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German Pages 329 [333] Year 2004
André Fuhrmann • Erik J. Olsson Pragmatisch denken
EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Mike Sandbothe Band 4 / Volume 4
André Fuhrmann • Erik J. Olsson
Pragmatisch denken
ontos verlag Frankfurt
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Lancaster
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2004 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 3-937202-46-3 2004
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
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Einleitung Robert B. Brandom Wenn die Philosophie ihr Blau in Grau malt: Ironie und die pragmatische Aufklärung 1 1. Eine zweite Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Eine ironische Geschichte von Ideen in Amerika . . . . . . . . . 9 3. Pragmatistische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4. Ein politisches Problem für den Pragmatismus . . . . . . . . . . 27
I.
Bedeutung
Pirmin Stekeler-Weithofer Brandoms pragmatistische Theorie der Bedeutung 1. Philosophische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formal-deduktive, halbformale und regellogische Semantik 3. Empiristische Kritik an metaphysischen Abbildtheorien . . 4. Unbestimmte Bedeutung und unterbestimmte Referenz . . 5. Sprechhandlungstheoretische Semantik . . . . . . . . . . 6. Gegenstand, Eigenschaft und ‚Objektivität‘ . . . . . . . . 7. Rückkehr zum Sozialbehaviorismus? . . . . . . . . . . . . 8. Explikation vs. Explanation . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfram Hinzen Zum gegenwärtigen Stand der Gebrauchstheorie der Bedeutung 1. Bedeutung ist der Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wittgenstein: Das Sprachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Wissenschaft transzendiert das Sprachspiel . . . . . . . . . 5. Normativismus und Realismus in der Wissenschaft . . . . . . . 6. Rationalismus in der Wissenschaft des Geistes ist kein Eliminativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 37 39 41 45 46 50 52
59 59 60 65 67 69 74
vi
Inhaltsverzeichnis
7. 8. 9. 10. 11.
Die Sprachmaschine . . . . . . . . . . Die Rolle des Gebrauchs . . . . . . . . Einige Bemerkungen zum ‚Innatismus‘ Analytizität . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . .
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Jaroslav Peregrin Pragmatismus und Semantik 89 1. Zwei Paradigmen für eine Theorie der Semantik . . . . . . . . . 89 2. Bedeutung und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Bedeutung und Inferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Bedeutung als inferentielle Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Die Zirkularität der von der formalen Semantik bereitgestellten Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6. Formale Semantik als Darstellung inferentieller Rollen . . . . . 104 Sven Rosenkranz Pragmatismus und Bedeutungstheorie 1. Zwei Spielarten des Pragmatismus . . . . . 2. Inkonsistenz und Unvereinbarkeit . . . . . 3. Anti-Realismus und unerkennbare Wahrheit 4. Semantik und Erkenntnistheorie . . . . . . 5. Das Erwägen der Wahrheit von Gedanken .
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Friedrich Kambartel Semantischer Inhalt und Begründung Michael Esfeld Von einer pragmatischen Theorie der Bedeutung zur Philosophie des Geistes 1. Das Thema des Aufsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem des Regelfolgens als Motivation für den Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundzüge einer pragmatischen Theorie begrifflichen Inhalts . . 4. Die Rekonstruktion sozialer Praktiken . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Problem der mentalen Verursachung . . . . . . . . . . . . . 6. Der Stand der Kunst: das Problem der Erklärungslücke . . . . .
109 110 113 120 125 128
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147 147 148 149 154 157 164
Inhaltsverzeichnis
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II. Wahrheit André Fuhrmann Absolute pragmatische Wahrheit 1. James über Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nutzen, Korrespondenz, Verifikation und Absolutheit 3. Absolutheit und Beharrlichkeit . . . . . . . . . . . . 4. Wahrheit und stabile Behauptbarkeit . . . . . . . . . 5. Anhang: Wrights Lemma . . . . . . . . . . . . . . .
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Cheryl Misak Naturalisierung der Wahrheit: Pragmatismus und Deflationismus 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Peirces pragmatistische Theorie der Wahrheit . . . . . . . 3. Hinzufügen oder nicht hinzufügen? Peirce gegen Horwich 4. Hinzufügen oder nicht hinzufügen? Peirce gegen Grover . 5. Arten der Forschung, Unterbestimmtheit und Objektivität .
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Ulrich Metschl Pragmatismus, Wahrheit und Demokratie: Zu Cheryl Misaks epistemischer Rechtfertigung des Liberalismus 1. Pluralismus und Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pragmatismus und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Moral der freiheitlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 4. Wissenschaft und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Wissen und Wandel Erik J. Olsson Lassen wir den Skeptiker nicht zu Wort kommen: Pragmatismus und radikaler Zweifel 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das skeptische Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. James’ Wette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Peirces Antwort auf den Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . 5. Weitere Unterstützung für Peirces Antwort . . . . . . . . . . . 6. Drei Wege zum Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ein Vergleich mit anderen Antworten . . . . . . . . . . . . . 8. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Isaac Levi Korrigierbarkeit ohne Solidarität Hans Rott Unstimmigkeiten: Pragmatistische Gedanken über Bedeutungs- und Meinungsverschiedenheiten 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analytische Urteile und die Änderung von Theorien . . . . . . . 3. Ein Anschauungsbeispiel und ein erster Versuch . . . . . . . . . 4. Sechs Methoden, Unterschiede in der Theorie und Unterschiede in der Bedeutung auseinanderzuhalten . . . . . . . . . . . . . . 5. Peirces Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkung Welche Art Philosophie ein Philosoph ‚wählt‘, sollte nur von einer leidenschaftslosen Abwägung objektiver Gründe abhängen. So sieht es jedenfalls das offizielle Berufsbild des Philosophen vor – und niemand wird bestreiten wollen, daß das zumindest eine gute Idee sei. Wie weit die Idee von der Wirklichkeit entfernt ist, weiß jeder, der sich für einige Zeit unter Philosophen begeben hat. William James war vielleicht der erste Philosoph, der diesen Aspekt des Philosophierens systematisch hervorgehoben hat. So schrieb er 1907 in der ersten seiner Vorlesungen über Pragmatismus: Die Geschichte der Philosophie ist, zu einem großen Teil, die Geschichte des Zusammentreffens menschlicher Temperamente. [ . . . ] Wie auch immer das Temperament eines berufsmäßigen Philosophen geartet sein mag, er wird versuchen, es beim Philosophieren zurückzuhalten. Temperament ist keine üblicherweise anerkannte Begründung; also wird er nur unpersönliche Gründe für seine Folgerungen geltend machen wollen. Dennoch gibt ihm sein Temperament stärker die Richtung vor, als irgendeine seiner eigentlich objektiveren Prämissen.
Als James dies schrieb, dachte er an Kollegen, die nach jeweils sehr verschiedenen Temperamentvorgaben philosophierten – Zarte („tender-minded“) und Harte („tough-minded“) –, und empfahl den Pragmatismus für eine Mittlerrolle. Tatsächlich hatte sich die vermittelnde Kraft des Pragmatismus schon zu James’ Zeiten bewährt. Denn betrachten wir das Gründungskleeblatt des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey, so lassen sich kaum unterschiedlichere philosophische Temperamente denken. Vielleicht aber war in dem Zusammenwirken so unterschiedlicher Temperamente auch bereits eine gewisse zentrifugale Kraft angelegt, eine Tendenz der pragmatistischen Schule, in verschiedene Richtungen auseinanderzustreben. Die Tatsache des Auseinanderstrebens läßt sich nicht rückgängig machen und möglicherweise ist dies auch nicht einmal wünschenswert. Aber ein Auseinanderstreben in verschiedene Richtungen muß und sollte nicht mit dem Einstellen des Gesprächs zwischen Vertretern dieser Richtungen einhergehen. Philosophisches Temperament, so James, ist letztlich zwar nicht eliminierbar, aber es ist reflektierbar. Diese Überzeugung veranlaßte die Herausgeber, Philosophen, die sich in jeweils sehr unterschiedlicher Weise auf die pragmatistische Tradition beziehen, zu einem Gespräch nach Konstanz einzuladen. Das Gespräch ist im Mai
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2001 zustande gekommen, von allen Teilnehmern enthusiastisch und – im James’schen Sinne – temperamentvoll geführt worden. Von dem Gespräch selbst findet sich in diesem Buch nichts. Stattdessen bieten wir dem Leser die Gesprächsvorlagen an, ergänzt durch weitere Beiträge, die dem Band die nötige Rundung geben, um einen zutreffenden Eindruck von der Vitalität und Breite gegenwärtiger pragmatistischer Philosophie zu geben. Der Leser ist aufgefordert, die Beiträge selbst so zueinander in Beziehung zu setzen, daß er sich einige mögliche Gesprächsverläufe vorstellen kann. Damit hätte das Buch beim Leser sein Ziel erreicht, so wie das Treffen auf den Konstanzer Rheinterrassen sein Ziel bei den seinerzeit anwesenden Autoren erreicht hat. Das Konstanzer Treffen wurde im Rahmen der DFG-Forschergruppe Logik in der Philosophie veranstaltet. Bei der Organisation der Tagung haben wir uns auf die tatkräftige Unterstützung von Ruth Katzmarek verlassen dürfen. Die Beiträge von Brandom, Levi und Misak wurden von Martin Suhr, der Beitrag von Olsson von Dirk Saleschus aus dem Englischen übersetzt. Dirk Saleschus war auch an der Übersetzung des Beitrags von Peregrin beteiligt. Die Druckvorlage des Buches haben Radu Dudau und Christopher von Bülow besorgt. Die DFG hat die Kosten für Tagung, Übersetzung und Druckvorbereitung getragen. Allen Beteiligten – und insbesondere dem Sprecher der Forschergruppe, Professor Wolfgang Spohn – sei an dieser Stelle herzlich gedankt. São Paulo und Lund, im Mai 2004 André Fuhrmann Erik J. Olsson
Zu den Herausgebern André Fuhrmann, geb. 1958, Studium in Marburg, St. Andrews (Schottland) und Canberra (Australien), dort Promotion. Habilitation und anschließend Heisenberg-Stipendiat in Konstanz. Gastprofessuren in den USA und in Brasilien. Seit 2002 Lehrstuhl für Philosophie in São Paulo (Brasilien). Zahlreiche Veröffentlichungen. Erik J. Olsson, geb. 1964, Studium in Uppsala (Schweden), dort Promotion. Seit 2001 dort Hochschuldozent. 1997–2003 DFG-Stipendiat in Konstanz, dort Habilitation. Seit 2003 Assistenz-Professor in Lund (Schweden). Zahlreiche Veröffentlichungen.
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Zu der Autorin und den Autoren Prof. Dr. Robert Brandom ist Professor für Philosophie an der University of Pittsburgh. Buchveröffentlichungen (u.a.): Making it Explicit: Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Harvard University Press, 1994, erschien in deutscher Übersetzung als Expressive Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000; Articulating Reasons: An Introduction to Inferentialism, Harvard University Press, 2000, erschien in deutscher Übersetzung als Begründen und Begreifen: Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001. Prof. Dr. Michael Esfeld ist Professor für Philosophie an der Universität Lausanne. Buchveröffentlichungen (u.a.): Holism in Philosophy of Mind and Philosophy of Physics, Dordrecht: Kluwer, 2001, erschien in deutscher Bearbeitung als Holismus in der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Physik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002; Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann Holzboog, 1995. Dr. Wolfram Hinzen ist Assistenz-Professor für Philosophie an der Universität Regensburg. Buchveröffentlichungen: The Semantic Foundations of AntiRealism, Berlin: Logos Verlag, 1998; Belief and Meaning: Essays at the Interface, Frankfurt: Hänsel-Hohenhausen, 2002 (Mitherausgeber). Prof. Dr. Friedrich Kambartel ist Professor Emeritus für Philosophie an der Universität Frankfurt. Buchveröffentlichungen (u.a.): Theorie und Begründung: Studien zum Philosophie- und Wissenschaftsverständnis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976; Vernunftkritik nach Hegel: Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992 (Mitherausgeber). Prof. Dr. Isaac Levi ist Dewey Professor Emeritus für Philosophie an der Columbia University. Buchveröffentlichungen (u.a.): The Enterprise of Knowledge, Cambridge Mass.: MIT Press, 1980; The Fixation of Belief and Its Undoing, Cambridge: Cambridge University Press, 1991. Prof. Dr. Cheryl Misak ist Professor für Philosophie an der University of Toronto. Buchveröffentlichungen (u.a.): Truth and the End of Inquiry: A Peircean Account of Truth, Oxford: Clarendon Press, 1991; Truth, Politics, Morality: Pragmatism and Deliberation, London: Routledge, 2000. PD Dr. Ulrich Metschl ist Lehrbeauftragter an der Technischen Universität München. Veröffentlichungen: Verschiedene Publikationen zur Philosophie der Neuzeit und zur Erkenntnistheorie. Prof. Dr. Jaroslav Peregrin ist Professor für Logik an der Universität Prag. Buchveröffentlichungen (u.a.): Doing Worlds with Words, Dordrecht: Kluwer, 1995; Meaning and Structure, Aldershot: Ashgate, 2001.
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Dr. Sven Rosenkranz ist Assistenz-Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: mehrere Artikel in internationalen Zeitschriften. Prof. Dr. Hans Rott ist Professor für Philosophie an der Universität Regensburg. Buchveröffentlichungen (u.a.): Change, Choice and Inference: A Study of Belief Revision and Nonmonotonic Reasoning, Oxford: Oxford University Press, 2001; Reduction and Revision: Aspekte des nichtmonotonen Theorienwandels, Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang. Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer ist Professor für Philosophie an der Universität Leipzig. Buchveröffentlichungen (u.a.): Hegels analytische Philosophie: Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn, 1992; Sinn-Kriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn, 1995.
Einleitung von Robert B. Brandom
Wenn die Philosophie ihr Blau in Grau malt: Ironie und die pragmatische Aufklärung1 1. Eine zweite Aufklärung Man kann den klassischen amerikanischen Pragmatismus als eine belanglose, provinzielle philosophische Bewegung ansehen, die theoretisch epigonal und praktisch und politisch ohne Folgen war. Aus diesem Blickwinkel – grob etwa dem von Russell und Heidegger (Mandarine, die für zwei ganz verschiedene Kulturen sprechen) – ist er ein im letzten Teil des 19. Jahrhunderts erklingendes amerikanisches Echo auf den britischen Utilitarismus im ersten Teil. Was widerhallt, ist eine grobe Krämersensibilität, die alles durch die Verkleinerungslinsen einer Gewinn- und Verlustrechnung sieht. Bentham und Mill hatten in den rüden bourgeoisen Buchhaltergewohnheiten des Wettbewerbsegoisten eine säkulare Basis für die moralische, politische und soziale Theorie gesucht, für den die Form eines Handlungsgrundes eine Antwort auf die Frage „Was bringt mir das?“ ist. Dann treten James und Dewey auf den Plan und übernehmen diese Konzeption eines praktischen Grundes und erweitern ihn auf die theoretische Sphäre der Erkenntnistheorie, der Semantik und der Philosophie des Geistes. Rationalität im allgemeinen erscheint als instrumentelle Intelligenz: eine allgemeine Fähigkeit, das zu bekommen, was man haben will. Unter diesem Gesichtspunkt ist Wahrheit das, was funktioniert; Erkenntnis ist eine Spezies des Nützlichen; Geist und Sprache sind Werkzeuge. Der instinktive Materialismus und Anti-Intellektualismus des unkultivierten gesunden Menschenverstandes erhalten einen verfeinerten Ausdruck in Gestalt einer philosophischen Theorie. Das utilitaristische Projekt, Moralität auf instrumentelle Vernunft zu gründen, ist notorisch Gegenstand ernsthafter prinzipieller wie praktischer Einwände. Aber es wird mit Recht als geistiger Vorläufer der zeitgenössischen Theorie der rationalen Wahl angesehen, die nur auf die Entwicklung der mächtigen mathematischen Werkzeuge der modernen Entscheidungs- und Spieltheorie wartete, um zum beherrschenden begrifflichen Rahmen in den Sozialwissenschaften zu 1 Aus
dem Englischen übersetzt von Martin Suhr.
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werden (was immer daraus werden wird). Über den späteren Einfluss des Instrumentalismus, nachdem die Pragmatisten ihn auf den theoretischen Bereich ausgedehnt hatten, kann nichts Vergleichbares gesagt werden. Auf die Blütezeit Deweys folgte in der amerikanischen Philosophie sehr schnell die Blütezeit Carnaps. Und die analytische Philosophie, die aus Carnaps logischem Empirismus entstand, ersetzte und verdrängte weitgehend ihren Vorgänger. Obgleich der Pragmatismus einige prominente zeitgenössische Erben und Fürsprecher hat – am prominentesten vielleicht Richard Rorty und Hilary Putnam – würden nicht viele zeitgenössische amerikanische Philosophen, die über die zentralen Themen Wahrheit, Bedeutung und Erkenntnis arbeiten, dem Pragmatismus einen zentralen Einfluss auf ihr Denken zubilligen. Aber der klassische amerikanische Pragmatismus kann auch ganz anders gesehen werden, als eine Bewegung von welthistorischer Bedeutung – als Ankündigung, Beginn und erste Formulierung des kämpferischen Glaubens einer zweiten Aufklärung. Für die Pragmatisten wie für ihre Vorgänger zur Zeit der Aufklärung ist die Vernunft die souveräne Macht im menschlichen Leben. Und für die späteren wie für die früheren Philosophen ist die Vernunft in dieser Eigenschaft nach dem Modell zu verstehen, das die für die Naturwissenschaften charakteristischen Formen des Verstehens liefern. Aber die Wissenschaften des späten 19. Jahrhunderts, nach denen sich die Pragmatisten richteten, unterschieden sich sehr deutlich von denen, die die erste Aufklärung beseelten. Das jetzt entstehende philosophische Bild der rationalen Geschöpfe, die diese Art von Verstehen ihrer Umwelt praktizieren und entwickeln, war dementsprechend ebenfalls anders. Verstehen und Erklärung sind koordinierte Begriffe. Erklärung ist eine Art von Reden: Behauptungen aufstellen, die etwas verstehbar machen. Es ist eine bestimmte Art und Weise, Verstehen durch ihrem Wesen nach diskursive Mittel zu erzeugen. Selbstverständlich gibt es verschiedene literarische Ansätze für das Problem, verschiedene Strategien, um dieses Ziel zu erreichen. Es gibt aber auch verschiedene operative Auffassungen von dem, was als Ausführung zählt – das heißt von dem, was man tun muss, um das Ziel zu erreichen. Und eine Veränderung der letzteren Art (die in ihrem Gefolge selbstverständlich eine Veränderung der ersteren Art mit sich brachte) verfolgen die Pragmatisten. Für die ursprüngliche Aufklärung besteht die Erklärung eines Phänomens (Ereignisses, Sachverhalts, Prozesses) darin zu zeigen, warum das, was tatsächlich geschehen ist, so geschehen musste, warum das, was tatsächlich ist, notwendig ist. Im Gegensatz dazu ist es für die neue pragmatistische Aufklärung möglich, das zu erklären, was kontingent bleibt und als kontingent erkannt wird. Das Verstehen, dessen Paradigma Newtons Physik ist, besteht aus universalen, notwendigen und ewigen Prinzipien, die in der abstrakten, unpersönlichen Sprache
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der reinen Mathematik ausgedrückt werden. Das Verstehen, dessen Paradigma Darwins Biologie ist, ist eine konkrete, situationsbezogene Erzählung von lokalen, kontingenten, veränderlichen, praktischen wechselseitigen Anpassungen besonderer Geschöpfe und ihrer Umwelten. Außerdem war das 19. Jahrhundert das ‚statistische Jahrhundert‘, das die Entstehung neuer Formen der Erklärung in Natur- und Sozialwissenschaften sah. An die Stelle der Deduktion des Geschehens aus ausnahmslosen Gesetzen setzt es eine Form von Intelligibilität, die darin besteht zu zeigen, wodurch die Ereignisse wahrscheinlich gemacht werden. Auf der Basis der natürlichen Auslese wie der statistischen Wahrscheinlichkeit lässt sich theoretisch zeigen, wie eine beobachtete Ordnung kontingent, aber erklärbar aus dem Chaos entstehen kann – als das kumulative diachronische bzw. synchronische Resultat von individuell zufälligen Ereignissen. Die mathematischen Gesetze, die die grundlegende Ordnung des Universums artikulieren, waren für aufgeklärte Denker des 17. und 18. Jahrhunderts die Letztgegebenheit, die fundamentalen, selber unerklärlichen Erklärungen, strukturelle Eigenschaften von Dingen, die so grundlegend waren, dass dieses Erklärungsresiduum sogar einen letzten, minimalen, sorgfältig eingegrenzten nostalgischen Appell an den Schöpfer erforderlich machen und folglich rechtfertigen konnte. Charles Sanders Peirce, das Gründungsgenie des amerikanischen Pragmatismus, entwickelte aus den neuen selektionistischen und statistischen Formen der wissenschaftlichen Theorie eine philosophische Vision, für die sogar die Gesetze der Physik zufällig durch Selektionsprozesse aus anfänglicher Unbestimmtheit entstehen. Sie sind Anpassungsgewohnheiten, von denen jede in der Umwelt, die die übrigen liefern, in einem statistischen Sinn relativ stabil und robust ist. Die alten Formen der wissenschaftlichen Erklärung erscheinen dann als spezielle Grenzfälle der neuen. Die jetzt eingeschränkte Gültigkeit des Appells an Gesetze und universale Prinzipien ist vor dem weiteren Hintergrund erklärbar, den die neuen wissenschaftlichen Paradigmata für die Art und Weise liefern, wie Regelhaftigkeit aus Variabilität entstehen und durch Variabilität bewahrt werden kann. Aus dem ‚ruhigen Reich der Gesetze‘ der ersten Aufklärung wird für die zweite eine dynamische Population von Gewohnheiten, die aus einer größeren ausgesiebt worden sind, die durch die Aufrechthaltung eines zerbrechlichen, kollektiven, sich selbst reproduzierenden Gleichgewichts dem Aussterben entgangen ist. Es ist nicht einfach nur so, dass wir nicht sicher sein können, dass wir die Prinzipien richtig erfasst haben. Denn die korrekten Prinzipien und Gesetze können sich ändern. Die Pragmatisten unterstützen eine Art von ontologischem Fallibilismus oder Mutabilismus. Da Gesetze nur statistisch entstehen, können sie sich ändern. Keine darwinistische Anpassung ist endgültig, denn die Umwelt, an die sie sich anpasst, kann sich ändern – ja, muss sich schließlich in Reaktion auf andere darwinistische Anpassungen ändern. Und die relativ fest
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gewordenen, fixierten Eigenschaften von Dingen, ihre Gewohnheiten, wie Peirce und Dewey sagen würden, sind selber als eben solche Anpassungen zu verstehen. Die Pragmatisten waren Naturalisten, aber sie sahen sich selbst als einer neuen Art von Natur gegenüber, einer Natur, die flüssig, stochastisch ist, deren Regelmäßigkeiten das statistische Produkt vieler besonderer kontingenter Interaktionen zwischen Dingen und ihren sich ständig wandelnden Umwelten sind, so dass sie, emergent und potenziell flüchtig, statistisch auf einem Meer von Chaos fließen. Die Wissenschaft, aus der diese spätere Aufklärung ihre Inspiration bezog, hatte sich seit der Wissenschaft der früheren Aufklärung in mehr als nur den begrifflichen Ressourcen geändert, die sie ihren philosophischen Interpreten und Bewunderern lieferte. Im 17. und 18. Jahrhundert war der Einfluss der Wissenschaft noch weitgehend eine Sache ihrer Theorien. Ihre Anhänger erträumten, prognostizierten und planten große soziale und politische Transformationen, die in ihren Augen die Einsichten der neuen Wissenschaft präfigurierten und vorbereiteten. Aber während dieser Periode waren diese neuen Denkformen weitgehend frei von praktischen Konsequenzen. Sie waren eher Manifestationen als Motoren der steigenden Flut der Moderne. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts freilich hatte die Technologie, der praktische Arm der Wissenschaft, die Welt durch die industrielle Revolution radikal und unwiderruflich verändert. Vom Standpunkt des etablierten industriellen Kapitalismus aus erschien die Wissenschaft als die sichtlich erfolgreichste soziale Institution der vorangegangenen zwei Jahrhunderte, weil sie nicht nur zu einer Praxis, sondern zu einem Geschäft geworden war. Ihre praktischen Erfolge konnten als Garant ihrer Ansprüche auf theoretische Einsicht gelten. Technologie verkörpert Verstehen. Die allgemeineren philosophischen Lehren, die die Pragmatisten für ein Verständnis der Natur der Vernunft und ihrer zentralen Rolle im menschlichen Leben aus der Wissenschaft zogen, suchten dementsprechend intellektuelles Verstehen als einen Aspekt effektiven Handelns zu begreifen, das Wissen-dass (eine Behauptung wahr ist) in den größeren Bereich des Wissens-wie (man etwas macht) einzugliedern. Die Art expliziter Vernunft, die in Prinzipien festgelegt werden kann, erscheint als oft einfach entbehrlicher Ausdruck der Art impliziter Intelligenz, die in geschickter, weil auf Erfahrung beruhender Praxis aufgewiesen werden kann – eine flexible, anpassungsfähige Gewohnheit, die in einer bestimmten Umwelt durch Selektion mittels eines Lernprozesses entstanden ist. Wie ihre Aufklärungsvorfahren waren die Pragmatisten nicht nur in ihrer Ontologie entschieden naturalistisch, sondern auch in ihrer Erkenntnistheorie umfassend empiristisch. Für beide Gruppen ist die Wissenschaft das Maß aller Dinge – derjenigen, die sind, dass sie sind, und derjenigen, die nicht sind, dass sie nicht sind. Und für beide ist die Wissenschaft nicht nur einfach eine Art des
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Erkennens, sondern genau dessen Form: Was sie nicht erkennt, ist keine Erkenntnis. Aber an die Stelle des atomistischen sensualistischen Empirismus des älteren Szientismus (der später durch die Anwendung mächtiger mathematischer und logischer Techniken gerettet und wiederbelebt wurde, um zum logischen Empirismus des 20. Jahrhunderts zu führen) setzten die Pragmatisten einen stärker holistischen, weniger reduktiven praktischen Empirismus. Beide Varianten räumen der Erfahrung bei der Erklärung des Inhalts und der Rationalität von Erkenntnis und Handeln eine Ehrenplatz ein. Aber ihr Verständnis dieses Begriffs unterscheidet sich, dem verschiedenen Charakter der Wissenschaft ihrer Zeit entsprechend, sehr stark. Für den älteren Empirismus bildeten selbständige, sich selbst mitteilende Ereignisse die jeweils kleinsten Erfahrungseinheiten: Episoden, die einfach aufgrund ihres bloßen rohen Vorkommens Erkenntnisse konstituieren. Diese ursprünglichen Akte der Wahrnehmung werden dann verwendet, um das Rohmaterial zu liefern, das jede Art von Lernen möglich macht (paradigmatisch durch Assoziation und Abstraktion). Im Gegensatz zu diesem Begriff der Erfahrung als Erlebnis [i. O. deutsch] fassen die Pragmatisten (die diese Lektion von Hegel gelernt haben) Erfahrung [experience] als Erfahrung [i. O. deutsch] auf. Für sie ist die Elementareinheit der Erfahrung ein Test–Operate–Test–Exit-Zyklus von Wahrnehmung, Handlung und weiterer Wahrnehmung der Ergebnisse der Handlung. Nach diesem Modell ist die Erfahrung kein input in den Lernprozess. Erfahrung ist der Lernprozess; das statistische, auf Selektion beruhende Entstehen von Verhaltensvarianten, die überleben und zu Gewohnheiten werden, insofern sie, zusammen mit ihresgleichen, in den Umwelten adaptiv sind, in denen sie nacheinander und erfolgreich ausgeübt werden. (Dies ist der Sinn von „Erfahrung“, wie Dewey sagt, in dem eine Stellenausschreibung ‚Drei Jahre Erfahrung Voraussetzung‘ verlangt.) Die Rationalität der Wissenschaft zeigt sich am klarsten nicht bei der Gelegenheit, wo der Theoretiker plötzlich eine intellektuelle Einsicht in irgendeinen Aspekt der wahren Struktur der Realität gewinnt, sondern in dem Prozess, mittels dessen sich der geschickte Praktiker nützliche Beobachtungen durch experimentelle Intervention verschafft, Theorien durch auf Folgerungen beruhende Postulation und Extrapolation aufstellt und dynamisch mehr oder weniger stabile, aber sich stets weiterentwickelnde Anpassungen zwischen den provisorischen Resultaten dieser beiden Unternehmungen ausarbeitet. Die typisch pragmatistische Verlagerung der Bildlichkeit des Geistes ist nicht die vom Spiegel zur Lampe, sondern vom Teleskop und Mikroskop zum Fliehkraftregler. Diese neuen Formen von Naturalismus und Empirismus, die so auf den neuesten Stand gebracht worden waren, dass sie auf den veränderten Charakter und die veränderten Umstände der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts reagierten, harmo-
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nisierten weit besser miteinander als ihre Vorgänger. Frühe moderne Philosophen hatten notorisch Probleme damit, menschliches Erkennen und Handeln in die mechanistische, materialistische Version der natürlichen Welt einzupassen. Zwischen der Aktivität des Theoretikers, dessen Verstehen in der Manipulation algebraischer symbolischer Darstellungen besteht, und dem, was dadurch verstanden wird, öffnete sich eine kartesianische Lücke: die ausgedehnte, geometrische Welt, die durch diese Symbole repräsentiert wird. Verstehen, Entdecken und Handeln nach Prinzipien zeigte in ihren Augen eine einzige Art von Intelligibilität, Materie, die sich nach ewigen, unentrinnbaren Gesetzen bewegte. Nach pragmatistischem Verständnis freilich sind Erkennender wie Erkanntes gleichermaßen durch einen Appell an dieselben allgemeinen Mechanismen erklärbar, die Ordnung aus dem Chaos, feste Gewohnheit aus zufälliger Veränderung schaffen: die statistische selektive Struktur, die die Prozesse der Evolution und des Lernens miteinander teilen. Diese Struktur bindet alle Mitglieder eines großen Seinskontinuums zusammen, das sich von den Prozessen, durch welche physikalische Regelmäßigkeiten entstehen, über die, durch die das Organische lokal und zeitlich stabile Formen entwickelt, über die Lernprozesse, durch die das Belebte lokal und zeitlich Anpassungsgewohnheiten erwirbt, bis zur Intelligenz des ungeschulten gesunden Menschenverstandes der Benutzer der Umgangssprache und letztlich bis zur Methodologie des Wissenschaftstheoretikers erstreckt – die einfach nur die explizite, systematische Verfeinerung der impliziten, unsystematischen, aber nichtsdestoweniger intelligenten Verfahren ist, die für das alltägliche praktische Leben charakteristisch sind. Zum ersten Mal wird sichtbar, dass die rationalen Praktiken, in denen sich die von Wissenschaftlern, die Naturprozesse verstehen, ausgeübte paradigmatische Art von Vernunft niederschlägt, in Kontinuität mit den physischen Prozessen stehen und in genau denselben Begriffen begreifbar sind, die paradigmatisch für das sind, was da verstanden wird. Diese einheitliche Vision steht im Zentrum der zweiten Aufklärung der Pragmatisten. Eine Anzahl dieser leitenden Ideen des klassischen amerikanischen Pragmatismus sind offensichtlich das Echo von Themen, die von früheren romantischen Kritikern der ersten Aufklärung eingeführt und weiterverfolgt worden sind. Pragmatismus wie Romantik verwerfen Zuschauertheorien der Erkenntnis, wonach der Geist am besten erkennt, wenn er am wenigsten eingreift und am passivsten ist, indem er das Reale lediglich widerspiegelt. Erkenntnis wird vielmehr als ein Aspekt des Handelns, als eine Art von Tun angesehen. Machen, nicht Finden ist die Gattung des menschlichen Sich-auf-die-Welt-Einlassens. Sie teilen das Misstrauen gegen Gesetze, Formeln und Deduktion. Ein abstraktes Prinzip ist hohl, wenn es nicht in der konkreten Praxis wurzelt und sie zum Ausdruck bringt. Die Realität wird in erster Linie durch die gelebte Erfahrung enthüllt, in der Lebens-
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welt. Die wissenschaftliche Praxis und die Theorien, die daraus hervorgehen, können nicht ohne Bezug zu ihrem Ursprung in den praktischen Einstellungen des alltäglichen Lebens verstanden werden. Pragmatisten und Romantiker stimmen folglich darin überein, Universalität als Merkmal des Verstehens zu verwerfen. Wesentliche Züge unserer grundlegenden lokalen, temporären, kontextualisierten kognitiven Befassung mit Dingen erscheinen in ihren gelegentlichen universalisierten Produkten nur noch ausgelaugt. Beide sehen Notwendigkeit als Ausnahme und als intelligibel nur auf dem Hintergrund der massiven Kontingenz des menschlichen Lebens. Beide messen der Biologie mehr Gewicht bei als der Physik und sehen in dem Begriff des Organischen begriffliche Ressourcen, um die dualistische Wunde zu heilen, die durch die unachtsame Verwendung einer überscharfen Unterscheidung zwischen Geist und Welt geschlagen worden ist. Wo die europäische Aufklärung das ‚natürliche Licht der Vernunft‘ als universal im Sinne von geteilt oder gemeinsam gesehen hatte, so dass ein Baustein, den ein uneigennütziger, selbstloser Wissenschaftler dem Wissensgebäude hinzufügen konnte, im Prinzip ebensogut von einem anderen hinzugefügt werden konnte, sahen die Pragmatisten das Unternehmen der Vernunft mit Blick auf die Arbeitsteilung in der neu entstandenen industriellen Wirtschaft als sozial in einem echteren, stärker artikulierten ökologischen Sinn, in dem die Beiträge der Einzelnen nicht austauschbar oder fungibel sind, sondern jeder einen potenziell einmaligen Beitrag zum gemeinsamen Unternehmen zu leisten hat, das viele verschiedene Arten von Geschicklichkeit, Reaktionen, Ideen und Einschätzungen erfordert, die alle zusammen als die Umwelt dienen, in der sich jeder anpasst und entwickelt. Auch hier machten sie mit den Romantikern auf dem Gebiet einiger genereller Streitfragen bis zu einem gewissen Grad gemeinsame Sache, während sie ihre eigene charakteristische Mischung von Rationalismus, Naturalismus und darwinistisch-statistischem Szientismus als eine Methode anboten, um diese Ansätze auszufüllen. Nichtsdestoweniger ist der Pragmatismus keine Art von Romantik. Obgleich die beiden Denkbewegungen eine Antipathie gegen den Aufklärungsintellektualismus teilen, fällt der Pragmatismus nicht in die Verwerfung der Vernunft, in die Privilegierung des Gefühls gegenüber dem Denken, der Intuition gegenüber der Erfahrung oder der Kunst gegenüber der Wissenschaft zurück. Der Pragmatismus bietet eine Auffassung von Vernunft an, die eher praktisch als intellektuell ist, sich eher in intelligentem Tun als in abstrakten Aussagen ausdrückt. Ihre Kennzeichen sind eher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit als die Meisterung unwandelbarer universaler Prinzipien. Es ist eher die Vernunft des Odysseus als die Platons. Aber beide werden als Teile der natürlichen Welt gedacht – in dem Sinn, in dem der Naturwissenschaft die endgültige Autorität über Behauptungen über die Natur zuerkannt wird. Die Pragmatisten sind außerdem Materialisten
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– obgleich ihr Materialismus eher der von Darwin als der von Newton ist. Von der evolutionären Naturgeschichte einmal abgesehen, ist die Biologie, die sie inspiriert, das Resultat der (weitgehend in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirkten) Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Anatomie auf die Physiologie, von der Struktur auf die Funktion. Das Klima der deutschen Romantik hat diese Entwicklung möglicherweise begünstigt, aber die vitalistische Biologie, die ihnen ihre organischen Metaphern lieferte, war mittlerweile nur noch ein lästiger, vorwissenschaftlicher Vorläufer der erkennbar modernen Art von Biologie, die in den deutschen Laboratorien, in denen William James seine Ausbildung erhielt, betrieben wurde. In Wirklichkeit hatte die Romantik beinahe keinen direkten Einfluss auf den amerikanischen Pragmatismus – ein weiterer Punkt des Gegensatzes zu den verschiedenen Formen des Materialismus in Europa im 19. Jahrhundert. Es bestand ein indirekter Einfluss durch Hegels Idealismus (der besonders wichtig für Peirce und Dewey war) – aber Hegels Rationalismus war für sie ebenso wichtig wie seine Romantik. Der Transzendentalismus von Emerson ist ein weiterer Kanal für idiosynkratisch gefilterte und verklärte romantische Ideen. Er war in dem Bostoner Milieu, in dem Charles Peirce, William James und Oliver Wendell Holmes Jr. (der ein Pragmatist war, obgleich er das Etikett ablehnte, weil er es mit James’ ‚sentimentalem‘ Versuch assoziierte, in der modernen Weltanschauung einen Ort für die Religion zu finden) zuerst akkulturiert wurden, durchdringend, wenn vielleicht nicht dominant, und beeinflusste ihr Denken offensichtlich auf komplexen Wegen. Aber die Pragmatisten erschienen sich selbst als die Fortsetzer der philosophischen Tradition der Aufklärung von Descartes, Locke, Hume und Kant – die alle glaubten, ein Philosoph zu sein bedeute, ein Philosoph der Wissenschaft zu sein, der vor allem zu verstehen habe, was die neue Wissenschaft uns zu lehren hatte, nicht nur über die Welt, sondern über uns, die diese Welt Erkennenden. Die Fortschritte der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts sollten das nötige Korrektiv liefern, um die begrifflichen Pathologien zu heilen, denen die Giganten der Aufklärung zum Opfer gefallen waren. Diese Fortschritte, richtig verstanden, würden es ermöglichen, ihre zentralen rationalistischen und materialistischen Impulse in einem friedlichen empiristischen Naturalismus zu versöhnen. Obgleich die Pragmatisten einige Elemente der Anti-Aufklärungskampagne der Romantik mit ganz anderen Mitteln verfolgten, boten sie ihrem Selbstverständnis nach lediglich freundliche Verbesserungen zur Unterstützung der grundlegenden philosophischen Mission an: ererbte Ideen der Rationalität, des Verstehens, der Handlung und des Ich im Licht des allerbesten zeitgenössischen wissenschaftlichen Verstehens der natürlichen Welt neu zu überdenken.
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2. Eine ironische Geschichte von Ideen in Amerika Der Pragmatismus war aber in einer ganz anderen Hinsicht, die viel wichtiger war als seine Immunität gegenüber romantischen Impulsen, eine charakteristisch amerikanische Denkbewegung. Wir sind kürzlich durch das prachtvolle Buch von Louis Menand, The Metaphysical Club: A Story of Ideas in America, belehrt worden, wieviel er tatsächlich den Eigentümlichkeiten seines heimischen und historischen Bodens verdankt.2 Es ist ein gewaltiger, ausufernder Bericht über die Ursprünge des Pragmatismus in dem isolierten sozialen Milieu von Brahmin Boston und über die Personen, Institutionen, Streitfragen und Ereignisse, die seinen späteren Verlauf formten, als er aus diesen Grenzen ausbrach. Viele der Leuchten des amerikanischen Denkens und der amerikanischen Kultur im späten 19. Jahrhundert spielen in Menands Geschichte eine Rolle, eingeführt durch geschickte und oft faszinierende Miniaturporträts. Die Art, wie dieselben Charaktere durch die Erzählung kreuzen, einander immer wieder unter verschiedenen Umständen und mit verschiedenen Wirkungen begegnend, ist eine der Freuden bei der Lektüre des Buches. Vor allem dadurch wird das dichte, bestimmte Gewebe der Kultur, das hier diskutiert wird, vermittelt. Unter Menands Händen öffnet die Diskussion des Pragmatismus ein Fenster zu dieser verschwundenen Welt, die in oft unvermuteter Weise Züge unserer eigenen erhellt. Dem entspricht, dass das Buch durch seine Umschlagillustration buchstäblich in eine amerikanische Flagge eingehüllt wird – tatsächlich die Schlachtfahne von Fort Sumter. Es ist ein Buch nicht nur über amerikanische Ideen, sondern über eine Idee von Amerika. Wenn Menand recht hat, sollte die Semantik der Pragmatisten, ihre Theorie von Bedeutung und Inhalt, zu großen Teilen in Begriffen der Politik verstanden werden – im Sinne von Praktiken oder Strategien für eine gemeinsame Entschließung trotz potenziell unvereinbarer praktischer Bindungen. Es gibt vier Hauptfiguren in der Geschichte: Charles Sanders Peirce, William James, Oliver Wendell Holmes Jr. und John Dewey. Die drei letzteren gehörten zu den bekanntesten öffentlichen Intellektuellen im Amerika ihrer Zeit. Der eine, für den das nicht gilt, Peirce, brillant, verzogen und distanziert, war der bei weitem tiefste, originellste und rigoroseste Denker der Gruppe. Er war einer der besten philosophischen Logiker seiner Zeit. Seine vielleicht größte Errungenschaft ist die Entwicklung formaler Methoden, um die inferentielle Bedeutung von komplexen Sätzen auszudrücken, die iterierte Quantoren beinhalten – ein Durchbruch, der den ersten entscheidenden Fortschritt in der Logik seit Aristoteles und den Beginn der modernen mathematischen Logik bezeichnet. Seine Entdeckung war unabhängig von der des Deutschen Gottlob Frege, von dem Bertrand Russell über Quantoren lernte, und auf die er die Principia Mathemati2 Louis
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ca gründete. Ebenso bahnbrechend war Peirces Arbeit in der Sprachphilosophie, besonders in der Semiotik, und sie ist ebenso interessant mit den ganz anders gearteten Ansätzen von logischen Atomisten wie Russell und dem frühen Wittgenstein zu etwa derselben Zeit zu vergleichen. Seine Arbeit auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie war seiner Zeit um mehrere Generationen voraus. Seine Exkommunikation aus der akademischen Gemeinschaft – ihm wurde jede professionelle Anstellung verweigert und ihm wurde nachgerade verboten, seinen Fuß auf den Campus von Harvard zu setzen – scheint das Resultat nicht seiner finanziellen Verantwortungslosigkeit oder auch nur seiner Gewalttätigkeit gewesen zu sein (er hat fast mit Sicherheit seine Frau und seine Diener geschlagen), sondern der Überschneidung seiner außerehelichen Affären mit den machtvollen Familienverbindungen seiner ersten Frau in Boston. Er war ein großer Philosoph, aber er war auch eine arrogante Nervensäge. Seine unsoliden persönlichen Gewohnheiten und die katastrophale Form seiner professionellen Karriere hinderten ihn daran, seine Arbeit jemals in einem einzelnen Buch zusammenzufassen. Abgesehen von einigen kristallinen, sehr einflussreichen frühen Essays liegt das meiste, was wir von ihm haben, in Form von Bemerkungen und unfertigen Skizzen philosophischer Systeme vor. Seit Generationen haben Philosophen Juwelen aus diesem Schatz zutage gefördert und es gibt keine Anzeichen, dass die Mine erschöpft ist. Aber am Ende muss der intellektuelle Reichtum seiner Arbeit primär als eine Art Rohmaterial gedacht werden, das sie für andere bot und noch immer bietet. William James popularisierte den Pragmatismus, den er von Peirce lernte, und bleibt sein lebhaftester Fürsprecher. Sohn eines berühmten Swedenborgischen Religionsenthusiasten und Moraltheoretikers und Bruder des Romanciers Henry, fand der irisch-amerikanische James seinen Weg nach Harvard aus einer Schicht der Bostoner Gesellschaft, die von der akademischen Aristokratie, in die Peirce hineingeboren wurde, und von der sozialen und finanziellen Aristokratie der Holmes etwas entfernt war. Psychologisch zu enervierenden Depressionen und einer extremen Entschlusslosigkeit neigend machte er sich auf einen extrem gewundenen Weg zu seiner endgültigen Berufung zur Philosophie. Er versuchte eine Vielzahl von Studiengängen, einschließlich einer Begleitung von Agassiz auf eine Sammlerexpedition nach Südamerika, und vollendete seine Ausbildung in Medizin, bewegte sich dann über die Physiologie zur wissenschaftlichen Psychologie, zu deren amerikanischen Gründern er zählt. (Das Gebäude in Harvard, das die Psychologische Fakultät beherbergt, ist nach ihm benannt.) Anders als seine Mitpragmatisten aus Boston fühlte er sich durch seinen Mangel an traditionellem religiösen Glauben gepeinigt – durch seine Unfähigkeit, selbst die relativ entspannten metaphysischen Glaubensbekenntnisse der Unitarier, die einen signifikanten Block in Harvard bildeten, ohne Vorbehalt zu unterstützen. Pragma-
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tistische Ideen gaben ihm eine nichtmetaphysische, naturalistische Weise, über Normen, einschließlich moralischer, zu denken. Er begrüßte die Verlagerung der Aufmerksamkeit der Pragmatisten weg von der Rechtfertigung des Glaubens, flussaufwärts von der Handlung, zu deren Konsequenzen, flussabwärts, als eine persönlich befreiende Rettung. Wie er es sah, enthielten seine Untersuchungen der Begriffe der Bedeutung und der Wahrheit das Versprechen, die Natur der praktischen Einschätzungen des Verhaltens in Begriffen der Semantik statt der Metaphysik verständlich zu machen und dadurch einen Ort für moralische Erörterungen in einer wissenschaftlichen, postreligiösen Welt zu finden. Für ihn war die Beendigung der Arbeit der Aufklärung ein persönlicher Kreuzzug. Oliver Wendell Holmes Jr. war der beherrschende Rechtsdenker seiner Generation, der die amerikanische Jurisprudenz durch die Anwendung pragmatistischer Ideen veränderte. Held des Bürgerkriegs, der seine Ideen durch seine Schlachtfelderfahrungen als junger Mann überprüft und transformiert sah, war er gegen Ende seiner langen Laufbahn der herrische Weise des U.S. Supreme Court. Wie Peirce und James war auch Holmes ein Mann mit einem Vater. Ihre persönliche Geschichte ist zu einem nicht geringen Teil durch ihre Kämpfe strukturiert, aus dem Schatten des Ruhmes ihrer Väter herauszutreten. Während Peirce in uncharakteristisch guten Beziehungen zu seinem Vater blieb (und sich lediglich darüber beklagte, dass sein Vater ihn seine intellektuellen Tugenden gelehrt habe, ohne zu sehen, dass er auch die moralischen gebraucht hätte) und James seine Dispute mit Henry Sr. internalisierte, engagierte sich Holmes in offeneren Schlachten mit dem passenderweise selbsternannten ‚Autokraten des Frühstückstischs‘, Oliver Wendell Holmes Senior, Dichter, Romancier und Dekan der Medical School von Harvard, dessen Einstellungen, Werte und Denkgewohnheiten in hohem Maße die eines Patriziers der alten, vorwissenschaftlichen, kleineren, sozial homogeneren Ordnung der oberen Zehntausend von Boston waren – was er ‚den Nabel‘ nannte (gemeint war: des kulturellen Universums). Obgleich sie sich nicht zur selben Zeit in Harvard als undergraduates aufhielten, war Holmes eine gewisse Zeit lang nach dem Krieg James’ bester Freund. Wie Peirce und James war Holmes ein Bewunderer von Chauncey Wright, dem brillanten, verlorenen ‚Sokrates von Cambridge‘, der seinem Namensgeber darin ähnelte, dass er eher ein Redner als ein Schreiber war, der aber auch einen gewissen Anspruch darauf hat, das ursprüngliche Taufbecken zu sein, aus dem der Pragmatismus floss. Die historische Episode, die Menand als Aufhänger für seine Erzählung benutzt, sind die Treffen, die Peirce, James und Holmes, die sich selbst den ‚Metaphysical Club‘ nannten, im Jahr 1872 abhielten. Über das, was auf diesen Treffen tatsächlich gesagt wurde, ist beinahe nichts bekannt, aber Menand hat gewiss recht, wenn er in ihnen die Geburt des Pragmatismus als einer unterscheidbaren Denkströmung sieht.
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John Dewey ist in vieler Hinsicht der Außenseiter in diesem Quartett. Er ging nicht nach Harvard und er wuchs nicht nur nicht in Boston auf, sondern lebte und arbeitete auch nicht dort. Die kulturellen Einflüsse, unter denen er stand, als er in seiner Heimat Vermont aufwuchs, waren ganz anders als das Treibhaus des Transzendentalismus und Unitarismus in Boston. Er war kein Mitglied des Metaphysical Club. Als Angehöriger einer jüngeren Generation als der der Mitglieder des Clubs war er durch den Bürgerkrieg nicht persönlich betroffen. Er lernte niemals irgendeinen der anderen wirklich gut kennen. Sein größter persönlicher Einfluss rührt von seiner außergewöhnlich frommen Mutter, nicht von seinem Vater her. Vielleicht stellt deshalb sein gutmütiges, großzügiges, ausgeglichenes und versöhnliches Temperament einen auffallenden Gegensatz zur Kraft und Wildheit von Peirce, den Qualen der Unentschlossenheit von James und der autokratischen Selbstgefälligkeit von Holmes dar. (Den heftigsten Gefühlausdruck, bei dem Menand Dewey ertappt, ist seine Bemerkung, Bertrand Russells fortdauernde Fehlcharakterisierung des Pragmatismus, auch nachdem ihm seine Irrtümer nachgewiesen worden waren, ‚macht mich krank‘). Dewey ist der einzige der vier, dem eine lebenslange Anstellung als Universitätsprofessor für Philosophie zuteil wurde. Nichtsdestoweniger kann keine Geschichte des Pragmatismus und seiner Ideen darauf verzichten, ihn zu diskutieren, und Menand tut das auch nicht. Es war Dewey, der der pragmatistischen Bewegung ihre öffentlichkeitswirksamste Stimme gab, der ihr theoretisches Verständnis der Intelligenz als in erster Linie praktisch, experimentell, situationsbezogen und problemorientiert anwandte, um die Theorie und Praxis der Erziehung in Amerika zu transformieren. Vor allem war es Dewey, der den Pragmatismus bei der Artikulierung der Theorie des politischen Liberalismus in den Jahren zwischen den Weltkriegen zu einer vorrangigen intellektuellen Kraft machte. Die Pragmatisten selbst tendierten dazu, ihre Ansichten durch Bezugnahme auf die spezifische philosophische Tradition zu situieren und zu motivieren. Schließlich waren sie (mit Ausnahme von Holmes) an zumindest einem Punkt ihrer Laufbahn professionelle Philosophen (wenn es sich auch in Peirces Fall um einen chronisch arbeitslosen professionellen Philosophen handelte). Ihre Interpreten, ebenfalls professionelle Philosophen, sind ihnen in dieser Praxis im Allgemeinen gefolgt. Menands größte Leistung besteht darin, den kulturellen Brennpunkt zu erweitern und die Tiefe der Bühne wachsen zu lassen, auf der sie sich für uns zeigen. Er ist hervorragend informiert über den wissenschaftlichen Hintergrund: sowohl die neuen Ideen, die die Pragmatisten für ihre eigenen Zwecke adaptierten, wie die älteren Formen des Denkens, gegen die sie reagierten. Seine ausführliche Darstellung des Denkens, der Laufbahn und Persönlichkeit von Louis Agassiz, des aggressiven und erfolgreichen Verfechters der älteren, vor-darwinistischen Naturgeschichte von Cuvier, ist in dieser Hinsicht beson-
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ders aufschlussreich. Und seine Darstellung der Rolle, die die Peirces (sowohl Charles wie sein berühmter und einflussreicher Vater Benjamin, Astronom und Physiker in Harvard) in dem sensationellen Fälschungsprozess der Millionärin Hetty Green (später als ‚die Hexe von Wall Street‘ bekannt) spielten, ist zugleich ein wunderbar unterhaltsames Feuerwerk und eine echte Enthüllung der Wichtigkeit, der Schwierigkeit und des zweideutigen öffentlichen Status der im Entstehen begriffenen statistischen Methoden des wissenschaftlichen Denkens, das sie auf dieser sehr öffentlichen forensischen Bühne vorführten. Aber der Kontext, den Menand liefert, geht weit über die philosophischen und wissenschaftlichen Betrachtungen hinaus, die oben als Einleitung skizziert worden sind. Er zeigt, wie weit die Geschichte der Ideen über ihre intellektuelle Geschichte hinausgeht. Die Entstehung der Massendemokratie, der Aufstieg des industriellen Kapitalismus, die institutionelle Professionalisierung der Universitätsausbildung und allgemeiner der Hochkultur sowie die Dezentralisierung und Verlagerung des kulturellen Schwerpunkts des Landes weg von ihrem ursprünglichen Sitz in Boston – sie alle stempeln die Entwicklung des Pragmatismus zu einem unauslöschlich spezifisch amerikanischen Phänomen. Menand porträtiert sehr geschickt die Beziehungen zwischen diesen großen historischen Kräften und den Besonderheiten, Eigentümlichkeiten und Persönlichkeiten seiner Helden, der ideebesessenen Pragmatisten. Ein zentrales Glied seiner Argumentation betrifft die Bedeutsamkeit der Erfahrung des Bürgerkriegs für Geburt und Wachstum des Pragmatismus. Die Politik des Nordens vor dem Krieg war durch die Meinungsverschiedenheit zwischen Abolitionisten und Unionisten bestimmt. Die Abolitionisten sahen die Sklaverei in Begriffen absoluter moralischer Prinzipien: Sklaverei war böse, und das Land hatte deshalb jeden Preis zu zahlen, der erforderlich war, um sie abzuschaffen – einschließlich, wenn nötig, der Abspaltung des Südens, um so die Union rein zu halten. Die Unionisten dagegen erkannten zwar die Sklaverei als Übel an, drängten aber darauf, Mittel zu finden, sie eher allmählich, über eine Periode von Jahrzehnten, abzuschaffen, um so den ökonomischen und kulturellen Interessen der weißen Südstaatler Rechnung zu tragen und die Union ganz zu erhalten. Die Sezession des Südens machte die Argumente der Unionisten zu offenen Fragen, indem sie beide Parteien als Patrioten der Union vereinte. Der Angriff auf Fort Sumter machte einen Krieg unvermeidlich, den die große Mehrheit der Abolitionisten wie auch der Unionisten weder erwartet noch gewünscht hatte. Die furchtbare Gewalt, die folgte, veränderte das Denken der jüngeren Generation von Harvard-Leuten, die voller Idealismus losgezogen waren, um zu kämpfen, auf immer. Holmes, der ein überzeugter Abolitionist gewesen war, wurde mehr als einmal ernstlich verwundet. James selbst war kein Kriegsteilnehmer, aber zwei seiner jüngeren Brüder waren es und einer wurde schwer
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verwundet. Peirce hatte, wie die anderen, Freunde und Klassenkameraden, die verstümmelt oder getötet wurden. Ihnen erschien Bürgerkrieg vor allem als ein kolossales Versagen der amerikanischen Demokratie. Die demokratischen Institutionen, deren wir uns rühmen, hatten sich als unfähig erwiesen, mit der moralischen und ökonomischen Streitfrage der Sklaverei fertig zu werden, bei der es schließlich um hohe Einsätze ging. Politisch unlösbare Dispute entarteten zu einem militärischen Konflikt. Holmes, der dem Kampf am nächsten war, äußerte sich auch am explizitesten über die Lehren, die er aus seiner Erfahrung zog, und über ihre Wirkung auf den lebenslangen Weg seines Denkens. Wie Menand es ausdrückt, ‚kann die Lektion, die Holmes aus dem Krieg mit nach Hause nahm, in einem einzigen Satz ausgedrückt werden: Gewissheit führt zu Gewalt‘ (S. 61). Aber Menand legt auch überzeugend dar, dass in etwa dieselbe Dynamik auch die anderen Gründungsmitglieder des Metaphysical Club dazu veranlasste, dieselbe allgemeine Schlussfolgerung zu ziehen. Die Demokratie war an der unflexiblen, kompromisslosen Bindung an Prinzipien erstickt. Was man brauchte, war eine andere Einstellung gegenüber unseren Überzeugungen: eine weniger ideologisch zuversichtliche, stärker provisorische und kritische Einstellung, die sie als die immer provisorischen Resultate der bisherigen Forschung behandeln würde, stets der experimentellen Überprüfung und der Revision im Licht neuen Beweismaterials und neuer Erfahrung unterworfen, insofern sie aufgrund veränderter Umstände, sich wandelnder Kontexte oder Interessenverschiebungen permanent dem Veralten ausgesetzt seien. Obgleich im Buch nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, so sollen wir doch sehen, dass der amerikanische Bürgerkrieg für die Formung der pragmatistischen Aufklärung eine ähnliche Rolle spielte wie die Religionskriege für die frühere europäische Aufklärung. Menand legt überzeugend dar, wie das Klima der Ideen, in dem der Pragmatismus entstand, durch die Erfahrung geformt wurde, dass leidenschaftliche politische Überzeugungen demokratische Institutionen überrannten und mit scheinbarer Unausweichlichkeit zu der Art von sinnlosem Abschlachten führten, die Holmes am Ball’s Bluff, Antietam und dem Bloody Angle von Spotsylvania erlebte (und überlebte). Aber er spricht sich nicht sehr deutlich darüber aus, welche Art von Verbindung er nun genau zwischen diesem historischen Impetus und dem Inhalt der philosophischen Theorien sieht, die die Pragmatisten schließlich vertraten. Hier müssen eine Reihe von Streitfragen auseinandergehalten werden. Denn es könnte sein, dass der Pragmatismus zwar ohne den Einfluss des Krieges nicht entstanden wäre, diese lediglich notwendige Bedingung aber nur wenig hilft, den Gedanken zu verstehen, zu dem sie den Anlass bildete. Schließlich war eine der entscheidenden materialen Bedingungen, die den Jazz möglich machten – ein weiteres charakteristisches Phänomen der amerikanischen Kultur – die Flut
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von billigen Restbeständen an Armeetrompeten und Instrumenten von Militärkapellen, die aus demselben Krieg übrig geblieben waren. Aber dieses Wissen wird einem nicht viel darüber mitteilen, was diese Musik so besonders macht. Zunächst: Die Ansicht, die unmittelbar aus der Erwägung des Fehlschlags der (mehr oder weniger) demokratischen politischen Praktiken der Vorkriegszeit hervorgeht, betrifft die Frage, wie man grundlegende, handlungsorientierende Überzeugungen hat. Was Kompromiss, Zuvorkommenheit und wechselseitige Anpassung ausschließt, ist die Art von unerschütterlicher Überzeugung, die keine Opposition duldet, die keine Einschränkung zulässt, die Möglichkeit oder Bedeutsamkeit der Kollision mit anderen wichtigen Prinzipien ignoriert und keinerlei Rücksicht auf die praktischen Konsequenzen ihres Absolutismus für die möglicherweise wertvollen Ziele anderer und die Stabilität der Rahmeninstitutionen der Gemeinschaft nimmt. Aber die Pragmatisten zogen nicht einfach die Konsequenzen über den Akt der Überzeugung – ganz grob, dass Fallibilismus eine bessere Haltung als Fanatismus ist. Das Zentralstück ihrer philosophischen Theorie war eine Theorie über den Inhalt, von dem man überzeugt ist oder der glaubhaft ist. Um den erklärungsstärksten Saft aus Menands faszinierender und instruktiver Geschichte zu pressen, müssen wir etwas darüber wissen, wie sich denken lässt, dass ein Verstehen des Aktes oder der Einstellung, überzeugt zu sein, sich mit einem Verstehen des Inhalts dieser Akte oder Einstellungen verbindet und sie formt. Wiederum, selbst auf der Ebene, wie Überzeugungen vertreten werden sollten, scheint die unmittelbare Lektion politische Überzeugungen zu betreffen: diejenigen, die wir verwenden, um unsere praktischen Unternehmungen zu orientieren, insbesondere diejenigen, die Kooperation oder Entscheidungen darüber beinhalten, was wir alle tun werden. Es ist nicht offensichtlich, dass Erwägungen, die sich auf unsere Einschätzung zulässiger, wünschenswerter oder vertretbarer Züge solcher praktischen, politischen Bindungen auswirken, sich auch auf theoretische und doxastische Bindungen übertragen lassen – von Behauptungen über das, was wir tun sollten, bis zu Behauptungen darüber, wie Dinge in der natürlichen Welt sind. Ich werde im nächsten Abschnitt dieses Essays etwas darüber sagen, wie man diese Verbindungen ziehen könnte, und so die philosophischen Lücken in der Geschichte auffüllen. Aber bevor ich mich dieser Aufgabe zuwende, lohnt es sich innezuhalten, um eine Bemerkung zu einer interessanten Ironie zu machen, die einen wesentlichen Bestandteil der Methodologie Menands bildet. Die pragmatistische Leitidee bezüglich Überzeugungen ist, dass der Inhalt selbst unserer abstrakten und theoretischen Überzeugungen letztlich in Termini der praktischen Konsequenzen verstanden werden muss, die sich ergäben, wenn man sie unter verschiedenen Umständen hat. Der Inhalt von Überzeugungen soll nicht in Begriffen der Prinzipien und Prämissen, aus denen sie abgeleitet werden können,
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oder des Beweismaterials, das für sie angeführt werden könnte, verstanden werden, sondern in dem Sinn, welchen Unterschied diese Überzeugungen für das machen würden, was man im Begriff ist zu tun. Was ihnen ihre Bedeutung verleiht, ist ihre Rolle als Prämissen praktischer Schlussfolgerungen, nicht ihre Rolle als Schlussfolgerungen deduktiver oder induktiver theoretischer Beweisgänge. Um einen Gedanken zu verstehen, sieht man flussabwärts auf praktische Wirkungen, nicht flussaufwärts auf kausale oder theoretische Antezedentien. Nun ist der Bericht über die Ursprünge des Pragmatismus in Reaktion auf die Schrecken des Bürgerkriegs keineswegs der einzige Strang in Menands Erklärung. Er ist nur ein Aspekt einer facettenreichen und vielfältigen Geschichte, die andere intellektuelle Bewegungen miteinbezieht, die Transformation und das Wachstum akademischer Institutionen, den Aufstieg und Fall sozialer und ökonomischer Klassen, das Zusammenspiel von komplexen Persönlichkeiten und vieles mehr. Ja, es spricht für ihn, dass er uns nicht nur diese Elemente der Mischung zeigt, die ein Argument direkt voranbringen. Die Absicht der Erzählung ist umfassende Aufklärung und Verständnis, nicht das enge Verfechten einer These. Menand behandelt die Lektionen, die er gelernt hat, im Geist der Pragmatisten, die er offensichtlich bewundert, als provisorisch und revidierbar und ist bereit, seine Leser andere Schlussfolgerungen aus dem Beweismaterial ziehen zu lassen, das er zurechtlegt. Aber der Charakter seiner Darstellung ist entschieden retrospektiv. Er folgt dem Credo des intellektuellen Historikers, das Hegel in der Vorrede seiner Rechtsphilosophie zusammengefasst hat: Die Philosophie [kommt] immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. [ . . . ] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.
Menand berichtet uns über die intellektuellen, politischen, sozialen, kulturellen und institutionellen Antezedentien des Pragmatismus, über die Ideen, Ereignisse, Persönlichkeiten und Kräfte, die den Kontext bildeten, in dem er sich entwickelte. Und er ist wunderbar erfolgreich. Sein fesselndes, inspirierendes und informatives Buch vermittelt wunderschön eine charakteristische Art von kontextualisierendem Verstehen. Selbst philosophische Spezialisten auf dem Gebiet des Pragmatismus werden ihren Horizont erweitert und ihr Verständnis vertieft finden. Aber was wir schließlich verstehen, das verstehen wir, indem wir rückwärts blicken, zu seinen Quellen, zu den Gründen und Ursachen, die den Pragmatismus bedingt und hervorgerufen haben, statt vorwärts, zu seinen Konsequenzen. Die Verständlichkeit, die hier im Angebot ist, ist genealogisch. Menands Buch sagt uns über den Pragmatismus genau deshalb so viel, weil seine Methodologie
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von Grund auf unpragmatistisch ist. Das ist die strukturelle Ironie im Kern seines Ansatzes.
3. Pragmatistische Semantik Am Ende seines Vorworts weist uns Menand darauf hin, dass sein Buch nicht beabsichtige, die philosophischen Ansichten der amerikanischen Pragmatisten im einzelnen darzustellen oder zu diskutieren. Es sei eine Arbeit zur Geistes- und Kulturgeschichte, die diese Denker in einen größeren Kontext stellen solle. Er begnügt sich im Großen und Ganzen damit, negative Charakterisierungen ihres Denkens zu geben, indem er die Ideen, Annahmen und Institutionen, auf die sie reagierten, skizziert. (Die statische, starr hierarchische vergleichende Anatomie, die Agassiz verfolgte, ist ein typisches Beispiel.) Im übrigen sind seine Spezifikationen formal und methodologisch: Die Pragmatisten waren Fallibilisten, skeptisch gegenüber ererbten Theorien und Institutionen, sie empfahlen eine flexible, offene, experimentelle Einstellung, die nicht nur durch die jüngst revolutionierten Naturwissenschaften inspiriert war, sondern sich an sie anschloss, usf. Das ist alles wahr und wichtig, aber die spannende Geschichte, die er über ihre Ursprünge und weitere kulturelle Umwelt erzählt, sollte uns auch dazu veranlassen, uns mehr um die Ideen selbst zu kümmern. Die Pragmatisten setzten in den Kerngebieten der theoretischen Philosophie die große Metamorphose fort, die mit Kant begonnen hatte. Es war eine Verlagerung von der Epistemologie zur Semantik, von Problemen, die die Erkenntnis betrafen, zu Problemen, die die Bedeutung oder Inhaltlichkeit ganz allgemein betrafen. Wo Descartes und die anderen frühen modernen Philosophen die Intentionalität oder den repräsentationalen Gehalt von Ideen – dass sie zumindest von Dingen zu handeln schienen – für selbstverständlich gehalten und nur nach den Bedingungen gefragt hatten, unter denen wir auf ihren Erfolg in jenem Unternehmen vertrauen konnten, wurde nach Kant die große Streitfrage, wie die Möglichkeit zu verstehen sei, dass das Denken dadurch über sich hinausweist, dass es im Interesse seiner Richtigkeit normativ auf die Frage antwortet, wie es sich mit den Dingen verhält, die dadurch als die Objekte des Denkens gelten. Es ist wichtig, die charakteristische Konstellation von Ideen zu würdigen, die die Pragmatisten zu diesem Unternehmen beitrugen. Betrachten wir die oben aufgeworfene Frage: Wenn, wie Menand überzeugend argumentiert, die Ideen der Pragmatisten tatsächlich durch das Schauspiel motiviert waren, dass sich abstrakte, absolute politische Prinzipien als von demokratischen Institutionen unverdaulich erwiesen und zu der denkbar heftigsten Art von Konfliktlösung führten, haben sie dann nicht einen Fehler gemacht? Haben sie nicht unerlaubt eine Lektion, die der praktischen Sphäre der Entscheidung
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über das, was wir tun sollen, angemessen ist, auf die theoretische Sphäre übertragen, nämlich zu entscheiden, welche Überzeugungen wahr sind? Über einen solchen Zug könnte man folgendermaßen denken. In der praktischen Sphäre der Moralität hatte uns die europäische Aufklärung den Gedanken ausgetrieben, unsere moralischen Prinzipien bezögen ihre Autorität daher, sie entsprächen einer vorgängigen, ewigen, nicht-menschlichen ontologischen (theologischen) Realität (spiegelten sie). Wir könnten und sollten sie stattdessen als Produkte unsere eigenen rationalen Aktivität denken – als etwas, für das wir schließlich selbst die Verantwortung übernehmen müssen. Wie Kant die Sache in dem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ ausdrückte, geht die Menschheit durch die Anerkennung ihrer Verantwortung aus dem Alter der selbst auferlegten Gängelung durch väterliche Autorität in die autonome Reife ihres Erwachsenendaseins über. Eine zweite Aufklärung könnte dann diese Lektion wiederholen, nur jetzt auf der theoretischen Seite. Täte man dies, würde man Glaubensnormen nicht weniger als Handlungsnormen als unser Tun und unsere Verantwortung erkennen, die es nicht nötig haben, die Autorität einer fremden, nicht-menschlichen Realität widerzuspiegeln, die jetzt als eine mythische, entbehrliche und letztlich kindliche Konzeption erscheint, wie Old Nobodaddy3 am Ende den Gelehrten erschien. Richard Rorty hat, inspiriert von Dewey und James, genau auf eine solche Auffassung von dem gedrängt, was erforderlich wäre, um das Werk der ersten Aufklärung zu vollenden.4 Er argumentiert, dem Schritt von der Auffassung moralischer Normen als göttlicher Gebote zu ihrer Auffassung als Sozialverträge sollte der Schritt von der Auffassung der Wahrheit des Glaubens als Korrespondenz mit der Realität zu ihrer Auffassung als gemeinschaftlicher Übereinstimmung folgen. Eine solche Konzeption ist nicht gegen den Vorwurf gefeit, bei einer derartigen Angleichung des Theoretischen an das Praktische falle die Unterscheidung zwischen Intentionen und Überzeugungen weg. Intentionen haben eine Passungsrichtung Welt-zu-Geist; das Ziel ist, die Welt solle sich unseren Einstellungen anpassen. Überzeugungen haben eine Geist-zu-Welt-Passungsrichtung; das Ziel ist, unsere Einstellungen sollen sich der Welt anpassen. (In ihrem klassischen Buch Absicht5 illustriert Anscombe diesen Unterschied mit dem Gleichnis eines Mannes, der anhand einer Einkaufsliste einkauft und von einem Detektiv verfolgt wird, der auf seiner Liste alle Gegenstände niederschreibt, die der Mann kauft. Die beiden Listen weisen die beiden verschiedenen Passungsrichtungen auf. Wenn das, was gekauft wird, nicht mit dem übereinstimmt, was auf den Lis3 [A.d.Ü.:
Wortschöpfung des englischen Dichters William Blake für Gott.] Rortys Essay „Universality and Truth“, Kap. 1 von Rorty and His Critics (hrsg. von Robert B. Brandom, 2000). 5 G. E. M. Anscombe, Absicht, München 1986 4 Siehe
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ten steht, liegt im ersten Fall der Irrtum in dem, was gekauft wird, und im zweiten in dem, was aufgeschrieben wird.) Die erste Aufklärung kann dann als Befreiung von einem unangemessenen Gebrauch eines theoretischen Zuschauermodells des Praktischen angesehen werden – als ob unser Schließen über das, was wir tun sollten, wie unser Nachdenken über das, wofür wir die Dinge halten sollten, eine vorgängige Realität widerspiegelten, deren Autorität die Frage ihrer Richtigkeit endgültig klärt. Das alte Bild verwendete die falsche Passungsrichtung für praktische Angelegenheiten. Aber ganz gewiss wäre es ein Missverständnis dieser Lektion, das alte Bild auf den Kopf zu stellen und das Theoretische zu behandeln, als hätte es die Passungsrichtung und folglich die Struktur von Autorität und Verantwortung, die dem Praktischen angemessen ist. Aber die Pragmatisten tun das nicht. Sie verwerfen den Dualismus einer praktischen Sphäre mit genau der einen und einer theoretischen Sphäre mit genau der komplementären Passungsrichtung. Sie beginnen mit der Idee eines zyklischen Prozesses von Eingriff und Lernen, Wahrnehmung einer Anfangssituation, Handlung in ihr und Wahrnehmung des Resultats, die zu neuer Handlung führt, wobei die Schleife so lange wiederholt wird, bis sie konvergiert oder aufgegeben wird. Das nennen sie ‚Erfahrung‘. Die Rede von Überzeugung und Intention bedeutet für sie nur die Abstraktion von Phasen oder Aspekten eines solchen Prozesses. Unsere Überzeugungen haben praktische Konsequenzen und unsere Intentionen haben theoretische Bedingungen. Bei der Durchführung wirklicher Untersuchungen und praktischer Projekte findet man nicht die eine Passungsrichtung ohne die andere. Auf dieser Ebene modellieren die Pragmatisten nicht das Theoretische nach dem Praktischen, wie die Tradition diese Kategorien begriffen hat, sondern rekonzeptualisieren das Praktische wie das Theoretische im Sinne ökologisch-adaptiver Prozesse der Interaktion von Organismus und Umwelt von der Art, die sich in Evolution und Lernen zeigt. Was hat es mit dem anderen Vorwurf auf sich, den Menands Charakterisierung ihrer Ansicht nahe legt, nämlich dass sie von einer Ansicht, wie Überzeugungen vertreten werden sollten (versuchsweise, provisorisch, verhandlungsbereit), zu einer Ansicht über das übergehen, was Überzeugungen sind (so etwas wie praktische Bewältigungsstrategien) – von einer Einsicht in die Einstellung der Überzeugung zu einer Behauptung über den Inhalt, von dem man überzeugt ist? Wieder einmal suchen die Pragmatisten (in Übereinstimmung mit den Hegelschen Wurzeln von Peirces und Deweys Denken) Überzeugung und Bedeutung so zu rekonzeptualisieren, dass sie einem Dualismus von Kraft und Inhalt, Tun und Gedanke, Pragmatik und Semantik Widerstand leisten. Man kann ihre Strategie so auffassen, dass sie sich in zwei Schritten vollzieht. Erstens: Überzeugtsein oder Wissen, dass Dinge so und so sind (die Kategorie expliziter, formulierbarer, theoretischer Einstellungen, die für uns charakteristisch sind), soll im Sinne einer
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Fertigkeit, eines Wissens, wie man etwas macht, verstanden werden (die Kategorie impliziter, in die Tat umsetzbarer, praktischer Fähigkeiten, die für unsere intelligenten, aber nicht rationalen Säugetierverwandten und -vorfahren charakteristisch ist). Ihre Frage ist, was man tun können muss, um als jemand zu zählen, der begrifflich gehaltvolle Überzeugungen hat. Und ihre Antwort wird auf die Rolle dieser Überzeugungen im praktischen Schließen blicken, auf ihre Fähigkeit, als Gründe für das Handeln zu dienen. Denn ihr zweiter Schritt besteht darin, eine Art von funktionalistischer Theorie über den propositionalen Gehalt von Überzeugungen anzubieten, eine Theorie der Bedeutung in Begriffen des Gebrauchs. Der Inhalt von Überzeugungen und die Bedeutungen von Sätzen sollen im Sinne der Rolle verstanden werden, die sie in Prozessen intelligenter wechselseitiger Anpassung von Organismus und Umwelt spielen, in denen Forschung und Zielverfolgung unentwirrbar verbundene Aspekte sind. Funktionalistische (und in jüngster Zeit teleosemantische) Strategien in der Philosophie des Geistes dominieren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber die Pragmatisten haben es verdient, hier als Pioniere genannt zu werden. Wenn das nicht allgemein erkannt wird, dann zum Teil deshalb, weil die Pragmatisten nicht die Art von Klarheit an methodologischem Selbstbewusstsein erreichten, die es ihnen erlaubt hätte, die generelle Strategie der funktionalistischen Theorie über die Beziehungen zwischen Pragmatik und Semantik (zwischen dem, was mit Worten getan wird und was sie bedeuten, oder der Rolle von Überzeugungen in den Verhaltensökonomien derjenigen, die überzeugt sind, und dem Inhalt dieser Überzeugungen) von den spezifischen begrifflichen Taktiken zu sondern, mit denen sie diese Strategie verfolgten. Und auf dieser spezifischen Ebene gibt es einige wirkliche Probleme mit ihren Ideen. Denn sie bieten eine instrumentalistische Semantik, insofern sie Inhalt auf der Basis von Erfolgsbedingungen statt von Wahrheitsbedingungen verstehen. Das ist keine törichte Idee. Aber nach einem Jahrhundert intensiver Arbeit auf dem Gebiet der philosophischen Semantik sind wir heute in der Position, viel größere Klarheit über die Adäquatheitskriterien, denen solche Theorien genügen müssen, und über ihre Irrtumsmöglichkeiten zu besitzen. Aus der Sicht der Gegenwart erkennen wir, dass das instrumentalistische Programm der Pragmatisten vier verschiedene Fehler beinhaltet. Erstens: Wenn die Pragmatisten über die funktionale Rolle der Überzeugung in wechselseitigen Interaktionen und Abstimmungen zwischen Überzeugungsträgern und ihren Umwelten nachdenken, schauen sie nur flussabwärts, auf die praktischen Konsequenzen von Überzeugungen. Das heißt, sie schauen nur auf die Rolle von Überzeugungen als Prämissen in praktischen Folgerungen. Sie schauen nicht auch flussaufwärts, zu den Antezedentien von Überzeugungen, auf ihre Rolle als Konklusionen von Folgerungen oder als Ergebnisse anderer
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Prozesse der Überzeugungsbildung. In dieser Hinsicht drehen sie einfach die ausschließliche Betonung des Ursprungs der Überzeugung in der Erfahrung um, die für die Semantik des traditionellen Empirismus charakteristisch ist. Aber jede dieser einseitigen Annäherungen an die Semantik lässt den entscheidenden komplementären Aspekt der funktionalen Rolle von Überzeugungen aus. Denn ob man sich nun die Rolle der Überzeugung als Knoten in einem Netz kausaler oder in einem Netz von Folgerungsbeziehungen vorstellt – entsprechend den beiden Geschmacksrichtungen des Funktionalismus –, man muss sowohl auf Antezedentien wie auf Konsequenzen blicken. Die Bedeutung, die einem Ausdruck durch seine Rolle in einem Sprachspiel gegeben wird, kann ebenso mit den angemessenen Anwendungsbedingungen identifiziert werden, die spezifizieren, wann er richtig geäußert wird, wie mit den angemessenen Anwendungskonsequenzen, die spezifizieren, was aus seiner Äußerung richtig folgt.6 Keine allein wird ausreichen, denn Sätze können dieselben Umstände und verschiedene Konsequenzen oder dieselben Konsequenzen und verschiedene Umstände der Anwendung haben. In jedem Fall werden sie verschiedene Bedeutungen haben. Als Beispiel der ersten Art könnten wir den Gebrauch von „vorhersehen“ so reglementieren, dass der Satz „Ich sehe vorher, dass ich ein Buch über Hegel schreiben will“ unter genau denselben Umständen wie „Ich will ein Buch über Hegel schreiben“ angemessen behauptet wird (die Überzeugung, die er ausdrückt, angemessen erworben wird). Aber sie haben verschiedene Bedeutungen, denn es folgen verschiedene Dinge aus ihnen, wie klar wird, sobald wir über den ganz verschiedenen Status der beiden Bedingungssätze „Wenn ich ein Buch über Hegel schreiben will, dann will ich ein Buch über Hegel schreiben“ und „Wenn ich vorhersehe, dass ich ein Buch über Hegel schreiben will, dann will ich ein Buch über Hegel schreiben“ nachdenken. Die stotternde erste Folgerung ist so sicher, wie sie es nur sein kann. Die Wahrheit der zweiten hängt davon ab, wie gut ich im Vorhersehen bin (und ob ich unter einen Bus gerate). Um den zweiten Punkt zu sehen, mache man sich klar, dass man wissen könnte, was aus der Behauptung folgt, jemand sei für eine Handlung verantwortlich oder die Handlung sei unmoralisch oder sündig, ohne aus diesem Grunde als jemand zu zählen, der die fraglichen Behauptungen oder Begriffe versteht (die Bedeutungen der Wörter begreift), wenn man überhaupt nichts über die Umstände wüsste, unter denen es angemessen wäre, diese Behauptungen aufzustellen oder diese Begriffe anzuwenden. Empiristische, verifikationistische, Glaubwürdigkeits- und Behauptbarkeitstheorien der Semantik sind mangelhaft, weil sie die Konsequenzen der Anwendung von Ausdrücken zugunsten ihrer Anwendungsumstände ignorieren. Pragmatistische semantische 6 Ich diskutiere diese Art und Weise, über Semantik zu denken, in Kapitel 1 von Articulating Reasons (Harvard, 2000).
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Theorien sind mangelhaft, weil sie den komplementären Fehler machen, die Umstände zugunsten der Konsequenzen zu ignorieren. In Wirklichkeit sind für Bedeutung beide Aspekte wesentlich. Der zweite Fehler, den Pragmatisten machen, besteht darin, dass sie nur bei der Rechtfertigung oder Produktion von Handlungen auf die Rolle von Überzeugungen blicken. Aber ihre Rolle bei der Rechtfertigung der Produktion weiterer Überzeugungen ist gleichermaßen bei der Artikulierung ihres Inhalts wichtig, und es gibt keinen guten Grund zu glauben, das Letztere könne auf das Erstere reduziert oder auf der Basis des Ersteren völlig erklärt werden. Der Versuch, die Inhalte interner Zustände im Sinne von Beziehungen zu outputs (selbst – wenn man den vorangehenden Punkt miteinbezieht – im Sinne von outputs und inputs) aus dem System zu definieren, ist eine im weiteren Sinne behavioristische Strategie. Und eins der Dinge, die wir gelernt haben, nachdem wir uns diese Dinge in den letzten vierzig Jahren immer wieder durch den Kopf haben gehen lassen, ist dieses: Es ergibt sich eine sehr viel mächtigere und plausiblere Theorie, wenn man auch die Beziehungen interner Zustände zueinander berücksichtigt. Genau das ist der Erklärungsmehrwert des Funktionalismus gegenüber dem Behaviorismus in der Philosophie des Geistes. Mögen die allgemeinen Erwägungen, die den pragmatistischen Ansatz motivieren, erkennbar funktionalistisch sein: Als es darum ging, ihre Ideen auszuarbeiten, taten die Pragmatisten das in behavioristischen Begriffen, weil die verschiedenen damit zusammenhängenden Unterscheidungen und Erwägungen noch nicht geklärt waren. Selbst wenn diese beiden Schwierigkeiten der instrumentalistischen Semantik der Pragmatisten beseitigt werden, stehen sie vor einer dritten. Denn bei dem Versuch, sich von (dem Erfolg oder Scheitern von) Handlungen zum Inhalt von Überzeugungen zu bewegen, ignorierten sie die notwendige dritte Komponente in der Gleichung: Wünsche, Präferenzen, Ziele oder Normen. Die Handlung, den Regenschirm zuzuklappen, rechtfertigt die Zuweisung einer Überzeugung, dass es zu regnen aufgehört hat, nur auf dem Hintergrund der Annahme, dass die betreffende Person trocken bleiben will. Wenn sie stattdessen Gene Kellys Wunsch teilt, im Regen zu singen und zu tanzen, wird die Bedeutung dieser Handlung für eine Charakterisierung des Inhalts ihrer Überzeugung ganz anders sein. Und dieser Punkt gilt ganz allgemein. Welche Überzeugungen Handlungen begründen oder hervorbringen, hängt davon ab, mit welchen Wünschen, Zielen oder Pro-Einstellungen sie verknüpft sind.7 Die Erfolgsbedingungen unser Handlun7 In
Kapitel 2 von Articulating Reasons spreche ich mich für ein auf Folgerungen beruhendes Verständnis der expressiven Rolle von Aussagen der Präferenz oder Pro-Einstellung und von normativem Vokabular ganz allgemein aus. Aber dieses Neuverständnis hat keinerlei Auswirkung auf den Punkt, dass neben Überzeugungen und Handlungen oder Intentionen ein weiteres Element im Spiel ist, dessen Variabilität die Möglichkeit einer direkten Folgerung von Dingen, die getan werden, auf Dinge, von denen man überzeugt ist, untergräbt.
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gen hängen ebenso sehr von dem ab, was wir wünschen, wie von dem, was wir glauben. Die zeitgenössische Theorie der rationalen Wahl hat sich diese Einsicht zu eigen gemacht. Donald Davidson verbindet diese fundamentale Beobachtung mit der Einsicht, dass die semantischen Inhalte von Überzeugungen und Wünschen ebenfalls und in gleicher Weise zu erwerben sind (im Gegensatz zu dem Ansatz der rationalen Wahl, der sie als inputs in ihren Prozess für gegeben nimmt), und gelangt so zu seinem raffinierten interpretativistischen Nachfolger für das beschränkte pragmatistische Programm der Semantik. In der Rückschau ist klar, dass die pragmatistische Strategie ohne eine solche strukturelle Verbesserung nicht funktionieren kann. Das vierte Problem ist aufs engste mit dem dritten verknüpft. Denn obgleich es den Pragmatisten nicht gelang, die Bedeutung der Tatsache zu würdigen, dass Wünsche unabhängig von Überzeugungen variieren können, ignorierten sie Wünsche nicht einfach. Vielmehr glichen sie den Erfolg von Handlungen der Befriedigung von Wünschen an und wollten den Überzeugungen, die zur Befriedigung und infolgedessen zum Erfolg beitrugen, eine besondere wünschenswerte Eigenschaft zuweisen: ihren Nachfolgebegriff für den klassischen Begriff der Wahrheit. In ihrem Sinne waren diejenigen Überzeugungen wahr, die zur Befriedigung von Wünschen beitrugen. Aber der Begriff des Wunsches und seiner Befriedigung, den ihre Erklärungsstrategie erforderte, ist fatal zweideutig. Er lässt unmittelbare Neigung und begrifflich artikuliertes Engagement in genau der Weise zusammenfallen, die Wilfrid Sellars, eher für Überzeugungen als für Wünsche, unter dem Titel „der Mythos des Gegebenen“ kritisiert.8 Denn einerseits stellt man sich Wünsche als Dinge wie Jucken und Durst vor: Ob Wünsche in diesem Sinn befriedigt werden, kann man einfach deswegen sagen, weil man sie hat. Wenn man nicht länger motiviert ist, etwas zu tun, ist der Wunsch befriedigt. Wenn man – den vorangehenden Punkt eingeklammert – aus dem Erfolg einer Handlung bei der Befriedigung eines Wunsches in diesem Sinne auf die Wahrheit eines Glaubens schließen könnte, wäre die pragmatistische semantische Strategie in Ordnung. Hier ist die Idee leitend, diesen Übergang dadurch zu machen, dass die Rolle von Überzeugungen und Wünschen im praktischen Schließen ausgebeutet wird: in Folgerungen, die zu der Bildung von Intentionen oder der Durchführung von Handlungen führen. Aber die Wünsche, die zusammen mit Überzeugungen eine Rolle bei der Begründung von Handlungen spielen, sind nicht wie Jucken und Durst. Sie haben dieselbe Art von begrifflich explizitem propositionalen Inhalt wie Überzeugungen. Ich kann nicht einfach nur dadurch, dass ich Rohgefühle habe, sagen, ob mein Wunsch, der Ball möge durch den Reifen gehen, befriedigt ist – ganz zu schweigen von meinem Wunsch, die Chancen auf einen Weltfrieden möchten gestiegen sein. Denn herauszufinden, ob 8 In
seinem Meisterwerk Empirismus und die Philosophie des Geistes.
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Wünsche dieser Art befriedigt worden sind, ist einfach herauszufinden, ob verschiedene Behauptungen wahr sind: dass der Ball durch den Reifen gegangen ist, dass die Chancen für den Weltfrieden gestiegen sind. Die Befriedigung jener Arten von Wünschen, die Elemente von Gründen für Handlungen sind, verschafft uns keinen unmittelbaren, nicht-begrifflichen Zutritt zum begrifflichen Reich der Inhalte von Überzeugungen. Der einzige Grund zu glauben, bei dem Versuch, die Wahrheit von Überzeugungen zu erklären, werde ein Erklärungsgrund dadurch gewonnen, dass man mit der Befriedigung von Wünschen (Handlungserfolg) beginnt – das heißt der einzige Grund, die instrumentelle Strategie in der Semantik zu verfolgen –, ist der, dass man die beiden Arten von Wunsch miteinander verschmolzen hat. Denn was für sein Funktionieren nötig ist, gleicht dem Jucken darin, dass man sagen kann, ob gekratzt worden ist, ohne entscheiden zu müssen, was wahr ist, und einem begrifflich artikulierten Wunsch darin, dass es sich inferentiell mit propositionell gehaltvollen Überzeugungen verbindet, um Gründe für Handlungen zu liefern. Aber nichts kann beides tun. Die traditionelle frühmoderne Konzeption von Erfahrung (als Erlebnis [i.O. deutsch]) wollte beides zugleich.9 Genau an diesem Punkt trennen sich der kausale und der folgerndnormative Funktionalismus. Die Herausforderung, die darin liegt, dass man das Gegebene einen Mythos nennt, ist eine Frage: Macht die Erfahrung (oder was auch immer) uns lediglich dazu geneigt (dispositionell)? Oder rechtfertigt sie uns, eine Behauptung aufzustellen oder eine Schlussfolgerung zu ziehen? Aus unserer privilegierten Perspektive ein gutes Jahrhundert später können wir also sehen, dass die instrumentalistische semantische Strategie der Pragmatisten zur Erklärung von credenda in Begriffen von agenda und ihre Theorie von Bedeutung und Wahrheit grundlegend fehlerhaft sind. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie keine guten Ideen hatten oder dass sie keinen Fortschritt gemacht hätten oder dass wir nicht immer noch etwas von ihnen zu lernen haben. Ich glaube, wir wissen inzwischen auch, dass die semantische Strategie des logischen Empirismus, der in der amerikanischen akademischen Philosophie auf den Pragmatismus folgte, nicht funktioniert und dass seine Auffassungen von Bedeutung und Wahrheit ebenfalls fehlerhaft sind. Will man also aus den Einsichten beider eine Theorie machen, die, nach den zeitgenössischen Maßstäben, welche zu einem nicht unerheblichen Teil mühselig durch die Kritik an diesen früheren Versuchen gewonnen wurden, besser funktioniert, so bedarf dies substanzieller Auswahl, Ergänzung und Rekonstruktion. Es ist eine nützliche Übung, die Motivationen der Pragmatisten und ihre begrifflichen Antworten auf diese Motivationen in zwei Kategorien zu teilen: um9 Diese Schwierigkeit steht quer zu denen, die dadurch entstehen, dass man die, laut Sellars, „notorische Partizip-Präsens-Aktiv-/Partizip-Perfekt-Passiv-Unterscheidung“ zwischen Akten des Erlebens und dem erlebten Inhalt aufhebt.
