 1 (1902-1918) Teilband 1 (1902-1913) Hgg. Zsuzsa Bognár, Werner Jung, Antonia Opitz ISBN 978-3-8498-1150-1 2016, 476 Seiten, Leinen, € 128,-

Teilband 2 (1914-1918) Hgg. Zsuzsa Bognár, Werner Jung, Antonia Opitz ISBN 978-3-8498-1151-8 2018, 392 Seiten, Leinen, € 128,Mit diesen beiden Teilbänden wird die Georg Lukács-Werkausgabe nach zehn Jahren wieder fortgesetzt. Die Bände enthalten, wie es in der neueren Editionsphilologie üblich geworden ist, in chronologischer Reihenfolge Lukács’ Werke und Schriften bis 1918, bis zu den Texten, die u.a. für den noch ausstehenden Bd. 3 der Werkausgabe vorgesehen sind und Lukács’ Eintritt in die ungarische kommunistische Partei dokumentieren. Zugrunde gelegt wurde und maßgeblich ist die ungarische Gesamtausgabe, die freilich um einige – bei Drucklegung der ungarischen Ausgabe im Jahre 1977 noch unbekannte – weitere Texte von Georg Lukács ergänzt worden ist. Damit werden nun zum ersten Mal in deutscher Sprache nicht nur die beiden Essaysammlungen „Ästhetische Kultur“ (1913) sowie „Bela Balázs und die ihn nicht mögen“ (1918) vollständig zugänglich gemacht, sondern darüber hinaus noch dreißig weitere Texte – eine Auswahl von Lukács’ frühen Theaterbesprechungen, Rezensionen, Aufsätze und Essays –, die die ganze Breite von Lukács’ Interessensgebieten abzustecken vermögen.

AISTHESIS VERLAG

Georg Lukács

Werke Band 2 Geschichte und Klassenbewußtsein ISBN 978-3-89528-999-6 2013, 733 Seiten, kartoniert, € 39,80 »Für die historische Wirkung von Geschichte und Klassenbewußtsein und auch für die Aktualität in der Gegenwart ist ein Problem von ausschlaggebender Bedeutung: Die Entfremdung, die hier zum erstenmal seit Marx als Zentralfrage der revolutionären Kritik des Kapitalismus behandelt wird und deren theoriegeschichtliche wie methodologische Wurzeln auf die hegelsche Dialektik zurückgeführt wurden. Natürlich lag das Problem in der Luft. Einige Jahre später rückte es durch Heideggers Sein und Zeit (1927) in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussionen und hat diese Position, wesentlich infolge der Wirkung Sartres wie seiner Schüler und Opponenten auch heute nicht verloren. Die philologische Frage, die vor allem L. Goldmann aufwarf, indem er in Heideggers Werk stellenweise eine polemische Replik auf mein – freilich ungenannt gebliebenes Buch – erblickte, kann hier übergangen werden. Die Feststellung, daß das Problem in der Luft lag, genügt heute vollständig, besonders wenn die Grundlagen dieses Tatbestandes eingehend analysiert werden, um die Weiterwirkung, die Mischung von marxistischen und existentialistischen Denkmotiven besonders in Frankreich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg klarzulegen. Prioritäten, „Einflüsse“ etc. sind dabei nicht allzu interessant. Wichtig bleibt bloß, daß die Entfremdung des Menschen als ein Zentralproblem der Zeit, in der wir leben, von bürgerlichen wie proletarischen, von politisch-sozial rechts oder links stehenden Denkern gleicherweise erkannt und anerkannt wurde. So übte Geschichte und Klassenbewußtsein eine tiefe Wirkung in den Kreisen der jugendlichen Intelligenz aus.« Georg Lukács, 1967

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Georg Lukács

Werke Band 3 Teilband 1 Hgg. Zsuzsa Bognár, Werner Jung, Antonia Opitz ISBN 978-3-8498-1555-4 2021, 689 Seiten, Leinen, € 128,Bd. 3 der Lukács-Werkausgabe ist zweigeteilt. Der vorliegenden Band 3.1 enthält Arbeiten, Aufsätze und Essays von Georg Lukács, die von der Zeit des Moskauer Exils (1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs) bis zum Beginn der 1950er Jahre reichen und die er selbst in den beiden Sammlungen „Schicksalswende“ und „Existentialismus oder Marxismus?“ zusammengefasst hat; hinzu kommen noch die beiden für die Entwicklung einer marxistischen Literaturgeschichtsschreibung nach dem Ende vom Faschismus zentralen Essays „Deutsche Literatur während des Imperialismus“ und „Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur“. Abgerundet wird die Sammlung von einem Text, der als Lukács‘ politisches Vermächtnis gelten kann und der unter dem Eindruck der Prager Ereignisse von 1968 ebenso wie unter dem der damaligen Studentenbewegungen verfasst worden ist: „Sozialismus und Demokratisierung“.

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Werke Band 18 Autobiographische Texte und Gespräche Herausgegeben von Frank Benseler und Werner Jung unter Mitarbeit von Dieter Redlich ISBN 978-3-89528-720-6 2009, 529 Seiten, kartoniert, € 39,80 Mit diesem 18. Band, der Georg Lukács’ autobiographische Texte, Gespräche und zwei Briefe enthält, wird die Werkausgabe des ungarischen Philosophen fortgesetzt. Ablesbar ist die intellektuelle und politische Entwicklung eines Denkers, der in seiner Autobiographie »Gelebtes Denken« einmal von sich behauptet hat, daß in seiner Entwicklung »jede Sache die Fortsetzung von etwas« sei und weiterhin daß es keine unorganischen Elemente darin gegeben habe. Die Lektüre dieses Band der Werkausgabe mit Texten aus sechs Jahrzehnten läßt darüber hinaus auch noch einmal die wechselvolle und schmerzhafte Geschichte der (organisierten) Linken und marxistischen Bewegungen und Parteien von den Anfängen im 20. Jahrhundert bis zum sich bereits abzeichnenden Ende des ›real existierenden Sozialismus‹ nach der Zerschlagung des ›Prager Frühlings‹ 1968 sinnlich-plastisch vor Augen treten. »Georg Lukacs hat als Einziger fast das Niveau der fälligen, gültigen Sache selbst betreten. Der Augenblick, allen anderen eine begriffliche Verlegenheit, ist hier zum Moment der Entscheidung, des Durchblicks in Totalität erhöht.« Ernst Bloch »Es war, als habe sein Geist sich diesen zarten und zähen Körper mit äußerster Sparsamkeit gebaut, um nur das nötigste vom Stoff der Welt an ihn abzugeben und alles übrige dem Denken vorzubehalten. Sein Dasein ist gelebtes Denken.« Ernst Fischer

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Georg Lukács

Werkauswahl in sechs Bänden

Band 1: Die Seele und die Formen Essays Mit einer Einleitung von Judith Butler Hrsg. von Frank Benseler und Rüdiger Dannemann ISBN 978-3-89528-729-9 2011, 253 Seiten, kartoniert, € 24,80

Band 2: Die Theorie des Romans Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik Hrsg. von Frank Benseler und Rüdiger Dannemann ISBN 978-3-89528-641-4 2009, 150 Seiten, kartoniert, € 14,50

Band 3: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats Nachwort von Rüdiger Dannemann ISBN 978-3-8498-1117-4 2015, 222 Seiten, kartoniert, € 19,90

AISTHESIS VERLAG