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fassende, orientierende, strategische und die eher lokalen, ausführenden, taktischen Bindungen. (Beispiel des Genres: Descartes’ ontologische Semantik teilt die Welt ganz allgemein in Vorstellungen und Vorgestelltes. Dann füllt er das Bild mit einer Theorie der Vorstellungen als sich unmittelbar selbst mitteilenden Episoden und des Vorgestellten als ausgedehnt und sich bewegend aus. Selbst wenn man die Dinge so einteilt, ist es eine nette Frage, ob man die Tatsache, dass sein Paradigma der Vorstellen–Vorgestelltes-Relation die Beziehung zwischen diskursiven algebraischen Gleichungen und den ausgedehnten geometrischen Figuren ist, die sie in seiner algebraischen Koordinaten-Geometrie spezifizieren, als eine generische Rahmenbindung oder als Teil der Ausfüllung eines solchen Bildes behandeln soll.) Meine Kritik bezieht sich primär auf Letzteres: die detaillierteren Wege, auf denen die Pragmatisten versuchten, sich einen Anspruch auf die umfassenderen Rahmenverpflichtungen zu verschaffen. Diese Rahmenverpflichtungen – auf die sie sich nach meiner Auffassung dadurch einen Anspruch zu schaffen suchen, dass sie die detailliertere Arbeit tun – sind im Großen und Ganzen bewunderungswürdig. Unter den großen Zügen ihres Denkens, die ich für progressiv halte, sind folgende: • Sie waren Darwinisten, evolutionäre Naturalisten, die bestrebt waren, die Welt, uns und unsere Erkenntnis von der Welt in den Begriffen neu zu deuten, die durch die neuartigen Erklärungsstrukturen verfügbar gemacht waren, die für die beste neue Wissenschaft ihrer Zeit charakteristisch waren. • Im Dienst eines erneuerten Empirismus, der methodologisch mit diesem Naturalismus in der Ontologie zusammengehen sollte, entwickelten sie einen Begriff von Erfahrung [i.O. deutsch] statt von Erlebnis [i.O. deutsch]: als situationsbezogen, verkörpert, transaktional und als Lernen strukturiert, eher ein Prozess als ein Zustand oder eine Episode. Sein Schlagwort könnte lauten: „Keine Erfahrung ohne Experiment“. Vorstellen und Eingreifen waren für sie zwei Seiten einer einzigen begrifflichen Medaille – oder weniger bildlich gesprochen: reziprok sinnesabhängige Begriffe, die sich auf Aspekte von Prozessen beziehen, die die selektiven Anpassungsstrukturen aufweisen, die Evolution und Lernen teilen. • Sie würdigten die Erklärungspriorität semantischer vor erkenntnistheoretischen Fragen, die eine von Kants großen Lektionen gewesen war. So versuchen sie, den Inhalt in Begriffen der Erfahrung (wie sie sie auffassen) zu verstehen, das heißt auf der Basis seiner Rolle im Lernen; sie verwarfen ein orientierendes Ziel, das als gewonnene Erkenntnis im Sinne eines
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statischen, permanenten Zustands erscheint, und fassten es stattdessen als dynamischen Anpassungsprozess auf. • Sie verstanden den normativen Charakter semantischer Begriffe: dass sie Einschätzungen von Richtigkeit und Unrichtigkeit, von Wahrheit und Falschheit, von Erfolg und Misserfolg bestätigen müssen. Der oben kritisierte semantische Instrumentalismus ist die spezifischere Strategie, welche die Pragmatisten bei ihrem Versuch anwandten, eine naturalistische Theorie dieser normativen Dimension semantischer Begriffe zu geben. • In der Semantik versuchten sie, im Gegensatz zu ‚Ideen‘theorien, nichtmagische, tatsächlich wissenschaftliche Theorien des Inhalts zu entwickeln, die konstruktiv auf skeptische Sorgen um den Erfolg des Bezugs von Ideen auf Dinge in der Welt – Intentionalität –, aber nicht auf solche um ihren Gehalt, reagieren. Die Pragmatisten versuchten sich klarzumachen, was das ist, was wir tun – etwas, was im Zusammenhang mit dem steht, was vor-begriffliche Geschöpfe tun können – das auf Etwas-Denken oder -Erkennen hinausläuft, selbst wenn es erfolglos bleibt. Sie waren im Denken über die Inhalte der Begriffe, die intentionale Zustände artikulieren, im weitesten Sinne Funktionalisten und schauten auf die Rolle, die inhaltsvolle Zustände in der gesamten synchronischen, sich entwickelnden Verhaltensökonomie eines Organismus spielen, um die Begriffe zu verstehen, die sie beinhalten. • Während Vernunft und die Art von Intelligenz, die letztlich in wissenschaftliche Theorien und Technologien mündet, in ihrem Bild von uns den Vorrang erhalten, bewegen sie sich entschieden über den Intellektualismus und den Platonismus hinaus, welche die erste Aufklärung geplagt hatten, indem sie in ihrer Ordnung der Erklärung dem praktischen Wissen-wie, dem Können, den Vorzug vor dem theoretischen Wissen-dass gaben. Auf dieser Ebene sehr allgemeiner Erklärungsstrategie ist das, was man bei den Pragmatisten am meisten vermisst – was sie auf jeden Fall am meisten von uns trennt –, dass sie nicht das philosophische Interesse an der Sprache teilen, das für das 20. Jahrhundert so charakteristisch ist, sowie das an den Diskontinuitäten mit der Natur, die die Sprache schafft und verstärkt. Die herrschenden philosophischen Abstammungslinien des Jahrhunderts sind in einem gewissen Sinne von der Zentralität der Sprache durchdrungen: einerseits die Husserl–Heidegger– Gadamer-Linie und die strukturalistisch–poststrukturalistischen Linien, die bei Derrida zusammenlaufen, wie andererseits die Frege–Russell-Linie, die über Carnap zu Sellars, Quine und Davidson und zu Wittgenstein und Dummett verläuft. Das liegt teilweise an der Assimilierungsneigung der Pragmatisten im Be-
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reich des Begrifflichen: an ihrer Betonung der Kontinuitäten zwischen Begriffsbenutzern und der organischen Natur. Für diese Betonung sprechen gleichfalls gute Gründe, und ich denke, es ist fair zu sagen, dass wir selbst jetzt noch nicht im Bereich der diskursiven Praktiken, die für uns so besonders charakteristisch sind, die Spannungen zwischen naturalistischen Assimilierungsneigungen und der normativen Regelung von Ausnahmen geklärt haben. Aber ich fasse das auch so auf, dass die philosophische Weiterentwicklung der Ideen der amerikanischen Pragmatisten ein linguistischer Pragmatismus sein muss, im Bündnis mit dem späteren Wittgenstein und dem Heidegger des ersten Abschnitts von Sein und Zeit.
4. Ein politisches Problem für den Pragmatismus Gegen Ende von Abschnitt 2 verwies ich auf einen ironischen strukturellen Zug von Menands (und allen ähnlichen) auf den Pragmatismus gerichteten Erklärungsunternehmen. Die Ansicht, die er erklärt, versteht die Bedeutung eines Zustands oder Ereignisses dadurch, dass sie auf dessen Wirkungen und Konsequenzen blickt. Aber er gewinnt sein Verständnis dadurch, dass er nach rückwärts schaut, zu seinen Ursachen und Prämissen. Indem wir uns jedoch in Abschnitt 3 ein bisschen genauer die Semantik angeschaut haben, haben wir gesehen, dass die konsequenzialistischen und genealogischen Annäherungen an die Bedeutung eher als komplementär denn als rivalisierend angesehen werden können. Jede für sich allein ist einseitig, aber zusammen spezifizieren sie die Umstände und Konsequenzen, die eine adäquatere Semantik als gleich wesentliche Aspekte von Bedeutung oder Signifikanz sieht. Ja, dadurch, dass man die nicht auf Folgerungen beruhenden Umstände der Anwendung von Begriffen in der Wahrnehmung und die nicht auf Folgerungen beruhenden Konsequenzen der Anwendung von Begriffen im Handeln einschließt, erhält man den transaktionalen Sinn von Erfahrung [i.O. deutsch] als einem Prozess der Abstimmung von Organismus und Umwelt durch praktisches Lernen, der die tiefste philosophische Weisheit der Pragmatisten repräsentiert. Das ist die positive philosophische Lektion jener strukturellen Ironie. Nichtsdestoweniger spielen nach beiden Theorien praktische Konsequenzen eine Rolle für die Bedeutung. Menand schließt sein Buch mit einer politischen Bewertung der Aussichten des Pragmatismus. Er glaubt, dass der Pragmatismus zwar während des Kalten Krieges gelitten habe, weil der Kalte Krieg ein Krieg um Prinzipien war [ . . . ] Die Vorstellung, dass die Werte der freien Gesellschaft, für die der Kalte Krieg geführt wurde, kontingente, relative, fallible Konstruktionen waren, gut für die einen Zwecke und nicht so gut für andere, war keine Vorstellung, die mit den moralischen
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Imperativen des Zeitalters vereinbar war [ . . . ] Und sobald der Kalte Krieg endete, tauchten die Ideen von Holmes, James, Peirce und Dewey ebenso plötzlich wieder auf wie sie verdunkelt worden waren [ . . . ] (S. 442)
Aber im Endeffekt unterstützt Menand die Ansicht der Pragmatisten, dass die Vernunft (wie die Demokratie selbst) eher im Verfahren als in der Substanz besteht – dass das, was zählt, eher die Methode ist, wie ein (lokales, zeitweiliges, provisorisches) Resultat erzielt wird, und was seine Konsequenzen sind, als seine Form (namentlich die Form universaler und unveränderlicher Prinzipien). Außer der philosophischen Frage, die eine genealogische Theorie der Erfahrung in dem von den Pragmatisten bevorzugten Sinn ihrer konsequenzialistischen, instrumentalistischen semantischen Theorien stellt, wirft Menands Geschichte freilich auch eine politische Frage auf. Denn er stellt alle notwendigen Rohmaterialien zusammen, um eine weitere ernsthafte Frage nach den praktischen politischen Konsequenzen und Wirkungen der Theorien der Pragmatisten zu formulieren. Ein wichtiger Faden, der durch Menands Geschichte hindurch läuft – einer, der noch einmal den charakteristisch amerikanischen Charakter des Kontexts und der Erfahrung unterstreicht, die den Pragmatismus auslösten und formten –, betrifft die Rasse. Rassenfragen treten an einer ganzen Reihe von Punkten in Menands Nacherzählung der sozialen, kulturellen und institutionellen Antezedentien und Wechselfälle der Pragmatisten und ihrer Ideen an die Oberfläche. Und Rasse ist, wie er zeigt, theoretisch mit dem Aufkommen der darwinistischen Naturgeschichte verknüpft, die zur Rechtfertigung verschiedener praktischer politischer Einstellungen herhalten musste, wie auch mit der Adaptation und Verallgemeinerung von Darwin durch die Pragmatisten. Und sobald diese Frage erst einmal durch die politische Praxis aufgeworfen worden war, rückte das Denken in Begriffen der Strukturen, die der Evolution und dem Lernen gemeinsam sind, die Frage ins helle Licht, ob man Rasse als eine biologische Kategorie behandeln soll und wie sie sich als bunte Fülle miteinander verwandter kulturell erworbener Fähigkeiten begreifen lässt. Der Begriff der Rasse war der primäre Ort, um den sich die entstehenden theoretischen Kämpfe über die Interaktionen von Natur und Kultur sammelten, wie die Pragmatisten diese beiden Begriffe neu deuteten. Aber er war auch ein Ort, wo diese theoretische philosophische Streitfrage im engeren Sinn politische Fragen beeinflusste und wiederum von ihnen beeinflusst wurde – insbesondere die Fragen, in die die Vorkriegsdispute über Sklaverei durch den Krieg und sein Ergebnis verwandelt worden waren. Die Pragmatisten waren, aufgrund ihres Misstrauen gegen feste begriffliche Kategorien und gegen Appelle an die Ontologie als angebliche Stütze normativer Beziehungen der Autorität, in einer einmalig günstigen Lage, verschiedene Weisen zu sehen, wie der Begriff der Rasse, soweit er in der fundamentalen
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praktischen Politik (personell und institutionell wie auch national) verkörpert war, mehr auf Kultur und sozialem Vorurteil beruhte als auf Biologie und Anpassungsfitness – ihn als ein komplexes, inhärent fragwürdiges Produkt aus kontingenter kultureller Signifikanz und gegebener biologischer Tatsache zu sehen. Aber mit Ausnahme von Dewey zeigten sie sich der Situation nicht gewachsen. Sie wandten ihre Theorien der Inhalte von Begriffen nicht an, um eine öffentliche kritische Bewertung dieses besonderen Begriffs vorzunehmen. Tatsächlich dürfte bei eben dieser Gelegenheit die Politik über die Philosophie triumphiert haben. Denn – wie Menand die Schlussfolgerungen charakterisiert, welche die Pragmatisten aus dem Krieg zogen – selbst diejenigen, die, wie etwa Holmes, als Abolitionisten in den Krieg gezogen waren, befürworteten, genau wie die, die (wie Peirce) als Unionisten in ihn gezogen waren, nach ihrer Rückkehr im wesentlichen die Unionistische Position. Es gab eine Kollision zwischen Prinzipien der Demokratie – Diskussionen unter Bürgern mit verschiedenen Meinungen (oder deren Repräsentanten) sind der einzige Weg, Dispute unter Bürgern beizulegen – einerseits, und Prinzipien von Menschenrechten – Sklaverei ist keine tolerierbare Praxis – andererseits. Und der Pragmatismus war, wenn ich Menand richtig lese, eine Einstellung, die durch eine Bindung an den ersteren der beiden Werte eingenommen wurde. Der Unionismus rührte aus versöhnlichen, flexiblen, friedlichen Impulsen her. Er sah die Notwendigkeit, die konkrete etablierte Praxis und eine tief empfundene Bindung dadurch aneinander anzugleichen, dass die angemessene Anwendung abstrakter Prinzipien der Gerechtigkeit gemildert wurden – eine Ansicht, die mit der von Edmund Burke über die französische Revolution übereinstimmte. Angesichts der Art und Weise, wie das nationale Einvernehmen tatsächlich in Reaktion auf den Triumph dieser Unionisten-Impulse wiederhergestellt wurde, kommt Fragen nach den politischen Konsequenzen einer derartigen Schlussfolgerung ein besonderes Gewicht zu. Denn nach dem Krieg führte diese Haltung zu der Rücksichtnahme der Nach-Rekonstruktionszeit auf die Sensibilitäten der weißen Südstaatler durch die Rassentrennung, die vom Staat in Form der schändlichen Jim-Crow-Gesetze10 sanktioniert wurde. (Eine viel sagende Statistik, die von Menand zitiert wird [S. 374]: Im Jahre 1896 gab es 130 334 Afro-Amerikaner, die in Louisiana als Wähler registriert waren; im Jahre 1904 gab es nur 1 342.) Insbesondere Holmes äußerte seine pragmatistische Ansicht, das Reden von Prinzipien maskiere immer die Kollision sozialer Kräfte („ ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Fairness‘ sind Schlagworte, die partikulare Kämpfe stützen, nicht ewige Prinzipien“ [S. 64]), wie auch seine Schlussfolgerung, man solle deshalb ‚das Totem der Legitimität von den Prämissen auf die Verfahren verlagern‘, indem man dieser Art des Versuchs, die Wunden zu heilen, die der Krieg 10 [A.d.Ü.:
Gesetze der Rassentrennung, benannt nach einem Lied von Thomas Rice (1808–1860)]
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dem sozialen Gewebe der Nation zugefügt hatte, seine Unterstützung gewähre. Die Folge war, dass die Streitfrage der Rassengerechtigkeit und der bürgerlichen Rechte für Farbige (nicht nur frühere Sklaven und ihre Nachkommen) für ein dreiviertel Jahrhundert politisch vom Tisch war und aus der öffentlichen Diskussion verschwand – so gründlich und wirkungsvoll, wie die Frage der Sklaverei es in den Vorkriegsjahren gewesen war, als der Senat (im Interesse der Fähigkeit, angesichts unüberwindlicher Meinungsverschiedenheit mit anderen Aufgaben weiterzukommen) eine Verfahrensregel übernahm, nach der jede in Vorschlag gebrachte Gesetzgebung, die mit der Sklaverei zu tun hatte oder sie auch nur erwähnte, ohne Debatte auf unbestimmte Zeit verschoben werden sollte. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass diese Periode in der amerikanischen Geschichte – dieser moderne Große Kompromiss – den Rassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten mehr geschadet hat als die Sklaverei selbst. Vielleicht war dieser Nachkriegsunionismus schließlich die beste Politik. Vielleicht hätte eine spätere Version des Abolitionismus, jetzt auf die Bürgerrechte gerichtet, das Land in den Jahren 1890 und den folgenden Dekaden noch einmal zerrissen und an die Stelle der chronischen, im Hintergrund verbleibenden politischen Gewalt der Jim-Crow-Gesellschaft akute, nackte, unkontrollierte politische Gewalt gesetzt. Vielleicht. Aber es ist gewiss nicht offensichtlich, dass dies so ist – dass ein solches Maß an Ungerechtigkeit ertragen werden musste, dass Prinzipien der Gerechtigkeit und Rechte es nicht wert waren, noch einmal für sie zu kämpfen. Für Menand ist der Pragmatismus vor allem die Idee, dass sich wandelnde Umstände veränderte Ideen erfordern, dass Flexibilität und Experimentieren, nicht die Entdeckung von Wahrheiten oder Prinzipien, an die man sich halten kann, das Wesen der Rationalität ausmachen. Aber wir sollten fragen, ob diese Ansicht uns wirklich verpflichtet, diese politischen Schlussfolgerungen zu ziehen, wie er und einige der Pragmatisten glauben, und ob dies Schlussfolgerungen sind, die wir unterstützen sollten. Wenn wir die politischen Konsequenzen des philosophischen Denkens der Pragmatisten, wie sie uns Menand zu sehen gelehrt hat, bewerten, scheint mir diese Frage am dringendsten. Dies ist die Arena, in der wir erwägen müssen, ob wir die Ideen, die, wie Menand zeigt, die Pragmatisten aus dem Bürgerkrieg als Lektionen mit nach Hause nahmen, als Leitideen für die nachfolgende politische Praxis gelten lassen wollen. Denn es scheint, dass wir bislang noch nicht geklärt haben, was in dem Vorkriegsdisput zwischen den Unionisten und den Abolitionisten auf jeder Seite richtig war. Nicht nur dem Bürgerkrieg gelang es nicht, die Art von politischem oder philosophischem Verständnis zu erreichen; auch die spätere Geschichte war keine besonders große Hilfe. Alles in allem glaube ich, wir sollten vor allem eine Lektion aus dem anregenden Buch von Menand mitnehmen: dass wir noch eine Menge nachzudenken
Wenn die Philosophie ihr Blau in Grau malt
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haben über das, was lebendig und was tot ist am Pragmatismus – in der philosophischen Theorie wie in der politischen Praxis.11
11 Ich
möchte Danielle Macbeth für nützliche Diskussionen über Themen dieses Essays danken.
Teil I. Bedeutung
Pirmin Stekeler-Weithofer
Brandoms pragmatistische Theorie der Bedeutung 1. Philosophische Semantik Jede Beurteilung der Leistungen eines Ansatzes in der philosophischen Semantik im allgemeinen, und eines Systems wie desjenigen von Robert Brandoms Making it Explicit1 im besonderen, wird zwischen verschiedenen Zielen zu unterscheiden haben. Ein mögliches Ziel ist die Kritik an mystifizierenden Auffassungen sprachlicher Bedeutung und Referenz; ein durchaus anderes, wenn auch mit einer erfolgreichen Kritik in der Regel verbundenes, ist die Klärung des Wesens des menschlichen Geistes durch eine Klärung des Wesens menschlicher Sprache, genauer: die explikative Aufhellung von Bedingungen der Möglichkeit intentionalen Weltbezugs durch eine Analyse der Form menschlichen Sprechhandelns. Ein drittes Ziel wäre die (natur)kausale Erklärung menschlicher Sprachkompetenz und Intentionalität im Rahmen eines Explanationsmodells, wie es die Naturwissenschaften charakterisiert. Dabei können, und das ist ein vierter Fall, gewisse übertriebene Ansprüche oder transzendente Verheißungen kausaler Erklärbarkeit schon so abgeschwächt sein, dass bloß die Einbettung der Entwicklung von Sprache und Wissen in eine einheitliche Kosmologie angestrebt ist. Im Blick auf die unterschiedlichen Ziele kann man von einem kritischen, einem explikativen, einem kausalen und einem evolutionären Aspekt in einer philosophischen Semantik sprechen. Unter Bezugnahme auf Kants Analytik des menschlichen Verstandes heißen begriffliche Analysen, welche die ersten beiden Zielstellungen verfolgen, auch transzendentale oder genuin philosophische. Sie sind von explanativen oder genuin szientifischen Ansätzen zu unterscheiden. Eine formelhafte Erläuterung des Ziels, die ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ einer besonderen menschlichen Kompetenz zu ‚erklären‘, weist das Unternehmen freilich noch nicht als ein transzendentalphilosophisches bzw. präsuppositions1 R. B. Brandom, Making it Explicit, Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Pr. 1994, im Folgenden kurz: MIE; dt. Expressive Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; und ders., Articulating Reasons: An Introduction to Inferentialism, Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Pr. 2000; dt. Begründen und Begreifen: Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, im Folgenden kurz AR bzw. BB.
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logisches aus. Denn auch die Durchblutung des Gehirns ist eine Bedingung der Möglichkeit des Denkens. Ich sehe eine der Leistungen von Brandoms philosophischer Semantik darin, dass sie die Grundeinsicht der so genannten kontinentalen Tradition der Philosophie Kants und Hegels, Freges und Wittgensteins mit der empiristischen Tradition des Denkens zu vermitteln versucht. Der kontinentalen oder transzendentalen Deutung zufolge ist Logik explikative Formenanalyse und als solche Organon selbstbewusster Reflexion. Das Bild der Logik, wie es der Erkenntnistheorie John Lockes und, in der Gegenwart, der so genannten Kognitionstheorie zugrunde liegt, ist dagegen das eines Organs des Denkens selbst. In diesen ‚kompetenz‘theoretischen Strömungen wird so geredet, als existierte in unserem Kopf ein System der syntaktischen und semantischen Formproduktion und -analyse und des logischen Deduzierens, eine kalkülanaloge ‚Sprache‘ des individuellen Denkens, eine Language of Thought (Fodor). Die Herkunft und Ausprägung des Systems gilt es angeblich zu erklären, etwa so, wie Noam Chomsky die Herkunft der von ihm als inneres Regelsystem angenommenen Syntax kognitionstheoretisch erklären möchte. Die damit verbundene Hypostasierung oder Reifizierung von Modellen, die wir zum Zweck von Formanalysen etwa der Praxis mathematischer Rede entwickelt haben, steht nun aber gerade in Frage – und damit die zentrale Prämisse der Erklärungen in der Kognitionstheorie. Brandoms Explikation impliziter Formen und Normen gemeinsamen Handelns enthält wesentlich eine Kritik an dieser Form des Regulismus. Aber Brandom selbst schwankt zwischen einer Entwicklung von reflexionstheoretischen Sprech-, Denk- und Wissensformen und einer evolutionstheoretischen Erklärung der Entstehung von Normativität aus konformitätserzeugenden Sanktionen. Bevor dieses Schwanken aber im 8. und letzten Abschnitt als Folge einer Unterordnung der logischen Explikation unter ein szientifisches Explanationsprogramm methodisch oder metaphilosophisch kritisiert werden kann, benötigen wir zur Darstellung von Brandoms sprechhandlungstheoretischer Semantik im 5. und 6. Abschnitt und zur Beurteilung ihrer Leistungen und Grenzen im 7. Abschnitt zunächst eine Rekonstruktion von Quines Thesen von der Indeterminiertheit der Übersetzung und damit der Bedeutung und der Unterbestimmtheit der Referenz im 4. Abschnitt. Denn dabei handelt es sich um die wesentlichen Gründe für die Notwendigkeit der Ersetzung der deduktivistischen Versionen einer inferentiellen Bedeutungstheorie in der Tradition des Logischen Empirismus in Wittgensteins Tractatus und bei Carnap, wie sie im 2. und 3. Abschnitt skizziert wird.
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2. Formal-deduktive, halbformale und regellogische Semantik Carnaps Buch Der Logische Aufbau der Welt präsentiert die Grundidee des Logischen Positivismus in der Form einer deduktionstheoretischen bzw. regulistischen inferentiellen Semantik mit sensualistischem Weltanschluss. Es handelt sich um eine Art Gegenmodell zu einer metaphysischen Korrespondenztheorie der Wahrheit. Dabei ist nicht etwa das Abbildmodell in Wittgensteins Tractatus der Gegner, da dieses, wie wir sehen werden, als erste Variante der gleichen Idee zu lesen ist. Die Idee besagt, dass die Bedeutung (und das ist ungefähr, wenn auch nicht ganz genau, der Fregesche ‚Sinn‘) eines Satzes im wesentlichen dadurch bestimmt ist, wie durch die syntaktische Satzform und die vorkommenden Wörter bestimmt ist, was aus ihm logisch folgt und woraus der Satz logisch folgt.2 Carnap betrachtet dabei wie Hilbert die Regeln des formalen Deduktionskalküls der Prädikatenlogik als intuitiv plausible implizite Definitionen des Gebrauchs der logischen Zeichen „für alle“, „nicht“ und der Subjunktion „wenn–dann“. (Ich beschränke mich hier und im Folgenden, wie schon Frege, auf eben diese Satzformen und damit auf das Nötigste). Eine komplexere formal-axiomatische Theorie kann nach dieser Idee auch andere Worte implizit definieren. Ein semantisches Modell einer solchen Theorie ist bekanntlich entweder wie in der so genannten Tarski-Semantik theorieintern beschrieben, nämlich am Ende über eine Existenzformel der axiomatischen Mengentheorie, oder, wie etwa in Gödels Vollständigkeitssatz, als ein externes Modell z. B. in der nicht-axiomatischen elementaren Arithmetik oder der ‚Naiven‘ Mengenlehre. Ein solches Modell ist auf der Grundlage vermeintlich platonistischer, in Wirklichkeit aber nur halbformaler Wahrheitswertzuordnungen für Gleichungen zwischen Benennungen und für andere elementare Aussagen des Modells konstituiert. In Differenz zu einer vollformalen Deduktionslogik im Prädikatenkalkül lässt man in halbformalen Definitionen von Wahrheitswertfestlegungen für logisch komplexere Aussagen oder in halbformalen Beweisen Regeln mit unendlich vielen Prämissen als Herleitungsregeln zu. Es handelt sich um Regeln der folgenden Form: Wenn „A(t)“ für jede Belegung von t in einem Belegungsbereich B als herleitbar oder ‚wahr‘ zu bewerten ist, so auch „für alle x: A(x)“. Bei fixiertem Belegungsbereich B verlassen derartige Regeln den Rahmen formaler bzw. deduktiver Inferenzregeln, wie sie für das Definieren und Schließen in mathematischen Strukturmodellen typisch sind, überhaupt nicht, auch wenn sie nicht schematisch-deduktiv oder vollformal-deduktiv sind. 2 Die Logik ist transzendental, erklärt Wittgenstein, und das heißt, dass sie den Sätzen und Wörtern erst Bedeutung gibt.
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Bei dem semantisch genannten Verhältnis zwischen den ‚Formeln‘ in einem vollformalen Deduktionskalkül und den wahrheitswertbelegten ‚Aussagen‘ in einem intern bzw. vollformal oder extern bzw. halbformal beschriebenen Modell handelt es sich offenbar bloß um eine zwischentheoretische und als solche rein formale Beziehung. Dies gilt für die Montague-Semantik ebenso wie für die Semantik der ‚Möglichen Welten‘ mit ihren modallogischen Strukturbäumen bei Saul Kripke, David Lewis oder Nuel Belnap, um nur einige Beispiele für ‚philosophische Interpretationen‘ von ‚forcing-Strukturen‘ zu nennen.3 Der Grund, warum es so wichtig ist, auf diese Tatsache hinzuweisen, liegt darin, dass man (nur) auf ihrer Grundlage wird sehen können, dass und warum auch Brandoms Semantik am Ende eine formale Semantik bleiben wird, die den Weltbezug von Sprache und Sprechen nicht zureichend klärt. In dem Buch Die Logische Syntax der Sprache führt Carnap die Idee einer vollformalen inferentiellen Semantik näher aus. Ihr zufolge sind die Bedeutungen von Sätzen und Wörtern gegeben über ihre deduktiven Rollen im Kontext eines vollformalen axiomatischen Systems impliziter Definitionen. Sprache selbst wird analogisch so betrachtet, als sei sie ein System von analytischen Sätzen oder Formeln, mit denen wir bedeutungsbestimmende Inferenzregeln artikulieren, und zwar auf der Basis des Modus Ponens, der Abtrennungsregel. Ich will diese regellogische Deutung einer solchen Inferenzsemantik kurz erläutern. Die Regel Modus Ponens hat genau zwei Prämissen der Formen A und A → B und eine Konklusion B. Sie sagt uns, wie satzartig formulierte Subjunktionen als Regeln und Regeln als satzartige Subjunktionen zu lesen bzw. zu artikulieren sind.4 Jede Regel mit n Prämissen A0 , . . . , An−1 und einer Konklusion An kann jetzt nämlich explizit gemacht werden durch einen Satz der Form A0 → A1 → · · · An−2 → (An−1 → An ) · · · . Der Gebrauch des Modus Ponens selbst, also der Inferenzregel A, A → B ⇒ B, kann freilich nicht vollständig explizit gemacht werden durch einen Satz oder eine Satzform des Typs A → (A → B) → B , 3 Im Beweis der Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese (Cohen) hat sich diese Baumsemantik z.B. als ein ausgesprochen nützliches technisches Mittel erwiesen. 4 In einem axiomatisch-deduktiven System muss man nur wenige Sätze oder Satzformen (Formeln) zu prämissenfrei herleitbaren Axiomen erklären, wenn man entsprechend viele Grundregeln mit Prämissen annimmt. Man kommt mit dem Modus Ponens als einziger Regel aus, wenn man entsprechend mehr Axiome annimmt.
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ohne schon vorauszusetzen, wie dieser Satz oder diese Form ihrerseits im Kontext der Schlussform Modus Ponens gebraucht wird. Mit anderen Worten, das Inferenzschema Modus Ponens muss empraktisch (Karl Bühler) beherrscht sein, wenn wir Regelpfeile oder dann auch geschachtelte Subjunktionen zur Artikulation von Regeln benutzen. Wie dann auch Sätze der Form für alle x: wenn A(x), dann B(x), oder in Symbolen: (x).A(x) → B(x)., bzw. allgemeiner: (x).C(x)., gegebenenfalls relativ zu gewissen Prämissen als zulässige Inferenzregeln zu lesen sind, ist eigentlich klar. Ein gewisses Problem entsteht dann, wenn man negierte Sätze non-S oder ¬S als ‚Regeln‘ lesen möchte.5 Für uns hier reicht es zu sagen, dass ihre (relative) Zulässigkeit immer auch die (relative) Unzulässigkeit des Satzes S bzw. der entsprechenden Regel ausdrücken soll. Dass in einem axiomatischen System (absolut, d. h. ohne zusätzliche Hypothesen) nicht gleichzeitig S und non-S als herleitbar (und daher als zulässig) gelten soll, bedeutet gerade, dass das System deduktiv bzw. inferentiell konsistent sein soll. Die deduktive Konsistenz ist eine Voraussetzung für die entsprechende Deutbarkeit der Negation als Satzoperator.
3. Empiristische Kritik an metaphysischen Abbildtheorien Schon im Tractatus sieht Wittgenstein, dass tautologische oder formal-analytische und auch alle arithmetischen Sätze deswegen nichts in der Welt der Erfahrung vertreten, abbilden oder darstellen, weil sie nur zulässige Schlussregeln in Satzform artikulieren. Die von ihm selbst skizzierten halbformalen Wahrheitsbedingungen sagen nämlich auch immer nur, wie Aussagen aus logisch komplexen, sozusagen komprimierten, Aussagen auszuwickeln und wie für die komplexen Aussagen auf der Grundlage der einfachen Aussagen Wahrheitsbedingungen 5 Zum Verhältnis zwischen Wahrheitswertfestlegungen in Freges Satzlogik und einer inferentiellen Regellogik vgl. den Artikel „Regellogik/Satzlogik“ im Hist. Wörterb. d. Phil. (Hg. J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel et al.), Bd. 8, 1992.
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festgelegt sind. Das heißt, es handelt sich bei der Logik eher um eine Methode der Stenographie als der Explikation. Man kann mithilfe der Schemata der Logik in wenigen kurzen Sätzen viel sagen.6 Ein axiomatisch-deduktives System jedenfalls ist immer nur als ein System zur Erzeugung von Formeln oder Sätzen aufzufassen. Die Theoreme können immer als Prämissen in Regeln gebraucht werden. Herleitbare Subjunktionen artikulieren, wo der Modus Ponens gilt, direkt zulässige Regeln. Eine Deduktion eines Satzes als solche begründet den Satz aber nicht eigentlich. Sie zeigt nur, dass der deduzierte Satz, das Theorem, als in den Axiomen mitgesagt gilt. Das ganze Deduktionsspiel hätte noch keinen Sinn, wenn nicht wenigstens für einige der hergeleiteten Sätze ein relevanter Gebrauch auch außerhalb der weiteren Verwendung im Deduktionsspiel existierte. In dieser Einsicht bestand eine Hauptkritik des frühen Wittgenstein an den (halb)formalen Theorien der Arithmetik Freges und Russells. Selbst wenn es keine Probleme mit der Konsistenz von Freges Grundgesetzen der Arithmetik und keine technischen Unschönheiten der Russellschen Typentheorie gegeben hätte, ohne Antwort auf die Frage, was sie uns über die reale Rechenpraxis und Mengenbildung sagen und wie sie in diese gegebenenfalls eingreifen, haben solche Systeme nach Wittgenstein noch nicht einmal eine arithmetische Bedeutung. Im Tractatus entwickelt Wittgenstein nun außerdem einen Modellrahmen, der zeigen soll, was zusätzlich nötig ist, um den Weltbezug von Sprache zu klären. Dazu nehmen wir an, dass aus logisch komplexen Sätzen logisch elementare Sätze oder Aussagen herleitbar sind. Sollen diese Aussagen elementare Tatsachen vertreten, also empirisch wahr oder falsch sein, dann können sie dies nur auf der Basis einer gewissen Projektion oder abbildenden Beziehung zwischen Basissatz und erfahrbarer Welt. Nur wenn zumindest einige der aus den komplexen Sätzen herleitbaren Basissätze solche elementaren Konstatierungen sind, haben die komplexen Sätze Sinn in Wittgensteins offiziellem Sinn des Wortes: Sinn haben nur empirisch gehaltvolle Aussagen.7 Wittgenstein sagt nicht allzu viel zu dieser elementaren Form der Vertretung, außer das, dass es sie geben muss. Aber es liegt durchaus nahe, an eine Kontrolle der Projektion in der Wahrnehmung zu denken.8 Nur so erscheint es als möglich, dass eine komplexe Satzmenge 6 In seinem allgemeinen Definitionsformat für Wahrheitsbedingungen kümmert sich Wittgenstein freilich nicht darum, ob die Deduktionsregeln des üblichen Quantorenkalküls gültig werden. Er sorgt nicht a priori dafür, dass Namen an beliebigen Stellen durch andere ersetzbar sind, sondern verlangt für jede derartige Ersetzung, dass extra geprüft wird, ob die entstehende Aussage bedeutungsvoll, ihre Wahrheitsbedingung wohldefiniert ist. Daher deutet Wittgenstein die Quantoren als Operatoren mit Satzformen als Argumenten. Das Funktionsprinzip Freges stellt sich damit als ein Sonderfall eines allgemeineren Falles dar. Genaueres dazu findet sich in P. Stekeler-Weithofer, Grundprobleme der Logik (Berlin 1986), Teil II, und Sinnkriterien (Paderborn 1995), Kap. 8. 7 Kants terminologische Verwendung des Wortes „Sinn“ ist ganz analog. 8 Wenn man weiterhin sagen will, dass die Bedeutung der Sätze bzw. Aussagen und auch der
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oder Theorie erfahrbare Realität ausdrückbar, abbildbar und sogar ‚vorhersagbar‘ macht, und zwar so, dass die dann wirklich wahrgenommene Realität die Theorie ggf. falsifizieren kann. Auch bei Carnap soll die durch eine Humesche Ähnlichkeitserinnerung vermittelte Bewertung von Wahrnehmungsurteilen als wahr oder falsch die Basis dafür liefern, dass komplexe Sätze mögliche Erfahrung artikulieren können und damit eine sprachliche Antizipation der Wahrnehmung möglich machen, eben über die Wahrnehmungsurteile, die sie implizieren. Dabei setzt Carnap die Benennbarkeit von räumlichen Stellen und Zeitpunkten für einen objektiven Weltbezug voraus.9
4. Unbestimmte Bedeutung und unterbestimmte Referenz Eine axiomatische Theorie mit Weltanschluss auf der Ebene von Basissätzen ist seither auch das (metaphorische) Urbild für den Begriff der Überzeugung in der Analytischen Philosophie. Man glaubt, wenn man etwas glaubt, nicht bloß einen einzelnen Satz. Man glaubt, zumindest idealerweise, immer auch alles, was sich aus dem Gesamtsystem der geglaubten Sätze deduktiv ergibt. Dabei definiert man den Begriff des subjektiv-rationalen Glaubens normativ dadurch, dass ich ‚eigentlich‘ darauf festgelegt bin, all das zu glauben, was in meinem expliziten Glauben implizit mitgesagt ist. Wie die Theoreme in den Axiomen scheinen also auch die logischen Konsequenzen in meinem Glauben oder meinen Behauptungen implizit enthalten zu sein. Dabei würde man gern noch weiter unterscheiden zwischen Regeln und Sätzen, die analytisch sind in dem Sinn, dass sie die inferentielle Bedeutung von nicht-logischen Termini oder Wörtern auf situationsund personentranszendente Weise festlegen, und damit ein Sprachwissen bestimmen, und den empirisch gehaltvollen Aussagen, die als Weltwissen immer nur kontingenterweise wahr sind, ob sie in meinem Glaubenssystem enthalten sind oder nicht. Denn nur dann kann man sagen, dass ich die Bedeutung eines Satzes subsententiellen Ausdrücke in ihren inferentiellen Rollen besteht, wird man sagen müssen, dass die Spracheingangsregel, die etwa von einer Anschauung zu einem Bericht führt, eine Inferenz ohne verbale Prämisse ist, während Brandom in MIE von einem nicht-inferentiellen Urteil spricht. Analoges gilt für nichtsprachliche Handlungen als mögliche Sprachausgangsinferenzen oder nichtverbale Konklusionen. 9 „Raum, Zeit und Farbe (Färbigkeit) sind Formen der Gegenstände“, sagt Wittgenstein im Tractatus (2.0251). Dabei steht die „Färbigkeit“ wohl für die gesamte Dimension qualitativer Unterscheidungen. Die Rede von den Formen der Gegenstände ist zweideutig: Erstens gibt es verschiedene Kategorien im empirischen Weltbezug, nämlich Verweise auf räumliche Orte, zeitliche Bestimmungen und Sinnesqualitäten wie Farbigkeit oder gefühlte Härte, zweitens ist zur Bestimmung eines dinglichen Gegenstandes seine Räumlichkeit, Zeitlichkeit und qualitative Wahrnehmbarkeit konstitutiv.
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oder einer Aussage kenne, wenn ich weiß, wie man aus ihr notwendige, analytische, Folgerungen ziehen kann. Wenn wir andererseits annehmen, dass ein Satz A → B oder die zugehörige Regel A ⇒ B zwar empirisch wahr ist, dies aber eine Person P nicht weiß oder glaubt, dann können wir, so scheint es zunächst, nicht sinnvoll fordern, dass P , wenn sie auf die Überzeugung A festgelegt ist, auch auf B festgelegt sein soll. Die Folge dieser Forderung wäre, dass es am Ende nur rational wäre, Wahres zu glauben. Ein derartig objektiver Begriff der Rationalität ist zwar schön, sprengt aber den Begriff des subjektiv-rationalen Glaubens. Andererseits unterminiert Quines Angriff auf den Analytizitätsbegriff die Idee, dass die Bedeutung oder der Inhalt eines Satzes oder einer Aussage durch allgemeine Inferenzen reinen Sprachwissens bestimmt sein könnte, auf die eine Person P selbst dann normativ festgelegt wäre, wenn sie die Regeln der Sprache noch nicht kennt. Nehmen wir dazu einmal an, jemand machte einen Vorschlag zur Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen K und E. Wie können wir den Vorschlag verstehen? Was heißt es zu sagen, dass die (komplexen) Sätze bzw. Inferenzregeln in K aus ‚konzeptuellen‘ oder ‚semantischen‘ und nicht etwa doch eher aus ‚empirischen Gründen‘ gelten oder zulässig sind? Wenn wir als Antwort auf eine Willkürentscheidung rekurrieren müssen, geben wir Quines Kritik an der angeblichen Wohldefiniertheit der Analytizität schon alles zu. Denn eben das ist das Meisterargument Quines in seinem mit Recht berühmten Aufsatz Two Dogmas of Empiricism: Analytische Sätze können nur definiert werden durch eine explizite, mehr oder minder konventionelle, arbiträre, Festsetzung dessen, was als rein verbale Definition bzw. als rein analytische Inferenzregel zählen soll. Das wiederum kann nur heißen, dass unserem Willkürbeschluss zufolge die verbale Inferenzregel nie aufgehoben werden soll, auch wenn die Theorie an der Peripherie der Basissätze mit der Anschauung kollidiert. Nun ist aber nicht einmal klar, welche Sätze man sinnvollerweise so auszeichnen kann. Im Grunde können nämlich nach Quine alle (komplexen) Sätze und Regeln modifiziert werden, wenn es darum geht, empirische Inadäquatheiten zu überwinden. Man könnte sogar auf gewisse Regeln der klassischen formalen Deduktionslogik verzichten – was Quine freilich nicht tut, aber nur, weil er es für inopportun hält. Wir können nach Quine also zwischen materialen bzw. materialbegrifflichen und rein verbalen bzw. analytischen Urteilen nicht anders als aufgrund pragmatischer Erwägungen durch vorläufige und hoffentlich mehr oder minder gemeinsame Stipulation unterscheiden.10 Da es nun in der Normalsprache diese expliziten 10 Im Grund war freilich schon für Carnap die Frage, welche Axiome in einer empirischen Theorie zu wählen sind und wie man zwischen einem empirisch gehaltvollen und einem analytischen Teil einer axiomatischen Theorie (über die Kernregeln für die logischen Zeichen hinaus) unterscheiden möchte, eine am Ende rein pragmatische Frage. Nur die Konsistenz ist, wie gesehen, eine notwendige Voraussetzung, da sonst die Negation nicht sinnvoll verstanden werden kann. Und es ist eine
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Stipulationen gar nicht gibt, ergibt sich aus der Holistik von Spracherwerb und -verstehen eine gewisse Indeterminiertheit von Übersetzungen und Bedeutungen. Die von Quine ebenfalls behauptete Unterbestimmtheit der (empirischen) Referenz unserer Benennungen ergibt sich aus folgender Überlegung: Es ist eine gemeinsame Ansicht der hier diskutierten Ansätze, dass die ‚logische Tiefenstruktur‘ der Sätze der Normalsprache nicht direkt an ihrer syntaktischen Oberfläche abzulesen ist. Sätze, die scheinbar logisch basal sind, können schon daher nicht einfach theoriefrei mit der Wahrnehmung verglichen werden. Ein scheinbar basaler Satz der Form Der Hase da hinten ist weiß hat z. B. schon dem Tractatus zufolge eigentlich eine hochkomplexe logische Form. Die Kennzeichnung ist nämlich entlang der Russellschen Analyse in „On Denoting“ aufzulösen. Man hat sich dieses Verfahren in erster Näherung etwa so zu denken, dass der Satz sagt: Es gibt da hinten genau einen dinglichen Gegenstand, der meine Wahrnehmung einer Hasengestalt verursacht, und dieser Gegenstand ist weiß (und erscheint nicht bloß mir so). Urteile der Form „dies ist ein Hase“ und „dies ist weiß“ sind in dieser Sicht bestenfalls in einer gewissen vagen Lesart des deiktisch-anaphorischen Ausdrucks „dies“ wirklich als logisch elementare Konstatierungen einfacher Tatsachen aufzufassen. Ähnlich werden die Dinge im Logischen Aufbau der Welt skizziert und in Quines Word and Object11 entwickelt. Der Inhalt dessen, was ich sage, wenn ich sage, das, was ich dort sehe, sei ein echter, d.h. dinglicher weißer Hase, erscheint schon als abhängig von einer hochkomplexen holistischen Theorie über Dinge und ihre Wirkungen auf meine Wahrnehmung. Daher kann nach Quine die Referenz von empirischen Benennungen immer nur vage bestimmt sein. Quine entwickelt später unter Berücksichtigung der skizzierten Überlegungen ein Modell für eine sozialbehaviorale oder regularistische Sicht auf den gemeinsamen Sprachgebrauch. Sprache ist eine soziale Kunst. Bei ihrem Erwerb sind wir auf öffentliche Hinweise angewiesen, was wann zu sagen ist. So beginnt Word and Object. Dies hat zur Folge, dass jeder Einzelne im Ausgang von dem beobachteten Sprachgebrauch eine Interpretation des Gesagten, eine syntaktosemantische Tiefenstruktur, zusammen mit einem holistischen Glaubenssystem Voraussetzung, dass es überhaupt einen sinnlichen Gehalt der Theorie geben muss. Sie sollte ja etwas und nicht etwa nichts vorhersagen, und muss daher empirisch widerlegbar sein. 11 W. V. Quine, Word and Object, Cambridge (Mass.): MIT Press 1960; dt. Wort und Gegenstand (Word and Object), Stuttgart: Reclam 1980.
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konstruieren muss. So sieht das jedenfalls Davidson. Dabei muss angenommen werden, dass die meisten Sprechakte rational gemäß den zugeschriebenen Rationalitätskriterien und damit sozusagen intern als inferentiell richtig zu werten sind, da sonst das gesamte Verfahren in der Luft hängt. Die (pragmatische) Richtigkeit der von der jeweiligen Person rekonstruierten Interpretation, qua Theorie, samt der eingebauten Erklärungen von Regelbrüchen, misst sich aber am Ende an ihrem Erfolg in der Kommunikation. Man beachte, dass sich Davidsons interpretative Rekonstruktion von Inferenzformen im Spracherwerb durchaus weiterhin am axiomatisch-deduktiven Modell orientiert – womit implizit regulistische Annahmen in Bezug auf das Format einer schematischen Syntax und eines logischen Inferenzenkalküls gemacht werden.12 Quines Überlegungen sind insoweit richtungsweisend, als sie zeigen, warum es sinnvoll ist, wenn Brandom mit materialen Sätzen als artikulierten Inferenzregeln beginnt und mit Sellars den Ort des Verstehens bzw. des Beherrschens von Sprache im öffentlichen Raum des dialogischen Gebens und Nehmens von Gründen ansiedelt. Nur so lässt sich ein Teil der ursprünglichen Idee einer inferentiellen Semantik bei Frege, Wittgenstein und Carnap trotz Quines berechtigter Bedenken retten. Den ‚objektiven‘ (oder wenigstens ‚intersubjektiven‘) Sinngehalt von Aussagen und Überzeugungen können wir nicht durch den Begriff des analytischen Satzes bzw. der analytischen Regel klären. Der Begriff des Begrifflichen ist jetzt vielmehr immer schon durch ein mehr oder minder gemeinsames generisches Hintergrundwissen mitbestimmt – was nach meiner Lesart auch schon Hegel oder Wittgenstein so sehen. Damit ist nicht etwa die Unterscheidung zwischen begrifflichen und empirischen Aussagen als solche aufgehoben, sondern sie ist als je näher zu klärende Differenzierungsform zwischen dem relativen Status begrifflicher Sätze in Bezug auf genuin empirische Aussagen zu begreifen. Es handelt sich also nicht um eine situationsinvariante Klassifikation ewiger Sätze. Anders als in den Vorgängersystemen kann man in Brandoms wesentlich dialogischem System die in den obigen Überlegungen zum Inhalt einer Überzeugung schon als bedeutsam erkennbaren Perspektiven unterscheiden, nämlich zwischen der subjektiven Festlegung eines Sprechers, den damit gewährten Inferenzerlaubnissen an den Hörer, den Zuschreibungen von Überzeugungen eines Hörers, der selbst möglicherweise auf andere materiale Überzeugungen festgelegt ist usf. Man kann damit auch einsehen, dass und warum eine unmittelbare Wir12 Wie
bei Chomsky ein proto-syntaktisches Lernsystem explizit, so wird bei Davidson im Blick auf die semantische Interpretation ein gewisses Format der Suche nach einer logischen Formanalyse im internen Sinn Tarskis implizit unterstellt. Die Ähnlichkeit der Vorgehens zeigt sich auch in der gemeinsamen These, es gälte, die Kompetenz der Produktion und Interpretation unendlich vieler Aussagen zu erklären. Das ist schon ein Rückfall in eine moderne Variante des Cartesischen Mentalismus.
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Perspektive universaler Rationalität und Wahrheit nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden darf. Vielmehr bestimmt das dialogische System, wie mit den je subjektiven Festlegungen auf Sätze oder Aussagen qua explizierten Inferenzregeln, den zugehörigen Commitments des Sprechers und den dem Hörer gewährten materialen Inferenzerlaubnissen oder Entitlements umzugehen ist.
5. Sprechhandlungstheoretische Semantik Brandoms sprechhandlungstheoretische Semantik geht mit Recht davon aus, dass eine Theorie der Bedeutung, in welcher der Begriff der Intention oder Interpretation, des rationalen Gehalts eines Glaubens bzw. ein ganzes System von logischen und analytischen Regeln schon vorausgesetzt wird, ihr Thema soweit verfehlt, als sie zentrale Grundbegriffe präsupponiert, die es gerade zu klären gilt. Die normative Deutung der inferentiellen Semantik soll außerdem die offenbaren Erklärungsdefizite eines verhaltenstheoretischen Regularismus überwinden. Dieser ebnet am Ende den Unterschied ein zwischen dem bloß animalischen Vermögen, auf äußere Wahrnehmungen und auf ein wahrnehmbares Signalverhalten irgendwie erfolgreich und verlässlich zu reagieren, und dem menschlichen Vermögen des richtigen bzw. falschen Urteilens im begrifflichen, und d. h. zunächst nur: sprachlich verfassten, Denken. Brandom bleibt andererseits mit Recht bei der Grundeinsicht Freges und Wittgensteins, dass die Bedeutung eines Satzes oder einer Aussage und dann auch der subsententiellen Einheiten, der Wörter, über ihre (jetzt: implizit normative) inferentielle Rolle in (konstativen) Sprechakten bestimmt ist. Das gilt für alles, was wir als die Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Äußerung ansprechen wollen. Dabei gibt es implizite Normen des Richtigen. Es gibt sie nach Art eines empraktischen Wissens, wie etwas zu tun ist. Ein solches Können im Verhältnis zu seiner Explikation haben wir am Beispiel des Modus Ponens oben schon kennengelernt. Generell gilt: Wer eine Aussage macht, übernimmt eine diskursive Begründungsverpflichtung und gewährt eine Inferenzerlaubnis an den oder die Dialogpartner. Der Inhalt der Aussage ist daher durch implizit normative Commitments und Entitlements konkret bestimmt. In möglichen Diskursen des Erfragens und Gebens von Gründen wird dies explizit. Dabei können die Berechtigungen immer auch durch Aussagen bedingt sein, für welche ggf. andere Personen die Verantwortung übernehmen. Um festzuhalten, welche der je übernommenen Begründungsverpflichtungen in einem laufenden Dialog schon abgegolten, welche Fragen noch offen sind, zu welchen Inferenzen ein Dialogpartner durch den anderen ermächtigt war und welche er selbst noch zu verteidigen hat, verweist Brandom auf einen Vorschlag von David Le-
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wis. In dem Aufsatz „Scorekeeping in Language Games“ entwickelt dieser einen Rahmen für eine explizite Notation von Spielständen, vorgeführt am Beispiel des Baseball.13 Zentral ist dabei die ‚Kinematik‘ regelkonformer Spielverläufe. Bei Lewis wird sie durch eine ‚Spielfunktion‘ repräsentiert. Wenn wir Details der allgemeinen Form beiseite lassen, können wir die Idee an folgendem Beispiel skizzieren: Ich verspreche dir, morgen zu kommen, unter der Voraussetzung, dass du mich vorher anrufst. Was es heißt, die Punktestände zu verfolgen, lässt sich grob so erläutern: Fall 1: Du rufst mich nicht an. Das ist zulässig. Dann bin ich zu nichts verpflichtet und mein und dein Punktestand in Bezug auf Verpflichtungen bleiben ausgeglichen. Fall 2: Du rufst mich an. Auch das ist zulässig. Solange ich dann nicht gekommen bin, ist eine Verpflichtung noch offen, ich bin dir noch etwas schuldig. Wenn ich aber komme, ist mein Punktekonto wieder ausgeglichen. Inferentielle Übergänge auf der Ebene der Begründungsverpflichtungen eines Proponenten („wer A sagt, muss auch B sagen“) und auf der Ebene der gewährten Behauptungserlaubnisse („wer unter gewissen Bedingungen A sagen darf, darf auch B sagen“) sind dabei zu unterscheiden.14 Außerdem wird unterstellt, dass für manche Aussagen eine gewisse Inkompatibilität (personenunabhängig?) definiert ist („was A ist, ist nicht B“). Die Logik dient dabei der expliziten Artikulation von impliziten Normen des Schließens. Wenn man z. B. von A materialinferentiell zu B unter Bedingungen D, E, . . . übergehen kann, machen wir dies dadurch explizit, dass wir unter den Bedingungen D, E, . . . erlauben, zur Aussage A → B überzugehen. Die Negation ¬A artikuliert eine Inkompatibilität: A ergibt sich inferentiell aus allem, was mit A material inkompatibel ist.15
6. Gegenstand, Eigenschaft und ‚Objektivität‘ In einem bloß konstruktiven Aufbau der formalen Logik werden Fragen, wie sie Frege am Beginn seiner Begriffsschrift gestellt hatte, gewissermaßen vergessen: 13 D. Lewis, Philosophical Papers I, Oxford: Oxford Univ. Pr. 1983, 233–249. Zur entsprechenden Kontrolle von Festlegungen und Berechtigungen vgl. auch AR 190 (BB 246). 14 Zu den festlegungserhaltenden und den berechtigungserhaltenden Inferenzen vgl. auch AR 135 (BB 178), Anm. 14, und AR 194 (BB 252). 15 Ob das als Erläuterung ausreicht, ist übrigens fraglich. Wer ¬A glaubt oder behauptet, muss nach üblicher Auffassung auf entsprechende Nachfrage inkompatible B, C nennen und zeigen, dass er auf die Zulässigkeit der durch A → B und A → C explizit gemachten Inferenzen festgelegt ist. Doch ist damit noch nicht festgelegt, zu welchen Schlüssen ein Hörer berechtigt wird, wenn ein Proponent für ¬A eintritt.
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Wie und warum sind Sätze gemäß gewissen Substitutionsverfahren in Satzteile und Wörter gegliedert, etwa in die schon von Platon in ihrer allgemeinen Bedeutsamkeit erkannten Grundbestandteile der Nominalphrasen und der Verbalphrasen? Welche besonderen inferentiellen Rollen spielen singuläre Terme oder Benennungen im Satz und warum brauchen wir sie? Die Fragen betreffen den Grund für die ‚Universalität‘ der logischen Zweiteilung der Sätze in Namen bzw. Benennungen und Prädikate bzw. Satzrahmen. Brandoms Antwort folgt der von Frege am Beginn der Begriffsschrift freilich bloß skizzierten Überlegung. Sie ist, grob zusammengefasst, diese: Nicht weil es (etwa dingliche) Gegenstände, Eigenschaften und Relationen zwischen den Gegenständen gäbe, die es unterschiedlich zu repräsentieren gilt, gibt es singuläre Terme im Unterschied zu den Prädikaten, sondern um folgende Differenz zwischen inferentiellen Strukturen verfügbar zu haben: Wenn für alle (relevanten) Kontexte A(x) eines Redebereichs eine Benennung t durch t0 substitutiert werden kann, und zwar so, dass der Übergang von A(t) zu A(t0 ) zulässig ist, gilt auch die umgekehrte Erlaubnisinferenz von A(t0 ) zu A(t) und damit die Gleichheit t = t0 (freilich nur relativ zu dem betrachteten Redebereich). Eine Aussage A(t) hat nämlich nur Sinn, wenn es im Redebereich inkompatible Aussagen gibt, so dass die Satzverneinung ¬A(t) definiert ist. Durch die Verwandlung des Satzrahmens in ein kom plexes Prädikat, das als solches in der Form „λx ¬A(x) “ notierbar ist, lassen sich Prädikatkomplemente definieren, die für die oben genannte Umkehrung der Erlaubnisinferenz verantwortlich sind. Das kann man sich relativ leicht klar machen. Wenn dagegen für zwei gegebene Satzrahmen A(x) und B(x) und für jede Benennung t die Erlaubnisinferenz von A(t) nach B(t) gilt, gilt die Umkehrung nicht notwendigerweise: Die Extension des zugehörigen Prädikats „λx A(x) “ ist damit ja nur erst als Teil von λx B(x) erwiesen. Wir brauchen also zumindest die logische Kategorie der singulären Terme und der Prädikate, ferner die Satzoperatoren der Verneinung und Subjunktion und schließlich den Prädikatoperator des Allquantors, um logisch komplexe Inferenzen, logisch komplexe Prädikate und die zugehörigen Klassifikationen in einem Bereich von Benennungen explizit machen zu können. Wie im Grunde schon bei Kant wird damit bei Frege und Brandom jede ‚ontologische‘ Frage nach dem Bereich von Gegenständen, über den man redet, zur Frage nach der sprachlogischen Konstitution eines zugehörigen Bereiches von relevanten Aussagen und Benennungen. Diese definieren eine Klasse bereichsadäquater Prädikate und eine zugehörige Gleichheit. Gegenüber einer Bewertung von Sätzen oder Aussagen nach wahr und falsch wie bei Frege favorisiert Brandom allerdings, ganz wie die intuitionistische Tradition von Brouwer bis Dummett, Normen und Regeln der inferentiellen Vertretbarkeit von Aussagen – relativ zu dem, was andere Dialogpartner zu vertreten haben.
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Die Frage, worauf eine Benennung objektiv referiert bzw. wovon ‚in Wirklichkeit‘ die Rede ist, wird bei Brandom zur Frage nach den Perspektiventransformationen der je von Personen verantworteten Identitätsurteile zwischen (ggf. deiktisch-anaphorischen) Benennungen, die ihrerseits entsprechende Substituierbarkeiten in inferentiellen Festlegungen, Berechtigungen oder interpretativen Zuschreibungen artikulieren. Unter den Titeln eines ‚sozialen Wegs vom Begründen zum Repräsentieren‘ und „Objektivität und normative Feinstruktur“16 entwickelt er einen durchaus noch ganz formalen, d. h. noch nicht notwendigerweise empirischen, Begriff der Objektivität, und zwar im Wesentlichen auf folgende Weise: Eine Aussage der Form A(t) ist in Bezug auf die Erlaubnis inferentieller Substitutionen durch andere mögliche Terme t0 (oder besser: durch andere ggf. auch situationsabhängige Benennungen einer zu A passenden Kategorie) zunächst abhängig von der Festlegung des Sprechers, seiner ‚Intention‘ oder ‚Meinung‘ (bzw. von der entsprechenden Zuschreibung durch einen Kommentator). Dabei ist das Vorkommen von t im noch ‚opaken‘ Modus de dicto zu lesen, und das heißt eben, dass beim Verständnis zu berücksichtigen ist, zu welchen substitutionellen Inferenzen sich der Sprecher selbst festlegen ‚möchte‘. Wir sind damit an die subjektiven Glaubenssysteme erinnert und an Quines Betrachtungen zu den verschiedenen Perspektiven und zur Quantifikation in obliquen Kontexten.17 Die transparente(re) Lesart de re entsteht daraus, dass nicht der Sprecher, sondern (auch) die Hörer (und am Ende alle möglichen Hörer) in ihren Zuschreibungen darüber urteilen, worauf sich jener ‚eigentlich‘ festgelegt hat. Was dies bedeutet, wird in reflektierenden Aussagen explizit, wenn wir nämlich den Fall, in dem wir von einer anderen Person P sagen, dass sie glaube, Bacon habe die Dramen Shakespeares geschrieben, mit dem Fall vergleichen, dass sie von Bacon glaubt, er habe Shakespeares Dramen geschrieben. Wenn wir von Bacon de re reden, überspringen wir, um mit Brandom zu sprechen, die doxastische Kluft zwischen Sprecher und Hörer: Was der Sprecher als besondere Person glaubt, wer Bacon sei, ist irrelevant für die erlaubten Substitutionen im de-re-Kontext. Entscheidend ist, was wir als Hörer bzw. ‚Kontrolleure‘ für substituierbar erklären. Damit wird über den Wechsel von der Selbstfestlegung der Sprecher zu ‚unserer‘ Zuschreibung erklärt, was es heißt zu sagen, dass eine Aussage ‚in Wirklichkeit‘ von x, nicht von y handelt. Jede Analyse der Realreferenz singulärer Terme hat in der Tat die relevanten Perspektivenwechel angemessen zu berücksichtigen, denn „jeder beurteilt die inferentiellen Richtigkeiten aus einer zumindest minimal anderen Perspektive. 16 AR/BB
Kap. 5 und 6.
17 Es war ja Quine gewesen, der mit Nachdruck auf die besondere Bedeutung des Leibniz-Prinzips
der Identität und der de-re-Formen des Redens über etwas, der ‚Aboutness‘ bzw. der referentiellen Transparenz hingewiesen hat. Cf. Word and Object, Kap. 3, bes. §§ 19, 24, 30, 49. Vgl. dazu auch BB 223 und BB 162 ff.
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[ . . . ] Die repräsentationale Dimension der propositionalen Gehalte reflektiert die soziale Struktur ihrer inferentiellen Gliederung“.18 Damit entwickelt Brandom den Ansatz aus Quines Word and Object entlang einer Linie, die nach meinem Urteil den Kern von Hegels Wesenslogik ausmacht. Die wesenslogische Referenz de re ist nämlich ein reflexionslogischer Begriff. Sie betrifft die Form unserer Rede von einem eigentlichen oder objektiven Bezug einer Benennung oder (nominalisierten) Aussage und damit auch die Begriffe des rationalen Inhalts und der Wahrheit einer Proposition. Ein solcher objektiver Bezug ergibt sich aus je unserer Unterstellung von Festlegungen dafür, was, wie wir emphatisch sagen, ‚in Wirklichkeit‘ zu identifizieren und zu unterscheiden wäre.19 Wir nehmen also immer selbst Stellung, wenn wir sagen, dass objektiv über diese oder jene abstrakte oder konkrete Gegenstände – im Fall gewisser nominalisierter Propositionen: über entsprechende Sachverhalte oder Ereignisse – gesprochen werde. Dabei fällen wir aber immer nur ein aus unserer Sicht perspektivenübergreifendes (‚gemeinsames‘) Reflexionsurteil. Wir sagen, was (ggf. in Bezug auf eine mehr oder weniger klar unterstellte und mehr oder weniger vage explizierte Differenzierungs- und Inferenzpraxis) nach unserem Urteil zu unterscheiden ist, und was nicht. Nun sagen aber der allgemeine reflexionstheoretische Gebrauch von Wörtern wie „wirklich“ oder „objektiv“ und die de-re-Form des Redens-von-etwas, wie sie Brandom erläutert, per se noch überhaupt nichts dazu, wie wir auf eine empirische Wirklichkeit Bezug nehmen können. Denn die Unterscheidung zwischen einer Aussage de re und einer de dicto ist ganz formal. Sie betrifft eine (je nach unserem Urteil) richtige Bezugnahme auf abstrakte, fiktionale oder sogar fiktive Gegenstände ebenso wie eine auf Objekte empirischer Wahrnehmung. Ich kann z.B. fälschlicherweise von Rübezahl glauben, er sei jemand anderer als Krakono˘s. Brandoms rein formale Analyse des Perspektivenwechsels vom Sprecher zum Hörer wäre daher zumindest zu ergänzen durch eine Analyse der besonderen Formen des Perspektivenwechsels im deiktisch-anaphorischen Anschauungsbezug und damit der transzendentalen oder präsuppositionalen Verfassung der Rede über konkrete Dinge in der sinnlich kontrollierten Erfahrung, wie sie etwa John McDowell in der Nachfolge Kants entwickeln möchte.20 Darüber hinaus ist folgende Begrenzung von Brandoms bloß wesenslogischem Begriff der Objektivität zu beachten. Zwar ist jeder reale Wissensanspruch auf ein konkretes Wir und damit unter anderem auch auf eine Zeit oder Epoche bezogen. Wir appellieren aber immer auch an die Idee absoluter Wahrheit, welche 18 BB
237; AR 183. dazu P. S.-W., Hegels Analytische Philosophie, Paderborn 1992, Kap. III, 1.31, Kap. IV, 0.3, 0.4, 1.1 ff. 20 J. McDowell, Mind and World, Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Pr. 1996. 19 Vgl.
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die gemeinsame Weiterentwicklung des Realwissens und der Realbegriffe leitet. Wir tun dies zum Zweck einer relativismuskritischen Selbstplatzierung unserer je eigenen, endlichen, Wissensansprüche. Diese universalisierende Idee kann ohne eine Analyse der Sprachform der Ideation, in der wir selbst unsere eigenen Ideale explizieren, nicht zureichend begriffen werden. Brandoms bloß reflexionslogische Analyse der Objektivität kann daher noch gar nicht unterscheiden zwischen einem bloß faktischen Wir mit unseren zwar normativen, aber realen, Anerkennungen oder Nicht-Anerkennungen in argumentativen Dialogen und einem idealen Wir der Menschheit im normativ und ideal bestimmten Projekt der Vernunft, an welches Kant und Hegel appellieren, wobei der letztere die Form dieses Appells in der von ihm so genannten Logik des Begriffs zu explizieren versucht.
7. Rückkehr zum Sozialbehaviorismus? Aufgrund unserer Deutung von Brandoms Überlegungen als Antwort auf Probleme der internen Deduktionssemantik der Carnap-Tradition, des holistischen Inferenzdispositionismus bei Quine und der Interpretationssemantik Davidsons können wir jetzt fragen, ob seine Antworten nicht doch zu analogen Problemen zurückführen. An einem Vergleich mit der Dialogischen Logik Paul Lorenzens und Kuno Lorenz’21 kann man ein derartiges Problem der Idee des Scorekeeping relativ schnell aufzeigen. In der Dialogischen Logik ist nämlich für den speziellen Fall der Bedeutung der logischen Worte in allen Details ausgearbeitet, wie der spiel-, der gebrauchs- bzw. der begründungstheoretische Sinn junktoren- und quantorenlogisch zusammengesetzter Aussagen durch Festlegung von Regeln für zulässige Züge und erfolgreiche Enden in ‚Argumentationsspielen‘ bestimmt werden können. Brandom möchte zwar nicht mit derartigen expliziten Regeln und Spielfunktionen, sondern mit empraktisch schon im Gebrauch befindlichen materialen Inferenzen beginnen, weil nur dann das so wichtige Verhältnis zwischen der expliziten Artikulation und der impliziten Form und Norm, die expliziert wird, in den Blick kommt. Für die folgende Überlegung macht dieses jedoch nach meinem Urteil keinen Unterschied. Die Befolgung der Regeln der Dialogspiele ist nämlich gar kein Geben und Nehmen von Gründen. Die Dialogspielregeln sind rein schematische Regeln, 21 K. Lorenz, P. Lorenzen, Dialogische Logik, Darmstadt: Wiss. Buchg. 1978. Ähnlich wie in Gentzens System des natürlichen Schließens bzw. in dem auf den Kopf gestellten Sequenzenkalkül, das auch in Dummetts und Brandoms pragmatischen Ansatz Pate steht (vgl. MIE 116–125), werden halb- und vollformale Inferenz- und Begründungsregeln für logisch komplexe Sätze über feste Regelschemata definiert.
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welche einen deduktiven Umgang mit logischen Konnektiven und Quantoren explizit normieren.22 Ob daher ein Spielen gemäß den Regeln des Scorekeeping im Stil von David Lewis wirklich ein Geben und Nehmen von Gründen sein kann, ist in ganz analoger Weise fragwürdig. Es könnte nämlich sein, dass es in echten Begründungen eher darum geht, an neu vorgeschlagenen Praxisformen – man denke sie sich pars pro toto als eine Art Arbeitsteilung – gemeinsam teilzunehmen, und nicht etwa darum, mehr oder minder schematisch zu überprüfen, ob gewisse Sprechhandlungen und andere Handlungen in einer irgendwie implizit als richtig bewerteten Weise aufeinander folgen, ob also die inferentiellen Handlungsabfolgen schematisch richtig ausgeführt wurden. Wenn wir das Scorekeeping aber nicht auf eine fixe Norm der rechten Kontrolle beziehen, besteht die ‚Normativität‘ der entsprechenden Verpflichtungen und Erlaubnisse möglicherweise nur noch darin, dass sich der jeweilige Scorekeeper aufgrund seines komplexen Buchführungsverhaltens jeweils mit dem faktischen Verlauf der Interaktionen, also mit dem, was geschieht, zufrieden gibt oder nicht. Das kann nicht die intendierte Lesart sein. Es fragt sich daher, ob das Scorekeeping nicht insgesamt verschleiert, dass die besondere Existenzweise von Formen des Handelns und Formen gemeinsamer Praxis, auch der begrifflichen Differenzierungen und Inferenzen mit den entsprechenden Begründungsverpflichtungen und Inkompatibilitätsurteilen, am Ende doch noch nicht zureichend geklärt ist. Denn die Normen, welche eine solche Praxis leiten, existieren im Raum gemeinsamen Handelns, nicht im bloß reziproken Deuten und Sanktionieren, freilich erst recht nicht in einem bloßen kollektiven Verhalten. Der Versuch, diejenigen Elemente des logischen Empirismus in gewissem Sinn zu retten, in denen es um die Kritik an einer naiven oder unverstandenen Korrespondenztheorie der Wahrheit geht, und zwar durch eine angemessene Berücksichtigung der Paradoxien explikativer Analyse, ist als solcher dennoch weiter zu verteidigen. In Brandoms Bild einer normativen und dialogischen inferentiellen Semantik erhalten z.B. das logische Vokabular und die entsprechenden Regeln ihren angemessenen Platz: Sie erlauben es, implizite Normen einer inferentiellen Urteils- und Begründungspraxis explizit und damit besser kontrollierbar zu machen. Das erwähnte Paradox der Analyse besteht darin, dass explizierte Regeln etwas anderes sind als implizite, praxisleitende, Normen. Regeln gibt es, so würde ich zur Unterscheidung dieser Sphären sagen, wo es Regelausdrücke gibt und eine implizite Praxis der kontrollierten Befolgung von Regeln, also implizite Normen der richtigen Regelausdrucksanwendung. Wenn explizite Regeln implizite Normen explizit machen, ändern wir den impliziten Umgang mit die22 Der Versuch, in einem Dialogspiel zu gewinnen, ist per se kein Begründungsversuch einer These, was Friedrich Kambartel als erster gesehen hat. Vgl. dazu den dritten Teil meiner Grundprobleme der Logik, Berlin: de Gruyter 1986, wo auch auf die einschlägige Literatur verwiesen wird.
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sen Normen dadurch ab, dass er durch den impliziten Umgang mit der expliziten Regelartikulation ersetzt oder wenigstens begleitet wird. Gerade dadurch, dass alles scheinbar komplizierter wird, weil wir jetzt auch noch den Umgang mit den Explikationen beherrschen müssen, kann das Handeln besser gemeinsam kontrollierbar und (selbst)bewusster werden.23
8. Explikation vs. Explanation Im Vergleich zu den üblichen behavioralen Verlässlichkeitstheorien der Richtigkeit24 erreicht Brandom in jedem Fall ein höheres Niveau des Verständnisses dessen, was individuelle (Sprech)Handlungen möglich macht, nämlich die Teilnahme an Praxen. Bedeutung, Referenz und Wahrheit sind auch nicht, wie bei Quine, in einer bloßen sozialen Verhaltenstechnik des Gebrauchs von Symbolen fundiert, sondern in einem komplexen Anerkennungs-, Festlegungs- und Zuschreibungshandeln zusammen mit einem spiegelbildlichen Widerspruchs-, Kritik- und Sanktionshandeln von Dialogpartnern in Bezug auf materiale Inferenzen. Insgesamt geht es Brandom also, versuchsweise gesagt, um die folgende These: Die Existenzform des Geistes ist sozialhistorisch. Dabei hängt alles davon ab, wie diese These verstanden wird. Es gilt nämlich folgende Differenz zu beachten. In einer transzendentalphilosophischen Explikation oder Rekonstruktion der methodischen Ordnung gestufter Kompetenz des impliziten Handelnkönnens und der expliziten Reflexion auf Handlungsformen sehen wir, wie individuelle Intentionalität abhängt von einer gemeinsamen Kultur. Dazu bedarf es keiner Explanation der möglichen Genese humaner Handlungsformen im Großen, und auch keiner explanativen Lerngeschichte im Kleinen. Eine präsuppositionale Rekonstruktion kulturgeschichtlicher Explikationsschichten verlässt den Bereich des menschlichen Handelns an keiner Stelle. Sie bleibt im Bereich individueller und gemeinsamer und dabei immer auch schon mehr oder minder explizit kontrollierter Intentionalität und Normativität. Eine Erzählung der Genese von Intentionalität und Normativität tut aber gerade dies nicht. Dabei stellt Brandom nach meiner Deutung die These ins Zentrum seiner Überlegung, dass die Sanktionstheorie des Normativen und die normative 23 Es gibt dabei allerdings auch eine Gefahr. Sie besteht darin, dass bei bloß schematischem Umgang mit einer explizit gemachten Regel, d.h. ohne dauernden Rückbezug auf die implizite Praxis, eine explizite Regel unter Umständen weniger differenziert als die implizite Norm. Daher ist auch die These Montagues falsch, dass es keinen theoretischen Unterschied zwischen formalen und natürlichen Sprachen gäbe. 24 Zur Kritik an Dretske, Fodor und Millikan vgl. z.B. BB 144 ff; AR 109 ff, bes. Anm. 8.
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Theorie des inferentiellen Gehalts von Sprechhandlungen den Vorzug haben, anschlussfähig für eine evolutionäre Erzählung zu sein. Um das Problem dieser These zu sehen, betrachte ich den analogen Fall von Carnaps ‚Physikalismus‘. Dieser hatte ja der Neurath–Reichenbach-These, dass die physikalische Sprache und die Forschungspraxis der Physik – und nicht etwa das in seinem Gehalt erst noch zu bestimmende Wortpaar „Begriffsanalyse“ und „sinnliche Erfahrung“ – die Basis jeder ‚wissenschaftlichen‘ (oder vielleicht doch besser philosophischen?) Sinn-Kritik sein müsse, zumindest verbal nachgegeben. Quines Angriff auf den Begriff des Begrifflichen scheint diese Wende zu besiegeln. Eine ihrer Folgen ist, dass es ab jetzt nicht mehr zum Programm der Analytischen Philosophie gehört, alle dogmatische Metaphysik mit den Mitteln der Sinnexplikation zu kritisieren. Die wichtigste Ausnahme ist der Glaube daran, dass die naturwissenschaftliche Methode und die Sprache der Physik, die Mathematik, das allgemeine Muster jeder strengen, klaren und deutlichen, Begründung und die Basis jeder echten Wahrheit lieferten, auf die man alle anderen vermeintlichen Wahrheiten zurückführen müsse. Unabhängig von der Frage, auf welche enge Vorstellung von Begriffsanalyse und sinnlicher Erfahrung im Empirismus diese Wende reagiert, ist sie selbst in ihrer Dramatik für die Analytische Philosophie, oder wenigstens für große Teile derselben, nicht zu unterschätzen. Denn diese war ja als Projekt der Kritik an Verhexungen des Verstandes angetreten, mit der Zielstellung, Sinn und Sinnmangel von Ausdrucksformen auf der Basis logisch-empiristischer Sinnkriterien zu explizieren. Das Programm enthält auch die Kritik an Fällen, in denen eine in ihrem je begrenzten Sinn berechtigte Sprachform nicht angemessen verstanden oder beherrscht wird, etwa indem sie über ihren Sinnbereich hinaus, transzendent, ausgedeutet wird. Das könnte z.B. auch für die Physik und für die von ihr und anderen Wissenschaften gebrauchten mathematischen Modelle oder formalen Theorien gelten. In dem neuen Programm der Verteidigung des physikalistischen Weltbildes und einer entsprechend ausgedeuteten Einheit der Wissenschaften findet nun aber diese kritische Reflexion keinen Platz mehr. Da das Leitbild ‚wissenschaftlicher‘ Erklärungen inzwischen von der Physik auf die Biologie übergegangen ist, spreche ich von „Szientismus“ und verwende das Wort „szientistisch“, um auf irgendeine der Leitbildbestimmungen szientifischer Erklärungen hinzuweisen. Mit der Verwendung von Wörtern wie „Wissenschaft“ und „wissenschaftlich“ ist nach meiner Deutung die Verpflichtung zur kritischen Explikation der Grenzen dessen enthalten, was man in der jeweiligen Wissenschaft leisten kann. Die Reduktion von Wissenschaft auf die szientifische Explanation, wie sie in der Bedeutungsverengung des englischen Worts „science“ dokumentiert ist und die üblicherweise einhergeht mit der szientistischen Forderung, jede ‚echte‘ szientifische Explanation müsse sich in ein bestimmtes Format bringen lassen, ist daher nicht als
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kultureller Fortschritt zu werten. Das zeigt, um es so drastisch wie möglich zu sagen, dass und wie Teile gerade auch der Analytischen Philosophie zu einer Art Glaubensgemeinschaft geworden sind. Brandoms Ansatz ist erfreulicherweise viel vorsichtiger. Er sieht zum Beispiel, dass alle direkten Reduktionstheorien geistiger Kompetenzen, die aus der genannten Wende der Analytischen Philosophie hervorgegangen sind, schon daran scheitern, dass sie die implizite, sozial- und kulturhistorische Existenzweise der Normen und Formen des Handelns und Sprechhandelns nicht angemessen berücksichtigen und daher den Status explikativer logischer Analysen, etwa auch in theoretischen Modellen, verkennen. Das, was wir „geistige Fähigkeiten“ und, in stenographischer Abkürzung, „Geist“ nennen, besteht in der Möglichkeit der Teilnahme an einer Praxis des begründeten Urteilens. Es besteht in der Fähigkeit der Menschen, auf Welt richtig oder falsch Bezug zu nehmen oder richtig oder falsch zu handeln. Dabei ist das Sprechhandeln ein besonderes Handeln, das aber mit allem Handeln eng verwoben ist. Die basale Existenzweise der Richtigkeiten und Falschheiten im (Sprech-) Handeln kann immer nur empraktisch, im Kontext des gemeinsam bewerteten Vollzugs der Praxis, voll begriffen werden, was auch Wittgenstein betont. Die Normen des Richtigen existieren in der Praxis einer Tradition sozial geformten Handelns. Sie sind vermittelt über ein Lehren und Lernen. Dieses stützt sich, wie Brandom gewissermaßen im Nachgang zu Wittgensteins Rede von einer Abrichtung sagt, sowohl ontogenetisch (im Fall des Einzelnen) als auch phylogenetisch (im Fall der Entwicklung von Normen) auf interne und externe Sanktionen. Intern sind Sanktionen, die in der gemeinsamen Handlung etwa in der Form des verbalen Lobs und Tadels schon mitgegeben sind. Extern sind Sanktionen, wenn bei der primären Abrichtung relativ unmittelbare Wünsche bei normwidrigem Verhalten gezielt frustriert oder in positiver Verstärkung zielgerichtet erfüllt werden. Am Ende erhalten wir folgende Explikationslinie: Sätze machen Regeln explizit. Regeln, insbesondere logische Regeln, machen implizite, sozial normierte, Inferenzformen des rationalen (begründeten oder richtigen) sprachlichen oder nichtsprachlichen Handelns explizit. Normen sind instituiert im Rahmen einer Praxis impliziter und expliziter Sanktionen, welche ein gewisses Basismaß an sozialer Normerfüllung garantieren und deren Existenz gerade die Existenz der betreffenden impliziten, empraktischen Norm oder Richtigkeit anzeigt. Die zentrale Frage ist nun, wie die so dargestellte Existenzweise von sinn- und geltungsbestimmenden Inferenznormen in einer sozialhistorischen Kulturgeschichte zu begreifen ist. Denn jetzt tritt auf höherer Ebene die Spannung zwischen einer transzendentalen und einer explanatorischen Erklärung erneut auf. Gemeint ist die Differenz zwischen einer immanenten, an der Verbesserung unseres Selbst-
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verständnisses interessierten, Analyse oder Explikation humaner Praxisformen einerseits, einer Erklärung der historischen Genese von solchen Formen andererseits. Hegel, auf den sich Brandom gern berufen möchte, betreibt nach meiner Deutung ein Projekt der Erweiterung der transzendentalen und präsuppositionsanalytischen Reflexion auf die Geschichte. Es geht um eine rationale Nachkonstruktion von Stufen historischer Entwicklung von Praxisformen. Heidegger, viel weniger optimistisch als Hegel, betreibt im selben Denkrahmen ein Projekt des kritischen Abbaus von Schichten kulturhistorischer Selbstmissverständnisse bei der Kommentierung und Explikation unserer eigenen Projekte, wie sie sich z.B. im antiken Platonismus, im Cartesianismus und dann in anderer Form im modernen Szientismus zeigen. Jede derartige Rekonstruktion oder Dekonstruktion einer Entwicklung von Begriffen – im Sinne von ganzen Systemen von Formen und Normen einer Praxis unter Einschluss der expliziten Artikulation eines gewissen Teils der Normen durch Prinzipien und Regeln und damit auch der Kompetenz des begreifenden Denkens und des individuellen und gemeinsamen Handelns – ist transzendental und eben damit gegenwartszentriert. Wir gehen aus von unserem Können und Verstehen und rekonstruieren gewisse historische Entwicklungsstufen als Voraussetzung höherer Kompetenz (Hegel) oder tieferer Selbstillusion (Heidegger). Brandoms Programm dagegen ist in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Explikation und Explanation so ambivalent wie der Pragmatismus von John Dewey oder Richard Rorty. Das Problem ist, dass die Einbettbarkeit einer explikativen Analyse der Entwicklung von Kulturformen in einen evolutionstheoretischen Darwinismus als Adäquatheitskriterium angesehen wird. Dies scheint ein Bekenntnis zur empirischen Realität zu sein, ist aber nicht anders als die Grundsätze des Szientismus aprioristisch. Demgegenüber besteht der vermeintliche Apriorismus von Kant über Hegel bis zu Heidegger, wenn man deren Programm recht begreift, nur in der Anerkennung, dass jeder Wissens- und Verstehensanspruch sich im Hier und Jetzt auszuweisen hat. Dies ist der Ort, wo die in den betreffenden Ansprüchen enthaltenen Versprechen einzuhalten sind. Das aber bedeutet, dass die Formen und Normen unseres Wissens und Könnens, die Kriterien unserer Richtigkeit und Wahrheit vorausgesetzt sind. Billiger als über diese Deutung des transzendentalen ‚Apriorismus‘ Kants in der Rekonstruktion von Formen des Verstehens ist eine nicht-subjektivistische Immanenzphilosophie der Erfahrung einfach nicht zu haben. Der vermeintliche Anti-Apriorismus der empiristischen und der pragmatistischen Tradition verdeckt dagegen die Tatsache, dass er selbst schon eine dogmatische Vorbeurteilung der Situation des Menschen in der Welt und einen utopischen Blick von Nirgendwann und Überall unterstellt. Das Problem zeigt sich in der Doppelrolle, die der Begriff der Sanktion in Brandoms Bild spielt. Als internes Sanktionshandeln sind Sanktionen Folge-
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handlungen im Rahmen der Kontrolle der Einhaltung relevanter Normen, etwa von Commitments. Ein Beispiel ist die zu jeder Norm und Form gehörige mögliche positive und negative Kritik des Lobes und des Tadels. Dieses Sanktionshandeln hat selbst wieder Normen des Richtigen und Angemessenen zu erfüllen. In Brandoms Darstellung soll sich nun aber das entwickelte Sanktionshandeln aus einem primitiveren Sanktionsverhalten entwickeln, in dem ursprünglich bloß eine gewisse Konformität des Verhaltens der Individuen in einer Gruppe kontrolliert wird.25 Damit sollen wir nach Brandom sehen, wie sich aus der Lebenswelt der Tiere, genauer, der Primaten, eine besondere Form der kontrollierten Sanktionen und damit einer Normativität des inferentiellen Verhaltens hat entwickeln können.26 Diese Einbettbarkeit des Bildes in eine darwinistische Theorie der Naturevolution wird als Vorzug der Theorie ausgegeben, ohne dass die Probleme einer solchen Einbettung thematisch würden. Eine Beurteilung des Status historischer Erklärungen, wie sie in der Evolutionstheorie gegeben werden, wäre nämlich selbst ein Teil kritischer Sprachformanalyse. Wenn man daher sagt, dass nur solche explikativen Theorien angemessen sind, die explanativ in ein darwinistisches Erklärungsprogramm passen, ist das schon eine dogmatische Immunisierungsstrategie. Die Umkehrung ist richtig: Jede Naturgeschichte muss kohärent kohärent mit dem sein, was wir heute wissen und können. Bei der Evolutionstheorie handelt es sich um eine historische Erklärungsform, nicht um unmittelbar in der Anschauung kontrollierbare ‚Tatsachen‘ einer Natur oder Welt ‚an sich‘. Jede nicht auf die typischen Fälle des Überlebens von Arten hinausgehende Anwendung dieser Form ist eine Metapher und bedarf einer genauen Begründung. Der Status der Naturgeschichte als erzählte Geschichte ist also selbst nur im Blick auf eine themenspezifische Ausdifferenzierung unserer Darstellungsformen zu begreifen. Wenn man die Bedeutung dieser Tatsache übersieht, wird jedes rechte Verständnis der Einheit von Kultur und Natur in einem gemeinsamen Begriff von Welt unmöglich. Brandoms Einsicht in die dogmatische Leere einer Korrespondenztheorie der Wahrheit kollabiert am Ende sogar, nämlich wo die ‚Wahrheit‘ evolutionärer Naturgeschichte den Hintergrund bildet für das Programm der Erklärung der Entwicklung normativen und intentionalen Handelns aus einem bloß behaviorale 25 Auf diese Zweideutigkeit im Sanktions- und damit im Normativitätsbegriff haben schon viele Leser Brandoms hingewiesen, unter anderen Sebastian Rödl, dem ich weitere wichtige Hinweise verdanke (vgl. etwa dessen „Normativität des Geistes versus Philosophie der Erklärung“, DZPhil. 48, 2000, 762–779, und „Interne Normen“ in: G. Schönrich (Hg.), Normativität und Regelfolgen, Paderborn: mentis 2002), Peter Grönert, (Normativität, Intentionalität und praktische Schlüsse, Diss. Leipzig, 2002), Frank Kannetzky oder auch Friedrich Kambartel. 26 Soweit sie ebenfalls die Ideen zum koordinativen Handeln und Verhalten, wie sie David Lewis in seinem Buch Konventionen vorgestellt hat, kritisch weiterentwickeln, malen soziale Theorien des Sprechens wie die von Eike von Savigny nicht zufälligerweise ein in Grundzügen ähnliches Bild der Dinge, auch wenn die Explikation propositionalen Gehalts bei weitem nicht so ausgearbeitet ist.
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Konformität erzeugenden Sanktionsverhalten. Die Anerkennung und Verwendung der Methode transzendentallogischer Analyse in Making it Explicit ist daher halbherzig. Die andere Hälfte von Brandoms Herz hängt an einer evolutionären Naturgeschichte. Deren Status selbst bleibt aus dem Bereich kritischer Reflexion ausgeschlossen. Insgesamt präsentiert daher Brandoms Bild von der Existenzweise des menschlichen Geistes am Ende doch nur etwas mehr an historischer Tiefe und sozialer Komplexität dialogischer Interaktionen als die kritisierten Positionen von Quine bis Millikan.
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Zum gegenwärtigen Stand der Gebrauchstheorie der Bedeutung 1. Bedeutung ist der Gebrauch Bei Robert Brandom lesen wir: „the use of concepts determines their content“, was bedeutet, dass „concepts can have no content apart from that conferred on them by their use.“1 Im folgenden werde ich mich mit dem hier artikulierten gebrauchstheoretischen Bedeutungsbegriff beschäftigen. Ich werde für einen Rahmen von Annahmen und theoretischen Begriffen argumentieren, in den, wie ich meine, eine Version eines solchen Begriffs sich gut und fruchtbar einbettet. Dieser Ansatz gehört einer Richtung an, die man aus historischen Gründen als ‚rationalistisch‘ einstuft. Er geht insbesondere davon aus, dass der Bedeutungsbegriff keinen theoretisch essentiellen Bezug zum Begriff der Überzeugung (belief) hat, sofern wir letzteren in der Bedeutung nehmen, die er in der analytischen Philosophie gewonnen hat. Er ist vielleicht unkonventionell auch darin, dass er von der Existenz eines reichen Bestands von ‚analytischen‘ Wahrheiten für jede gegebene menschliche Sprache ausgeht. Diese, so werde ich argumentieren, sind faktisch darin, dass sie nicht von den Meinungen oder dem Befinden eines Sprachbenutzers abhängen; sie gelten notwendig relativ zu den Regeln einer Sprache; sie sind systematisch darin, dass sie nicht isolierte Vorkommnisse sind, sondern sich mannigfach generieren lassen; sie sind a priori darin, dass sie sich nicht aus der Erfahrung herschreiben; und schließlich werden sie empirisch entdeckt. Brandom selbst nennt den eingangs zitierten Bedeutungsbegriff einen ‚pragmatistischen‘. Seine Wittgensteinschen Ursprünge allerdings wecken demgegenüber manche Zweifel. Nach Richard Rorty ist die obige bedeutungstheoretische Sicht, in der Weise, wie Wittgenstein sie verstanden haben wollte, Teil einer Strategie, die Idee einer philosophischen Theorie von ‚Bedeutung‘ selbst zurückzuweisen. Sie ist damit ein Instrument philosophischer Therapie, nicht Theorie, sei diese pragmatistisch oder nicht.2 Allerdings entspricht dies nicht 1 Brandom, R., „Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism“, European Journal of Philosophy, Vol. 7, 1999, 164. 2 Vgl. Rortys Bemerkungen über Wittgenstein in seinem Artikel gegen Brandom in Rorty, R.,
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der Weise, in der die analytische Philosophie tatsächlich auf Wittgensteins spätes Denken reagierte. Seit den 50er und 60er Jahren bis hin in unsere Tage war die philosophische Bedeutungstheorie eines ihrer primären systematischen Themen. Viele Philosophen haben geglaubt oder glauben, dass Sprachphilosophie Bedeutungstheorie ist. Michael Dummett hat darüber hinaus eine ganze Reihe von ihnen davon überzeugt,3 dass die Sprachphilosophie eine – oder die – prima philosophia ist, eine Grundlage für die Metaphysik nicht weniger als für die Epistemologie.4 Donald Davidson hat sehr ähnliche Auffassungen vertreten.5 Nichts in diesen letzteren Auffassungen scheint auf den ersten Blick sehr ‚pragmatistisch‘. Tatsächlich stellt sich heraus, dass ein gebrauchstheoretischer Begriff von Bedeutung durchaus kompatibel ist mit repräsentationalistischen und fundamentalistischen Theorieelementen, die zumindest der Rortysche Pragmatist aus seiner Philosophie verbannen würde.6 Insbesondere gehen viele Autoren davon aus, dass eine gebrauchstheoretische Sicht von Bedeutung aus sich heraus noch keineswegs ausschließt, dass man von Sätzen sagt, sie hätten geistunabhängige Inhalte, und auch nicht, dass sie diese ‚repräsentierten‘ (auch wenn dann diese Inhalte eine gebrauchstheoretische Analyse erhalten). Beides – sowohl geistunabhängige Inhalte wie interne Repräsentationen von ihnen – geht in meinen Augen weit über das hinaus, was eine Gebrauchstheorie der Bedeutung annehmen sollte oder muss. Gehen wir aber zunächst in mehr Detail auf den Philosophen ein, der definitiv sowohl einen Repräsentationalismus wie einen Fundamentalismus zurückgewiesen hätte: Wittgenstein selbst. Nicht weniger als Rorty selbst scheint mir, dass wir Wittgensteins ursprüngliche Ideen ernster nehmen sollten, als manche seiner neo-pragmatistischen Nachfahren dies getan haben.
2. Wittgenstein: Das Sprachspiel Das Ziel der Wittgensteinschen Kritik, wenn er seinen meaning is use-Slogan vorbringt, waren Bedeutungstheorien wie seine eigene im Tractatus, oder Theorien wie der Russellsche bedeutungstheoretische Atomismus. Die Vision des Atomismus war, unser Wissen von Grund auf zu rekonstruieren auf der Basis Truth and Progress, Phil. Papers Vol. 3, Cambridge 1998, ch. 6, bes. S. 127. Ich denke, dass Rortys eigene Philosophie therapeutisch gelesen werden will – therapeutisch insbesondere gegenüber dem Unternehmen der analytischen Sprachphilosophie. 3 U.a. ein früheres Selbst von mir, dessen letzte Spur sich in Hinzen, W., „Anti-Realist Semantics“, Erkenntnis 52, 2000, 281–311, findet. 4 Siehe Dummett, M., The Logical Basis of Metaphysics, Harvard University Press, 1991. 5 Davidson, D., Inquiries into Truth and Interpretation, Clarendon 1994, Essay 14. Davidson argumentiert ebenfalls, dass was er die ‚Methode der Wahrheit in der Metaphysik‘ nennt, einer sehr alten – antiken – Auffassung von Philosophie entspricht. Das ist eine Auffassung, die ich nicht teile. 6 Siehe Rortys Artikel, erwähnt in Fn. 2.
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einer Menge von einfachen und nicht weiter analysierbaren Sätzen, die auch in einem epistemologischen Sinne die grundlegendsten sein sollten. (Dies hätten, in einer Version des Atomismus, zum Beispiel Sätze über Sinnesdaten sein können.) Atomismus in diesem Sinne ist die Überzeugung, dass es eine ‚privilegierte‘ Beschreibungsebene der Realität gibt, so dass Beschreibungen der Realität auf anderen Beschreibungsebenen gleichsam als bloße Abkürzungen von Beschreibungen auf der grundlegenden Ebene verstanden werden können. Aber es scheint schlechthin keinen Weg zu geben, eine Aussage wie die, dass Müller wegen eines Mordes verurteilt wurde, oder dass Müller sich schuldig fühlt, in ‚grundlegendere‘ Termini zu übersetzen. Wie sollten wir solche Tatsachen zum Beispiel als Tatsachen, die Sinnesdaten betreffen, beschreiben? Es gibt einen Sinn, in dem unser Verstehen solcher Aussagen schlicht davon abhängt, wie wir die jeweiligen Worte gebrauchen – ‚das Spiel von Schuld und Verurteilung spielen‘, wie man im Anklang an Wittgensteinsche Metaphern vielleicht sagen könnte. In Wittgensteins Sinne wäre meiner Auffassung nach hierbei Wert darauf zu legen, dass wir eben dies sagen: ‚wie wir die jeweiligen Worte gebrauchen‘, nicht aber etwas sehr viel Elaborierteres, wie etwa: dass es Normen gibt, die unserem Gebrauch dieser Worte auferlegt wurden oder zugrunde liegen, und dass wir sie darum in der Weise benutzen, in der wir das tun. Nach dieser Auffassung der Wittgensteinschen Philosophie geht es im Sprachgebrauch um tatsächliche Akte, eine Praxis bzw. historisch gegebene Weisen oder Methoden des Gebrauchs, nicht aber um eine Realität von Normen, die irgendwie hinter diesen Akten und Gebräuchen liegt und dieselben bestimmt. Es gibt keine Möglichkeit, in dieser Sichtweise, zu definieren, was Schuld, oder eine Verurteilung, ‚wirklich ist‘. Wer so fragte, dem könnte in Wittgensteins Sinne so begegnet werden: „Wenn Du wissen willst, was diese Worte ‚bedeuten‘, mache kein Mysterium aus Deiner Frage. Schau doch, wie die Menschen sie gebrauchen. Hüte Dich davor zu glauben, es müsse eine ‚Essenz‘ geben, mit der im Einklang Menschen sie benutzen, gleich einer Aura, die diese Worte umgibt.“ Der Gebrauch ist schlicht der, der er ist. Man sollte keine Vorurteile über ihn haben, oder ihn evaluieren gegenüber nicht-historischen oder essentialistischen Vorstellungen darüber, was der Gebrauch sein sollte. Es gibt auch nicht das eine Spiel, das festlegt, was ‚Schuld‘ ist, oder das die Norm setzt. Verschiedene Spiele setzen verschiedene Normen, und oft wird es nicht wirklich definit sein, welcher Begriff von „Schuld“ welchem anderen entspricht, sich mit ihm überlappt, oder gänzlich von ihm unterscheidet. Das hängt zum Teil mit dem ontologischen Status solcher ‚Spiele‘ zusammen, die Wittgenstein nicht als objektive Dinge in der Welt verstanden hat, denen wir zum Zweck wissenschaftlicher Untersuchung gleichsam eine standardisierte Beschreibung geben könnten, auf deren Basis wir dann, sozusagen, ein für allemal
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festlegen, was nun Schuld in einem von ihnen genau ist. Es gibt ohne Zweifel sehr reglementierte Sprachspiele, in denen das möglich wäre – Sprachspiele juristischer oder wissenschaftlicher Art etwa –, aber diese scheinen in ihrer Rigidität und beabsichtigten Stabilisierung gerade grundlegend verschieden von der Weise, wie sich Sprache alltäglich vollzieht. Man könnte vielleicht sagen, dass die Weise, die Regeln des Spiels herauszufinden, schlicht die ist, es mitzuspielen (so wie man wohl nie genau wissen wird, was Tanzen ist, wenn man es nicht selber betreibt). Das Wissen von den Regeln und Bedeutungen einer Sprache bestünde dann in der ‚Tat‘, in der Sprachhandlung selbst.7 Man mag dann fragen, wann wir denn wirklich wissen (oder die Gewissheit haben), für ein gegebenes Spiel bzw. eine gegebene Sprachpraxis, dass wir es spielen (und kein ähnliches, oder ein scheinbar, tatsächlich oder partiell anderes Spiel). Aber es scheint gerade der Punkt eines gebrauchstheoretischen Ansatzes – sofern er den schwierigen und obskuren Begriff des propositionalen Wissens, das Sprecher von einer Sprache haben, zu ersetzen sucht –, den Begriff der Sprachhandlung nicht wieder durch einen Begriff des propositionalen Wissens explizieren zu müssen. Es ist in meiner Auffassung genau diese Frage, wann wir denn wissen, dass wir eine bestimmte Sprache sprechen, oder ein bestimmtes Spiel spielen, die uns nirgendwohin führt. Wie können wir sicherstellen, dass es diese Sprache oder dieses Spiel ist, und nicht ein anderes? Durch Introspektion? Durch Umfragen? Durch das Urteil von Autoritäten? Einen verwandten und allgemeineren Punkt könnten wir so formulieren: Es gibt keine menschliche Aktivität, die ihre eigene Interpretation bestimmt. Wenn wir uns hinsetzen und anfangen, Zahlen zu addieren in der Weise, dass wir mit 2, 4, 6 beginnen, so ist, was wir tun, notwendig offen in seiner Interpretation. Unsere ehrliche Versicherung, dass was wir anwenden die additive Operation „plus 2“ ist, wird prinzipiell nicht den Bereich möglicher Interpretationen einschränken können. Unsere Worte sind genau so offen gegenüber möglichen Interpretationen wie unsere Zahlen. Wir könnten dann protestieren und sagen, dass wir so handelten, wie wir es taten, weil es eine Regel oder Norm der Addition gebe, der wir gefolgt seien. Das aber wird uns wiederum nirgendwohin führen, weil jeder dieser Begriffe neue Fragen aufwirft. Unser Appell an ‚Bedeutungen, die wir uns in unserem Geiste vorstellen‘, an Spiele, deren ‚Regeln wir kennen‘, und ähnliches mehr ist nichts, was den Fragen des Skeptikers standhält. Kurzum, der Gebrauch als solcher fixiert die Bedeutung nicht, aber der Gebrauch ist alles, was wir haben und brauchen. Füge dem Gebrauch ‚Bedeutungen‘ hinzu, und nichts als Konfusion wird die Folge sein: „Der allgemeine Begriff der Be7 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werke Band 1, Frankfurt: Suhrkamp 1989 (5. Auflage, im folgenden zitiert als PU), § 6: „Versteht nicht der den Ruf ‚Platte!‘, der so und so nach ihm handelt?“
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deutung der Worte“, schreibt Wittgenstein (PU, § 5), umgibt „das Funktionieren der Sprache mit einem Dunst [ . . . ], der das klare Sehen unmöglich macht.“ Ich denke, dass, wenn wir uns anschickten, eine philosophische ‚Theorie der Bedeutung‘ zustande zu bringen, oder auch eine Lösung für das berühmte ‚Problem des Regelfolgens‘, Wittgenstein die Natur unseres Projekts nicht verstanden (oder nicht gutgeheißen) hätte. Seine Antwort hätte von der Art seiner minutiösen Beschreibung der Weise sein können, wie der Kaufmann handelt, wenn er einen Zettel mit der Aufschrift „fünf rote Äpfel“ bekommt. Dem, der wissen möchte, was dies ‚bedeute‘, antwortet Wittgenstein, indem er beschreibt, wie der Ausdruck funktioniert. Externalistische oder normativistische Bilder von Sprachen sind in dieser Art von Antwort so wenig erwünscht wie die Vorstellung, die Handlungen des Kaufmanns könnten ‚erklärt‘ werden durch einen Verweis auf seine ‚Vernunft‘ oder Rationalität. Seine Handlungen sind einfach die, die sie sind. Sie sind, so könnten wir sagen, formalisierte Prozeduren, die nach keiner ‚Rechtfertigung‘ verlangen und keiner solchen bedürfen. Sie sind, wo ‚Erklärungen ein Ende haben‘ (vgl. PU, § 1). Eine philosophische Stimme regt sich in uns – die Stimme eines Semantikers –, die nicht widerstehen kann zu fragen: „Schau, Du hast uns nur Symbole und komputationale Prozeduren gegeben, die diese Symbole involvieren. Aber was ist die Bedeutung dieser Symbole? Und wie weiß der Kaufmann, wie er handeln soll?“ Worauf Wittgenstein – richtig, wie ich meine – antwortet: „[V]on einer solchen [Bedeutung] war hier garnicht die Rede; nur davon, wie das Wort ‚fünf‘ gebraucht wird“ (§ 1). Die Botschaft der Philosophischen Untersuchungen im Ganzen ist meiner Auffassung nach die, dass diesen Begriff ins Spiel zu bringen einen ebenso geringen explanatorischen Gewinn verspricht wie eine Rede von ‚Wissen‘ oder vom ‚Befolgen einer Regel‘. Wer nicht versteht, worin die Handlungen des Kaufmanns ‚bestehen‘, der müsste noch einmal genauer hinschauen und sehen, was passiert (denn verborgen ist nichts). Das mag einen Behaviorismus suggerieren, aber das wäre in meinen Augen eine grundlegende Fehlauffassung. Ich sehe nichts in Wittgenstein, was etwa mentale, neuronal implementierte Mechanismen grundlegend andersartig machen würde als jene formalisierten Prozeduren, die Wittgenstein beschreibt. Dies aber wären Dinge, die der Behaviorist ablehnen würde. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die ‚kognitive Revolution‘, die den Behaviorismus in der Psychologie und Linguistik verabschiedet hat, erst in den 50er Jahren ihren Ausgangspunkt nahm. Die Mechanismen oder formalisierten Prozeduren, die Wittgenstein in seinem Beispiel des Kaufmanns beschreibt, sind zugegebenermaßen äußerliche. Aber ich denke, der entscheidende Punkt ist, dass die Mechanismen, von denen heute im Rahmen von komputationalen Geisttheorien die Rede ist, wenig Verwandtschaft mit den philosophischen Mysterien
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(‚Bedeutungen‘, ‚Regeln‘, ‚Bewusstseinsinhalte‘) haben, gegen die Wittgenstein sich wendete. Es ist darüber hinaus ein bemerkenswertes und nicht gebührend berücksichtigtes Faktum, dass, nach einer weithin geteilten, um nicht zu sagen dominanten, Erklärung der Genese sprachlicher Kompetenz, diese kein Wissen von Regeln im Sinne der philosophischen Regelfolgendiskussion involviert. Gingen frühere Versionen der generativen Grammatik noch von Phrasenstrukturregeln aus, gehören diese seit den prinzipienbasierten Grammatiken der 80er Jahre der Vergangenheit an.8 Der Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien ist entscheidend: Prinzipien sind schlicht Ursachen für die Organisierung lexikalischer Einheiten in komplexere, intern strukturierte syntaktische Ausdrücke mit einem spezifischen Klang und einer spezifischen Bedeutung, in einer definiten Korrelierung. Wir sagen nicht, solchen Prinzipien könne man ‚folgen‘, in der Weise, wie wir sagen, wir folgten Regeln. In § 6 der PU beschäftigt sich Wittgenstein mit dem hinweisenden Lehren der Bedeutungen eines Wortes, das Wittgenstein zufolge dazu führt (genauer gesagt: dazu beiträgt), dass jemand das Wort in einer bestimmten Weise gebraucht. Er vergleicht dies dann mit dem Instandsetzen einer Maschine: ‚Indem ich die Stange mit dem Hebel verbinde, setze ich die Bremse instand.‘ – Ja, gegeben den ganzen übrigen Mechanismus. Nur mit diesem ist er der Bremshebel [ . . . ] (§ 6)
Was hätte Wittgenstein hindern sollen anzuerkennen, dass ein in einer Sprache gebrauchtes Wort nur dann ein Wort ist, wenn wir eine außerordentliche Zahl von Mechanismen in Betracht ziehen, durch die das Wort erst Wort ist? Das sind mindestens Mechanismen der Wortformierung (Morphologie) und Phonologie (die mit jenen der Syntax im engeren Sinne interagieren), Spezifikationen grammatischer Eigenschaften des Wortes, durch die es Eingang in komplexere interpretierbare Strukturen findet, Mechanismen kommunikativer und sozialer Kompetenz, visueller Wahrnehmung, etc. Warum sind Mechanismen, die nicht wie im Fall des Kaufmanns unmittelbar sinnlich wahrnehmbar, aber doch naturwissenschaftlicher Theoriebildung zugänglich sind, deswegen keine Mechanismen, die einem den Sprachgebrauch erklären helfen können? Kurzum also, das Entscheidende in der Beschreibung des Kaufmanns scheint zu sein, dass es um formalisierte Prozeduren geht – mechanische Abläufe, die sich Schritt für Schritt nachvollziehen lassen und als solche keine Probleme des Verstehens aufwerfen. 8 Siehe Chomsky and Lasnik, „The Theory of Principles and Parameters“, in Chomsky, N., The Minimalist Program, MIT Press, ch. 1, 13–128, und Baker, M., The Atoms of Language: The Mind’s Hidden Rules of Grammar, New York: Basic Books 2001, für eine populärere Darstellung.
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3. Bezugnahme Chomskys jüngeres Werk enthält die für manchen schockierende These, die referentielle Semantik, die Grundlage nahezu aller weithin akzeptierten semantischen Theorien für natürliche Sprachen ist, habe keine Anwendung auf natürliche Sprachen („standard theories of reference are not applicable to natural language“9 ). Wenn ich Recht in meiner Deutung habe, hätte Wittgenstein sich nicht über sie verwundert. In der referentiellen Semantik bestimmt sich die Bedeutung aus Relationen zur Welt – Relationen, die dem Symbol selber gegenüber extrinsisch sind. Wittgenstein weist nicht anders als Chomsky die These zurück, dass Worte Dinge bezeichnen, die ihre ‚Bedeutungen‘ sind, oder dass sie eine Bedeutung haben, die mit ihnen ‚assoziiert‘ ist (PU, § 1). Wenn Bedeutung der Gebrauch ist, ist die Bedeutung kein Gegenstand. Es gibt in dieser Sicht keine ‚Denotation‘, keinen ‚Referenten in der realen Welt‘, der abstrakt den Inhalt solcher Worte wie Schuld, Mord, oder Verurteilung bestimmt. Worte haben eine Bedeutung in der Weise, wie sie in einer Sprache funktionieren. Die Augustinischen Wort–Ding-Relationen sind mythisch, ähnlich wie die Annahme, das Kind lerne im allgemeinen, was ein Wort bedeutet, indem es seinen Eltern dabei zusieht, wie sie ihm Dinge in der Welt zeigen.10 Man könne den Gebrauch des Wortes „Platte“ beschreiben, sagt Wittgenstein (§ 10), und diese Beschreibung abkürzen, indem man sagt, das Wort ‚bezeichne diesen Gegenstand‘. Diese Sprechweise aber sei, so meint er, ein guter Ausgangspunkt für abwegige philosophische Theoriebildung. Entweder besagt der Ausdruck nichts Neues, als was schon die Beschreibung des Gebrauchs beinhaltet; oder aber er hat einen bestimmten Zweck, wie wenn es darum geht, ein Missverständnis aufzuklären, etwa dass das Wort sich auf die Bausteinform beziehe, und nicht den Baustein. Im ersten Fall ist die Redeweise redundant; im zweiten unproblematisch. Wittgensteins Sprachspieltheorie (oder Antitheorie) der Bedeutung suggeriert allgemeiner, dass Sprache eine grundlegend menschliche Angelegenheit ist, die nicht durch abstrakte Sprache–Welt- oder Geist–Welt-Relationen verstanden werden kann. Referentielle Semantiken sind für formale Sprachen von Computern, die Kommunikationssysteme von Tieren (Gallistel 1990), die technischen Sprachen spezieller Wissenschaften oder die Kommunikationssysteme von logisch denkenden Androiden möglicherweise geeignet. Aber wollen wir derartige Semantiken auf natürliche Sprachen anwenden, müssen wir Letztere in das logische Idiom erst übersetzen. Vergleichen wir das mit der Idee von Sprachspielen. Sprachspiele sind grundlegend menschliche Aktivitäten, die sich nicht durch das 9 Chomsky,
N., The Minimalist Program, MIT Press 1995, 236. ostensive Definition in einem radikaleren Sinne marginal in der Sprachakquisition ist, als Wittgenstein selbst es annahm, zeigt die Akquisitionsforschung. Vgl. Bloom, P., How Children Learn the Meanings of Words, Cambridge, Mass., MIT Press, 2000. 10 Dass
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bestimmen, was ‚objektiverweise‘ der Fall ist, oder durch ihre logische Struktur, sondern durch menschliche Zwecke und Interessen. ‚Die Welt‘ bestimmt nicht, welche Sprachspiele wir spielen. In der referentiellen Semantik bestimmt dagegen die Welt, welche Bedeutungen unsere Worte haben. Wir mögen denken, Wasser bedeute XYZ, aber ‚die Welt‘ (oder ihre chemische Struktur) legt fest, es beziehe sich tatsächlich auf H2 O. Auch scheint Wittgenstein nicht davon auszugehen, dass es für die Bildung von Sprachspielen feste Regeln gibt. Sprachspiele entstehen auf historische Weise, nicht aber so, wie Dinge in der physikalischen Welt entstehen (und ebensowenig wie Dinge in der idealisierten Welt rationaler Agenten). Es scheint weder möglich, die Entstehung bestimmter Sprachspiele vorauszusagen, noch ihr Entstehen naturgesetzlich oder rationalitätstheoretisch zu erklären. Ein Sprachspiel ist einfach eine Weise, die Welt neu auszulegen, ohne sagen zu können, wie sich diese Auslegung von der Welt selbst unterscheidet. Der Biologe Stuart Kauffman, in seinem Buch Investigations (Oxford, 2000), suggeriert, Wittgensteins Sprachspielmetapher sei aus diesem Grund ein gutes Bild für die Entstehung von biologischen Lebensformen im allgemeinen. Leben, so Kauffman, sei ein offenes System, das nicht auf einfachere Kategorien zurückzuführen sei und selbst stets offen für radikale Innovationen und Neuheiten sei, die nicht deduziert oder vorausgesagt werden können aus den jeweils vorhergehenden Zuständen. Aber ist es wirklich so, dass Wittgensteins Philosophie uns in einer menschlichen Lebenswelt zurücklässt, die eine Sache von Historie oder von Erzählung allein ist? Ist es eine Welt der puren Kontingenz, die naturalistischer und explanatorischer Theoriebildung gar nicht zugänglich ist und bestenfalls normative Theoriebildung erlaubt? Wenden wir uns der Frage zu, ob es nicht auch hinsichtlich unserer Humanität Weisen gibt, in denen die Dinge nicht nur einfach so sind, wie sie sind, sondern so sein müssen, wie sie sind. Ich habe in einer Reihe anderer Arbeiten11 argumentiert, dass diese Frage eine positive Antwort hat – eine Antwort, die Wittgensteins Werk zunächst ganz und gar nicht suggeriert und die in meinen Augen auch erst seit einigen Jahren möglich geworden ist. Die positive Antwort lässt sich mit einiger Sicherheit allerdings nur für menschliche Sprachen geben, was jedoch ohne Zweifel ein guter Ausgangspunkt für das Studium des Menschen ist. Andere seiner mentalen Vermögen, wie etwa Emotion, Bewusstsein, Sehen und Hören, sind nicht einzigartig menschlich. Menschliche Sprachstrukturen sind demgegenüber erstaunlich und offenbar einzigartig in der biologischen Welt, auch wenn es tierische Kommunikationssysteme gibt, die manche entscheidenden Eigenschaften mit menschli11 Vgl. Hinzen, W., Minimal Mind Design, Habilitationsschrift, 2002; Hinzen, W., „Human Nature after Darwin“, erscheint 2002 in den Annalen der Argentinischen Akademie der Wissenschaften, Buenos Aires.
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chen Sprachen teilen (die Sprache der Bienen etwa).12 Diese Schlussfolgerung hängt freilich davon ab, welche Aspekte menschlicher Sprachkompetenz wir betrachten. Eine Wissenschaft der Sprache, die uns erklärte, aus welchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten menschliche Sprachen entstehen, das könnte sicher keine Theorie sein, die uns erklärt, warum Menschen einen Satz dann verwenden, wenn sie es tun. Warum ein Mann sein Sprachvermögen gebraucht, um eine Liebeserklärung zu machen, ist eine Frage mit demselben Status wie die Frage, warum jemand sich entscheidet, abends den Sonnenuntergang anzuschauen. Die Fragen sind interessant, es gibt Gründe für diese Handlungen, aber sie sind interessant und begründbar in dem Sinne, in dem historische Tatsachen es sind. Ihre kausale Erklärung liegt fern ab von dem, was Gegenstand wissenschaftlicher Theorien sein kann. Andere Aspekte menschlicher Sprachen dagegen sind nicht in diesem Sinne historischer Natur. Wenn wir unser Wissen von der Sprache betrachten, so sind manche Dinge kognitiv notwendig, andere kognitiv unmöglich, auch wenn logisch möglich. Logisch spricht nichts gegen einen Sprachbau, in dem ein Quantor keine Variable bindet oder in dem Bewegungen von Phrasen an andere Stellen im Satz nicht an definite Lokalitätsbedingungen gebunden sind. Aber wir finden keine Sprachen, die diese logischen Möglichkeiten instantiieren. Beobachtungen wie diese geben dem Begriff einer möglichen Sprache einen empirischen Gehalt. Dabei bedeutet „möglich:“ biologisch möglich für eine Spezies, wie wir es sind. Menschliche Sprachen variieren nicht nur nicht beliebig, sondern sind Variationen eines einzigen Themas. Wenn das so ist, ist unsere Sprachlichkeit nicht (nur) eine Sache von Kontingenz und Historie, die interkulturell oder von Sprachspiel zu Sprachspiel in beliebiger Weise variiert.13
4. Die Wissenschaft transzendiert das Sprachspiel Wir finden Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten im Bereich menschlicher Sprachlichkeit in genau der Weise, in der wir sie in den Naturwissenschaften finden: durch Forschung. Wir finden sie nicht in der Welt der Sinne, nicht durch Introspektion oder konzeptuelle Analyse, und sicher nicht, indem wir Sprachgebräuche katalogisieren. Schon Alan Turing – weit entfernt davon, unseren Begriff des Denkens analysieren zu wollen – argumentierte gegen die Idee, dass wir etwas Signifikantes lernen werden über die Natur von Denken oder Geist, indem wir Gebräuche der Worte „denken“, „bedeuten“, „glauben“, etc. untersuchen.14 12 Vgl. Hauser, M., The Evolution of Communication, Cambridge, Mass.: MIT Press 1996, für eine Übersicht. 13 Für ein jüngeres Werk, das diese Ideen empirisch substantiiert, siehe wiederum Baker, op. cit. 14 Turing, A. (1950), „Computing Machinery and Intelligence“, Mind 49, 433–60, S. 433.
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Ich denke, dass das ebenso für eine Erforschung der Natur der menschlichen Sprache gilt. In keinem Gebiet der Naturwissenschaft lernen wir etwas über die jeweils relevanten Begriffe – Licht, Kraft, Säure, Masse, Energie –, indem wir Common-Sense-Intuitionen über diese Begriffe und ihre Gebrauchsweisen im Alltag studieren. Diese Gebrauchsweisen geben im allgemeinen genau nicht die Bedeutungen an, die diese Begriffe im Zuge wissenschaftlicher Theoriebildung erhalten, und können Letztere verhindern, wenn wir sie zu ernst nehmen. Warum sollte das im Fall menschlicher mentaler Vermögen wie Sprache oder Denken anders sein können? Man mag versucht sein, an der traditionellen Idee festzuhalten, dass die Inhalte unseres Geistes a priori gewusst werden (dass wir wissen, was wir denken, dass wir unseren eigenen Geist kennen). Aber die tatsächliche Struktur des Klangs oder der Bedeutung eines Satzes, den wir benutzen, entspricht oft ganz und gar nicht den Intuitionen, die wir über ihn haben, wenn wir nach seiner Natur gefragt werden. Klänge sind nicht weniger als Bedeutungen Gegenstände empirischer Erforschung in den Wissenschaften der Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik.15 Was könnten Analysen von Sprachgebräuchen ergeben (außer dem therapeutischen und Wittgensteinschen Gewinn, gewisse philosophische Theorien der Bedeutung oder mentaler Zustände als Artefakte zu entlarven)? Wir würden hier zunächst vielleicht statistische Daten erheben, Intuitionen erfassen, selber Introspektion treiben, etc. Ein Resultat könnte dann sein, dass Menschen das Wort „denken“ nicht auf Dinge anwenden, die sie Maschinen nennen (was faktisch nicht stimmt, denke ich). Dies würde aber nicht mehr als das anzeigen, dass dies der Gebrauch, folglich der Sinn, des Wortes ist. Man kann den Gebrauch ändern, und ein neuer Sinn wird sich ergeben. Es ist in diesem Sinne, dass Turing vermutete, unser Sprachgebrauch, was Maschinen angehe, werde sich bald ändern. Aber auch daraus würde theoretisch nichts folgen: Wenn der Gebrauch die Bedeutung ist, geht ein neuer Gebrauch mit einer neuen Bedeutung einher. Ein Sprachspiel folgt einem anderen. Wir können nicht fragen, welches von ihnen ‚den Sinn der Worte‘ besser oder adäquater erfasst, da Worte keinen Sinn 15 Auch der Externalismus bestreitet die These, dass wir die Bedeutungen unserer Worte notwendig kennen, aber aus gänzlich anderen Gründen. Der Externalismus ist irrelevant für das gerade vorgebrachte Argument. In meinen Augen liefert etwa die Phonologie eine Illustration besonderer Art für die Tatsache, dass wir nicht wissen, welche Klänge wir produzieren, und dass diese Klänge oft eine sehr andere Struktur haben, als wir meinen. Fragen zu den Klängen von Worten lassen sich offenbar nicht durch Intuitionen entscheiden (vgl. die Einleitung in Kenstowicz, M., Phonology in Generative Grammar, Blackwell 1994, für spezifische Beispiele). In ähnlicher Weise scheint es, als könnten Ansichten, die wir über die semantische Struktur unserer Ausdrücke haben, stets korrigiert werden durch empirische Einsichten. Für ein semantisches Beispiel vgl. Pietroski, P., und Hornstein, N., „Does Every Sentence like This Exhibit a Scope Ambiguity?“, in Hinzen und Rott (eds.), Belief and Meaning – Essays at the Interface, Frankfurt 2002.
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unabhängig von ihrem Gebrauch haben. Die ursprüngliche Frage, ob Maschinen denken können, sagt Turing auf eine, wie ich meine, sehr Wittgensteinsche Weise, ‚may be too meaningless to deserve discussion‘.16 Diese Schlussfolgerung scheint die Idee der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Fortschritts zu verneinen, dernach wir unsere Begriffe nach und nach so schärfen, dass sie die Wirklichkeit immer adäquater beschreiben (wir nähern uns immer mehr der Welt, wie sie an sich ist). In einem Sinne entspräche dies der Rortyschen Auffassung, dass Wissenschaften überhaupt lediglich andere ‚Sprachen‘ sind – weitere, aber keine privilegierten, ‚Stimmen im Gespräch der Menschheit‘. Keine dieser Sprachen sei ‚objektiv‘ in dem Sinne, dass sie die Gegebenheiten einer äußeren Welt, wie sie an sich sind, abbildet. Wir können die ‚Außenwelt‘ so wenig wie die ‚Innenwelt‘ mit unseren Sprachen vergleichen. Diese haben jeweils eine Funktion oder einen Nutzen, aber nie den der Beschreibung. Aber die obigen Überlegungen sollen diese Art von Schlussfolgerung genau nicht haben, und ich werde nun genauer betrachten, wie eine Wissenschaft der mentalen Aspekte des Menschen und seiner Sprachkompetenz aus dem Bereich des Sprachspiels ausbricht und in diesem Sinne tatsächlich so verstanden werden kann, dass sie reale Dinge in der Welt unabhängig von den alltäglichen menschlichen Perspektiven beschreibt, mit denen wir natürlich (oder nativ) die Welt betrachten. Das bedeutet allerdings nicht, wie wir sehen werden – und in diesem Punkt bin ich mit dem Anti-Szientismus des Rortyschen Pragmatisten vollkommen einig –, dass eine Wissenschaft des Geistes eine Autorität für unsere Lebensformen sein könnte, oder ein Korrektiv für unsere Weise, uns selbst im Alltag zu interpretieren.
5. Normativismus und Realismus in der Wissenschaft Auch eine oberflächliche Übersicht über Gebrauchsweisen der Terme „Bedeutung“, „Überzeugung“, etc. (zum Beispiel in philosophischen Proseminaren für Erstsemester) zeigt eine verwirrende Vielfalt, der theoretisch wenig abzugewinnen scheint. Wir könnten in einer normativen Perspektive diese Vielfalt einschränken wollen, indem wir die Gebräuche der Worte „Bedeutung“ oder „Überzeugung“ systematisieren und ihnen gewisse Bedingungen auferlegen. Diese legen dann fest, was unter Bedeutung oder Überzeugung zu verstehen sei. Ein solches Unterfangen wird dann z.B. zu normativen Theorien propositionaler Einstellungen führen, wie etwa in der epistemischen Logik oder in der Entscheidungstheorie. Während der Gebrauch, den Menschen vom Begriff der Überzeugung machen, vielleicht theoretisch keinen klaren Sinn ergibt, geben solche Theorien dem Begriff einen klaren Umriss, der ihn studierbar macht. Dieser klar 16 Turing,
A., op. cit., 442.
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konturierte Begriff der Überzeugung entspricht dann einer Art von mentalem Zustand, in dem Menschen wären, wenn sie klarer denken würden, weniger Fehler machten oder ein größeres Vermögen zu rechnen hätten. Einem Begriff einen solchen scharfen Umriss zu geben, bedeutet aber offenbar nicht, dass er an und für sich selbst diesen Umriss hat. Isaac Levis strikt normative Theorie propositionaler Einstellungen gesteht diesen Punkt freimütig ein: Levi beschreibt Prinzipien, nach denen sich ein nicht notwendig menschlicher, rationaler epistemischer Agent durch einen Phasenraum von möglichen Zuständen bewegt.17 Diese Beschreibung dient dem Ziel, einen ‚Standard rationaler Gesundheit‘ zu setzen, an dem reale Agenten sich orientieren können, auch wenn sie ihn niemals instantiieren. Überzeugungen und Wünsche sind keine naturalen Objekte in diesem Ansatz. Ich habe hier keinerlei Einwände gegen ein solches Unterfangen, das Interessen dient, die hier nicht meine sind. Für die Frage, ob es nicht-historische Aspekte menschlicher Mentalität gibt, wäre eben genau zu fragen, ob unseren Common-Sense-Termen wie „Überzeugung“ oder „Bedeutung“ ein Denotatum in der realen Welt entspricht. Wir sollten allerdings nicht erwarten, dass von einer negativen Antwort auf diese Frage etwas folgen müsste für unseren Gebrauch dieser Begriffe im Alltag, wo sie relativ zu gegebenen Zielen und Perspektiven ihren guten Sinn haben. Wir fühlen keinen Sinn von Widerspruch, wenn wir hören, die Sonne gehe auf. Die Wissenschaften suchen von unseren anthropomorphen Perspektiven zu abstrahieren, und sie tun dies mit Hilfe von abstrakten und theoretischen Begriffskonstrukten, die relativ zu gegebenen wissenschaftlichen Zielen definiert sind und kein Analogon in der Welt des Common Sense haben müssen. Die technischen Terme wissenschaftlicher Sprachen, die solchen Begriffen entsprechen, funktionieren zudem nach anderen Prinzipien als die gewöhnlichen Worte, die wir im Lexikon eines Kindes finden. Das ist genau, was wir erwarten würden, wenn wir sehen, dass die Weisen, in denen ein Kind ein Lexikon erwirbt, radikal verschieden sind von der Weise, in der es theoretische Terme der Wissenschaften auf der Universität oder in der Schule erwirbt. Wenden wir uns zunächst allgemeiner dem Problem der realistischen Interpretation theoretischer Terme zu. Noch im frühen 20. Jahrhundert tat der Chemiker und Nobelpreisträger Theodore Richards die Auffassung, chemischen Bindungen entspräche wirklich etwas in der Natur, als metaphysischen Unsinn ab.18 Das war kein ungewöhnlicher Gesichtspunkt in einer Zeit, in der die Chemie noch ihrer Unifizierung mit der Physik harrte, die schließlich durch Revolutio17 Vgl.
Isaac Levi, The Covenant of Reason, Cambridge University Press 1997. weitere relevante Bemerkungen zur Geschichte der Chemie im 19. und 20. Jahrhundert in Chomsky, N., New Horizons in the Study of Language and Mind, Cambridge University Press 2000, 111 ff. 18 Vgl.
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nen in der Physik (Bohr, Pauling) zustande kam. Die Entitäten der Chemie, obgleich Teil einer bis dahin reich entwickelten und prädiktiven Theorie, waren nach dieser Auffassung bloße Weisen der Repräsentation, taxonomische Artefakte, denen nur ein instrumenteller Nutzen, aber nichts in der Natur, entsprach. Fragen der Legitimität einer realistischen Interpretation in diesem Sinne sind in der Geschichte der Wissenschaften immer wieder aufgetaucht und illustrieren, dass Fragen des Realismus nicht (nur) ‚metaphysische Sonntagsfragen‘ sind. Sie sind Ausdruck eines natürlichen Drangs nach besseren Theorien, besser oft dadurch, dass sie mit den Kern-Naturwissenschaften kohärieren und wir ihren konzeptuellen Apparat in deren Theorien interpretieren können. Die Realismus-Frage ist in diesem Sinne kein ontologisches Problem, sondern eine Frage der Tiefe unseres Verstehens, und in diesem Sinne des Vertrauens in unsere Theoriebildung im Kontext anderer Wissenschaften. Lösungen dieser Frage waren häufig das Ergebnis signifikanter theoretischer Fortschritte – Fortschritte, die nach Maßgabe unseres Verstehens ein adäquateres Bild der Natur liefern. Ontologie wird nach dieser Auffassung relevant allein als Konsequenz dieses Verstehens, nicht als seine Ursache: So kommt etwa Newton, im Scholium am Ende seiner Principia (1687), zu dem Schluss, die Gravitation ‚existiere wirklich‘, auch wenn sie obskur sei und er keine Ursache für ihre Wirkungsweise wüsste. Die Annahme einer Fernwirkung, die eine Konsequenz der Newtonschen Theorie ist, macht keinen intuitiven Sinn in einer Welt, in der, wie wir intuitiv meinen, Körper aufeinander einwirken durch einen physischen Kontakt zwischen ihnen, nicht aber durch ‚spirituelle Kräfte‘, die eines solchen Kontakts nicht bedürfen. Hier also ist Ontologie der bloße Effekt von Theorie, keine unabhängige Wissenschaft, die als solche darüber entscheiden könnte, was es ‚wirklich gibt‘. Heute macht sich niemand mehr Sorgen über die ‚wirkliche Existenz‘ von chemischen Bindungen von Molekülen. Aber dieselbe Frage der Möglichkeit einer realistischen Interpretation stellt sich vielerorts in den so genannten special sciences, der heutigen Psychologie und Linguistik ebenso wie vormals der Chemie. In der Mitte der 50er Jahre etwa zweifelten Philosophen wie Quine an der Realität von Phrasenstrukturgrenzen, wie sie von der eben entstehenden generativen Grammatik postuliert wurden. Heute haben sich solche Zweifel gelegt, aber es gibt andere Zweifel, etwa an der Existenz einer Ebene semantischer Repräsentation im Kopf eines Sprechers, die in generativ-grammatischen Theorien bis in die 90er Jahre hinein angenommen wurde. Auch Wittgensteins Verwerfung eines referentiellen Bedeutungsbegriffs kann also in einem wissenschaftlichen Kontext nicht den Sinn der Frage ausschließen, ob einem Common-Sense-Begriff, den wir verwenden, tatsächlich etwas in der Wirklichkeit entspricht. Allerdings schiene es wie ein Wunder, wenn etwa ein derart vager und reicher Begriff wie
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Bedeutung sich naturwissenschaftlicher Theoriebildung überhaupt erschlösse. Nun gibt es aber eine nicht-historische Wissenschaft von Gesetzen der sprachlichen Bedeutung (die generative Linguistik), während das für unsere Theorie von Überzeugungen nicht der Fall zu sein scheint, deren ‚Gesetze‘ den Status von Common-Sense-Generalisierungen haben. Wenn dem so ist, würde dies eine strikte Trennung von Theorien der Bedeutung und Theorien von Überzeugungen motivieren und den Bedeutungsbegriff nicht durch den Begriff der Überzeugung explizierbar machen. Gerade dies aber geschieht vielfach in heutigen Gebrauchstheorien, die, anders als bei Wittgenstein selbst, den Überzeugungsbegriff als den einer ‚propositionalen Einstellung‘ vielfach essentiell involvieren. Gerade in an Brandom oder Davidson orientierten Bedeutungstheorien scheint es, als würde der Bedeutungsbegriff keine Rolle spielen können, die von dem der Überzeugung bzw. anderer propositionaler Einstellungen theoretisch unabhängig wäre. Sätze haben in dieser Tradition an und für sich selbst keine Bedeutung, die unabhängig von der Weise wäre, wie Sprecher sozial interagieren, ihre propositionalen Einstellungen austauschen, Verpflichtungen (commitments) eingehen und anderen solche zuschreiben. Mein Vorschlag wird dagegen der sein, dass ein gebrauchstheoretischer Begriff, wenn er über seinen therapeutischen Sinn hinaus theoretisch bedeutsam sein soll, kein überzeugungstheoretischer Begriff sein sollte. Wenn wir eine Erklärung dafür geben möchten, warum es so ist, dass eine bestimmte Person ihren Arm ausstreckt, um eine Banane zu ergreifen, so scheint es wie eine bloße Wiederholung des explanatorischen Problems, wenn wir sagen: „Die Person beabsichtigte dies.“ Wir haben damit nichts gesagt, was über eine Bemerkung darüber hinausgeht, wie wir unsere Sprache benutzen. Wie Menschen dazu kommen, Dinge zu intendieren, ist, was wir wissen wollten. Was wir wirklich wollten, waren interne Mechanismen, und „beabsichtigen“ ist nichts als eine funktionale Beschreibung eines Gesamteffekts. Es ist nicht klar, dass es im allgemeinen die Funktion eines kognitiven Apparats im ganzen ist, die uns verstehen hilft, wie einzelne seiner Mechanismen operieren. Jeder solche Mechanismus kann durch lokale Prinzipien getriggert werden, die aus sich selbst heraus verstanden werden müssen. Deren Interaktion kann dann zu dem Gesamteffekt führen, den wir „beabsichtigen“ nennen, aber dieser Gesamteffekt muss nicht das sein, was uns verstehen hilft, wie er zustande kommt. Wenn wir erklären, warum jemand jemandem seine Liebe erklärte, indem wir sagen: „Er glaubte, es wäre wahr, und ein geeigneter Moment, diese Wahrheit zu verkünden“, wäre unsere Aussage in einem ähnlichen Sinne leer. Es ist eine Wiederholung des explanatorischen Problems, durch Einführung einer neuen theoretischen Entität – Überzeugungen, Wahrheit –, von der wir kein unabhängiges Verstehen haben. Zu glauben, es wäre wahr, dass man liebe, und den gegenwärtigen Zeitpunkt für geeignet halten, dies zu verkünden, ist dies: eine Liebeserklärung zu ma-
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chen. Ersteres ist (in unserer Sprache) Teil dessen, was wir meinen, wenn wir Letzteres sagen. Den Arm heben wollen ist, in Umständen, in denen dem kein physisches Hindernis entgegensteht, den Arm heben. Mit Wittgenstein könnten wir vielleicht sagen: Mit der Einführung des Begriffs der Überzeugung im Versuch der Erklärung des Sprechakts der Liebeserklärung haben wir eine Regel explizit gemacht, ein Sprachspiel definiert. Ein Sprachspiel, in dem eine so genannte belief–desire-Erklärung eine gültige Erklärung ist, ist einfach von einer Art, dass in ihm zu sagen, Peter entscheide sich, zu einem Buchladen zu gehen, so viel bedeutet wie zu sagen, er wollte dies und glaubte, er würde es dort bekommen. Innerhalb dieses Sprachspiels wäre das wohl so etwas wie ein ‚analytischer Satz‘, oder eine ‚grammatische Bemerkung‘ in Wittgensteins Sinne. Es hat eine Form von Notwendigkeit, insofern es sich aus den Regeln des Sprachspiels selbst, aus seiner internen Logik, ergibt. Aus demselben Grund könnten wir auch nicht, wenn wir die interne Perspektive des Sprachspiels propositionaler Einstellungen einnehmen, sehen, dass es ein Problem mit der explanatorischen Kraft propositionaler Einstellungen gibt. In dem Sprachspiel sind propositionale Einstellungen das, was zu Erklärungen herangezogen wird. Es scheint offensichtlich, dass wir, wenn wir wirkliche Erklärungen suchen, aus unseren Common-Sense-Sprachspielen ausbrechen und eine externe Perspektive einnehmen müssen. Genau das geschieht in der theoretischen Linguistik, und in der Wissenschaft im allgemeinen, die in keinem Kontinuum mit dem Common Sense oder dem allgemeinmenschlichen Sprachspiel steht und insbesondere auf nahezu arbiträre Weisen von ihm abweicht. Heute verschwendet kein Physiker seine Zeit, zu überprüfen, ob seine Theorien kompatibel sind mit Common-Sense-Intuitionen. Wie im Fall Newtons werden Konsequenzen von explanatorischer Theoriebildung akzeptiert und Entitäten postuliert, auch wenn sie wenig Sinn für unsere Common-Sense-Begriffe machen. Die Welt, wie wir sie im Verlauf der wissenschaftlichen Revolution zu sehen bekommen haben, ist ein komplexer, undurchsichtiger und abstruser Ort. Wir haben aufgehört, aus der Perspektive unseres Common Sense begreifen zu wollen, was in unserer Welt passiert, und nehmen Zuflucht zu popularisierenden Darstellungen wissenschaftlicher Theorien, deren Sinn ist, theoretische Termini und Theorien irgendwie in unsere nativen Verstehenshorizonte zu übertragen. Die Sprachen der Wissenschaft sind andere als unsere natürlichen Sprachen, bestehend aus begrifflichen Idealisierungen und mathematischen Modellen, die Artefakte unseres Denkens sind und nicht aus der Welt der alltäglichen menschlichen Erfahrung bzw. der Lebenswelt abgelesen sind. Wir wünschen uns, dass die Welt sich bruchlos aus unseren natürlichen Weisen, ihr Sinn abzugewinnen, ergibt, aber sie tut uns diesen Gefallen nicht. Warum sollte die Erforschung der Gegenstände unserer mentalistischen Alltags-
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sprache, mit der wir den menschlichen Geist beschreiben, anderes erwarten lassen? Warum sollten diese Gegenstände, ganz anders als die Gegenstände der Natur sonst, apriorischer, intuitiver oder introspektiver Analyse zugänglich sein können?
6. Rationalismus in der Wissenschaft des Geistes ist kein Eliminativismus Steven Weinberg nannte die Haltung, den Idealisierungen, mathematischen Modellen und technischen begrifflichen Konstrukten ‚einen höheren Grad an Realität‘ zuzusprechen als der Welt der Sinne oder des Common Sense, „Galilean science“.19 Kann eine Wissenschaft des menschlichen Geistes in diesem Sinne ‚galileisch‘ sein? Die gegenwärtige analytische Philosophie suggeriert – insoweit sie eine explanatorische Wissenschaft von Geist überhaupt für möglich hält, also nicht rein normative oder anomalistische Modelle vorzieht – vor allem zwei Optionen: Entweder vindiziert eine wissenschaftliche Psychologie notwendig unsere Alltagspsychologie, oder sie hat sie aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu eliminieren. Keiner von diesen Vorschlägen ist eine Form von Rationalismus in dem Sinne, wie er in meinen Augen am ehesten einer Wissenschaft des Geistes im ‚galileischen‘ Stil entsprechen würde und könnte. Rationalismus beginnt historisch gesehen mit der Frage im Platonischen Menon, wie es kommt, dass wir das Wissen haben, das wir haben, insbesondere das formale, mathematische Wissen. Die Züge dieses Wissens, seine Notwendigkeit nicht weniger als die Art seines Erwerbs, führten Platon zu der Ansicht, dieses Wissen beruhe auf Strukturen, die dem Geist eigen sind und nicht aus der Erfahrung bezogen werden. Platons Experimente mit dem mathematischen Wissen des Sklavenjungen sind im 20. Jahrhundert mit dem grammatischen Wissen von Kindern wiederholt worden, mit essentiell derselben Schlussfolgerung. Der Unterschied ist freilich der, dass wir dem ‚Innatismus‘ der Platonischen Ideenlehre heute eine biologische Grundlage geben würden. Diesem ‚biologischen Rationalismus‘ zufolge ist die Universale Grammatik, die dem Spracherwerb zugrunde liegt, partiell biologisch-genetisch verankert. Sie besteht aus einer Menge universaler sprachlicher Prinzipien (Gesetze) und Parametern (umgebungsspezifizierten offenen Variablen im menschlichen Sprachsystem). Erfahrung spielt nicht die Rolle einer Ursache für die Anlage von sprachlichen Strukturen im Geist, sondern die Rolle eines Triggers, der einen biologisch angelegten Wachstumsprozess auslöst, der ansonsten gesetzmäßig verläuft. Erfahrung ist in diesem Sinne nicht hinreichend für den Spracherwerb, aber notwendig, damit das Kind 19 Vgl. Weinberg, S., „The Forces of Nature“, Bulletin of the American Society of Arts and Sciences, 1976, 29, 4.
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die nötigen Daten erhält, um die Werte der (binären) Parameter einer Sprache zu bestimmen. Dieser Sichtweise zufolge also spielen dem Geist eigene bzw. intrinsische und sprachspezifische Prinzipien eine unabdingbare Rolle im Akquisitionsprozess. Nach neueren Auffassungen ist dabei dieses innate Wissen so reich, dass sich die mögliche Variation zwischen Sprachen, abgesehen von den arbiträren Klang–Bedeutungs-Korrelationen, die ein Lexikon spezifiziert, auf Aspekte (eines kleinen Teils) des Lexikons allein beschränkt.20 Seidenberg (1997) nennt diese Auffassung (der er nicht zustimmt) die „Standard Theory“.21 Es gibt einen Sinn, in dem dieser so verstandene Rationalismus in sich selbst naturalistisch ist. Das Studium der Prinzipien und Parameter menschlicher Grammatiken ist, nach der ‚Standard Theory‘, das Studium der menschlichen Natur. Ich denke, eben dies war auch die Stoßrichtung des Platonischen Experiments mit dem Sklavenjungen im Menon: dass man sich das Studium des mathematischen Wissens als ein Studium der menschlichen Natur vorstellen kann. Diese Art von Naturalismus nun unterscheidet sich sowohl von dem, was manchmal die ‚West-coast-Variante‘ des Naturalismus genannt wird, wie auch von dem, was der ‚East-coast-Variante‘ entspricht. Sie betrachtet das System grammatischen Wissens, das Thema der Sprachakquisitionsforschung ist, und das System geometrischen Wissens, das Platon studierte, als Teilstücke der menschlichen Psychologie (oder Biologie), aber sie involviert in keiner Weise das System und die Auffassung propositionaler Zustände, die dem Fodorschen (East-coast) Naturalismus zugrunde liegt. Die generative Grammatik wenigstens der Chomskyschen Richtung ist bestenfalls neutral gegenüber der Fodorschen Repräsentationalen Geisttheorie, die davon ausgehen würde, das Wissen des Kindes von den Prinzipien der Universalgrammatik sei ein mentaler Zustand, dessen relationaler propositionaler Inhalt diese Prinzipien sind. Die Theorie der generativen Grammatik nimmt zwar mentale Repräsentationen an, versteht diese aber nicht als relational. Sie studiert mentale Repräsentationen – dies sind ihre Gegenstände –, hängt jedoch von keinen Annahmen ab über die mentale Repräsentation von Inhalten. Auf der anderen Seite bedeutet dies keineswegs, dass sie eliminativistisch ist, wie in der anderen Variante des amerikanischen Naturalismus.22 Das hängt zum 20 Nämlich
den funktionalen. Siehe Chomsky and Lasnik, op. cit., 26. Seidenberg, M. S., „Language Acquisition and Use: Learning and Applying Probabilistic Constraints“, Science 1997, 275 (5306), 1599–603. Für jüngere Darstellungen und Entwicklungen des ‚Standard View‘ siehe Crain, S., Thornton, R., Investigations in Universal Grammar: A Guide to Experiments on the Acquisition of Syntax and Semantics, MIT Press 1998; Crain, S., and Pietroski, P., „Nature versus Nurture“, Linguistics and Philosophy 2001. Die beste Widerlegung der konnektionistischen (empiristischen) Alternative zum innatistischen (rationalistischen) Spracherwerbsparadigma könnte Kap. 19 in Smith, N., Language, Bananas & Bonobos: Linguistic Problems, Puzzles and Polemics (Blackwell 2002) sein. 22 Vgl. Steven Stich: „ordinary intentional locutions are projective, context sensitive, observer 21 Siehe
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einen mit methodologischen Überlegungen zusammen, da Linguistik durch Neurobiologie zu ersetzen heute ähnlich sinnvoll scheint wie Embryologie durch Quantenphysik. Zum anderen hängt es damit zusammen, dass es eine Disparatheit, aber keine Konkurrenz zwischen der Wissenschaft und der Welt des Common Sense gibt. Vielleicht ist die Behauptung, die Neurobiologie eliminiere die propositionalen Einstellungen, nicht vernünftiger als die Behauptung, die Physik eliminiere Tische und Stühle. Wenn die Wittgensteinsche Sicht der Dinge, wie im zweiten Abschnitt dargestellt, korrekt ist, dann hat unsere Common-Sense-Rede von Überzeugungen und anderen propositionalen Einstellungen keine ‚tieferen‘ Bedeutungen, die die Wissenschaft gleichsam in ihrer Essenz erkennen oder verwerfen könnte. Diese Terme haben die Bedeutungen, die sie haben, relativ zu den Zwecken, Voraussetzungen und Umständen ihres alltäglichen Gebrauchs. Man kann von diesen Zwecken nicht abstrahieren und abstrakt fragen, was Überzeugungen, Wünsche etc. ‚wirklich‘ sind. Wann wir im alltäglichen Bereich sagen, dass wir etwas glauben, wünschen, oder etwas eine Bedeutung hat, scheint dabei so irreduzibel interessenrelativ und kontextuell, dass es schlicht unwahrscheinlich erscheint, dass unser Begriff von Bedeutung, Sprache, oder Glauben/Überzeugtsein ein wissenschaftliches Korrelat erhält, in der Weise, wie dies für unseren Begriff von Wasser etwa der Fall gewesen ist. Dessen ungeachtet habe ich bereits angedeutet, dass, während diese Vermutung auf Glauben/Überzeugtsein zutrifft, dies nicht der Fall ist für Bedeutung/Sprache. Ich komme damit zu dem Sinn, in dem – über die endlose, nicht voraussagbare und nicht erklärbare Vielfalt menschlichen Sprachspielens hinaus – die generative Grammatik sprachliche Bedeutung als eine natürliche Notwendigkeit deutet und in dem sie sich mit einer gebrauchstheoretischen Auffassung von Bedeutung verbindet.
7. Die Sprachmaschine Das erste relevante technische Konstrukt können wir die Sprachmaschine nennen. Die Sprachmaschine ist, was wir benötigen, um einen beliebigen der etwa 1020 neuen Sätze generieren zu können, die für den Leser dieses Textes als nächstes auf dieser Seite erscheinen könnten.23 Jeder dieser Sätze hat definite Klang- und Bedeutungseigenschaften, wobei diese kompatibel miteinander sein müssen (nicht jeder Satz kann alles bedeuten, und in jeder natürlichen Sprarelative, and essentially dramatic. They are not the sorts of locutions that we should welcome in serious scientific discourse.“ (Stich, S., „Narrow Content meets Fat Syntax“, in Loewer/Rey (eds.), Meaning in Mind, Blackwell 1992, 240). 23 Für die Genese dieser abstrusen und unvorstellbaren Zahl siehe Pinker, S., The Language Instinct, Penguin: London 1994, 86.
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che sind Klänge und Bedeutungen spezifisch korreliert). „Generieren“ heißt, jeden solchen Satz in seinen intrinsischen phonetischen und semantischen Eigenschaften zu bestimmen, unter Voraussetzung eines Lexikons, das die Klang– Bedeutungs-Paare auflistet, die wir „Worte“ nennen. Die Sprachmaschine ist in diesem Sinne eine generative Prozedur, die unter normalen Bedingungen in ihren wesentlichen Zügen im Alter von 4–5 Jahren problemlos und weitgehend unbewusst funktioniert. Sie enthält gleichsam den Bauplan, der universal dem Bau von Sätzen zugrunde liegt, der aber als solcher im Output nicht sichtbar ist, so wenig wie der Bauplan einer Pflanze in dieser sichtbar ist, obgleich eine Voraussetzung ihres Wachstums. Es ist ein Bauplan allein für die Generierung von miteinander kompatiblen Klängen und Bedeutungen, nicht also ein Bauplan, der regelt, warum irgendwann irgendjemand etwas sagt oder denkt. Die Sprachmaschine ist damit grundsätzlich nicht involviert mit menschlichen Handlungen oder mit Gründen ihres Verhaltens. Sie liefert uns Prinzipien und Parameter des Baus von Sätzen – blinde Mechanismen, die, ähnlich wie jene, die Wittgenstein beschreibt, als solche keine Probleme des Verstehens aufwerfen. Wittgenstein fragte sich gleichsam: Warum nicht die Frege–Russell-Frage, was Zahlen ‚wirklich‘ sind, unterlaufen und stattdessen fragen, welche Prozeduren tatsächlich ablaufen, wenn jemand Zahlwörter benutzt? In einem gewissen Sinne ist es genau dieses Projekt, das die generative Grammatik ernst nimmt, wenn sie die Sprachmaschine beschreibt, d. h. die intuitiven Beschreibungen der Handlungen des Kaufmanns durch eine tatsächliche Maschine ersetzt. (Das betrifft natürlich nur jene Aspekte sprachlichen Verstehens, die sich einer komputationalen Beschreibung erschließen.) Die generative Grammatik im Sinne des Studiums dieser Sprachmaschine können wir Kantisch verstehen: Sie ist ein Studium dessen, was der Fall sein muss, damit jemand überhaupt etwas sagen kann. Sie spezifiziert ebenfalls (nicht logisch, sondern biologisch) Unmögliches, unmögliche Bedeutungen nämlich, die die Prinzipien und Parameter des menschlichen Sprachbaus nicht erlauben. Eine unmögliche Bedeutung würde Sätzen entsprechen, die nicht so gebaut sind, dass sie etwas bedeuten können, denen aber natürlich gleichwohl aus Gründen der interpretatorischen Nachsicht oder sonst etwas dieser Art eine Interpretation zugeschrieben werden könnte. Der entscheidende Punkt ist dabei nur, dass Interpretationen, die wir aus welchen Gründen auch immer zuschreiben mögen, grammatisch – aus den Operationen des Sprachsystems heraus – nicht lizensiert sein müssen, und deswegen auch nicht dazu führen können, dass ein grammatisch unmöglicher Ausdruck plötzlich eine sprachliche Bedeutung hat. Anders gesagt liegt die Bedeutung von Ausdrücken in einem relevanten Sinne nicht in unserer Hand. Der Klang „Maria liebt Josef“ hat eine definite Bedeutung,
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und er kann nicht bedeuten, dass Josef Maria liebt. Das hat weder mit Konventionen noch mit den observationellen Eigenschaften dieses Klangs zu tun. Es ist schlicht ein grammatisches Faktum, dass zweistellige Prädikate wie „liebt“ ein internes („Josef“) und ein externes Argument („Maria“) haben müssen, mithin dass beide Prädikate nicht auf derselben Stufe stehen. Das externe Argument ist deswegen extern, weil es in der dem obigen Ausdruck zugrunde liegenden syntaktischen Struktur außerhalb der vervollständigten Verbphrase (VP) liegt:24 IP JJ VP JJ
V0
JJ V NP liebt Josef
Mit dem internen und externen Argument korrelieren universal bestimmte so genannte thematische Rollen: So kann das interne Argument nie die Rolle des Handelnden haben. Man könnte meinen, dass man dieses grammatische Faktum unterlaufen könnte, indem man das interne Argument einfach in eine syntaktische Position bringt, die höher (oder vor) der des externen Arguments liegt, um so die Interpretation, dass Josef Maria liebt, zu erreichen. Aber auch dies verbietet ein unabhängig motiviertes grammatisches Faktum: dass, auch wenn ein internes Argument sich auf diese Weise bewegt, seine thematische Rolle keine andere wird.25 Bedeutungserklärungen dieser Art haben Konsequenzen dafür, wie wir eine Gebrauchstheorie der Bedeutung nicht konzipieren dürfen. Wenn die Gebrauchstheorie der Bedeutung besagte, dass Sätze deswegen etwas bedeuten, weil sie so und so gebraucht werden, wäre sie wenig überzeugend. Kein Satz enthält deswegen bestimmte Phrasengrenzen, oder instantiiert deswegen bestimmte universale Gesetze für seine mögliche Interpretation, weil Menschen auf die Idee kommen, ihn auf eine bestimmte Weise zu gebrauchen. Betrachten wir zwei berühmte Beispiele von Chomsky: • John is easy to please. 24 NP
steht für Nominalphrase, IP für Inflektionsphrase, der grammatische Ort der Kodierung der Zeitstruktur eines Satzes. 25 So bedeutet im Englischen „Joseph, Mary loves“ immer noch, dass Josef der Geliebte ist, nicht der Liebende.
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• John is eager to please. Sie sehen grammatisch gleich aus, sind aber in ihrer Bedeutung grundsätzlich verschieden. Der erste Satz bedeutet, dass es leicht ist, für eine beliebige Person, John zu gefallen. Der zweite bedeutet, dass John erpicht ist, einer beliebigen Person zu gefallen. Wie erklären wir das? Semantisch gesehen ist „John“ im ersten Satz in Objektposition, im zweiten Fall in Subjektposition, während die Phonetik diesen Unterschied ignoriert. Dies aber ist nur eine Beschreibung des Sachverhalts. Für eine Erklärung benötigen wir eine abstrakte, nicht physisch manifeste zugrunde liegende Struktur. So bindet „John“ im zweiten Satz eine leere (phonetisch nicht realisierte, aber, wie wir sehen, semantisch relevante) Kategorie, die in der logischen Form des Satzes vor dem Infinitiv erscheint: „John is eager x to please“, wobei „John“ und x notwendig koreferentiell sind. Genau das ist nicht der Fall im ersten Satz, der aufgrund seiner anderen inneren Struktur anderes bedeutet.26 In diesen und ähnlichen Weisen wird erklärt, warum Sätze bedeuten, was sie bedeuten, und warum sie nicht bedeuten, was oberflächenmäßig ähnliche Sätze bedeuten. Es handelt sich hier um theoretische Hypothesen, die zu abstrakt und allgemein sind, als dass sie aus bloßen Beobachtungen von Sprachgebräuchen ablesbar sein könnten. (Umgekehrt helfen die Hypothesen zu erklären, warum die Sätze so gebraucht werden, wie sie gebraucht werden.) Es ist schlicht nicht klar, was es bedeuten soll, dass Ausdrücke aufgrund ihres Gebrauchs semantisch relevante leere Kategorien instantiieren.
8. Die Rolle des Gebrauchs Die Gebrauchstheorie der Bedeutung muss also heute einen anderen Sinn haben. Wenn wir im Rahmen eines generativen Ansatzes von einer Sprache reden, reden wir von einem System von Wissen: Das Kind weiß, für eine unbegrenzte Menge von möglichen Sätzen, was diese bedeuten und wie sie klingen. Dieses System von Wissen studiert die generative Grammatik als ein kombinatorisches System. Dessen Tätigkeit besteht darin, gegebene Einheiten eines Lexikons zu komplexeren Einheiten zu verrechnen, die am Ende einer Ableitung phonetisch und semantisch interpretierbaren syntaktischen Repräsentationen entsprechen. Diese Interpretationen werden von anderen kognitiven Systemen geleistet – Systeme, die sich außerhalb des Sprachvermögens befinden, aber innerhalb der Kopfes. Das sind artikulatorisch/perzeptuelle Systeme auf der phonetischen Seite, und intentional/konzeptuelle Systeme auf der semantischen Seite, wobei im letzteren 26 Vgl. Chomsky, N. (1995), op. cit., S. 188, für verschiedene Erklärungsversuche der Bedeutung des ersten Beispiels.
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Fall, anders als im ersteren, der Begriff der ‚konzeptuell-intentionalen‘ Systeme im Grunde nur unserer Unwissenheit über die Struktur dieser Systeme einen Namen gibt. Was tun diese Systeme auf der semantischen Seite? Sie greifen auf die Produkte syntaktischer Ableitungen zu, um sie weiter zu verarbeiten, zum Zweck von Aktivitäten wie Behaupten, Bezugnehmen oder einen Witz zu erzählen. Es ist also so, dass die internen Repräsentationen an den ‚Schnittstellen‘ des Sprachsystems zu den besagten anderen (nicht-linguistischen) Systemen in menschliche Aktivitäten eingehen. Heißt das, diese internen Repräsentationen haben an und für sich selbst ‚Intentionalität‘, oder dass ‚sie sich auf Dinge in der Welt beziehen‘? Nein, und eine gebrauchstheoretische Sicht der Bedeutung legt an dieser Stelle schlicht nahe festzustellen, dass interne syntaktische Repräsentationen gebraucht werden, und dass man Mechanismen studieren kann, die in diesen Gebrauch eingehen. Unter anderem helfen sie Personen, sich auf Dinge in der Welt zu beziehen. Sie sind, in einem sehr Wittgensteinschen Sinne, wie Werkzeuge, die Menschen bestimmte Bezugnahmen auf die Welt ermöglichen, und wohl tatsächlich manche solcher Gebrauchsweisen auch nahelegen (so ist etwa ein Personenname ungeeignet, sich auf Namen von Landschaften zu beziehen). Faktum ist also: Menschen benutzen Worte, um sich in bestimmten Kontexten auf Dinge in der Welt zu beziehen. Dies jedenfalls entspricht einem sinnvollen und klaren Gebrauch des Wortes „bezugnehmen“. Aus diesem folgt nicht, dass Worte selbst irgendwelche intentionalen Eigenschaften haben, die ihnen dadurch zuwachsen, dass sie auf bestimmte Weisen von Menschen gebraucht werden. Worte – komplexe Mengen, die mindestens aus drei Mengen bestehen, nämlich im Lexikon spezifizierten Mengen von phonetischen, semantischen und formalen Merkmalen – sind schlicht bestimmte naturale Objekte, die einfach die sind, die sie sind, und sich zunächst einmal auf gar nichts beziehen. Menschen tun dies, wenn sie sie benutzen. Über die internen Repräsentationen auf der einen Seite und die Mechanismen ihres Gebrauchs auf der anderen Seite hinaus gibt es in diesem Bild der Dinge über ‚Intentionalität‘ oder ‚intentionale Inhalte‘ nicht mehr zu sagen. Entweder fügt man der obigen Aussage (F) nichts hinzu, wenn man sagt: Worte beziehen sich auf Dinge in der Welt oder man fügt ihr etwas Obskures hinzu – intentionale Relationen zwischen komplexen mentalen Repräsentationen und Dingen in der Welt – und es scheint nicht klar, ob dieses Addendum zu einem relevanten neuen Forschungsgegenstand führen kann. Wollten wir diese Relationen spezifizieren, könnten wir nicht mehr als das Faktum (F) zum Gegenstand unserer Untersuchung machen. Wir würden also die Performanzsysteme zu untersuchen versuchen, die auf intern repräsentierte linguistische Ausdrücke zugreifen, eine Frage, die auch heute in ein großes
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Dunkel gehüllt ist. Wie könnte es diese Frage illuminieren, die Feststellung zu machen, Worte bezögen sich auf Dinge in der Welt? Dass in bestimmten Fällen eine solche Behauptung auch sehr obskur wäre, zeigen Beispiele wie „Idee“, „Höhepunkt“, „Himmel“, oder „Chinesisch“ (vom Wort „Bedeutung“ einmal abgesehen!) – Fälle, in denen es unklar ist, was die besagten Objekte in der Welt genau sein sollen, auf die diese Worte sich angeblich beziehen. Mit was genau sollen wir den Referenten von „Chinesisch“ identifizieren? Die Dinge, auf die wir uns beziehen, wenn wir dieses Wort benutzen, sind sehr verschiedene. Wittgensteins Analysen am Beginn der PU sind in meinen Augen mit großer Klarheit vorgebrachte Zweifel am Sinn einer allgemeinen, metaphysischen These, dass Worte sich auf Gegenstände beziehen, die ihre Bedeutungen sind.27 Das schließt freilich nicht aus, dass eine solche Redeweise einen bestimmten Punkt haben kann, relativ zu gegebenen Zwecken der Unterscheidung (vgl. PU §§ 10, 11, 14). Was die Beziehung von Chomsky und Wittgenstein angeht, komme ich dabei zu folgendem Schluss.28 Die Chomskysche Linguistik untersucht eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ‚das Sprachspiel‘ funktioniert. Sie tut dies durch bloße Mechanismen: blind und deterministisch ablaufende Komputationen, bei denen nichts dem Zufall oder der Wahl überlassen bleibt (die Sprachmaschine). Dadurch hat sie eine begrenzte Anwendung. Sie sagt zum Beispiel nichts darüber, warum eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Satz sagt, eine Tatsache, die Chomsky für eine historische halten würde, die nicht Gegenstand von Naturwissenschaft (oder ‚naturalisierbar‘) ist. Sie schließt damit den Bereich der menschlichen Praxis und Intentionalität aus, insoweit dieser zu komplex, kontingent und unvorhersagbar ist, als dass er sich explanatorischer Theoriebildung öffnen würde. „Intentionalität“ ist damit ein Term, der schlicht für den Gebrauch der Sprache steht: Die vom Sprachsystem generierten Strukturen werden intern weiterverar27 Wittgenstein weitet diese These sogar auf den vermeintlich klarsten Fall einer referentiellen Semantik aus, nämlich die Bedeutung von persönlichen Eigennamen. Hier würde die These, dass Worte sich auf Dinge beziehen, zu der These, dass die Bedeutung eines Namens sein Träger ist. Wittgenstein merkt dazu an, dies sei eine ‚Verwechslung‘ (PU § 40), da, wenn der Träger stürbe, man nicht sage, die Bedeutung des Namens sei gestorben. Ich habe anderenorts argumentiert, dass die Bedeutung von Eigennamen gar nicht referentiell aufgefasst werden kann und der Begriff des Namens selbst allein eine grammatische Definition hat. Vgl. Hinzen, W., „A Tale of Names and Truth“, Ms. 28 Dieser entspricht offensichtlich nicht der allgemeinen Ansicht, Chomsky und Wittgenstein seien wie Feuer und Wasser. Für derartige Ansichten siehe Baker, G., und Hacker, P. M. S., Language, Sense and Nonsense, Oxford: Blackwell 1989, oder Grewendorff, G., Sprache als Organ – Sprache als Lebensform, Frankfurt: Suhrkamp 1995. Für eine Ansicht, die der hier verteidigten sehr nahe zu stehen scheint, siehe Leiber, J., An Invitation to Cognitive Science, Cambridge/Mass.: Blackwell 1991, ein innovatives Buch, in dem Wittgenstein – neben Descartes, Turing und Chomsky – als einer der Väter der cognitive science erscheint.
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beitet und treten durch ihren Gebrauch in Relationen mit einer extramentalen Umgebung ein. Dieser Gebrauch hat eine Erklärung insoweit, als es Mechanismen gibt, die hier operieren, aber er hat keine Erklärung, insoweit wir nicht wissen, warum Mechanismen ablaufen, wenn sie es tun (warum der Geist einen Satz oder eine Bedeutung generiert, wenn er es tut, und ihn gebraucht, wie er es tut). Über diesen gebrauchstheoretischen Sinn von Intentionalität hinaus gibt es keinen Sinn, in dem diese Theorie natürlichsprachigen Ausdrücken oder mentalen Repräsentationen geist-externe intentionale Inhalte, extra-mentale Propositionen oder ‚Bedeutungen‘ zuschreibt – Entitäten, die, wie oben an zwei Beispielen illustriert, keine explanatorische Rolle in ihren rein syntaktischen Bedeutungsbzw. Gebrauchserklärungen spielen.
9. Einige Bemerkungen zum ‚Innatismus‘ Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass der Konstruktionsplan, der dem Wachstum einer Pflanze oder dem eines ‚körperlichen‘ Organs des Menschen zugrunde liegt, intern in diesen repräsentiert ist. Zumindest ist das so, wenn der Sinn dieser Aussage nicht mehr als der ist, dass die Prinzipien dieses Wachstums nicht eine Funktion der Umgebung, des Wetters, des Bodens oder der Nahrung sind (obwohl alle diese Bedingungen gegeben sein müssen). Was Umgebungsfaktoren in diesen Fällen tun, ist zu erlauben, dass ein gegebenes Bioprogramm gesetzmäßig abläuft. Es ist nicht klar, wieso parallele Annahmen in Bezug auf ein – viel komplexeres – ‚geistiges‘ Organ wie das Sprachsystem kontrovers sind. Auch hier wäre die These zunächst einfach die, dass die Strukturen der Universalen Grammatik nicht mysteriöserweise aus der Nahrung oder der ‚Kommunikation‘ kommen, sondern aus einem Zusammenspiel genetischer Faktoren, der Fixierung von Parametern durch die linguistische Erfahrung, sowie allgemeinen chemischen und physikalischen Gesetzen, die die Morphogenese von Organismen steuern, bevor Mechanismen natürlicher Selektion auf sie zugreifen.29 Auch hier scheint es – wenn man Kindern beim Spracherwerb zusieht –, als stelle die soziale Umgebung der Eltern die Bedingungen bereit, unter denen gesetzmäßige Strukturbildung stattfindet, ohne diese zu bestimmen. Diese Strukturbildung vollzieht sich während des kritischen Alters der Sprachakquisi29 Während zutrifft, dass wir von Sprachen kommunikativen Gebrauch machen, ist unklar, wieso das die Strukturen der Sprache bestimmt, die ebenso oft schwer benutzbar sind, und deren syntaktische Eigenschaften in keiner Weise aus Bedingungen kommunikativer Effizienz einsichtig zu machen sind. Reine Kommunikationssysteme, wie wir sie im Tierreich finden, kennen keine Syntax im Sinne menschlicher Sprachen und sind reine Signalsysteme, die in ihrem Gebrauch und ihrer Struktur wenig Gemeinsamkeiten mit menschlichen Sprachen haben. Die These, dass kommunikative und soziale Interaktionen zur Entwickung syntaktischer Strukturen führen, ist in diesem Sinne eine nicht substantiierte These.
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tion mit derselben Art von Automatizität, Notwendigkeit und relativen Uniformität wie im Falle des Wachstums von Pflanzen. Ist das kritische Alter vorüber, und muss eine erste Sprache auf der Basis allgemeiner kognitiver Fähigkeiten gelernt werden, entsteht normale sprachliche Kompetenz gar nicht mehr.30 Die der Erfahrung im Akquisitionsprozess zugewiesene relativ geringe Rolle ist dabei nicht Ergebnis einer im engeren Sinne philosophischen Epistemologie, sondern ein empirisches Ergebnis der Entwicklung der Theorie selbst (deren Konsequenz dann eine bestimmte Epistemologie ist). Prinzipien der Variation unter menschlichen Sprachen müssen, damit sie für das Kind feststellbar sind, im phonetischen Output der Sprache seiner Umgebung (in seiner linguistischen Erfahrung) erfahrbar sein. Dies aber erlaubt keine große Bandbreite der Variation in den abstrakten phonologischen und semantischen Strukturen, die einem Satz mit einem bestimmten Klang und einer Bedeutung zugrunde liegen. Diese liegen also offenbar vor der Erfahrung fest und bestimmen, von parametrischer Variation abgesehen, was ein möglicher Klang und eine mögliche Bedeutung einer Sprache ist. Die Präsenz apriorischer Systeme von sprachlichem Wissen ist dabei insbesondere für die phonologische Struktur von Sprachen anzunehmen. Die generative Phonologie ist die Wissenschaft von abstrakten Regeln, nach denen eine Menge abstrakter im Lexikon gespeicherter Phoneme in durch die Artikulationsund Perzeptionssysteme interpretierbare phonetische Repräsentationen überführt werden. Einzelne Sprachen teilen phonologische Prinzipien, treffen aber eine Auswahl aus dem universalen Repertoire möglicher Phoneme oder Sprachlaute (Weisen, in denen Sprachen klingen können). Es scheint in diesem Sinne, als würde das Kind in keinem gewöhnlichen Sinn die Klänge seiner Sprache ‚lernen‘: Ausgestattet mit dem epistemologisch apriorischen Wissen darüber, was mögliche Sprachlaute sind, stellt es fest, welche Laute eine bestimmte Sprache auswählt (ein Prozess, der offenbar innerhalb von Tagen nach der Geburt einsetzt).31 Der Spracherwerb beginnt nicht mit einem leeren Organismus, der Schallwellen ausgesetzt ist und aus diesen das Wissen über die Klangstruktur einer Sprache bezieht. Gehen wir von der phonetischen Außenseite der Sprache über zu ihrer Bedeutungsstruktur, so gilt um so mehr, dass Worte, Phrasen, X-bar-Ebenen, Transformationen etc. nichts sind, was in der Außenwelt oder der Erfahrung des Kindes irgendwie ‚vorhanden‘ wäre oder von den gegebenen Schallwellen suggeriert würde. Phoneme und Worte ‚gibt‘ es erst für das Kind in seiner Erfahrung, 30 Wie das Beispiel so genannter ‚wilder Kinder‘ zeigt, die kognitiv normal entwickelt sind, aber zur relevanten Zeit keine linguistische Erfahrung hatten. Siehe Uriagereka, J., Rhyme and Reason, MIT Press 1998, 454, 585. 31 Vgl. Uriagereka, J. (1998), op. cit., 122, und Mehler, J., und Dupoux, E., What Infants Know, Oxford: Blackwell, 1994.
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wenn es bestimmte innate Strukturen seiner Erfahrung zugrunde legt. Der Weg seines Spracherwerbs führt insbesondere offenbar nicht von der Phonetik zur Semantik, da das Erkennen syntaktischer Eigenschaften von Ausdrücken eine Bedingung des Verstehens phonologischer Kategorien ist. Von Worten schließlich führt noch kein direkter Weg zu Phrasen und Sätzen: Die Interpretierbarkeit von Sätzen hängt davon ab, dass ihre morphologischen Einheiten (Worte) in abstrakteren Einheiten (Phrasen) organisiert sind, die keine physische Manifestation in der äußerlichen Erscheinung der Sprache haben. Während abstraktere zugrunde liegende Strukturen von Sätzen schon sehr früh in der Geschichte insbesondere der mittelalterlichen Linguistik postuliert wurden, ist die Geschichte der Entdeckung von Phrasenstrukturen in ihrer modernen Form eine Geschichte von mehreren tausend Jahren. Kinder erkennen sie routinemäßig und ohne eine erkennbare Anstrengung oder Unterricht in wenigen Jahren. Dieses Faktum scheint schwer erklärbar, wenn jede Sprache eine arbiträre, konventionelle und idiosynkratische Weise ist, Schallwellen zu organisieren.32
10. Analytizität Evidenz für die Existenz von epistemologisch apriorischen Systemen phonologischen und semantischen Wissens ist schließlich die Existenz von analytischen Verbindungen zwischen phonologischen Repräsentationen auf der einen Seite und semantischen Repräsentationen auf der anderen. Aus dem Wissen von unserer Sprache allein ergibt sich, dass wir wissen, welche Worte sich reimen. Reime ergeben sich, wie es scheint, aus Ähnlichkeiten in den phonologischen Konstituentien eines Ausdrucks und deren Struktur. Wir finden nicht empirisch heraus, dass sich „reimen“ mit „deinen“ reimt. Wenn wir diese Worte hören, stellen wir fest, dass wir dies wissen. Analog dazu ergibt es sich aus der internen Struktur von Verben wie „jagen“, dass der Jagende eine Intention zu töten hat, oder aus der Struktur von Verben wie „überzeugen“, dass der Überzeugte eine Intention formt, zu tun, wovon der Überzeugende ihn zu überzeugen versuchte. Analytische Verbindungen dieser Art sind unmittelbar einsichtig und erklärbar in Fällen, oben illustriert für den Satz „John is easy to please“, wo sich semantische Eigenschaften von Ausdrücken aus ihren formalen (syntaktischen) Eigenschaften ergeben. Das gleiche gilt für semantische Ambiguitäten, insoweit sie struktureller Natur sind, sich also aus der Tatsache ergeben, dass eine gegebene phonetische 32 Diese
Beobachtungen, die die Phonologie wie die Semantik betreffen, werfen signifikante Probleme für das Konzept einer ‚öffentlich vorhandenen‘ oder ‚geteilten‘ Sprache auf. Es scheint, als wäre das einzige, was an einer Sprache ‚öffentlich‘ ist, bedeutungslose und nicht sprach-spezifische akustische Geräusche – nichts also, was man „Sprache“ nennen würde –, und es ist nicht einzusehen, wie die vollständig systematischen und universalen Strukturen, die wir in menschlichen Sprachen finden, einer arbiträren Organisierung solcher Geräusche gleichkommen könnten.
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Form mit zwei verschiedenen logischen Formen (bzw. zwei Ableitungen) korreliert ist. Meine Behauptung ist also, dass es unendlich viele analytische Verbindungen zwischen Sätzen gibt: Wir finden sie überall dort, wo formale Eigenschaften von Sätzen unmittelbare semantische Konsequenzen haben, Konsequenzen, die von nichts anderem abhängen als jenen formalen Eigenschaften selbst: A NALYTIZITÄT. Semantische Eigenschaften von Sätzen sind analytisch, wenn sie sich aus den formalen Prinzipien der Generierung dieser Sätze ergeben, wobei das Prinzipien sowohl der phonetischen wie der semantischen (LF) Repräsentationen im Sprachsystem sind. Fassen wir nun einige Merkmale dieses Analytizitätsbegriffs zusammmen. Erstens, insoweit syntaktische Prozesse systematisch sind und semantische Eigenschaften von Ausdrücken von ihren strukturell-syntaktischen Eigenschaften abhängen, sind analytische Bedeutungseigenschaften, die wir syntaktisch erklären können, ebenfalls systematisch. Zweitens werden sie apriorisch gewusst in dem Sinne, dass sie sich aus generativen Prinzipien ergeben, die nicht in der Erfahrung vorhanden, sondern dem Geist eigen sind. Sie sind also auch nicht durch Erfahrung widerlegbar. Es ist zum Beispiel nicht klar, welche Erfahrung ich machen könnte, durch die ich zu dem Schluss komme, ein Jäger habe keine Intention zu töten. Eine Erfahrung, in der sich herausstellt, dass eine sich so nennende ‚Jagdgesellschaft‘ nur gutwillige Absichten hat und freiwillig an den Zielen vorbeischießt, würde nicht zu der Ansicht führen, das Wort „jagen“ bedeute etwas anderes, sondern Anlass geben zu der Bemerkung, das ‚sei ja eine schöne Jagdgesellschaft‘, geradezu ‚ein Witz‘. Die Jagdgesellschaft ist deswegen ein Witz, weil das Wort „jagen“ bedeutet, was es bedeutet. In einem ähnlichen Sinne kann nicht sein, dass, wenn sich „reimen“ mit „deinen“ reimt, eine bestimmte Erfahrung suggeriert, dass das nicht so ist. Das schließt aber nicht aus, drittens, dass alle Hypothesen (inklusive all meiner eigenen hier) darüber, dass diese oder jene semantische Eigenschaft analytisch sei, stets empirisch und fallibel sind. Das liegt einfach daran, dass es der empirischen Wissenschaft obliegt herauszufinden, nach welchen Prinzipien ein Ausdruck generiert ist und was die generative Grammatik einer Sprache ist. Viertens sind analytische Eigenschaften von Sätzen keine Zufälle, sondern notwendige Konsequenzen des Operierens eines formalen Systems. Sie sind fünftens opak darin, dass ein Sprecher einer Sprache selbst nicht wissen muss, welche analytischen Verbindungen zwischen Ausdrücken bestehen: Die Linguistik kann dieses Wissen erst an den Tag fördern. Sie sind sechstens informativ darin, dass sie uns zwar immer etwas sagen, was aus unserem gegebenen sprachlichen Wissen bereits folgt, aber dies nicht immer in Fällen, wo wir eben dies schon selbst wissen.
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Schließlich ist insgesamt als eine allgemeine Eigenschaft analytischer Verbindungen festzuhalten, dass sie weder etwas mit dem Begriff der Überzeugung noch etwas mit dem Begriff der (logischen) Inferenz zu tun haben. Eine noch so starke Überzeugung, der Satz „Ralph believes that the richest man is happy“ sei mehrdeutig in Abhängigkeit von den relativen Skopusverhältnissen seiner Quantoren, kann dazu führen, dass er tatsächlich diese Skopusverhältnisse hat. Dass er insbesondere die Lesart hat, die einem weiten Skopus der eingebetteten Nominalphrase „the richest man“ entspricht, ist eine empirische Frage, gegen deren positive Antwort es gute Evidenz gibt.33 Die positive Antwort wird davon abhängen, ob es eine grammatische Transformation gibt, die den eingebetteten Quantor an den Satzanfang schiebt. Auch die Tatsache, dass viele Menschen geneigt sind, aus dem obigen Ralph-Satz zu schließen, es gebe einen reichsten Mann derart, dass Ralph von ihm glaubt, er sei glücklich, ist keine Tatsache von einer Art, die Pietroski und Hornsteins rein grammatische Argumente erschüttern könnte. Manch einen wird diese Analyse des Analytizitätsbegriffs enttäuschen, schlicht aus dem Grund, dass er nichts sagt über die Problemfälle, die die Philosophen seit 50 Jahren beschäftigen.34 Meines Erachtens sollte man dieses Faktum aber aus einer anderen Perspektive betrachten. Der obige Begriff des Analytischen trägt der Tatsache Rechung, dass Bedeutung ein linguistischer Begriff ist und dass analytische Verbindungen mit Regeln der Sprache zu tun haben. Es ist genau die Begrenzung des Begriffs, die ihm einen empirischen Gehalt zu geben erlaubt. Epistemologische Probleme werden damit nicht gelöst, und vielleicht entspricht es einem falschen Verständnis des linguistic turn, epistemologische Probleme im Rekurs auf semantische (sprachliche) Fakten lösen zu wollen. Kurzum, der obige Ansatz hat nichts zu sagen zu der Frage, ob 2+2 = 4 analytisch ist, oder ob „Wasser ist H2 O“ analytisch ist – beides Ausdrücke mit Konstituentien, die dem natürlich erworbenen Lexikon gar nicht angehören, solange wir sie ihm nicht hinzufügen, und die nach gänzlich anderen Prinzipien erworben werden als jene Begriffe, die wir im Lexikon eines 4- oder 5-Jährigen finden.
11. Schlussfolgerung Ich habe argumentiert, dass Bedeutung – in dem Maße, in dem dies ein linguistischer Begriff ist – durch Mechanismen fixiert wird, die dem menschlichen Geist als solchem eigen sind. Ich habe damit einen internalistischen Bedeutungsbegriff vertreten, internalistisch in dem Sinne, dass wir uns mit den syntaktischen Ab33 Vgl.
wiederum Pietroski und Hornstein (2002), op. cit. Folgende ist meine Replik auf einen Einwand Wolfgang Spohns während der Konstanzer Konferenz. 34 Das
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leitungen von semantischen Repräsentationen im Gehirn beschäftigen. Ich habe externalistische Aspekte von Bedeutung nicht berücksichtigt. Zu diesen gehören etwa die mannigfachen Weisen, in denen Ausdrücken Bedeutungen zugeschrieben werden, ungeachtet der Tatsache, ob diese Ausdrücke an sich selbst solche Bedeutungen haben. Externe Aspekte sind etwa auch, dass in Paris heute überwiegend Französisch gesprochen wird, ein historisches Faktum, das sicher weniger mit dem menschlichen Sprachvermögen zu tun hat als mit historischen und politischen Konstellationen wie dem deutschen Verlust des Krieges. Ein externer Aspekt ist schließlich, dass jemand, der das Wort „Wasser“ benutzt, möglicherweise (nicht notwendigerweise) über etwas redet, was eine Menge von H2 OMolekülen enthält. Aber auch das hat weniger mit dem menschlichen Sprachvermögen zu tun als mit der wissenschaftlichen Revolution der Chemie, sowie der Autorität und Soziologie der Wissenschaft als solcher. Eine weitere Illustration von externen Aspekten von Bedeutung ist, wie eine Person mit sprachlicher Kompetenz letztendlich dazu kommt, diese in der Weise zu gebrauchen, in der sie das tut. Aber dieser faktische Gebrauch hängt von der Gesamtheit ihrer kognitiven Organisation ab und ist in diesem Sinne als solcher kaum ein Gegenstand für eine naturalistische Theorie. In den Sprachgebrauch gehen die Prinzipien und Parameter des Sprachvermögens ein (sie spielen eine kausale Rolle für sein Zustandekommen), aber sie erklären ihn nicht. Das Sprachvermögen als solches bestimmt nicht, wie eine Person es gebraucht (ob sie Fragen höflich und informativ beantwortet, Konventionen und konversationelle Normen akzeptiert oder nicht, etc.). Eine Person mag Worte wählen, deren Rassismus sanktioniert würde, aber was hier sanktioniert würde ist offenbar nicht das Sprachvermögen, sondern die Person, oder ihr Rassismus. Die Sprache handelt nicht, unterliegt keinen Normen, sondern besteht aus komputationalen Prozessen, die so verlaufen, wie sie müssen, wenn sie es tun. Wenn die Idee, die Bedeutung sei der Gebrauch, so gemeint ist, dass die bedeutungsrelevanten Strukturen des Sprachvermögens aus dem Gebrauch zu bestimmen sind und dass überhaupt das Studium der Sprache ein Studium von Verhalten sein soll, markiert sie eine radikale Opposition zu dem, was die generative Revolution in der Linguistik ergeben hat. In der Sicht der generativen Linguistik ist das Studium der Sprache das Studium eines Systems von Wissen, für dessen postulierte Inhalte das Sprachverhalten Evidenz bereitstellt, ohne dass es diese bestimmen könnte. Die generative Linguistik ist in diesem Sinne nicht nur kein Studium von Verhalten, sondern auch kein Studium der Ursachen, die Verhalten determinieren, und kein Studium von Normen, die solchem Verhalten zugrunde liegen. Sie kann auf einem falschen Pfad sein, aber alternative Kandidaten wären an ihrem Erfolg in der Erklärung der empirischen Phänomene zu messen, wofür die gegenwärtige generative Linguistik eine Erklärung anbietet.
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Wie durch ein Wunder scheint es, als könnten wir in manche komplexe natürliche Systeme auch des menschlichen Geistes ein gewisses Licht werfen und ihre Funktionsweise verstehen. Solches Verstehen wird im allgemeinen von hohen Abstraktionsgraden und sehr selektiven Bezugnahmen auf den Gegenstand abhängen. Jenseits solcher Erfolge aber spielen wir Sprachspiele. Wir haben viel gelernt über die interne Struktur von Sätzen, aus denen heraus sie bedeuten, was sie bedeuten. Aber wenn es zu der Frage kommt, wie sich einzelne Sätze in einen kohärenten Diskurs oder eine Konversation einbetten, ist die Grenze naturalistischer Theoriebildung rasch erreicht. Die Wittgensteinsche Analyse der Sprachspiele zeigt uns dabei, warum das so ist – warum es unseren Sprachgebrauch verfremdet, wenn wir von gegenstandstheoretischen Bedeutungstheorien, systematischen Wahrheitstheorien und dergleichen ausgehen. Sie behält also ihren therapeutischen Sinn auch dort, wo wir durch die Analyse der Chomskyschen ‚Sprachmaschine‘ immer mehr darüber lernen, welche Aspekte sprachlicher Bedeutung sich durch das Studium formaler komputationaler Eigenschaften von Ausdrücken allein erklären lassen. Jenseits davon werden Menschen diese Sprachmaschine einfach in der Weise gebrauchen, in der sie das tun – spontan, kreativ, aber doch immer angemessen. Es ist genau dieses rätselhafte Phänomen, das auch nach mehreren Jahrhunderten so mysteriös scheint wie zu jener Zeit, als Descartes uns zuerst darauf hinwies.
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Pragmatismus und Semantik1 1. Zwei Paradigmen für eine Theorie der Semantik Sprachtheorien im zwanzigsten Jahrhundert tendieren zu jeweils einem von zwei völlig verschiedenen Modellen. Im ersten Paradigma wird die Auffassung vertreten, daß Ausdrücke Entitäten vertreten und daß ihre Bedeutungen diejenigen Entitäten sind, die von ihnen vertreten werden. Dem zweiten Paradigma zufolge handelt es sich bei Ausdrücken eher um Werkzeuge für eine Interaktion, wobei die Bedeutungen der Ausdrücke ihre Funktionen innerhalb der Interaktion, bzw. ihre darin zum Tragen kommende Eignung zum distinktiven Gebrauch, sind. Das erste Paradigma wurde besonders von Russell und dem jungen Wittgenstein ausgearbeitet, und seine Blütezeit erreichte es dann vornehmlich in den Arbeiten Rudolf Carnaps und seiner Anhänger, den ‚formalen Semantikern‘, deren berühmtester Vertreter Richard Montague war. Russell hatte die Art und Weise analysiert, wie unsere Namen dazu kommen, Objekte zu repräsentieren, woraufhin er dann dazu überging, seine Ergebnisse auf die Sprache als Ganzes zu übertragen: Wir machen Bekanntschaft mit den Entitäten in unserer Umgebung und repräsentieren diese mit Hilfe unserer Ausdrücke. Und auf diese Art gelangen unsere Ausdrücke zu ihren Bedeutungen. Wie Russell (1912, V) auch schreibt: We must attach some meaning to the words we use, if we are to speak significantly and not utter mere noise; and the meaning we attach to our words must be something with which we are acquainted.2
Diese Idee wurde in Wittgensteins Tractatus auf raffinierte Weise vervollkommnet. In ihm stellt sich Wittgenstein die Sprache so vor, daß sie die Welt darstellt, indem sie deren Formen teilt: Im Satze kann der Gedanke so ausgedrückt sein, daß den Gegenständen des Gedankens Elemente des Satzzeichens entsprechen. [ . . . ] Der Name 1 Aus
dem Englischen übersetzt von Dirk Saleschus und dem Autor. wir bedeutungsvoll sprechen wollen und nicht nur bloße Geräusche produzieren, dann müssen wir unseren Wörtern Bedeutungen zuweisen; und die Bedeutung, die wir unseren Wörtern zuweisen, muß etwas sein, mit dem wir vertraut sind.“ 2 „Wenn
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vertritt im Satz den Gegenstand. [ . . . ] Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. (Wittgenstein 1922, §§ 3.2, 3.22, 4.01)
Carnap veranlaßte dies dazu, die Semantik als den Teil der Sprachtheorie abzugrenzen, der sich mit den von Ausdrücken denotierten Objekten befaßt: When we observe an application of language, we observe an organism, usually a human being, producing a sound, mark, gesture, or the like as an expression in order to refer by it to something, e. g. an object. Thus we may distinguish three factors involved: the speaker, the expression and what is referred to, which we shall call the designatum of the expression. [ . . . ] If we abstract from the user of the language and analyze only the expressions and their designata, we are in the field of semantics. [ . . . ] Semantics contains the theory of what is usually called the meaning of expressions [ . . . ]3 (Carnap 1942, 8–10)
Und Reichenbach (1947, 4) formuliert kurz und bündig: Language consists of signs. [ . . . ] What makes them signs is the intermediary position they occupy between an object and a sign user, i.e., a person. The person, in the presence of a sign, takes account of an object; the sign therefore appears as the substitute for the object with respect to the sign user.4
Zur gleichen Zeit gedieh allerdings auch das andere Paradigma vorzüglich, und zu Beginn des Jahrhunderts durchdrang es besonders die Sprachphilosophie der amerikanischen Pragmatisten. Anzeichen dafür ist die berühmte Behauptung von Dewey (1925, S. 179): „meaning [ . . . ] is not a psychic existence, it is primarily a property of behaviour“, daß also Bedeutung keine psychische Existenz besitze, sondern eher eine Eigenschaft des Verhaltens sei. Eine charakteristischere Darstellung dieses Paradigmas findet sich jedoch u.a. bei dem Sozialanthropologen G. H. Mead (1934, S. 75 f.): 3 „Wenn wir Anwendungen von Sprache beobachten, dann beobachten wir einen Organismus, für gewöhnlich einen Menschen, der Laute, Zeichen, Gesten oder ähnliches als Ausdruck hervorbringt, um damit auf etwas zu referieren, z.B. auf ein Objekt. Wir können demnach drei Faktoren unterscheiden: den Sprecher, den Ausdruck und das, auf was referiert wird und was wir das Designatum des Ausdrucks nennen werden. Wenn wir nun vom Benutzer der Sprache abstrahieren und uns nur mit der Analyse der Ausdrücke und ihrer Designata befassen, dann befinden wir uns im Bereich der Semantik. [ . . . ] Die Semantik umfaßt die Theorie dessen, was für gewöhnlich die Bedeutung der Ausdrücke genannt wird [ . . . ]“ 4 „Sprache besteht aus Zeichen. [ . . . ] Was sie zu Zeichen macht, ist die Zwischenposition, die sie zwischen einem Objekt und einem Zeichenbenutzer, d.h. einer Person, einnehmen. Durch das Vorhandensein eines Zeichens wird der Person das Objekt vermittelt; für den Zeichenbenutzer erscheint das Zeichen also als Ersatz für das Objekt.“
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Meaning arises and lies within the field of the relation between the gesture of a given human organism and the subsequent behaviour of this organism as indicated to another human organism by that gesture. If that gesture does so indicate to another organism the subsequent (or resultant) behaviour of the given organism, then it has meaning. [ . . . ] Meaning is thus a development of something objectively there as a relation between certain phases of the social act; it is not a physical addition to that act and it is not an “idea” as traditionally conceived.5
Man braucht nicht gesondert darauf hinzuweisen, daß hier eine völlig andere Vorstellung von Sprache und folglich auch eine völlig andere Auffassung von Bedeutung vorliegt. Die Sprache wird nicht als eine Menge von Ersatzes für Entitäten betrachtet, und die Bedeutungen sind keine ersetzten Entitäten. Vielmehr ist hier die Sprache ein Mittel zur Interaktion, und Bedeutung ist die Fähigkeit, diese Interaktion gewissermaßen ‚zur Resonanz zu bringen‘. Auch der spätere Wittgenstein verwarf seine frühere ‚Abbildtheorie‘ der Sprache zugunsten solch einer ‚pragmatistischen‘ Auffassung. In seinen dem Traktat nachfolgenden Schriften ist die Sprache nun nicht mehr eine Menge von Abbildern, sondern es entsteht die Vorstellung von einer ‚Sammlung verschiedener Werkzeuge‘: Die Sprache ist eben eine Sammlung sehr verschiedener Werkzeuge. In diesem Werkzeugkasten ist ein Hammer, eine Säge, ein Maßstab, ein Lot, ein Leimtopf und der Leim. Viele der Werkzeuge sind mit einander durch Form und Gebrauch verwandt, man kann die Werkzeuge auch beiläufig in Gruppen nach ihrer Verwandtschaft einteilen aber die Grenzen dieser Gruppen werden oft, mehr oder weniger, willkürlich sein; und es gibt verschiedenerlei Verwandtschaften, die sich durchkreuzen. (Wittgenstein 1969, 67)
Aus dem folgt, daß die Bedeutung eines Ausdrucks kein Ding ist, das von ihm abgebildet wird, sondern daß sie vielmehr eine Art Nutzbarkeit dieses Ausdrucks darstellt, eine Art Fähigkeit, entsprechend unseren Absichten eingesetzt zu werden: Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung [ . . . ] Die Bedeutung eines Worts vergleiche mit der ‚Funktion‘ eines Beamten. Und ‚verschiedene Bedeutungen‘ mit ‚verschiedenen Funktionen‘. (Wittgenstein 1984, §§ 61, 64) 5 „Bedeutung entsteht und befindet sich innerhalb des Bereiches der Relation zwischen den Gesten eines bestimmten menschlichen Organismus und dem sich daran anschließenden Verhalten des Organismus, das durch eben diese Geste einem anderen Organismus angezeigt wird. Wenn diese Geste einem anderen Organismus tatsächlich das nachfolgende (oder daraus resultierende) Verhalten anzeigen kann, dann hat sie auch Bedeutung. [ . . . ] Bedeutung ist daher die Herausbildung von etwas objektiv Vorhandenem als einer Relation zwischen bestimmten Phasen des sozialen Handelns; es ist keine physische Ergänzung dieses Handelns und es ist ebensowenig eine ‚Idee‘ im Sinne der traditionellen Auffassung.“
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Diese zwei Paradigmen zur Herangehensweise an die Sprache will ich hier entsprechend das Carnapsche und das Deweysche Paradigma nennen. Prima facie sieht es so aus, als ob diese zwei Ansätze exemplarische Gegensätze bildeten: Während das erste auf der Annahme basiert, daß Sprache primär ein System von Namen oder Repräsentationen von Dingen bildet, nimmt das zweite an, daß Sprache eine Ansammlung von Mitteln ist, Dinge zu tun – und diese beiden Auffassungen von Sprache erscheinen als unvereinbar miteinander. Das Carnapsche Bild von Sprache hat letztendlich zur mathematischen Rekonstruktion von Sprache als einem System von Ausdrücken geführt, die homomorph auf ein System von Denotationen abgebildet werden (Montague 1970), wohingegen die Deweysche Einstellung eher zu einer Lehre von ausweichenden ‚Sprachspielen‘, Gedankenexperimenten mit ‚radikaler Übersetzung‘ und ‚Interpretation‘ zu führen scheint und schließlich zu einer vollständigen ‚Pragmatisierung der Semantik‘ (Peregrin 1999), die sich für keinerlei mathematische Formalisierung zu eignen scheint. In diesem Aufsatz möchte ich jedoch aufzeigen, daß die Kluft zwischen beiden Auffassungen von Sprache nicht vollkommen unüberbrückbar sein muß. Es stimmt zwar, daß die Konzeptionen von Sprache, die beiden Ansichten zugrundeliegen, kaum miteinander versöhnbar scheinen – was ich aber vorschlage, ist, daß der vom Carnapschen Ansatz hervorgebrachte technische Apparat mitsamt seiner Fülle von Resultaten in den Dienst des Deweyschen Paradigmas gestellt werden kann – wenn wir ihn denn von der Carnapschen repräsentationellen Ideologie befreien. Daher werde ich dafür argumentieren, daß der Beitritt zum Deweyschen Paradigma nicht zur Aufgabe von Carnaps und Montagues formaler Semantik führen muß.
2. Bedeutung und Regeln Wenn wir Deweys Auffassung von Sprache oder auch die des späteren Wittgenstein als vorausgesetzt betrachten, dann sehen wir in der Bedeutung eines Ausdrucks in erster Linie eine semantisch relevante Rolle bzw. Funktion dieses Ausdrucks. Was genau ist aber ‚die semantisch relevante Funktion‘ eines Ausdrucks? Wir sollten damit anfangen, uns die Funktion eines nicht-linguistischen Gebrauchsgegenstandes anzusehen, z.B. die eines Hammers. Allgemein gesprochen kann ein Hammer auf vielfältige Art und Weise verwendet werden, wobei wir einige dieser Verwendungsweisen als dem Hammer inhärente Funktionen betrachten, während uns andere eher zufällig und weniger ‚hammerspezifisch‘ vorkommen. Ein Musterbeispiel für die erstere Art von Dingen, die wir mit einem Hammer tun, ist das Einschlagen von Nägeln, wohingegen es ein Musterbei-
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spiel für die letztere Art von Verwendungen wäre, ihn z. B. als Briefbeschwerer zu benutzen. Natürlich können wir zwischen beiden Arten der Benutzung keine scharfe Grenze ziehen (ihre Beziehung ist vergleichbar mit der zwischen dem Zentrum und den Randbezirken einer Stadt) – doch deswegen lassen wir uns nicht davon abhalten zu denken, daß es eine für den Hammer charakteristische Funktion gibt. Die Tatsache nun, daß die Benutzung eines Ausdrucks ein ganz ähnliches Kontinuum von Fällen umfaßt, von solchen, die ganz klar als zentral für diesen Ausdruck aufgefaßt werden – durch eben jene Bedeutung, die der Ausdruck mit sich führt –, bis zu denen, die eher als peripher betrachtet werden, hat einige Denker zu einer Kette von Schlüssen geführt, die sich destruktiv auf das Carnapsche Paradigma auszuwirken scheinen: Wir können Semantik nicht von Pragmatik trennen. Deswegen können wir keine Grenzen von Bedeutungen angeben. Folglich gibt es für eine Semantik nichts zu erforschen. Ich denke, irgendwo in dieser Argumentation fangen wir an, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Letztendlich gibt es keine ‚reinen‘ Dreiecke in unserer realen Welt, doch trotzdem ist die Geometrie, in der man sich ausschließlich mit solchen ‚reinen‘ Formen befaßt, zweifellos nicht nur ein ehrwürdiges Unternehmen, sondern auch nützlich für unser Verständnis von der Welt und für unser Handeln in ihr. Und auf ähnliche Art und Weise kann sich eine semantische Theorie, die mit klar abgegrenzten Bedeutungen arbeitet, als nützlich erweisen auch in einer Welt, wo man nur unscharfe Bedeutungen finden kann. Doch wie geht man die Rekonstruktion von unscharfen Bedeutungen an? Bedeutungen sind ja nichts Sichtbares, so wie die Formen von Dingen; wo also sind sie anzutreffen? Es war der spätere Wittgenstein, der nachdrücklich darauf hingewiesen hat, daß es wohl keinen anderen Weg der Annäherung an Bedeutungen gibt als über die Regeln, die deren Ausdrücke regulieren. Es gibt, wie Wittgenstein bemerkte, einen charakteristischen Unterschied zwischen der Benutzung z.B. eines Hammers und der Benutzung eines Ausdrucks: Der Unterschied liegt darin, daß der Gebrauch eines Ausdrucks, im Gegensatz zu dem eines Hammers, regelgeleitet ist. Sicherlich gibt es auch Regeln für die Benutzung eines Hammers – aber diese unterscheiden sich doch wesentlich von denen, die für einen Ausdruck bestimmt sind. Die Gebrauchsregeln für Hämmer geben lediglich an, wie man sie benutzen muß, um das Ziel zu erreichen, für das sie konzipiert wurden. Sprachregeln hingegen sind von ganz anderer Art: Sie geben nicht den effektiven Gebrauch der Sprache an, sondern sind vielmehr der Sprache zugrundeliegend. Dies brachte Wittgenstein (1969, 184 f.) zu der Schlußfolgerung, der Gebrauch der Sprache sei eher mit einem Schachspiel zu vergleichen als mit dem Benutzen eines Hammers oder, wie in dem Fall, mit dem Kochen:
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Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich; und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil ich den Begriff ‚Kochen‘ durch den Zweck des Kochens definiert denke, dagegen den Begriff ‚Sprache‘ nicht durch den Zweck der Sprache. Wer sich beim Kochen nach andern als den richtigen Regeln richtet kocht schlecht; aber wer sich nach andern Regeln als denen des Schach richtet, spielt ein anderes Spiel; und wer sich nach andern grammatischen Regeln richtet, als etwa den üblichen, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem.
Die Parallelen zwischen der Bedeutung eines Ausdrucks einerseits und der Funktion eines Hammers andererseits sind also begrenzt: Die Funktion von Ausdruck ist von anderer Art als die eines Hammers. Bei ersterem handelt es sich um eine Funktion, die einer Sache dadurch zukommt, daß sie sich Regeln ähnlich denen von Spielen unterordnet. Die Bedeutung eines Ausdrucks kann daher mit der Rolle einer Schachfigur verglichen werden. Eine Schachfigur, wie vielleicht ein Läufer, erhält ihre Rolle durch ihre Einbindung in die Regeln des Schachspiels (Wittgenstein, hier zitiert von Waismann 1967, 105): Für Frege stand die Alternative so: Entweder haben wir es mit Tintenstrichen auf Papier zu tun, oder diese Tintenstriche sind Zeichen von etwas, und das, was sie vertreten, ist ihre Bedeutung. Daß diese Alternativen nicht richtig ist, zeigt gerade das Schachspiel: Hier haben wir es nicht mit den Holzfiguren zu tun, und dennoch vertreten die Figuren nichts, sie haben in Freges Sinn keine Bedeutung. Es gibt eben noch etwas drittes, die Zeichen können verwendet werden wie im Spiel.
Alles zusammengenommen führte dies nun zu dem Schluß, daß wir uns auf die Regeln unserer Sprache konzentrieren müssen, wenn wir die Semantik der Sprache verstehen wollen, und daß wir ebenso herauszuarbeiten haben, was genau es eigentlich heißt, ‚einer solchen Regel innerhalb einer gegebenen Sprache zu folgen‘. Diesem Problem widmete Wittgenstein den größten Teil seiner Philosophischen Betrachtungen (und später wurde es durch die in Kripke 1982 angestoßenen Diskussionen erneut ins Leben gerufen6 ). Doch obwohl dies auch ein bedeutender Schritt in Richtung auf die Herausarbeitung semantisch relevanter Funktionen von Ausdrücken war, so bietet sich uns damit noch kein konkreter Anhaltspunkt: Das Problem, ein Kriterium zur Unterscheidung semantisch relevanter Regeln von anderen in der Sprache vorkommenden Regeln zu finden (wie z.B. Syntaxregeln, Regeln des sozialen Handelns usw.), ist keineswegs trivial. 6 Für
eine andere Sichtweise dieses Problems siehe auch Baker und Hacker 1984.
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3. Bedeutung und Inferenz [Anmerkung des Übersetzers: Im Folgenden wird der in der englischen Version des Aufsatzes benutzte Ausdruck „inference“ einfach mit „Inferenz“ übersetzt.] Wenn Wittgenstein recht hat, dann ist die Bedeutung eines Ausdrucks in den Regeln zu suchen, die den ‚semantisch relevanten‘ Gebrauch des Ausdrucks bestimmen. Falls dem so ist, gibt es dann eine nicht-zirkuläre Möglichkeit festzustellen, um was für eine Art von Regeln es sich dabei handelt? Oder enden wir vielleicht in einer Art von ‚semantischem Agnostizismus‘? Der von uns vorgeschlagene Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen geht auf einen anderen modernen Philosophen zurück, der die Schlüsselrolle von Regeln beim menschlichen Sprachverhalten hervorgehoben hat, nämlich Wilfrid Sellars. In seinen Arbeiten, die sich zwischen den Einflüssen des Wiener logischen Empirismus einerseits und denen des amerikanischen Pragmatismus andererseits bewegen, entwickelte er seine eigene Theorie zur grundlegenden Rolle von Regeln in Bezug auf Sprache und Bedeutung.7 Darüber hinaus erfaßte er mit größerer Präzision die Natur der für die Semantik so grundlegenden linguistischen Regeln, indem er diese Regeln als Regeln der Inferenz (im weiteren Sinne) beschrieb. Prima facie scheint das etwas schräg auszusehen: Warum Inferenzen? Benutzen wir Sprache denn nicht für viele andere wichtige Zwecke als Inferieren? Führt dies am Ende noch zu einer zu intellektualisierten Auffassung von Sprache? Nun, Sellars behauptet keineswegs, daß das Inferieren die Tätigkeit ist, bei der wir unsere Sprache am häufigsten gebrauchen – er behauptet nur, daß das Inferieren diejenige Aktivität ist, durch die unsere Ausdrücke mit Bedeutungen versehen werden. Warum? Für diesen Schluß benötigen wir drei Teilschritte. Zuerst einmal stellen wir fest, daß Sätze semantischen Vorrang gegenüber subsententiellen Ausdrücken besitzen und daß folglich die Bedeutungen von Sätzen, die Propositionen, Vorrang gegenüber den Bedeutungen anderer Ausdrücke haben: Die Bedeutung jedes Ausdrucks leitet sich her aus der Bedeutung eines Satzes. Zweitens beobachten wir, daß eine Proposition etwas ist, was sich im logischen Raum befindet, d.h. sowohl etwas, aus dem andere Propositionen folgen, als auch etwas, das aus anderen Propositionen folgt: Die Bedeutung eines Satzes ist im logischen Raum angesiedelt. Drittens können wir beobachten, daß eine Proposition diese Eigenschaften nur kraft der Regeln erhält, die den die Proposition zum Ausdruck bringenden Satz regulieren: Damit ein Satz solch eine Bedeutung erhalten kann, muß er in ein Netzwerk von Folgerungen eingebettet werden. Diese Teilschritte sollen nun im einzelnen durchgegangen werden. 1. Auf den semantischen Vorrang eines Satzes gegenüber seinen einzelnen Teilen ist nachdrücklich von einer Anzahl von Philosophen hingewiesen worden, darun7 Siehe
Sellars 1963; 1974; und für einen Überblick auch Marras 1978.
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ter Frege („Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas.“8 ) und Wittgenstein („Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhang des Satzes hat ein Name Bedeutung.“9 ). Der Grund dafür ist klar: Nur ein Satz kann für einen eigenständigen Kommunikationszweck gebraucht werden, und in diesem Sinn verfügt er über eine unabhängige Bedeutung (und folglich kann auch nur ein Satz wahr oder falsch sein) – subsententielle Ausdrücke hingegen erlangen ihre Bedeutung nur über ihre Einbindung in einen Satz. Nun gibt es ein augenfälliges Gegenargument: Die Grundbausteine der Sprache müssen von endlicher Zahl sein, und dies trifft zwar für Wörter zu, nicht aber für Sätze. Allerdings ist die Zahl der Sätze, denen wir während des Aneignens der Sprache begegnen, in der Tat nur endlich. Es stimmt, daß wir Sätze in Wörter zu zergliedern lernen, die wir dann wiederum als linguistische Grundbausteine benutzen – während wir in dem umgekehrten Prozeß Wörter zu neuen Sätzen zusammensetzen.10 Und haben wir einmal mit der Bildung komplexer Sätze begonnen, gibt es keine Obergrenze mehr – die Menge der Sätze wird (potentiell) unendlich. Doch dies alles widerspricht keinesfalls der Annahme, daß die Basissätze Vorrang haben – jedenfalls nicht mehr als die Tatsache, Rollen wie Mutter, Onkel usw. zu einer unbegrenzten Anzahl von möglichen Familienstammbäumen zusammensetzen zu können, der Tatsache widerspricht, daß wir diese einzelnen Rollen durch Abstraktion von einigen existierenden Stammbäumen gewonnen haben.11 2. Was ist dann eine Proposition (wenn überhaupt etwas)? Dies ist nicht leicht zu sagen, aber wenn sich Propositionen durch etwas auszeichnen, dann sollten es Eigenschaften sein wie, eine Negation zu haben, mit anderen Propositionen konjunktiv verbunden werden zu können, und besonders, andere Propositionen zu implizieren und seinerseits durch andere Propositionen impliziert zu werden. Dies läuft darauf hinaus, daß ebenso, wie der modus vivendi physikalischer Objekte darin besteht, in kausale Zusammenhänge in Raum (und Zeit) zu treten, so auch der modus vivendi von Propositionen in ihren logischen Relationen besteht. Propositionen scheinen sich demnach im logischen Raum zu befinden, dessen Struktur aus den logischen Relationen besteht, darunter besonders aus der Relation der Folgerung, die ihren Ausdruck in den Inferenzregeln findet. 3. Wie auch immer, bevor wir in eine unhandliche Metaphysik hineingeraten, sollten wir die Rede von Propositionen eher als façon de parler auffassen, als daß wir sie mit der Beschreibung einer platonischen Sphäre gleichsetzen. (Das Problem liegt nicht im eigentlichen Platonismus, sondern in der Annahme, daß 8 Frege
1884, 73 1922, § 3.3 10 Siehe auch Quine 1960, 9. 11 Für eine ausführlichere Diskussion siehe Peregrin 2001, Abschnitt 4.4. 9 Wittgenstein
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unsere Sätze durch die Benennung von Entitäten aus einer solchen Sphäre zu ihren inferentiellen Eigenschaften gelangen – wie könnten wir so etwas erreichen?) Und dies führt uns zu dem Schluß, daß unsere Sätze nicht deshalb über ihre inferentiellen Eigenschaften verfügen, weil wir sie als Namen für einige immerwährende Propositionen mit einer immerwährenden Folgerungsrelation benutzen. Vielmehr haben wir die Sätze dazu gebracht, diese Propositionen auszudrücken, indem wir sie von Inferenzregeln regulieren lassen, welche ein bestimmtes Netzwerk ausbilden und damit den nötigen logischen Raum bereitstellen. Diese Idee von Sellars wurde von Brandom (1994; 2000) aufgenommen und weiterentwickelt. Die Inferenzregeln sind für ihn aus folgendem Grund entscheidend: Das hauptsächliche und ‚inhaltgebende‘ Unterfangen, das unserer Sprache den grundsätzlichsten Sinn gibt, besteht letzten Endes darin, Gründe zu finden und zu suchen. Daraus ergibt sich, daß Sprache nur dann ihren Namen verdient, wenn sie zu diesem Unterfangen beitragen kann, und folglich kann etwas auch nur insofern ein wahrer bedeutungsvoller Ausdruck genannt werden, als es eben dazu beiträgt. Brandom selbst (1994, 144) beschreibt es so: „It is only insofar as it is appealed to in explaining the circumstances under which judgements and inferences are properly made and the proper consequences of doing so that something associated by the theorist with interpreted states or expressions qualifies as a semantic interpretant, or deserves to be called a theoretical concept of a content.“12 Die Semantik in den Griff zu bekommen, heißt also, die inferentielle Struktur in den Griff zu bekommen; und folglich ist der Zugang zur Bedeutung eines bestimmten Ausdrucks der Zugang zu den Inferenzregeln, die diesen Ausdruck bestimmen. Daher auch die ‚inferentialistischen‘ semantischen Erklärungen: „beginning with properties of inference, they explain propositional content, and in terms of both go on to explain the conceptual content expressed by subsentential expressions such as singular terms and predicates.“13 (Brandom 2000, 30)
4. Bedeutung als inferentielle Rolle Wie kann man Bedeutung als Sache von inferentiellen Rollen auffassen? Betrachten wir zuerst einen bezüglich Inferenzen einfachen Ausdruck, nämlich den 12 „Was der Theoretiker mit interpretierten Zuständen oder Ausdrücken verbindet, eignet sich nur dann als semantischer Interpretant bzw. verdient es nur dann, das theoretische Konzept eines Inhaltes genannt zu werden, insofern es zum Erklären der Umstände benutzt werden kann, unter denen man passende Urteile und Schlüsse sowie die sich daraus ergebenden passenden Konsequenzen zieht.“ 13 „Die inferentiellen Eigenschaften erklären den popositionalen Inhalt, und mit beiden zusammen erklärt man die konzeptuellen Inhalte, die durch subsententielle Ausdrücke wie Singularterme und Prädikate ausgedrückt werden.“
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logischen Junktor „und“. Es ist klar, daß seine Semantik durch eine der beiden folgenden Alternativen charakterisiert werden kann: 1. in Form von Denotation: „Und“ denotiert die Funktion f∧ , die Paare von Wahrheitswerten auf Wahrheitswerte abbildet derart, daß f∧ (T, T ) = T und f∧ (T, F ) = f∧ (F, T ) = f∧ (F, F ) = F . 2. in Form von Inferenzen: „Und“ verbindet die Sätze A und B zu komplexen Sätzen A∧B derart, daß folgende Inferenzen gelten: (∧1 ) A, B ⇒ A∧B, (∧2 ) A∧B ⇒ A, (∧3 ) A∧B ⇒ B. Die folgenden zwei offensichtlichen Fakten zeigen, daß beide Formulierungen äquivalent sind: FAKT 1 Wenn „∧“ die Funktion f∧ denotiert, dann sind (∧1 )–(∧3 ) korrekt (wahrheitserhaltend). FAKT 2 Wenn (∧1 )–(∧3 ) gelten, dann kann „∧“ so aufgefaßt werden, daß es f∧ denotiert. ((∧1 ) besagt, daß, wenn A und B wahr sind, A∧B auch wahr sein muß; wohingegen (∧2 ) und (∧3 ) besagen, daß A∧B falsch ist, wenn entweder A oder B falsch ist – und dies wird von f∧ korrekt erfaßt.) Kann man nun sagen, daß unter dem Gesichtspunkt der Natur der Sprache eine Formulierung grundlegender als die andere ist? Sollten wir die Gültigkeit der Folgerungen auf das Vorkommen von Denotationen reduzieren („die Konjunktion stützt (∧1 )–(∧3 ), weil sie f∧ denotiert“) oder eher andersherum („wir können die Bedeutung der Konjunktion als f∧ angeben, weil sie von (∧1 )–(∧3 ) bestimmt wird“)? Während der erste Fall in einer formalen Sprache durchaus möglich ist (da wir die Konjunktion durch Denotatszuweisung definieren können), hat die Behauptung „ ‚und‘ denotiert diese oder jene Entität“, bezogen auf die natürliche Sprache, weiteren Klärungsbedarf. (Offensichtlich ist ja nicht gemeint, daß wir „und“ irgendwann in der Vergangenheit in unsere Sprache eingeführt haben, indem wir damit der Funktion f∧ einen Namen gaben. Aber wenn nicht dies, was ist dann damit gemeint?) Im Gegensatz dazu ist die Behauptung „zwei durch ‚und‘ verbundene Sätze zu behaupten, ist genau dann korrekt, wenn es korrekt ist, jeden einzelnen der Sätze zu behaupten“ völlig einsichtig.
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Ich denke, daß viele Philosophen, die dem Inferentialismus nicht unbedingt zustimmen, trotzdem zugestehen werden, daß die Bedeutung einer logischen Partikel wie „und“ in ihrer inferentiellen Rolle besteht. (Ein wohlbekannter Gegner dieser Auffassung ist Prior (1960) mit seinem tonk.14 Doch selbst wenn man zugesteht, daß nicht jede Menge von Inferenzregeln auf vernünftige Art und Weise als einer Bedeutung zugrundeliegend betrachtet werden kann, ist trotzdem nicht klar, warum dies mit der Behauptung unvereinbar sein sollte, daß diese bestimmte Menge der oben aufgelisteten Regeln der Bedeutung von „und“ zugrundeliegt.) Allerdings würden sie darauf bestehen, daß diese Generalisierung nicht für die wesentlichen Teile der Sprache möglich ist. Zugegeben, für den Inferentialisten wird die Sache unbequemer, wenn wir vom logischen Vokabular zu den empirischen Wörtern übergehen. Doch sogar hier läßt sich der Inferentialismus aufrechterhalten. Nehmen wir z. B. das Wort „Kaninchen“. Gelangt es zu seiner Bedeutung ganz allein kraft seiner ihm zugekommenen Fähigkeit, auf Kaninchen zu referieren? Nun, was genau heißt es eigentlich, „auf Kaninchen zu referieren“? Im Beisein eines Kaninchens „Kaninchen“ verlautbaren zu lassen? Aber warum sagen wir dann nicht auch, daß das Bellen eines Hundes nach dem Wittern eines Kaninchens ‚auf Kaninchen referiert‘? Es scheint zwei mögliche Antworten auf die Frage zu geben, was einen auf einen Gegenstand referierenden Ausdruck von einer bloßen Reaktion unterscheidet, die durch einen Gegenstand hervorgerufen wurde (und welche sowohl von Tieren als auch von unbelebten Gegenständen an den Tag gelegt werden kann15 ). Die erste Antwort ist, daß das Wunder von unserem Geist vollbracht wird, der es irgendwie fertigbringt, das Wort so oder so mit Kaninchen(heit) zu verbinden, bzw. durch das Aufrufen der Vorstellung eines Kaninchens. Dies ist die Antwort, die in verschiedener Gestalt von so unterschiedlichen Philosophen wie John Locke, Edmund Husserl oder auch John Searle vorgetragen wurde, und sie stimmt wohl am ehesten mit dem ‚common sense‘ überein. Diese Antwort hat das Problem, daß sie, wie Blackburn (1984, § II.3) es ausdrückt, eine ‚dog-legged theory‘ ist: Anstatt das Problem zu lösen, schiebt sie es bloß einen Schritt weiter. Ihre Antwort auf die Frage Wie schaffen es unsere Ausdrücke zu referieren? besteht in der Angabe mentaler Inhalte, die referieren, was natürlich gleich die nächste Frage provoziert: Fein, aber wie bringen die das fertig? Diese letzte Frage sollte sich nach der Theorie dann irgendwie von selbst beantworten. 14 Zur
Diskussion von Priors Auffassung siehe Peregrin 2001, Kap. 8.
15 Wenn man z.B. ein Stück Metall betrachtet, dessen Reaktion auf Wasser durch den Rost sichtbar
wird, oder auch ein Thermometer, das auf seine Umgebungstemperatur reagiert.
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Wenn wir uns mit dieser Art von Antwort nicht zufriedengeben, können wir noch die andere Alternative betrachten. Diese ist prima facie weniger anziehend und bei weitem nicht so populär, aber nach meinem Dafürhalten durchaus der Betrachtung wert, besonders für den Pragmatiker. Nach dieser Antwort referiert ein Ausdruck dadurch, daß er innerhalb einer speziellen Form menschlicher (normativer) Praxis auf bestimmte Art und Weise benutzt wird. Varianten dieser Antwort wurden von Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein und kürzlich auch von Robert Brandom vorgelegt. Besonders Brandom hat angenommen, daß es sogar im Falle empirischer Begriffe und ihrer referentiellen Kapazitäten immer noch die inferentielle Artikulation ist, die entscheidend bleibt. Die Idee ist hier also, daß in bestimmter Hinsicht sogar der Inhalt empirischer Ausdrücke durch inferentielle Regeln, die ihren Gebrauch bestimmen, auf diese Ausdrücke übertragen wird. In solchen Fällen können wir uns natürlich nicht auf Inferenzen im üblichen, engeren Sinn beziehen – d. h. Schritte von Assertionen zu Assertionen –, da wir auch ‚Inferenzen‘ von Situationen zu Assertionen und umgekehrt zulassen müssen. Wie dem auch sei, angenommen wird, daß uns auch für empirische Begriffe immer noch die beiden Möglichkeiten zur Charakterisierung der Semantik bleiben: 1. in Form von Denotation: „Kaninchen“ denotiert eine Art von ‚Kaninchenheit‘, vielleicht anzugeben als eine Funktion, die mögliche Welten auf die Klassen ihrer Kaninchen abbildet. 2. in Form von Inferenzen: „Kaninchen“ bildet einen Teil eines Satzes, derart daß die folgenden Inferenzen gelten: (r1 ) X ist ein Kaninchen ⇒ X ist ein Säugetier, (r2 ) X ist ein Kaninchen ⇒ X ist kein Elephant, .. . Die Äquivalenz dieser beiden Artikulationen könnte nun als Angelegenheit der folgenden beiden Fakten betrachtet werden: FAKT 1 Wenn ‚Kaninchenheit‘ durch „Kaninchen“ denotiert wird, dann sind (r1 ), (r2 ), . . . korrekt (da angenommen wird, daß Kaninchenheit Säugetierheit enthält, unvereinbar mit Elephantheit ist, usw.). FAKT 2 Wenn (r1 ), (r2 ), . . . gelten und wenn die Aussage „Dies ist ein Kaninchen“ beim Zeigen auf ein Kaninchen angebracht ist, dann ist es korrekt anzunehmen, daß „Kaninchen“ Kaninchenheit denotiert.
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Es ist klar, daß die Situation hier unvergleichbar problematischer ist als im Fall des logischen Junktors. Zum einen ist die Ansammlung von Inferenzen zu komplex, um auf einfache Art spezifizierbar zu sein. (Es handelt sich dabei um eben jene Komplexität, die, wie Sellars argumentiert, uns von der Fähigkeit abhält, die Inferenzen, die der inferentiellen Rolle eines solchen Ausdrucks zugrundeliegen, explizit anzugeben. Deshalb geben wir für gewöhnlich die Rolle nur mithilfe eines bekannten Wortes an, das dieselbe oder zumindest eine ähnliche Rolle besitzt – was genau das ist, was normalerweise auch in der radikalen Übersetzung geschieht.16 ) Zum anderen dürfen die inferentiellen Rollen nicht nur Inferenzen im engeren Sinn beinhalten (bei uns unter (r1 ), (r2 ), . . . aufgelistet), sondern auch das, was Sellars ‚world–language transitions‘, also Übergänge von der Welt zur Sprache, genannt hat (zusammen mit den ‚language–world transitions‘, also Übergängen von der Sprache zur Welt). Dieser letzte Punkt könnte den Verdacht erwecken, daß der inferentielle Standpunkt eigentlich viel Lärm um nichts ist. Laufen denn die ‚Inferenzen im weiteren Sinne‘, die für uns die Bedeutung eines empirischen Wortes wie „Kaninchen“ mitbegründen, nicht letzten Endes auf die Relationen der Referenz hinaus? Und sind wir dann nicht wieder beim denotationellen Paradigma angelangt, das wir eigentlich umschreiben wollten? Nicht wirklich. Die ‚Übergänge Welt–Sprache‘ laufen nicht auf eine Relation zwischen Gegenständen und Wörtern hinaus, sondern vielmehr auf eine zwischen Tatsachen und Aussagen. Darüber hinaus ist entscheidend, daß sie die inferentielle Rolle eines Ausdrucks niemals vollständig erschöpfen können: Dem Inferentialisten zufolge kann nichts einen Inhalt haben, was nicht sowohl in den Prämissen als auch in den Konklusionen von Inferenzen vorkommen kann. Daher ist ein Satz wie „Dies ist ein Kaninchen“ (und folglich auch das Wort „Kaninchen“) nicht in der Lage, einen Inhalt ganz allein dadurch zu tragen, daß er eine richtige Antwort auf die Anwesenheit eines Kaninchens ist, und darüber hinaus muß der Satz als Prämisse für weitere Inferenzen dienen können (nämlich für „Also ist dies kein Elephant“, „Also ist dies ein Säugetier“ usw.).
16 Es ist eigentlich nicht schwer, die Rolle und damit die Bedeutung eines unbekannten Äquivalents zu unserem „und“ zu spezifizieren, ohne uns dabei auf unser eigenes Wort zu berufen. Doch wenn wir die Rolle und damit auch die Bedeutung des fremden Äquivalents zu unserem „Kaninchen“ spezifizieren wollen, können wir das kaum anders tun, als indem wir anzeigen, daß das Wort dasselbe wie unser „Kaninchen“ bedeutet.
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5. Die Zirkularität der von der formalen Semantik bereitgestellten Erklärungen All dies scheint nahezulegen, daß wir das Carnapsche Paradigma zugunsten des Deweyschen aufgeben sollten, daß wir der denotationellen Sicht von Semantik und ihrem Auswuchs, der formalen Semantik, den Rücken kehren sollten. Und tatsächlich hat es seitens der Sprachphilosophen (mich selbst eingeschlossen) viel Kritik an der formalen Semantik gegeben. Entscheidend für den vorliegenden Aufsatz ist aber der Unterschied zwischen der (gerechtfertigten) Kritik an den Bestrebungen der formalen Semantik, eine Sprachphilosophie zu begründen, einerseits und der (weniger gerechtfertigten) Kritik an der formalen Semantik als technischem Instrument andererseits. Als Beispiel der ersten Art von Kritik können wir Davidsons (1999, 689) Einwand zur Situationssemantik von Barwise und Perry (1983) betrachten. Davidson behauptet, daß wir den Ausdruck „ist wahr“ nicht auf den Ausdruck „drückt eine aktuelle Situation aus“ reduzieren können, da wir nicht in der Lage sind anzugeben, wann eine Situation aktuell ist, ohne daß wir angeben, was wahr ist: Barwise and Perry’s situations are set-theoretical constructs. Called “abstract situations”, they are defined in terms of (real) objects and properties and relations. Truth can’t be explained by reference to abstract situations, for abstract situations correspond to false sentences as well as true. Among the abstract situations are “actual” situations, which do correspond in some sense to true sentences. So far this defines actual situations in terms of truth and not vice versa. Actual situations, however, “represent” real situations, which are said to be “parts” of the world. Barwise and Perry never try to define “real situation”; they say that if you don’t think there are such things, they admit they don’t see how to persuade you. It is easy to specify when a particular abstract situation is actual: the abstract situation that I will call “Sam, mortality” is actual if and only if Sam is mortal (that is, Sam instantiates mortality). Having determined what makes [Sam, mortality] actual, we can now “explain” what makes the sentence “Sam is mortal” true by saying it is true because “Sam is mortal” corresponds to an actual situation. That situation is actual because Sam is mortal. It is obvious that we can retain the contents of this explanation, everything that “relates language to the real world”, by saying “Sam is mortal” is true if and only if Sam is mortal; the apparatus of situations has done no work. The reason it has done no work is that truth must be brought in to explain the relation between Sam and mortality, something the semantics of situations fails to do.17 17 „Die Situationen von Barwise und Perry sind mengentheoretische Konstrukte. Sie werden ‚abstrakte Situationen‘ genannt und in Form von (realen) Objekten, Eigenschaften und Relationen definiert. Wahrheit kann nicht durch Bezug auf abstrakte Situationen erklärt werden, da abstrakte Situa-
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Ich selbst habe einen ähnlichen Einwand erhoben (Peregrin 1995; 2000): Wir können „ist notwendig“ nicht auf „gilt in allen möglichen Welten“ reduzieren, da wir nicht angeben können, welche Welten möglich sind, ohne daß wir angeben, was notwendig ist. Denn angenommen, jemand möchte wissen, warum eine Behauptung wie ¬ P (a) ∧ ¬P (a) logisch wahr ist. Wir können dann schlecht antworten: „Sie gilt in allen (Modellstrukturen erfassenden) möglichen Weltzuständen – ich habe sie alle sorgfältig untersucht und keinen einzigen Weltzustand gefunden, in dem sie nicht gilt.“ Unsere Antwort müßte eher von der Art „Nichts kann zugleich P und nicht-P sein“ sein, oder vielleicht auch „[‚]P und nichtP [‘] ergibt keinen Sinn“. Damit zeigt sich die Schwierigkeit, daran festzuhalten, eine logische Wahrheit sei wahr, weil sie in allen möglichen Strukturen gültig ist – statt dessen wäre es angebrachter, die Sache genau andersherum zu betrachten: Weil etwas eine logische Wahrheit ist, kann es keine Struktur geben, in der sie nicht gilt.18 Diese Einwände zeigen, daß wir mit aller Wahrscheinlichkeit in einen Zirkelschluß geraten, wenn wir die formale Semantik als Grundlage einer Sprachphilosophie verwenden wollen: Wir reduzieren philosophisch problematische Begriffe auf scheinbar glasklare Begriffe der formalen Semantik, welche letzten Endes jedoch auf den zu erklärenden und obskuren Begriffen beruhen. Wenn wir daher den Begriff der Wahrheit durch die Vorstellung der Aktualität von Situationen klären wollen, sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, daß letzteres nicht anders als durch direkten oder indirekten Rückgriff auf den Begriff der Wahrheit verständlich gemacht werden kann; und wenn wir Notwendigkeit auf Gültigkeit in jedem Modell oder in allen möglichen Welten reduzieren wollen, müssen wir feststellen, daß die Einschränkung des Raumes relevanter Modelle oder möglitionen sowohl falschen als auch wahren Sätzen entsprechen. Unter den abstrakten Situationen gibt es weiterhin ‚aktuale‘ Situationen, die in gewisser Hinsicht den wahren Sätzen ensprechen. Andererseits ‚repräsentieren‘ aktuale Situationen die wirklichen Situationen, die ihrerseits als ‚Teile‘ der Welt aufgefaßt werden. Barwise und Perry machen niemals den Versuch einer Definition von ‚wirklichen Situationen‘, eher müssen sie eingestehen, daß sie niemanden, der nicht an sie glaubt, von deren Existenz überzeugen können. Man kann leicht angeben, wann eine Situation aktual ist: Die abstrakte Situation, die ich „Sam, Sterblichkeit“ nennen werde, ist aktual genau dann, wenn Sam sterblich ist (d.h., Sam instanziiert Sterblichkeit). Nach der Angabe dessen, was [Sam, Sterblichkeit] aktual macht, können wir nun erklären, was den Satz ‚Sam ist sterblich‘ wahr macht, indem wir sagen, er sei wahr, weil ‚Sam ist sterblich‘ einer aktualen Situation entspricht. Diese Situation ist deswegen aktual, weil Sam sterblich ist. Offensichtlich können wir den Gehalt dieser Erklärung, alles was sich ‚auf die wahre Welt bezieht‘, beibehalten, indem wir sagen, ‚Sam ist sterblich‘ ist wahr genau dann, wenn Sam sterblich ist; die Vorgabe von Situationen leistet dazu keinen Beitrag. Der Grund, warum sie keinen Beitrag leistet, liegt darin, daß man Wahrheit zur Erklärung der Relation zwischen Sam und der Sterblichkeit einbringen muß, etwas, was die Situationssemantik nicht schafft.“ 18 Sicherlich können wir manchmal auch entdecken, daß etwas in allen Strukturen einer bestimmten Klasse gilt – aber wenn diese Klasse nicht von endlicher Größe ist, ist uns dies kaum durch das Betrachten aller Strukturen möglich; wir müssen es dann auf irgendeine Art und Weise aus verschiedenen konstitutiven Eigenschaften der Klasse deduzieren.
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cher Welten letztendlich auf dem Begriff von Notwendigkeit beruht. Für sich allein ist formale Semantik demzufolge nicht als formale Metaphysik zu verwenden, sie ist kein Mittel, um damit zu einer Korrespondenztheorie der Wahrheit zu gelangen, noch zu irgendwelchen anderen philosophischen Zielen. Und trotzdem ergibt sich für mich daraus weder die Nutzlosigkeit des Versuches, Bedeutungen mit Hilfe von möglichen Welten und Situationen zu rekonstruieren, noch die Überzeugung, daß die formale Semantik ein mißglücktes Unterfangen ist. Speziell bin ich der Überzeugung, daß jegliche Art von Gebrauch der Instrumentarien der formalen Semantik uns weder zum denotationellen Ansatz zur Bedeutung, noch zur Korrespondenztheorie der Wahrheit mit einer ‚formalen Metaphysik‘, noch zu irgendeiner anderen ‚Ideologie‘ verpflichtet. Ich denke, daß die Ergebnisse der formalen Semantik durchaus in den Dienst der inferentiellen Sprachphilosophie gestellt werden können.
6. Formale Semantik als Darstellung inferentieller Rollen Richten wir unser Augenmerk nun auf die möglichen Welten, die wahrscheinlich am häufigsten diskutierten Geschöpfe der formalen Semantik. Was genau sind sie eigentlich? Da gibt es zum einen was wir die ‚Standardantwort‘ nennen könnten: Mögliche Welten sind Entitäten, deren Existenznachweis und Zustandsbeschreibung durch eine von der Sprachtheorie unabhängige Theorie (‚Metaphysik‘) erbracht werden muß; und darauf kann dann die formale Semantik aufbauen, d. h., sie kann die Bedeutungen von Aussagen mit dem Hinweis darauf angeben, daß sie Mengen solcher Welten denotieren.19 Es gibt allerdings auch eine inferentialistische Alternative, die folgendermaßen aussieht: Durch die logischen Standardoperatoren (wie Negation, Konjunktion, . . . ) mit ihren inferentiellen Eigenschaften werden die Aussagen unserer Sprache inferentiell in einer Booleschen Algebra angeordnet. Damit sind sie nun auch so darstellbar, daß sie Teilmengen einer bestimmten Menge denotieren (kraft des Repräsentationstheorems von Stone20 ). Weiter gilt, daß diese zugrundeliegende Menge wegen des Vorhandenseins modaler und kontrafaktischer Operatoren und Ausdrücke nicht 19 An anderer Stelle (Peregrin 1998) habe ich darauf hingewiesen, daß diese Antwort in eine philosophische Sackgasse führen kann: Während die Linguisten die Natur möglicher Welten gerne von den Philosophen erklärt hätten, denken wiederum diejenigen Philosophen, die die linguistische Wende vollzogen haben, daß die Möglichkeit zu einer Erklärung dieser ‚metaphysischen‘ Entitäten in einer linguistischen Analyse unserer Sprache liegt, von welcher sie (explizit oder implizit) hervorgebracht werden. 20 Dieses Theorem sagt aus, daß jede Boolesche Algebra isomorph zu einer Algebra von Teilmengen einer Menge ist.
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die einfachste, also eine einelementige, Menge sein kann.21 Folglich denotieren Aussagen Teilmengen einer nicht einfachen Menge – und da man sich die Elemente dieser Menge als ‚das, wovon die Wahrheit abhängig ist‘22 vorstellen kann, ist es ganz plausibel, sie mögliche Welten zu nennen. Auf diese Art können wir sagen, daß mögliche Welten – genau wie andere Entitäten der formalen Semantik auch – als Darstellung inferentieller Muster betrachtet werden können. Aus bestimmten Gründen, die mit der Entwicklung unseres Geistes zu tun haben, scheint uns die Relation des Enthaltens zugänglicher als andere Relationen zu sein. Und mögliche Welten erlauben uns, Inferenzen in ‚Enthalten‘ umzuwandeln: nämlich das Enthaltensein der Schnittmenge derjenigen Klassen möglicher Welten, welche durch die Sätze im Antezedens einer Inferenz denotiert werden, in der Klasse von Welten, die durch das Konsequens der Inferenz denotiert werden. Weiter gilt, daß inferentielle Muster für gewöhnlich mehr als nur einen Ausdruck enthalten, wohingegen wir in der Semantik üblicherweise an der Bedeutung eines einzelnen Ausdrucks interessiert sind, d.h. am wirklichen Beitrag dieses einzelnen Ausdrucks zu dem Muster, von dem er bestimmt wird. Und wenn wir diesen Beitrag als ein abstraktes, typischerweise mengentheoretisches Objekt herausarbeiten, so scheint uns dies ein guter Weg zu sein, uns eben diesen Beitrag verständlich zu machen. Erinnern wir uns an das Paradebeispiel der logischen Konjunktion: Das inferentielle Muster, durch das sie bestimmt wird, ist ziemlich einfach und durchsichtig, doch nichtsdestoweniger ist es hilfreich, wenn man die Konjunktion als Wahrheitsfunktion wiedergibt. Formale Semantik kann daher, wie ich denke, selbst für den Inferentialisten von einiger Hilfe sein. Wenn der Inferentialist die Behauptung zurückweist, Bedeutungen seien im Grunde genommen Objekte, die durch Ausdrücke wiedergegeben werden, so muß dies nicht gleich unvereinbar mit der Behauptung sein, daß die Bedeutungen als Objekte explizierbar oder modellierbar sind. Und der Inferentialist sollte sich nach meinem Dafürhalten klar darüber werden, daß solch eine Nachbildung eine äußerst nützliche Sache sein kann. Für mich ist es daher von Nutzen, wenn man sich Sprache hin und wieder als einen Code vorstellt, auch wenn sie rein wörtlich keine Nomenklatur oder kein Code (wie es das Carnapsche Paradigma annimmt) ist, genauso wie es oftmals von Nutzen ist, sich Atome als von Elektronen umkreiste Kerne vorzustellen. Von dieser Seite betrachtet hört die Denotation natürlich auf, Gegenstand einer semantischen Theorie zu sein und wird eher zu ihrem Werkzeug. Das Objekt, welches durch einen Ausdruck denotiert werden soll, wird nicht als (rekonstru21 Deren Potenzmenge zwei Elemente enthält, die mit den beiden Wahrheitswerten identifiziert werden können. 22 Vgl. Stalnaker 1986.
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ierte) echte Entität aufgefaßt, die durch diesen Ausdruck in der wirklichen Welt denotiert wird, sondern vielmehr als Wiedergabe der inferentiellen Rolle dieses Ausdrucks. (Als wichtige Konsequenz daraus ergibt sich, daß es nicht ‚die‘ richtige Semantik gibt, genauso wie es weder das richtige Modell vom Innern eines Atoms gibt, noch den richtigen Grundriß einer unbekannten Stadt.) Sellars (1992, 109 f.) gelangt zu folgendem Urteil: [Carnap’s formalization of semantic theory in terms of a primitive relation of designation which holds between words and extralinguistic entities] commits one to the idea that if a language is meaningful, there exists a domain of entities (the designata of its names and predicates) which exist independently of any human concept formation.23
Aber aus der hier in Betracht gezogenen Perspektive müssen wir widersprechen: Was Sellars ignoriert, ist die Möglichkeit, die Carnapsche ‚Formalisierung der semantischen Theorie‘ weniger als unmittelbare Beschreibung, sondern vielmehr als eine ‚kreative‘ Explikation der semantischen Aspekte von Sprache zu betrachten. Wir vertreten also den Standpunkt, daß die Anschaffung von Instrumenten aus der formalen Semantik es nicht erforderlich macht, sich eine Ideologie ins Haus zu holen, die formale Semantik zugleich als eine eigenständige Sprachphilosophie ansieht.24 Die Moral für den Inferentialisten ist dabei, daß man die Carnapsche Methode der Rekonstruktion der semantischen Aspekte von Sprache nicht verachten, sondern daß man sie vielmehr in Deweys Sinn verstehen sollte: Als Methode der Aussonderung und Darstellung der Beiträge eines jeden Ausdrucks, die von ihm zu den Inferenzen, in denen er vorkommt, beigesteuert werden.
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Sven Rosenkranz
Pragmatismus und Bedeutungstheorie
Der Pragmatismus in der Bedeutungstheorie wird dadurch entscheidend gelähmt, dass seine prominentesten Verfechter unser Denken und Reden über die Welt zu eng an unser Vermögen knüpfen, zu wohlfundierten Urteilen zu gelangen. Von realistischer Seite ist ihnen deshalb der Vorwurf zu machen, sie überschätzten unsere Erkenntnisfähigkeiten. Von Seiten eines aufgeklärten Pragmatismus ist ihnen eher der Vorwurf zu machen, sie unterschätzten damit unsere Vorstellungskraft. Dies sind jedoch nur unterschiedliche Akzentuierungen ein und desselben grundlegenden Einwands. Wir können nämlich denken, worüber wir prinzipiell keine wohlfundierten Urteile zu fällen in der Lage sind. A fortiori können wir Gedanken fassen, deren Wahrheit wir unmöglich erkennen können. Der Realist und der aufgeklärte Pragmatist unterscheiden sich allein darin, dass es dem Realisten zufolge einen interessanten Bereich unerkennbarer Wahrheiten gibt, die wir gleichwohl zu denken imstande sind, während der aufgeklärte Pragmatist sich damit begnügt, auf harmlose Fälle solcher Wahrheiten hinzuweisen, und sich ansonsten agnostisch verhält. Um dieser Diagnose Gehalt zu geben, werde ich im ersten Teil meiner Überlegungen auf eine grundsätzliche Schwierigkeit eingehen, der sich zwei der prominentesten pragmatistischen Theorien der Bedeutung, die derzeit im Umlauf sind, gegenübersehen: Brandoms inferentialistische Pragmatik einerseits und die von Dummett und Tennant verfochtene anti-realistische Theorie des Verstehens andererseits. Dieser Teil meiner Überlegungen ist durchweg destruktiv. So werde ich zu zeigen versuchen, dass die Bemühungen, mit dieser Schwierigkeit innerhalb des jeweiligen Theorierahmens fertigzuwerden, zum Scheitern verurteilt sind. Um jedoch nicht den Anschein zu erwecken, damit habe sich das pragmatistische Programm einer systematischen Theorie der Bedeutung erledigt, möchte ich in einem zweiten, konstruktiven Teil andeuten, welche Richtung ein aufgeklärter Pragmatismus einschlagen sollte, um der genannten Schwierigkeit zu entgehen. Dieser zweite Teil meiner Überlegungen nimmt weit weniger Raum ein als der erste und bleibt so notgedrungen skizzenhaft.
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Sven Rosenkranz
1. Zwei Spielarten des Pragmatismus Pragmatistische Theorien der Bedeutung und des Verstehens sind grundsätzlich danach zu unterscheiden, welcher Auffassung von der Natur semantischer Fakten sie verpflichtet sind. Es gibt im wesentlich zwei pragmatistische Grundkonzeptionen dieser Art. Der ersten Konzeption zufolge sind semantische Tatsachen sui generis, d. h. irreduzibel. Der zweiten Konzeption zufolge sind sie dies nicht, sondern reduzieren sich auf Tatsachen über unseren Sprachgebrauch. Der ersten Konzeption zufolge sind semantische Tatsachen zwar Tatsachen sui generis, es ist ihnen aber gleichwohl wesentlich, mögliche Gegenstände unseres Verstehens zu sein. Verstehen als eine Art des impliziten Wissens – nämlich als implizite Kenntnis semantischer Tatsachen – muss sich zeigen können, damit es berechtigterweise zugeschrieben werden kann; und es ist unserem Verstehen wesentlich, dass es berechtigterweise zugeschrieben werden kann. Das Verhalten, auf dessen Grundlage wir einem Subjekt eine implizite Kenntnis semantischer Tatsachen zuschreiben, ist sein Verbalverhalten, d.h. sein Sprachgebrauch. Aber nicht jede Form von Verbalverhalten kann als eine solche Grundlage dienen: Um sein Verstehen unter Beweis zu stellen, muss das Subjekt in der Lage sein, Sprache korrekt zu verwenden. Es wird also immer eine Reihe von praktischen Fähigkeiten geben, die mit Verstehen korreliert sind und deren Besitz das Subjekt als einen kompetenten Sprecher ausweist. Nach der ersten pragmatistischen Konzeption versteht ein Subjekt nun schon dann, wenn es in diesem Sinne kompetent ist: Hat es diese Kompetenz, kennt es auch die relevanten semantischen Tatsachen. Selbst wenn semantische Tatsachen also Tatsachen sui generis sind, so gilt dies von der impliziten Kenntnis semantischer Tatsachen nicht. Denn die implizite Kenntnis semantischer Tatsachen besteht der ersten Konzeption zufolge in nichts anderem als dem Besitz einer Reihe von praktischen Fähigkeiten. Trifft diese Bestimmung der Beziehung zwischen Semantik und Pragmatik zu, dann ist der Bedeutungstheoretiker dazu angehalten, die richtigen praktischen Fähigkeiten zu benennen, die notwendig und zusammen hinreichend für die implizite Kenntnis semantischer Tatsachen sind. Und er wird damit nur dann Erfolg haben, wenn er begreiflich machen kann, wie das, von dem wir implizite Kenntnis besitzen, d. h. die semantischen Tatsachen, mit dem Verbalverhalten zusammenhängt, zu dem ein Subjekt in der Lage ist, wenn es diese Fähigkeiten besitzt. Ein etwas abwegiges, aber gleichwohl instruktives Beispiel mag genügen, um diese methodologische Bürde zu veranschaulichen. Wenn ein Bedeutungstheoretiker die Auffassung vertritt, semantische Tatsachen seien letztlich Tatsachen über die Wahrheitsbedingungen von Sätzen, und zugleich meint, die Fähigkeit, Gedichte zu verfassen, sei notwendig oder wenigstens hinreichend für eine implizite Kenntnis dieser Tatsachen, dann ist er uns eine Erklärung dafür schuldig,
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warum das Verfassen von Gedichten eine Kenntnis von Wahrheitsbedingungen erfordert oder warum uns diese Kenntnis instand setzen sollte, Gedichte zu verfassen. Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Überlegung erscheint es wenig überraschend, dass Vertreter der erstgenannten pragmatistischen Konzeption üblicherweise einer anti-realistischen Wahrheitsauffassung zuneigen. Wenn einen Satz zu verstehen beispielsweise heißt, ein implizites Wissen seiner Wahrheitsbedingungen zu besitzen, dann scheint die praktische Fähigkeit, einen Satz als wahr hinzustellen, wenn die Situation seine Wahrheit nahelegt, nicht nur ein Verstehen dieses Satzes zu erfordern, sondern umgekehrt für ein solches Verstehen auch notwendig zu sein. Natürlich mag es Situationen geben, in denen es korrekt ist, einen Satz zu behaupten, obwohl er tatsächlich falsch ist: Die Evidenzen, über die wir verfügen, mögen uns so manches Mal in die Irre führen. Aber wenn es uns prinzipiell unmöglich wäre, einen Satz oder seine Negation jemals korrekterweise zu behaupten und a fortiori seine Wahrheit oder Falschheit zu erkennen – wenn es uns also unmöglich wäre, jemals in den Besitz von Evidenzen zu gelangen, die für oder gegen diesen Satz sprechen –, dann gäbe es allem Anschein nach auch keine praktische Fähigkeit, in der unsere Kenntnis seiner Wahrheitsbedingungen bestehen könnte. Natürlich könnte man uns nach wie vor berechtigterweise eine Kenntnis seiner Behauptbarkeitsbedingungen zuschreiben. Aber Behauptbarkeitsbedingungen sind von Wahrheitsbedingungen verschieden: Selbst wenn es möglich ist, dass ein Satz und seine Negation beide nicht behauptbar sind, weil es zum Beispiel an Evidenzen mangelt, so ist es schlechterdings unmöglich, dass ein Satz und seine Negation beide falsch sind. Es hat demnach den Anschein, als könne der Realismus bereits auf Grundlage einer Theorie des Verstehens ausgeschlossen werden, während Anti-Realisten ein Argument dafür an die Hand bekämen, Wahrheit mit Erkennbarkeit zu identifizieren. Eine allgemeine Gleichsetzung von Wahrheit und Erkennbarkeit, wie der AntiRealist sie traditionell fordert, ist jedoch unhaltbar. Denn es gibt Sätze, deren Wahrheit zu erkennen nachweislich unmöglich ist, deren Falschheit zu behaupten wir jedoch nicht berechtigt sind. Anti-Realisten haben eingesehen, dass es solche Sätze gibt. Demnach sind sie dazu gezwungen, ihre anti-realistische Wahrheitsauffassung systematisch einzuschränken, und zwar so, dass die Ausnahme derartiger Gegenbeispiele nicht allzu ad hoc wirkt. Obwohl nun einige AntiRealisten gute Gründe dafür angegeben haben, dass ihre Auffassung auch nach einer solchen Einschränkung eine substanzielle und kontroverse These gegen den Realismus darstellt, so haben sie in aller Regel übersehen, welche Konsequenzen diese Einschränkung für ihre Bedeutungstheorie hat. (Davon wird später noch die Rede sein.)
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Die zweite pragmatistische Konzeption stimmt mit der ersten darin überein, dass Verstehen mit dem Besitz bestimmter praktischer Fähigkeiten zu identifizieren ist. Sie unterscheidet sich aber von der ersten durch ihre Verneinung der These, semantische Tatsachen seien Tatsachen sui generis: Dieser zweiten Konzeption zufolge reduzieren sich semantische Tatsachen nämlich auf Tatsachen über den korrekten Sprachgebrauch und andere nicht-semantische Tatsachen. Verstehen wird dementsprechend als die Beherrschung dieses Gebrauchs aufgefasst, der sich in Reaktion auf oder zumindest in Einklang mit diesen anderen nicht-semantischen Tatsachen vollzieht. Es ist eine notorische Schwierigkeit für Vertreter dieser Konzeption, semantischen Tatsachen über die Wahrheitsbedingungen von Sätzen und die Erfüllungsbedingungen von Teilausdrücken Rechnung zu tragen. So sind sie unter anderem dazu verpflichtet zu erklären, wie ein Satz gebraucht werden muss, damit dieser Satz unter bestimmten Bedingungen wahr ist (z.B. wie ein Satz gebraucht werden muss, damit er genau dann wahr ist, wenn Kohle schwarz ist). Aus Gründen, denen wir später noch begegnen werden, wäre die Ansicht jedenfalls irregeleitet, man könne dieser Verpflichtung schon dadurch nachkommen, dass man auf Standards gerechtfertigter Behauptbarkeit abhebt. Nun mag es alternative und raffiniertere Wege geben, dieser Verpflichtung nachzukommen, beispielsweise indem man seinen Pragmatismus mit einer deflationären Wahrheits- und Referenzauffassung kombiniert. Aber die meisten Versuche dieser Art haben nur zu Beschreibungen davon geführt, wie sich der Gebrauch von Sätzen wie „Kohle ist schwarz“ zu dem Gebrauch von Sätzen wie „ ‚Kohle ist schwarz‘ ist wahr“ verhält. Nach einer Erhellung dieser Beziehung war jedoch gar nicht gefragt. Es gibt also keinen Grund, in dieser Hinsicht optimistisch zu sein. Allerdings ist eine Reduktion solcher semantischen Tatsachen, die wir mit Hilfe referenztheoretischer Ausdrücke formulieren, kein natürlicher Ausgangspunkt für eine pragmatistische Bedeutungstheorie, die dieser zweiten Konzeption anhängt. Es gibt andere semantische Tatsachen, deren Reduktion auf Beziehungen zwischen Verwendungen von Ausdrücken weniger problematisch erscheint. So hat Brandom beispielsweise den Vorschlag gemacht, die semantische Beziehung der Inkonsistenz zunächst auf die pragmatische Beziehung der Unvereinbarkeit zu reduzieren, um dann Satzbedeutung, analytische Implikation, Negation und das materiale Konditional auf dieser Grundlage zu erklären. Wie er dieses pragmatistische Reduktionsprogramm auf Wahrheit und Referenz ausdehnen zu können meint, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Wir werden sehen, dass sein Programm schon dort scheitert, wo es die besten Aussichten hat. Im Folgenden werde ich für jede dieser beiden Spielarten des Pragmatismus ein Problem aufwerfen. Dabei werde ich mich auf die Diskussion der zwei prominentesten Durchführungen des pragmatistischen Programms beschränken: auf
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die von Dummett entwickelte und von Tennant präzisierte anti-realistische Theorie der Bedeutung einerseits und auf Brandoms inferentialistische Pragmatik andererseits. Für beide Theorien besteht der einzige Ausweg, mit diesen Problemen fertig zu werden, entweder darin, das Prinzip der Kompositionalität zu verletzen, oder aber darin, das pragmatistische Fundament zu untergraben, auf dem sie stehen. Da das Prinzip der Kompositionalität eines der wenigen gesicherten Adäquatheitskriterien ist, denen eine Theorie der Bedeutung genügen muss, scheint mir dieses Ergebnis für beide Theorien verheerend.1 Die Probleme, die ich für diese Theorien aufwerfen werde, sind – um mit Quine zu sprechen – „ihrer Wurzel nach identisch“. Beide Probleme entstehen, weil es Paare von Sätzen gibt, die offensichtlich nicht diejenigen semantischen Eigenschaften haben, die ihnen diese Theorien fälschlicherweise zuschreiben. In beiden Fällen sind die Beispiele ihrer Art nach dieselben; und dass sie Gegenbeispiele für diese Theorien abgeben, liegt jedesmal an ein und derselben komplexen Eigenschaft: Die Sätze jedes dieser Paare sind so beschaffen, dass man unmöglich berechtigt ist, sie beide zugleich für wahr zu halten, obwohl sie beide zugleich wahr sein können. Dass es Sätze mit dieser Eigenschaft gibt, ist nicht neu. Noch ist es neu, dass Sätze dieser Art manchen Bedeutungstheorien Probleme bereiten. Deshalb erhebe ich auch keinen Anspruch auf Originalität, indem ich diese Probleme aufwerfe. Allerdings behaupten sowohl Brandom als auch Tennant und erst kürzlich Dummett, dass sie bereits erfolgreich mit den Problemen, zu denen Sätze der genannten Art führen, fertiggeworden sind. Und soweit ich weiß, ist es bislang noch nicht deutlich gemacht worden, dass sie mit dieser Ansicht falsch liegen.
2. Inkonsistenz und Unvereinbarkeit Brandom schlägt vor, die semantische Relation der Inkonsistenz auf die pragmatische Relation der Unvereinbarkeit zu reduzieren. Zwei Aussagen A und B sind genau dann miteinander unvereinbar, wenn eine Festlegung auf A die Berechtigung ausschließt, sich auf B festzulegen, und vice versa (Brandom 1994, 115, 160, 196; 2001, 185–204). Es scheint offensichtlich, dass alle miteinander inkonsistenten Aussagen auch in einem solchen Sinne miteinander unvereinbar sind. Aber gilt auch die Umkehrung? Sind wirklich alle miteinander unvereinbaren Sätze miteinander inkonsistent? Es besteht hier Anlass zum Zweifel, wie das folgende Argument verdeutlicht: Wenn man sich auf A festlegt, dann kann man sich nicht zur selben Zeit kohärenterweise auf irgendetwas festlegen, das mit der Aussa1 Vgl.
Fodor 1998, 35–62.
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ge inkonsistent ist, es gebe gegenwärtig Gründe, A zu behaupten – kurz: mit der Aussage GA. Denn wenn man sich auf etwas mit GA Inkonsistentes festlegt, dann legt man sich auf ∼GA fest; und wenn man sich auf ∼GA festlegt, dann kann man nicht kohärenterweise versuchen, sich als jemand zu qualifizieren, der A erkennt. Das aber ist es, worum man sich bemüht, wenn man sich auf A festlegt. Wenn dies zutrifft, dann wird es ebenfalls korrekt sein zu sagen, dass man, wenn man sich auf A festlegt, nicht zugleich berechtigt sein kann, sich auf ∼GA festzulegen. Denn eine solche Berechtigung erfordert wenigstens, dass man sich kohärenterweise auf das festlegen kann, wozu man berechtigt ist. Es ist unter diesen Umständen ebenfalls korrekt zu sagen, dass man, wenn man sich auf ∼GA festlegt, nicht zugleich berechtigt sein kann, sich auf A festzulegen. Denn wie schon gesagt, eine Berechtigung, sich auf etwas festzulegen, setzt zumindest voraus, dass man sich darauf kohärenterweise festlegen kann. Daraus folgt nun aber, dass eine Festlegung auf A die Berechtigung, sich auf ∼GA festzulegen, genauso ausschließt, wie eine Festlegung auf ∼GA die Berechtigung ausschließt, sich auf A festzulegen. Mit anderen Worten: A und ∼GA sind miteinander unvereinbar. Brandom zufolge sind sie also auch miteinander inkonsistent. Aber A und ∼GA sind offensichtlich nicht inkonsistent, denn die Wahrheit von A impliziert nicht, dass wir Gründe dafür haben, A zu behaupten. So impliziert beispielsweise die Wahrheit der Aussage „Jede gerade natürliche Zahl, die größer als 2 ist, ist die Summe zweier Primzahlen“ (Goldbachs Vermutung) keineswegs, dass es Gründe für ihre Behauptung gibt. Da es keine derartigen Gründe gibt, wären wir andernfalls zu der Annahme berechtigt, Goldbachs Vermutung sei falsch. Zu dieser Annahme sind wir jedoch ganz und gar nicht berechtigt.2 Es gibt natürlich einen Sinn von „Berechtigung“, in dem man dazu berechtigt ist, sich auf eine Aussage festzulegen, gleichgültig ob eine solche Festlegung mit dem kohärent ist, worauf wir uns anderweitig festlegen. Aber in diesem Sinne von „Berechtigung“ können Festlegungen niemals Berechtigungen ausschließen, 2 Die Rede von der Existenz von Gründen für eine Behauptung ist hier und im Folgenden so zu verstehen, dass uns solche Gründe gegenwärtig verfügbar sind. Es reicht demnach für die Wahrheit von GA nicht aus, dass wir ‚im Prinzip‘ zu Gründen für A gelangen können, z. B. indem wir neue Entscheidungsverfahren erlernen oder Hintergrundwissen erwerben, das es uns allererst erlaubt, die Ergebnisse uns bereits bekannter Verfahren als für den Wahrheitswert von A entscheidend zu deuten. Vielmehr geht es um die Existenz solcher Gründe, die wir uns entweder bereits angeeignet haben oder deren Aneignung für uns nur eine Frage der Anwendung bereits bekannter Entscheidungsverfahren ist.
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und der Begriff der Unvereinbarkeit wäre dementsprechend leer. Da es aber offensichtlich miteinander inkonsistente Aussagen gibt, könnte Inkonsistenz dann nicht durch Unvereinbarkeit erklärt werden. Dies ist jedoch genau das, was Brandom beansprucht. Es gibt allerdings auch einen Sinn von „Festlegung“, wonach man sich auf eine Aussage festlegen kann, ohne dass es angemessen wäre, als jemand gehandelt zu werden, der den Anspruch erhebt, ihre Wahrheit zu erkennen (entgegen der Unterstellung von Rosenkranz 2001, 233, 237). Brandom, der sich des gegenwärtigen Problems nur allzu bewusst ist, macht einen glücklosen Versuch, diesen Sinn einzufangen, wenn er schreibt: [T]he two sorts of claims [d. h. A und GA] are still distinguishable in terms of the commitments they involve. For surely one could be committed to [A], without thereby being committed to the claim that one is entitled to [A]. In general, one ought to be entitled to one’s commitments, but the game of giving and asking for reasons has a point precisely insofar as we must distinguish between commitments to which one is entitled and those to which one is not. So one must at least allow that it is possible that one is in such a situation in any particular case. (Brandom 2001, 200)
Natürlich mag man auf A festgelegt sein, obwohl GA tatsächlich falsch ist. Aber was zeigt dies im Hinblick auf die Frage, ob man sich auf A festlegen kann, ohne sich auf GA festzulegen? Dass eine solche Festlegung auf A, aber nicht GA, möglich ist, muss Brandom zeigen, wenn er sich anschickt nachzuweisen, dass sich A und GA in ihren Festlegungsbedingungen voneinander unterscheiden. Brandom scheint nahezulegen, man solle der Regel folgen, sich nicht auf GA festzulegen, auch wenn man sich auf A festlegt, weil man ja wisse, dass GA möglicherweise falsch ist. Dies wäre eine ziemlich törichte Regel. Denn in dem Maße, in dem man sich nur auf solche Aussagen festlegen sollte, auf die sich festzulegen man auch berechtigt ist, ergäbe sich folgerichtig, dass man sich ebenso wenig auf A festlegen sollte, weil man ja wüsste, dass GA möglicherweise falsch ist. Ganz unabhängig davon ist jedoch anzumerken, dass aus dem Umstand, man wisse, dass man sich gelegentlich auf etwas festlegen kann, ohne dazu berechtigt zu sein, noch lange nicht folgt, man wisse bei irgendeiner Gelegenheit, man sei auf etwas festgelegt, auf das sich festzulegen man bei dieser Gelegenheit möglicherweise nicht berechtigt ist. Was Brandom an dieser Stelle eher sagen sollte – und zwar unter Berufung auf seine eigene Unterscheidung zwischen anerkannten Festlegungen und Folgefestlegungen (Brandom 1994, 194–95) –, ist, dass man in manchen Fällen nicht weiß, worauf man als Folge dessen festgelegt ist, worauf man sich anerkanntermaßen festgelegt hat (cf. Brandom 2001, 174). Beispielsweise mag ich darauf festgelegt sein, dass es wahre Widersprüche gibt, sofern ich mich nämlich darauf
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festgelegt habe, dass das, was Graham Priest auf der Konferenz gesagt hat, wahr ist.3 Selbst wenn ich mich nun darum bemühe, mich als jemand zu qualifizieren, der weiß, dass Priest bei dieser Gelegenheit die Wahrheit gesagt hat – zum Beispiel indem ich mich auf Zeugen berufe –, so bemühe ich mich noch lange nicht darum, als jemand zu gelten, der weiß, dass es wahre Widersprüche gibt. Noch schiene es angemessen, mich so zu behandeln, als erhöbe ich diesen Anspruch. (Ich mag schlicht keine Ahnung von Priests Dialetheismus haben, geschweige denn bereit sein, ihn zu verteidigen.) Wenn also Unvereinbarkeit ein Begriff ist, der auf alle (möglichen) Festlegungen Anwendung findet, dann sieht es so aus, als ließe sich der Schluss vermeiden, A und ∼GA seien miteinander unvereinbar. Solange es nämlich (mögliche) Umstände gibt, in denen meine Festlegung auf A mit keinerlei Wissensansprüchen einhergeht, scheint es so, dass meine Festlegung auf ∼GA unter diesen Umständen durchaus mit meiner Festlegung auf A kohärent sein kann. Dementsprechend scheint es möglich, das vorgebrachte Argument zurückzuweisen. Aber in welchem Sinn von „kohärent“ ist denn meine Festlegung auf A unter den genannten Umständen mit meiner Festlegung auf ∼GA unter eben diesen Umständen kohärent? Und ist diese vermeintliche Kohärenz hinreichend, um eine Berechtigung für die Festlegung auf A oder ∼GA zuzulassen? Entweder gibt es unter den relevanten Umständen Gründe, A zu behaupten, oder es gibt unter diesen Umständen keine derartigen Gründe. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Entweder gibt es Gründe für Priests Behauptung, es gebe wahre Widersprüche, oder es gibt keine derartigen Gründe. Nehmen wir an, es gebe keine Gründe dieser Art. Selbst wenn ich unter diesen Umständen immer noch im Besitz von Gründen für die allgemeine Aussage wäre, das, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, sei wahr (das Zeugnis einer ansonsten verlässlichen Quelle), so werden diese Gründe jedenfalls nicht als Gründe für das herhalten können, was Priest gesagt hat (dass es wahre Widersprüche gibt). Wenn dies aber so ist, wie könnte ich dann zu der Aussage berechtigt sein, es gebe wahre Widersprüche? Die Verfügbarkeit von Gründen für eine Aussage allein mag für meine Berechtigung nicht ausreichen, mich auf diese Aussage festzulegen, sofern nämlich die Berechtigung zu einer solchen Festlegung immer auch davon abhängt, worauf man sich anderweitig festlegt. Aber die Verfügbarkeit derartiger Gründe ist zumindest notwendig für eine solche Berechtigung. Entsprechend gäbe es unter den genannten Umständen gar keine Berechtigung zur Festlegung auf A, deren Ausschluss einer (späteren) Festlegung auf ∼GA nicht gelänge. Darauf mag man erwidern, es gäbe dann ebenso wenig eine Berechtigung zur Festlegung auf A, die auszu3 Graham Priest vertritt in der Tat die Ansicht, es gebe Widersprüche, die wahr (und natürlich auch falsch) sind (Priest 1995, 76). Er wird dies auch auf irgendeiner Konferenz gesagt haben, von der mir jemand berichtet haben könnte.
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schließen einer Festlegung auf ∼GA gelänge. Aber diese Erwiderung bringt rein gar nichts. Denn dieselbe Überlegung führte zu dem Schluss, A und ∼A seien miteinander vereinbar. Nehmen wir bloß an, ich wüsste nicht, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, und legte mich sowohl darauf fest, dass das, was er gesagt hat, wahr ist, als auch darauf, dass es keine wahren Widersprüche gibt. Unvereinbarkeit ist eine symmetrische Relation. Bevor wir also der Frage nachgehen, wie es mit unserer Berechtigung für A steht, wenn es tatsächlich Gründe für die Behauptung von A gibt, müssen wir überprüfen, ob eine Festlegung auf A unter Umständen, in denen es keine solchen Gründe gibt, die Berechtigung ausschließt, sich auf ∼GA festzulegen. Wieder müssen wir zwei Sorten von Fällen unterscheiden: (i) Fälle, in denen es Gründe für ∼GA gibt, und (ii) Fälle, in denen keine derartigen Gründe verfügbar sind. Im Hinblick auf Fälle des zweiten Typs können wir ohne Umschweife auf unsere bereits angestellten Überlegungen zurückgreifen: In solchen Fällen wird es schlicht keine Berechtigung für eine Festlegung auf ∼GA geben, die auszuschließen eine Festlegung auf A (oder GA) versäumen könnte. Betrachten wir also Fälle der erstgenannten Art. Der einschlägige Sinn von „Berechtigung“ ist einer, in dem die Berechtigung zu einer Festlegung davon abhängt, worauf man sich anderweitig festgelegt hat. Es folgt aus Brandoms Erklärung von Inkonsistenz als Unvereinbarkeit, dass, selbst wenn es Gründe für ∼GA gibt, eine Festlegung auf GA die Berechtigung, sich auf ∼GA festzulegen, ausschließt. Es scheint klar, weshalb: ∼GA und GA sind miteinander inkonsistent, und eine Berechtigung zur Festlegung auf ∼GA erfordert wenigstens, dass ∼GA mit dem konsistent ist, worauf man sich anderweitig festlegt. Aber es ist ebenso offensichtlich, dass diese Tatsache die Unvereinbarkeit von ∼GA und GA nicht erklärt, solange Inkonsistenz durch Unvereinbarkeit erklärt wird. Noch kann es als ein schieres, nicht weiter zu erklärendes Faktum unseres Gebrauchs von ∼GA und GA hingestellt werden, dass eine Berechtigung zur Festlegung auf die eine Aussage eine Festlegung auf die andere Aussage nicht zulässt. Andernfalls bliebe unverständlich, warum es nicht ebenso ein schieres Faktum unseres Gebrauchs sein könnte, dass so, wie wir ∼GA und A tatsächlich verstehen, eine Berechtigung zur Festlegung auf ∼GA eine Festlegung auf A nicht erlaubt. Welchen Fehler würde ein Sprecher oder der Interpret eines Sprechers begehen, der ∼GA und A in dieser Hinsicht genauso behandelte wie ∼GA und GA? Selbst wenn niemand dies täte, so lieferte die Titulierung dieser Tatsache als ein schieres Faktum allein noch keine Antwort auf diese Frage, geschweige denn eine solche Antwort, die dem hypothetischen Sprecher oder seinem Interpreten ein mangelhaftes Verständnis nachwiese. Wenn man zu der Festlegung auf eine Aussage berechtigt ist, gleichgültig ob man nun dabei nach Wissen strebt oder nicht, dann wird diese Berechtigung
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jedenfalls nicht verloren gehen, wenn man zusätzlich auch noch nach Wissen strebt. Man mag nicht zu der weiteren Annahme berechtigt sein, dieses Streben nach Wissen sei von Erfolg gekrönt, mit anderen Worten: man verfüge über dieses Wissen. Aber man hört jedenfalls nicht auf, zu der Festlegung auf die ursprüngliche Aussage berechtigt zu sein, bloß weil man auch noch beansprucht, sich als jemand zu qualifizieren, der dieses Wissen hat. Wenn man also darin berechtigt ist, sich auf eine Aussage festzulegen, man demnach über hinreichend starke Gründe für diese Aussage verfügt, dann sollte prinzipiell nichts dagegen sprechen, dass man in der Lage ist, die Wahrheit dieser Aussage auch zu erkennen: Erhöbe man ferner einen Wissensanspruch, wenn man sich auf diese Aussage festlegte, dann würde man das beanspruchte Wissen haben. Nehmen wir also an, man verfüge nicht nur über Gründe für ∼GA, sondern sei darüber hinaus auch noch berechtigt, sich auf diese Aussage festzulegen. Unter den genannten Umständen verfügt man jedoch über keine Gründe für A, so dass ∼GA sogar wahr ist. Kehren wir zu unserem Beispiel zurück. Nehmen wir an, ich sei mit Gründen zu der Aussage berechtigt, es gebe keine Gründe dafür, dass es wahre Widersprüche gibt, und es gebe in der Tat keine Gründe für diese Behauptung. Wie bereits dargelegt, würde sich an der Situation in dieser Hinsicht nichts ändern, sollte ich nun den Anspruch erheben, mich als jemand zu qualifizieren, der ein Wissen von der Wahrheit jener Aussage hat. Dementsprechend bin ich also tatsächlich in der Lage zu wissen, dass es keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche gibt. (Stellen wir uns einfach vor, meine Gründe für diese Annahme seien hinreichend stark.) Nehmen wir nun an, ich legte mich ferner auf die Aussage fest, das, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, sei wahr. Und nehmen wir außerdem an, dass Priest tatsächlich, aber ohne dass ich davon wüsste, auf der Konferenz gesagt hat, es gebe Gründe, die für die Existenz wahrer Widersprüche sprechen. Ex hypothesi bin ich damit darauf festgelegt, dass es Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche gibt – eine Aussage, die der Aussage, deren Wahrheit ich zu kennen beanspruche, offensichtlich widerspricht. Im Hinblick auf den von uns beschriebenen Fall scheint klar, dass, gleichgültig was meine Gründe dafür sind, das, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, sei wahr, diese Gründe jedenfalls von den Gründen überboten werden, die ich für meine ursprüngliche Behauptung habe, es gebe keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche. Warum aber sollten wir den Schluss ziehen, dass ich aufgrund meiner zweiten Festlegung nicht länger in der Lage bin zu wissen, dass es keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche gibt? Solange wir uns nicht auf ein unabhängiges Verständnis von Inkonsistenz berufen können, scheint die einzige Antwort auf diese Frage, die einem in den Sinn kommt, die folgende zu sein: Die Gesamtheit aller Aussagen, auf die ich mich festgelegt habe, seien sie mir nun transparent oder nicht, ist selbst nichts, worauf
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sich festzulegen man je berechtigt sein könnte, und damit nichts, dessen Wissen man je für sich erfolgreich beanspruchen könnte. Zu wissen, dass es keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche gibt, schließt aus zu wissen, dass das, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, wahr ist. Denn die Wahrheit dessen, was er gesagt hat, erfordert, dass es solche Gründe gibt. Diese Überlegung macht zwar immer noch Gebrauch von dem Begriff der Inkonsistenz, aber die grundlegende Idee hinter dieser Überlegung kann man auch ohne Zuhilfenahme dieses Begriffs ausdrücken: Man ist nur dann im Lichte der Festlegung auf eine Aussage dazu berechtigt, sich auf eine andere festzulegen, wenn es mögliche Umstände gibt, unter denen man berechtigt ist, sich auf beide Aussagen zugleich festzulegen. Und ob mögliche Umstände solche sind, unter denen man zur Festlegung auf eine Aussage berechtigt ist, hängt allein von der Praxis ab (der Praxis des scorekeeping). Wenn diese Überlegung einschlägig ist – und es scheint zu ihr keine Alternative zu geben, die nicht zugleich die Vorrangstellung der Pragmatik vor der Semantik ganz beseitigte –, dann können wir leicht sehen, wie eine Festlegung auf GA unter den genannten Umständen eine Berechtigung ausschließt, sich auf ∼GA festzulegen. Aber, und dies ist der wunde Punkt, dasselbe wird auch für Fälle gelten, in denen man auf A statt GA festgelegt ist. Wenn Priest (so wie im ursprünglichen Beispiel) auf der Konferenz gesagt hätte, es gebe wahre Widersprüche, dann würde ich meine Berechtigung zu sagen, es gebe keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche, ebenfalls einbüßen, legte ich mich darauf fest, das, was Priest auf der Konferenz gesagt hat, sei wahr. Denn es gibt keine möglichen Umstände, unter denen ich sowohl dazu berechtigt bin, an meiner ursprünglichen Aussage festzuhalten (dass es keine Gründe für die Existenz wahrer Widersprüche gibt), und berechtigt bin zu sagen, dass es wahre Widersprüche gibt. Andernfalls müsste es möglich sein zu versuchen, sich als jemand zu qualifizieren, der weiß, dass es wahre Widersprüche gibt, während man zugleich kohärenterweise behaupten kann, jeder Versuch, sich in dieser Weise zu qualifizieren, sei zum Scheitern verurteilt. Dies kann man aber nicht kohärenterweise versuchen. (Nicht einmal Priest kann das.) Bislang ist uns nichts angeboten worden, das uns zu dem Schluss berechtigte, A und ∼GA seien miteinander vereinbar. Bislang jedoch haben wir nur solche Fälle betrachtet, in denen ich zwar indirekt, d.h. ohne einen Wissensanspruch damit zu erheben, auf A festgelegt bin, es aber keine Gründe für A gibt. Wie steht es nun also mit solchen Fällen, in denen ich indirekt auf A festgelegt bin und es tatsächlich derartige Gründe gibt? Diese Frage lässt sich in Anbetracht der vorhergehenden Überlegungen recht schnell beantworten. Wir müssen zwei Teilfragen beantworten: (i) Schließt eine Festlegung auf A eine Berechtigung zur Festlegung auf ∼GA aus, wenn es Gründe für A gibt? Und (ii) schließt eine
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Festlegung auf ∼GA die Berechtigung zur Festlegung auf A aus, auch wenn es Gründe für A gibt? Beide Teilfragen sind zu bejahen. Da es keine möglichen Umstände gibt, unter denen man kohärenterweise ein Wissen von der Wahrheit von A&∼GA beanspruchen kann, gibt es auch keine möglichen Umstände, unter denen man zur Festlegung auf A und ∼GA berechtigt ist. Und wenn keine derartigen Umstände möglich sind, dann kann man ex hypothesi auch nicht dazu berechtigt sein, sich auf eine dieser Aussagen festzulegen, während man auf die jeweils andere festgelegt ist. Wir sind deshalb zu dem Schluss genötigt, dass, selbst wenn es einen Sinn von „Festlegung“ gibt, in dem man kohärenterweise auf eine Aussage festgelegt sein kann, ohne damit einen Wissensanspruch geltend zu machen, das ursprüngliche Argument gegen Brandoms Reduktionsversuch nach wie vor durchschlagend ist. Denn der Sinn von „Berechtigung“, der für Brandoms Explikation des Begriffs der Unvereinbarkeit einschlägig ist, verhält sich dieser feinen Unterscheidung gegenüber indifferent. Die Berechtigung zur Festlegung auf eine gegebene Aussage A ist relativiert auf eine Menge von Aussagen, auf die man sich anderweitig festgelegt hat, und hängt davon ab, ob es möglich ist, dazu berechtigt zu sein, sich sowohl auf A als auch auf diese anderen Aussagen festzulegen. Da die Berechtigung zur Festlegung auf eine Aussage zumindest erfordert, dass man sich kohärenterweise darum bemühen kann, sich als jemand zu qualifizieren, der die Wahrheit dieser Aussage erkennt, und da sich niemand kohärenterweise zugleich um die Erkenntnis von A und ∼GA bemühen kann, folgt daraus, dass eine Festlegung auf A die Berechtigung, sich auf ∼GA festzulegen, ebenso ausschließt, wie eine Festlegung auf ∼GA die Berechtigung ausschließt, sich auf A festzulegen. Demnach sind A und ∼GA also miteinander unvereinbar. Allerdings sind diese Aussagen offensichtlich miteinander konsistent. Folglich kann Inkonsistenz nicht durch Unvereinbarkeit erklärt werden. Brandoms pragmatistischer Reduktionsversuch scheitert also.
3. Anti-Realismus und unerkennbare Wahrheit Es gibt ein vieldiskutiertes ‚Paradox‘, das zuerst 1963 in einem Aufsatz von Fitch erschien und das die pauschale Gleichsetzung von Wahrheit mit Erkennbarkeit endgültig widerlegt. Es kann als eine Reductio ad absurdum der antirealistischen These verstanden werden, wonach ein Satz A nur dann wahr ist, wenn er auch prinzipiell von uns als wahr erkannt werden kann, kurz: A → ♦KA. Das ‚Paradox‘ hat die Gestalt eines Beweises, dass aus dieser These bereits die vollkommen abwegige Behauptung folgt, alle wahren Sätze würden irgendwann
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auch tatsächlich von uns als wahr erkannt. (Wenn man die intuitionistische Logik zugrundelegt, dann lässt sich nur die Kontraposition dieser Behauptung ableiten, dass nämlich jeder Satz, der de facto niemals als wahr erkannt wird, falsch ist – was nicht minder abwegig ist.) Der Beweis geht so: Nehmen wir an, es gebe einen wahren Satz, dessen Wahrheit wir jedoch de facto weder erkannt haben noch in Zukunft erkennen werden. Sei B ein solcher Satz, dann gilt also: B & ∼KB. Wäre die eingangs genannte anti-realistische These nun wahr, so müsste die Wahrheit dieser Konjunktion prinzipiell von uns erkannt werden können. Aber es ist ganz und gar unmöglich, sowohl zu wissen, dass B wahr ist, als auch zu wissen, dass die Wahrheit von B niemals erkannt wird! Wenn man die Wahrheit von B erkennt, dann gibt es offensichtlich jemanden, der die Wahrheit von B erkennt, so dass also das zweite Konjunkt falsch und demnach nichts ist, dessen Wahrheit ebenfalls erkannt wird. Aus der anti-realistischen These folgt also, dass die Konjunktion B & ∼KB jedenfalls falsch ist, gleichgültig um welchen Satz B es sich im Einzelfall handelt. Damit wäre auch die Existenzgeneralisierung dieser Konjunktion als falsch erwiesen. Wir können demnach folgern, dass, wenn A → ♦KA gilt, alle wahren Sätze irgendwann auch erkannt werden: A → KA. Anti-Realisten neigen in der Regel dazu, kühne Thesen zu vertreten, die manche unserer grundlegenden Intuitionen anfechten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass niemand, der sich für den Anti-Realismus hat einnehmen lassen, außer vielleicht Berkeley, je versucht war, eine derart kühne Behauptung aufzustellen. Dementsprechend haben Anti-Realisten auf dieses ‚Paradox‘ reagiert, indem sie sich beschieden und ihre zentrale These von der Erkennbarkeit der Wahrheit revidiert haben. Die zwei Revisionsvorschläge, die ich im Folgenden betrachten werde, sind jeweils von Dummett und Tennant unterbreitet worden. Der Diagnose von Dummett zufolge war es ein Fehler, „to give a blanket characterization of truth, rather than an inductive one“. Stattdessen sollten wir eine Klasse basaler Aussagen auszeichnen und die folgende rekursive Definition des Wahrheitsprädikats („W“) geben: 1. WA gdw. ♦KA, sofern A basal ist, 2. W(A&B) gdw. WA & WB, 3. W(A∨B) gdw. WA ∨ WB, 4. W(A → B) gdw. WA → WB,
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5. W∼A gdw. ∼WA, 6. W∀x Ax gdw. ∀x WAx, 7. W∃x Ax gdw. ∃x WAx, wobei gilt: „the logical constant on the right-hand side of each clause is understood as subject to the laws of intuitionistic logic“, und „basic statements [ . . . ] include all those that cannot be represented as in any of the forms governed by clauses [(2) to (7)], or by any supplementary clauses“ (Dummett 2001). Dieses Vorgehen hat das gewünschte Ergebnis, dass aus der Unerkennbarkeit der Wahrheit von B & ∼KB nicht gefolgert werden kann, dieser Satz sei falsch. Denn dieser Satz ist eine Konjunktion und deshalb nicht basal. So weit, so gut. Aber warum meint Dummett, dass seine induktive Wahrheitsdefinition dem AntiRealisten einen Dienst erweist? Denn selbst wenn die logischen Konstanten auf der rechten Seite dieser Klauseln im Sinne der intuitionistischen Logik gedeutet werden, ist der folgende Satz mit Dummetts Wahrheitsdefinition konsistent: ∼B & ∼♦K∼B (wobei B basal ist). Dieser Satz impliziert, dass es unerkennbare Wahrheiten gibt. Er sagt von einer basalen Aussage B, B sei unerkennbar und falsch, obwohl es unerkennbar ist, dass dies so ist. Wenn dies kein realistischer Gedanke ist, was dann? Natürlich schließt Dummetts Wahrheitsdefinition erfolgreich aus, dass B & ∼♦KB wahr ist, wenn B basal ist. Aber diese Schizophrenie spricht weniger gegen einen Realismus, dem zufolge ein Satz der erstgenannten Art wahr ist, als vielmehr gegen Dummetts induktive Wahrheitsdefinition und die Bedeutungstheorie, der sie verpflichtet ist. Man mag versucht sein zu glauben, der naheliegende Ausweg aus dieser Schwierigkeit sei, Klausel (5) durch (50 ) W∼A gdw. ♦K∼A zu ersetzen (wobei hier, wie vorher auch, der Operator „♦K“ so verstanden wird, dass seine Anwendung auf eine Aussage deren Wahrheit impliziert). Doch selbst wenn diese Korrektur ausreichte, um den Realismus abzuwenden, so kehrte das ursprüngliche Problem umgehend zurück. Denn ebenso wie die Wahrheit von B & ∼KB aus den genannten Gründen unerkennbar ist, kann auch die Wahrheit von ∼∼B & ∼K∼∼B unmöglich erkannt werden. Die letztgenannte Aussage ist der Aussage ∼(∼B ∨ KB) intuitionistisch äquivalent, die dementsprechend ebenso wenig erkennbar ist. Klausel (50 ) vorausgesetzt, ergibt sich
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daraus, dass ∼∼B & ∼K∼∼B falsch ist, woraus wiederum folgt, dass die gänzlich unplausible Aussage ∼K∼∼B → ∼B wahr ist. Wir sollten also (50 ) auf Negationen solcher Aussagen beschränken, die basal sind, und (50 ) durch (500 ) W∼A gdw. ♦K∼A, sofern A basal ist, ersetzen. Doch dies reichte immer noch nicht aus, um die unliebsame Aussage ∃A(∼∼A & ∼♦K∼∼A) auszuschließen. Zusätzlich zu (500 ) benötigt Dummett noch die beiden Klauseln (5000 ) W∼∼A gdw. ♦K∼∼A, sofern A basal ist, (50000 ) W∼∼∼A gdw. W∼A. Klausel (50000 ) bringt das intuitionistisch gültige Reduktionsprinzip zum Ausdruck, wonach dreifache Negationen in einfache Negationen kollabieren. Nehmen wir entsprechend an, die ursprünglichen Klauseln (1) bis (7) in Verbindung mit (500 ) bis (50000 ) lieferten tatsächlich diejenige anti-realistische Wahrheitsdefinition, die Dummett im Auge hatte. Selbst wenn nun diese verbesserte Wahrheitsdefinition erfolgreich alle realistischen Intuitionen als inkohärent erweist, ist mit ihr doch etwas nicht ganz in Ordnung. Dies liegt an Dummetts Beharren, die in ihr vorkommenden logischen Konstanten seien intuitionistisch zu deuten. Auf die damit verbundene Schwierigkeit werde ich noch zurückkommen. Vorher möchte ich mich jedoch Tennants Versuch zuwenden, das ‚Paradox‘ aufzulösen, mit dem dieser Abschnitt begann. Tennant schlägt vor, die ursprüngliche Formulierung der anti-realistischen These aufrechtzuerhalten und bloß den Wertebereich ihres Allquantors systematisch einzuschränken. So schließt er aus diesem Wertebereich all diejenigen Sätze C aus, für die gilt, dass KC (beweisbar) inkonsistent ist. Im Gegensatz zu Dummett meint Tennant jedoch, alle anderen Sätze fielen in diesen Wertebereich, gleichgültig ob sie in Dummetts Sinne basal sind oder nicht. Da die Annahme, B & ∼KB sei als wahr erkannt, nachweislich inkonsistent ist, fällt dieser Satz demnach nicht in den Wertebereich, für den A → ♦KA gilt, mit der Folge, dass seine Unerkennbarkeit nicht a priori als Zeichen seiner Falschheit gewertet werden kann. Dies liefert das gewünschte Ergebnis. Auf derselben Grundlage kann Tennant auch A&∼♦KA für basale und nicht-basale A ausschließen, indem er nämlich zeigt, dass ∼♦KA → ∼A gilt. Das ‚Paradox‘ scheint also erfolgreich aufgelöst und die Kohärenz der anti-realistischen Position wiederhergestellt zu sein (Tennant 1997, 266–276). Während die Annahme, B & ∼KB sei als wahr erkannt, nachweislich inkonsistent ist, sollte dies für die Annahme, die Existenzaussage ∃A(A & ∼KA) sei als wahr erkannt, besser nicht gelten. Diese Annahme wäre freilich dann nachweislich inkonsistent, wenn es a priori wäre, dass die Wahrheit der Instanzen von
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∃A(A & ∼KA) ihre eigene Erkennbarkeit implizierte. Es war jedoch Sinn und Zweck der von Tennant vorgeschlagenen Lösung, zu gewährleisten, dass dieses Implikationsverhältnis nicht a priori besteht. Warum aber spräche es gegen eine Auffassung, wenn sich aus ihr ableiten ließe, dass ∃A(A & ∼KA) unmöglich als wahr erkannt werden kann? Um deutlich zu machen, warum dies so ist, müssen wir zu unserem ‚Paradox‘ zurückkehren und fragen, warum uns seine Konklusion so absurd erschien. Wenn wir uns bis dahin hinsichtlich der Frage neutral verhalten hätten, ob der Satz ∃A(A & ∼KA) wahr ist, dann wäre der Nachweis seiner Falschheit fraglos immer noch überraschend gewesen. Aber dann wäre es vollkommen ad hoc gewesen, diesen Nachweis abzulehnen. Vielmehr war es die Negation dieses Satzes selbst und nicht allein die Annahme, wir hätten die Wahrheit dieser Negation erkannt, was uns absurd erschien. Tatsächlich sind wir, wie Dummett (2001) selbst eingesteht, berechtigt, ∃A(A & ∼KA) für wahr zu halten; und eine solche Berechtigung ist schlechterdings unvereinbar mit der Behauptung, wir könnten die Wahrheit dieses Satzes unmöglich erkennen. Dies ist nur ein weiterer Fall derjenigen Art von Inkohärenz, die das ‚Paradox‘ ausschlachtet. Nun muss man sich allerdings vor Augen führen, dass es, wenn die logischen Konstanten intuitionistisch gedeutet werden, wie dies sowohl Dummett als auch Tennant einfordern, unmöglich ist, ∃A(A&∼KA) als wahr zu erkennen. Denn die intuitionistische Standardinterpretation der logischen Konstanten impliziert, dass die Bedeutung des Existenzquantors nicht über das hinausgeht, was seinen Niederschlag in der folgenden Regel findet. Sei der Beweis einer Aussage ein jeglicher für Wissen hinreichender Grund dafür, diese Aussage für wahr zu halten (so dass also auch empirische Aussagen ‚bewiesen‘ werden können); dann heißt, einen Beweis für ∃x A(x) zu geben, „to prove, or at least provide an effective means of proving, of a specific element of the domain, that it satisfies A(x)“ (Dummett 1977, 12). Mit anderen Worten: Gemäß der intuitionistischen Standardinterpretation von ∃x A(x) gilt, dass „no non-constructive proof could count as a proof of it“ (Dummett 1977, 11). Daraus folgt nun aber, dass in den eigenartigen Fällen, mit denen wir es gerade zu tun haben, kein Beweis (d. h. kein für Wissen hinreichender Grund) für die Existenzaussage möglich ist, weil es unmöglich ist, einen solchen Beweis für irgendeine ihrer Instanzen zu geben. Der Intuitionismus impliziert also, dass wir nicht wissen, dass ∃A(A & ∼KA) wahr ist, weil wir unmöglich von irgendeinem B wissen können, dass B&∼KB wahr ist. Sind wir zu diesem Zugeständnis genötigt, können wir auch nicht in irgendeiner Weise berechtigt sein, ∃A(A & ∼KA) für wahr zu halten – und diese Konsequenz ist absurd. Dummett und Tennant mögen im Sinn haben, die intuitionistische Interpretation der logischen Konstanten systematisch zu beschränken und all diejenigen
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problematischen Aussagen von ihr auszunehmen, in denen diese Konstanten als Grundoperatoren vorkommen. Aber dieses Manöver hätte entweder zur Folge, dass wir über gar keine Interpretation der problematischen Aussagen verfügten, oder bedeutete eine Verletzung des Kompositionalitätsprinzips, wonach die Bedeutung komplexer Ausdrücke sich in systematischer Weise aus der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Teilausdrücke ergibt. Aus der Sicht eines Bedeutungstheoretikers ist keine dieser Optionen akzeptabel. Warum aber sollte man nicht einfach die intuitionistische Interpretation der logischen Konstanten als unangemessen verwerfen? Den Intuitionismus zugunsten der klassischen Logik mit der dazugehörigen Semantik zu verwerfen, ließe einen Anti-Realismus hinsichtlich aller unproblematischen Aussagen unplausibel erscheinen. Wir würden dann nämlich, wenn wir Tennants Strategie einschlügen, von jeder Aussage A, für die gilt, dass KA nicht nachweislich inkonsistent ist, behaupten, entweder A könne als wahr erkannt werden oder ∼A könne als wahr erkannt werden. Wenn wir stattdessen Dummetts Strategie einschlügen, würden wir dies zumindest von allen basalen A behaupten. Keine dieser Optionen scheint vernünftig. (Ich gehe hier davon aus, dass die Klasse der in Dummetts Sinne basalen Aussagen nicht einfach mit der Klasse derjenigen basalen Aussagen zusammenfällt, die effektiv entscheidbar sind. Andernfalls stünde Dummetts induktive Wahrheitsdefinition auch dem Realisten offen.) Wenn jedoch eine anti-realistische Auffassung der unproblematischen Aussagen aus den genannten Gründen zu verwerfen ist, dann muss etwas grundsätzlich schiefgegangen sein, als nahegelegt wurde, die implizite Kenntnis der Wahrheitsbedingungen von Sätzen erfordere die Fähigkeit, diese Sätze korrekterweise zu behaupten. Denn dieser Gedanke war es, der unmittelbar zu einer anti-realistischen Wahrheitsauffassung zu führen schien, weil ansonsten die Zuschreibung einer solchen Kenntnis jeder Grundlage entbehrte. Im nächsten Abschnitt werde ich eine Diagnose dafür anbieten, was an diesem Gedanken faul ist. Dabei werde ich einen Fehler ausmachen, der auch schon in Brandoms inferentialistischer Pragmatik am Werk ist und der erklärt, warum sowohl diese Theorie als auch die Semantik des Anti-Realismus zum Scheitern verurteilt sind.
4. Semantik und Erkenntnistheorie Brandom rekonstruierte die semantische Beziehung der Inkonsistenz als eine pragmatische Relation der Unvereinbarkeit von Festlegungen und Berechtigungen. Das Problem, dem diese Rekonstruktion gegenübersteht, war, dass, selbst wenn alle miteinander inkonsistenten Aussagen auch miteinander unvereinbar sind, die Umkehrung nicht gilt. Der Grund dieses Problems war, dass, sofern
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die Berechtigung zur Festlegung auf eine Aussage A von dem abhängt, worauf man sich anderweitig festlegt, nicht alle Aussagen, auf die sich festzulegen eine solche Berechtigung ausschließt, in einer semantischen Beziehung zu A stehen, oder doch wenigstens nicht alle Aussagen dieser Art mit A inkonsistent sind. So wird eine Berechtigung zur Festlegung auf A schon dadurch ausgeschlossen, dass man sich auf die Aussage festlegt, es gebe keine Gründe für A, von deren Existenz eine solche Berechtigung abhinge, d.h. auf ∼GA. Und umgekehrt: Eine Festlegung auf A schließt eine Berechtigung zur Festlegung auf ∼GA aus. Nichstdestoweniger sind A und ∼GA konsistent. Was wir daraus lernen, ist, dass der Begriff des Ausschlusses einer Berechtigung ebenso wie der Begriff der Berechtigung selbst ein epistemischer Begriff und als solcher dazu ungeeignet ist, Tatsachen von ausschließlich semantischer Natur angemessen zu repräsentieren. In demselben Maße sind wir zu dem Schluss genötigt, dass sich unser Verstehen nicht darin erschöpft, dass wir unsere epistemische Praxis, das „game of giving and asking for reasons“, beherrschen. Die dem Anti-Realismus verpflichtete Semantik suchte das Verstehen eines Satzes (die Kenntnis seiner Wahrheitsbedingungen) mit der Fähigkeit zu identifizieren, den Wahrheitswert dieses Satzes zu erkennen. Das Problem, dem sich diese Semantik gegenübersieht, war, dass, selbst wenn alle wahren Sätze, deren Wahrheit wir auch erkennen können, Sätze sind, die wir verstehen, die Umkehrung nicht gilt. Es gibt wahre Sätze, die wir problemlos verstehen, obwohl wir unmöglich in der Lage sind, ihre Wahrheit zu erkennen. Diese Sätze sind Instanzen einer Existenzaussage, von der wir wissen, dass sie wahre Instanzen hat, deren Instanzen als wahr zu erkennen uns aber unmöglich ist, weil diese jeweils Konjunktionen mit der folgenden Eigenschaft äquivalent sind: Die Wahrheit eines ihrer Konjunkte schließt die Möglichkeit aus, die Wahrheit eines ihrer anderen Konjunkte zu erkennen. So wissen wir, dass es in unserer Sprache Sätze A gibt, die zwar wahr sind, aber deren Wahrheit zu erkennen sich de facto niemand jemals die Mühe machen wird. Doch wir können von keinem solchen Satz A wissen, dass er diese Beschreibung erfüllt: Für jedes beliebige A gilt, dass die Konjunktion A & ∼KA, wenn sie wahr ist, unerkennbar wahr ist. Was wir daraus lernen, ist, dass der Begriff der Erkenntnisfähigkeit ungeeignet ist, zu explizieren, worin unser Verstehen besteht, da dasjenige, was wir aufgrund unseres Verstehens vorzustellen in der Lage sind, über das hinausgeht, was wir aufgrund unserer Erkenntnisfähigkeiten zu erkennen in der Lage sind. Zum wiederholten Male müssen wir feststellen, dass unser Vermögen, zu verstehen, sich nicht in der Beherrschung unserer epistemischen Praxis erschöpft. Vorausgesetzt, dass ∼GA (nach einer passenden ‚Externalisierung‘ von Gründen) ∼KA impliziert, und vorausgesetzt, dass die Wahrheit von A & ∼GA in demselben Maße unerkennbar ist wie die Wahrheit von A & ∼KA, ist zu bemer-
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ken, dass die Satzpaare, deren Konsistenz Brandoms Bedeutungstheorie untergrub, just Paare derselben Sätze sind, deren Konjunktionen die anti-realistische Semantik vor unlösbare Probleme stellten. Und trotz aller Unterschiede hinsichtlich ihrer Gestalt und ihrer reduktionistischen Ambitionen haben beide semantischen Theorien ein und denselben Makel: Beide Theorien fassen Verstehen zu eng, nämlich als unsere Fähigkeit, zu epistemisch wohlfundierten Urteilen zu gelangen und unfundierte Urteile abzulehnen. Als Frege die These formulierte, wir müssten erst einen Gedanken fassen, bevor wir zur Erkenntnis seines Wahrheitswerts fortschreiten – dass das Fassen eines Gedankens tatsächlich konstitutiv für eine solche Erkenntnis ist –, wollte er bestimmt nicht so verstanden werden, als behaupte er bloß, bevor wir den Wahrheitswert eines Gedankens erkennen, müssten wir zu dem fähig sein, was auch immer für die Erkenntnis dieses Wahrheitswerts notwendig (und, wenn die Welt mitspielt, hinreichend) ist. Für Frege ist das Erfassen eines Gedankens eine genuine kognitive Relation und im Falle menschlicher Subjekte eine dreistellige Relation zwischen einem Subjekt, einem Satz und einem Gedanken.4 Diese Vorstellung und die Vergegenständlichung von Gedanken, die sie mit sich bringt, erscheint vielen als wenig attraktiv. Vor allem Pragmatisten sehen darin einen platonistischen Fehltritt, der mehr Probleme aufwirft, als er Erklärungskraft besitzt. Pragmatisten versuchen deshalb üblicherweise, Freges intellektualistische Geschichte durch eine Geschichte über unsere praktischen Fähigkeiten zu ersetzen. Aber bei aller Vorliebe für ihren Anti-Intellektualismus sollten Pragmatisten nicht den Fehler begehen, einen Akt mit der Befähigung zu einem solchen Akt zu verwechseln. A fortiori sollten sie nicht der Versuchung nachgeben, Freges Rede vom Erfassen eines Gedankens durch ihre Rede von Verstehen oder der impliziten Kenntnis von Wahrheitsbedingungen zu ersetzen. Selbst wenn Frege damit falsch gelegen haben sollte, das Erfassen von Gedanken als eine genuine Relation zu beschreiben, so gäbe es dann immer noch etwas, dessen korrekte Beschreibung er verfehlte: dass es nämlich für jedes Urteil, zu dem wir gelangen mögen, einen Akt des Denkens gibt, der diesem Urteil vorausgeht oder zumindest konstitutiver Bestandteil dieses Urteils ist. Vorausgesetzt, dass das, was gedacht wird, stets in irgendeiner Sprache ausgedrückt werden kann, sollte Verstehen als dasjenige aufgefasst werden, was uns zu solchen Denkakten befähigt. Da Denken weder mit dem Fällen eines Urteils noch mit der epistemischen Bewertung eines Urteils identifiziert werden kann, sollte Verstehen dementsprechend auch nicht mit der Fähigkeit gleichgesetzt werden, solche Urteile zu fällen oder zu bewerten. Ebenso wenig sollten wir Verstehen jedoch vollkommen losgelöst von dieser Fähigkeit betrachten, da, wie Dummett feststellt, unser Verständnis eines Satzes Konsequenzen dafür hat, was als ein 4 Frege
2425, 288. Vgl. hierzu Dummett 1992, 19–20.
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(möglicherweise für Wissen hinreichender) Grund für die Behauptung oder Verneinung dieses Satzes zählt (Dummett 1991, 308). Die richtigen praktischen Fähigkeiten zu identifizieren, die für unser Verstehen konstitutiv sind, bleibt die vornehmliche Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Bedeutung, gleichgültig ob semantische Tatsachen Tatsachen sui generis sind oder nicht. Soweit ich weiß, ist diese Aufgabe noch nicht in zufrieden stellender Weise gelöst worden. Aus diesem Grund möchte ich abschließend einen Lösungsansatz skizzieren, der, wie ich denke, Erfolg versprechend ist.
5. Das Erwägen der Wahrheit von Gedanken Es ist ein alter Hut, dass man einen Gedanken denken kann, ohne ihn als wahr oder falsch zu beurteilen. Das beste Beispiel dafür sind hypothetische Gedankengefüge, in denen ein solcher Gedanke eine Bedingung angibt, unter der ein anderer Gedanke wahr ist (Frege 1906, 201; vgl. Geach 1960; 1965). Dasselbe trifft aber auch auf disjunktive Gedankengefüge zu, in denen dieser Gedanke eine Alternative zu der Wahrheit eines anderen Gedankens formuliert. Ich werde mich im Folgenden auf eine Betrachtung hypothetischer Gedankengefüge beschränken. Was ich zu sagen habe, sollte sich jedoch problemlos auf Gedankengefüge anderer Art übertragen lassen, denn der kognitive Vorgang, um den es mir geht, ist in all diesen Fällen derselbe.5 Was macht man also, wenn man einen Gedanken als Bedingung eines hypothetischen Gedankengefüges denkt? Sofern das Gedankengefüge selbst Gegenstand eines Urteils ist, liegt die Antwort nahe, man urteile, dass aus dem Erfülltsein dieser Bedingung etwas Bestimmtes folgt. Diese Auskunft ist unter der gemachten Annahme sicherlich richtig, aber als Antwort auf unsere Frage führt sie eher in die Irre. Denn sie erweckt, so verstanden, den Anschein, als ließe sich unser Denken vollständig durch unsere Praxis des Urteilens erklären; und wir haben gesehen, wohin das führt. Zu einem Urteil darüber, was aus der Wahrheit eines Gedankens folgt, wird man jedoch in aller Regel erst kommen, wenn man die Wahrheit dieses Gedankens bereits hypothetisch angenommen oder erwogen hat, wenn man diesen Gedanken also schon gedacht hat. Und die Frage war ja gerade, was man eigentlich macht, wenn man einen Gedanken in dieser Weise denkt. In der Tat ist es für das Erwägen der Wahrheit eines Gedankens gar nicht konstitutiv, dass man abschließend zu einem Urteil darüber kommt, was aus der Wahrheit dieses Gedankens folgt.6 Man denke nur an Arbeitshypothesen, die zu 5 So können wir das, was vor sich geht, wenn wir A∨B denken, durch das zu erklären versuchen, was vor sich geht, wenn wir ∼A → B und ∼B → A denken. 6 Das Gesagte ist sowohl damit verträglich, dass man immer zu einem solchen Urteil kommen
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nichts führen. Schon aus diesem Grund wäre es verfehlt, das Aufstellen von Hypothesen durch das Behaupten von Konditionalsätzen erklären zu wollen. Einen Konditionalsatz kann man nur behaupten, wenn man schon zu wissen meint, worauf die Wahrheit des Antezedens hinausläuft. Der Witz von Arbeitshypothesen besteht jedoch gerade darin, dass wir uns zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie aufstellen, noch im Unklaren darüber befinden, was alles aus ihnen folgt.7 Was man macht, wenn man die Wahrheit einer Hypothese erwägt, ohne bereits zu urteilen, dass etwas Bestimmtes aus ihr folgt, ist nun aber dasselbe, was man auch macht, wenn man einen Gedanken als Bedingung eines hypothetischen Gedankengefüges denkt, das man als wahr beurteilt. Wir werden also dahin gedrängt, selbst in Fällen, in denen wir tatsächlich zu hypothetischen Urteilen gelangen, einen besonderen Akt des Erwägens anzuerkennen. Solche Akte finden ihren charakteristischen Ausdruck in der Verwendung sprachlicher Indikatoren wie zum Beispiel „Einmal angenommen, dass . . . “, „Gehen wir davon aus, dass . . . “, „Es gelte . . . “ oder eben in der Verwendung komplexer Satzgefüge wie des Konditionals. Nicht immer müssen solche Akte jedoch in dieser Weise zum Ausdruck gebracht werden. Unsere gängige Praxis des Beweisführens veranschaulicht dies. Die These lautet nun, dass solche Akte des Erwägens genau dasjenige sind, worauf Frege Bezug nahm, als er davon sprach, man erfasse einen Gedanken, bevor man zu einer Beurteilung seines Wahrheitswertes fortschreite. Wenn diese These zutrifft, dann steht es dem Pragmatisten offen, Verstehen mit der Befähigung zu solchen Akten zu identifizieren. Wie bereits angedeutet, muss man, um dazu fähig zu sein, die Wahrheit eines Gedankens zu erwägen, nicht schon wissen, was alles aus der Wahrheit dieses Gedankens folgt. Man muss noch nicht einmal überschauen können, was alles aus ihr logisch folgt. Allerdings kann man die Wahrheit eines Gedankens nicht ernsthaft erwägen, ohne zumindest in basalen Fällen erkennen zu können, ob eine gegebene Ableitung die Ableitung einer logischen Folge aus der Wahrheit dieses Gedankens ist (d. h. sofern man nur alle in dieser Ableitung vorkommenden Gedanken erfasst). Die Kenntnis basaler logischer Zusammenhänge ist demnach eine wesentliche Voraussetzung für das Erfassen von Gedanken. Diese Anforderung ist durchaus mit der Einsicht verträglich, dass man einen Satz auch dann verstehen kann, wenn man nicht in der Lage ist, den Gedankengang nachzuvollziehen (geschweige denn als korrekt zu bewerten), den eine bestimmte Ableitung einer logischen Folge dieses Satzes kann, wenn man in der Lage ist, die betreffende Annahme zu machen, als auch damit, dass man immer zu solchen Urteilen kommen sollte, wenn man sich darauf verpflichtet anzugeben, was aus dieser Annahme folgt. (Urteile der Form A → A illustrieren dies.) 7 Das liegt unter anderem daran, dass wir nicht immer abschätzen können, welche Konsequenzen sich ergäben, wenn wir das, was wir bereits wissen, um diese Arbeitshypothesen bereicherten. So betrachtet, geht das, was aus der Wahrheit einer Arbeitshypothese folgt, über das hinaus, was aus ihr logisch folgt.
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nachzeichnet. In einem solchen Fall wird mindestens eine der folgenden Bedingungen vorliegen: (i) Man versteht den Satz zu einem geringeren Grad als andere, die die Ableitung nachvollziehen können; (ii) die Ableitung macht von logischen Regeln Gebrauch, die nicht basal sind; (iii) die Ableitung macht Gebrauch von Sätzen, die man zu einem geringeren Grad als andere oder gar nicht versteht. In keinem Fall aber kann man einen Satz verstehen und zugleich vollkommen blind im Hinblick darauf sein, ob etwas logisch aus seiner Wahrheit folgt oder nicht. Um die These zu begründen, wonach das Erfassen eines Gedankens ein Akt des Erwägens der Wahrheit dieses Gedankens ist, wie er in charakteristischer Weise beim Aufstellen von Hypothesen vollzogen wird, bedarf es des Nachweises, dass selbst bei Urteilen, die kein komplexes Gedankengefüge zum Gegenstand haben, ein solcher Akt im Spiel ist. Das allein genügte freilich noch nicht, um einen hinreichenden Grund für diese These zu liefern. Darüber hinaus müsste noch gezeigt werden, dass das Erwägen der Wahrheit eines Gedankens nicht notwendigerweise das Erwägen eines anderen Gedankens involviert, der mit dem ersten in keiner relevanten logischen Beziehung steht. Denn wenn B keine logische Folge von A ist, dann muss es auch möglich sein, A zu erfassen, ohne B zu erfassen. Sollte es unmöglich sein, im hier intendierten Sinn A zu erwägen, ohne B zu erwägen, obwohl B nicht aus A folgt, dann wären wir zu dem Schluss gezwungen, B sei eine logische Folge von A, und unsere These erwiese sich als falsch. Ein Urteil kann als Antwort auf eine Frage begriffen werden, wobei diese Frage denselben Gedanken zum Gegenstand hat wie das Urteil.8 Um zu einer Antwort auf eine solche Frage zu gelangen, muss man überprüfen, ob es Gründe für das gibt, was die Wahrheit (oder Falschheit) des betreffenden Gedankens erfordert. Eine derartige Überprüfung beinhaltet also wesentlich, dass man sich darüber klar wird, was aus der Wahrheit (beziehungsweise Falschheit) dieses Gedankens folgt. Um sich hierüber klar zu werden, muss man nun aber die Wahrheit (beziehungsweise Falschheit) des Gedankens erwägen. Und das ist es, was man immer auch tut, wenn man sich die Frage vorlegt, auf die das Urteil dann eine Antwort ist.9 Demnach ist selbst dann ein Akt des Erwägens im Spiel, wenn wir 8 Frege 1918, 35. Manche Urteile antworten allerdings auf Fragen, die keine Satzfragen sind und somit auch nicht denselben Gedanken ausdrücken wie diese Urteile. Dies führt zu Komplikationen, die ich an dieser Stelle schon aus Platzgründen nicht behandeln kann. 9 Es scheint trivial, dass man, wenn man eine Frage stellt, über das Erfassen des jeweiligen Gedankens hinaus an sich oder andere die Aufforderung richtet, eine Antwort auf diese Frage zu geben (vgl. Frege 1918, 35). Ich bezweifle allerdings, dass dies immer der Fall ist. So mag ich mich fragen, was César gerade macht, selbst wenn ich schon weiß, dass ich nicht in der Lage bin, darauf zu antworten. In welchem Sinne richte ich dann aber an mich die Aufforderung, diese Frage zu beantworten?
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es mit Urteilen zu tun haben, die kein hypothetisches Gedankengefüge zum Gegenstand haben, sondern durch die Behauptung atomarer Sätze angemessen zum Ausdruck gebracht werden. Wenn ich die Wahrheit von A erwäge und damit ferner die Aufforderung verbinde, anzugeben, was aus der Wahrheit von A folgt, setze ich einen kognitiven Prozess in Gang, der bestenfalls darauf hinausläuft, dass ich tatsächlich schlussfolgere, was aus der Wahrheit von A folgt. Schlussfolgerungen sollen hier nichts anderes sein als mögliche Endpunkte derjenigen kognitiven Prozesse, die durch solche Aufforderungen in Gang gesetzt werden. Insbesondere sind Schlussfolgerungen nicht als Urteile aufzufassen und somit auch nicht mit der Verpflichtung verbunden, Gründe für das anzuführen, was gefolgert wird. (Ebenso wenig sind Erwägungen mit einer derartigen Verpflichtung verbunden: Es ist durchaus zulässig, A zu erwägen, selbst wenn man keinen hinreichenden Grund dafür hat, A für wahr zu halten. In der Tat wären Erwägungen oft witzlos, verfügte man über einen solchen Grund.) Selbst wenn das Schlussfolgern in diesem Sinne keinen Standards der begründeten Behauptbarkeit unterliegt, so gibt es doch Standards des richtigen Schlussfolgerns, denen man genügen muss, sollte man sich vornehmen, anzugeben, was aus der Wahrheit eines Gedankens folgt. Diese Standards finden ihren Niederschlag in den Gesetzen der Logik.10 Wenn ich die Wahrheit von A erwäge und mir vornehme, anzugeben, was aus der Wahrheit von A folgt, bin ich beispielsweise verpflichtet, A selbst zu folgern. Wenn ich nun immer auch die Wahrheit von B erwäge, wenn ich die Wahrheit von A erwäge, dann wäre ich also unter den genannten Umständen darauf festgelegt, B zu folgern. Ob das Erwägen der Wahrheit eines Gedankens notwendigerweise das Erwägen der Wahrheit von Gedanken involviert, die keine logischen Folgen dieses Gedankens sind, wird sich demnach darin zeigen, ob das, was zu folgern man notwendigerweise festgelegt ist, mehr als nur die logischen Folgen der Wahrheit dieses Gedankens umfasst. Sollte sich das, worauf sich ein Subjekt in dieser Weise festlegt, auf die logischen Folgen der Wahrheit des erwogenen Gedankens beschränken lassen, bestünde demnach die berechtigte Hoffnung, dass sich die Fähigkeit, einen bestimmten Gedanken als wahr zu erwägen, in den Verpflichtungen zeigt, die man einzugehen bereit ist, wenn man sich vornimmt, die Schlussfolgerungen aus der Wahrheit dieses Gedankens zu ziehen.11 In diesem Sinne ließe sich die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen eines Satzes auf Grundlage der Teilhabe an einer inferentiellen Praxis nachweisen, ganz so wie Brandom dies vorschwebt. Wenn ich die Wahrheit von A erwäge und der Aufforderung nachzukommen 10 Welche
Logik? Gute Frage. gilt es, zwischen Verpflichtungen, die man eingeht, und solchen Verpflichtungen zu unterscheiden, die man nicht nur eingeht, sondern außerdem anerkennt. Vgl. Brandom 1994, 194 f. 11 Hier
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suche, anzugeben, was aus der Wahrheit von A folgt, dann bin ich darauf festgelegt, zu bestimmten Schlussfolgerungen zu gelangen und zu anderen nicht. Je nach dem, über welches Hintergrundwissen ich verfüge, mag sich das, was ich zu folgern festgelegt bin, von Fall zu Fall unterscheiden. Aber das, was ich zu folgern festgelegt bin, gleichgültig, über welches Hintergrundwissen ich verfüge, wird nicht in dieser Weise variieren. Wenn das, was ich unabhängig von meinem jeweiligen Hintergrundwissen zu folgern festgelegt bin, gleichwohl über die logischen Folgen von A hinausgeht, dann kann dies also nur an der Natur des Erwägens und Schlussfolgerns selbst liegen. Der Umstand, dass ich auf bestimmte Schlussfolgerungen festgelegt bin und auf andere nicht, ist jedoch selbst nichts, das zu folgern ich festgelegt bin. Ich mag darauf festgelegt sein, zu glauben, dass ich darauf festgelegt bin, aber ich werde nicht darauf festgelegt sein, dies zu folgern. Dieser Gedanke kann verallgemeinert werden: Worauf ich auch immer festgelegt bin, wenn ich die Wahrheit von A erwäge und mich anschicke, ihre Folgen anzugeben – dass ich beispielsweise A erwäge, dass meine Erwägung nicht zwecklos ist usw. –, ist selbst nichts, was ich eo ipso zu schlussfolgern festgelegt bin. Dasselbe wird auch für solche meiner Festlegungen gelten, die sich dann ergeben, wenn ich tatsächlich A als wahr beurteile und somit beanspruche, Gründe für A zu haben. Dieses Merkmal von Festlegungen auf Schlussfolgerungen macht es sehr wahrscheinlich, dass alles, was ich unabhängig von meinem jeweiligen Hintergrundwissen zu folgern festgelegt bin, sich einzig den Wahrheitsbedingungen des Gedankens verdankt, von dessen Erwägung mein Überlegensprozess seinen Ausgang nimmt – und nicht etwa den Umständen, unter denen ich diesen Prozess durchlaufe oder durchlaufen würde, wäre ich auf die Wahrheit des erwogenen Gedankens festgelegt. Und in der Tat spiegelt dies nur wider, was die Erwägung der Wahrheit eines Gedankens auszeichnet. Wenn man die Wahrheit eines Gedankens erwägt, dann stellt man sich damit nicht eine Situation vor, in der man die Wahrheit des betreffenden Gedankens erwägt: Man kann durchaus hypothetisch annehmen, dass es keine denkenden Wesen gibt. Es besteht also ein Unterschied zwischen dem Erwägen der Wahrheit von A und dem Erwägen der Wahrheit von Es wird erwogen, dass A. Ebenso wenig beinhaltet eine solche Erwägung die Vorstellung, man befinde sich in einer Situation, in der man Gründe dafür hat, diesen Gedanken für wahr zu halten. Man kann also die Wahrheit von A & ∼GA (oder A & ∼KA) erwägen, ohne daraus je einen Widerspruch ableiten zu müssen.12 Dass man sich 12 Ebenso wenig sind derartige Erwägungen so etwas wie fiktive Behauptungen: Wenn ich annehme, A sei der Fall, dann gebe ich nicht vor, all diejenigen Verpflichtungen einzugehen, die eine Festlegung auf A mit sich brächte. (Man denke nur daran, welche Konsequenzen sich andernfalls ergäben, wollte man einen Widerspruchsbeweis führen.) Die Annahme, A sei der Fall, muss von daher auch nicht dazu führen, dass man sich so verhält, als sei A der Fall. Manchmal wird man
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nicht zugleich kohärenterweise auf A und ∼GA festlegen kann, weil man nicht rationalerweise versuchen kann, sich als jemand zu qualifizieren, der A & ∼GA als wahr erkennt, bleibt davon unberührt. Aber dieses erkenntnislogische Faktum läuft aus denselben Gründen nicht der Einsicht zuwider, dass wir mit A und GA verschiedene Wahrheitsbedingungen verbunden denken. Dass wir diesen Unterschied machen, zeigt sich nämlich nicht in unserer Urteilspraxis, sondern in unserer Praxis des Erwägens und Schlussfolgerns. Erwägen und Schlussfolgern sind Tätigkeiten des menschlichen Geistes, die sich in unserem sprachlichen Handeln niederschlagen, und sind so wenig mysteriös wie unser sprachliches Handeln selbst. Mir scheint, dass ein aufgeklärter Pragmatismus gut daran tut, sich an diesen Tätigkeiten zu orientieren, wenn es darum geht, die praktischen Fähigkeiten dingfest zu machen, in denen sich unser Verstehen manifestiert.13
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Friedrich Kambartel
Semantischer Inhalt und Begründung: Zur Kritik des Inferentialismus Zur Philosophischen Semantik liegt mit Robert Brandoms Making it Explicit (1994, dt. 2000) ein neuer, der Intention nach radikal pragmatisch orientierter Versuch vor. Die Nähe der Untersuchungen Brandoms zum Philosophischen Konstruktivismus der Erlanger und Konstanzer Schule ist verblüffend; dies umso mehr, als sich Brandoms Systematik völlig unabhängig von den ca. vierzig Jahre früher begonnenen Bemühungen in Europa entwickelt hat. Beide Versuche stehen insbesondere auf einer normativen Grundlage in dialogischen oder diskursiven Verpflichtungen. Hier die Unterschiede und Gemeinsamkeiten genauer darzulegen, etwa zwischen Brandoms an David Lewis anknüpfenden Vorstellungen einerseits – und andererseits den dialogischen Regelsystemen von Kuno Lorenz und Paul Lorenzen sowie dem von mir selbst bevorzugten Rückgriff auf argumentative Verpflichtungen, wäre eine eigene schwierige Aufgabe. Unsere Untersuchung bemüht sich zunächst um ein angemessenes Verständnis von Wahrheit, Begründung und Satzsinn, um auf dieser Basis dann Probleme zu diskutieren, welche die zugehörigen Ansätze von Brandom betreffen. Dabei geht es um die Frage, ob die bei Brandoms Argumentationsanalysen zu Grunde gelegte, an Wilfrid Sellars angeschlossene inferentielle Form als allgemeines Verständnis des Begründens verstanden werden kann. Dies ist nach den hier vorgetragenen Überlegungen nicht der Fall: Inferenzen sind im wesentlichen schlussartige Übergänge zwischen Sätzen (oder den mit ihrer Behauptung verbundenen argumentativen Pflichten und Rechten). Zwar hat Brandom wie Sellars ausdrücklich kein auf formallogische Deduktionen reduziertes Verständnis von Inferenz. Jedoch legen seine Beispiele und Kommentare nahe, dass Inferenzen auch im materialen Fall Anwendungen von Regeln oder anderen allgemeinen, etwa substitutionellen, Schemata darstellen. Nun bedienen sich Begründungen in der Tat immer wieder derartiger inferentieller Schritte, allerdings gibt es in Begründungen auch Argumentationsschritte, die sich nicht auf diese (auf die inferentielle) Form bringen lassen. Dazu gehören zum Beispiel Konstruktionen (im Herstellungssinn) etwa von Unterscheidungen, sprachlichen Ausdrücken, insti-
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tutionellen Designs. Solche Konstruktionen werden insbesondere zur Begründung von Existenz- und (pragmatischen) Möglichkeitsbehauptungen eingesetzt. Unsere Untersuchung führt diesen Einwand aus und diskutiert die daraus resultierenden begrifflichen Optionen für die Philosophische Semantik. Zum Schluss soll klar werden, dass sich Brandoms prosententieller Wahrheitsbegriff nicht auf das bei Brandom vorherrschende schwache (und inferentielle) Verständnis von Begründung stützen lässt. Der Philosophische Pragmatismus begegnet uns häufig in der Form einer sehr allgemeinen Weltsicht. Seine Konsequenzen sind dann oft so wenig genauer festgelegt, wie es die Sprache ist, in welcher diese philosophische Perspektive charakterisiert wird. – Demgegenüber möchte ich hier unter dem Philosophischen Pragmatismus in einem radikalen Sinne das Bemühen verstehen, die symbolischen und kognitiven Strukturen unseres Lebens von einer rein praktischen Grundlage aus zu rekonstruieren, und das heißt insbesondere: für die Rekonstruktion weder auf natürliche, z.B. physikalische, noch auf metaphysische Entitäten oder Geschehnisse zurückzugreifen, vielmehr die genannten Strukturen als Moment menschlicher Praxis zu verstehen, die ihrerseits von institutionellen oder gesellschaftlichen Normen geleitet wird. Seit Robert B. Brandoms Buch Making it Explicit (1994; dt. 2000) liegen nun zwei Versionen eines hinreichend weit getriebenen pragmatischen Rekonstruktionsprogrammes vor, zum einen der Philosophische Konstruktivismus, zum anderen Brandoms Form des Inferentialismus. Beide haben sich völlig unabhängig voneinander entwickelt. Diese Situation ist der Anlass meiner folgenden Erörterungen. Der gebotenen Kürze halber werde ich zunächst einige meiner eigenen Vorschläge zum Verständnis von Wahrheit und sprachlichem Inhalt skizzieren, die eine, allerdings wohl wesentliche, Modifikation der ursprünglichen Intentionen im Konstruktivismus darstellen mögen. Danach werde ich kritische Bemerkungen zu zwei Problemen machen, die mit den entsprechenden Rekonstruktionen von Brandom entstehen. Ich beginne mit einem Gebrauch des Wortes wahr, den wir den (oder bescheidener: einen) feststellungsbezogenen Sinn von wahr nennen könnten. Betrachten Sie zur Illustration des Gemeinten ein elementares Beispiel. Wir können alle ein Kreuz (etwa: X) produzieren: mit einem Stock im Sand, einem Kreidestück auf der Tafel, einem Stift auf dem Papier, einer PC-Tastatur auf dem Monitor. Wir könnten nun vereinbaren, diese pragmatische Möglichkeit nur unter einer Beschränkung zu aktualisieren, nur dann nämlich, wenn ein Pass in den Bergen offen, also der jeweilige kontextrelevante Pass geöffnet, d. h. zum Beispiel nicht durch Schnee oder Polizeimaßnahmen geschlossen ist. Das Kreuz (oder natürlich alternativ das Wort offen) im Rahmen dieser Vereinbarung zu produzieren, verwandelt seine Aktualisierung in das, was wir eine elementare Feststellung
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nennen können. Um deren sinnkonstitutive Bedingungen zu verstehen, bedarf es keiner expliziten Artikulation etwa durch eine Art Definition. Offenbar können wir die zugrunde liegende Vereinbarung in diesem Falle auch durch Übung in Beispielsituationen treffen und erwerben. Das heißt, wir müssen nicht über eine Beschreibung der situativen Elemente verfügen, welche die zugehörige Feststellung zu einer korrekten Feststellung machen oder machen würden. Mit unserer elementaren Feststellungspraxis verbindet sich ein sehr einfacher und grundlegender Gebrauch des Wortes wahr. Dass eine Feststellung wahr ist, heißt offenbar nichts anderes als dies: dass sie korrekt ausgeführt wurde, dass wir es mit einer richtigen Feststellungshandlung zu tun haben. Vielleicht könnten wir hinzufügen, dass der Ausdruck wahr (statt richtig) zugleich betont, dass es sich um eine Feststellung, und nicht um eine andere Art des sprachlichen Handelns, dreht. – Es ist leicht zu sehen, wie dieser Gebrauch des Wortes wahr auf Sätze ausgedehnt werden kann: Ein Feststellungssatz heißt wahr mit Bezug auf bestimmte Gebrauchssituationen, wenn seine Feststellung in diesen Situationen eine korrekte Handlung wäre. Normalerweise verfolgen wir mit Feststellungen nicht lediglich die Absicht, die korrekte Ausführung dieser Feststellungen zu aktualisieren oder vorzuführen. Feststellungen dienen zum Beispiel auch der gemeinsamen Betrachtung (etwa während einer Reise) oder, und dies wohl meistens, der Information. Würden wir elementare Feststellungen nur situationsimmanent für Zwecke des Erwerbs von Unterscheidungen oder der Betrachtung verwenden, so hätten sie (diese Feststellungen) keine informative Funktion im engeren Sinne. Sie beträfen schließlich Aspekte der Situation, die uns bereits gemeinsam unmittelbar gegenwärtig sind oder dies doch werden könnten. Größtenteils gehören getroffene Feststellungen jedoch zu Situationen, die ihren Adressaten nicht direkt zugänglich sind und daher als korrekt unterstellt werden müssen. Der Proponent einer Feststellung mag sogar seinerseits auf bloße Information zurückgreifen und selbst keinen unmittelbaren Zugang zur situativen Grundlage seiner Feststellung haben. Allerdings erwarten wir, dass der informative Gehalt einer Feststellung am Ende auf direkter Kenntnis beruht. Vom informativen Gebrauch einer Feststellung führt ein direkter grammatischer Weg zu dem, was, missverständlich genug, der Korrespondenzaspekt der Wahrheit heißt. Wenn wir wissen oder unterstellen, dass der Proponent P einer Feststellung s erstens kompetent in der Ausführung solcher Feststellungen und zweitens vertrauenswürdig (oder wahrhaftig) ist, dann können wir aus P ’s Aktualisierung von s eine Art pragmatischen Schluss ziehen: Die Prämisse dieses Schlusses ist kein Satz, sondern ein pragmatisches Ereignis, nämlich P ’s Aktualisierung von s. Die Schlussfolgerung besteht jeweils darin, dass die Situationen vorliegen, auf die bezogen dieses Handeln von P korrekt ist. Es versteht
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sich dabei, dass wir im allgemeinen keinen direkten Zugang diesen Bedingungen haben; sonst würde es im allgemeinen keinen praktischen Sinn machen, die entsprechende pragmatische Schlussfolgerung (aus dem sprachlichen Handeln von P ) zu ziehen. Im Sinne eines möglichen pragmatischen Schlusses kann eine Feststellung oder der entsprechende Satz tatsächlich bestimmte mögliche Züge einer Situation (einen Sachverhalt in der Ausdrucksweise des frühen Wittgenstein) repräsentieren. Und diese Situationsmerkmale, der Sachverhalt, bestehen, im Falle die Feststellung wahr, d.h. richtig ausgeführt oder ausführbar, ist. Pragmatische Schlüsse dieser Art haben also eine zweifache Grundlage: 1. Es muss der involvierte Gebrauch von Feststellungen eine gemeinsame sprachliche Institution für die Teilnehmer des Repräsentations- oder Korrespondenzspieles sein. Das schließt ein, dass die Teilnehmer sämtlich kompetente Ausführende der entsprechenden Feststellungen sind. 2. Die Beteiligten können sich im allgemeinen darauf verlassen, dass sich die Proponenten von Feststellungen um ein korrektes Handeln bemühen. Auf dieser Basis stellen dann eine Feststellung oder ein entsprechender Satz die Bedingungen ihrer oder seiner korrekten Ausführung, etwa auch im kontrafaktischen oder fiktionalen Fall, dar. Dazu kann ich hier allerdings nichts Näheres sagen. Ich möchte nun dem recht einfachen Bild oder Fall solcher Feststellungen noch etwas mehr Komplexität hinzufügen und damit auch Material für spätere Unterscheidungen gewinnen. Eine weitere Gruppe von Feststellungen hängt mit Praktiken zusammen, bei denen wir nach einem Verfahren vorgehen und dabei ein bestimmtes Ergebnis erzielen. Denken Sie z.B. an Rechnungen (Kalkulationen). – Ein solches Handeln lässt sich von zwei Seiten betrachten: Einerseits können wir schlicht konstatieren, dass ein bestimmtes Resultat erreicht wurde (durch eine bestimmte Folge von Schritten). Im Blick auf die Kontrolle einer solchen Konstatierung können wir andererseits auch sagen: Was wir hier tun, oder zeigen durch unser Tun, in dieser Schrittfolge, ist eine Begründung des Resultates, oder besser: der Feststellung, dass dieses Resultat in dem (z. B. durch Kalkülregeln) vorgegebenen Rahmen erreichbar ist. Indem wir etwa ein bestimmtes Ergebnis errechnen, begründen wir zugleich die Feststellung, dass dieses Ergebnis durch diese Art Rechnung erreicht werden kann. In dieser Beschreibung hängt die Richtigkeit solcher Feststellungen, und in diesem Sinne ihre Wahrheit, intern mit ihrer Begründbarkeit zusammen. Wahr zu sein, heißt hier schlicht: begründbar zu sein (auf eine wohlbestimmte Weise begründbar zu sein). Eine andere Art der Begründung für elementare Feststellungen ergibt sich, wenn wir sie in ein System terminologischer Regeln einbetten (wie das im klassi-
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schen konstruktiven Jargon hieß). Wenn wir z.B. eine Regel violett =⇒ bläulich für Farbausdrücke akzeptieren, dann können wir die Zuschreibung der Eigenschaft, bläulich zu sein, dadurch rechtfertigen, dass wir die genannte Regel auf richtige oder als richtig unterstellte Feststellungen der Form x ist violett anwenden. Oder: Bei unserem ersten Beispiel ist eine Regel mit tangiert, die die Zuschreibung von offen und geschlossen ausschließt; was uns schließlich zu einer Begründung auch negativer Feststellungen führt. Im nächsten Schritt meiner Überlegungen möchte ich von den zuletzt erörterten Beispielen (der Begründung von Feststellungen) zu einer allgemeinen Betrachtung unserer Argumentations- und Begründungspraxis übergehen: Wenn wir uns über die Korrektheit einer Feststellung nicht einig sind, mögen wir häufig die Sache auf sich beruhen lassen; vielleicht mag auch eine Partei des Streites die von der anderen nicht akzeptierte Feststellung zurückziehen. Eine andere uns vertraute Reaktion besteht darin, für eine nicht als korrekte Handlung akzeptierte Feststellung zu argumentieren, d.h. Gründe dafür vorzubringen, dass die Feststellung korrekt, will sagen: korrekt gemacht, ist. Im Argumentationsfalle gehen wir im allgemeinen von der bloßen Feststellung zur Behauptung des Festgestellten über. Das bedeutet, dass wir die Verpflichtung eingehen, Argumente für die Korrektheit der involvierten Feststellung vorzubringen, kürzer: diese Feststellung zu begründen. Wenn wir eine Behauptung a einbringen und dies ernsthaft tun (nicht z. B. nur rhetorisch oder probeweise), dann müssen wir also über eine Begründung von a verfügen oder doch einen Weg angeben können, der schließlich zu einer Begründung von a führt. Die Berechtigung (Brandom: entitlement) zu einer Behauptung a setzt das Verfügen über eine Begründung von a voraus. In einem schwachen und allgemeinen Sinne heißt eine Behauptung a zu begründen zunächst nicht mehr, als (gute) Gründe für a vorzubringen. Jemand mag z. B. behaupten, dass im Oberen Engadin während der letzten vierundzwanzig Stunden eine Menge Schnee gefallen ist – und uns als Gründe dafur nennen: die Art der Wolken, die über dem Oberen Engadin liegen, und zusätzlich die einen Tag alte Wettervorhersage der zuständigen Lokalzeitung. Dies alles ist, unter normalen Bedingungen, keine zwingende Begründung – im Gegensatz etwa zum stündlichen Wetterbericht (nicht zu einer Vorhersage) des Schweizer Radioprogramms, welchen die betroffenen Bewohner als so verlässlich wie nur möglich einstufen, oder auch zu einem mathematischen Beweis. Ich möchte von einer Begründung im starken oder strengen Sinne des Wortes sprechen, wenn wir uns dabei auf zwingende Argumentationen beschränken, d.h. Argumentationen, welche keinen Raum für weitere Zweifel lassen, zumindest einstweilen und nicht im Sinne eines im praktischen Leben unsinnigen Cartesischen Anspruches. Wer Wahrheitsansprüche stellt, muß sich auf Evidenz oder zwingende Begründungen berufen können. – Hier bedürfte es wohl einer eige-
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nen Erörterung zum Begriff der zwingenden Begründung (engl. conclusive evidence). Im Augenblick muss ich mich allerdings darauf verlassen, dass Sie die Unterscheidung zwischen strengen und schwächeren Begründungen in normalen Fällen (einigermaßen) beherrschen. (Solange keine Gegengründe ersichtlich sind, mögen prima-facie-Argumente im übrigen so zwingend sein, wie es sich nur wünschen lässt.) In einem zweiten Abschnitt möchte ich mich nun pragmatisch begründeten Unterscheidungen widmen, welche sich mit der Rede von sprachlichem Sinn und Gehalt verbinden. In einer pragmatischen sprachphilosophischen Perspektive besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in dem, was wir mit ihnen tun oder besser: tun können. Diese Spezifikation ist notwendig und besagt, dass wir die Übereinstimmung von Sinn und Gebrauch institutionell verstehen. Die Rede von sprachlichem Sinn bezieht sich auf Kompetenzen, gelernte Bewegungen in einer institutionellen Ordnung (der von Wittgenstein so genannten Grammatik), die wir aktualisieren, wenn wir eine sprachliche Handlung vollziehen. Kommen wir nun zu den häufig abstrakt genannten Objekten, die in den nichtpragmatischen Analysen sprachlichen Sinns eine hervorgehobene Rolle spielen: Gehalte (engl. contents) und Propositionen zum Beispiel. Welcher Ort lässt sich ihnen in einer pragmatischen Perspektive zuweisen? – Wenn man die Dinge richtig zu sehen beginnt, dann ergibt sich auch eine überzeugende Antwort auf diese alte Frage: Diese Antwort hat zu tun mit der Möglichkeit, einen Gegenstand oder eine Handlung in einer symbolischen Weise zu gebrauchen oder zu verstehen. Was kann eine symbolische Weise, etwas zu tun, insbesondere es mit etwas zu tun, heißen? – Nun, eine symbolische Handlung entwickelt sich auf einer ihr unterliegenden nicht-symbolischen Handlungsbasis (a), indem wir durch Übereinkunft das Handeln a bestimmten Beschränkungen (R) unterwerfen. Ich möchte diese Beschränkungen am Ende symbolische Normen in einem sehr allgemeinen Sinne des Wortes Norm nennen. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: Entweder wir befolgen, indem wir a aktualisieren, diese Normen; unser Handeln bleibt dabei jedoch ein a-Tun. Die Beschränkungen, die wir dabei einhalten, fungieren lediglich als regulative Normen. – Andererseits lassen sich die beschränkenden Normen R auch als konstitutiv für eine neue Handlung (Ebene des Handelns) s verstehen, von der ich, bildlich, sagen möchte, dass sie a überlagert, oder von a getragen wird. In diesem Falle begreifen wir die Befolgung von R beim a-Tun als eine eigene, und zwar die wesentliche, letztendliche Handlungsintention s. Wir aktualisieren diese symbolische Handlung, indem wir a unter Einhaltung bestimmter Normen ausführen. Und das heißt auch: s läßt sich nicht aktualisieren, ohne dass wir eine Trägerhandlung ausführen. Wir könnten den Normen R nicht per se folgen, unabhängig davon, dabei etwas anderes zu tun. (Reine Geister wären also jeden-
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falls stumm.) In ihrem konstitutiven Verständnis wollen wir die Normen R selbst symbolische Normen nennen. Normalerweise wird es andere Handlungen, sagen wir, b, geben, die wir denselben einschränkenden Normen unterwerfen können wie a. Wir können in diesem Fall s auch dadurch ausführen, dass wir b bei Einhaltung von R ausführen. a oder b oder beide Handlungen in dieser Intention benutzen zu können, zeigt deren konventionelle Natur als Trägerhandlungen von s. Mit anderen Worten: s lässt sich von jeder seiner in Frage kommenden Trägerhandlungen abstrahieren und damit gleichsam mentalisieren. Zur Erläuterung mag das zu Beginn erörterte Beispiel der Kreuzmarke oder des Wortes offen hilfreich sein: Wenn wir normalerweise den Ein-Wort-Satz X in der geschilderten Weise verwenden, dann ist es für unsere Regel wichtig, dass das Kreuz dabei auftritt und nicht z.B. das Wort offen. Manchmal allerdings, in bestimmten Kontexten vielleicht häufig, spielt es keine Rolle, welches Satzzeichen aus einer ganzen Reihe solcher Zeichen wir wählen; einer Reihe von Zeichen, die sämtlich im selben Sinne gebraucht werden: Zu sagen, dass all diese Zeichen denselben Gebrauch haben, verwendet das Wort Gebrauch bereits in einem Sinn, der nicht mehr von einem bestimmten Satz a abhängt. Mit diesem Übergang abstrahieren wir das institutionelle Design des Satzgebrauchs als solches von seiner Realisierung mit einem bestimmten Satz, und darüber hinaus in bestimmten konkreten Situationen. Von dem Gebrauch eines Satzes zu sprechen, hat also zwei Aspekte: den abstrakt verstandenen Gebrauch, der für eine Vielzahl von Sätzen und das, was wir mit ihnen tun, übereinstimmen kann, und die konkreten den abstrakten Gebrauch aktualisierenden Verwendungen. Der semantische Kern dessen, was wir normalerweise den Sinn oder Gehalt eines Satzes nennen, dürfte pragmatisch am besten als dessen abstrakt verstandener Gebrauch rekonstruiert werden. Indem wir beide Aspekte des Satzgebrauches auf typisch verstandene, für unsere Orientierung wesentliche Situationskontexte beschränken, lassen sich weitere Begriffe von Gehalt ausdifferenzieren, die sich bestimmten künstlichen Ausdrücken der Philosophischen Semantik zuordnen lassen. So mögen wir etwa den Gebrauch eines Satzes a nur im Netzwerk von Argumentations- und Begründungssituationen betrachten und dann von der Proposition oder Aussage a reden. Der entsprechend eingeschränkte abstrakte Gebrauch von a sollte dann, das liegt nahe, sein (a’s) propositionaler Gehalt oder Aussageinhalt genannt werden. Dieser letzte Vorschlag ist eine Rekonstruktion, welche im übrigen in guter Übereinstimmung mit dem Sinn des Ausdrucks beurteilbarer Inhalt in Freges frühen Schriften steht. Die vorgeschlagene allgemeine Rede vom Satzsinn können wir danach den begrifflichen Gehalt des Satzes nennen. (Mit einer satzholistischen
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Betrachtung lässt sich diese Terminologie dann auch auf Teilausdrücke von Sätzen ausdehnen.) Im letzten Teil meiner Überlegungen komme ich nun zu einem Vergleich mit dem inferentialistischen Rekonstruktionsprogramm. Ich werde mich dabei auf zwei Aspekte der begrifflichen Architektur von Brandom beschränken: zum einen auf Brandoms Rekonstruktion des propositionalen Gehalts, zum anderen auf das so genannte prosententielle Verständnis der Wahrheit. Was den ersten Punkt angeht, so sehe ich kein wesentliches Problem in den folgenden Gedankenschritten: 1. der Charakterisierung eines mehr oder minder wohldefinierten Netzwerkes von schlussfolgernden (engl. inferential) Argumenten oder Übergängen im (beim) vernünftigen Überlegen (engl. reasoning); 2. der Identifizierung der Rolle oder des Ortes, den ein Satz a in diesem inferentiellen Netzwerk hat; 3. einem Begriff des inferentiellen Inhaltes von a, der sich durch Einschränkung von a’s abstraktem Gebrauch auf die in der genannten Rolle möglichen inferentiellen Bewegungen ergibt. Brandom kann sich allerdings, wenn ich recht sehe, nicht auf eine so schwache Form des Inferentialismus zurückziehen. Nach der ganzen Anlage seiner Theorie hat er im Rahmen der von mir vorgeschlagenen Unterscheidungen zwei Optionen, nämlich den inferentiellen Gehalt entweder als den Sinn von Behauptungssätzen zu verstehen oder als deren propositionalen Gehalt. – In einem naheliegenden Verständnis von Inferenz sind beide begrifflichen Wege nicht gangbar. Ich werde dies für die zweite Alternative zeigen. Für die erste Option ergibt sich die Widerlegung dann unmittelbar. Alles hängt hier am Begriff der Inferenz oder der Folgerung. Ein sehr übliches Verständnis betrachtet das Ziehen einer Folgerung als die Anwendung eines Schlussschemas, das uns von Prämissen einer bestimmten Sorte oder Form zu den entsprechenden Konklusionen führt. Die Schlussschemata operieren im allgemeinen auf Sätzen oder auf ihrer Behauptung und haben häufig die Form von Regeln oder aber Substitutionsschemata. Ein Beispiel stellen die bereits erwähnten terminologischen Regeln wie x ist violett =⇒ x ist bläulich dar. Schlussschemata dieser Art bilden häufig die Grundlage für entitlement-preserving inferences im Sinne von Brandom. Für meine Argumentation ist es völlig ausreichend, diese Art von Folgerungen zu betrachten. Die entsprechenden Schemata sind gültig, falls sie die Begründung ihrer Konklusionen jedenfalls in dem Falle garantieren, in welchem die Prämissen begründet sind.
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Könnten wir dann also sagen, dass es hier nur noch eines direkt evidenten Inputs bedarf, z. B. durch elementare Beobachtungsaussagen? So dass dann der Rest des Begründungsgeschäftes allein mit gesellschaftlich akzeptierten Schlussschemata bewerkstelligt werden kann? Brandoms Formulierungen und Beispiele suggerieren ein solches Bild der Dinge. Wenn wir die Input-Probleme beiseite lassen, ist die Hauptfrage: Lassen sich Begründungen durchweg als die schrittweise Anwendung von Schlussschemata verstehen? – Es gibt nun in der Tat eine große Gruppe von Begründungen, bei denen nicht ersichtlich ist, wie sie in der Form inferentieller Übergänge in diesem Sinne rekonstruiert werden können. Ich möchte sie Konstruktionen nennen. Sprachliche oder institutionelle Konstruktionen rechtfertigen die zugehörigen Ergebnis-, Möglichkeits- oder Existenzbehauptungen, indem sie etwas hervorbringen (z. B. einen höchst komplizierten sprachlichen Ausdruck erfinden) und dadurch zugleich zeigen, dass sich das Hervorgebrachte hervorbringen lässt. Normalerweise werden Konstruktionen direkt vollzogen, nicht durch Vermittlung eines generellen Schemas, etwa einer Regel. Es lässt sich hier etwa an konstruktive Beweise in der Mathematik denken. Institutionelle Konstruktionen möchten einen relevanteren Fall darstellen, im Blick auf Begründungen für politische oder ökonomische Alternativen etwa, Begründungen, für die wir angemessene institutionelle Formen entwickeln müssen. Ein anderer Fall sind begriffliche und terminologische Kreationen, die in der Argumentation für gewisse wissenschaftliche Behauptungen eine entscheidende Rolle spielen können. Selbst wenn wir bestimmte Sätze, sagen wir, a, b, als Prämissen eines Argumentationsschrittes einstufen, und einen Satz c als dessen Konklusion, so heißt dies keineswegs, dass wir ein Schema, etwa eine Regel, anwenden, das uns von begründeten Behauptungen a, b zu einer entsprechenden begründeten Behauptung c führt. Die Begründung von c könnte etwa konkrete Konstruktionen, die für die Begründung von a und b wesentlich sind, gewissermaßen verlängern oder ausdehnen, wie dies häufig bei bedingt mathematischen Existenzbehauptungen der Fall ist. Kurz, bezogen auf den erläuterten Inferenzbegriff finden wir argumentative Züge vor, welche wir nicht als inferentielle Schritte einordnen können. Mit diesem Begriff von Inferenz (oder von Folgerung) kann der Inferentialismus daher nicht als eine Rekonstruktion des propositionalen Gehaltes im vorher vorgeschlagenen Sinne fungieren. Wir können dies auch so formulieren, dass Argumentation und Begründung (reasoning) keine rein deduktiven Veranstaltungen sind, weder in einer (von Brandom zu Recht kritisierten) Beschränkung auf die logische Deduktion, noch in einem weiteren (in Brandoms Buch vorherrschenden) Verständnis, das alle
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Arten so genannter materialer Folgerungen einschließt. Eine alternative begriffliche Grundoption wäre es, dass Inferenz schlicht nur ein anderer Ausdruck für Begründung wird, Begründung allerdings beschränkt auf bestimmte argumentative Bewegungen, die sich zwischen Sätzen abspielen. Wenn wir in diesem Verständnis z.B. aus den Prämissen a, b die Konklusion c folgern, dann haben wir sicherzustellen, z.B. durch geeignete Konstruktionen, dass in Situationen, in denen eine Begründung für a, b vorliegt, auch eine Begründung für c zur Verfügung steht. Und dies schließt dann normalerweise ein Wissen dessen ein, dass die Situation des Begründetseins von a, b auf c übertragen wird. Sonst wäre eine an- oder vorgenommene Folgerung nicht korrekt. Aber auch für diesen Inferenzbegriff bleibt eine Schwierigkeit, nämlich, dass es komplexe konstruktive Argumente gibt (nicht nur einfache Input-Feststellungen), die nicht von Sätzen oder Behauptungen ihren Ausgang nehmen, auch wenn sie eine Menge Satzgebrauch einschließen mögen; so etwa wenn, wie gesagt, sprachliche Konstruktionen oder Rekonstruktionen eine wesentliche Grundlage bilden. Ich möchte nun noch einige letzte Bemerkungen zur so genannten prosententiellen Analyse des Wahrheitsbegriffs anschließen: Wir gehen aus von einem Wahrheitsoperator T (true) und einem prosententiellen Ausdruck Σ (selection), wobei Σ entweder anaphorisch oder durch eine Art von Beschreibung bestimmte Behauptungen oder Sätze auswählt (Beispiele: was Joschka Fischer über seine wilden Frankfurter Jahre gesagt hat; dies, bezogen auf einen Behauptungskomplex im vorhergehenden Text). Indem wir nun den Satz ΣT spezifizieren, erhalten wir einen Verweis auf eine bestimmte Behauptung oder den entsprechenden Satz a. Sätze der Form Σ dienen also dazu, bestimmte Sätze, z.B. aus dem Redekontext, aufzugreifen und selbst zu behaupten oder ihrer Behauptung beizupflichten. Nun ist offenbar der Gebrauch von wahr, der durch dieses begriffliche Arrangement eingerichtet oder rekonstruiert wird, genau so stark oder schwach wie das Verständnis der in Frage kommenden Behauptungen a. Und das heißt wiederum: Der prosententielle Rückgriff auf ein a ist hier so stark oder schwach wie der Begriff der Begründung, der in das Verständnis der mit a verbundenen Begründungsverpflichtungen eingearbeitet ist. Offenbar können aber schwache Begründungsverständnisse keine Wahrheitsansprüche etablieren. Wenn wir z.B. lediglich einige gute Gründe für eine bestimmte Behauptung a anführen können, dann unterstellen wir auf dieser schwachen Grundlage im allgemeinen nicht die Wahrheit von a. Wir mögen diese sogar ausdrücklich bezweifeln, weil wir andere Gründe kennen, die gegen a sprechen. Aus dieser Überlegung ergibt sich nun die folgende Alternative: Entweder bleibt es bei Brandoms schwachem Verständnis von Begründung (oder Infe-
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renz). Dann muss der Wahrheitsbegriff eine andere, nicht lediglich prosententielle Grundlage bekommen. – Oder es muss zunächst ein starkes, und nach den Überlegungen des vorherigen Abschnittes: nicht-inferentielles, Verständnis von Begründung ausgearbeitet werden, auf das sich ein prosententieller Gebrauch von wahr dann stützen kann. In beiden Fällen leistet der prosententielle Ansatz nur einen sehr begrenzten Teil der analytischen Klärungsarbeit für den Wahrheitsbegriff, löst also das Explikationsproblem hier ebenso wenig, wie der Inferentialismus die begriffliche Klärung von Begründung bietet.
Michael Esfeld
Von einer pragmatischen Theorie der Bedeutung zur Philosophie des Geistes 1. Das Thema des Aufsatzes Ein wichtiger Bereich des gegenwärtigen Pragmatismus ist die Theorie der Bedeutung der Aussagen und des begrifflichen Inhalts der Überzeugungen von Personen. Eine pragmatische Theorie der Bedeutung konzipiert die Semantik, die Theorie der Bedeutung sprachlicher Zeichen, auf der Grundlage der Pragmatik, der Theorie des Gebrauchs sprachlicher Zeichen. Sie rekonstruiert die Bedeutung unserer Aussagen und den begrifflichen Inhalt unserer Überzeugungen unter Bezugnahme auf bestimmte soziale Praktiken. Der Pragmatismus in diesem spezifischen Sinne ist der Ausgangspunkt für diesen Aufsatz. Das Ziel ist, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie dieser Pragmatismus sich in die gegenwärtige Philosophie des Geistes einfügt. Im Folgenden spreche ich der Kürze halber nur von »Pragmatismus«, meine damit aber lediglich diese Position, die durch eine Theorie der Bedeutung beziehungsweise des begrifflichen Inhalts auf der Grundlage sozialer Praktiken definiert ist. Ich beschränke mich dabei auf den begrifflichen Inhalt von Überzeugungen. Es geht in diesem Aufsatz also nicht um eine pragmatische Haltung zur Philosophie des Geistes im Sinne einer Haltung, welche die in der Philosophie des Geistes diskutierten Probleme aus pragmatischen Gründen zurückweist.1 Es geht vielmehr um die Einordnung einer pragmatischen Theorie der Bedeutung in die gegenwärtige Philosophie des Geistes. Wenn man eine Theorie entwickelt, welche den begrifflichen Inhalt unserer Überzeugungen von sozialen Praktiken her versteht, dann tut man mehr, als nur einen Beitrag zur Semantik zu leisten. Man stellt dann eine Theorie dessen vor, worin intentionale Zustände bestehen. Intentional sind alle und nur diejenigen Zustände einer Person, die einen begrifflichen, also propositionalen Inhalt haben – wie zum Beispiel zu glauben, dass es regnet, zu hoffen, dass der Zug pünktlich ankommt, zu wollen, dass das Fleisch gut durchgebraten ist, und so fort. Die Idee ist, dass eine Person nur dann in intentionalen Zuständen ist, wenn sie an 1 Siehe
dazu zum Beispiel Putnam 1999, Teil 2.
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Michael Esfeld
sozialen Praktiken teilnimmt. Eine Theorie intentionaler Zustände ist eine Philosophie des Geistes. Intentionale Zustände sind – neben dem Bewusstsein – der Kernbereich der Philosophie des Geistes. Dementsprechend geht es im Folgenden darum, welche Stelle die Idee, dass die Teilnahme an sozialen Praktiken eine notwendige und hinreichende Bedingung für intentionale Zustände ist, in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes einnehmen kann. Dieser Aufsatz stellt ein Problem heraus, statt eine Lösung vorzuschlagen. Der zweite und der dritte Abschnitt erläutern die Motivation und die Grundzüge einer pragmatischen Theorie begrifflichen Inhalts. Der vierte Abschnitt formuliert eine Aufgabe für eine Theorie begrifflichen Inhalts durch soziale Praktiken. Der fünfte Abschnitt zeigt ein Problem auf: Die Behauptung, dass intentionale Zustände real sind, ist nur dann untermauert, wenn gezeigt werden kann, dass intentionale Zustände Auswirkungen auf unser Verhalten haben. Die Weise, wie der begriffliche Inhalt intentionaler Zustände gemäß einer sozialen, pragmatischen Theorie bestimmt wird, scheint jedoch auszuschließen, dass intentionale Zustände für Verhalten ursächlich sein können. Der sechste Abschnitt schließlich zieht auf dieser Grundlage ein kurzes Fazit und weist darauf hin, was man tun können müsste, um dieses Problem zu lösen.
2. Das Problem des Regelfolgens als Motivation für den Pragmatismus Die wichtigste Motivation für eine pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts ist das Problem des Regelfolgens. In der heute diskutierten Form geht dieses Problem auf die Philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein zurück.2 Dieses Problem wird von Saul Kripke in dessen Wittgenstein-Interpretation hervorgehoben.3 Mit Regelfolgen ist, kurz gefasst, dieses gemeint: Wenn eine Person über einen bestimmten Begriff verfügt, dann hat sie die Fähigkeit, diesen Begriff in unbestimmt vielen neuen Situationen zu verwenden. Wenn eine Person beispielsweise über den Begriff »Baum« verfügt, dann weiß sie, von welchen Dingen es korrekt ist, „Dies ist ein Baum“ zu sagen, und von welchen Dingen es nicht korrekt ist, dieses zu sagen. Wenn diese Person mit einer neuen Situation konfrontiert wird – beispielsweise in eine bisher unerforschte Gegend kommt –, dann weiß sie, wie der Begriff »Baum« in dieser neuen Situation korrekt verwendet wird. Das kann man so ausdrücken: Indem eine Person einen Begriff gebraucht, folgt sie einer Regel, die sagt, was korrekt und was inkorrekt in der Verwendung des betreffenden Begriffs ist. 2 Wittgenstein 3 Kripke
1953, insbesondere §§ 138–242. 1982 / deutsch Kripke 1987, Kap. 2.
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Wittgenstein zeigt gemäß der Interpretation von Kripke: Es gibt an allem Mentalen und allem Naturalen nichts, das über sich selbst hinausweist und einen Begriffsgebrauch für unbestimmt viele neue Situationen etablieren könnte. Gegen die Annahme, dass begrifflicher Inhalt etwas Mentales ist – eine mentale Idee oder Repräsentation –, argumentiert Wittgenstein, dass keine mentale Idee oder Repräsentation über sich selbst hinausweist und festlegen könnte, was die korrekte Verwendungsweise eines bestimmten Begriffs in einer neuen Situation ist. Gegen die Annahme, dass begrifflicher Inhalt durch die Bezugnahme auf Dispositionen zu bestimmtem Verhalten verstanden werden kann, argumentiert Wittgenstein, dass keine Disposition von sich aus in der Lage ist, eine Handlungsweise als korrekt auszuzeichnen. Wittgenstein versucht aufzuweisen: Jeder naturalistische und jeder mentale Kandidat für etwas, in dem der Inhalt unserer Überzeugungen bestehen soll, genügt unendlich vielen logisch möglichen Regeln (begrifflichen Inhalten). Das Problem des Regelfolgens ist daher die Frage, wie wir im Verwenden von Begriffen und damit im Bilden von Überzeugungen bestimmten Regeln folgen können, statt dass unsere Überzeugungen einen beliebigen – und damit gar keinen – Inhalt haben. Dieses Problem ist die wichtigste Motivation für den Ansatz, den begrifflichen Inhalt unserer Überzeugungen von bestimmten Praktiken aus zu verstehen. Die Pragmatik, um die es dabei geht, ist erstens eine normative Pragmatik: Die Alternative dazu, begrifflichen Inhalt als ein mentales oder ein naturales Faktum anzusehen, besteht darin, begrifflichen Inhalt von bestimmten Normen aus zu konzipieren. Die betreffende Pragmatik ist zweitens eine soziale Pragmatik. Denn einer Person isoliert betrachtet steht kein Kriterium der Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Begriffsgebrauch zur Verfügung.4 Wenn es etwas Naturales oder Mentales gäbe, das für eine Person isoliert betrachtet ein Kriterium der Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Begriffsgebrauch bereitstellen könnte, dann gäbe es ein naturales oder mentales Faktum, das Personen in ihrem Bilden von Überzeugungen vorgegeben ist und an dem der begriffliche Inhalt der Überzeugungen einer Person festgemacht werden könnte. Mit einem Faktum ist hier und im Folgenden immer etwas gemeint, das Personen für ihre intentionalen Einstellungen vorgegeben ist. In einem weiten Sinne des Begriffs »Faktum« können selbstverständlich auch die intentionalen Einstellungen von Personen als etwas Faktisches bezeichnet werden.
3. Grundzüge einer pragmatischen Theorie begrifflichen Inhalts Neben Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ist der Aufsatz „Empiricism and the philosophy of mind“ von Wilfrid Sellars eine wichtige Quelle für 4 Siehe
Wittgenstein 1953, § 202.
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eine pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts.5 Sellars geht nicht auf Wittgenstein und das Problem des Regelfolgens ein. Sein Ausgangspunkt ist die Kritik an einer empiristischen Erkenntnistheorie, gemäß der Sinnesdaten als epistemisches Bindeglied zwischen einen Überzeugungszustand und dessen Referenzobjekt in der Welt treten. Sinnesdaten sind dabei einerseits etwas kausal Gegebenes, andererseits haben sie eine epistemische Funktion – unter anderem die Funktion, das letzte Fundament des Wissens im Sinne der letzten Rechtfertigungsinstanz zu sein. Gegen diese Position, die er als ‚Mythos des Gegebenen‘ abweist, setzt Sellars die folgenden Thesen: 1. Erkenntnis ist begrifflich: Jede Form von Erkenntnis involviert einen begrifflichen Inhalt, der nicht auf Sinnesdaten zurückgeführt werden kann. 2. Begrifflicher Inhalt ist holistisch: Eine Person verfügt nur dann über einen Begriff F , wenn sie über eine ganze Reihe weiterer Begriffe verfügt. Denn der begriffliche Inhalt von F ist nicht durch Sinnesdaten, sondern durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen bestimmt. 3. Begrifflicher Inhalt ist sozial: Begrifflicher Inhalt ist an Sprache gebunden, und Sprache ist eine soziale Angelegenheit. Kurz, begrifflicher Inhalt wird durch soziale Praktiken bestimmt (und nicht durch Sinnesdaten). 4. Begrifflicher Inhalt ist normativ: Die sozialen Praktiken, die begrifflichen Inhalt bestimmen, sind normativ. In einem intentionalen Zustand zu sein, ist nicht ein naturalistisches Faktum, sondern es heißt, eine bestimmte Position in einem normativen, sozialen System einzunehmen. Diese Thesen implizieren eine Position, die als Interpretationismus bekannt ist: Von anderen als ein denkendes Wesen interpretiert (behandelt) zu werden und andere als denkende Wesen zu interpretieren (zu behandeln), ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, in intentionalen Zuständen zu sein. Denn es ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, über einen Begriff F zu verfügen, dass man von anderen so interpretiert (behandelt) wird, dass man über den Begriff F verfügt, und dass man andere so behandelt (interpretiert), dass sie über den Begriff F verfügen.6 Der Interpretationismus ist insbesondere mit der Position von Donald Davidson verbunden. Ohne auf Sellars explizit Bezug zu nehmen, vertritt Davidson in seinen Aufsätzen zur Theorie der Interpretation7 ebenfalls die genannten vier Thesen. Sein Hauptargument ist ein ähnliches wie das von Wittgenstein. Gemäß Wittgenstein kann eine Person in Isolation betrachtet nicht Regeln folgen, 5 Sellars
1956. Letzte Ausgabe Sellars 1997. Deutsch als Monographie Sellars 1999. zum Interpretationismus Child 1994, Kap. 1. 7 In Davidson 1984 / deutsch Davidson 1986. 6 Siehe
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weil ihr keine Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen zur Verfügung steht.8 Davidson entwickelt sein Argument allerdings unabhängig von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen und der Interpretation von Kripke: Um über einen Begriff F zu verfügen und Überzeugungen zu haben, also in intentionalen Zuständen zu sein, muss man über den Begriff objektiver Wahrheit verfügen. Man muss wissen, dass Überzeugungen einer Unterscheidung zwischen korrekt und inkorrekt (wahr oder falsch) unterworfen sind. Davidson schreibt: Glauben kann man nur dann etwas, wenn man die Möglichkeit versteht, sich zu irren, und dazu ist nötig, daß man den Gegensatz zwischen Wahrheit und Irrtum – zwischen wahrem Glauben und falschem Glauben – begreift. Dieser Gegensatz kann jedoch, wie ich geltend gemacht habe, nur im Kontext der Interpretation zum Vorschein kommen, der allein uns die Idee einer objektiven öffentlichen Wahrheit aufzwingt.9
Das Argument ist also, dass eine Person in Isolation betrachtet nicht über die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum verfügen kann, die eine notwendige Bedingung für intentionale Zustände ist. Dazu ist wechselseitige Interpretation erforderlich. Anknüpfend an Wittgenstein und Sellars und in Auseinandersetzung unter anderem mit Davidson hat Robert Brandom in seinem Buch Making it Explicit die bisher ausführlichste Version einer normativen Pragmatik vorgelegt, die es erlauben soll, begrifflichen Inhalt zu rekonstruieren.10 Stellen wir uns eine Situation vor, in der eine Person eine Aussage macht, wie zum Beispiel die Aussage, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist. Brandom (1994, Kap. 1) unterscheidet drei Arten von Normen, unter die eine Person sich stellt, indem sie eine Aussage macht oder eine Überzeugung bildet: (a) Festlegung (commitment): Eine Aussage der Art p zu machen, legt eine Person darauf fest, auf Anfrage eine Reihe weiterer Aussagen zu akzeptieren. Wenn man zum Beispiel die Aussage macht, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, ist man auf die Aussage festgelegt, dass in Köln Karneval gefeiert wird. (b) Berechtigung (entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen, berechtigt eine Person zu einer Reihe weiterer Aussagen. Die Aussage, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, berechtigt eine Person zu der Aussage, dass internationale Medien über den Kölner Karneval berichten werden. 8 Siehe
Wittgenstein 1953, § 202. und Reden“ in Davidson 1986, S. 246. 10 Brandom 1994 / deutsch Brandom 2000b. Eine kompakte Darstellung ist Brandom 2000a / deutsch Brandom 2001. 9 „Denken
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Wenn die letztere Aussage angegriffen wird, kann die erstere als Grund angeführt werden. (c) verschlossene Berechtigung (precluded entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen, verschließt einer Person die Berechtigung zu einer Reihe weiterer Aussagen. Die Aussage, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, verschließt einer Person die Berechtigung zu der Aussage, dass der Kölner Karneval ein bloßes Provinzspektakel ist. Brandom zufolge ist diese Pragmatik grundlegend: Wir sind denkende Wesen, weil wir uns wechselseitig so behandeln, dass wir auf bestimmte Aussagen festgelegt und zu bestimmten Aussagen berechtigt sind. Wir können in dieser Position zwischen der Rede von Überzeugungen und der Rede von Aussagen wechseln. Etwas ist nur dann eine Überzeugung, wenn es aussagbar ist, weil nur durch die Aussage die Beziehungen der Festlegung, der Berechtigung und der verschlossenen Berechtigung etabliert werden können, in denen begrifflicher Inhalt besteht. Die genannten pragmatischen Normen bestimmen inferentielle Beziehungen zwischen Aussagen. Die Semantik, zu der diese Pragmatik führt, ist dementsprechend eine inferentielle Semantik. Der begriffliche Inhalt einer Aussage oder einer Überzeugung besteht in inferentiellen Beziehungen zu anderen Aussagen oder Überzeugungen. Die drei genannten pragmatischen Übergänge zwischen Aussagen können wie folgt in inferentielle Beziehungen übersetzt werden: (a) von Festlegung zu semantischer Implikation: Eine Aussage der Art p impliziert eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass diese aus jener deduziert werden können. (b) von Berechtigung zu Unterstützung: Eine Aussage der Art p stützt eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass eine Induktion zu diesen auf jene gestützt werden kann. (c) von verschlossener Berechtigung zu Ausschluss: Eine Aussage der Art p schließt eine Reihe weiterer Aussagen aus. Dieser Übergang von einer normativen Pragmatik zu einer inferentiellen Semantik beinhaltet zwei Thesen: 1. Die inferentiellen Beziehungen, in denen der begriffliche Inhalt einer Aussage oder einer Überzeugung besteht, supervenieren auf normativen Praktiken, sich wechselseitig so zu behandeln, dass man auf etwas festgelegt ist, dass man zu etwas berechtigt ist und dass die Berechtigung zu etwas verschlossen ist.
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2. Die Beschreibung des begrifflichen Inhalts im Sinne einer Beschreibung dieser inferentiellen Beziehungen kann im Prinzip auf eine Beschreibung dieser normativen Praktiken reduziert werden. Allgemein lässt sich die Semantik, auf die diese Position hinausläuft, als eine normative Gebrauchstheorie der Bedeutung fassen: Der begriffliche Inhalt einer Überzeugung eines bestimmten Typs ist durch die Normen der Verwendung von Überzeugungen dieses Typs in einer Gemeinschaft zu einer Zeit festgelegt. Begrifflicher Inhalt lässt sich nicht vollständig explizit machen. Man kann nicht die Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen, welche den begrifflichen Inhalt einer Überzeugung der Art P ausmachen, abschließend aufzählen. Man kann nur eine Reihe paradigmatischer Beispiele für solche Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen angeben. Der inferentielle Kontext, in dem begrifflicher Inhalt besteht, ist offen. Ferner ist begrifflicher Inhalt dieser Semantik zufolge im Fluss: Die Überzeugungen, auf die man durch eine Überzeugung der Art P festgelegt ist, zu denen man berechtigt ist und zu denen eine Berechtigung verschlossen ist, sind nicht ein für alle Mal fixiert. Begrifflicher Inhalt, verstanden als Festlegungen und Berechtigungen, ist wandelbar. Insbesondere neuartige Situationen, denen wir begegnen (neue Erfahrungen), können dazu führen, dass neue Festlegungen und Berechtigungen anerkannt werden und manche der bisherigen Festlegungen und Berechtigungen aufgegeben werden. Es gibt demnach keine festen Identitätsbedingungen für begrifflichen Inhalt – weder in der Zeit noch zu einer Zeit. Diese Position versucht, das Problem des Regelfolgens auf folgende Weise zu vermeiden: Die Praktiken, sich wechselseitig so zu behandeln, dass man auf bestimmte Aussagen festgelegt und zu bestimmten Aussagen berechtigt ist, zeigen, wie einer Person eine Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen zur Verfügung stehen kann. Diese Praktiken vermitteln den beteiligten Personen ein praktisches Wissen im Sinne eines Wissens darum, welche Übergänge von einer normativen Einstellung zu anderen normativen Einstellungen angemessen sind, ohne dass diese normativen Einstellungen selbst Gegenstand des Wissens zu sein brauchen. Sie verleihen den Personen auf diese Weise die Fähigkeit, Begriffe in unbestimmt vielen neuen Situationen korrekt zu verwenden. Gemäß dieser normativen Pragmatik unterliegen intentionale Einstellungen der folgenden Seinsbedingung: Intentionale Einstellungen gibt es nur, insofern Personen sich wechselseitig intentionale Einstellungen zuschreiben, indem sie sich wechselseitig Formen eines normativen Status zuschreiben – auf etwas festgelegt und zu etwas berechtigt zu sein. Nichtsdestoweniger gibt es Wahrheitsbedingungen für die Zuschreibung intentionaler Einstellungen: Einem Wesen intentionale Einstellungen zuzuschreiben, ist genau dann wahr, wenn dieses Wesen an einer solchen Praxis des wechselseitigen Zuschreibens intentionaler Einstellungen teilnimmt.
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Intentionale Einstellungen unterliegen ferner der folgenden Erkenntnisbedingung: Nur durch Teilnahme an einer Praxis, sich wechselseitig intentionale Einstellungen zuzuschreiben, kann man die intentionalen Einstellungen und deren begrifflichen Inhalt, die in einer solchen Praxis bestimmt sind, erkennen. Das heißt: Die Beschreibung intentionaler Zustände kann nicht auf eine Beschreibung in einem naturalistischen Vokabular reduziert werden. Wenn die Beschreibung intentionaler Zustände auf eine naturalistische Beschreibung reduziert werden könnte, dann bedürfte es keiner pragmatischen Lösung für das Problem des Regelfolgens. Eine naturalistische Lösung im Sinne einer sozialen Variante einer dispositionalen Theorie begrifflichen Inhalts wäre dann zureichend.
4. Die Rekonstruktion sozialer Praktiken Sellars argumentiert dafür, dass begrifflicher Inhalt durch normative, soziale Praktiken bestimmt wird. Er entwickelt jedoch keine Theorie dessen, wie sich der Bereich des Normativen zum Bereich des Nicht-Normativen verhält. Davidsons Ansatz ist eine Theorie radikaler Interpretation. Das ist eine Theorie dessen, wie man aufgrund der Äußerungen eines Sprechers, mit dem man keine Sprache gemeinsam hat, Zugang zu dessen intentionalen Zuständen erlangt. Eine solche Situation setzt offenbar voraus, dass der Sprecher bereits in intentionalen Zuständen ist (Überzeugungen hat). Davidsons Theorie zeigt dann jedoch, dass in intentionalen Zuständen zu sein wechselseitige Interpretation erfordert: Nur wer an einer sozialen Praxis wechselseitiger Interpretation teilnimmt, hat Überzeugungen. Daraus folgt: Es bedarf einer Konstitutionstheorie dessen, wie man von sozialen Praktiken zu begrifflichem Inhalt gelangt. Wenn diese Konstitutionstheorie nicht naturalistisch und damit nicht reduktionistisch ist, dann muss sie etwas zum Ausgangspunkt nehmen, das einerseits nicht naturalistisch ist, andererseits aber auch nicht bereits begrifflichen Inhalt voraussetzt. Ansonsten wäre die Theorie zirkulär. In Bezug auf eine solche Konstitutionstheorie kann man auf Brandoms Werk Making it Explicit verweisen. Wie im letzten Abschnitt skizziert wurde, kann die Beschreibung begrifflichen Inhalts gemäß Brandoms Theorie auf die Beschreibung normativer Praktiken reduziert werden, sich wechselseitig Festlegungen, Berechtigungen und verschlossene Berechtigungen zuzuschreiben. Die normativen Praktiken, sich wechselseitig so zu behandeln, dass man auf etwas festgelegt und zu etwas berechtigt ist, haben Voraussetzungen im Sinne einer Supervenienz-Basis, die naturalistisch beschrieben werden können (auch wenn Brandom selbst diese Voraussetzungen nicht explizit nennt). Wichtig sind insbesondere die folgenden drei Voraussetzungen: 1. Die Personen, die an diesen Praktiken beteiligt sind, haben unabhängig
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von diesen Praktiken einen kognitiven Zugang zu ihrer Umwelt. Dieser kognitive Zugang besteht zumindest in zuverlässigen und unterscheidenden Reaktionsmechanismen, die durch mentale Repräsentationen gesteuert sind. Er umfasst keinen begrifflichen Inhalt. Die normativen Praktiken, welche den begrifflichen Inhalt von Überzeugungen bestimmen, setzen somit nicht nur die Existenz einer physikalischen Welt voraus, sondern auch einen kognitiven, nicht-begrifflichen Zugang zu dieser Welt. Diese Voraussetzung ist keine Grundlage für einen Einwand gegen eine pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts. Das Problem des Regelfolgens kann als Argument dafür angesehen werden, dass eine mentalistische Erkenntnistheorie scheitert. Für ein Subjekt in Isolation von anderen Subjekten und in Isolation von einer physikalischen Welt betrachtet gibt es nichts, das diesem Subjekt einen begrifflichen Inhalt für Überzeugungen geben könnte. Eine soziale und eine physikalische Umwelt mitsamt einem kognitiven Zugang zu dieser Umwelt sind eine notwendige Bedingung für Regelfolgen. 2. Die Personen, die an diesen Praktiken beteiligt sind, haben unabhängig von diesen Praktiken eine Disposition, das eigene Verhalten zumindest partiell mit dem Verhalten ihrer Mitmenschen zu koordinieren. Das ist eine Disposition zweiter Ordnung – eine Disposition, einiges von den eigenen Dispositionen und dem eigenen Verhalten infolge des Verhaltens der Mitmenschen zu ändern. Diese Veränderung braucht kein bewusster Vorgang zu sein. Eine solche Disposition zu haben und auszuüben, ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass Verhalten soziales Verhalten ist. Soziales Verhalten kann dieser Einteilung zufolge naturalistisch verstanden werden. 3. Aufgrund der Disposition zu zumindest partieller Koordination reagieren die Personen, die an diesen Praktiken beteiligt sind, unabhängig von diesen Praktiken auf ihr Verhalten so, dass sie wechselseitig Sanktionen im Sinne von Bestärkungen und Zurückhaltungen anwenden. Sie bestärken das Verhalten in anderen, das ihrem eigenen Verhalten gleicht, und sie halten das Verhalten in anderen zurück, das ihrem eigenen Verhalten nicht gleicht. Sanktionen unterstützen auf diese Weise einen Prozess, der zu Konvergenz im Verhalten führt. Sanktionen im Sinne von Punkt 3 sind ausschließlich Bestärkungen und Zurückhaltungen von Verhalten, die vollständig in naturalistischem Vokabular beschrieben werden können. Sanktionen in diesem Sinne sind das charakteristische Merkmal sozialen Verhaltens: Etwas ist nur dann soziales Verhalten, wenn die
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beteiligten Wesen wechselseitig durch Bestärkungen und Zurückhaltungen auf ihr Verhalten reagieren. Soziale Praktiken liegen genau dann vor, wenn die Sanktionen normativ sind: Es sind nicht bloße Bestärkungen und Zurückhaltungen von bestimmtem Verhalten, sondern normative Einstellungen der Beteiligten, in denen die Beteiligten ihr Verhalten wechselseitig als korrekt oder inkorrekt beurteilen und sich damit Formen eines normativen Status zusprechen – in Form von Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen. Verhalten, das für korrekt gehalten wird, wird bestärkt; Verhalten, das für inkorrekt gehalten wird, wird zurückgehalten. Der Maßstab, anhand dessen ein Wesen das Verhalten von anderen für korrekt oder inkorrekt hält, kann zunächst die Gleichheit oder Ungleichheit mit dem eigenen Verhalten sein. In einem weiteren Schritt können Sanktionen im normativen Sinne selbst einer Beurteilung unterworfen werden, ob diese Sanktionen korrekt oder inkorrekt sind.11 Der Unterschied zwischen sozialem Verhalten und sozialen Praktiken beruht demnach auf normativen Einstellungen: Soziale Praktiken liegen genau dann vor, wenn die beteiligten Personen zueinander normative Einstellungen einnehmen. Aufgrund dieser Einstellungen sprechen sich Personen wechselseitig normative Status zu (Festlegungen, Berechtigungen und verschlossene Berechtigungen). Mit diesen Status ist dann ein begrifflicher Inhalt für intentionale Zustände etabliert. Um diesem Ansatz Plausibilität zu verleihen, müssen zwei Aufgaben erfüllt werden: • Einerseits muss man das, was mit normativen Einstellungen gemeint ist, so erläutern können, dass normative Einstellungen nicht begrifflichen Inhalt voraussetzen. Ansonsten wäre die Theorie zirkulär. Man kann zumindest Folgendes sagen: Normative Einstellungen sind Einstellungen, etwas für korrekt oder inkorrekt zu halten. Solche Einstellungen setzen noch nicht voraus, ein Kriterium der Unterscheidung zwischen korrekt und inkorrekt zur Verfügung zu haben. Ein solches Kriterium geben erst die genannten sozialen Praktiken. Ein solches Kriterium ist aber gemäß dem Argument von Wittgenstein und Davidson die Voraussetzung dafür, über Begriffe zu verfügen – und somit die Voraussetzung dafür, Überzeugungen (intentionale Zustände) zu haben. Insofern kann es normative Einstellungen geben, ohne dass begrifflicher Inhalt bestimmt ist. • Andererseits muss für die Beschreibungen normativer Einstellungen ein Anti-Reduktionsargument gelten, wenn die pragmatische Lösung des Problems des Regelfolgens nicht eine – raffinierte – Variante einer natura11 Vergleiche in diesem Zusammenhang Pettit 1993, S. 76–108, Haugeland 1998, S. 147–150, und Esfeld 2002, Kap. 3.2.
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listischen Lösung unter Bezugnahme auf bestimmte Dispositionen zu sozialem Verhalten sein soll: Obwohl normative Einstellungen noch nicht begrifflich sind, gibt es keine Beschreibung von Verhaltensdispositionen, auf welche die Beschreibung normativer Einstellungen reduziert werden kann. Das heißt: Normativität muss unabhängig von begrifflichem Inhalt als Anti-Reduktionsargument ausgewiesen werden können, um diese Position plausibel zu machen. Wenn diese beiden Aufgaben erfüllt werden können, folgt: Normative Einstellungen sind selbstverständlich im Laufe der Evolution aus Nicht-Normativem entstanden. Über die Angabe einer Supervenienz-Basis hinaus gibt es jedoch keine Möglichkeit, normative, soziale Praktiken von nicht-normativem, sozialem Verhalten – und weiter gefasst, von einer naturalistischen Beschreibung dessen, was es in der Welt gibt – aus zu rekonstruieren.
5. Das Problem der mentalen Verursachung Ein Haupteinwand gegen den Interpretationismus lautet, dass diese Position nicht die Realität intentionaler Zustände ausweisen kann. Die normativen, sozialen Praktiken, in denen wir uns wechselseitig intentionale Zustände zuschreiben, sind ein Spiel, in dem wir uns so interpretieren, als ob wir in intentionalen Zuständen wären. Diese Praktiken konstituieren aber nicht eine Realität intentionaler Zustände. Vor allem der Interpretationismus von Daniel Dennett wird häufig als eine solche anti-realistische Position in Bezug auf intentionale Zustände ausgelegt.12 Insbesondere dann, wenn eine normative, soziale Theorie begrifflichen Inhalts zirkulär ist – also begrifflichen Inhalt nicht auf der Grundlage von etwas rekonstruieren kann, das nicht bereits begrifflichen Inhalt voraussetzt –, provoziert sie diesen Einwand. Diesem Einwand könnte man dann nur durch eine idealistische Metaphysik ausweichen – das heißt, eine Metaphysik, gemäß der die Welt selbst begrifflich ist oder von begrifflichem Inhalt abhängig ist.13 Für eine solche Metaphysik spricht jedoch nichts. Deshalb ist es so wichtig, dass eine soziale, pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts den Zirkularitätseinwand vermeiden kann im Sinne der beiden Aufgaben, die im letzten Abschnitt benannt wurden. Denn das Hauptargument für eine naturalistische Lösung für das Problem des Regelfolgens ist, dass nur eine solche Position die Realität intentionaler Zustände ausweisen kann. 12 Grundlage dafür ist insbesondere Dennett 1987. Dennett hat seine Position inzwischen abgeschwächt, um der anti-realistischen Interpretation entgegenzutreten. Siehe insbesondere Dennett 1991. 13 Vergleiche die Position von McDowell (1994) / deutsch McDowell 1998.
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Nehmen wir an, die beiden Aufgaben, die im vorigen Abschnitt benannt wurden, könnten erfüllt werden. Selbst dann wäre das größte Problem noch nicht gelöst, das sich für das Projekt stellt, intentionale Zustände von sozialen Praktiken aus zu verstehen: Wie können intentionale Zustände, so konzipiert, Auswirkungen auf unser Verhalten haben? Die Möglichkeit, einen Epiphänomenalismus in Bezug auf intentionale Zustände zu vertreten, besteht für diese Position nicht. Denn der begriffliche Inhalt intentionaler Zustände ist durch Beziehungen des Übergangs zu anderen intentionalen Zuständen einschließlich Handlungen definiert, und dieser Übergang ist kausal. Um die Realität intentionaler Zustände auszuweisen, muss diese Position also darlegen können, wie intentionale Zustände – auch – physikalische Wirkungen haben können. Damit stellt sich für diese Position das bekannte Problem der mentalen Verursachung. Dieses Problem wird im allgemeinen anhand von vier Prinzipien eingeführt. Jedes dieser Prinzipien ist für sich genommen plausibel. Sie können aber nicht alle vier zusammen in der vorliegenden Form wahr sein: 1. Verschiedenheit: Intentionale Zustände sind von physikalischen Zuständen verschieden. Um diese Verschiedenheit zu begründen, reicht im Rahmen der hier diskutierten Position der Verweis darauf hin, dass der begriffliche Inhalt intentionaler Zustände von irreduzibel normativen, sozialen Praktiken abhängig ist. 2. mentale Verursachung: Intentionale Zustände verursachen physikalische Zustände. 3. Vollständigkeit physikalischer Ursachen: Für alle physikalischen Zustände gilt: Insofern ein physikalischer Zustand eine Ursache hat, hat er eine vollständige physikalische Ursache. 4. keine systematische Überdetermination: Intentionale Zustände verursachen physikalische Zustände nicht dadurch, dass die betreffenden physikalischen Zustände systematisch überdeterminiert sind durch vollständige physikalische Ursachen und zusätzliche mentale Ursachen. Das dritte Prinzip basiert auf den Naturwissenschaften: Physikalische Kausalität ist an Naturgesetze gebunden, und die Naturgesetze enthalten keine Lücken, die mentale Ursachen zulassen – oder gar verlangen. Wenn man (3) aufgibt, steht man vor einem Dilemma: Das eine Horn des Dilemmas ist die Konsequenz, dass einige Gesetzesaussagen naturwissenschaftlicher Theorien falsch sind aufgrund von mentaler Verursachung. Wenn mentale Ursachen verschieden von physikalischen Ursachen sind und physikalische Wirkungen haben, ohne dass diese Wirkungen überdeterminiert sind, dann sind
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einige naturwissenschaftliche Gesetzesaussagen falsch, weil sie nicht die korrekten Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter physikalischer Zustände angeben. Immer wenn eine Person beispielsweise die Absicht hat, ihren rechten Arm zu heben, dann wird durch diese Absicht das Eintreten bestimmter neurophysiologischer Zustände, die für das Hochgehen des Armes erforderlich sind, wahrscheinlicher, als es ohne diese Absicht wäre. Eine entsprechende Überlegung gilt auch, wenn man bis auf die Ebene der Mikrophysik und der Gesetzesaussagen der Quantenmechanik hinuntergeht.14 Dieser Konsequenz kann man in dem Rahmen, der durch (1), (2) und (4) gegeben ist, nur dadurch entgehen, dass man sagt, die naturwissenschaftlichen Gesetze gelten für einige physikalische Zustände nicht: Das Gehirn – oder ein bestimmter Bereich des Gehirns – ist kein abgeschlossenes physikalisches System und kein Teil eines abgeschlossenen physikalischen Systems, weil es in Interaktion mit einem nicht-physikalischen System, dem Geist, steht. Deshalb fallen zumindest einige Gehirnzustände aus dem Bereich dessen heraus, worauf die naturwissenschaftlichen Gesetzesaussagen anwendbar sind.15 Das ist das andere Horn des Dilemmas. Aufgrund dieser implausiblen Konsequenzen wird ein interaktionistischer Dualismus in der gegenwärtigen Diskussion kaum noch vertreten. Unter der Voraussetzung, (1) und (2) unangetastet zu lassen, sind in den letzten Jahren statt der Aufgabe von (3) eher Positionen entwickelt worden, welche eine Art systematischer Überdetermination der physikalischen Zustände, die auch mentale Ursachen haben, plausibel zu machen versuchen und somit (4) aufgeben.16 Es ist jedoch mehr als fraglich, ob man mit der Annahme von Überdetermination zu einer überzeugenden Lösung für das Problem der mentalen Verursachung gelangen kann. Wenn man an (3) und (4) festhält und (2) anerkennt, dann muss man (1) modifizieren. Man ist in diesem Fall auf die These festgelegt, dass die mentalen Ursachen physikalischer Zustände mit physikalischen Ursachen identisch sind. Nur dann, wenn die mentalen Ursachen mit physikalischen Ursachen identisch sind, können diese physikalische Wirkungen haben, gegeben (3) und (4). Kausalität wird im allgemeinen als eine Beziehung zwischen einzelnen Vorkommnissen (‚tokens‘ im Unterschied zu ‚types‘) angesehen: Ein Vorkommnis eines mentalen Zustands einer bestimmten Art verursacht ein Vorkommnis eines physikalischen Zustands einer bestimmten Art. Gegeben (2), (3) und (4) folgt dann, dass jedes Vorkommnis eines mentalen Zustands, der physikalische Wirkungen hat, identisch mit einem Vorkommnis eines physikalischen Zustands ist. 14 Siehe
dazu Esfeld 2000. Averill und Keating 1981. 16 Für verschiedene Ansätze in diesem Sinne siehe vor allem Yablo 1992, Loewer 2001 und Bennett 2003. 15 Vergleiche
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Diese Konsequenz entspricht der Position von Davidson. Davidson ist der einzige der vier Autoren, die in den vorigen Abschnitten in Bezug auf eine pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts erwähnt wurden, welcher eine Theorie der mentalen Verursachung entwickelt. Davidson spricht von Ereignissen statt von Zuständen. Mentale Verursachung dient ihm als Argument dafür, zu vertreten, dass jedes mentale Ereignis mit einem physikalischen Ereignis identisch ist. Nach Davidson ist Kausalität eine Beziehung zwischen Ereignissen unabhängig davon, wie diese Ereignisse beschrieben werden. Alle Ereignisse erfüllen eine physikalische Beschreibung (das heißt, machen eine physikalische Beschreibung wahr). Einige Ereignisse erfüllen auch eine mentale Beschreibung.17 Dennoch wird gegen Davidson der Einwand des Epiphänomenalismus erhoben.18 Kausalität ist nach Davidson an strikte (das heißt, ausnahmslos geltende) Gesetze gebunden, und solche Gesetze gibt es nur in fundamentalen Theorien der Physik. Der Einwand ist daher, dass Davidson nicht zeigen kann, wie Ereignisse, insofern sie mental sind, für etwas ursächlich sein können. Um ein Beispiel von Dretske aufzunehmen,19 die Stimme der Sängerin bringt ein Glas zum Zerspringen, aber es ist die Tonhöhe und die Tonintensität, und nicht der begriffliche Inhalt des Gesangs, aufgrund deren das Glas zerspringt. Für diesen Effekt ist der begriffliche Inhalt des Gesangs epiphänomenal. Der Einwand gegen Davidson lautet, dass seine Theorie zur Folge hat, dass sich begrifflicher Inhalt immer wie in diesem Beispiel verhält. Um diesen Einwand auszuräumen, muss man zeigen, wie dasjenige, was eine physikalische Beschreibung wahr macht, als dasselbe auch eine mentale Beschreibung wahr macht. Mit anderen Worten: Man braucht eine feingliedrigere Konzeption von Ereignissen oder Zuständen als diejenige von Davidson. Eine solche Konzeption erreicht man, wenn man einen Zustand als die Instantiation einer Eigenschaft betrachtet. Mentale Kausalität erfordert dann, gegeben (3) und (4), dass jede Instantiation einer mentalen Eigenschaft, die ursächlich für die Instantiation einer physikalischen Eigenschaft ist, mit etwas Physikalischem identisch ist. Kurz, die Identität der Vorkommnisse muss sich auf die Vorkommnisse von Eigenschaften beziehen. Der Funktionalismus scheint die naheliegende – und die einzige – Möglichkeit zu sein, eine solche Identität der Vorkommnisse auszuführen, ohne auf einen reduktiven Physikalismus festgelegt zu sein. Gemäß dem Standard-Funktionalismus kausaler Rollen wird ein mentaler Zustand vom Typ M durch seine typischen Ursachen und Wirkungen definiert. Es wird also durch Definition gefor17 Siehe
Davidson 1970 / deutsch in Davidson 1985, Kap. 11.
18 Siehe insbesondere die Diskussion zwischen Davidson (1993), Kim (1993), McLaughlin (1993)
und Sosa (1993). 19 Dretske 1989, S. 1–2.
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dert, dass jeder mentale Zustand kausal wirksam ist. Die betreffende Rolle ist physikalisch realisiert. Das heißt, es gibt Anordnungen physikalischer Zustände, letztlich mikrophysikalischer Zustände, welche die typischen Ursachen und Wirkungen exemplifizieren, die einen mentalen Zustand des Typs M definieren. Deshalb sind diese Anordnungen physikalischer Zustände ein Fall von M . Physikalische Realisation wird in der Regel so aufgefasst, dass jedes Vorkommnis von M mit einem Arrangement von Vorkommnissen physikalischer Zustände identisch ist oder durch ein Arrangement von Vorkommnissen physikalischer Zustände konstituiert wird.20 Daraus folgt, dass es für jeden einzelnen Fall von M eine physikalische Beschreibung gibt (auch wenn es – vielleicht prinzipielle – epistemische Hindernisse dafür geben mag, dass wir diese Beschreibung kennen). Die betreffende Beschreibung impliziert ein Gesetz: Jeder Fall eines solchen Arrangements ist ein Fall von M – und zwar mit metaphysischer Notwendigkeit, weil jeder solche Fall die Definition von M erfüllt. Diese Beschreibung enthält ferner eine Erklärung: Es gibt Vorkommnisse von M in der Welt, weil es Arrangements physikalischer Zustände gibt, welche die für M typischen Ursachen und Wirkungen aufweisen. Dennoch ist der Standard-Funktionalismus nicht auf einen reduktiven Physikalismus festgelegt: M kann vielfältig realisiert sein. Alles, was die Arrangements physikalischer Zustände, welche M realisieren, gemeinsam haben müssen, ist, bestimmte Ursachen und Wirkungen aufzuweisen. Diese Arrangements können aber physikalisch ganz verschiedenartig zusammengesetzt sein. Intentionale Zustände desselben Typs können sowohl in menschlichen Gehirnen als auch in Super-Computern realisiert sein. Infolgedessen kann die Beschreibung von M als Typ nicht auf die Beschreibung eines physikalischen Typs reduziert werden. Der Typ M ist nicht mit einem physikalischen Typ identisch. Insofern respektiert der Standard-Funktionalismus das Prinzip der Verschiedenheit von mentalen und physikalischen Zuständen (1) – wenn auch nicht auf der Ebene der einzelnen Vorkommnisse (tokens), so doch auf der Ebene der Typen. Der Standard-Funktionalismus definiert mentale Zustände durch eine kausale Rolle, die auf die jeweilige Person beschränkt ist. Dieses Definitionsverfahren ist mit einer sozialen, normativen Theorie begrifflichen Inhalts nicht vereinbar. Dennoch kann diese Theorie auch als eine Art Funktionalismus aufgefasst werden, und zwar als ein sozialer Funktionalismus: Der begriffliche Inhalt eines intentionalen Zustands vom Typ M ist dessen soziale Rolle, definiert im oben genannten Sinne durch Beziehungen der Festlegung, der Berechtigung und der verschlossenen Berechtigung. Mit anderen Worten, der begriffliche Inhalt eines intentionalen Zustands ist seine Position innerhalb einer Lebensform im Sinne Wittgensteins. 20 Siehe
zum Beispiel Shoemaker 1981 und Poland 1994, S. 16–18.
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Lässt sich die Lösung für das Problem der mentalen Verursachung, welche der Standard-Funktionalismus kausaler Rollen bietet, wenn er im Sinne einer Identität der Vorkommnisse ausgeführt wird,21 auf den sozialen Funktionalismus übertragen? Auch und gerade im Rahmen des sozialen Funktionalismus kann man vertreten, dass intentionale Zustände physikalisch realisiert sind. Man kann das Problem des Regelfolgens als ein Argument dagegen einsetzen, etwas Mentales anzuerkennen, das nicht physikalisch realisiert ist – auf der Grundlage dessen, dass dieses Problem gegen eine mentalistische Semantik spricht. Fraglich ist jedoch, ob man die Weise, wie der Standard-Funktionalismus die physikalische Realisation als Identität der Vorkommnisse ausführt, um das Problem der mentalen Verursachung zu lösen, auf den sozialen Funktionalismus übertragen kann. Der These der Identität der Vorkommnisse steht zunächst der Holismus intentionaler Zustände entgegen: Ein intentionaler Zustand des Typs M ist definiert durch normative Beziehungen zu intentionalen Zuständen anderer Typen und Konsequenzen für das Verhalten. Letztere Konsequenzen sind zwar physikalisch beschreibbar, reichen aber in keinem Falle aus, um einen intentionalen Zustand zu definieren (das ist die Lehre aus dem Scheitern des Behaviourismus, die der Funktionalismus zieht). Ein intentionaler Zustand eines Typs ist im wesentlichen durch seine Beziehungen zu intentionalen Zuständen anderer Typen bestimmt. Die Frage ist daher, ob es genau ein Arrangement von Vorkommnissen physikalischer Zustände gibt, mit dem ein gegebenes Vorkommnis eines intentionalen Zustandes – im Unterschied zu Vorkommnissen anderer intentionaler Zustände – identisch ist. Nehmen wir an, eine Person ist im intentionalen Zustand p, ein Zustand vom Typ P ist bestimmt durch Beziehungen zu Zuständen der Art Q, R und S, und die betreffende Person ist zugleich auch in den intentionalen Zuständen q, r und s. Gibt es ein Arrangement von Vorkommnissen physikalischer Zustände, mit denen p im Unterschied zu q, r und s identisch ist? Man kann diese Frage so zu beantworten versuchen, dass man sagt, dass das Netzwerk der Vorkommnisse der intentionalen Zustände p, q, r und s mit einem Netzwerk von Vorkommnissen physikalischer Zustände identisch ist. Das würde darauf hinauslaufen, den gesamten intentionalen Zustand einer Person zu einer Zeit mit dem gesamten Gehirnzustand der Person zu dieser Zeit zu identifizieren. Diese Antwort ist für das Problem der mentalen Verursachung jedoch unzureichend: Es ist nicht der Fall, dass p, q, r und s nur zusammen physikalische Wirkungen haben. Vielmehr hat jedes dieser Vorkommnisse spezifische physikalische Wirkungen – oder leistet zumindest einen spezifischen Beitrag zu einer physikalischen Ge21 Vor allem Kim (1998) kritisiert den Standard-Funktionalismus, der ein nicht-reduktiver Physikalismus ist, als inkohärent. Für den Zweck dieses Aufsatzes nehme ich jedoch ohne weitere Begründung an, dass ein nicht-reduktiver Physikalismus trotz der Einwände von Kim eine kohärente Position ist. Siehe gegen Kim insbesondere Antony und Levine 1997.
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samtwirkung. Gemäß dem oben Ausgeführten ist die kausale Wirksamkeit von jedem dieser Vorkommnisse nur dann sichergestellt, wenn jedes dieser mentalen Vorkommnisse mit einem Arrangement von physikalischen Vorkommnissen identisch ist. Um eine Antwort auf das Problem der mentalen Verursachung in dem genannten Rahmen zu geben, muss man daher eine Theorie der Identität von Vorkommnissen – im Unterschied zu einer Theorie der Identität von Typen – entwickeln können, die Folgendes zeigt: Jedes Vorkommnis eines intentionalen Zustands (jedes Vorkommnis einer mentalen Eigenschaft) ist mit einem Arrangement von Vorkommnissen physikalischer Zustände identisch, obwohl das betreffende Vorkommnis eines intentionalen Zustandes das, was es ist, aufgrund seiner Beziehungen zu anderen Vorkommnissen intentionaler Zustände ist. Es ist hingegen zulässig, dass das betreffende Arrangement physikalischer Zustände das, was es ist, unabhängig von Vorkommnissen außerhalb dieses Arrangements ist. Zu beachten ist, dass das Holismus-Problem sich auch schon für den StandardFunktionalismus stellt. Denn auch gemäß dem Standard-Funktionalismus wird ein intentionaler Zustand eines Typs im wesentlichen durch seine Beziehungen zu intentionalen Zuständen anderer Typen definiert. Für den sozialen Funktionalismus ergibt sich ein weiteres Problem, das als noch gravierender gilt: Gemäß dem sozialen Funktionalismus besteht der begriffliche Inhalt eines intentionalen Zustands in Beziehungen zu anderen intentionalen Zuständen, die durch soziale Praktiken bestimmt werden. Der begriffliche Inhalt eines intentionalen Zustands ist also von externen Faktoren abhängig. Die kausalen Wirkungen, die ein physikalischer Zustand entfalten kann, sind hingegen in der Regel nicht von externen Faktoren abhängig. Gehirnzustände können bestimmte körperliche Bewegungen verursachen unabhängig davon, wie die soziale Umwelt beschaffen ist. Ein Externalismus in Bezug auf begrifflichen Inhalt ist weitgehend anerkannt. Die gängige Strategie, um dem Externalismus-Problem für mentale Kausalität zu begegnen, besteht darin, zwischen einem engen und einem weiten begrifflichen Inhalt zu unterscheiden. Der enge begriffliche Inhalt ist nur von internen Faktoren abhängig. Dieser ist derjenige begriffliche Inhalt, welcher für das Verhalten der Person ursächlich ist. Im Rahmen des sozialen Funktionalismus ist diese Unterscheidung zwischen engem und weitem begrifflichen Inhalt jedoch nicht möglich: Jede Art von begrifflichem Inhalt ist weit, da jede Art von begrifflichem Inhalt durch soziale Praktiken bestimmt ist.22 Nichtsdestoweniger kann man sagen, dass der intentionale Zustand ein Zustand der betreffenden Person ist. Die Person ist in einem Zustand, der mit anderen Zuständen der Person verbunden ist. Wenn diese Verbindungen bestimmten sozialen Normen genügen, dann haben diese Zustände einen bestimmten begriff22 Vergleiche
Esfeld 2003.
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lichen Inhalt. In diesem Sinne sind intentionale Zustände auch gemäß einem sozialen Funktionalismus im Kopf beziehungsweise in der Person. Um das Problem der mentalen Verursachung in dem genannten Rahmen zu lösen, könnte man auf dieser Basis versuchen, trotz des sozialen Externalismus für eine Identität zwischen Vorkommnissen von intentionalen Zuständen und Vorkommnissen von Gehirnzuständen zu argumentieren. Wiederum gilt, dass das Externalismus-Problem nicht auf eine soziale, pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts beschränkt ist. Es trifft auch die derzeit populärste Form einer Naturalisierung der Semantik, die Teleo-Semantik. Ruth Garrett Millikan, eine Hauptvertreterin des Programms, Typen begrifflichen Inhalts mit Typen biologischer Funktionen zu identifizieren und so begrifflichen Inhalt auf biologische Funktionen zu reduzieren, schreibt: [ . . . ] the semantic category of a thought is determined relative to its biological functions, which depend in turn upon its history, upon its place relative to certain prior events. But having a certain history is not, of course, an attribute that has ‘causal powers’. Hence reasons cannot be, as such, causes. More generally, that a thing has a teleo-function is a causally impotent fact about it.23
Das heißt: Der Epiphänomenalismus-Einwand kann gegen die biologische Reduktion der Semantik in gleicher Weise wie gegen Davidson erhoben werden.
6. Der Stand der Kunst: das Problem der Erklärungslücke In der Philosophie des Bewusstseins ist in Bezug auf die Zustände phänomenalen Erlebens – die so genannten Qualia-Zustände, wie zum Beispiel Schmerzen zu empfinden, die Farbe Rot zu sehen etc. – ein Problem der Erklärungslücke weitgehend anerkannt. Es ist zumindest nicht offensichtlich, wie der StandardFunktionalismus zusammen mit der These der physikalischen Realisierung mentaler Zustände den Erlebnischarakter dieser Zustände erfassen kann. Insofern besteht eine Erklärungslücke zwischen der funktionalen Definition von Bewusstseinszuständen und deren Erlebnischarakter.24 Umstritten ist, ob diese Erklärungslücke lediglich ein epistemisches Problem ist – wir wissen nicht, wie wir den Erlebnischarakter von Bewusstseinszuständen mit etwas Physikalischem identifizieren können im Sinne der These der Identität der Vorkommnisse – oder ob diese Erklärungslücke eine ontologische Implikation hat und somit einen metaphysischen Dualismus nach sich zieht: Vorkommnisse von Bewusstseinszuständen sind aufgrund ihres Erlebnischarakters nicht mit Vorkommnissen phy23 Millikan 24 Siehe
1993a, S. 225 f. (wieder abgedruckt in Millikan 1993b, S. 186). insbesondere Levine 1993 / deutsch in Pauen und Stephan 2002, S. 91–102.
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sikalischer Zustände identisch.25 Im letzteren Falle stellt sich das Problem der mentalen Verursachung in einer solchen Weise, dass eine epiphänomenalistische Konsequenz unausweichlich ist – es sei denn, man kann plausibel machen, entweder das Prinzip der Vollständigkeit physikalischer Ursachen (3) oder das Prinzip der Abwesenheit systematischer Überdetermination (4) aufzugeben. Das Fazit dieses Artikels ist dieses: Das Problem des Regelfolgens ist ein starkes Argument für eine soziale, pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts. Wenn begrifflicher Inhalt aber durch soziale, normative Praktiken bestimmt wird, dann stellt sich auch in Bezug auf den begrifflichen Inhalt intentionaler Zustände das Problem einer Erklärungslücke. Es ist zumindest nicht offensichtlich, wie für intentionale Zustände aufgrund des Holismus und des sozialen Externalismus eine These der Identität der Vorkommnisse mit Arrangements von Vorkommnissen physikalischer Zustände (Gehirnzuständen) gelten kann. Kurz, wie eine Erklärungslücke vom Nicht-Qualiamäßigen zu den Qualia besteht, so besteht eine Erklärungslücke vom Nicht-Sozial-Normativen zum Sozial-Normativen. Wiederum ist es fraglich, ob diese Erklärungslücke lediglich ein epistemisches Problem anzeigt – wir wissen nicht, wie wir durch begrifflichen Inhalt charakterisierte intentionale Zustände mit etwas Physikalischem identifizieren können im Sinne der These der Identität der Vorkommnisse – oder ob diese Erklärungslücke eine ontologische Implikation hat und somit einen metaphysischen Dualismus nach sich zieht. Und wiederum gilt: Im letzteren Falle scheint eine epiphänomenalistische Konsequenz unausweichlich. Diese Konsequenz scheint im Falle von intentionalen Zuständen noch viel weniger etwas zu sein, mit dem wir zur Not leben könnten, als im Falle des Erlebnischarakters von Bewusstseinszuständen – gegeben, dass die sozial-funktionale Definition intentionaler Zustände unser Verständnis von uns selbst als handelnden Subjekten zu erfassen versucht. Für eine soziale, pragmatische Theorie begrifflichen Inhalts ist es entscheidend, einen Ausweg aus diesem Problem der Erklärungslücke zu finden: Nur dann, wenn man zeigen kann, wie intentionale Zustände, verstanden im Sinne einer sozialen, pragmatischen Theorie begrifflichen Inhalts, Auswirkungen auf unser Verhalten haben, ist der Einwand entkräftet, eine solche Theorie könne die Realität intentionaler Zustände nicht aufweisen und laufe auf einen antirealistischen Interpretationismus, einen Epiphänomenalismus oder einen eliminativen Materialismus hinaus. Gelingt es nicht, dieses zu zeigen, liegt ein hinreichender Grund dafür vor, die Argumente für eine solche Theorie begrifflichen Inhalts in Frage zu stellen und auf die Karte einer Naturalisierung der Semantik zu setzen.
25 So
vor allem Chalmers (1996).
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Teil II. Wahrheit
André Fuhrmann
Absolute pragmatische Wahrheit 1. James über Wahrheit In den klassischen Schriften der amerikanischen Pragmatisten über den Begriff der Wahrheit finden sich oft, und manchmal in dichter Folge, scheinbar sehr verschiedene Ansichten zum Thema. Das muß vor allem diejenigen überraschen, die sich Darstellungen pragmatistischer Philosophie anvertraut haben, wie sie z.B. Russell verbreitet hat.1 Nach solchen Darstellungen besteht die Wahrheit einer Überzeugung in ihrem ‚Gebrauchswert‘. Tatsächlich hat James solche Formulierungen benutzt – offenbar mit einigem Vergnügen an der Erwartung, damit seine philosophischen Gegner zu provozieren. Unsere Theorie der Wahrheit ist eine Theorie der Wahrheiten im Plural [ . . . ], die nur das eine gemein haben, daß sie sich auszahlen. (James 1907, 218)2
James’ Abneigung gegen das, was er „Intellektualismus“ nannte, zeigt sich vor allem auch in seiner Wortwahl. Bei aller Freude an polemisierenden Formulierungen beeilte sich James jedoch stets klarzustellen, daß seine Ansichten über Wahrheit sich in völligem Einklang befinden mit dem, was (beinahe) jedermann darunter verstehen möchte. Insbesondere stimmt James nachdrücklich den folgenden drei Gemeinplätzen über den Begriff Wahrheit zu. Erstens besteht für James Wahrheit selbstverständlich in Korrespondenz, oder Einklang, mit der Wirklichkeit: Wahrheit [ . . . ] ist eine Eigenschaft bestimmter unserer Ideen. Sie bedeutet ‚Übereinstimmung‘ mit der ‚Wirklichkeit‘, so wie Falschheit Abweichung von ihr bedeutet. Pragmatisten stimmen dieser Definition selbstverständlich zu. (1907, 198)
Zweitens ist James davon überzeugt, daß Wahrheit in einem begrifflichen Zusammenhang mit dem Prozeß der Bewahrheitung („verification“) steht: 1 Siehe 2 Ich
z.B. die Kapitel über James und Dewey in seiner Philosophie des Abendlandes. zitiere und übersetze James nach den amerikanischen Originalausgaben (1907) und (1909).
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Wahre Überzeugungen sind solche, die wir uns aneignen, prüfen, bestätigen und bewahrheiten können. Falsch sind solche Überzeugungen, die dazu nicht geeignet sind. (1907, 201)
Drittens ist Wahrheit für James absolut. Damit meint er zunächst einfach nur, daß Wahrheit nicht relativ ist: Wahrheit ist nicht relativ zu der Evidenz, die dem einen oder anderen Interessierten zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung steht; und weniger noch ist sie relativ zu wechselnden Beurteilungskriterien. Etwas genauer gesagt, besteht für James die Absolutheit der Wahrheit in ihrer Beständigkeit unter dem Eindruck fortschreitender Erfahrung – sie fordert so Konvergenz auf lange Sicht. Das absolut Wahre, d. h. dasjenige, was keine weitere Evidenz jemals ändern wird, ist jener ideale Fluchtpunkt, von dem wir annehmen, daß alle unsere vorläufigen Wahrheiten ihm eines Tages zustreben werden. (1907, 222 f.)
An anderer Stelle legt sich James die Frage vor, in welchem Sinne er seine Theorie der Wahrheit ‚wahr‘ nennen darf. (Einige seiner Kritiker hielten dieses Problem für unlösbar und glaubten hier eine entscheidende Schwäche jeder pragmatistischen Theorie der Wahrheit entdeckt zu haben. Wir werden zu diesem Problem unten zurückkehren.) Er schreibt: Ich gehe davon aus, daß je umfassender man meine Theorie erörtern und prüfen wird, umso mehr wird man in der Ansicht übereinstimmen, daß sie paßt, und umso weniger wird man an ihr Änderungen vornehmen wollen. Meine Zuversicht mag natürlich voreilig sein und der Ruhm der endgültigen Wahrheit mag einer späteren Veränderung und Verbesserung meines Planes zufallen [ . . . ]. Zuzugeben, wie wir Pragmatisten es tun, daß wir verbessert werden können (auch wenn wir dies nicht erwarten), setzt auf unserer Seite die Anwendung einer idealen Beurteilungsgrundlage voraus. (MT, 142)
Im folgenden werde ich mich hauptsächlich mit James’ These, daß Wahrheit absolut sei, beschäftigen. James versucht diesem Aspekt pragmatistischer Wahrheit mit Hilfe einer bestimmten Auffassung der Konvergenzthese gerecht zu werden.3 Bevor ich mich diesem Aspekt seiner Theorie zuwende, werde ich kurz resümieren, wie James sich die Zusammenführung der drei Thesen in einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit dachte. Sodann werde ich im Detail James’ Theorie absoluter Wahrheit erörtern, so wie sie sich in seiner Diskussion eines angeblichen Problems für jede Theorie, die Wahrheit und Evidenz begrifflich verknüpfen möchte, herausschält. Es handelt sich hierbei um den Fall 3 Es sei angemerkt, daß James’ Auffassung von Konvergenz sich unterscheidet von der Auffassung Peirce’ und einiger Neo-Peirceaner, wie etwa Habermas. Während diese sich einem Einwand aussetzt, der in neuerer Zeit besonders eindrücklich von Plantinga (1982) formuliert wurde, bleibt die James’sche Variante der Konvergenzthese davon unberührt.
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vergangener Ereignisse, die keine Evidenzspuren hinterlassen haben. Es wird sich herausstellen, daß James’ Theorie der Wahrheit angemessen und fruchtbar im Rahmen von Crispin Wrights Theorie ‚fester Behauptbarkeit‘ (superassertibility) rekonstruieren läßt.
2. Nutzen, Korrespondenz, Verifikation und Absolutheit Jede pragmatistische Theorie der Wahrheit wird diese vier Aspekte – Nutzen oder Gebrauchswert, Korrespondenz, Bewahrheitung und Absolutheit – in einem stimmigen Ganzen zusammenführen müssen. Der Nutzenaspekt ist hier zuerst genannt, denn er deutet die charakteristische Antwort des Pragmatismus auf die Vorab-Frage an, warum wir uns überhaupt um Wahrheit bemühen sollen – eine Frage, die sich viele andere Theorien merkwürdigerweise nicht einmal vorlegen.4 Aber auch in anderer Hinsicht kommt dem Nutzenaspekt hier die erste Stelle zu; denn aus ihm erschließt sich erst das richtige Verständnis der anderen drei Aspekte – jedenfalls hat James es so gesehen. Um damit gleich zu beginnen, der Nutzenaspekt durchzieht letztlich das pragmatistische Verständnis des Korrespondenzaspektes. „Letztlich“, weil Pragmatisten wie James in der Regel mit einer recht sparsamen Lesart der Vorstellung, daß Wahrheit Korrespondenz sei, beginnen. James sieht sich gern in der Rolle eines Denkers, der den Commonsense-Gehalt des Korrespondenzaspektes herausstellt und die metaphysische Inflation, die ihn umrankt, eindämmt. Nach Tarski läßt sich dieser minimale Gehalt des Korrespondenzaspektes mit Hilfe des sogenannten W-Schemas angeben: Für jede Aussage P, „P “ ist genau dann wahr, wenn P, oder „P ↔ wahr P “, wie wir im folgenden abkürzen wollen. Pragmatisten stimmen zumindest in dieser Hinsicht mit jedem anderen Theoretiker der Wahrheit überein: ohne W-Schema keine Theorie der Wahrheit. Jede Theorie der Wahrheit, pragmatistische Theorien eingeschlossen, muß in der einen oder anderen Weise dem W-Schema seinen unumgänglichen Respekt zollen. Wenn jedoch Pragmatisten von Korrespondenz sprechen, geben sie dem Begriff eine eigentümliche Färbung. So wird er über das W-Schema hinaus pragmatistisch angereichert. An der eingangs zitierten Stelle deutet James das an, indem er die Schlüsselbegriffe „Korrespondenz“ und „Wirklichkeit“ in Anführungszeichen setzt. Anführungszeichen markieren verdächtige Begriffe, die pragmatistischer Behandlung bedürfen. Sie greifen genau diejenigen Begriffe heraus, über deren richtiges Verständnis „die Wege von Pragmatismus und Intellektualismus sich trennen“ (1907, 212). Denn für James 4 Vgl.
1909, 52 f.
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kann „übereinstimmen“, im weitesten Sinne, mit der Wirklichkeit nur bedeuten, unmittelbar zu ihr oder in ihre Nähe geführt zu werden, oder mit ihr so in eine funktionierende Beziehung versetzt zu werden, daß wir mit ihr besser fertig werden, als wenn wir nicht mit ihr übereinstimmen würden – „besser“ entweder in einem geistigen oder in einem praktischen Sinne! (212 f.)
Für James geben Gegner des Pragmatismus zu rasch der Versuchung nach, Korrespondenz zu einer bloßen Abbildbeziehung zu verkürzen. Die Ansicht ist verbreitet, daß eine wahre Vorstellung die Wirklichkeit abbilden muß. Wie andere verbreitete Ansichten, verallgemeinert sie die gewöhnlichste Art der Erfahrung. Unsere wahren Vorstellungen wahrnehmbarer Gegenstände bilden diese in der Tat ab. Schließen Sie Ihre Augen und denken Sie an jene Wanduhr, und Sie werden einfach ein Abbild ihres Ziffernblatts vor Augen haben. Aber die Vorstellung ihres Werks – es sei denn, Sie sind Uhrmacher – dürfte kaum ein Abbild sein und doch trifft sie zu, denn sie steht in keinem Widerspruch zur Wirklichkeit. Obwohl zum bloßen Wort „Werk“ reduziert, dient das Wort wahrheitsgemäß; und wenn Sie von der ‚Funktion der Zeitmessung‘ einer Uhr sprechen, oder von der ‚Elastizität‘ ihrer Federn, wird es schwierig zu erkennen, was genau diese Vorstellungen abbilden. Sie sehen, daß es hier ein Problem gibt. Was soll Übereinstimmung mit einem Gegenstand bedeuten im Falle von Vorstellungen, die ihre Gegenstände genaugenommen gar nicht abbilden können? (1907, 199)
Wenn Wahrheit wesentlich Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist, aber Übereinstimmung in vielfältiger Weise realisiert sein kann, dann ist folglich auch Wahrheit ein vielgestaltiges Phänomen. Der gemeinsame Nenner all dieser Realisierungen von Wahrheit ist ihre funktionale Rolle, welche James manchmal, ein wenig polemisierend, als ihren ‚Gebrauchswert‘, im weitesten Sinne, beschreibt: die Tatsache, daß sie sich in nützlicher Weise in den Erfahrungsverlauf einfügen. Wenden wir uns nun dem Begriff der Bewahrheitung (Verifikation) zu. Dieser Begriff hat durch seine zentrale Rolle in der Philosophie des Logischen Empirismus eine sehr spezifische Bedeutung angenommen. Es ist jedoch keinesfalls offensichtlich, in welchem Sinne, und ob überhaupt, James’ Theorie die Art von Verifikationismus vorwegnimmt, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weite Verbreitung gefunden hat. Aus James’ Schriften geht jedenfalls deutlich hervor, daß er die Verifizierbarkeit der Wahrheit nicht als zusätzliche Bedingung einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit sah. Vielmehr folgt für James diese These direkt aus seiner Lesart des Korrespondenzaspekts der Wahrheit. Wenn wir, in pragmatistischer Weise, fragen, was es bedeutet, eine bestimmte Aussage zu bewahrheiten, dann werden wir auf ihre praktischen Kon-
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sequenzen – wiederum im weitesten Sinne – verwiesen. Und wenn wir weiter fragen, welche Konsequenzen die fragliche Aussage bewahrheiten, dann ist es schwierig eine Wendung zu finden, die diese Konsequenzen besser beschreibt als die schlichte Rede von Korrespondenz – es sind genau diese Konsequenzen, die wir im Sinn haben, wenn wir sagen, daß unsere Vorstellungen mit der Wirklichkeit ‚übereinstimmen‘. (1907, 201)
Wahr sein, mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sich bewahrheiten – in James’ pragmatistischem Idiom sind dies verschiedene Bezeichnungen für die gleiche funktionale Eigenschaft, die er auch mit „Gebrauchswert“ umschreibt. Der Verifikationsaspekt ist so gesehen nichts anderes als der Korrespondenzaspekt mit nur wenig verschobenem Akzent. Und der Korrespondenzaspekt der Wahrheit, soweit er über die bloße Bestätigung des W-Schemas hinausgeht, versteht sich aus einer Auffassung von Korrespondenz, die wesentlich von dem Nützlichkeitsaspekt der Wahrheit diktiert ist. In diesem Sinne hat Russell James sehr wohl verstanden, als er seine kritische Aufmerksamkeit auf die Auffassung von Wahrheit als Nützlichkeit gelenkt hat. (Nur hat er den James’schen Begriff des Nutzens absurd eng gelesen.) Nach jedem gewöhnlichen Verständnis von „Nutzen“ oder verwandten Begriffen ist etwas mehr oder weniger nützlich. Ferner scheint Nutzen in mindestens zweifacher Weise relativ zu sein: Etwas ist für einen bestimmten Zweck mehr oder weniger von Nutzen als etwas bestimmtes anderes. Sobald die Zwecke sich ändern, ändert sich der Nutzwert der Dinge. Was jetzt nützlich ist, mag bald nutzlos werden. Selbst wenn unsere Zwecke sich nicht ändern, mag etwas seinen Nutzen verlieren, sobald nützlichere Mittel zur Verfolgung der gesetzten Zwecke verfügbar werden. Wiederum also mag etwas jetzt Nützliches bald seinen Nutzen verlieren. Wer andere Zwecke als ich verfolgt oder wer über andere Mittel als ich zur Verfolgung derselben Zwecke verfügt, der wird anderes für nützlich halten als ich. Wahrheit, so scheint es jedoch, ist im Gegensatz zu Nützlichkeit nicht in dieser Weise relativ. James ist sich der Tatsache durchaus bewußt, daß ohne weitere Erklärungen und Bedingungen der Begriff der Nützlichkeit zu einer Indexikalität neigt, die ihn vom Begriff der Wahrheit deutlich unterscheiden muß. Durch zwei Überlegungen versucht James diesem Einwand zu begegnen. Die erste dieser Überlegungen ist naheliegend und für sich allein sicher nicht ausreichend. James besteht darauf, daß „Nutzen“ nicht in grotesk enger Weise gelesen werden dürfe. Wollte man für „Nutzen“ einen Eintrag in einem Synonymielexikon zusammenstellen, würde man kaum eine Wendung finden, die bei James nicht vorkommt. James qualifiziert diese Wendungen immer wieder durch die nachgestellte Bestimmung „im weitesten Sinne“. Eben weil Wahrheit für James so vielgestaltig ist, glaubt er, daß sich mehr über dieses ‚weite Feld‘ nicht sagen ließe.
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James’ zweiter Zug besteht darin, eine Absolutheitsbedingung für den Begriff der Wahrheit zu formulieren, um sodann zu zeigen, daß eine pragmatistische Theorie der Wahrheit diese Bedingung erfüllen kann. Es handelt sich um die Bedingung, daß wenn eine Aussage zu einem Zeitpunkt wahr ist, dann ist sie zu jedem Zeitpunkt wahr. Nun gibt es hier ein offensichtliches Problem. Eine Aussage zu akzeptieren, hat bestimmte Folgen – nützliche oder andere – zu einem Zeitpunkt und mag andere Folgen zu einem anderen Zeitpunkt haben. Diese Folgen hängen unter anderem davon ab, welche anderen Aussagen ebenfalls akzeptiert werden. Ferner werden Aussagen angenommen, geprüft, bestätigt und bewahrheitet vor dem Hintergrund verfügbarer Evidenz. Aber diese Evidenzbasis kann sich von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort ändern. Wenn also wahre Aussagen solche sind, die wir uns ‚aneignen, prüfen, bestätigen und bewahrheiten‘ können, wie James schreibt, dann kann Wahrheit nicht in dem geforderten Sinne absolut sein. Es stellt sich heraus, daß dieses Problem als ein bloß terminologisches gesehen werden kann. James verstrickt sich unglücklicherweise in einen Gebrauch des Wortes „wahr“, der die Bedingung der Absolutheit nicht erfüllen kann. Sein Ausweg besteht nun darin, diesen Gebrauch des Wortes zeitweise auszusetzen und einen Gebrauch in einem ‚höheren‘, eben absoluten Sinne einzuführen. Wahrheit in diesem höheren Sinne – ‚absolute Wahrheit‘, wie James sie manchmal nennt – genügt der Absolutheitsbedingung. Um den wesentlichen Nexus mit dem Verifikationsaspekt nicht zu verlieren, argumentiert James, daß absolute Wahrheit sich aus ‚gemeiner‘ Wahrheit in einem bestimmten Sinne konstruieren läßt. Die gemeine Wahrheit ist gewissermaßen Wahrheit für den alltäglichen Gebrauch. Dagegen ist die absolute Wahrheit aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der vollkommene Weise oder die absolut vollständige Erfahrung. Sollten diese Ideale jemals verwirklicht werden, so werden sie nur zugleich verwirklicht sein können. Derweil müssen wir heute mit dem leben, was heute an Wahrheit für uns erreichbar ist, und bereit sein, es morgen für falsch zu erkennen. (1907, 223)
Das Problem der Herleitung ewiger aus alltäglicher Erfahrung ist der Ort, an dem der Begriff der Konvergenz in James’ Theorie der Wahrheit tritt. Im weiteren werde ich nun das Wort wahr in James’ absolutem Sinn von Wahrheit verwenden. Und eine Aussage soll berechtigt in einer bestimmten Evidenzsituation heißen, wenn James sagen würde, daß die Annahme der entsprechenden Überzeugung in jener Situation nützlich wäre oder sich auszahlen würde. Obgleich wir uns gleich um eine gewisse Klärung des Begriffes der Berechtigung
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bemühen werden, kann eine bloß terminologische Festsetzung wie diese natürlich nichts zur Klärung der Nutzenmetapher beitragen. Sie soll hier denn auch nur dazu dienen, einen terminologischen und ansonsten bedeutungslosen Stolperstein für die Diskussion der James’schen Theorie aus dem Weg zu räumen.
3. Absolutheit und Beharrlichkeit James’ Herleitung von Wahrheit aus Berechtigung findet sich am deutlichsten ausgeführt in dem letzten Beitrag zu seiner Essaysammlung The Meaning of Truth. Obwohl der Titel des Beitrags, „A Dialogue“, zumindest eine gefälligere Form anzudeuten scheint, handelt es sich tatsächlich um eines der anspruchsvollsten, in gewisser Weise ‚technischen‘ Stücke in diesem Band. Der Dialog bemüht sich darum, „einen letzten Vorbehalt meines Lesers, der ihn vielleicht immer noch von völliger Überzeugung zurückhält“ (154), zu zerstreuen. Der noch nicht überzeugte Leser, den James hier im Sinn hat, ist vermutlich Josiah Royce; denn die fehlende Überzeugung rührt aus einem Einwand, den Royce gegen James vorgebracht hatte. Sogar sympathisierende Kommentatoren der James’schen Theorie, wie Hilary Putnam, halten diesen Einwand für „niederschmetternd“ (1997, 182); er zeige, daß James’ Theorie der Wahrheit tatsächlich „eine völlig verunglückte Theorie“ sei (183). In dem Einwand geht es um Aussagen über vergangene Ereignisse, die keine Evidenzspuren hinterlassen haben. James’ Gegner in dem Dialog erwähnt als Beispiele Ereignisse der „voreiszeitlichen Erdgeschichte“ (154). Sei P irgendeine Aussage dieser Art. Der Anti-Pragmatist stellt das folgende Dilemma auf. Entweder wird zugegeben, daß P einen bestimmten Wahrheitswert hat. In diesem Fall kann dieser Wahrheitswert durch Nachforschung weder jetzt noch in Zukunft bestimmt werden. Denn Nachforschung ist auf Evidenz angewiesen, und diese kann es nach unserer Annahme weder jetzt noch in Zukunft geben. Sollte die Aussage P also wahr sein, dann kann ihre Wahrheit nicht darin bestehen, daß wir aufgrund von Nachforschung berechtigt sind, P zu behaupten – es gibt und wird nichts geben, das uns dazu berechtigen kann. Oder aber, um uns dem anderen Horn des Dilemmas zuzwenden, wir bestreiten, daß im angenommenen Fall P wahr oder falsch ist. Man könnte etwa behaupten, daß Aussagen, für oder gegen die es keine Evidenz (mehr) geben kann, gar nicht wahrheitsfähig sind. Diese Option weist James jedoch sofort zurück, und so beschränkt sich die weitere Diskussion auf das erste Horn des Dilemmas.5 Der Anti-Pragmatist eröffnet die Diskussion mit der Frage: 5 Hook erörtert in seiner kleinen Monographie über John Dewey (1939, pp. 83–86) genau dieses Dilemma in einigem Detail und läßt Dewey das zweite Horn ergreifen.
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„Wollen Sie behaupten, daß es eine Wahrheit auch in solchen Fällen gibt, in denen wir sie niemals kennen werden?“ [290]
Der Pragmatist antwortet: „Jawohl, das will ich – vorausgesetzt, Sie erlauben mir dabei konsistenterweise, an meinem eigenen Wahrheitsbegriff festzuhalten, und bitten mich nicht, ihn aufzugeben zugunsten von etwas, welches zu verstehen ich für unmöglich halte.“ [290]
Dieser kurze Austausch gibt den Rahmen ab für das nun folgende Argument. Kurz gesagt, argumentiert James, daß es kein Gegenbeispiel zu der These (Ew)
P ↔ wahr P
geben kann, solange es dem Anti-Pragmatisten nicht gelingt, den Pragmatisten zur Annahme eines rivalisierenden Wahrheitsbegriffs zu bringen. Es möge true für solch einen rivalisierenden Wahrheitsbegriff stehen, der nicht wesentlich an (im Prinzip verfügbare) Evidenz gebunden ist. Da true ein Wahrheitsprädikat sein soll, gilt das Wahrheitsschema (Et) P ↔ true P. Somit behauptet der Anti-Pragmatist, daß ein Gegenbeispiel zu (Ew) zugleich eines zu (Etw)
true P ↔ true wahr P
ist. James besteht jedoch darauf, diese Auseinandersetzung unter Verwendung seines eigenen Wahrheitsbegriffs führen zu dürfen. Er bestreitet daher, daß die entscheidende Frage die Gültigkeit von (Etw) betrifft. Die eigentliche Frage, so James, ist, ob die Äquivalenz (Eww) wahr P ↔ wahr wahr P zutrifft. Da James ein Argument für (Ew) vorlegt, ergibt sich aus diesem Argument die Äquivalenz (Eww) unmittelbar. Solange es also dem Anti-Pragmatisten nicht gelingt zu zeigen, daß true ein Wahrheitsprädikat ist, welches potentiell von wahr abweicht, wird er kein Gegenbeispiel zum Wahrheitsschema für pragmatische Wahrheit angeben können. So liegt es durchaus in der Logik dieser Auseinandersetzung, daß James einen großen Teil des Dialoges dem Ziel widmet zu zeigen, daß nicht-pragmatische truth entweder ‚unverständlich‘ ist oder mit Wahrheit im Sinne von James übereinstimmt. ∗∗∗
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Um James’ Strategie zu erläutern, möge folgende Analogie dienen. Angenommen, wir befinden uns in einer Höhle und möchten die Wahrheit herausfinden über Ereignisse außerhalb der Höhle. Um die Wahrheit herauszufinden, so nehmen wir weiter an, gibt es keine andere Möglichkeit, als sich einem Orakel anzuvertrauen. (Im Rahmen dieser Analogie möge „Wahrheit“ nicht im pragmatischen, sondern in einem unspezifischen, ‚neutralen‘ Sinne verstanden werden.) Alle stimmen überein, daß, was immer Wahrheit letztlich sein möge, das grundlegende Schema (E) P ↔ wahr P erfüllt sein muß. Nehmen wir nun an, daß jemand, W, ein Kandidat für ein zuverlässiges Orakel ist: (EW) P ↔ WP. Gegeben (E), ist (EW) äquivalent zu (EW*) wahr P ↔ wahr WP. Wie ließe sich ein überzeugendes Gegenbeispiel zu (EW*) (und also zu (EW)) angeben? Da wir angenommen haben, daß innerhalb der Höhle Zugang zur Wahrheit über Vorgänge außerhalb der Höhle nur über ein Orakel möglich ist, müßten wir ein Orakel X finden, welches die Äquivalenz (EXW) XP ↔ XWP falsifiziert. W selbst mag ein solches Orakel sein. Aber nehmen wir an, daß W seine Kandidatur aufrechterhalten kann, indem er die Bedingung (EXW), d.h., (EWW) WP ↔ WWP, erfüllt. In diesem Fall kann ein überzeugendes Gegenbeispiel nur von einem besseren Orakel herrühren, welches mit W konkurriert. Das bedeutet, daß der Anspruch (EW) solange unangefochten besteht, als kein konkurrierendes Orakel mit dem Anspruch auf Zuverlässigkeit, d.h., (EX)
P ↔ XP,
auftritt, das von W über die Wahrheit von mindestens einer Aussage abweicht. Die Aufgabe von W ist es, (EW) plausibel zu machen und zu zeigen, daß es die Bedingung (EWW) erfüllt. Solange kein deutlich besserer Mitbewerber auftritt, ist dies alles, was W tun muß und tun kann, um seinen Anspruch aufrechtzuerhalten.
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Dieses Höhlengleichnis läßt sich ohne weiteres auf unseren Fall übertragen. Interpretieren wir (EW/Ew) als den Anspruch des Pragmatisten, ein Wahrheitsprädikat vorgestellt zu haben, dann wird dieser Anspruch solange unwiderlegt bleiben, wie (1) (EWW/Eww) erfüllt ist, (2) niemand ein verständliches Prädikat X anbietet, welches das grundlegende Schema für X, d. h. (EX), erfüllt, und (3) dieses Prädikat X nicht in mindestens einem Fall vom pragmatistischen Wahrheitsprädikat abweicht. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann ist der Anspruch des Pragmatisten, die wahre Theorie der Wahrheit gefunden zu haben, genau so stark wie sein Argument für (Ew). ∗∗∗ Wenden wir uns nun James’ positivem Argument für die These zu, daß das Wahrheitsschema (Ew) für pragmatische Wahrheit gültig ist. Bevor James dieses Argument präsentiert, läßt er seinen Zwischenredner noch einmal den offenbar gewichtigsten Einwand gegen den pragmatistischen Begriff der Wahrheit vorbringen. Der Einwand lautet: Der Sachverhalt, daß P, muß dem Sachverhalt, daß P gewußt wird, vorangehen. Aber der letztere Sachverhalt mag niemals realisiert werden; im zur Diskussion stehenden Fall bleibt er per Annahme aus. Also, so schließt James’ Gegner, haben wir es mit einer Verletzung des Wahrheitsschemas zu tun: P ist der Fall, aber P ist nicht wahr im pragmatistischen Sinne. James antwortet wie folgt: Die Wahrheit eines Ereignisses, mag es vergangen, gegenwärtig oder zukünftig sein, ist für mich nur eine andere Bezeichnung für den Umstand, daß, wenn von dem Ereignis jemals tatsächlich gewußt werden sollte, dann die Art dieses Wissens in einem bestimmten Maß bereits vorherbestimmt ist. Die Wahrheit, die dem aktualen Wissen einer Tatsache vorhergeht, bezeichnet nur dasjenige, was jeder, der von der Tatsache wissen kann, letztlich genötigt ist darüber zu glauben. Mir scheint, daß man mehr verständlicherweise nicht meinen kann, wenn man sagt, daß die Wahrheit dem Wissen vorausgeht. Es handelt sich lediglich um vorweggenommenes Wissen, um Wissen in der Form der Möglichkeit. (157 f.)
Denkt man sich Wahrheit und Wissen auf die James’sche Weise verknüpft, dann ist Wissen vorstellbar, wo immer Wahrheit vorstellbar ist, Wissen möglich, wo immer Wahrheit möglich, Wissen aktual, wo immer Wahrheit aktual ist. Richten Sie also Ihr erstes Horn auf mich, dann denke ich an aktuale Wahrheit und sage, daß es sie nicht gibt. Es gibt sie nicht; denn wir haben angenommen, es gebe keinen Wissenden, keine Idee, kein Funktionieren. Ich stimme jedoch zu, daß es mögliche oder virtuelle Wahrheit geben mag, denn
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ein Wissenssubjekt mag sich möglicherweise in der Welt befinden; und vorstellbare Wahrheit gibt es sicherlich, denn, allgemein betrachtet, liegt nichts im Wesen voreiszeitlicher Ereignisse, das die Anwendung von Wissen auf sie unvorstellbar macht. (158)
Dieser Passus gibt uns schließlich die noch fehlenden Teile in die Hand, die nötig sind, um James’ Vorstellung von pragmatischer (absoluter) Wahrheit auszubuchstabieren. Nach dieser Vorstellung ist eine Aussage P genau dann wahr, falls eine Evidenzsituation möglich ist, die die Annahme von P rechtfertigen würde, und falls weitere Evidenz bezüglich P die Annahme, daß P, weiterhin rechtfertigen würde. Absolute Wahrheit ist, in diesem Sinne, potentiell fortdauernde Behauptbarkeit vor dem Hintergrund möglicher Evidenz. Für James besteht die Absolutheit der Wahrheit in ihrer Beharrlichkeit: in der Beharrlichkeit, mit der sie behauptet werden kann. Es ist hier wichtig, den Bereich möglicher Evidenzsituationen, die einem untersuchenden Subjekt zugänglich sein können, richtig einzugrenzen. James denkt hier nicht an Zeitmaschinen-Fiktionen oder ähnliches. Er weist lediglich darauf hin, daß der bloße Begriff eines vergangenen Ereignisses nicht die Möglichkeit ausschließt, daß Evidenz für das Vorliegen eines solchen Ereignisses kein Gegenstand von Wissen sein kann. Wem solche Evidenz zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Hand gegeben wäre, der würde sich in einem Glaubenszustand finden, der die Annahme, daß P, rechtfertigen würde. Und falls diese Evidenz daraufhin und auf lange Sicht weder verlorenginge noch durch andere Evidenz unterminiert würde, dann darf P für ‚absolut wahr‘ gelten. Wir wollen hier deutlich festhalten, welches die Annahmen sind, die es James’ Theorie der Wahrheit erlauben, dem oben genannten Dilemma zu entkommen, insbesondere dem Horn, das eine Verletzung des Wahrheitsschemas, von links nach rechts, feststellen möchte: wenn P, dann ist P wahr. James geht, erstens, von der Annahme aus, daß (A) jede Tatsache P ein möglicher Gegenstand des Wissens ist, und er glaubt, zweitens, aus seiner Wahrheitsdefinition folgern zu dürfen, daß (B) P wahr ist, wenn P gewußt werden kann. Beides zusammengenommen schließt die Möglichkeit einer Verletzung des Wahrheitsschemas, von links nach rechts, aus. Denn gesetzt P, so folgt nach (A), daß P gewußt werden kann, und nach (B) folgt unmittelbar, daß P in diesem Fall wahr ist. Für die umgekehrte Richtung – wenn P wahr ist, dann P – genügt es, die Konsistenz des Wahrheitsbegriffs anzunehmen, d. h.
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(C) wenn P wahr ist, dann ist nicht-P nicht wahr. Denn falls P wahr ist, dann ist nach (C) nicht-P nicht wahr. Also kann, nach (B), nicht-P nicht gewußt werden. Daher kann, nach (A), der durch „nicht-P “ bezeichnete Sachverhalt nicht vorliegen, was nichts anderes bedeutet, als daß P der Fall ist.
4. Wahrheit und stabile Behauptbarkeit Wer mit Crispin Wright’s Begriff der stabilen Behauptbarkeit (superassertibility) vertraut ist, wird soeben ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt haben.6 Stabile Behauptbarkeit ist, nach Wright, die Eigenschaft, gerechtfertigt zu sein durch einen (im Prinzip zugänglichen) Informationsstand und dann gerechtfertigt zu bleiben, gleichgültig wie dieser Informationsstand wächst oder verbessert wird. (2001, 771) Eine Aussage ist genau dann stabil behauptbar, wenn jemand, der den Fall in der Welt, so wie sie aktual ist, untersuchen würde, zu einem Informationsstand gelangen könnte, in dem ihre Behauptung gerechtfertigt wäre, und diese Rechtfertigung fortdauern würde, gleichgültig welche weitere relevante Information hinzugewonnen werden würde. (1998, 62) Eine Behauptung ist dann und nur dann stabil, wenn sie gerechtfertigt ist oder gerechtfertigt werden kann und zumindest ein Teil der rechtfertigenden Gründe jede nähere Untersuchung ihrer Herkunft und jede beliebige Erweiterung oder anderweitige Verbesserung unseres Wissens überleben würde. (2001, 771)
Im vorhergehenden Abschnitt haben wir gesehen, daß der Begriff der stabilen Behauptbarkeit James’ Theorie der Wahrheit nicht bloß vage anklingen läßt; stabile Behauptbarkeit ist exakt das, was James im Sinne hat, wenn er von absoluter Wahrheit spricht. Sogar James’ Argumentationsstrategie, wenn mit angeblichen Gegenbeispielen konfrontiert, entspricht genau derjenigen, die Wright verfolgt, wenn er stabile Behauptbarkeit als einen Kandidaten für die Rolle des Wahrheitsprädikats in einem bestimmten Bereich vorschlägt. Das ist ein deutlicher Beleg für die ungebrochene Aktualität der James’schen Wahrheitstheorie – nicht etwa in dem vagen und unverbindlichen Sinne, in dem man ohne Irrtumsgefahr etwa behauptet, einige ‚Grundgedanken‘ seiner Theorie inspirierten immer noch die gegenwärtige Diskussion, sondern in dem präzisen und substantiellen Sinne, in dem es um die Details und die genaue Ausarbeitung der Theorie geht. Natürlich gibt es auch einige wichtige Unterschiede zwischen den Auffassungen von James und Wright. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß stabile 6 Vgl.
Wright 1992; 1998; 2001.
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Behauptbarkeit nur dort ein Kandidat für die Wahrheitsrolle sein kann, wo die ‚Wißbarkeitsbedingung‘ erfüllt ist: Jede Wahrheit muß prinzipiell gewußt werden können. James nimmt an, daß jeder Diskursbereich in diesem Sinne epistemisch vollständig zugänglich ist; Wright enthält sich dieser Annahme. Für James ist Wahrheit immer stabile Behauptbarkeit. Für Wright kann stabile Behauptbarkeit die Wahrheitsrolle zumindest in einigen Bereichen spielen; in anderen Bereichen mögen andere Eigenschaften diese Rolle besser übernehmen. Dies ist sicherlich ein erster wichtiger Unterschied. Ein zweiter Unterschied ist vielleicht eher gradueller Natur. Wright weist ausdrücklich darauf hin, daß sich der Anspruch stabiler Behauptbarkeit auf die Wahrheitsrolle auf recht abstrakte, um nicht zu sagen formale, Überlegungen gründet. In James’ Schriften über Wahrheit wird dieser Aspekt mehr oder weniger dadurch verdeckt, daß James zugleich substantielle Thesen über Schlüsselbegriffe wie Überzeugung und Wissen, Gründe und Rechtfertigung einbringt. Bis zu einem gewissen Punkt sind viele dieser substantiellen Thesen jedoch unnötig, jedenfalls soweit es lediglich um den Wahrheitsbegriff geht. Drittens, schließlich, nimmt James sich keine Zeit, um zu zeigen, daß sein Wahrheitsbegriff die wichtige Bedingung (Eww) wahr P ↔ wahr wahr P erfüllt. Er tut dies nicht, weil er es vorzieht, unmittelbar die Erfüllung der stärkeren Bedingung (Ew)
P ↔ wahr P
nachzuweisen. Aber für den anzunehmenden Fall, daß wir nicht gleich Einigkeit über (Ew) erzielen können, ist die Beobachtung wichtig, daß, gleichgültig wie stark die positiven Gründe für (Ew) sein mögen, die Frage, ob Gegenbeispiele zu (Ew) legitimerweise abgewiesen werden können, äquivalent ist zu der Frage, ob die Bedingung (Eww) erfüllt ist. Im Gegensatz zu James behandelt Wright dieses Problem und bietet ein Argument für (Eww) an. Das Argument ist im Anhang ausführlich dargestellt. Es beruht auf einigen Prinzipien, den Begriff der stabilen Rechtfertigung betreffend. Diese Prinzipien sind mehr oder weniger offensichtlich. Lediglich das folgende bedarf einer etwas eingehenderen Erörterung: Wenn ein Überzeugungszustand K die Überzeugung, daß P, rechtfertigt, dann rechtfertigt K die Überzeugung, daß P bestätigt wird, sobald neue Evidenz bezüglich P verfügbar wird. Das Prinzip besagt: Rechtfertigt nichts die Erwartung, daß P bei der nächsten Gelegenheit, meine Evidenz bezüglich P zu prüfen oder zu erweitern, bestätigt
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wird, dann kann P auch jetzt nicht als gerechtfertigt gelten. Das Prinzip schließt nicht die Behauptung ein, daß Rechtfertigung unerschütterlich sein muß. Es fordert nur, daß Rechtfertigung Anlaß zu einer gewissen Zuversicht geben muß. Nehmen wir zum Beispiel an, daß ich gute Gründe für die Überzeugung habe, daß heute ein sonniger Tag sei. Diese Überzeugung mag sich schon beim nächsten Blick aus dem Fenster als falsch herausstellen. Das Prinzip verlangt von mir, daß mich diese gegenteilige Evidenz überrascht. Wäre es anders, könnte ich meine vorherige Überzeugung schon vor dem Blick aus dem Fenster nicht wirklich gerechtfertigt nennen. Vor dem Hintergrund dieser und einiger weiterer Annahmen folgt die gewünschte Implikation logisch zwingend, und so erfüllt der pragmatische Wahrheitsbegriff die wichtige Äquivalenz (Eww).
5. Anhang: Wrights Lemma Wir bieten zunächst einen Beschreibungsrahmen für den Nachweis der Äquivalenz (Eww) an. Dieser Rahmen soll den abstrakten Charakter von James’ Wahrheitstheorie deutlich machen. Der Beweis geht von etwas schwächeren Annahmen aus, als sie von Wright gemacht werden. Unseren Überlegungen liegen vier Arten von Gegenständen zugrunde. Wir nehmen als gegeben an, erstens, eine Menge von Überzeugungszuständen (H, I, K, . . . ), zweitens, Überzeugungen (P , Q, . . . ) und, drittens, eine Beziehung der Rechtfertigung (⇒) zwischen Überzeugungszuständen und Überzeugungen. Wir nehmen an, daß die Rechtfertigungsrelation (zumindest linksseitig) verschachtelt werden kann, d. h. wir wollen ausdrücken können, daß ein Zustand I die Überzeugung rechtfertigt, daß ein Zustand K die Überzeugung P rechtfertigt – kurz: (∗)
I ⇒ (K ⇒ P ).
Tatsächlich machen wir oft und unproblematischen Gebrauch von einer solchen iterierbaren Rechtfertigungsrelation. Eine naheliegende Lesart von K ⇒ P ist: „K enthält Information, welche die Überzeugung, daß P, begründet.“ Wenn ich z.B. den zuverlässigen Zeugen Karl höre, wie er seiner Überzeugung, daß P, Ausdruck gibt, dann darf ich davon ausgehen, daß sein Überzeugungszustand K die Überzeugung, daß P, begründet, d.h. K ⇒ P. Damit ist mein eigener Überzeugungszustand I derart, daß er seinerseits die Überzeugung K ⇒ P begründet, kurz (∗).7 7 Der Ausdruck „I ⇒“ verhält sich in dieser Hinsicht wie ein monadischer Satzoperator. Tatsächlich werden wir unten einige der Prinzipien benutzen, die man typischerweise mit epistemisch interpretierten Modallogiken assoziiert.
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Überzeugungszustände können, viertens, in bestimmmter Weise angeordnet sein. Befinden wir uns in einem bestimmten Zustand K, dann kann uns neue Evidenz dazu bewegen, in einen Zustand I zu wechseln, welchem wiederum ein weiterer Zustand H folgen mag. Auf diese Weise entstehen Pfade im Bereich der Überzeugungszustände, die mögliche Überzeugungsentwicklungen in Reaktion auf angebotene Evidenz darstellen. Im allgemeinen läßt natürlich das Fortschreiten von einem Überzeugungszustand zu einem anderen den Rechtfertigungsstatus von Überzeugungen nicht unangetastet. Bestehende Rechtfertigungen können zerstört, neue können erzeugt werden. Wenn wir uns auf einem Pfad ausgehend von K bewegen und der Übergang zu H der erste ist, der den Rechtfertigungsstatus von P (negativ oder positiv) affiziert, dann wollen wir sagen, daß dieser Übergang erstmalig P -affizierend ist. Dafür schreiben wir: K ≺P H. Für den transitiven Abschluß jeder dieser Relationen ≺P schreiben wir ≺∗P .8 Wir wollen nun sagen, daß ein Überzeugungszustand I eine Überzeugung P genau dann stabil rechtfertigt (Notation: I ⇒s P ), wenn (a) I ⇒ P, und (b) für alle K mit I ≺∗P K gilt: K ⇒ P. Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn es einen im Prinzip zugänglichen Überzeugungszustand gibt, der die entsprechende Überzeugung stabil rechtfertigt. L EMMA 1 Sei K ein Überzeugungszustand. Wenn I ⇒ P und I ⇒ Q für beliebige I äquivalent sind, dann sind auch K ⇒s P und K ⇒s Q äquivalent. B EWEIS Man mache die Annahme und setze K ⇒s P. Dann (a) K ⇒ P, und (b) für alle H mit K ≺∗P H gilt H ⇒ P. Nach Annahme rechtfertigt ein Zustand P gdw. er Q rechtfertigt. Also (a0 ) K ⇒ Q, und (b0 ) für alle H mit K ≺∗P H gilt H ⇒ Q, d. h. K ⇒s Q. KOROLLAR 1 Sei K ein Überzeugungszustand. Wenn I ⇒ P und I ⇒ (I ⇒s P ) für beliebige I äquivalent sind, dann gilt (Ess)
K ⇒s P
gdw. K ⇒s (K ⇒s P ).
B EWEIS Man setze K ⇒s P für Q in Lemma 1 ein. 8 Transitiver Abschluß: I ≺∗ K gdw. ∃H , . . . , H (für n ∈ N) so, daß I ≺ H ≺ · · · ≺ n 1 1 P P P P Hn ≺P K.
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Für den Beweis von (Eww) werden fünf Prinzipien benötigt. Diese schränken gleichzeitig den Begriff eines Überzeugungszustands und die Beziehungen der Rechtfertigung und des Evidenzzuwachses ein. Die Prinzipien sind naturgemäß recht allgemein gehalten. Soweit hier konkretere Vorstellungen mitschwingen mögen, werden diese harmlos, vielleicht sogar heuristisch hilfreich, in keinem Fall jedoch für das Gelingen des Argumentes nötig sein. F ÜNF P RINZIPIEN (P1) Wenn I ⇒ P und Q aus P folgt, dann I ⇒ Q. (P2) Wenn I ⇒ (I ⇒ P ), dann I ⇒ P. (P3) Wenn I ⇒ P, dann I ⇒ (I ⇒ P ). (P4) Wenn I ≺P K und I ⇒ P, dann I ⇒ (K ⇒ P ). (P5) Wenn I ≺∗P K und I ⇒ (K ⇒ P ), dann I ⇒ P. Von diesen Prinzipien geben die letzten zwei vielleicht Anlaß zu Bedenken. Angenommen man hat gegenwärtig guten Grund zu glauben, daß P. Dann hat man, nach (P4), gegenwärtig ebenfalls guten Grund anzunehmen, daß, sollte man jetzt die Überzeugung, daß P, überprüfen, der jetzt zu erwartende Evidenzzuwachs bezüglich P diese Überzeugung nur bestätigen würde. Was (P5) angeht, so nehme man an, daß man begründet davon überzeugt ist, daß jede zukünftig zugängliche Evidenz bezüglich P die Überzeugung, daß P, rechtfertigen wird. Dann, so (P5), ist diese Tatsache schon jetzt ein Rechtfertigungsgrund für P. L EMMA 2 Für alle Überzeugungszustände I gilt: I ⇒ P gdw. I ⇒ (I ⇒s P ). B EWEIS Von rechts nach links. Wir nehmen an, daß I ⇒ (I ⇒s P ). Da stabile Rechtfertigung einfache Rechtfertigung einschließt, folgt aufgrund von (P1): I ⇒ (I ⇒ P ). Also, nach (P2), I ⇒ P . Von links nach rechts. Man nehme an, daß (1)
I ⇒ P.
Es folgt aufgrund von (P3), daß I ⇒ (I ⇒ P ). So bleibt zu zeigen: (∗)
wenn I ≺∗P K, dann I ⇒ (K ⇒ P ).
Wenn I ≺∗P K, dann ist K das letzte Element in einer endlichen Kette H0 , . . . , Hn
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mit Anfangsglied H0 = I, und für jedes Glied i ∈ {0, . . . , n} gilt: Hi ≺P Hi+1 .
(2)
Wir wollen mit I ≺nP K ausdrücken, daß K von I ausgehend in n P -affizierenden Übergängen erreicht werden kann.9 Wir beweisen (∗) durch Induktion über die Länge n der Kette P -affizierender Übergänge. Für die Induktionsbasis, I ≺1P K, stellen wir fest, daß (2) durch I ≺P K instanziiert wird, worauf wir aus (1) aufgrund von (P4) schließen können, daß I ⇒ (K ⇒ P ). Die Induktionshypothese lautet nun: wenn I ≺kP K, dann I ⇒ (K ⇒ P ).
I.H.
Nehmen wir nun an, daß I ≺k+1 K. Dann gibt es ein K 0, für welches gilt, daß P k 0 I ≺P K ≺P K. So folgt aus der I.H., daß I ⇒ (K 0 ⇒ P ).
(3)
Aber da K 0 ⇒ P und K 0 ≺P K, so gilt nach (P4): K 0 ⇒ (K ⇒ P ). Also folgt aus (3) nach dem Abschlußprinzip (P2), daß I ⇒ K 0 ⇒ (K ⇒ P ) . Darauf wenden wir das Reduktionsprinzip (P5) an, um, wie gewünscht, I ⇒ (K ⇒ P ) zu erhalten. Aus diesem Resultat, zusammen mit dem Korollar zum vorigen Lemma, folgt: W RIGHTS L EMMA Für jeden Überzeugungszustand K und jede beliebige Überzeugung P gilt: (Ess)
K ⇒s P
gdw. K ⇒s (K ⇒s P ).
Aus (Ess) und der oben gegebenen Definition der Wahrheit folgt unmittelbar das zu zeigende Prinzip (Eww) wahr P ↔ wahr wahr P. 9 Transitiver Abschluß bis zum n-ten Übergang: für alle n ∈ N gilt: I ≺n K gdw. ∃H , . . . , H n 1 P mit I ≺P H1 ≺P · · · ≺P Hn−1 ≺P K.
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Tatsächlich ist (Ess) logisch ein wenig stärker als nötig. Denn für unsere Definition von wahr verlangt (Eww) lediglich, daß ∃H : H ⇒s P
gdw. ∃I : I ⇒s (∃K : K ⇒ s P )
gültig ist. Daß H = I = K, ist eine unnötig starke Zusatzannahme. Diese Beobachtung lädt die Frage ein, ob die Annahme des Lemmas in philosophisch bedeutsamer Weise abgeschwächt werden kann.
Literaturverzeichnis Hook, S. (1939). John Dewey: An Intellectual Portrait. New York: John Day. James, W. (1907). Pragmatism. New York: Longmans, Green and Co. James, W. (1909). The Meaning of Truth. New York: Longmans, Green and Co. Plantinga, A. (1982). How to be an anti-realist. Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 56, 47–70. Putnam, H. (1997). James’s theory of truth. In R. A. Putnam (Ed.), The Cambridge Companion to William James, pp. 166–85. Cambridge: Cambridge University Press. Wright, C. (1992). Truth and Objectivity. Harvard: Harvard University Press. Wright, C. (1998). Truth: A traditional debate revisited. Canadian Journal of Philosophy 24, 31–74. Wright, C. (2001). Minimalism, deflationism, pragmatism, pluralism. In M. Lynch (Ed.), The Nature of Truth, pp. 751–87. Cambridge (Mass.): MIT Press.
Cheryl Misak
Naturalisierung der Wahrheit: Pragmatismus und Deflationismus1 1. Einleitung Wenn Philosophen sich über C. S. Peirces Theorie der Wahrheit äußern, verstehen sie ihn beinahe immer so, als habe er eine Definition der Wahrheit gegeben: Eine Feststellung ist dann und nur dann wahr, wenn man sich auf sie am Ende der Forschung einigen würde. Spott und Gegenbeispiele folgen. Was, wenn eine Pille in die öffentliche Trinkwasserversorgung geworfen würde, die ein Einfrieren aller Überzeugungen zur Folge hätte – wären dann die Überzeugungen, auf man sich gegenwärtig festgelegt hat, wahr? Aber Peirce war seiner Zeit insofern voraus, als er sich sehr klar von dem Projekt distanzierte, analytische Definitionen zu geben; ein Schritt, der in jüngster Zeit unter Philosophen populär geworden ist, die sich mit dem Problem der Wahrheit befassen.2 Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Philosophen, die Definitionen meiden, glaubte Peirce nicht, Wahrheit sei undefinierbar oder ein Grundbegriff. Seine Theorie des Verstehens, aus der der Pragmatismus selbst hervorgeht, betont, dass Definitionen nur eine Möglichkeit sind, eine Idee klar zu machen. Er versucht, uns den Unterschied zwischen zwei respektablen Aufgaben zu verdeutlichen: eine analytische Definition eines Terminus zu geben, die für jemanden nützlich sein könnte, der dem Ausdruck nie zuvor begegnet ist, und eine pragmatische Erläuterung des Terminus zu liefern – eine Darstellung dessen, was wir erwarten können, wenn der Begriff auf etwas Anwendung hat. Wenn der fragliche Begriff, wie Wiggins (2002, 316) es ausdrückt, „ohnehin schon für das menschliche Denken grundlegend ist und seit langem ein eigenes Interesse hat“, ist es witzlos, ihn definieren zu wollen. Nach Peirces Ansicht würden wir damit nur in einen fruchtlosen Prozess verwickelt, in dem „ein Wort durch andere Worte definiert wird und diese wiederum durch andere, ohne dass jemals ein realer Begriff erreicht wird“ (5.423 = Apel II, S. 401). Wir sollten 1 Aus
dem Englischen übersetzt von Martin Suhr. zum Beispiel Davidson 1996 und Wright 2001. Siehe Misak 1991, S. 12–16, 35 ff., zu Textbelegen, dass Peirce sein Projekt von dem der Definition unterschied. 2 Siehe
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lieber versuchen, den Begriff dadurch zu erfassen oder zu bestimmen, dass wir seinen begrifflich interessanten Verbindungen mit so nüchternen Begriffen wie Behauptung, Forschung, Überzeugung und Zweifel nachgehen. Peirce versucht, unseren Begriff der Wahrheit dadurch zu naturalisieren, dass er sich auf das charakteristisch pragmatische Projekt einlässt, den Begriff mit der Praxis und der Erfahrung zu verknüpfen. Diese klare Bestimmung des Begriffs der Wahrheit ist von besonderer Wichtigkeit für Forscher. Als Forscher verstehen wir uns selbst so, dass wir nach Wahrheit suchen. Deshalb wollen wir wissen, welche Methoden uns am ehesten wahre Überzeugungen verschaffen; wir wollen wissen, ob es unsere Zeit und unsere Energie lohnt, bestimmte Arten von Fragen zu untersuchen; wir wollen wissen, ob ein Diskurs wie etwa ein moralischer Diskurs auf die Wahrheit zielt oder ob es sich um eine radikal subjektive Sache handelt, die für einen Wahrheitswert überhaupt nicht geeignet ist. In diesem Aufsatz werde ich zeigen, dass zwischen Peirce und einer anderen Art von Philosoph, der sich mit einem Naturalisierungsprojekt befasst – dem Deflationisten –, wirkliche Verwandtschaften bestehen. Beide glauben, der Begriff der Wahrheit gehe nicht über die Forschung erster Stufe hinaus und dürfe sich nicht auf metaphysische Flüge der Phantasie einlassen. Aber weil Peirce etwas mehr über die Wahrheit sagen will als das bloße Minimum, sieht ihn der Deflationist als einen irregeführten Gegner. Mein Argument hier wird sein, dass die Meinungsverschiedenheit zwischen Peirce und dem Deflationisten, zweifellos zum Schrecken des Deflationisten, nicht sehr tief geht und dass Peirces Begriff von Wahrheit der beste Ausdruck der naturalistischen Rebellion gegen die Metaphysik ist.
2. Peirces pragmatistische Theorie der Wahrheit Peirce glaubte, dass wir in der Philosophie „nicht damit beginnen dürfen, dass wir von reinen Ideen sprechen – vagabundierenden Gedanken, die über die öffentlichen Straßen ohne menschliche Behausung wandern –, sondern mit Menschen und ihrem Gespräch beginnen müssen“ [8.112].3 Ein solcher vagabundierender Gedanke ist beispielsweise eine ‚transzendentale‘ Theorie der Wahrheit wie die Korrespondenztheorie. Sie „macht die Wahrheit ausschließlich zum Gegenstand der Metaphysik“ und ist deshalb unecht. Er sagt: „Auf das Ding an sich aber kann man weder zeigen, noch kann man es auffinden. Folglich kann sich kein Satz auf es beziehen, und nichts Wahres oder Falsches kann von ihm prädiziert werden. Daher müssen alle Hinweise auf es als sinnlos und überflüssig ausgemerzt werden“ [5.525 = Apel II, S. 454]. Wir sollten uns an das halten, 3 Die
Zahlen beziehen sich auf Peirce, Collected Papers.
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wovon wir Erfahrung haben: an Zweifel, Überzeugungen und den Gang der Erfahrung. Eine wahre Überzeugung4 ist eine Überzeugung, die „unangreifbar für jeden Zweifel ist“ [5.416 = Apel II, 398]. Es ist eine Überzeugung, die sich der Forschung gegenüber auf ewig behaupten könnte; sie würde nicht zur Enttäuschung führen; sie wäre ‚unanfechtbar‘ oder unangefochten, würde die Forschung so weit getrieben, wie es mit Gewinn geschehen kann [5.569, 6.485].5 Hier haben wir Peirces naturalistischen Gedanken. Wir können von einer Überzeugung nichts Höheres oder Besseres verlangen, als dass sie, nach den Maßstäben, die unsere Praktiken der richtigen Behauptung und Forschung leiten, auf ewig behauptet werden könnte. Der Philosoph muss, die Augen fest auf die Begriffe Fortschritt und Verbesserung gerichtet, mit unseren geläufigen Maßstäben der Forschung und des Informationsstandes beginnen und den Begriff der Wahrheit daraus entnehmen. Wahrheit ist die Eigenschaft von Überzeugungen, die den für den fraglichen Diskurs gültigen Maßstäben genügen. Peirce war ein überzeugter Fallibilist und bestand darauf, ein Forscher könne niemals wissen, wann die Untersuchung weit genug gediehen sei, um eine wahrhaft stabile Überzeugung zu ermöglichen. Und er verknüpft Wahrheit und Forschung nicht mit einem Konditionalsatz im Indikativ, sondern im Konjunktiv: Eine wahre Überzeugung ist eine Überzeugung, die mit dem Beweismaterial in Übereinstimmung stehen würde und den Maßstäben der Forschung genügen würde, wenn die Forschung so weit getrieben werden würde, dass keine widerspenstige Erfahrung und keine Revisionen der Maßstäbe der Forschung mehr erforderlich wären. Das heißt, er versucht, die Art von Objektivität zu bewahren, die auch für diejenigen Philosophen und Forscher attraktiv ist, die mit Recht denken, dass Wahrheit mehr ist als das, was wir zufällig gerade für korrekt hal4 Ich werde mich nicht auf die Debatte einlassen, ob Sätze [sentences], Aussagen [propositions] oder Überzeugungen [beliefs] die Träger von Wahrheitswerten sind. Ich gebrauche die Wendungen „eine Überzeugung ist wahr . . . “, „eine Überzeugung zielt auf . . . “ usf. als Kürzel, wenn die vollen Details verlangen würden, dass der Inhalt einer Überzeugung wahr ist, dass eine Person, die einen Inhalt für wahr hält, Ziele hat usf. 5 Peirce fasst diese Idee gelegentlich in einer nicht eben hilfreichen Weise in Worte: Eine Überzeugung ist wahr, wenn man sich am hypothetischen Ende der Forschung auf sie einigen würde. Ich versuche in Misak 1991, einige der Einwände zu beantworten, die sich aus dieser ungeschickten Formulierung ergeben. Aber es ist besser, wenn wir ganz auf sie verzichten und an seiner Idee festhalten, dass eine wahre Überzeugung eine Überzeugung ist, die dem Zweifel standhalten würde, sollten wir über diese Sache forschen, so lange wir können. Wie die ungeschickte Formulierung, so erfasst auch diese die Eigenschaft der Wahrheit, die Peirce ins Licht zu rücken sucht: Eine wahre Überzeugung ist eine Überzeugung, die nicht verbessert werden könnte – sie ist eine Überzeugung, die den Herausforderungen von Gründen, Argument und Beweis auf immer standhalten würde. Aber die bevorzugte Formulierung verlangt nicht, dass der Pragmatist sich mit der Möglichkeit eines vorzeitigen Endes der Forschung, zum Beispiel mit der Zerstörung allen Lebens auf der Erde, auseinandersetzt. Die bevorzugte Formulierung entlastet die Pragmatisten auch von der zum Scheitern verurteilten Aufgabe, zu sagen zu versuchen, was genau mit dem hypothetischen Ende der Forschung, mit kognitiv idealen Bedingungen oder mit vollkommenem Beweismaterial gemeint ist.
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ten. Weit davon entfernt, mit Rorty vorzuschlagen, eine wahre Überzeugung sei eine Überzeugung, die zu vertreten wir jetzt gut finden, argumentiert er: Da wir nicht wissen können, wann wir eine Überzeugung haben, die niemals zu einer Enttäuschung führen würde, können wir auch nicht wissen, wann wir eine wahre Überzeugung haben. Aber nichtsdestoweniger bieten wir, wenn wir eine Rechtfertigung für „p ist wahr“ anbieten, eine Rechtfertigung für die Behauptung an, dass p selbst. Das ist die zentrale Einsicht des Deflationismus und des Pragmatismus; es gibt eine unaufhebbare Verbindung zwischen der Behauptung einer Feststellung und der Behauptung, dass sie wahr ist. Wenn wir wissen wollen, ob es wahr ist, dass Toronto nördlich von Buffalo liegt, gibt es nichts, was wir überprüfen können („eine Tatsache“, „die Art, wie die Dinge wirklich sind“), außer, dass wir Landkarten zu Rate ziehen, nördlich von Buffalo herumfahren oder herumgehen, um zu sehen, ob wir so nach Toronto kommen usf. Das heißt, die Frage der Wahrheit der Aussage beinhaltet nicht mehr, als die Sache auf unsere gewöhnliche Art und Weise zu untersuchen. Peirce glaubt dies, weil er glaubt, die Wahrheit einer Behauptung laufe auf nichts anderes hinaus, als dass die Behauptung jetzt und in Zukunft zu allem Beweismaterial und allen Argumenten passt. Er besteht darauf, dass unsere Aufmerksamkeit sich auf die Untersuchung-erster-Stufe der Behauptung selbst richtet, nicht auf die ‚philosophische‘ Erforschung der Natur der Wahrheit. Denn die beste Art philosophischer Erforschung der Wahrheit hält daran fest, dass Wahrheit die Befriedigung unserer Ziele in der Behauptung und der Forschung erster Stufe ist.6 Nach Auffassung des Pragmatisten können und müssen wir, im Gegensatz zum Deflationisten, auf unsere Praktiken von Behauptung und Untersuchung sowie die Verpflichtungen, die wir damit eingegangen sind, schauen, sobald wir diese Verbindungen einmal sehen, so dass wir etwas mehr über das sagen können, was Wahrheit ist. Dem Gedanken, Wahrheit beziehe sich intern auf Behauptung oder Überzeugung, folgt der Gedanke dicht auf den Fersen, Wahrheit beziehe sich intern auch auf Forschung, Gründe und Beweis. Denn wenn wir die Verpflichtungen, die wir eingehen, wenn wir etwas behaupten oder glauben, aufdröseln, finden wir, dass wir Forschung, Gründe und Beweis impliziert haben. Es gibt einen Unterschied zwischen den Wendungen „ich habe den Verdacht, 6 Noch einmal: Das heißt nicht, Wahrheit sei jetzt als die Befriedigung unserer Ziele identifiziert worden. Wiggins sieht den Punkt auch ganz deutlich: „Die Wahrheit in ihren Beziehungen zu dem Begriff Forschung zu erhellen, wie es zum Beispiel der Pragmatist tut, muss überhaupt keine Konzession an die Idee darstellen, dass Wahrheit selbst ein ‚epistemischer Begriff‘ ist“ (2002, 318). Sobald wir einmal sehen, dass die Begriffe Behauptung und Untersuchung dem Begriff der Wahrheit benachbart sind, können und sollten wir erforschen, in welcher Beziehung zu Behauptung und Forschung die Wahrheit denn nun genau steht. Da dies keine reduktive Analyse der Wahrheit sein wird, werden wir zu einem Aspekt der Wahrheit, nicht zu ihrem Wesen gelangen.
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dass p“ oder „es scheint mir, dass p“ einerseits und „ich behaupte, dass p“ oder „ich glaube, dass p“ andererseits. Verwende ich die ersten beiden, so distanziere ich mich von den Verpflichtungen, die mit Überzeugung und Behauptung einhergehen. Zu diesen Verpflichtungen gehört der Gedanke, die Erfahrung werde mit der Aussage übereinstimmen. (Oder, wie Hookway (2000, 65) sehr hübsch ausführt, mit einem Nachfolger der Aussage.7 ) Ich erwarte, dass die Aussage die zukünftige Forschung überlebt. Ich verpflichte mich außerdem, p zu verteidigen; zu argumentieren, ich und andere seien berechtigt, p zu behaupten und zu glauben. Natürlich wird die weitere Ausarbeitung dessen, was es heißt, eine Rechtfertigung für eine Überzeugung zu haben, eine schwierige und kontroverse Aufgabe sein, und niemand kann dieser Verpflichtung immer genügen. Aber das steht nicht in Widerspruch zu dem Gedanken, dass jede Behauptung einen verpflichtet, sich auf das Rechtfertigungsunternehmen einzulassen, wenn man dazu aufgefordert wird. Wenn es einem nicht gelingt, die Verpflichtung einzugehen – wenn es einem nicht gelingt zu sehen, dass von einem verlangt wird, Gründe für seine Überzeugungen zu geben –, dann führt das dazu, dass die Überzeugung zu so etwas wie Vorurteil oder Starrsinn degradiert wird. Wir sind schon weit über den Deflationismus hinausgegangen. Wahrheit ist mit der Praxis der Behauptung verbunden, die sie dann weiter an Erwartungen von Erfahrung, Gründen und Folgerungen bindet. Ich werde dafür plädieren, dass Peirce recht hat mit der Annahme, er könne die Extraschritte unternehmen: Der Pragmatismus kann den anti-metaphysischen Maßstäben des Deflationisten genügen und etwas Wichtiges über die Eigenschaft der Wahrheit sagen. Der Deflationist andererseits glaubt, Wahrheit sei überhaupt gar keine Eigenschaft, sondern ein logisches Hilfsmittel, das der Verallgemeinerung dient (oder, wenn sie eine Eigenschaft ist, man könne darüber lediglich sagen, dass sie ein Verallgemeinerungswerkzeug ist). Der Deflationist rät uns, der Idee der Wahrheit über 7 Hookway hat hier eine wichtige Einsicht. Nach seiner Ansicht glaubt Peirce, wenn ich behaupte, eine Überzeugung oder Aussage sei wahr, könne der Inhalt dessen, worauf ich mich festlege, unbestimmt sein (57). Das, worauf ich mich festlege, ist die annähernde Wahrheit der Feststellung. Ich hoffe, dass es zu einer Konvergenz kommt, aber diese Konvergenz wird eine Konvergenz auf die Approximation sein – auf eine verfeinerte oder qualifizierte Version meiner gegenwärtigen Überzeugung zu. Das heißt, was ich sage, würde sich auf lange Sicht verteidigen lassen (5, 66). Also ist die Verbindung zwischen Überzeugung und Behauptung nicht die, dass etwas zu behaupten heißt, es als absolut wahr zu behaupten. Ein Forscher kann mit Erfolg eine Proposition behaupten, obwohl er sich fast sicher ist, dass sie nicht strikt wahr ist. Diese Idee löst manche Probleme für Peirce. Sie erklärt, wie Bedeutung über längere Zeit bewahrt werden kann. Und sie erklärt, wie wir uns auf Individuen und auf Arten beziehen können, wenn wir ihren Charakter nicht völlig verstehen. Änderungen unserer Ansicht von x können als Schritte oder Verbesserungen innerhalb eines allgemeinen oder vagen Bildes angesehen werden. Frühere Ansichten zeigen ein partielles Begreifen einer komplexen Realität. Indexikalischer Bezug bindet unsere Überzeugungen an die Welt: Er erklärt, wie wir Überzeugungen und Theorien haben können trotz der Tatsache, dass wir vieles falsch verstehen.
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die Darstellung ihrer generalisierenden Rolle hinaus nichts hinzuzufügen. Der Pragmatist rät uns, der Idee der Wahrheit nichts über unsere Praktiken der Forschung und Überlegung hinaus hinzuzufügen. Beide würden mit Arthur Fines (1986) kalifornischer Variante von Naturalismus übereinstimmen: Wir sollten der Wissenschaft oder irgendeiner anderen Art der Forschung erster Stufe nichts Philosophisches hinzufügen – „keine Zusätze, bitte“. Jede bestimmte Überlegung hat ihre Pointe oder ihr Ziel – ein Problem zu lösen, ein besseres Werkzeug zu schaffen, zu entscheiden, was unter den Umständen gerecht ist, oder eine Hypothese zu bestätigen. Wenn wir uns fragen, ob Toronto nördlich von Buffalo liegt, fragen wir uns nach den relativen Positionen von Toronto und Buffalo, nicht danach, ob „Toronto liegt im Norden von Buffalo“ die Eigenschaft der Wahrheit hat. Fine kommt zu dem Schluss, dass Forschungen keineswegs alle auf ein einziges Ziel hinaus wollen – die Wahrheit. Aber wenn wir unseren Blick von der Wahrheit-als-Korrespondenz lösen können, dann kann der Naturalist tatsächlich unsere Untersuchungen so auffassen, als zielten sie nach der Wahrheit. Denn nach Ansicht von Peirce ist Wahrheit einfach nur ein Sammelbegriff für die besonderen lokalen Ziele der Forschung. Wenn der Pragmatist sagt, Wahrheit sei das Ziel der Forschung, dann ist damit gemeint: Sollte eine Überzeugung tatsächlich alle unsere Ziele in der Forschung befriedigen (Voraussage, Erklärungskraft, usf.), wäre diese Überzeugung wahr. In dem Maße, wie wir unsere kognitiven Ziele spezifizieren, spezifizieren wir unseren Begriff von Wahrheit.8 Wir streben nichts über die Erfüllung dieser Ziele hinaus an, nicht Metaphysisches. Der Pragmatist zieht sich von den metaphysisch aufgeladenen Theorien der Wahrheit zurück und bewegt sich auf die Praxis zu. Eine wahre Überzeugung ist eine Überzeugung, die das Ergebnis unserer Forschungen wäre. Der Deflationist glaubt ebenfalls, dass er sich von der Metaphysik zurückzieht und sich zur Praxis hinbewegt. Aber die einzigen praktischen Verwendungen, die der Deflationist zu erwägen bereit ist, sind die verallgemeinernden Verwendungen in der Logik und (vielleicht) die Art und Weise, wie „p ist wahr“ verwendet wird, um „p“ besonders emphatisch zu sagen. Angeblich folgt aus einer Analyse unserer Praxis, dass es keine allgemeine Norm der Wahrheit gibt. Aber ich werde argumentieren, dass unsere Praxis in die Richtung einiger allgemeiner Merkmale wahrer Überzeugungen weist. Der Pragmatist braucht nicht zu wünschen und wünscht auch nicht, so etwas wie eine vollständige oder detaillierte Theorie dessen, was wahre Überzeugungen sind, anzubieten. Die Vielfalt logischer Projekte, Ziele und Interessen einmal gegeben, können wir über Wahrheit im allgemeinen nur sehr wenige wichtige Dinge sagen. Aber solange diese zusätzlichen Gedanken nicht-metaphysisch oder naturalisiert sind, sollten alle 8 Siehe
Richardson 1998 zu dieser Art, diesen Gedanken zu formulieren.
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Deflationisten Peirce darin folgen, zu versuchen, von ihnen Rechenschaft zu geben.
3. Hinzufügen oder nicht hinzufügen? Peirce gegen Horwich Paul Horwich versteht die unendliche Kette von Beispielen des Äquivalenz-Schemas (im Folgenden ÄS) so, dass sie den Inhalt von „ist wahr“ vollständig erfasst.9 Der Begriff der Wahrheit wird am besten als minimal-informativ verstanden: „Schnee ist weiß“ ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist; „Toronto liegt nördlich von Buffalo“ ist dann und nur dann wahr, wenn Toronto nördlich von Buffalo liegt; usf. Über den Unterschied zwischen Wahrheiten und Falschheiten lässt sich nicht mehr sagen. Es gibt keine zugrunde liegende Natur der Wahrheit, kein ‚Wesen der Wahrheit‘, keine ‚spezielle Qualität, die alle Wahrheiten vermeintlich gemeinsam haben‘, wie etwa „sie erfassen die Realität richtig“ oder „sie wären gerechtfertigt, würde die Forschung so weit getrieben werden, wie sie mit Gewinn gehen kann“ (1990, 6). Deshalb sollten wir nicht die „typischen Manifestationen“ wahrer Propositionen erforschen (1990, 39). Die Überzeugung, eine Theorie sei wahr, ist nichts als „ein trivialer Schritt darüber hinaus, von der Theorie überzeugt zu sein“ (1990, 60).10 Der einzige Grund, an der Idee der Wahrheit festzuhalten, besteht darin, dass sie einem wichtigen logischen Bedürfnis dient. Sie ist ein nützliches Mittel für unendliche Konjunktion und Disjunktion und für die Äußerung von Aussagen, die wir nicht identifizieren können. Man betrachte: „Alles, was der Papst sagt, ist wahr“, „was immer Icabod über sie sagte, ist nicht wahr“ und „nicht jede meiner Überzeugungen ist wahr“. Im ersten Fall kann ich die Propositionen nicht identifizieren, weil es zu viele davon gibt; im zweiten Fall weiß ich nicht, was Icabod sagte, aber ich glaube, dass er nur falsche Dinge über die fragliche Person sagt; und im dritten Fall weiß ich nicht, welche meiner Überzeugungen nicht wahr sind, aber ich bin bereit darauf zu wetten, dass es einige gibt. Das Prädikat „ist wahr“ bietet eine einfache Möglichkeit, solche Propositionen auszudrücken – Aussagen in opaken oder indirekten Kontexten, und ganze Klassen von Propositionen. 9 Deshalb scheint es, wie Marian David (1994, 66) anmerkt, nicht möglich, das ÄS in gewöhnlichen Termini wiederzugeben – es scheint nicht möglich, es zu erläutern. Horwich (1990, 42) behauptet, die Zitattilgungstheorie der Wahrheit könne weder niedergeschrieben noch voll artikuliert werden, weil sie eine unendliche Anzahl von Axiomen habe. Wir könnten hier einen Gedanken von Sellars (1962, 33) einbringen und denken, dass die Zitattilgungstheorie eher einem Telefonbuch als einer Theorie gleicht. 10 Horwich glaubt, Wahrheit sei eine Eigenschaft (1990, 38). Er denkt einfach, der Begriff der Wahrheit enthalte nicht mehr als die Verallgemeinerungsfunktion. Eben diesen Minimalismus bezüglich der Wahrheit will ich mit dem Terminus „klassischer Deflationismus“ erfassen.
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Horwich hält den verallgemeinernden Gebrauch für „die raison d’être des Begriffs Wahrheit“; „das Wahrheitsprädikat existiert lediglich um eines bestimmten logischen Bedürfnisses willen“ (Horwich 1990, 4, 2). Es setzt uns in den Stand, lästige neue Formen von Quantifizierung zu vermeiden (1990, 38). Um dieses logischen Bedürfnisses willen sollen wir am Wahrheitsprädikat festhalten, aber über ihren Nutzen hinaus, dieses Bedürfnis zu befriedigen, ist an Wahrheit nichts weiter dran. Damit ist nach Ansicht Horwichs die Rolle der Wahrheit in unserem konzeptuellen Schema erklärt (1990, 42, 36). Horwich behauptet, seine Ansicht unterscheide sich vom Pragmatismus, weil er keine eliminative Analyse oder analytische Definition des Terminus „wahr“ gebe, sondern vielmehr eine Theorie darüber, was jemand versteht, wenn er Behauptungen über die Wahrheit hört. Er versteht den Pragmatisten so, dass dieser eine analytische Definition der Wahrheit im Sinne der Nützlichkeit gebe, vermutlich „p ist dann und nur dann wahr, wenn es nützlich ist, p zu glauben“ (1990, 34, 47). Nach Horwich sollten wir statt dessen lieber von der Idee ausgehen, die Praxis oder den Gebrauch ernst zu nehmen. Wenn wir das tun, werden wir sehen, dass es keiner weiteren Tatsache über das Wahrheitsprädikat – nichts über unser Festhalten am ÄS hinaus – bedarf, um jede unserer Verwendungsweisen zu erklären“ (Horwich 2001, 150). Das ist eine ziemlich verwirrende Haltung gegenüber dem Pragmatismus, da analytische Definitionen ganz explizit dem Geist des Peirceschen Pragmatismus widersprechen. (Horwich muss wohl James vor Augen haben, aber es wäre überraschend, wenn James die Absicht gehabt haben sollte, eine Analyse zu geben.) Es ist ziemlich klar, dass der Pragmatist versucht, eben das zu tun, was Horwich von sich selbst behauptet: nämlich (ausgehend von Praxis und Gebrauch) eine Theorie von dem zu geben, was jemand versteht, wenn er Behauptungen über Wahrheit versteht. Peirce hat eine sorgfältig entwickelte Theorie des Verstehens – um sich irgendwie eines Begriffs wie Wahrheit zu bemächtigen, muss man über eine analytische Definition hinausgehen und die Beziehung zwischen Wahrheit und unseren Praktiken, Überzeugungen anzustreben, die mit unseren anderen Überzeugungen, mit Experimentieren, Prüfen usf. zusammengehen, klären. Wenn Horwichs Einwand gegen den Pragmatismus nicht der sein sollte, dass der Pragmatismus eine analytische Definition der Wahrheit aufstellt, könnte er vielleicht argumentieren, die pragmatische Erhellung, die angeboten wird, sobald einmal das ÄS als Definition akzeptiert wird, sei in gewissem Sinne unecht oder metaphysisch.11 Seine eigene Bemühung, unser Sprechen von der Wahr11 Natürlich ist das Metaphysische ebenfalls eine kontroverse Vorstellung. Ich verstehe es so, dass es einen Begriff meint, der vorgibt, alle mögliche Erfahrung zu transzendieren. Zu einer längeren Diskussion siehe mein Buch von 1995. Horwich äußert sich niemals klar darüber, was er damit meint.
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heit von unechter Metaphysik zu befreien, führt ihn dazu zu behaupten, es gebe kein Wesen der Wahrheit und Wahrheit sei kein „grundlegender Bestandteil der Realität“ (1990, 81). Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit ihm von dem vollkommen guten Gedanken, Wesen seien etwas Mysteriöses, zu dem Gedanken hinübergleiten, es gebe keine allgemeine Charakteristik von Wahrheiten oder keine Qualität, die alle Wahrheiten teilen oder auch nur normalerweise haben. Eine Theorie von x, die allgemeine Merkmale von x’en identifiziert, kann für jemanden, der jeder Metaphysik aus dem Weg geht, vollkommen respektabel sein. Natürlich hängt alles davon ab, welche Merkmale identifiziert werden und ob sie problematisch sind. Und die Übeltäter sind Sachverhalte, Tatsachen und dergleichen, nichts, was der Pragmatist vorbringt. (Wir wollen fragen, welche Art von Ding eine Tatsache oder ein Sachverhalt ist; kann es negative Tatsachen geben; allgemeine Tatsachen; hypothetische Tatsachen? Dies sind die Fragen, welche die Korrespondenztheorie in Schwierigkeiten bringen.) Der Pragmatist sagt, die Eigenschaft, die „Toronto liegt nördlich von Buffalo“, „Schnee ist weiß“ und andere Wahrheiten teilen, bestehe darin, dass sie die Prüfungen der Forschung überleben würden – sie würden so sein, dass die Erfahrung für, nicht gegen sie sprechen würde. Aber andererseits ist diese Eigenschaft einfach nur ein Sammelbecken oder eine Zusammenfassung dessen, was der Deflationist zu sagen wünscht: Die Eigenschaft der Wahrheit beläuft sich darauf, (wirklich) behauptet werden zu können. Ich denke, was Horwich wirklich an einer Ansicht anstößig findet, die über das ÄS hinausgeht, ist, dass der Extraschritt sein Gefühl beleidigt, dass „Wahrheit eine gewisse Reinheit besitzt“. Er glaubt, unser Verständnis von Wahrheit sollte von anderen Ideen unabhängig gehalten werden – etwa den Ideen Behauptung, Verifikation, Bezugnahme, Bedeutung, Erfolg oder logisches Nach-sichZiehen (1990, 12, 119*). Aber es stellt sich heraus, dass Horwich denkt, man solle das ÄS die Theorie der Wahrheit nennen und dann, wenn man mag, weiter gehen, um die Beziehungen zwischen Wahrheit und diesen anderen Begriffen zu erklären. Wir sollen uns die einfachste, reinste, eleganteste, selbständigste Theorie der Wahrheit verschaffen und können dann „diese Theorie mit Annahmen von woandersher verbinden“ (1990, 26). In „Verbindung mit Theorien anderer Phänomene“ wird das ÄS „alle Tatsachen, die Wahrheit betreffen, erklären“ (1990, 26). Es könnte vieles Richtige in anderen Wahrheitstheorien geben, es ist nur so, dass wir selbst nicht denken sollten, sie seien Teil unserer grundlegenden Theorie der Wahrheit (1990, 115). Eine konkurrierende Wahrheitstheorie könnte eine „legitime Erweiterung“ der minimalistischen Theorie sein, aber sie sollte nicht als eine „verlockende Alternative“ dazu gesehen werden (1990, 115).
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Hier treffen wir auf einen fundamentalen Unterschied des philosophischen Temperaments von Pragmatisten und klassischen Deflationisten. Der Pragmatist glaubt, die Suche des Deflationisten nach Reinheit werde bei etwas Leerem und Nutzlosen enden, denn die eigentliche Aufgabe bestehe darin, die Beziehungen zwischen Wahrheit einerseits und Behauptung, Verifikation, Erfolg usf. andererseits zu artikulieren. Der Weg, Wahrheit zu deflationieren, so argumentiert der Pragmatist, der Weg, die Wahrheit weniger metaphysisch zu machen, bestehe darin, sie mit diesen anderen, prosaischeren Begriffen zu verknüpfen, nicht darin, eine Unabhängigkeit von ihnen zu behaupten. Verknüpfungen mit Begriffen, zu denen wir in alltäglichen Beziehungen stehen, sind einzige Weg, einen Zugriff auf die Idee der Wahrheit zu gewinnen. Das heißt, der Pragmatist denkt, mit Davidson, Wahrheit könne nur durch die Verknüpfungen zwischen ihr und den „menschlichen Einstellungen und Akten, die ihr Körper geben“, erhellt werden (1996, 276).12 Weder eine „Definition des Begriffs der Wahrheit noch eine quasi-definitorische Klausel, weder ein Axiomenschema noch ein anderer kurzer Ersatz für eine Definition“ wird genügen (Davidson 1996, 276). Wie wir gesehen haben, ist Horwich ebenfalls daran gelegen, das Wahrheitsprädikat mit unseren Praktiken zu verbinden – mit der Art, wie wir das Wahrheitsprädikat verwenden. Seltsamerweise glaubt er, wir hätten zwei und nur zwei Verwendungsweisen von „ist wahr“ – wir verwendeten „p ist wahr“ als eine Art und Weise, p zu betonen, und wir verwendeten „ist wahr“, um Dinge zu sagen, die sonst Probleme für unsere Logik verursachen würden. Aber wenn das Wahrheitsprädikat beibehalten wird, um an diesen Verwendungen festzuhalten, wird die Tür vor den anderen zugeschlagen. Der Pragmatist will einen Fuß in jene Tür setzen und sie offen halten. Ja, „ist wahr“ spielt eine Rolle bei der Betonung von Behauptungen und bei Verallgemeinerungen. Aber wie könnten wir im Ernst glauben, sie seien die einzigen Funktionen von „ist wahr“, für die wir eine Erklärung geben müssen? Es gibt, oberflächlich betrachtet, viele andere Verwendungsweisen dieses Prädikats. Wir schreiben die Eigenschaft, wahr zu sein, Überzeugungen zu, wir sagen, dass wir nach Wahrheit suchen, wenn wir behaupten oder überlegen, wir verwenden die Wahrheitsfähigkeit als eine Möglichkeit, zwischen objektiven und nicht-objektiven Diskursen zu unterscheiden, usf. Wenn ein Philosoph solche Verwendungen revidieren will, dann muss ein Argument kommen. Es ist nicht gut genug zu sagen, man sei im Begriff, die Verwendungen von „ist wahr“ zu erklären, ein oder zwei andere Verwendungen herauszugreifen (unsere Neigung, Beispiele für das ÄS und die generalisierende Verwendung zu anzuführen) und dann zu sagen, die anderen Verwendungen 12 Während der Pragmatist mit Davidson übereinstimmen mag, dass wir den Begriff Wahrheit mit dem Begriff Bedeutung verknüpfen können, sollte er es vorziehen, Wahrheit mit prosaischeren Dingen wie Behauptung, Überzeugung und Forschung zu verbinden.
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seien aus dem Spiel, weil sie über die beiden Verwendungen hinausgehen, die man selbst bevorzugt. Wie Devitt13 nachweist, kann nichts ein gewöhnliches beschreibendes Prädikat daran hindern, Rollen wie die verallgemeinernde Rolle in der Logik zu spielen. Und wie Dummett (2002) zeigt, ist die generalisierende Rolle genau ein Gesicht des Begriffs der Wahrheit; das andere Gesicht ist ihre unentbehrliche theoretische Rolle in einer Theorie der Bedeutung. Für den Pragmatisten besteht ein weiteres Gesicht der Wahrheit in ihrer unentbehrlichen Rolle, das zu sein, wonach wir in Behauptung, Überzeugung und Forschung suchen. Der klassische Deflationist muss zeigen, dass „ist wahr“ diese anderen Rollen nicht spielt; es ist nicht genug zu zeigen, dass es eine logische Rolle spielt. Es gibt außerdem einen guten Grund, über Horwichs beide Verwendungen hinauszugehen. Im weiteren Verlauf werden wir eine bessere – das heißt vollständigere – Theorie geben, wie wir „ist wahr“ verwenden. Wir werden den Gedanken verständlich zu machen suchen, dass wir in Forschung und Überlegung und Behauptung nach Wahrheit suchen.14 Wie Colin McGinn (2002, 198) es ausdrückt: „Wenn man eine Aussage wahr nennt, erhöht man sie über ihre bloße Äußerung hinaus.“ Wir können nicht für jede Proposition p sagen: Wenn p, dann ist p wahr. Denn „der Begriff der Wahrheit ist anspruchsvoller als der bloße Begriff einer Proposition – der bloße Begriff von etwas, was verständlich gesagt werden kann.“ Zunächst einmal kann eine Proposition („diese Proposition ist wahr“, „der König von Frankreich ist kahlköpfig“: siehe den letzten Abschnitt unten) unter Umständen überhaupt nicht geeignet sein, entweder wahr oder falsch zu sein. Wir werden außerdem imstande sein, einige der Fragen zu stellen, die wir stellen wollen, und einige der Erklärungen zu geben, die wir geben wollen. Wir wollen zum Beispiel Bedeutung, logische Unvereinbarkeit sowie logische Folge erklären, wir wollen erklären, warum bestimmte Formen von Sätzen (wie p → p) immer wahr und andere Formen immer falsch sind,15 und warum es schwierig (und interessant) ist zu denken, moralische Urteile seien wahrheitsfähig. Die 13 Devitt
2001, 587; siehe auch Kirkham 1992, 330. Ellis 1990, Davidson 1996, 274 ff., und Jackson, Oppy und Smith 1994, 294 f., zu ähnlichen Punkten. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass der Anhänger der Zitattilgungstheorie glaubt, er könne Forschung sinnvoll in seine Überlegungen einbeziehen. Horwich zum Beispiel glaubt, die Zitattilgungstheorie erkläre, warum wir nach Wahrheit suchen. Wahre Überzeugungen sind wohltätig; wenn jemandes Überzeugungen Überzeugungen von der Art einschließen: „Wenn ich die Handlung H vollziehe, dann wird der Sachverhalt S verwirklicht“, dann kann ich die geeigneten Folgerungen ziehen, die mir das verschaffen, was ich haben will, alles innerhalb der Struktur der Zitattilgungstheorie (1990, 22–24, 44–46). Der Pragmatist wird hier argumentieren, dass die Ziele der Forschung nicht rein instrumentell seien. Der Wunsch, unsere Begierden zu befriedigen, ist nicht der einzige Grund, weshalb wir nach Wahrheit streben. 15 Siehe Bar-On et al. 2000, 3, und Davidson 1996 zu Argumenten über Bedeutung, Dummett 1978, 5 f., und O’Leary-Hawthorne und Oppy 1997, 184 f., zu dem Argument über logische Unvereinbarkeit, Shapiro 1998 zu dem Argument über logische Folge, Gupta 1993a;b und Soames 1997 zu dem Argument über p → p. 14 Siehe
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Vorstellung der Wahrheit hat in diesen Erklärungen eine Rolle gespielt, und es ist keine leichte Aufgabe, Erklärungen zu bieten, ohne den Begriff der Wahrheit zu verwenden. Horwich könnte unter Umständen in der Lage sein, einige dieser zusätzlichen Verwendungen des Begriffs der Wahrheit wegzuerklären (siehe zum Beispiel Horwich 2001, 570 f.), komplexe deflationistische Übersetzungen einiger der Dinge zu geben, die wir sagen wollen, oder Antworten auf unsere Fragen zu geben, indem er nur den deflationierten Begriff der Wahrheit verwendet. Aber bei jedem solchen Versuch sollten wir uns erinnern, dass diese Fragen uns fest im Griff haben und wir befriedigende Antworten suchen. Um die Armut der klassischen deflationistischen Antwort an dieser Stelle zu sehen, können wir uns Horwichs Antwort auf die Frage anschauen, welche Art von Feststellungen in das ÄS eingefügt werden können. Die offizielle Linie ist, dass „jeder Typ von Aussage – jedes mögliche Objekt der Überzeugung, Behauptung, Vermutung usf. – ein Kandidat für Wahrheit ist, denn das Mittel der Generalisierung ist nicht weniger nützlich, wenn die fraglichen Aussagen normativ als wenn sie naturalistisch sind“.16 Dass eine Aussage die Art von Aussage ist, die einen Wahrheitswert annimmt, bedeutet nicht mehr, als dass sie eine Aussage ist. Da alles, was man über Wahrheit sagen kann und muss, das ist, was das ÄS sagt, haben wir keinerlei Hilfsmittel, um darüber nachzudenken, ob einige Aussagen von der Art sind, die wahr oder falsch sein kann. Horwichs Versuch, mit dieser Frage fertig zu werden (als ein optionaler Zusatz), verrät diesen Mangel an Mitteln. Nach seiner Auffassung sind Debatten über die Frage, ob moralische Urteile wahrheitsfähig sind, vollkommen in Ordnung. Und der Emotivist oder Nicht-Kognitivist gewinnt die Debatte. Der Emotivismus oder Nicht-Kognitivismus muss sich einfach selbst neu charakterisieren, so dass er nicht mit dem Minimalismus in Bezug auf die Wahrheit in Widerspruch gerät:17 Der Emotivist könnte die ungewöhnliche Natur bestimmter ethischer Aussagen durch die Annahme zu charakterisieren versuchen, [ . . . ] dass die Bedeutung von „x ist gut“ manchmal durch folgende Regel gegeben wird: jemand ist in der Lage, „x ist gut“ zu behaupten, wenn er sich bewusst ist, x hochzuschätzen [ . . . ] (1990, 88)
„Gut“ läuft hinaus auf „Y glaubt, dass x gut ist“, und infolgedessen haben Aussagen über das Gute Wahrheitswerte, wenn x tatsächlich hochgeschätzt wird. 16 Siehe
Horwich 1993, 73, Field 1986 und Shapiro 1998, 502. sahen, dass auch Grover in diese Richtung zu neigen scheint. Sie verweist auf Quine als den Deflationisten, der eine nette Theorie von Theorien über das, was wahr ist, anbiete. Und Quine glaubt, moralische Aussagen seien lediglich Ausdruck von Gefühlen. 17 Wir
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Aussagen über das Gute können ihren Platz im ÄS einnehmen, aber was sie behauptbar macht, ist genau dies, dass irgend jemand sie glaubt. Aber diese Taktik scheint die Wahrheit zu etwas zu machen, was sie nicht sein kann. Wiggins (1991) weist darauf hin, und es fällt schwer, ihm darin nicht zu folgen, dass ein minimales Merkmal der Wahrheit darin besteht, dass p’s Wahrsein nicht einfach davon abhängen kann, dass ich denke oder will, dass p wahr ist. Man könnte so etwas wie Wittgensteins Privatsprachenargument hineinbringen, um Wiggins an dieser Stelle zu unterstützen, aber es ist genug zu bemerken, dass Wahrheit eben einfach so ist – eine Feststellung ist nicht einfach aufgrund der Tatsache wahr, dass jemand sie für wahr hält. So viel scheint selbst im ÄS klar genug. Folglich besteht eine Spannung in Horwichs Annahme, moralische Urteile passten in das ÄS, würden aber dadurch wahr gemacht, dass jemand sie für wahr hält.18 Bei der Entscheidung darüber, welches Temperament (das des Pragmatisten oder das des Deflationisten) am angemessensten ist, müssen wir über ihre Motivationen nachdenken. Man darf wohl annehmen, dass Horwichs Sinn für Reinheit sowohl durch das Interesse des Logikers an Einfachheit wie durch die Tatsache nahegelegt wird, dass das ÄS die einzig unkontroverse Sache ist, die wir über Wahrheit sagen können (1990, 126). An dieser Stelle sollten wir umstandslos zustimmen, dass Behauptungen über das, was aus dem ÄS folgt – Behauptungen über das, was in Behauptung und Überzeugung enthalten ist –, umstrittener sind als das ÄS selbst. Die Annahmen von Peirce und anderen sind keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Aber natürlich sagt die Tatsache, dass irgend etwas kontrovers ist, überhaupt nichts darüber, ob es richtig oder wichtig ist. Am Ende bleibt von Horwich deshalb nur ein Appell an die Wünschbarkeit des Einfachen und Spärlichen – an Quines Vorliebe für Wüstenlandschaften. Aber hier liegt das wirkliche Problem mit dem Temperament des klassischen Deflationisten. Angenommen, Horwich sieht, dass die Beziehung zwischen Wahrheit und jenen anderen Begriffen nicht unwichtig ist, so scheint es folglich lediglich eine Sache der Betonung zu sein, ob man die Theorie der Wahrheit jene unendliche Kette von Äquivalenzen nennt und dann legitimerweise die Theorie erweitert oder ob man das ÄS-plus-Erweiterung die Theorie der Wahrheit nennt. Wenn das der Fall ist, dann scheint der Pragmatist der vernünftigere der beiden zu sein. Denn der Pragmatist bestreitet nichts in der grundlegenden Theorie, sondern wendet seine Aufmerksamkeit ihrer Erhellung zu.19 Der klassi18 Horwich argumentiert, eine moralische Aussage lasse sich einfach dann behaupten, wenn jemand glaubt, sie könne behauptet werden. Aber wenn eine solche Aussage in das ÄS eingefügt wird, kommt Wahrheit ins Spiel. 19 Der Pragmatist schlägt nicht vor, man könne eine reine Zitattilgungstheorie der Wahrheit gleichzeitig mit einer robusten Theorie der Wahrheit haben. Boghossian (1990, 165) muss recht haben, dass
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sche Deflationist andererseits sagt, der Pragmatist, der Kohärenztheoretiker, der Korrespondenztheoretiker – jeder Wahrheitstheoretiker – habe einen Fehler gemacht, als er dachte, es gebe über Wahrheit mehr zu sagen, als was im ÄS ausgedrückt wird. Aber diese Behauptung steht in Spannung zu dem Gedanken, dass das ÄS die grundlegende Theorie der Wahrheit richtig erfasst und es also über die Verbindung zwischen Wahrheit und anderen Begriffen mehr zu sagen gibt. Der Peirceianer stimmt Horwich zu, dass „ist wahr“ oft unsere Neigung ausdrückt, Beispiele des ÄS zu akzeptieren. Aber das ist der Anfang des Gesprächs, nicht sein Ende.
4. Hinzufügen oder nicht hinzufügen? Peirce gegen Grover Dorothy Grover sieht, dass der Peircesche Pragmatismus Verwandtschaften mit dem Deflationismus aufweist. Aber sie hat Einwände gegen den Gedanken, es lasse sich etwas Allgemeines über die Natur der Wahrheit sagen, und erhebt Einspruch gegen den Gedanken, Wahrheit könne in philosophischen Fragen nach Bedeutung, dem Status der Wissenschaft, nach Realismus, ob moralische Dinge objektiv sind, usf. eine erklärende Rolle spielen (Grover 2001, 508). Ihrer Ansicht nach fungiert „ist wahr“, trotz der Tatsache, dass es wie ein Prädikat aussieht, das eine Eigenschaft beschreibt, in Wirklichkeit nur als ein Pro-Satz, nach Art eines Pro-Nomens, um eine Möglichkeit zu bieten, auf natürliche Weise die anaphorischen Vorkommnisse von durch Quantoren gebundenen Aussagen zu lesen. Statt zu sagen: „Für alle p, wenn Icabod p glaubt, dann p“, können wir das natürlichere „Alles, was Icabod sagt, ist wahr“ sagen. Und wir verwenden „ist wahr“, um uns auf einen früher geäußerten Satz zu beziehen: Bill: Hast du gehört, das Icabod seinen Job aufgegeben hat? Jim: Wenn das so ist, dann hat er mehr Zeit, Tennis zu spielen. Sam: Ich habe gehört, dass es wahr ist – und also hat er mehr Zeit, Tennis zu spielen. dies nicht möglich ist. Der Vorschlag ist eher, dass man mit dem Zitattilgungsgedanken beginnt und dann zu einer substantielleren, aber nicht-metaphysischen Theorie übergeht. Und die Behauptung, der Pragmatist könne die Zitattilgungsdefinition der Wahrheit übernehmen, bedeutet nicht, dass der Anhänger der Tilgungstheorie und der Pragmatist glückliche Partner sein können. Zum einen werden viele Tilgungsanhänger glauben, dass eine Theorie der Wahrheit eine Theorie der Satzwahrheit sein müsse, wohingegen der Pragmatist glaubt, dass sich Wahrheitswerte an Überzeugungen oder Behauptungen heften. (Ich will nicht in die Debatte über die Träger von Wahrheitswerten eintreten, außer darauf hinzuweisen, dass es der Inhalt einer Überzeugung oder Behauptung ist, der wahr oder falsch ist – als Kürzel sage ich, dass eine Überzeugung oder eine Behauptung wahr/falsch ist.) Und der Tilgungstheoretiker wird die Bereitschaft des Pragmatisten, bestimmte Prinzipien der Logik in Frage zu stellen, indiskutabel finden.
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Der Anhänger der Pro-Satz-Theorie wird sagen, genauso wenig, wie wir eine Theorie von „also“ brauchen, brauchen wir eine Theorie von „wahr“. Beides sind Ausdrucksmittel, die dazu dienen, Verpflichtungen zu übernehmen, die auf Schlussfolgerungen beruhen. Ein Pragmatist sollte einem Pro-Satz-Anhänger zuerst einmal sagen, dass es keinen Grund gibt zu bestreiten, dass unser Begriff von Wahrheit in der natürlichen Sprache eine Pro-Satz-Rolle spielt. Aber der Pragmatist wird außerdem der Meinung sein, dass wir uns damit, dass wir „das ist so“ oder „das ist wahr“ sagen, eine bedeutende Last aufbürden; dass wir nicht ganz so leicht reisen können. So bringen wir zum Beispiel den Gedanken mit, dass wir gute Gründe haben zu glauben, Icabod habe seinen Job aufgegeben. Wir haben nicht einfach geraten, geträumt oder gehofft, dass er ihn aufgegeben hat. „Das ist so“ oder „das ist wahr“ führen die Behauptung mit sich, das Beweismaterial spreche jetzt und in Zukunft zugunsten der behaupteten Aussage. Und sie führen den Gedanken mit sich, dass wir in Forschung und Behauptung sagen wollen, was wahr ist. Sie spielen eine andere als die grammatische Rolle, zu verallgemeinern und auf Sätze zurückzuverweisen. Mein erster Versuch (Misak 1998), deutlich zu machen, dass die deflationistische Missachtung des vollen Bereichs der Rollen, die „ist wahr“ spielt, zum Verlust wichtiger Fragen und Debatten führt, löste eine Antwort von Grover aus (2001; 2002). Nach ihrer Ansicht scheint sich der Deflationismus den Vorwurf, er könne mit den großen Fragen nicht fertig werden, deshalb zuzuziehen, weil seine Befürworter ihn manchmal eine „Theorie der Wahrheit“ genannt haben. Dies habe zu falschen Erwartungen geführt20 – zu Erwartungen, die Theorie sage etwas über die Beziehung zwischen Wahrheit und den Dingen, die für uns wichtig sind: zu Erwartungen, die Theorie müsse sich diesen philosophischen Fragen über Bedeutung, den Status des moralischen Urteils, etc. zuwenden. Aber deflationistische Theorien sind keine Theorien der Wahrheit oder Theorien dessen, was Wahrheit ist. Sie sind Theorien des Wahrheitsprädikats oder des „Wahrheitsterminus“, wie Devitt (2001) ihn nennt. Sie sind Theorien, die die Rolle zu erklären versuchen, die „wahr“ in natürlichen Sprachen spielt. Grover dagegen meint, wie schon Horwich, der Deflationist könne „die ‚großen‘ Themen untersuchen“ (2001, 510); der Deflationist „kann Verbindungen zwischen Wahrheit und Forschung, Behauptung und Überlegung artikulieren – 20 Falsche Erwartungen knüpfen sich auch an die Theorie des Pragmatisten: Es ist weder meine noch Peirces Ansicht, dass die pragmatistische Erklärung der Wahrheit auf alle großen philosophischen Fragen Antworten gibt. In Wirklichkeit ist die Theorie der Pragmatisten über die Wahrheit deshalb so lobenswert, weil sie bestimmte Antworten auf diese Fragen nicht von vornherein ausschließt – zum Beispiel schließt sie nicht moralische Urteile als Kandidaten für Wahrheitswerte aus, noch aber auch schließt sie ein, dass moralische Urteile wahrheitsfähig sind. Ihre Neutralität mit Hinblick auf viele der großen Fragen ist eine Tugend.
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wenn er will“ (2002, 124). Die Theorie des Wahrheitsprädikats sagt nichts über diese Verbindungen, aber man kann von der Theorie des Wahrheitsprädikats zu anderen Arten von Theorien übergehen. Wir können zu Theorien von dem, „was-wahr-ist“, oder zu Theorien darüber, wie die Welt ist, übergehen. Solche Theorien schließen „Wissenschaft, kreative Anstrengungen und Wertaussagen“ ein (2001, 510). Wir können Fragen stellen wie „Sind Elektronen die Grundbausteine der Welt?“ oder „Handeln Menschen frei?“, und die Antworten erwähnen die Eigenschaft der Wahrheit und ihrer angeblichen Träger überhaupt nicht. Vielmehr wird hier von ganz gewöhnlichen Dingen wie Elektronen, Leuten, Handlungen usf. gesprochen. Die Antworten werden Antworten erster Stufe, keine philosophischen Antworten sein. Der Anhänger der Pro-Satz-Theorie denkt: „Unser Interesse an der Wahrheit beläuft sich auf nicht mehr und nicht weniger als unser Interesse an der Erkenntnis, wie die Welt ist“ (2001, 512). Wir sind hier wieder zum naturalistischen Gedanken zurückgekehrt, der, wie wir gesehen haben, der leitende Gedanke von Peirce ist. Der Begriff der Wahrheit enthält nicht mehr, als was wir aus einer Untersuchung erster Stufe herauspressen können. Peirces Theorie der Wahrheit – seine Erläuterung der Eigenschaft der Wahrheit – kann durch folgende Aussage erfasst werden: Würden wir das, waswahr-ist, erforschen, und würden wir alle Ziele erfüllen, die mit einer solchen Untersuchung verknüpft sind, und würden wir zu einer Überzeugung kommen, die nicht verbessert werden könnte, dann hätten wir eine wahre Überzeugung. Nach Auffassung Grovers kann der Deflationist zu Theorien von Theorien von dem, was-wahr-ist, übergehen. Sie sagen uns etwas über den Status von Theorien von dem, was-wahr-ist. Sie sagen uns zum Beispiel, ob die Wissenschaft oder die Moral etwas dazu sagen, wie die Welt ist – ob Wissenschaft oder Moral uns tatsächlich sagen, was-wahr-ist. Die Wissenschaftstheorie ist voll von solchen Theorien von Theorien von dem, was-wahr-ist, denn sie versucht, die Annahmen der Forschung zu identifizieren und ihre Methoden zu bewerten. Oder vielleicht, sagt Grover, will der Deflationist „epistemische Fragen“ von der Art „Unter welchen Bedingungen würden wir wissen, ob etwas wahr ist?“ stellen. Solche Fragen werden als „Unter welchen Bedingungen würden wir wissen, ob Elektronen die Grundbausteine des physikalischen Universums sind?“ und „Unter welchen Bedingungen würden wir wissen, ob Menschen frei handeln?“ verstanden werden (2002, 123). Dies, sagt Grover, sind interessante oder große Fragen und der Pro-Satz-Anhänger kann sie stellen. Die Spitze gegen den Theoretiker der inhaltlichen Wahrheit lautet: „Die Frage, ob ein gegebenes sprachliches Element (als Träger der Wahrheit) die Eigenschaft der Wahrheit hat, kommt gar nicht ins Spiel“ (2002, 123). Nach deflationistischer Lesart dauern die epistemischen Debatten und die Debatten über Theorien von Theorien über
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das, was-wahr-ist, an und werden dadurch erleichtert, dass man auf die ‚Exkurse‘ verzichtet zu fragen, was die Eigenschaft der Wahrheit ist und welche Art von Ding diese Eigenschaft trägt. Wenn wir Wahrheit nicht als eine Eigenschaft identifizieren, dann können diese Untersuchungen „ohne die Ablenkung fortfahren, die durch die Suche nach der sich ewig entziehenden Eigenschaft der Wahrheit ausgelöst worden ist“ (2002, 120). Aber natürlich ist die Ablenkung durch eine Wahrheitseigenschaft nur dann eine überflüssige Ablenkung, wenn die Wahrheitseigenschaft, die gesucht wird, sich tatsächlich entzieht, wie etwa die Korrespondenz mit einer Tatsache oder einem Sachverhalt. Wenn die Wahrheitseigenschaft eine deflationierte Eigenschaft ist, die auf die Erfüllung unserer Ziele in Behauptung und Forschung erster Stufe hinausläuft, dann gibt es keinen nutzlosen Exkurs. Es gibt keine Suche nach einer sich entziehenden Eigenschaft oder einer metaphysischen Eigenschaft oder einer Eigenschaft, die wir nicht fassen können. Wie Robert Brandom, ebenfalls ein prominenter Pro-Satz-Vertreter, sagt, soll der deflationistische Ansatz „ontologisch deflationierend sein – oder zumindest unaufregend“ (2002, 115). Nach Peirces Ansicht gibt es an der Wahrheit nichts ontologisch Aufregendes. Tatsächlich ist Grovers expliziter Grund dafür, die Suche nach einer sich entziehenden Eigenschaft der Wahrheit aufzugeben, mit dem von Peirce identisch. Grover glaubt, das Verdienst ihrer Position (nicht nach einer Eigenschaft der Wahrheit zu suchen) bestehe darin, dass „Theoretisieren über eine Eigenschaft der Wahrheit für die Forschung irrelevant ist“ (2002, 120). Peirce glaubt, das Verdienst seiner Position (nach einer naturalisierten Wahrheitseigenschaft zu suchen) bestehe darin, dass wir nur dann einen Begriff von Wahrheit erhalten, der für die Forschung relevant ist (siehe 1.578, 5.553). Deshalb wird Peirce mit Grover übereinstimmen, dass wir unser Interesse an der Wahrheit dadurch erklären können, dass wir uns sozusagen an die Forschung erster Stufe halten und von metaphysischer Spekulation über die Natur der Wahrheit Abstand nehmen. Aber Peirce wird mit Grover nicht übereinstimmen, dass wir lediglich die Option haben, die wir nach Belieben aufgreifen können, etwas zu Theorien von Theorien von dem, was-wahr-ist, zu sagen. Die Fragen, die dadurch beantwortet werden, dass man zu solchen Stoffen übergeht, sind kein überflüssiger Firlefanz. Sie sind ein lebensnotwendiger Teil dessen, was es heißt, über Wahrheit oder über das, was-wahr-ist, nachzudenken. Man wird zum Beispiel immer irgendwo (in Kneipen, in philosophischen Grundkursen, in akademischen Zeitschriften) Leute finden, die wild darauf sind zu argumentieren, es gebe keine Antwort auf die Frage „Ist Frauenbeschneidung eine unmoralische Praxis?“ Das heißt, man wird Leute finden, die argumentieren, wir könnten Fragen über das, was auf moralischem Gebiet wahr ist, nicht beantworten, weil die beste Theorie von Theori-
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en von dem, was-wahr-ist, darauf beharrt, moralische Fragen seien nicht die Art von Fragen, auf die es eine bestimmte Antwort gibt. Grovers zwei Arten von Theorie sind unauflöslich miteinander verbunden; sie sind nicht von einander zu trennen; wir können nicht die eine aussortieren und die andere nicht. Ich möchte Folgendes klarmachen: Sobald man einmal den naturalistischen Schritt getan hat, Wahrheit mit Forschung zu verknüpfen, fühlt man sich zu einer bestimmten Art von robuster Theorie der Wahrheit (einer Theorie von Theorien von dem, was-wahr-ist) zumindest ermutigt, wenn nicht gar gedrängt oder verpflichtet: zur pragmatistischen Theorie oder etwas sehr Ähnlichem. Das heißt, sobald der Deflationist einmal zugestimmt hat, dass er die weiteren Fragen in Angriff nehmen kann, besteht zwischen dem Deflationisten und dem Pragmatisten nur noch ein sehr geringer Unterschied. Grover hat die Korrespondenztheorie als die Art von Eigenschaftstheorie vor Augen, die zum Scheitern verurteilt ist (2001, Anm. 8). Und sie sieht, dass auf Forschung erster Stufe fixierte Philosophen oder Forscher erster Stufe (Wissenschaftler und dergleichen), sobald sie sich auf weitere Debatten einlassen, an Dinge wie Voraussage, Einfachheit und Vollständigkeit appellieren, „womit sie uns ein bisschen näher an die Pragmatisten heranbringen“ (2002, 129). Sie fragt dann: „Aber wird dann ihr Beitrag wirklich am besten in dem Sinn verstanden, dass sie eine Analyse einer Wahrheitseigenschaft geben, oder stellt man sie sich besser so vor, dass sie Erkenntnis von dem, was-wahr-ist, zu erwerben suchen?“ Die Antwort lautet, dass die pragmatistische Erläuterung (nicht Analyse) der Wahrheitseigenschaft auf unser Interesse an der Erwerbung der Erkenntnis von dem, was-wahr-ist, eingeschränkt ist. Die entscheidende Frage lautet natürlich: Warum sollte man darauf bestehen, dass Peirce die Wahrheitseigenschaft über Bord wirft, einmal vorausgesetzt, dass sie ihm so eng mit unseren Forschungspraktiken erster Stufe verknüpft zu sein scheint? Angenommen, es gebe nichts Schädliches in Peirces Erläuterung der Wahrheitseigenschaft, warum sollte man darauf bestehen, dass Wahrheit keine Eigenschaft ist? Wenn der Begriff der Wahrheit, der verwendet wird, harmlos ist, und wenn er unser Denken über die größeren, umfassenderen Fragen erleichtert, dann kann er doch in Ruhe gelassen werden. Dieser Punkt kann durch Grovers eigenen Appell an Quine illustriert werden. Grover kann sich nicht denken, dass eine der überkommenen Methoden, die weiteren Fragen aufzugreifen, genügt, und es ist natürlich kein Zufall, dass sie auf Quine als jemanden verweist, der sie in der richtigen Art und Weise aufgreift (2001, 513 ff.). Quine bestreitet, dass Wahrheit eine Eigenschaft ist, und seine Theorie von Theorien von dem, was-wahr-ist, besteht darauf, dass die Wissenschaft uns sagt, was wahr ist. Wenn die Wissenschaft sagt, es gebe äußere Dinge, Atome, Elektronen und Klassen, dann gibt es solche Dinge. Die Wissenschaft
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beschreibt die Welt, während Ethik und dergleichen das nicht tun. Abgesehen von einem oder zwei „in die Augen fallenden Sichtzeichen“ gibt es nur unkartierte moralische Wüsten.21 Eine natürliche Lesart Quines ist, dass er etwas über die Wahrheitseigenschaft und die Art von Aussagen gesagt hat, auf die sie Anwendung hat:22 Wahrheitsfähig sind Aussagen, die vor das Tribunal der Erfahrung kommen (und hier schließt er die Mathematik und Logik ein, da sie Teil wissenschaftlicher Theorien sind). Ich möchte betonen, dass hier mit Gewalt eine Theorie wie die Quines oder Peirces der deflationistischen naturalistischen Theorie der Wahrheit aufgedrängt wird und wir deshalb sagen sollten, dass sie kein optionaler Zusatz ist. Wenn wir Quines „Wissenschaft“ durch Peirces umfassendere „Forschung“ ersetzen, haben wir Peirces Ansicht. Das heißt, Peirce sagt Folgendes: Wenn die Forschung sagen sollte, es gebe äußere Objekte, Atome, Elektronen, Klassen und widerwärtige Handlungen, dann gibt es solche Dinge. Grover ist mit Peirces Theorie von Theorien von dem, was-wahr-ist, nicht glücklich, da sie ihn mit Recht so versteht, er behaupte, Wahrheit sei eine Eigenschaft, die auf Überzeugungen Anwendung hat und die Merkmale der Stabilität, der Übereinstimmung mit dem Beweismaterial und dem Argument usf. als die Merkmale wahrer Überzeugungen identifiziert. Aber sicherlich würde Quine dasselbe von den Überzeugungen sagen, die die Wissenschaft äußert – den Überzeugungen, die bestimmen, was es gibt. Also warum nicht beide, Peirces Ansicht und Quines Ansicht, eine auf deflationistischen Prinzipien erbaute Theorie der Wahrheit nennen? Es macht das Reden einfacher. Und beide meiden unechte Metaphysik. Der Witz ist, dass sich der Deflationist bei der Beantwortung der ‚großen Fragen‘ an die deflationistischen Prinzipien halten muss – an eine Theorie von Theorien von dem, was-wahr-ist, die ihren Blick starr auf die Forschung erster Stufe gerichtet hält. Grover könnte ebensogut sagen, dass die Theorie von Theorien von dem, was-wahr-ist, die der Deflationismus impliziert, der Theorie Quines ähnelt. Ich würde natürlich argumentieren, dass sie mehr der Theorie von Peirce ähnelt, denn Peirce geht keinem Einwand gegen die moralische Untersuchung aus dem Weg – sie beginnt mit einer neutralen Auffassung von Erfahrung als dem, was sich uns aufdrängt. Der Witz ist, dass der Deflationist Antworten auf die großen Fragen hat. Sie sollte zugeben, dass diese Antworten Teil des Deflationismus sind und kein optionaler Zusatz. 21 Quine
1987, 5; siehe auch Quine 1981, 62 f., und 1986, 663 f. und Oppy (1997) betonen etwas Ähnliches. Grover spricht das an, indem sie argumentiert, Quine sei der Meinung, „die Sprache der Forschung“ richte sich auf das, waswahr-ist. Aber sie scheint zu übersehen, dass Quine deshalb über die Eigenschaft der Wahrheit (und die Arten von Feststellungen, auf die sie Anwendung hat) spricht, weil für ihn die Sprache der Forschung die Sprache der Wissenschaft im engsten Sinne ist. Es ist zum Beispiel nicht die Sprache der Moralforschung. 22 O’Leary-Hawthorne
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Wir wollen zu der viel diskutierten Frage, ob Wahrheit eine Eigenschaft ist, zurückkehren, die sich als der eigentliche locus der Nichtübereinstimmung zwischen Peirce und Grover herausstellt. Grover argumentiert, gerade die Existenz der deflationistischen Option, nach der Wahrheit keine Eigenschaft ist, schiebe den Eigenschaftstheoretikern die Last zu „zu zeigen, dass das Wahrheitsprädikat eine Eigenschaft zuschreibt“ (2001, 508). Zunächst einmal: Seit wann erfordert die Existenz einer revisionistischen, eliminativistischen Option, die eine radikale Veränderung unserer vertrauten, hilfreichen Kategorien notwendig macht, dass sich die Position des gesunden Menschenverstandes rechtfertigt? Zweitens ist zu sagen, dass die pragmatistische Ansicht von Wahrheit eine bessere, vollständigere Darstellung der Rolle gibt, die „ist wahr“ in unserem kognitiven Leben spielt – die Art von Erklärung, die der Deflationist ohnehin geben wird, sobald er seine Aufmerksamkeit auf die zusätzlichen Fragen richtet. Peirces Position hat den Vorzug, nicht nur eine einzige Funktion von „ist wahr“ (die Pro-Satz-Funktion) als die echte Funktion von „wahr“ zu identifizieren, und dann dazu überzugehen, andere Funktionen von „ist wahr“ zu erkunden. Und sobald wir einmal auf alle Funktionen des Wahrheitsprädikats schauen, werden wir Wahrheit für eine Eigenschaft halten.23 Das Ergebnis ist, dass Peirce versucht, eine Sache unter dem Namen Theorie der Wahrheit zu tun, und Grover versucht, dieselbe Sache unter dem Namen Theorie der Theorien von dem, was-wahr-ist, zu tun. Der Streit zwischen Deflationismus und Pragmatismus sieht mehr und mehr wie ein Nicht-Streit aus. Sobald man sieht, dass die pragmatistische Erklärung der Eigenschaft der Wahrheit ein Begriff ist, der von ganz unten her aufgebaut wird – von der Betrachtung der Forschung erster Stufe (von der Betrachtung, ob p) –, sollte Grover damit glücklich werden.24
5. Arten der Forschung, Unterbestimmtheit und Objektivität Wir haben gesehen, dass eine Schwierigkeit, der sich die deflationistischen Erklärungen der Wahrheit gegenüber sehen, die Unfähigkeit ist, zwischen Arten 23 Ich habe mich zum Beispiel dafür ausgesprochen, dass der Begriff der Überzeugung genau der ist, dass Überzeugungen auf die Wahrheit zielen oder darauf, die Dinge richtig zu verstehen (siehe Misak 1991, 59 ff.). Wenn Wahrheit in unserem Verständnis von Überzeugungen eine erklärende Rolle zu spielen hat, dann ist Wahrheit eine Eigenschaft. 24 Grovers Einwand gegen O’Leary-Hawthorne und Oppy richtet sich gegen die Idee, wir müssten den Begriff der Wahrheit besitzen, um andere kognitive und logische Begriffe zu besitzen, Urteile zu fällen usf. Da der Peircesche Pragmatist diese Behauptung weder aufstellt noch nötig hat, gilt Grovers Einwand hier nicht. Sie erhebt außerdem Einwände gegen das Argument, man müsse, um den Erfolg der Wissenschaft oder die Konvergenz in der Wissenschaft zu erklären, sich auf einen inhaltlichen (Korrespondenz-) Begriff der Wahrheit berufen. Der Peircesche Pragmatist würde hier mit ihr übereinstimmen, so dass dies nicht der wahre Ort des Disputs sein kann.
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von Überzeugungen oder Aussagen, die wahrheitsfähig sind, und solchen, die es nicht sind, zu unterscheiden. Weil der Pragmatismus sein Augenmerk auf die Forschung erster Stufe und die ihr inhärenten Maßstäbe richtet, hat er zumindest das nötige Kleingeld, sich mit dieser Aufgabe zu befassen. Es gibt eine ungeheure Vielfalt von Arten und Weisen, wie wir denken, forschen und überlegen. Unsere Forschungspraxis ist kein Monolith – sie dreht sich zum Beispiel nicht vollständig um die aktive Überprüfung von Hypothesen oder um das Gewinnen endgültiger Antworten auf Fragen. Denken wir nur einmal daran, wie wir „1+10 = 11“, „dies ist ein Salzsee“, und „es ist ungerecht, Leute mit arabisch klingenden Nachnamen auf Flughäfen einer Leibesvisitation zu unterziehen“ rechtfertigen. Für verschiedene Arten von Hypothesen sind verschiedene Arten von Untersuchung, Überlegung und Maßstäben der Rechtfertigung angemessen. Der Peirceianer wird daran interessiert sein, einige allgemeine und wichtige Gedanken über die Verbindung zwischen Wahrheit und Forschung zu artikulieren: Wahrheit ist das, wonach wir in unseren verschiedenen Untersuchungen suchen, sie ist eine Eigenschaft von Feststellungen, die nicht verbessert werden könnten, usf. Aber um dem Reichtum und dem Gewebe einer bestimmten Art von Untersuchung, wie etwa Moral, Mathematik oder Wissenschaft, gerecht zu werden, müsste jedes dieser Gebiete ausführlich behandelt werden.25 Wir müssen uns die Unterschiede zwischen verschiedenen Forschungen ansehen und das, was darüber gesagt wird, wie sich Aussagen auf jedem Gebiet als unanfechtbar erweisen, mit größter Sorgfalt formulieren. Ich habe in Truth, Politics, Morality (Misak 2000) versucht, eben dies für die Moralforschung zu tun. Wenn wir uns dieser interessanten Arbeit widmen, werden sich uns Streitfragen hinsichtlich der Zweiwertigkeit aufdrängen. Der Pragmatismus steht im Einklang mit dem Gedanken, der dem klassischen Deflationismus zugrunde liegt – der Idee, dass „p“ dann und nur dann wahr ist, wenn p –, lehnt aber die unbeschränkte Anwendung dieses Gedankens ab. Das ÄS zieht die unbeschränkte Anwendung der Zweiwertigkeit nach sich und Peirce hält Zweiwertigkeit nicht für ein Gesetz der Logik, sondern für eine regulative Annahme der Forschung. Wenn die Forschung über eine Frage keine Entscheidung treffen würde, dann, scheint es, hat sie keine Antwort: „p ist wahr oder p ist falsch“ gilt nicht für die potenziellen Antworten. Aber was ist mit Feststellungen wie der Goldbachschen Vermutung (jede gerade Zahl größer als 4 ist die Summe zweier Primzahlen), 25 Crispin Wright erwägt den Gedanken, der Pragmatismus sei besonders gut geeignet, das Wahrheitsprädikat für bestimmte Diskurse, etwa für die Moral, zu behandeln. Wenn freilich der Pragmatismus „unser Denken über die Wahrheit in bestimmten Regionen des Diskurses zu verzerren scheint [ . . . ] dann wird das, scheint mir, ein Maß an lokaler Unnatürlichkeit des Pragmatismus selbst sein“ (2001, 781). Vermutlich rufen Wissenschaft und Mathematik nach einem robusteren Wahrheitsprädikat. Es gibt Probleme mit der Vermehrung von Wahrheitsprädikaten an dieser Stelle (wie könnten wir nicht von einigen als Wahrheit zweiten Grades oder bloßer gerechtfertigter Behauptbarkeit denken?).
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einer Vermutung, die vielleicht niemals bewiesen noch widerlegt werden wird? Was ist mit dem, was Peirce die „begrabenen Geheimnisse“ nannte, für die das Beweismaterial verlorengegangen ist, wie „Cheryl Misak trank am 3. Oktober 1988 zwei halbe Liter Bier“?26 Peirce kämpfte lange und schwer mit dieser Frage und schloss, dass wir für jede gegebene Frage annehmen müssen, dass unsere Untersuchungen zu einem Ergebnis kommen würden; dass es sich schließlich herausstellen würde, dass p wahr ist oder dass p falsch ist. Andernfalls könnten wir einfach nicht erklären, warum wir dieser Frage nachforschen. Eine solche Annahme müssen wir machen, um unsere Praktiken der Überlegung, Untersuchung und Überzeugung verständlich zu machen. Die Annahme der Zweiwertigkeit ist unsere Praxis – sie ist Teil dessen, was es heißt, eine Sache zu erforschen. Er äußerte sich auch klar darüber, dass das Bedürfnis, Zweiwertigkeit anzunehmen, nicht zeigt, dass das Prinzip wahr ist. Wir sind „verpflichtet, anzunehmen“, dass es bestimmte Antworten auf alle unsere Fragen gibt, wir „brauchen es aber nicht zu behaupten“. Eine notwendige Annahme ist keine notwendige Wahrheit. Statt dessen argumentierte Peirce, die Weigerung, das Prinzip der Zweiwertigkeit anzunehmen, behindere den Gang der Forschung, und das sei etwas, was wir vermeiden sollten. Das Prinzip ist notwendig nur in dem Sinn, dass es erforderlich ist, wenn wir verstehen wollen, was wir mittels Forschung und Überlegung tun. Im Licht dieser Gedanken wird der Pragmatist wünschen, eine Anzahl von Bemerkungen über Zweiwertigkeit zu machen. Zuerst wird er sie nicht einer Aussage absprechen, die Gegenstand einer lebendigen Überlegung ist. Jede Sache, die uns ernsthaft zum Fragen veranlasst, wird von der Art sein, dass wir denken, es lasse sich (möglicherweise) ein Wahrheitswert entdecken. Zweitens wird der Pragmatist nicht die Aussicht auf einen Beweis einer Aussage fordern, bevor ein Sinn damit verbunden werden kann, dass sie einen Wahrheitswert hat. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Goldbachsche Vermutung wahr ist, denn so intensiv wir es auch versucht haben, wir sind nicht in der Lage gewesen, sie zu widerlegen. Wenn ein mächtiges Computerprogramm über Goldbachs Vermutung liefe und es niemals eine gerade Zahl nachweisen könnte, die nicht die Summe von zwei Primzahlen ist, dann hätten wir eine Art von induktiver Unterstützung für die Vermutung. Genau wie die Tatsache, dass wir niemals schlüssig eine universale Verallgemeinerung bestätigen können, vom Pragmatisten nicht verlangt, er müsse bestreiten, dass sie zweiwertig ist, braucht 26 Ich habe davon abgeraten (Misak 1991), Forscher kontrafaktisch mit übermenschlichen Fähigkeiten auszustatten, etwa der Fähigkeit zu Zeitreisen, um Fragen über die ferne Vergangenheit zu beantworten. Wenn der Pragmatist das tut, verliert er einen guten Teil der Motivation für seine Ansicht; er gibt seine naturalistische Idee auf, Wahrheit müsse mit unseren Praktiken der Forschung, der Überzeugung und Behauptung verbunden sein, wenn sie die besten nur denkbaren wären.
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die Tatsache, dass wir keinen Beweis für die Goldbachsche Vermutung haben, uns dazu zu veranlassen, zu bestreiten, dass sie zweiwertig ist. Natürlich erfordern die Maßstäbe einer Behauptung in der Mathematik etwas Stärkeres als induktive Verallgemeinerung, deshalb werden die Mathematiker nicht wünschen, die Goldbachsche Vermutung zu behaupten. Aber es geht einfach nur darum, dass keine Notwendigkeit besteht, die Annahme der Zweiwertigkeit für solche Aussagen über Bord zu werfen. Drittens: Selbst angesichts der stärksten Behauptung, dass wir keinerlei Beweismaterial für oder gegen eine Feststellung haben werden, können wir immer noch denken, dass die Zweiwertigkeit gilt.27 Für Fragen hinsichtlich der fernen Vergangenheit zum Beispiel ändert die Tatsache, dass das Beweismaterial versiegt ist, nicht den Wahrheitswert des folgenden Konditionals: Wären wir imstande gewesen, die Forschung weiter zu führen, oder hätten wir das relevante Beweismaterial vorliegen, würden wir p glauben oder wir würden nicht-p glauben. Wie Blackburn (1989) bemerkt, wissen wir, was als Beweismaterial für oder gegen solche Aussagen gelten würde; wir wissen, dass sie die Art von Aussagen sind, für oder gegen die Beweismaterial sprechen kann. Oder wie Migotti (1998) es ausdrückt, wir wissen, dass Sätze über die ferne Vergangenheit Beispiele einer allgemeinen Art sind – und dass diese Art von Satz verifizierbar ist. Der Pragmatist kann also denken, dass das Prinzip der Zweiwertigkeit von jenen Aussagen gilt, für die es gelten zu müssen scheint – Aussagen, mittels derer wir forschen, Aussagen, die wir zu behaupten oder zu verneinen bereit sind, und Aussagen der entscheidbaren Art, für die Beweismaterial verloren gegangen ist. Aber nichtsdestoweniger darf nicht vermutet werden, dass es ein Prinzip ist, das für jede Aussage gilt.28 Es könnte sehr wohl eine Unterbestimmtheit geben. 27 Ebenso können wir, wenn das Beweismaterial irreführend oder auf falsche Weise verursacht worden ist, die obige Bedingung beschwören, um den Gedanken zu begreifen, dass die wahre Überzeugung nicht die ist, bei der wir zufällig festhängen, sondern die, die am besten wäre, wenn die Forschung glatt voranschreiten soll. Diese Art, mit Aussagen über die ferne Vergangenheit fertig zu werden, ist eine Verbesserung meiner Behandlung in Misak 1991, Kapitel 4, wo ich mich ausschließlich auf die Idee der Zweiwertigkeit als regulative Annahme konzentriert habe. Sie kollidiert nicht mit meinem Argument gegen kontrafaktische Tollkühnheit, denn ich schlage nicht vor, dass der Wahrheitswert einer Aussage über die Vergangenheit der Wahrheitswert ist, zu dem übermenschliche Forscher gelangen würden. Ich will einfach nur sagen, dass wir Aussagen über die Vergangenheit als Kandidaten für Wahrheitswerte verstehen können, weil sie ganz allgemein die Arten von Aussagen sind, für die es Beweismaterial gibt. 28 Brian Ellis (1992) bietet mir (und Peirce) in einer Rezension von Truth and the End of Inquiry eine ähnliche Lösung an. Wenn wir uns Zweiwertigkeit als eine lediglich semantisch überhöhte Version des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten denken, kann der Pragmatist denken, dass es gilt, wann es gelten sollte. „Es ist entweder wahr oder falsch, dass p“ läuft auf „Es ist wahr, dass entweder p oder nicht-p“ hinaus. Wenn wir zustimmen, dass p und nicht-p alle Möglichkeiten in einem gegebenen Fall ausschöpfen, sollten wir zustimmen, dass für p Zweiwertigkeit gilt. Zweiwertigkeit muss hier nicht unbeschränkt gelten – wir könnten nicht immer glauben, dass alle Möglichkeiten
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Vielleicht gibt es ganze Diskurse, für die unsere Praxis nicht zweiwertig ist (und auch nicht als zweiwertig angenommen werden sollte).29 Ein Diskurs wie der über den objektiven Wohlgeschmack von erkennbar essbaren Dingen könnte ein Bereich sein, wo wir die Zweiwertigkeit nicht für gültig halten, wo es vernünftig ist zu denken, es gebe nur Unterbestimmtheit und Mangel an Objektivität. Vielleicht gibt es auch Fälle von Unterbestimmtheit in Diskursen, wo Zweiwertigkeit allgemein als gültig angenommen werden kann. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass Vagheit mit der glatten Geltung von Zweiwertigkeit in Konflikt gerät. Und vielleicht muss eine Aussage nicht vage oder sonstwie problematisch sein, um unterbestimmt zu sein; „Licht hat Wellencharakter“ und „Licht hat Teilchencharakter“ könnten hier Beispiele sein. Zweiwertigkeit könnte auch an jenen Aussagen scheitern, die so sind, dass es ihrer ganzen Natur nach keinen Beweis für sie geben kann. Die Aussagen „Die Welt und alles in ihr, einschließlich Fossilien und Erinnerungen, ist vor fünf Minuten erschaffen worden“ und „mein Farbspektrum ist eine genaue Inversion des deinigen“ sind von der Art, dass nichts für oder gegen sie sprechen könnte. Endlich scheint Zweiwertigkeit nicht für Paradoxien zu gelten, wie für die Paradoxie vom Lügner. Wenn „diese Aussage ist nicht wahr“ wahr ist, dann ist es nicht der Fall, dass „diese Aussage ist nicht wahr“. Die ausführliche Behandlung dieser Schwierigkeiten für die glatte Geltung der Zweiwertigkeit verfolgt einen leicht häretischen Zweck – zu zeigen, dass sich unsere Intuitionen über Zweiwertigkeit gegen deren unbeschränkte Anwendung richten können, und folglich dagegen, dass das ÄS überall gilt.30 Es gibt überall Wahrheitswertlücken.31 Der Peirceianer glaubt, das Prinzip der Zweiwertigkeit durch p und nicht-p erschöpft sind. Aber wenn wir es denken, sind wir berechtigt zu denken, dass die Zweiwertigkeit gilt. 29 Die Verbindung zwischen Zweiwertigkeit und dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten einmal vorausgesetzt, müssen wir sagen, dass die Logik hier nicht klassisch ist. Der Pragmatist wird tout court das ausgeschlossene Dritte als ein logisches Gesetz verwerfen (und eine intuitionistische Logik übernehmen), es aber dann in den meisten Diskursen als ein Theorem wieder einführen. Deshalb würden wir in den meisten Bereichen imstande sein zu beweisen, dass ¬¬p ↔ p; wir könnten das ausgeschlossene Dritte in unseren Folgerungen verwenden. Im Hinblick auf Konditionale mit Antezedentien aus dem einen und Konsequenzen aus einem anderen Diskurs könnten wir es nicht gebrauchen. – Diese Argumentationslinie verdanke ich Joe Heath. 30 Das ÄS fordert das Prinzip der Zweiwertigkeit: Wenn p weder wahr noch falsch ist, dann ist es nicht der Fall, dass p wahr ist, und es ist nicht der Fall, dass p falsch ist. Aber das ÄS besteht darauf, dass „es ist nicht der Fall, dass p“ und „es ist nicht der Fall, dass nicht-p“ äquivalent sind. Das heißt, wenn das Prinzip der Zweiwertigkeit für ein irgendein bestimmtes p nicht gilt, führt uns das ÄS zu nicht-p und nicht-nicht-p, was natürlich ein Widerspruch ist. 31 Siehe Holton 2000 zu weiteren Beispielen von Wahrheitswertlücken. Holton argumentiert, dass Deflationismus bezüglich der Wahrheit mit Wahrheitswertlücken vereinbar ist, aber er gibt nur ein Argument für die Vereinbarkeit mit Hinblick auf eine Art von Lücke – die, welche durch Sätze
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und das ÄS gelten für eine Aussage nur als regulative Annahme der Forschung, und nur, wenn wir bereit sind, die Aussage zu behaupten, oder zu glauben, sie sei ein Kandidat für einen Wahrheitswert. Das ÄS gilt nicht für alle Aussagesätze. Der klassische Deflationist muss, wie der Pragmatist, versuchen, mit Feststellungen fertig zu werden, die nicht zweiwertig zu sein scheinen. Der Deflationist ist auf die Ansicht festgelegt, jeder wohlgeformte Aussagesatz könne im ÄS für p eingesetzt werden. Aber die Arten von Sätzen, die oben vorgeschlagen worden sind, scheinen nicht angemessen eingesetzt zu sein. Wie Dummett (1959) bemerkt hat, sind Sätze, die Propositionen ausdrücken, aber weder wahr noch falsch sind (wie etwa ein Satz, der einen Terminus enthält, der einen Sinn, aber keinen Bezug hat), für das ÄS eine Katastrophe. Der Satz „p ist wahr“ wird falsch sein, aber der andere Teil des Bikonditionals, p, wird nicht falsch sein (er ist weder wahr noch falsch). Tatsächlich löst die Lügnerparadoxie eine schlichte Verlautbarung von Horwich aus, die Aussage „Diese Proposition ist nicht wahr“ dürfe in dem ÄS nicht für p eingesetzt werden: „Zulässige Beispiele des Äquivalenzschemas sind in bestimmter Weise beschränkt, um so paradoxe Ergebnisse zu vermeiden“ (1990, 41). Dem klassischen Deflationisten stehen natürlich Strategien offen, um mit diesem Problem, das ich als Scheitern der Zweiwertigkeit bezeichnet habe, fertig zu werden. Das Prinzip der Zweiwertigkeit besteht darauf, dass jede wohlgeformte Aussage entweder wahr oder falsch ist, und der Deflationist könnte in einem Versuch, die Beispiele, die ich zurechtgelegt habe, hinwegzufegen, die Beweislast auf „wohlgeformt“ verlagern. Oder der Deflationist könnte sich mit der Vagheit herumschlagen, wie es Field (1994) tut – dadurch, dass er einen primitiven „eindeutig“-Operator hinzufügt – oder wie es Horwich es tut – indem er zwischen „gewöhnlicher Wahrheit“ und „bestimmter Wahrheit“ unterscheidet (1990, 82). Holtons „Minimalism and Truth-Value Gaps“ (2000) ist ein hervorragender Ausgangspunkt, um in den Kampf einzusteigen. Ich möchte einfach darauf hinweisen, dass die klassischen Deflationisten an diesem Punkt ebenfalls eine bestimmte Aufgabe zu leisten haben. Der Preis für ihre Bewältigungsstrategien, würde ich argumentieren, ist eine zusätzliche Komplexität,32 die dem Geist des Deflationismus widerstrebt, und die Vermehrung verschiedener Grade der Wahrheit, die sich niemand wünschen sollte. Die pragmatistische Ansicht von der Zweiwertigkeit kommt ebenfalls teuer zu stehen. Das ÄS kann nur bedingt akzeptiert werden – es wird heißen, es gelte nur von verursacht wird, deren Voraussetzungen falsch sind. 32 Holton (2000, 149) stimmt zu: Wenn die Kompetenz im Gebrauch des Wahrheitsprädikats fordert, dass ein Sprecher einen Begriff vom „Scheitern der Voraussetzung und von allem, was sonst die Anwendung des Wahrheitsprädikats einschränkt“, hat, dann ist das ÄS „bis zu dem Punkt verkompliziert worden, wo es schließlich nicht mehr erkennbar minimalistisch ist“.
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denjenigen Aussagen, für welche die Zweiwertigkeit gilt.33 Hier, denke ich, geht Probieren über Studieren – man muss einfach ausprobieren, ob die pragmatistische Ansicht von Wahrheit und Zweiwertigkeit verschiedene Gebiete des Diskurses und der Forschung besser verständlich macht als die Ansicht des Zitattilgungstheoretikers. Vielleicht sieht es so aus, als sei dieser Maßstab des Beweises zugunsten des Pragmatisten ausgefallen, insofern es ein Maßstab ist, der der Theorie bedarf, um die Praxis zu erklären. Aber ich gebe zu bedenken, dass es schwer ist, damit zu argumentieren. Wir haben gesehen, dass zwei der prominentesten Deflationisten – Horwich und Grover – es nicht tun. Die Wichtigkeit der Phänomenologie unserer Praktiken kann in folgender völlig allgemeinen und völlig plausiblen Anforderung zum Ausdruck gebracht werden: Eine Theorie von x muss die Praxis von x ernst nehmen. Andernfalls ist sie möglicherweise gar keine Theorie von x.34
Literaturverzeichnis Bar-On, D., C. Horisk und W. G. Lycan (2000). Deflationism, meaning and truth-conditions. Philosophical Studies 101(1), 1–28. Boghossian, P. (1990). The status of content. Philosophical Review 99, 157–84. David, M. (1994). Correspondence and Disquotation: An Essay on the Nature of Truth. Oxford: Oxford University Press. Davidson, D. (1996). The folly of trying to define truth. Journal of Philosophy 93(6), 263–78. Devitt, M. (2001). The metaphysics of truth. Siehe Lynch 2001, pp. 579–611. Dummett, M. (1959). Truth. Proceedings of the Aristotelian Society 59, 141–62. Dummett, M. (2002). The two faces of the concept of truth. Siehe Schantz 2002. Field, H. (1986). The deflationary conception of truth. In G. Macdonald und C. Wright (Eds.), Fact, Science and Morality: Essays on A. J. Ayer’s Language, Truth and Logic, pp. 55–117. Oxford und New York: Basil Blackwell. Field, H. (1994, July). Disquotational truth and factually defective discourse. Philosophical Review 103(3), 405–52. 33 Und
siehe die vorige Fußnote hinsichtlich der Kosten für die klassische Logik. Aufsatz ist ein zweiter Versuch (der erste war Misak 1998), die Debatte zwischen Peirce und dem Deflationisten zu verstehen. Ich habe zu einigen der hier vorgetragenen Ideen hilfreiche Kommentare von Zuhörern bei der Jowett Society in Oxford und den Universitäten von Auckland, Sheffield und St. Andrews erhalten. 34 Dieser
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Ulrich Metschl
Pragmatismus, Wahrheit und Demokratie: Zu Cheryl Misaks epistemischer Rechtfertigung des Liberalismus 1. Pluralismus und Konflikt Mehr als zwanzig Jahre nach ihrer ursprünglichen Formulierung hat John Rawls die Voraussetzungen seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) in wichtiger Hinsicht abgewandelt. In Political Liberalism (1993) wird die Annahme einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘, die die Umsetzung der Grundsätze der Gerechtigkeit ermöglichen soll, als unrealistisch bezeichnet und durch die schwächere Annahme eines übergreifenden Konsenses bezüglich eines Begriffs von Gerechtigkeit ersetzt.1 Als wohlgeordnet hatte Rawls eine Gesellschaft bestimmt, die sich nicht nur einer geteilten Vorstellung von Gemeinwohl verpflichtet weiß und somit die Förderung des Wohlergehens und die freie Entfaltung ihrer Mitglieder zum erklärten Ziel hat, sondern die insbesondere geprägt wird von einem übergreifenden und öffentlich geteilten Begriff von Gerechtigkeit als einem ‚fairen System der Kooperation‘, das im Rahmen der Grundstruktur einer Gesellschaft und deren Institutionen die nicht nur formal gerechte Zuteilung fundamentaler Rechte und Pflichten und damit von Lebenschancen regelt. Dabei schließt ein von allen geteilter und somit öffentlich wirksamer Begriff von Gerechtigkeit Konflikte und Interessengegensätze oder auch nur divergierende Vorstellungen darüber, was in einem konkreten Fall als gerecht bezeichnet werden kann, keineswegs aus. Seit David Hume von Gerechtigkeit als der ‚neidvollen Tugend‘ geschrieben hat, zählt die Beantwortung der Frage, inwieweit Forderungen im Namen der Gerechtigkeit auch dann noch Zustimmung erwarten können, wenn sie nicht zum Vorteil des Einzelnen gereichen, zu den wichtigsten Aufgaben jeder dem Liberalismus und seiner Forderung nach individueller Freiheit verpflichteten Gerechtigkeitstheorie. Mit der Annahme einer wohlgeordneten Gesellschaft hat 1 Der Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft findet allerdings auch in späteren Arbeiten noch gelegentliche Verwendung, so etwa in „The Idea of Public Reason Revisited“ in Rawls 1999, 573– 615.
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sich diese Frage gewissermaßen definitorisch beantwortet. Denn deren Merkmal ist ja gerade das Vorliegen eines öffentlich geteilten Gerechtigkeitsbegriffs, der zwar von den jeweils individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen verschieden sein mag, aber dennoch für eine so verfasste Gesellschaft als Ganzes verbindlich bleibt und von den Einzelnen in eben diesem Merkmal respektiert wird, so dass bei allen Gegensätzen der Interessen und Meinungen das kooperativ zu gestaltende Gemeinwohl als gesichert gelten darf. Rawls selbst sah ursprünglich mit der wohlgeordneten Gesellschaft die Frage, wie eine pluralistische und damit immer auch Konflikten ausgesetzte Gesellschaft gleichwohl auf dauerhafte und stabile Weise inhaltlich wirksamen Prinzipien von Gerechtigkeit verbunden sein könnte, als geklärt an. Eine homogene und nicht nur formale Auffassung von Gerechtigkeit legt aber ihrerseits die Frage nahe, wie weit es mit einem echten Pluralismus in einer solchen Gesellschaft eigentlich her sein kann, wenn über eine derart grundsätzliche Konzeption wie die der Gerechtigkeit, bei allen unterschiedlichen Vorstellungen, offenbar doch ein so hohes Maß an Einigkeit herrschen soll. Rawls leitet seine Wendung zum ‚politischen Liberalismus‘ daher mit dem keineswegs unbegründeten Bekenntnis ein, dass eine pluralistische, von unterschiedlichen, aber jeweils tief reichenden religiösen wie weltanschaulichen Haltungen geprägte Gesellschaft kaum im ursprünglichen Sinn als wohlgeordnet verstanden werden kann, und das Problem der Stabilität deshalb, weil ausgehend von einer unzutreffenden, im besten Fall zweifelhaften Annahme, unzureichend beantwortet ist. Der politische Liberalismus stellt einen Versuch dar, die dauerhafte Loyalität einer durch unaufhebbare Differenzen in politischen, religiösen wie moralischen Fragen gespaltenen Gesellschaft gegenüber einer auf die Vorteile durch Kooperation ausgerichteten Idee von Gerechtigkeit zu erklären. Und während eine solche Gesellschaft keineswegs mehr als wohlgeordnet im starken Sinne verstanden werden muss, ist sie umso mehr angewiesen auf die Unterscheidbarkeit politischer, und als solcher öffentlicher, Konzeptionen von integralen, mehr oder weniger privaten oder gruppenspezifischen Anschauungen (comprehensive doctrines), die in ihrem umfassenden Anspruch jeweils sämtliche menschlichen Lebensbereiche in einem Gefüge aus Normen und Werten erfassen und regulieren.2 Damit ist die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen und die dazu parallele Unterscheidung zwischen einem auf das Politische beschränkten und einem gewissermaßen ‚ganzheitlichen‘ (beispielsweise metaphysischen), weitere Lebensbereiche erfassenden Begriffsgebrauch für den politischen Liberalismus und die darin gründende Gerechtigkeitskonzeption von zen2 Zur
unterschiedlichen Reichweite von comprehensive doctrines siehe Rawls 1993, 13.
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traler Bedeutung. Rawls’ politischer Liberalismus geht mit der Hoffnung einher, dass der Pluralismus der Anschauungen jedenfalls in Fragen von öffentlichem Belang einen minimalen, die Meinungsvielfalt übergreifenden Konsens zulässt, der eine Einigung auf und eine allgemeine Zustimmung zu den für alle bindenden Grundsätzen einer gerechten Gesellschaft ermöglicht. Es scheint daher, als würde Rawls in einem übergreifenden Konsens bezüglich des politischen bzw. öffentlichen Gehalts bestimmter Begriffe oder Konzeptionen eine notwendige Voraussetzung für die Stabilität einer gerechten Gesellschaft sehen. Doch ist weder damit noch mit dem Nachweis der Kohärenz eines auf das Politische beschränkten Begriffsgebrauchs, also etwa einer politischen Konzeption von Gerechtigkeit oder von Person im Unterschied zu einer metaphysischen Lesart, die Existenz des übergreifenden Konsenses selbst zweifelsfrei gesichert. Dass somit die vorgeschlagene politische Konzeption von Gerechtigkeit eine Lösung des Stabilitätsproblems leistet, stimmt daher nur insoweit als eine inhaltliche Vorstellung (der Grundsätze) einer gerechten Gesellschaft Gegenstand eines übergreifenden Konsenses in der Sphäre des Politischen sein kann. Auf mittlere Distanz erinnert Rawls’ Vorstellung einer von einem ‚vernünftigen‘ Pluralismus geprägten Gesellschaft, die sich dank eines übergreifenden Konsenses auf Gerechtigkeitsgrundsätze verständigt, welche der allgemeinen und öffentlichen Unterstützung gewiss sein können, an das, was in aktuellen politischen Debatten mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbunden wird. Angesichts der für diese üblicherweise genannten Herausforderungen, die von ökonomischen wie sozialen Veränderungen bis zum Wiederaufleben verabscheuungswürdiger Formen von Intoleranz reichen, kann das moralische Selbstverständnis der so genannten Zivilgesellschaft Zuspruch dringend gebrauchen. Und gerade Anhänger eines Liberalismus alter Schule, der der Humboldtschen Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates noch einige Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, werden in einer Zeit, in welcher eine neuartige Form organisierter Kriminalität ihre brutalstmögliche Aufklärung gleich selber versprechen darf und Regierungen unter dem Vorwand ständiger terroristischer Bedrohungen ihr Verständnis von bürgerlichen Freiheiten durchaus phantasievoll überdenken, einen Bedarf der offenen Gesellschaft an argumentativem Beistand nicht in Abrede stellen wollen. Zweifelhaft erscheint allerdings, dass Rawls’ Vorschlag des politischen Liberalismus, der die Grundlage einer stabilen Gesellschaftsordnung vor dem Hintergrund eines vernünftigen Pluralismus bilden soll, für eine (weitgehend voraussetzungsfreie) Verteidigung einer freiheitlichen, der Vielfalt an Meinungen und Lebensformen offenstehenden Gesellschaft ausreicht. Denn was ist, wenn der übergreifende Konsens nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann, vielleicht weil aus einem vernünftigen Pluralismus ein unvernünftiger geworden
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ist? Es ist nicht so, dass Rawls die Möglichkeit unvernünftiger Anschauungen gänzlich ignorieren würde. Aber den Normalfall in seinen Überlegungen bilden vernünftige Anschauungen, aus denen heraus geeignete Vorkehrungen getroffen werden müssen, den negativen und erodierenden Einfluss unvernünftiger Überzeugungen zu beschränken oder zu verhindern.3 Die weitere Frage, in welchem Umfang der für den übergreifenden Konsens erforderliche vernünftige Pluralismus überhaupt als gegeben betrachtet werden kann, bleibt davon völlig unberührt. Der vernünftige Pluralismus muss, so Rawls, auf die Sphäre des Politischen beschränkt gesehen werden, da es keine einzige vernünftige, integrale Anschauung gibt, die von allen Bürgern einer Gesellschaft geteilt werden wird.4 Offensichtlich setzt dies voraus, dass diese Anschauungen ihrerseits die Trennung eines öffentlichen Bereichs von allen übrigen Lebensbereichen anerkennen. Aber ist es nicht gerade ein Kennzeichen verschiedenster Ideologien, dass sie diese Trennung (die vielleicht tatsächlich ein Merkmal des Liberalismus ist) nicht übernehmen und somit so viel Selbstbeschränkung zugunsten einer res publica alles andere als selbstverständlich ist? Die Bereitschaft zur Kooperation zwischen vernünftigen, im Unterschied zu rein rationalen Individuen ist jedenfalls mit gelegentlichen Anleihen bei der Moralpsychologie kaum ausreichend begründet.5 Dem Ideal der liberalen Gesellschaft fehlt damit aber eine Rechtfertigung, die seine normative Verbindlichkeit auch gegenüber seinen Verächtern demonstrieren kann. Eine unzureichende Rechtfertigung der nach liberalen Grundsätzen verfassten Form des Zusammenlebens wird von Cheryl Misak in ihrem Buch Truth, Politics, Morality nicht nur Rawls zum Vorwurf gemacht. Auch andere Fürsprecher der freiheitlichen Gesellschaft und ihrer Entwicklung zur diskursorientierten, deliberativen Demokratie, wie Richard Rorty oder Bruce Ackerman, können den Liberalismus nicht wirklich gegen eine Herausforderung in Schutz nehmen, wie sie, so Misak, beispielsweise von einem Denker wie Carl Schmitt ausgeht.6 Für Misak ist Schmitt ein prototypischer Vertreter einer antiliberalen Haltung, die die mit Rawls’ vernünftigem Pluralismus eingeforderte Zurückhaltung nicht kennt, um stattdessen die eigenen Anschauungen und vor allem normativen Überzeugungen zum allein richtigen Maßstab zu erklären und gegen andere, notfalls mit allen erforderlichen Mitteln, durchzusetzen. Zu einer besonderen geistigen Herausforderung wird Carl Schmitt für den Liberalismus deshalb, weil er die Verpflichtung des Liberalismus zur Neutralität gegenüber unterschiedlichen 3 Vgl.
Rawls 1993, xvii. Rawls 1993, 38. 5 Dass Kooperation auch zwischen rationalen Individuen keine Selbstverständlichkeit ist, ist die Grundeinsicht der Spieltheorie, für die daher die Frage, unter welchen Bedingungen Kooperation vorteilhaft ist, von einiger Bedeutung ist. 6 Zu ihrer einleitenden Auseinandersetzung mit Carl Schmitt siehe Misak 2000, 10–12. 4 Siehe
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Weltanschauungen bzw. substanziellen Bestimmungen des in normativer Hinsicht Richtigen (Rawls spricht in diesem Zusammenhang vom Vorrang des Rechten vor dem Guten) in antiliberaler Haltung nicht nur nicht teilt, sondern sogar gegen den freiheitlichen Staat wendet. Denn ein liberaler, der weltanschaulichen Neutralität verpflichteter Staat kann seinen Bürgern schwerlich verwehren, sich mit ihren Interessen gemeinschaftlich zu organisieren, selbst wo sich diese Interessen gegen den liberalen Staat und die in diesem auch anderen gewährten Freiräume richten. Für Schmitt, dessen zentrale politische Kategorie in der Freund–Feind-Unterscheidung liegt, muss der liberale Staat, gerade wegen seiner vermeintlichen Neutralität, zwangsläufig zu Konflikten führen, die den Staat destabilisieren werden. Ihre Aufhebung finden diese Konflikte für Schmitt erst in der erzwungenen Homogenität unter der Vorherrschaft einer weltanschaulichen oder politischen Anschauung. Jeder echte Pluralismus ist damit dazu verurteilt, sich am Ende selbst zu zerstören. Für eine Gesellschaft, die bürgerliche Freiheitsrechte ernst nimmt, ist es in der Tat nicht ganz einfach, die Vokabel von der ‚wehrhaften Demokratie‘ angemessen in die politische Wirklichkeit umzusetzen, ohne am Ende das Geschäft derer, die man in die Schranken verweisen wollte, auch noch selbst besorgt zu haben. Die in pluralistischen Gesellschaften unausweichlichen, ja geradezu ihre Lebendigkeit belegenden Konflikte erweisen sich mitunter durchaus als schwere Belastungsproben. Die gestiegene Anerkennung der Bedeutung öffentlicher Entscheidungsfindung in demokratischen Gesellschaften einerseits und das gleichzeitige Bewusstsein der Tragweite der gegenwärtigen Herausforderungen an die westlichen Demokratien, die vom demographischen Wandel bis zu den Möglichkeiten der Bio- wie Informationstechnologien reichen, andererseits, mögen da und dort den Wunsch nach notfalls erzwungener weltanschaulicher Homogenität nähren. Aber die Vielfalt der sich wechselseitig widersprechenden Meinungen und Weltanschauungen, mit ihren jeweils eigenen, eine Mannigfaltigkeit von Lebensbereichen regulierenden Wertegefügen, lässt sich, wie Misak einleitend konstatiert, nicht einfach dadurch verteidigen, dass man, wie es Rawls tut, auf die Vernünftigkeit des Pluralismus als notwendige Bedingung der trotz widerstreitender Vielfalt zu sichernden Stabilität der Gesellschaft verweist. Und es genügt auch nicht, obschon dies aus liberaler Sicht politisch völlig korrekt ist, auf den Wert einer öffentlichen, politischen Dialogkultur, die zwangsläufig auf Offenheit und Toleranz gründen muss, wenn man von anderen nicht nur die Bestätigung der eigenen Meinung erwartet, zu verweisen, weil man nur so informierte Überzeugungen und ausgewogene Urteile erreichen zu können glaubt.7 Denn der Mangel all dieser Positionen, so Misak, ist nicht nur, dass sie die Latenz und das Ausmaß 7 Als Vertreter einer derartigen Position erwähnt Misak vornehmlich Bruce Ackerman, Mark Kingwell und Joshua Cohen; vgl. Misak 2000, 29 ff.
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von Konflikten in liberalen Gesellschaften unterschätzen, sondern auch, dass sie die fundamentale Frage, wie und in welchem Umfang normative Geltungsansprüche überhaupt gerechtfertigt werden können, gar nicht in den Blick nehmen oder gar, wie Richard Rorty, den völligen Verzicht auf Rechtfertigungsversuche empfehlen, wobei dann freilich die Differenz zum postmodernen Relativismus bestenfalls noch eine verbale ist. Misaks eigener Vorschlag, die Idee der liberalen und pluralistischen Gesellschaft gegenüber ihren Verächtern xenophoben bis rechtsradikalen Zuschnitts wie ihren pharisäerhaften Anbetern, für die Freiheit und Offenheit der Gesellschaft so weit reichen wie der eigene Vorteil, zu verteidigen, ist dementsprechend ambitioniert. Unter Berufung auf einen speziellen, nämlich pragmatistischen Wahrheitsbegriff möchte Misak demonstrieren, dass normative Urteile als kognitiv gehaltvoll, wahrheits(wert)fähig und in diesem Sinn gewissermaßen als objektiv verstanden werden können und dass unter einem angemessenen, eben pragmatistischen Verständnis von Wahrheit (das Streben nach Wahrheit vorausgesetzt) Toleranz und Offenheit für die Meinungen anderer, und damit letztlich die liberale und pluralistische Gesellschaft, geboten sind. John Dewey, selbst stets ein erklärter Gegner gesinnungsfixierter Bigotterie in Fragen der Moral und fest davon überzeugt, dass Demokratie, statt eine bloße Regierungsform zu sein, jene Lebensform ist, die vom Glauben an die menschlichen Möglichkeiten (und zwar zum Guten) getragen wird, hätte zweifellos seine Freude gehabt an der Aufgabe, der sich Misak in einer für die akademische Philosophie leider selten gewordenen Beherztheit stellt.8 Aber gerade weil ihr Anliegen alle Unterstützung verdient hat, bedarf es einer kritischen und sorgfältigen Überprüfung des vorgetragenen Arguments, das aus einem philosophisch aufgeklärten Begriff von Wahrheit die Grundsätze einer freiheitlichen Gesellschaft ableiten will. Im Folgenden werden Zweifel gegen zwei Behauptungen unterschiedlicher Gewichtsklassen formuliert. Der eine betrifft die Rolle eines pragmatistischen Wahrheitsbegriffs und gründet in dem Verdacht, dass diese für einen konsequenten Pragmatismus eher eine nachrangige ist, ja ein solcher vielleicht sogar entbehrlich erscheint, und deshalb nur bedingt geeignet sein kann, die ihm von Misak zugedachte Aufgabe zu übernehmen. Doch selbst wenn die Berechtigung eines entsprechend explizierten pragmatistischen Wahrheitskonzepts zugestanden wird, bleibt der zweite Verdacht, dass nicht genau ein bestimmtes Verständnis von Wahrheit selbst schon eine Rechtfertigung des freiheitlichen Pluralismus darstellt, sondern, schwächer, allenfalls eine Parallele zwischen freiheitlichdemokratischer Gesellschaftsordnung und einer Präferenz für wissenschaftliche 8 Vgl. John Dewey, „Creative Democracy – The Task Before Us“ (1939), wo es heißt: „Democracy is a way of life controlled by a working faith in the possibilities of human nature“ (abgedr. in Hickman und Alexander 1998, 340–43).
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Methodik behauptet werden kann. Denn die Fähigkeit einer Gesellschaft, einen echten Pluralismus der Anschauungen und vor allem die daraus unweigerlich hervorgehenden Belastungen durch Konflikte zu ertragen, beruht auf der Entwicklung einer stark verfahrens-, im Unterschied zu einer ergebnisorientierten Form der Entscheidungsfindung. Eben dieser prozeduralistische Charakter ist auch, und gerade nach pragmatistischer Auffassung, ein herausragendes Merkmal neuzeitlicher Wissenschaft. Er zeigt sich nicht zuletzt in dem Stellenwert, welcher einer (potenziellen) Öffentlichkeit zukommt, die Transparenz wie Überprüfbarkeit gewährleisten soll, und zwar gleichermaßen bei der Gewinnung und Formulierung wissenschaftlicher Resultate wie in den Abläufen und Ergebnissen politischer Entscheidungsprozesse. Öffentliche Nachvollziehbarkeit ist von zentraler Bedeutung für die Legitimation demokratischer Entscheidungen wie wissenschaftlicher Ergebnisse. Cheryl Misak schenkt dem neuzeitlichen Hang zum Prozeduralismus, der am deutlichsten ist in der rechtsstaatlichen Organisationsform moderner Gesellschaften, wenig Beachtung, und sie äußert deutliche Vorbehalte gegen die für den Liberalismus im übrigen fast schon charakteristische Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen, die, wie eingangs erwähnt, auch für Rawls’ politischen Liberalismus von erheblicher Bedeutung ist. Stattdessen versucht sie, eine substanzielle Bestimmung dessen, was ein freiheitliches Gemeinwesen ausmacht, aus einen pragmatistisch bestimmten Wahrheitsbegriff zu gewinnen. Es könnte sein, dass damit jeder Wahrheitsbegriff am Ende überfordert ist.
2. Pragmatismus und Wahrheit An der Frage, was den philosophischen Pragmatismus ausmacht, scheiden sich die Geister. Weil sich die Bezeichnungen philosophischer Grundpositionen nicht gesetzlich schützen lassen, deshalb können die einen, wie neuerdings zu beobachten, Hilary Putnam zum Bannerträger des Pragmatismus erklären, während für andere dessen Affinität zu den Auffassungen von Peirce und Dewey so schwach ist, dass dafür die Bezeichnung Pragmatismus nur unter unvorsichtiger Dehnung der Begrifflichkeit Verwendung finden kann. Ohne derartige Fragen abschließend entscheiden zu wollen, kann eine Richtung vorgegeben werden durch die These, dass im Pragmatismus der Praxis ein Vorrang vor der (reinen) Theorie zukommt, insofern alle ernsthaften und ernst zu nehmenden geistigen Bemühungen praktischen, auf reale Lebensverhältnisse bezogenen Problemen bzw. deren Lösung geschuldet sind. Allerdings darf der Bereich des Praktischen dabei nicht zu eng verstanden werden, da jede dogmatische Beschränkung dessen, was als ‚praktisch‘ gelten darf, aus pragmatistischer Sicht unklug wäre, wie auch der philosophische Pragmatismus weit entfernt ist
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von jenem reinen Nützlichkeitsdenken, das ihm gerne in pejorativem Tonfall unterstellt wird. Auch wird ein reines Erkenntnisstreben keineswegs kategorisch abgelehnt, doch wird es relativiert zu Gunsten einer Auffassung, die darauf besteht, dass alle unsere kognitiven Versuche, die Welt um uns zu verstehen und zu erklären, in unserem Lebensvollzug wurzeln und nicht bloß hypothetischer Natur sein können.9 Der Pragmatismus fordert damit eine Einheit von Theorie und Praxis, wie sie dem wissenschaftsphilosophisch lange dominierenden Positivismus weitgehend fremd war. Die strenge Trennung zwischen Tatsachen- und Wertefragen etwa, auf die sich noch späte Adepten von Karl Poppers Kritischem Rationalismus einiges zu Gute halten, lässt den Pragmatisten mitunter ziemlich unbeeindruckt. Theoretische Begriffe wie Konstrukte müssen ihre Tauglichkeit vornehmlich im praktischen Vollzug, bei der Anwendung auf und Bewältigung von echten Problemen (und nicht bloß akademischen Gedankenexperimenten) beweisen. Für einen nur methodischen Skeptizismus im Dienste eines abstrakten philosophischen Begründungsstrebens, wie ihn Descartes als Methode zur Gewinnung sicherer Erkenntnis empfohlen hatte, brachten weder Peirce noch Dewey viel Verständnis auf.10 Es ist zunächst dieses spezielle Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, oder präziser vielleicht von theoretischer und praktischer Rationalität, das den Pragmatismus von anderen Linien der neuzeitlichen Philosophie unterscheidet. Nun ist es allerdings keineswegs so, dass von Peirce selbst maßgebliche Impulse für die praktische Philosophie, also im wesentlichen Ethik und Sozialphilosophie, ausgegangen wären.11 Seine Beiträge und Überlegungen zur Moralphilosophie bleiben eher sporadisch und haben häufig den Charakter von Randbemerkungen zu erkenntnistheoretischen Ausführungen, speziell zur Logik.12 Trotz der bekundeten Wertschätzung für Kant verzichtete Peirce auf eine systematische Auseinandersetzung mit der praktischen Vernunft. In Truth and the End of Inquiry hat sich Cheryl Misak daher für einen anderen Zugang zum Pragmatismus entschieden und motiviert seine Kernthesen auf 9 Deutlichen
Ausdruck findet diese Haltung etwa in Dewey 1998. Stellen bei Peirce finden sich in seinen Aufsätzen immer wieder, von „Some Consequences of Four Incapacities“ (1868) über „How to Make our Ideas Clear“ (1878) bis „The Essentials of Pragmatism“ (1906), oft mit direktem Bezug auf Descartes. Dewey hat seine Vorbehalte gegen die traditionelle Erkenntnistheorie unter anderem dargelegt in Dewey 1998. 11 Der Fall liegt entschieden anders bei John Dewey, der nicht nur zur Moralphilosophie beigetragen hat, sondern auch an politischen Debatten seiner Zeit beteiligt war und in einigen Kreisen bis heute mehr als Pädagoge denn als Philosoph in Erinnerung ist; vgl. hierzu die Einleitung von Larry A. Hickman und Thomas M. Alexander zu Hickman und Alexander 1998. 12 Misak weist auf die zwiespältige Haltung Peirces zum Umgang mit moralischen bzw. praktischen Problemen hin in Misak 2000, 48. 10 Einschlägige
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eine Weise, die dem Peirceschen Buchstaben näher kommt.13 Die durch alle Phasen seines Werkes von Peirce nahezu unverändert beibehaltene pragmatistische Maxime, wonach Begriffe durch ihre erfahrbaren Konsequenzen bestimmt werden, hängt, wie Misak in diesem Zusammenhang ausführt, in ihrer genauen Bedeutung entscheidend davon ab, wie seinerseits der Begriff der Erfahrung gefasst wird. Unter dem gegenüber den logischen Empiristen, die Erfahrung auf sinnliche Wahrnehmung beschränkt wissen wollten, deutlich erweiterten Erfahrungsbegriff Peirces wird die pragmatistische Maxime nicht nur klar unterscheidbar von einem verifikationistischen Sinnkriterium, wie es zeitweise im Wiener Kreis en vogue war, es werden darüber hinaus sowohl mathematische wie unter Umständen auch metaphysische Erfahrungen zulässig.14 Wie immer ein entsprechender Erfahrungsbegriff im Detail expliziert werden mag, und es spricht einiges dafür, dass dies, wie Misak betont, nicht durch die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen geschehen kann, sondern mehr die Form einer umschreibenden Erläuterung annehmen wird, klar ist, dass Peirces Erfahrungen nicht rein privat oder ausschließlich subjektiv verstanden werden dürfen, wie dies für empiristische Wahrnehmungserlebnisse üblicherweise gegolten hat. Vielmehr besitzen Peirces Erfahrungen, ähnlich den Regeln Wittgensteinscher Sprachspiele, einen quasi-öffentlichen Charakter. Daher ist, in deutlicher Abkehr zu einer Erkenntnistheorie cartesischer Abkunft, (wissenschaftliche) Erkenntnis für Peirce, wie übrigens auch für Dewey, an kollektive oder zumindest intersubjektive Kriterien gekoppelt. Die genaue Bestimmung des Bereichs des Erfahrbaren ist für das Folgende nicht ganz unerheblich, aber zunächst bleibt zu vermerken, dass mit der pragmatistischen Maxime eine ähnliche Konsequenz verbunden ist wie mit dem empiristischen Verifikationskriterium. Beide bestreiten die kognitive Legitimität bestimmter Aussagen oder Urteile, speziell solcher, die den Bereich möglicher Erfahrungen transzendieren. Das hat unmittelbar zur Folge, dass damit eine bestimmte Konzeption von Wahrheit ins Wanken gerät. Nach einer aus dem philosophischen Realismus gespeisten Auffassung sind Aussagen wahr, wenn sie Tatsachen, faktische Verhältnisse der bewusstseinsunabhängigen und paradigmatisch gegenständlichen Außenwelt wiedergeben, wenn also, kurz, der Fall ist, was sie behaupten. So plausibel, ja unabweisbar diese Auffassung grundsätzlich sein mag, ist sie doch einer Reihe von Einwänden ausgesetzt, unter denen sich auch solche befinden, die durch die pragmatistische Maxime bzw. die pragmatis13 Vgl.
zum Folgenden Misak 1991, insbesondere Kap. 1. mathematische Erfahrungen scheinen an Kants Auffassung der Mathematik als begrifflichen Konstruktionen angelehnt und ändern gleichfalls nichts an ihrem apriorischen Charakter. Erfahrbar wird Mathematik etwa in Diagrammen, die logische Verhältnisse erfassen, eine Auffassung, die auch unter Kategorientheoretikern nicht ungewöhnlich ist. Zur Möglichkeit metaphysischer Erfahrungen siehe Misak 1991, 21 ff. 14 Peirces
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tisch geforderte Verbindung von Theorie und Praxis motiviert sind. Denn nach der genannten Auffassung ist beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass Aussagen als wahr zu deklarieren sind, die jede mögliche Erfahrung, selbst entsprechend breit verstanden, übersteigen und deren Wahrheit (oder auch Falschheit) somit niemals ermittelt werden kann. Die Anhänger eines korrespondistischen Wahrheitsbegriffs erkennen darin keinen Mangel und beteuern, dass Wahrheit von Behauptbarkeit oder Verifizierbarkeit verschieden sein muss und keineswegs extensionsgleich ist mit begründeten Überzeugungen. Peirce wie Dewey halten dies für einen Irrtum, der Erkennen mit mentalem Abbilden gleichsetzt, anstatt darin vor allem ein Problemlösen zu sehen. Auch von empiristischer Seite ist der korrespondistische Wahrheitsbegriff kritisiert worden,15 deshalb verdient der Einwand, der für Misak eine grundsätzliche Verlegenheit der praktischen Philosophie markiert, besondere Beachtung. Anderen als deskriptiven Aussagen kommen nämlich nach korrespondistischer Auffassung grundsätzlich keine Wahrheits(wert)ansprüche zu. Insbesondere sind ethische Aussagen nichts, was im eigentlichen Sinne wahr oder falsch sein könnte. Behauptungen über das Rechte oder Unrechte entsprechen keinen Tatsachen, weil das, was der Fall ist, leider nicht immer mit dem identisch ist, was der Fall sein sollte, ja diese Behauptungen geben nicht einmal vor, Sachverhalte zu beschreiben, und sind insofern nicht deskriptiv, sondern allenfalls präskriptiv. Wenn sie aber keine objektive Entsprechung haben, dann sind sie nach korrespondistischer Auffassung nicht objektiv begründbar. Und so haftet schließlich normativen Ansprüchen ein Hauch von Subjektivität und Willkür an, der am Ende sogar die von Misak beschriebenen politischen Konsequenzen hat: denn der Pluralismus der Meinungen und Anschauungen kann auf diese Weise leicht als die Folge einer schieren Verlegenheit gedeutet werden, die aus der Unfähigkeit resultiert, in normativer Hinsicht verbindliche Orientierung zu schaffen. Was aber, so Misaks leitende Befürchtung, kann dann einem Carl Schmitt entgegengehalten werden, der der Beliebigkeit der Meinungen den ernst gemeinten Kampf um die Überlegenheit der jeweils eigenen Anschauung folgen lässt? Ihres Anspruchs auf Objektivität beraubt, lassen sich Behauptungen über die Grundsätze, die uns im privaten wie öffentlichen Handeln und Wirken leiten sollen, nicht mehr in einer die ganze Gesellschaft integrierenden Weise vertreten. Warum dann nicht entschlossen und zur Not gewaltsam die Vorherrschaft der eigenen Überzeugungen und Anschauungen etablieren? Beiläufig deutet Misak auch die Kehrseite der skizzierten, korrespondistischen 15 Am bekanntesten wohl von Otto Neurath, der einen Kohärentismus vorschlägt, vgl. Otto Neurath, „Radikaler Physikalismus und ‚wirkliche Welt‘ “, in Erkenntnis 4, 1934, 346 ff. Eine immer noch lesenswerte Darstellung der unterschiedlichen Auffassungen von Wahrheit bei Vertretern des Wiener Kreises ist Carl Gustav Hempel, „On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, Analysis, vol. II, no. 4, 1935, 49–59.
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Konzeption von Wahrheit für die etablierte Vorstellung von Wissenschaft an. Wird nämlich eine von jeder kognitiven Bezugnahme unabhängige Wirklichkeit als objektive Bemessungsgrundlage für die Richtigkeit oder Falschheit unserer Überzeugungen vorausgesetzt, dann können divergierende oder gar konträre Ansichten nur als die Folge kognitiver Unzulänglichkeit verstanden werden: unterschiedliche bzw. unzureichende Beobachtungsdaten oder Informationen, falsche Schlussfolgerungen, fehlerhafte Versuchsanordnungen bzw. Messungen oder auch vorübergehende oder anhaltende geistige Beeinträchtigungen der verschiedensten Art. Das aber heißt umgekehrt, dass zwei ideal rationale Individuen, im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten, mit identischen Informationen im Ergebnis zu den gleichen Überzeugungen kommen müssten. Doch dieser Glaube an die grundsätzliche Eindeutigkeit des kognitiven Zugriffs, die, wie Crispin Wright es nennt, kognitive Befehlsgewalt (cognitive command) gegenüber Tatsachenfragen, stellt durchaus eine Hypothek dar, auch für das Unternehmen Wissenschaft selbst, das sich damit fast zwangsläufig als ‚wertfrei‘ verstehen muss und einem starken Objektivitätsideal aussetzt.16 Freilich ist dadurch die korrespondistische Auffassung keineswegs zwingend widerlegt. Auch der bekanntere Einwand, dass die korrespondistische Vorstellung einer jede Erfahrung möglicherweise transzendierenden Wahrheit eine verdoppelte Metaphysik bedeutet und empirisch leer läuft, weil ohnehin nur Aussagen mit Aussagen oder Überzeugungen mit anderen Überzeugungen abgeglichen werden können, und somit aus pragmatistischer Sicht ein ontologischer Preis für einen fragwürdigen Erklärungswert bezahlt wird, wird von Misak nur beiläufig angeführt, da ihr ein anderer Punkt weitaus wichtiger erscheint. Die positivistische Tendenz, normativen Überlegungen Wahrheitstauglichkeit und Objektivität abzusprechen und sie damit tendenziell subjektiven Geschmacksurteilen gleichzustellen (sofern sie nicht kurzerhand für sinnlos erklärt werden), widerspricht nämlich phänomenologisch der Einschätzung, wonach wir sehr wohl von der Objektivität des moralisch Richtigen ausgehen und auch Unterschiede anerkennen zwischen dem, was eine Person für richtig hält, und dem, was tatsächlich moralisch richtig ist. Und nicht zuletzt glauben wir auch daran, dass wir uns charakterlich und sittlich bessern können, sei es im gedanklichen Austausch mit anderen oder durch kritische Selbstreflexion. Es ist diese Phänomenologie des normativen Diskurses, mit der die Objektivität normativer Beurteilungen unterstellt zu werden scheint, von der Misak fordert, dass sie von einer philosophisch umfassenden Konzeption von Wahrheit ernstgenommen werden muss. Mit dieser Zielsetzung unterscheidet sich der von Misak vorgeschlagene, pragmatistische Wahrheitsbegriff deutlich sowohl von der empiristischen Kritik an der Korrespondenztheorie als auch vor allem von jeder postmodernen Absage 16 Vgl.
hierzu Misak 2000, 64 ff.
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an Wahrheit und Rationalität. In der pragmatistischen Formulierung wird Wahrheit mit epistemischen Faktoren verschränkt, die sich wiederum an methodischen Kriterien orientieren, welche den rationalen Charakter als wahr klassifizierter Überzeugungen vor relativistischen Verdächtigungen bewahren. Die von Misak verteidigte Bestimmung besagt, dass eine Überzeugung genau dann wahr ist, wenn sie durch weitere Nachforschungen und Überlegungen nicht mehr ‚verbessert‘ werden könnte und insbesondere durch weitere Untersuchungen nicht mehr widerlegt werden würde. Misak empfiehlt diese Formulierung als eine Verbesserung gegenüber einer früheren Version, die Wahrheit gleichgesetzt hatte mit dem, was am Ende aller Nachforschungen geglaubt werden würde.17 Mit Nachforschungen ist dabei nichts gemeint, was sich auf Forschung im Sinne kanonisierter wissenschaftlicher Tätigkeit beschränken muss. Vielmehr umfasst Nachforschung jede Tätigkeit, die als Antwort auf einen entstandenen Zweifel und eine damit bestehende Ungewissheit eine diesen aufhebende Überzeugung sucht. Dies auf ein bestimmtes Modell von wissenschaftlicher Forschungstätigkeit einengen zu wollen, widerspräche klar Peirces oberstem Prinzip für die wissenschaftliche Einstellung selbst: „Do not block the way of inquiry.“18 Wegen dieses Prinzips kann der Kreis derer, von denen die entsprechende Überzeugung am Ende geglaubt werden würde, auch nicht auf eine vorab definierte Gruppe von Experten oder Spezialisten eingeschränkt werden, vielmehr umfasst die ‚scientific community‘ alle, die von einem Zweifel befallen werden können. Auch dies ist ein Zeichen für den sozialen, eine potenzielle Öffentlichkeit mit einbeziehenden Charakter einer pragmatistischen Erkenntnistheorie, die den Keim der ethischen Konsequenz, die Misak aus dem genannten Wahrheitsbegriff zu ziehen gedenkt, enthält. Aber gleich in welcher Formulierung, der pragmatistische Wahrheitsbegriff muss auf den ersten Blick befremdlich wirken. In Verbindung mit den oben genannten Grundelementen des Pragmatismus zeigt er sich aber einer korrespondistischen Vorstellung durchaus ebenbürtig. Denn diese dienten vor allem der Abwehr inhaltlich leerer Hypothesen, die mit keinerlei erfahrbaren Implikatio17 Vgl. Misak 1991, 43–46, wo zur Erläuterung des Peirceschen Wahrheitsbegriffs die zwei Konditionale vorgeschlagen werden:
(T–I) if H is true then if inquiry relevant to H were pursued as far as it could fruitfully go, H would be believed; und (I–T) if, if inquiry relevant to H were to be pursued as far as it could fruitfully go, then H would be believed, then H is true. 18 So in „The Scientific Attitude and Fallibilism“ in Peirce 1955, 54. Peirces Verständnis von ‚inquiry‘ wird in „The Fixation of Belief“ wie folgt formuliert: „The irritation of doubt causes a struggle to attain a state of belief. I shall term this struggle Inquiry, though it must be admitted that this is sometimes not a very apt designation“ (Peirce 1955, 10).
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nen verbunden sind, deren Richtigkeit oder Falschheit also keinen benennbaren Unterschied macht. Unerkennbare Wahrheiten beispielsweise kann es in diesem Sinne nicht geben. Jede Art von Nachforschung oder Untersuchung dient grundsätzlich dem Zweck, zu einer Überzeugung in einer offenen Frage zu gelangen, die eine Grundlage bildet für praktische oder auch theoretische Entscheidungen. In der ‚Festlegung von Überzeugungen‘19 findet der Zweifel eine (vorübergehende) Aufhebung, wie auch die ‚Suche nach Gewissheit‘20 erst einsetzt, wo uns ein echter Zweifel, kein bloßer ‚paper doubt‘ plagt. Hypothesen, deren Zutreffen oder Nichtzutreffen keinen Unterschied machen würde und die in diesem Sinne leer und folgenlos blieben, sind damit offensichtlich ungeeignet, Gegenstand von Überzeugungen zu werden, welche einen realen Zweifel beseitigen sollen. Das wiederum bedeutet, dass Überzeugungen ihrerseits empfänglich sein müssen für das, was an empirischen Belegen, begrifflichen Annahmen oder anderen Überzeugungen und Informationen für oder gegen sie spricht.21 Erst dadurch, dass Überzeugungen auf diese Weise gegenüber dem, was sie entweder stützt oder ihre Glaubwürdigkeit (die das Maß ist, mit dem sie dem Zweifel entgegentreten können) untergräbt, in der Pflicht stehen, werden sie zu unterscheidbaren Überzeugungen und an Information gehaltvoll – sie gehen mit kognitiven Verbindlichkeiten einher.22 Eine Überzeugung, die gegen jedes Argument und jede widerständige Erfahrung immun wäre und somit mit jedem möglichen Zustand der Welt verträglich, wäre ganz offensichtlich ungeeignet, irgend etwas mitzuteilen, was einen echten Zweifel ausräumen könnte. Umgekehrt müssen genuine Überzeugungen darauf abzielen, wahr zu sein, weil sie den Anspruch erheben, etwas mitzuteilen, und zwar als eine korrekte Information, was voraussetzt, dass sie etwas Unterscheidbares erfassen, das in Gestalt einer Aussage imstande ist, eine Frage zu beantworten bzw. einen Zweifel zu beheben. Daher wird schließlich der Nachweis, dass eine Überzeugung wahr ist, eben im Nachweis dessen bestehen, was die Überzeugung ausmacht. Die Verfahren zur Festlegung von Überzeugungen sind, so Peirce, unterschiedlich erfolgreich, und es sind zunächst ihre besseren Erfolgsaussichten, durch die sich die wissenschaftliche Methode gegenüber anderen Verfahren auszeichnet.23 19 Peirce
führt dies aus in „The Fixation of Belief“ in Peirce 1955, 5–22. der Titel von Deweys Auseinandersetzung mit der traditionellen Erkenntnistheorie (Dewey 1929/1998). 21 Vgl. Misak 1991, 55 ff., wo diese Auffassung ausführlicher entwickelt wird, um Einwänden gegen den Peirceschen Wahrheitsbegriff zu begegnen, sowie Misak 2000, 51 ff., wo auch David Wiggins als Gewährsmann für die beschriebene Konzeption von Überzeugungen genannt wird. 22 In Anlehnung an eine statistischen Sprachgebrauch könnte man sagen, dass Überzeugungen Ordnung in einem Raum der Möglichkeiten schaffen, während der Zweifel einem Zustand der Entropie entspricht: Information ist dabei negative Entropie; siehe etwa Cooke 1991, 282–84. 23 So Peirce in ‚The Fixation of Belief‘, wo zudem die Methoden der Hartnäckigkeit (tenacity), der Autorität und des Apriorismus genannt werden. 20 So
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Der Erfolg bemisst sich nach dem Umfang, in dem unsere Zweifel besänftigt werden, Zweifel, die durch die ‚harten Tatsachen‘ der Welt um uns herum – Peirce vertrat entsprechend seinem common-sensism einen gesunden Realismus – geweckt werden angesichts der chronischen Unzulänglichkeit unserer Kenntnisse. Weil nicht zu erwarten ist, dass wir uns wirkungsvoll gegen Zweifel immunisieren können, es sei denn durch geistige Selbstauslöschung, deshalb muss uns an einem zuverlässigen Verfahren gelegen sein, mit dem sich dem Zweifel begegnen lässt. Wahre Überzeugungen, verstanden als solche, die nicht weiter verbesserbar sind, erweisen sich gegenüber möglichen Einwänden stabil und somit gegen jede Form begründeten Zweifelns immun.24 Wahre Überzeugungen sind die relativ zu allen verfügbaren wie denkbaren einschlägigen Daten und Befunden optimalen Überzeugungen, die durch keine skeptischen Einwände mehr erschüttert werden können. Verstanden als bestmögliche Überzeugungen bezieht sich „bestmöglich“ dabei auf Erfahrungen, Beobachtungsdaten und Argumente und somit allein auf forschungsimmanente Kriterien, nicht auf externe, nonkognitive Werte, wie es William James einst von Russell unterstellt wurde oder wie mitunter Richard Rorty vorgeschlagen hat. Daher ist es in der Tat plausibel, Wahrheit, wie Misak es vorschlägt, als einen sicheren Hafen vor der Ungewissheit des Zweifels zu deuten und Überzeugungen als auf Wahrheit, mithin Stabilität und Zuverlässigkeit angelegt zu verstehen. Allerdings scheint mir gleichwohl damit die Rolle des Wahrheitsbegriffs für das pragmatistische Bestreben, Ungewissheit zu reduzieren, mit Misaks Vorschlag überschätzt. Doch ist es unabhängig davon aufschlussreich zu sehen, wie im Rahmen dieses Vorschlags der oben genannte Mangel, dass unter einer korrespondistischen Wahrheitskonzeption verbindliche Richtigkeitskriterien für normative Urteile unerreichbar scheinen, behoben wird. Der entscheidende Punkt hierbei ist die Einsicht, dass sich auch normative Überzeugungen über das sittlich Richtige bzw. Falsche als stabil angesichts lebenspraktischer Erfahrungen wie gegenüber argumentativ vorgetragenen Einwänden erweisen können. Doch damit die Gleichsetzung von Stabilität, selbst ins Ideale gesteigert, mit Wahrheit für moralische Überzeugungen nicht nur ein rhetorischer Trick bleibt oder, weil (zutreffende) normative Urteile als a priori gültig angesehen werden, als trivial angesehen wird, bedarf es der vorbereitenden Verständigung über die Natur moralischer Überzeugungen, die verdeutlicht, dass diese durchaus die für genuine Überzeugungen generell geforderte Rezeptivität (gegenüber Evidenzen, Daten, Argumenten) besitzen. 24 Peirce interessiert sich für den Zweifel nicht als ein psychisches Erlebnis, vielmehr handelt es sich dabei um einen epistemischen Zustand, der freilich ganz unterschiedlich psychisch erlebbar sein kann.
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Am nachdrücklichsten hat John Dewey den Gedanken vertreten, dass in moralischen Fragen von einem Ermittlungsbedarf nicht weniger die Rede sein kann als in Fragen bezüglich natürlicher Sachverhalte, dass also, wie Misak es formuliert, auch unsere Ethik problemorientiert (problem-driven) ist.25 Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass wir, da der Erreger der BSE-Erkrankung bislang unbekannt ist, den Übertragungsweg durch wissenschaftliche Untersuchungen zu ermitteln versuchen. Nur wenige behaupten allerdings, dass wir in analoger Weise, da wir angesichts der Möglichkeiten, die sich mit der Gentechnik abzuzeichnen beginnen, nicht sicher (oder jedenfalls nicht einig) sind, was in Fragen des therapeutischen Klonens oder der Keimbahntherapie richtig oder falsch ist, das Rechte durch ethische Forschung erst ermitteln müssen. Die Mehrzahl der Ethiker, die zu diesen Fragen Stellung nehmen, lässt Unsicherheit im moralischen Urteil nicht erkennen und scheint stattdessen davon auszugehen, dass das, was richtig ist, immer schon a priori und unbeeinflusst von den Veränderungen, denen unsere Handlungsmöglichkeiten unterworfen sind, feststeht. Cheryl Misak übernimmt Deweys Angleichung von Ethik an empirische Wissenschaft nicht nur, indem sie beide gleichermaßen für wahrheitsfähig (truth-apt) hält, sondern auch, indem sie sich zu der Ansicht bekennt, dass das moralisch Richtige nicht immer schon vorab feststeht, sondern mitunter von den Beteiligten wie den Betroffenen je nach Umständen erst ermittelt werden muss. Zwar kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz allem gravierende Unterschiede bestehen zwischen unseren Überzeugungen beispielsweise über den physikalischen Kosmos, in dem wir leben, und über den moralischen Kosmos, in welchem wir handeln und zusammenleben, etwa weil es in Fragen des Zusammenlebens und dessen, was wir tun sollen oder tun dürfen, oft mehr als eine richtige Antwort gibt, und damit eine Unbestimmtheit, die wir nur mit unseren Entscheidungen, diese oder jene Person zu sein oder diese oder jene Gesellschaftsform zu schaffen, füllen können, und die wir deshalb für die Natur, die sich unserer Gestaltungsmöglichkeit, soweit sie Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung (im Unterschied etwa zu technischer Aneignung) ist, weitgehend entzieht, ausschließen. Auch mag moralisches Wissen in der Mehrzahl der Fälle eher ein Wissenwie als ein Wissen-dass sein. Doch all das verhindert nicht, dass der Gedanke, moralische Überzeugungen könnten wahr sein in eben der Weise, in der wir naturwissenschaftlichen Aussagen Wahrheit zubilligen, dadurch an Plausibilität gewinnt, dass die Ethik gleichermaßen zum Gegenstand unvoreingenommener Forschung gemacht wird wie die Physik – und in beiden Fällen die Wahrheit in der Übereinstimmung mit und Bewährung gegenüber unseren Erfahrungen besteht, diese ausreichend ins Hypothetische verlängert. Ob man so weit gehen 25 Eine entsprechende Lesart der Position Deweys wird überzeugend von Isaac Levi vertreten, vgl. Levi 1986, 1 ff.
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möchte, einen einheitlichen Wahrheitsbegriff für alle Arten von Bemühungen, zu verlässlichen und vernünftigen Überzeugungen zu gelangen, zu behaupten, oder ob man, wie Habermas, an der Unterscheidung zwischen der Wahrheit deskriptiver Aussagen und der Gültigkeit normativer Urteile festhält, ist am Ende unerheblich. Selbst Misak, die in dieser Frage eine dezidierte Meinung hat, insistiert nicht.26 Denn weit wichtiger als dieser Punkt, wichtiger auch als der Versuch selbst, moralische Überzeugungen als kognitiv zugänglich zu verteidigen, ist die Frage nach den ethischen und sozialphilosophischen Implikationen, die mit der pragmatistischen Orientierung verbunden sein sollen. Die Unverzichtbarkeit eines Wahrheitsbegriffs für den Pragmatismus ist bei all dem aber keineswegs zweifelsfrei erwiesen. Die Schwierigkeit, die sich einem pragmatistischen Wahrheitskonzept stellt, ist von Peirce selbst folgendermaßen kommentiert worden: the sole object of inquiry is the settlement of opinion. We may fancy that this is not enough for us, and that we seek, not merely an opinion, but a true opinion. But put this fancy to the test, and it proves groundless; for as soon as a firm belief is reached we are entirely satisfied, whether the belief be true or false. And it is clear that nothing out of the sphere of our knowledge can be our object, for nothing which does not affect the mind can be the motive for mental effort. The most that can be maintained is, that we seek for a belief that we shall think to be true. But we think each one of our beliefs to be true, and, indeed, it is mere tautology to say so. (Peirce 1955, 10 ff.)
Jeder Akt einer Forschungsanstrengung, verstanden im weitesten Sinne, ist eine Reaktion auf einen Zweifel und ein Versuch, bestehende Ungewissheit zu verringern. Das Herausfinden-Wollen ist bezogen auf einen bestimmten Zustand der Ungewissheit und der Bezweifelbarkeit einer Proposition, und es wäre ganz unpragmatistisch gedacht, wollte man annehmen, dass es um die Beseitigung eines Zweifels ein für alle Mal geht. Daher ist nicht ganz klar, nach welchem Maßstab sich Überzeugungen als optimal, relativ zu allen denkbaren Erfahrungen, Daten und Informationen, einstufen lassen, wenn die Bewertung grundsätzlich immer nur von einem bestimmten epistemischen Zustand aus erfolgen kann. Ein Standpunkt, von dem aus sich alle epistemischen Zustände überblicken ließen, erscheint mir eher mit der Hoffnung auf eine womöglich transzendentalpragmatische Letztbegründung verbunden als zweifelsfrei im Pragmatismus von Peirce und Dewey angelegt. In Ermangelung eines derartigen archimedischen Punktes gibt es, wie Peirce betont, aus dem subjektiven und im besten Fall mit anderen 26 Vgl. Misak 2000, 35–47, für eine Auseinandersetzung mit den Positionen von Habermas und Apel und der Frage nach einem einheitlichen Maßstab der Richtigkeit für deskriptive und normative Aussagen oder Überzeugungen. Bereits aus dem Bisherigen sollte die grundsätzliche Nähe zu den Auffassungen Habermas’ deutlich geworden sein.
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geteilten Fürwahrhalten kein Entrinnen, und dieses Fürwahrhalten ist jeweils an einen spezifischen Überzeugungszustand gebunden. Es scheint daher, als entscheide sich Misak für eine Haltung, die Isaac Levi treffend als ‚messianischen Realismus‘ bezeichnet hat.27 Der messianische Realismus unterliegt einer Konzeption von Wahrheit, derzufolge diese den Konvergenzpunkt am hypothetischen Ende allen Forschens bildet. Bezogen auf diesen Konvergenzpunkt, an dem alle Zweifel beseitigt sind, lassen sich Überzeugungen tatsächlich als optimal klassifizieren, relativ zu der mit dem Konvergenzpunkt erreichten Möglichkeit, jede Nachforschung so lange zu betreiben, wie sie sich lohnen mag (as far as we fruitfully could). Doch selbst das setzt die Verfügbarkeit eines einheitlichen Forschungsstandards voraus, betrachtet vom Ende aller Forschung aus. Pragmatisten allerdings sollten Vorsicht walten lassen gegenüber Urteilen, die den eigenen epistemischen Zustand eindeutig übersteigen, und erst recht sollten sie vermeiden, über Forschungsstandards zu befinden, die über das momentan Verfügbare hinausgehen und absolut gesetzt werden. Im Gegensatz zu einem messianischen Realismus verlangt der säkulare Realismus daher auch nicht, das Ende aller Forschungstage zum Maßstab zu erheben, sondern orientiert sich bescheidener an dem Nahziel, mit dem nächsten Schritt, der die Aufhebung einer Ungewissheit beabsichtigt, einen Irrtum zu vermeiden. Sein Ehrgeiz beschränkt sich auf die angemessene Verbesserung unseres Überzeugungszustandes hier und jetzt, und nicht für alle Zeiten.28 Es stimmt in der Tat, dass Peirce wiederholt mit der Idee eines starken Wahrheitsbegriffs, der sich angemessen in der Weise erläutern lässt, wie Misak dies tut, zumindest liebäugelt. Aber inwieweit er sich darauf verpflichtet, ist zunächst eine exegetische Frage. Unabhängig davon gibt es grundsätzlich mindestens drei Varianten, zwischen denen unterschieden werden muss. Erstens können wir uns darauf beschränken, nach Zuständen zu streben, die aus Überzeugungen bestehen, welche (jeweils in diesen Zuständen) für wahr gehalten werden, und der Ungewissheit dabei dadurch begegnen, dass, nach dem Modell des säkularen Realismus, für die Beantwortung des Zweifels nach irrtumsfreien, d. h. in der Beantwortung des Zweifels möglichst effektiven Überzeugungen, relativ zum gegebenen Überzeugungszustand, gesucht wird. Zweitens kann eine Überzeugung als wahr deklariert werden genau dann, wenn es einen Zustand gibt, in welchem alle die jeweilige Überzeugung betreffenden Zweifel und Einwände aus der Sicht aller Überzeugungszustände widerlegt sind. Und drittens kann eine Überzeugung als wahr definiert werden, wenn es im Sinne des messianischen Realismus einen Zustand gibt, in dem alle Forschung ein Ende gefunden hat, weil schlechthin 27 Vgl.
Levi 1991, 158 ff. Levi 1991, 158 ff. Levi findet den säkularen Realismus eher bei Dewey als bei Peirce und räumt ein, dass Peirce als Vertreter eines messianischen Realismus verstanden werden kann. 28 Vgl.
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alle Fragen beantwortet und alle Ungewissheiten ausgeräumt sind und in welchem die fragliche Überzeugung von der scientific community akzeptiert wird. Misaks ursprünglicher Vorschlag von Wahrheit als dem end of inquiry entsprach der dritten Variante, die auch Peirces Vorstellung von Wahrheit als einem regulativen Ideal wiederzugeben scheint. Der modifizierte Vorschlag von Wahrheit als einer nicht mehr verbesserbaren Überzeugung scheint der zweiten Variante näherzukommen. Doch auch diese wird durch eine pragmatistische Erkenntnistheorie nicht zwingend oder zweifelsfrei vorgeschrieben, wie Levis Plädoyer für den säkularen Realismus verdeutlicht. Was immer für oder gegen die eine oder andere Konzeption sprechen mag, eine ganz andere Frage ist, ob eine pragmatistisch orientierte Verteidigung der freiheitlichen Gesellschaft wie der Verbindlichkeit moralischer Urteile auf einen entsprechenden Wahrheitsbegriff angewiesen ist, oder auch nur in höherem Maße darauf angewiesen ist als die Erkenntnistheorie insgesamt.
3. Die Moral der freiheitlichen Gesellschaft Der Übergang von einem erkenntnistheoretisch verankerten Wahrheitsbegriff zur politischen Moral des Liberalismus vollzieht sich für Misak in Form eines methodischen Grundsatzes. Denn wenn die Wahrheit einer Überzeugung darin besteht, dass die fragliche Überzeugung nicht weiter verbesserbar ist relativ zu allen relevanten Erfahrungen (tatsächlich gemachten wie noch zu machenden), also ein entsprechendes Erkenntnisinteresse nach einem einheitlichen Maßstab (immer vorausgesetzt, dass es einen solchen gibt) optimal befriedigt, dann müssen sich solche Überzeugungen gegenüber Erfahrungen, Informationen und Daten sowie in und gegenüber Argumenten auch bewähren können. Sie müssen sich, heißt das, der Herausforderung stellen und stellen wollen, und daher für Erfahrungen, Beobachtungen, Einwände, das ganze Korn unserer epistemischen Mühlen sozusagen, geöffnet werden. Überzeugungen, bei denen die Frage nach ihrer Wahrheit nicht müßig ist und die deshalb als, nach epistemischen Kriterien, beste Überzeugungen Bestand haben sollen, weil gehärtet gegen skeptische Einwände, müssen, gerade wegen ihres Qualitätsanspruchs, der kritischen Überprüfung und dem Test zugänglich sein: Der Beweis des Puddings liegt bekanntlich im Essen. Genuine Überzeugungen müssen also ihre reklamierte Fähigkeit, dem Zweifel begegnen und die Ungewissheit verringern zu können, unter Beweis stellen oder dazu zumindest bereit sein. Aus der Empfänglichkeit genuiner Überzeugungen für alles, was für oder gegen sie spricht und sie damit informationell gehaltvoll werden lässt, wird so das methodische Postulat, dass sich Überzeugungen der Möglichkeit einer Überprüfung öffnen müssen. Weil zudem der Bereich der Erfahrungen, Beobachtungen und Argumente, an denen sich Überzeugungen mit
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dem Anspruch auf Wahrheit messen lassen müssen, nicht vorab beschränkt werden kann, deshalb muss die Offenheit unserer Überzeugungen ernstgenommen werden. Im Zweifelsfall sind es die Erfahrungen der anderen, die zählen: „Truth requires us to listen to others, and anyone might be an expert“,29 und das auch und gerade dort, wo es um Fragen des richtigen und gedeihlichen Zusammenlebens geht. Auf diese Weise spricht sich, wie Misak herausstreicht, der Pragmatismus tatsächlich für eine radikale Demokratie der Wahrheitssuche aus, die es verbietet, missliebige Erfahrungen herabzusetzen und aus dem öffentlichen Diskurs auszublenden – seien es diejenigen von Andersdenkenden, Andersartigen oder anders Lebenden. Überzeugungen zu vertreten verpflichtet zur Bereitschaft, diese gegenüber anderen zu rechtfertigen und durch Gründe zu stützen und sich gegebenenfalls der Herausforderung anderer Überzeugungen und Meinungen zu stellen. Dabei zählen zwangsläufig die Unterschiede: der Perspektiven, der Einstellungen, Interessen und Hintergründe. Der Pragmatist kann darum der pluralistischen Gesellschaft nicht gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstehen. Er begrüßt sie vielmehr um eines kognitiven Zieles willen: wegen des aufrichtigen Bemühens um Wahrheit, dem wiederum ein praktisches Verlangen nach gelungener Verwirklichung unserer praktischen Ziele unterliegt. Nun liefert aber ein methodischer Grundsatz nicht schon für jede Situation eine gebrauchsfertige Antwort, und Misak ist nicht so unbescheiden, dieses zu behaupten oder auch nur zu beanspruchen, ein Rekurs auf diesen Grundsatz sei zur moralischen Orientierung in einer großen Zahl von Fällen hilfreich. Zudem hat die epistemische Rechtfertigung liberaler Prinzipien eine von John Locke bis Karl Popper reichende Tradition, die die genaue Gestalt einer pluralistischen und demokratisch verfassten Gesellschaft weitgehend unbestimmt gelassen hat. Wo Misak demgegenüber deutlicher wird, laufen ihre Empfehlungen auf eine Rechtfertigung dessen hinaus, was inzwischen gerne als „deliberative Demokratie“ bezeichnet wird, jene Form der gesellschaftlichen Organisation also, bei der kollektive Entscheidungen an die diskursiven Verfahren der öffentlichen Meinungsbildung gekoppelt sind.30 Mit der deliberativen Demokratie hat sich durch die mannigfaltigen politischen Ausdrucksformen bürgerlicher Beteiligung in liberalen Gesellschaften die Zahl der im öffentlichen Rahmen geführten Debatten und vorgetragenen Argumente nicht nur drastisch vermehrt, sondern auch, so ihre Fürsprecher, eine neue Chance eröffnet, durch die Vielseitigkeit der Beiträge und die erweiterten Möglichkeiten der Partizipation zu ausgewogenen Urteilen zu gelangen, die sich gegenüber divergierenden und sich, wie es scheint, zunehmend 29 Misak
2000, 96. Rawls’ Charakterisierung der deliberativen Demokratie vgl. „The Idea of Public Reason Revisited“ in Rawls 1999, 579–80. 30 Zu
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diversifizierenden gesellschaftlichen Strömungen als zustimmungsfähig und somit stabil erweisen können. Auf diese Weise wird Misaks Wahrheitsverständnis für die Überzeugungen epistemischer Subjekte verlängert auf kollektive Überzeugungen, welche weniger einem Individuum als vielmehr einer Gruppe von Individuen als ganzer zugerechnet werden können.31 Mit ihrem Eintreten für die deliberative, deutlich diskursorientierte Variante der freiheitlichen Demokratie bezieht Misak eine Position, die, wie sie selbst betont, weltanschaulich keineswegs neutral ist, sondern unzweifelhaft mit der Bevorzugung einer bestimmten Lebensform verbunden ist, derjenigen namentlich, die auf die konsensuale Kraft vernünftiger Argumente setzt und das gepflegte Gespräch anderen Formen der Konfliktbewältigung vorzieht. Widerspricht dies der Vorstellung, wonach der Liberalismus mit der Forderung einhergeht, eine freiheitliche Gesellschaft müsse hinsichtlich der verschiedenen Lebensformen ihrer Mitglieder strikt neutral und indifferent bleiben? Die liberale Neutralitätsforderung richtig zu deuten, ist keine einfache Aufgabe, und sie isoliert von anderen Kennzeichen liberaler Geisteshaltung verstehen zu wollen dürfte schwerfallen. Isaiah Berlin hat mit Blick auf John Stuart Mills Freiheitsverständnis, das das theoretische Fundament für einen fast antiquiert erscheinenden Liberalismus darstellt, bemerkt, dass Mills Eintreten für umfassende Freiheitsrechte ein Ausdruck seines Verlangens nach sinnvollen, dem Einzelnen jeweils verfolgenswert erscheinenden Lebenszielen und -zwecken ist, also zu Neutralität und Indifferenz geradezu im Gegensatz steht.32 Aus diesem Grund kann die üblicherweise geforderte Neutralität als eine staatliche Neutralität allenfalls aus der Notwendigkeit begründet werden, die Freiheitsräume der Einzelnen aufrechtzuerhalten und zwischen den individuellen Ansprüchen und partikularen Interessen entsprechend zu vermitteln. Aber Misak weiß natürlich, dass Neutralität tout court ein Mythos ist. Schon die Anerkennung von Amtssprachen und die Ausgestaltung entsprechender Minderheitenregelungen, oder auch die Bestimmungen staatlicher Familienpolitik, zeigen deutlich, welche Lebensformen einem Staat wie viel bedeuten. Doch anstatt Neutralität, wenn schon nicht im Ergebnis, dann wenigstens in der Begründung (entlang einer Unterscheidung von Will Kymlicka)33 zu verteidigen, entscheidet sich Misak, unter Berufung auf den pragmatistischen Wahrheitsbegriff, für die Preisgabe der liberalistischen Neutralitätsforderung. Sie rechtfertigt dies im Kern wie folgt: Der Gedanke, dass 31 Im Rahmen der Sozialwahltheorie kann man sich parallel zur Aggregation individueller Präferenzen zu einer kollektiven Präferenzrelation (oder unter geeigneten Bedingungen sogar einer kollektiven Nutzenfunktion) auch die Aggregation von individuellen Überzeugungen (repräsentiert etwa durch Wahrscheinlichkeitsfunktionen) zu einer kollektiven Meinung denken; zu einigen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang vgl. Hild et al. 1998. 32 Isaiah Berlin, „John Stuart Mill and the Ends of Life“, in Berlin 1969, 173–206. 33 Diese wird von Misak angesprochen in Misak 2000, 113–14.
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die Wahrheit nur über die Vielfalt der Meinungen und Anschauungen ermittelt werden kann, nicht weil die Vielfalt die Chancen, auf die richtige Überzeugung zu treffen, erhöht, sondern weil die Wahrheit in nichts anderem besteht als in der Beständigkeit gegenüber Zweifeln und skeptischen Einwänden (die in abweichenden Meinungen zum Ausdruck kommen), begründet nicht nur eine Verpflichtung zur Toleranz. Er verpflichtet darüber hinaus, wie Misak meint, zur aktiven Unterstützung und positiven Diskriminierung von solchen Meinungen, die der Gefahr der Marginalisierung ausgesetzt sind. Nicht neutral soll der liberale Staat den Anliegen und Erfahrungen von Homosexuellen und religiösen oder ethnischen Minderheiten gegenüberstehen, sondern fördernd und in besonderem Maße aufgeschlossen.34 Aber natürlich sind es keineswegs alle Minderheiten und Randgruppen mit abweichenden Meinungen, denen Misak Gehör und Plattform gewähren will, denn schließlich ist es erklärtes Ziel der pragmatistischen Verteidigung der liberalen Lebensform, Neonazis oder Apartheidsvertretern, ebenso wie religiösen Fundamentalisten (gleich welchen Bekenntnisses) und Flat-Earthern, dezidiert entgegenzutreten. Wie aber soll unterschieden werden zwischen Anschauungen, die dem demokratischen Miteinander zuträglich sind und, pragmatistisch gedacht, im Dienste der Wahrheitsfindung stehen, und solchen, die diesem Ziel abträglich sind? Ist es nicht gerade die Ausgangsschwierigkeit gewesen, aus der die Schmittianische Bedrohung erwuchs, dass das, was dem einen das unabweisbar Richtige ist, dem anderen als völlige geistige Verirrung erscheint? Wohl wissend, dass eine liberale Haltung ihre Verfechter mit den abweichenden Meinungen anderer harten Bewährungsproben aussetzt, hat Berlin bezüglich Mills radikalem Verständnis von Meinungsfreiheit an die Unterscheidung zwischen skeptischem Respekt und herablassender Toleranz erinnert.35 Doch Misak macht von dieser Unterscheidung keinen Gebrauch. Es läge nahe, zwischen tolerierbaren und nicht tolerierbaren Meinungen und Lebensformen auf prozeduralistischem Wege zu unterscheiden, um damit Ansichten, die diskursoffen und zur Auseinandersetzung gerade auch mit konträren Ansichten bereit sind, von solchen zu trennen, die sich demokratischen Legitimierungsverfahren verweigern. Doch Misak glaubt, eher auf die inhaltliche Bestimmung des normativ Richtigen setzen zu können, auch wenn diese nicht eindeutig ausfallen kann. There will be countless conceptions of the good which will not violate the pragmatist’s principle that we must respect the experience of others. (Misak 2000, 116)
Aus der Vorstellung, dass es überhaupt zu fördernde Konzeptionen des (inhalt34 Vgl. 35 Vgl.
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Misak 2000, 115. Berlin 1969, 184; siehe hierzu auch Levi, „The Ethics of Controversy“, in Levi 1997,
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lich) Guten gibt, die für Misak aus der Ablehnung des Neutralitätsprinzips zu folgen scheint, ergibt sich zwangsläufig eine Verpflichtung, diese gesellschaftlich oder staatlich zu fördern, ohne dass Misak die dabei entstehende Spannung mit liberalen Grundannahmen merklich beunruhigt. The theoretical work is in finding principles to guide us [ . . . ] in deciding when it is appropriate for a government to encourage or discourage a lifestyle and when it is inappropriate. The dangers of having the coercive power of the state involved in deliberations of the good must be squarely confronted. But the best way to avoid such dangers is not to pretend that the state can stay out ouf people’s lives. The best way to avoid the dangers is to see that the state must be involved in encouraging and discouraging conceptions of the good and then deliberating about when enough is enough. (Misak 2000, 117)
Mit diesem pragmatistisch gestützten Aufruf zur staatlichen Intervention zur Bewahrung von Vielfalt und Freiheit verbindet sich die feministische Kritik an der für den Liberalismus ebenfalls kennzeichnenden Trennung zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen, die, wie eingangs erwähnt, nicht zuletzt für Rawls’ politischen Liberalismus grundlegend ist. Nun ist es nicht von der Hand zu weisen, dass diese Trennung oft genug missbraucht wurde, um bestehende Missstände zu zementieren. Häusliche Gewalt, gar sexuellen Missbrauch fälschlicherweise als privates Problem zu bezeichnen, verringert die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten zum Schaden der Opfer. Gleichwohl ist die (auch öffentliche) Anerkennung von Privatsphäre eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Freiräumen und die in diesen ermöglichte persönliche Entfaltung. Nicht immer, da hat Misak recht, ist die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten klar zu erkennen, und neue Formen der Kommunikation in der so genannten Informationsgesellschaft lassen sie erst recht verschwimmen. Misak hat auch recht, wenn sie betont, dass das Feld öffentlicher Überlegungen und Debatten nicht zu schmal bestellt oder auf das beschränkt werden sollte, was vor Gerichten und in Parlamenten zur Sprache kommt, und sie daher die deliberative Demokratie, in der politische Debatten nicht mehr auf die traditionellen Institutionen der repräsentativen Demokratie begrenzt sind, als eine dem sozialen Wandel angemessene Entwicklung würdigt. Doch die Antwort auf die heiklen Fragen der Grenzziehungen, welche den Liberalismus prägen, kann nicht in der Kasuistik liegen, und der Appell an philosophische Bescheidenheit, mit entsprechender Urteilsenthaltung, ist zwar berechtigt, entschuldigt aber nicht eine nach individuellem Gutdünken vorgenommene Einteilung in zulässige und unzulässige Auffassungen oder Lebensformen. Wo Misak glaubt, aus epistemologischen Prinzipien eine moralische Position ableiten zu können, rekurriert sie in Wahrheit auf die, aus Sicht der zu rechtfertigenden moralischen Position,
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‚rechtschaffene‘ politisch korrekte Gesinnung, diejenige, die individuelle Freiheit zur persönlichen Entfaltung, verbunden mit der Toleranz und Anerkennung für den Lebensstil anderer, betont. Das freilich ist etwas anderes als der Anspruch, die Grundsätze der liberalen und pluralistischen Gesellschaft aus einem pragmatistischen Wahrheitsbegriff gewonnen zu haben.
4. Wissenschaft und Demokratie Cheryl Misak sieht in einem wohlverstandenen, pragmatistischen Wahrheitsbegriff eine tragfähige Basis, die Grundsätze liberaler Demokratien zu rechtfertigen. Der mit ehrlich gemeinten Überzeugungen verbundene Wahrheitsanspruch verpflichtet diese, empfänglich zu sein gegenüber allem, was für die Behauptbarkeit dieser Überzeugungen einschlägig ist. Wer seine Ansichten, gleichgültig in welcher Frage, als die richtigen vertreten will, steht in der Pflicht, die Erkenntnisse, Meinungen, und Überzeugungen anderer bezüglich dieser Frage als mögliche, wenngleich widerlegbare Einwände gelten zu lassen und sie in diesem Sinne angemessen zur Kenntnis zu nehmen – sei es, um in der damit verbundenen Behauptung eine Bestätigung der eigenen Ansichten zu finden, sei es, im abweichenden Fall, um der damit gestellten Herausforderung zu begegnen. Aber nicht der tatsächlich geführte Diskurs ist entscheidend, wie auch nach pragmatistischem Verständnis, selbst wenn Wahrheit als regulatives Ideal eine leitende Funktion besitzt, Überzeugungen immer nur in einem vorläufigen Sinn für wahr gehalten werden können. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit zur offenen Erörterung kontroverser Thesen. Gerade weil die Debatten in einer offenen Gesellschaft wegen dieser Offenheit prinzipiell unabschließbar sind, kommt es nicht auf den guten Willen und die (ohnehin immer begrenzte) Bereitschaft, solche Debatten zu führen und anderen zuzuhören, an, sondern auf die Bedingungen, die die Eröffnung der Debatten bei entsprechender Bedarfslage gestatten. Nicht anders verhält es sich, in pragmatistischer Perspektive, bei der Festlegung von Überzeugungen. In völliger Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Entwicklung sieht auch der Pragmatismus den Erkenntnisprozess, ergebnisoffen, als eine Frage der adäquaten Verfahren an. Die Entsprechung, die Misak zu etablieren sucht, besteht daher weniger zwischen Wahrheit und Moral als vielmehr zwischen Wissenschaft und Demokratie. Nach modernem Verständnis ist Wissenschaft zunächst eine soziale Errungenschaft. Nicht die individuelle Einsicht der einzelnen Person, und sei sie noch so genial, ist entscheidend; eine wissenschaftliche Erkenntnis wird aus einer derartigen Einsicht erst dann, wenn sie bestimmten Ansprüchen genügt, deren Überprüfung der sozialen Kontrolle unterliegt. Wissenschaftliche Erkenntnis beinhaltet die, wenngleich nicht einmütige, Anerkennung durch die scientific commu-
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nity. Dies setzt die Einhaltung der jeweils geltenden (und über die Zeit durchaus veränderlichen) Standards voraus: die Wiederholbarkeit von Experimenten, die Protokollierung von Beobachtungen, die Anwendung akzeptierter statistischer Methoden und Ähnliches mehr. Natürlich wird es Entdeckungen geben, die den anerkannten Glaubenssätzen der scientific community widersprechen – ohne Überraschung kein echter Fortschritt. Aber auch Entdeckungen werden zu Erkenntnissen erst, wenn sie schließlich die Anerkennung der Gemeinschaft der Forschenden gefunden haben, welche wiederum davon abhängt, dass als gültig angesehene Verfahren und Methoden wissenschaftlicher Forschung eingehalten wurden. Der soziale oder zumindest intersubjektive Charakter wissenschaftlicher Methodik kommt in Misaks Explikation eines pragmatistischen Wahrheitskonzepts zwar zum Ausdruck. Aber bedeutsamer als die Frage nach einem den Normen der Wissenschaft entsprechenden und der Forschungspraxis angemessenen Wahrheitsbegriff ist der prozeduralistische Charakter der Forschung selbst. Ohne den Stellenwert von Eingebung, Kreativität, Intuition und Fantasie beim Aufspüren von Hypothesen oder Erklärungen beim Lösen von wissenschaftlichen Rätseln in Abrede stellen zu wollen,36 bleibt das für das moderne Wissenschaftsverständnis entscheidende Moment die Möglichkeit der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Resultate und Ergebnisse nach (relativ zur scientific community) sozial anerkannten Kriterien. Peirce hatte deshalb nüchtern und gegen jedes falsche Pathos positivistischer Wissenschaftsverklärung die Stärke wissenschaftlicher Methodik, verlässliche Überzeugungen zu gewinnen, auch nicht primär darin gesehen, auf direktem Weg zur Wahrheit über eine objektiv bestehende Welt zu gelangen, sondern flexibler auf die unterschiedlichsten Arten des Zweifels mit stabilen Überzeugungen reagieren zu können. Ihr Vorzug gegenüber den Methoden der Hartnäckigkeit, der Autoritätshörigkeit oder des Apriorismus ist dabei, wie Misak nachdrücklich betont, vor allem ihre Offenheit – für Erfahrungen, Beobachtungen, Evidenzen und nicht zuletzt auch die Einwände anderer. Warum dann nicht kurzerhand zugeben, dass das, was Wissenschaft von anderen Formen der Erkenntnisgewinnung unterscheidet, ihr öffentlicher Charakter ist? Wissenschaft präsentiert ihre Ergebnisse einer potenziellen (und mitunter vielleicht bloß fiktiven) Öffentlichkeit, statt sie auf arkane, geheimbündlerisch organisierte Zirkel zu beschränken. Dementsprechend können Forschungsresultate ökonomisch als öffentliche Güter aufgefasst werden,37 wie auch Robert K. Merton einst, neben dem Universalismus, der Zweckfreiheit und dem organisierten Skeptizismus, einen ‚Kommunismus‘ im Sinne einer freien und allgemeinen Verfügbarkeit als grundlegen36 Bestandteile wissenschaftlicher Forschung also, die Peirce unter dem Begriff der Abduktion systematisch erfassen wollte; vgl. hierzu Misak 1991, 91 ff. 37 Eine Sichtweise, die unlängst wieder erneuert wurde in Stiglitz 1999.
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de Norm wissenschaftlicher Kultur vorgeschlagen hat.38 Als eigentlich politische Norm ermöglicht Öffentlichkeit Transparenz wie Partizipation, und eben dies kann als wesentliche Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung verstanden werden. Gerade die von Misak in Zweifel gezogene Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen erlaubt es, das Laster der subjektiven Voreingenommenheit (die Neutralität zum Mythos werden lässt) durch Einhaltung der öffentlich verfügbaren Normen wissenschaftlicher Methode, welche als Verfahren der Rechtfertigung verstanden werden können, in die kollektive Tugend intersubjektiv anerkannter, weil entsprechend begründeter Auffassungen zu überführen. Somit treffen sich Wissenschaft und Demokratie in der für beide konstitutiven Norm der Öffentlichkeit, die über das Merkmal der Nichtausschließbarkeit die Möglichkeit demokratischer Kontrolle bzw. Partizipation sichert. Eine Einschränkung der pluralistischen Vielfalt an Meinungen ist dabei weder erforderlich noch wünschenswert, solange die demokratische Entscheidungsfindung wie die wissenschaftliche Urteilsbildung die jeweils zur gültigen Norm erhobenen Verfahrensregeln einhalten. Wo sie dies nicht tun, wird ihnen gleichsam die öffentliche Zulassung verwehrt – was sie mitunter freilich nicht weniger gefährlich werden lässt. So verstanden, erscheint Wissenschaft als die pluralistischen Demokratien angemessene Methode, rationale Überzeugungen festzulegen, welche nicht zuletzt zur öffentlichen Entscheidungsfindung beitragen. Während gerade pluralistische Gesellschaften auf ein entsprechendes Verfahren – und der Verfahrenscharakter ist dabei entscheidend – dringend angewiesen sind, setzt Wissenschaft umgekehrt die Vielfalt der Meinungen und die Freiheit der Forschung voraus. In dem Bemühen, die Grundlagen eines Stabilität garantierenden übergreifenden Konsenses zu klären, hat Rawls auf eine ‚öffentliche Vernunft‘ verwiesen.39 Öffentliche Vernunft, public reason, bezeichnet eine zivilgesellschaftlich entwickelte, von Rawls gleichermaßen als moralisch wie intellektuell eingestufte Fähigkeit, in Fragen von öffentlichem Belang vom jeweils eigenen Standpunkt zu Gunsten des Gemeinwohls zu abstrahieren, um sich bei der Rechtfertigung oder Begründung eines Standpunktes auf solche Argumente und Überlegungen zu beschränken, die als öffentlich akzeptiert gelten können und somit voraussichtlich auch von denen geteilt oder zumindest nachvollzogen werden können, die im übrigen dem zu begründenden Standpunkt ablehnend gegenüber stehen. Die öffentliche Vernunft, deren Gegenstand im Kern eine politische Konzeption von Gerechtigkeit ist,40 zielt auf die reziprok teilbare Begründung dessen, was 38 Vgl.
Merton 1973. Rawls 1993, 212 ff., sowie Rawls 1999, 573–615. 40 Vgl. Rawls 1993, 223, sowie Rawls 1999, 581. 39 Siehe
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dem Gemeinwohl von Bürgern dient, die sich wechselseitig als frei und gleich anerkennen und sich für fähig halten, auf politische Begrifflichkeit beschränkte Argumente und Begründungen zu unterscheiden von solchen, die weltanschaulichen Besonderheiten verpflichtet sind. Für Rawls scheint die Ausübung der öffentlichen Vernunft vornehmlich an einen normativen Kontext gebunden und bezogen auf den Bereich politischer, mithin öffentlicher Werte. Daher lässt sich ihr Wirken besonders deutlich anhand der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen illustrieren.41 Rawls Glaube an die Konsens stiftende Kraft der öffentlichen Vernunft mag übertrieben optimistisch erscheinen, doch wird sich die Notwendigkeit, soziale Kooperation nicht nur gegen die Widerstände partikularer Interessen, sondern auch gegen die Partikularität der Anschauungen durch geeignete Verfahren zu sichern, kaum in Abrede stellen lassen. Rawls sieht keine Veranlassung, in diesem Zusammenhang auf die Funktion von Wissenschaft und Forschung näher einzugehen.42 Aber unter der Annahme, dass Differenzen nicht nur hinsichtlich der richtigen Einschätzung wie Umsetzung politischer Werte bestehen können, sondern mindestens ebenso bei der Beurteilung faktischer Verhältnisse entstehen, erscheint es nur natürlich, die öffentliche Vernunft um das Vermögen zu ergänzen, Sachlagen in möglichst objektiver und öffentlich zustimmungsfähiger Weise einzuschätzen. Denn in vielen Fällen wird die Suche nach einem Konsens in der Beurteilung und Umsetzung politischer Zielvorstellungen mit einem Einverständnis über die Situation und die Umstände, relativ zu denen eine Entscheidung getroffen werden soll, beginnen müssen. Auch hierbei wird eine Beschränkung erforderlich sein auf das, was weitestgehend zustimmungsfähig ist. Die besten Chancen haben da, noch vor ihren Ergebnissen und Resultaten, die Methoden und Verfahren einer für Kritik und Einwände offenen Wissenschaft. Insbesondere unter der Annahme, dass in modernen Gesellschaften sämtliche Entscheidungsprozesse zunehmend wissensbasiert gestaltet werden, weil nur so die gesuchte Legitimität öffentlicher Entscheidungen zu gewährleisten ist, ist es daher verführerisch, in Forschung und Wissenschaft das theoretische Gegenstück zu der von Rawls beschriebenen öffentlichen Vernunft zu sehen. Doch auch wenn damit behauptet ist, dass eine liberale Gesellschaft auf Forschung und Wissenschaft für die Grundlage kollektiver Entscheidungsfindung angewiesen ist, ist damit weder gezeigt, dass die Prinzipien der liberalen Gesellschaftsform aus den mit Forschung und Wissenschaft gegebenen kogniti41 Siehe Rawls 1993, 231 ff., wo der Supreme Court als exemplarisch für die öffentliche Vernunft beschrieben wird. An anderer Stelle werden etwa Fragen des Umweltschutzes oder des Steuerrechts, obschon sie unbestreitbar von öffentlichem Belang sind, weniger deutlich in den Anwendungsbereich der öffentlichen Vernunft fallen (Rawls 1993, 214–15). Siehe auch Rawls 1999, 93, wo als Beispiel für die Wirkungsweise öffentlicher Vernunft auf die Frage nach der öffentlichen Finanzierung konfessioneller Schulen verwiesen wird. 42 Eine Anspielung immerhin findet sich in Rawls 1993, 223–24.
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ven Werten ableitbar sind, noch dass darüber hinaus für moderne Wissenschaft nicht auch andere Funktionen oder Aufgaben benennbar wären. Ganz sicher aber ist diese Auffassung weit entfernt von Misaks Versuch, die freiheitliche und pluralistische Demokratie epistemologisch zu begründen. Im Ergebnis wird man Misaks Plädoyer für die freiheitliche und pluralistische Demokratie nur zustimmen wollen. Fragwürdig bleibt aber bei der versuchten Verteidigung die Berufung auf einen pragmatistischen Wahrheitsbegriff, der mit einem aus pragmatistischer Sicht zweifelhaften Maßstab zur Beurteilung der Resistenz von Überzeugungen gegenüber negativen Evidenzen verbunden wird. Noch problematischer allerdings ist der Verzicht auf die Trennung substanzieller Bestimmungen von Verfahrensfragen, durch den Misak selbst in die Nähe eines kaum noch liberalen Insistierens auf politischer Korrektheit gerät. Man mag zu Recht einwenden, dass die Grenze zwischen Verfahrensfragen und inhaltlichen Fragen keineswegs immer eindeutig verläuft und Verfahrensregeln mitunter selbst schon substanzielle Festlegungen bedeuten. Zutreffend ist auch der Hinweis, dass die Beantwortung substanzieller Fragen nicht immer vermieden werden kann, oder auch nur nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Ein Liberalismus, der sich die Preisgabe jeden inhaltlichen Standpunktes zum Ziel setzt, ist ohne Frage wertlos. Gleichwohl scheint es mir, ist die freiheitliche und pluralistische Demokratie ohne die Anerkennung des Vorrangs der Verfahrensregeln nicht zu haben. Wie sie dann allerdings verbindlich verteidigt werden kann, bleibt wohl trotz Misaks tapferem Versuch eine weiterhin offene Frage.
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Teil III. Wissen und Wandel
Erik J. Olsson
Lassen wir den Skeptiker nicht zu Wort kommen: Pragmatismus und radikaler Zweifel1 1. Einführung Der radikale Skeptiker ist der Überzeugung, dass wir über keinerlei Wissen über gewöhnliche Dinge verfügen, da wir nicht wissen, dass wir nicht systematisch getäuscht werden. So weiß ich zum Beispiel nicht, dass ich ein normaler Mensch bin, der gerade an seinem Computer sitzt, da ich nicht weiß, dass ich kein Gehirn im Tank bin, in welchem dieser Eindruck rein künstlich stimuliert wird. Auf diese Art von Skeptizismus wurde in den letzten Jahren eine Anzahl von ausgeklügelten und präzisen Antworten entwickelt. Der Kontextualismus, wie er von David Lewis und anderen vertreten wird, gehört ebenso dazu wie die Relevante-Alternativen-Theorie von Fred Dretske und seinen Schülern. So genannte ‚pragmatistische‘ Antworten auf den Skeptizismus scheinen dagegen keine sichtbaren Spuren in der gegenwärtigen analytischen Auseinandersetzung hinterlassen zu haben.2 Jeder, der mit dem amerikanischen Pragmatismus vertraut ist, wird wissen, dass diese Bewegung zumindest teilweise durch eine antiskeptizistische Haltung hervorgerufen wurde und dass große Anstrengungen darauf verwandt wurden zu erklären, was beim radikalen Zweifel schief läuft. Doch über den fehlenden Einfluss des Pragmatismus kann man nur spekulieren. Eine Ursache liegt wahrscheinlich darin, dass sich die Pragmatisten, anders als die meisten zeitgenössischen Forscher, nicht auf die Art von Skeptizismus konzentriert haben, die sich mit skeptizistischen Alternativen wie Gehirnen im Tank befasst. Und es ist auch keineswegs klar, wie sich ihre Kritiken bezüglich ande1 Ich möchte mich bei Dirk Saleschus für seine Übersetzung aus dem Englischen herzlich bedanken. Zu danken habe ich auch Isaac Levi und Radu Dudau für ihre Kommentare zu einer früheren Version. 2 In einem akribischen Überblick zu gegenwärtigen Arbeiten zum Skeptizismus, der gut 100 Referenzen enthält, wird der Pragmatismus nicht als alternative Position erwähnt (Pritchard 2002). Schwach mit ihm verwandte Ideen werden unter Neo-Mooreschen Antworten zusammengefasst. Mehr zu der Beziehung zwischen dieser Art von Antworten und dem Pragmatismus findet sich weiter unten in Abschnitt 7.
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rer Arten von Skeptizismus in Einwände gegen einen Skeptizismus eben dieser Art übersetzen lassen. Peirces Zurückweisung des Cartesischen Zweifels wäre hier ein Beispiel. Eine andere mögliche Ursache könnte darin liegen, dass sich die neuen Ansätze oftmals durch den modernen analytischen Stil auszeichnen, wohingegen es gewöhnlich einen größeren Aufwand von Seiten des Lesers erfordert, sich bei den Pragmatisten einzulesen. Der Zweck dieses Aufsatzes ist dementsprechend herauszufinden, ob es eine detaillierte, kohärente und charakteristisch ‚pragmatische‘ Antwort auf den Skeptizismus gibt, und zwar eine Antwort, die sich durchaus mit den zur Zeit bekanntesten Ansätzen messen kann. Ich werde mich dabei auf zwei wesentliche Ansätze konzentrieren. Der erste wird oftmals William James zugeschrieben und läuft darauf hinaus, sein ‚Wettargument‘ gegen religiösen Agnostizismus, so wie er es in seinem Artikel „The Will to Believe“ formuliert hat, in diesem neuen Kontext anzuwenden. Der zweite Ansatz, der Peirce zugesprochen werden kann, besteht in einem direkten Angriff auf eine der Hauptprämissen des Skeptikers: dass wir nicht wissen, dass wir nicht systematisch getäuscht werden.3 Meine Hauptthese wird zuallererst darin bestehen, dass James’ Vorschlag inkohärent ist: Das Argument gegen religiösen Agnostizismus ist auf das Problem des radikalen Skeptizismus nicht anwendbar. Zum zweiten werde ich zu zeigen versuchen, dass Peirces Antwort den Kern zu einer plausiblen, pragmatistischen Antwort auf den Skeptizismus enthält, wenn auch einige der von Peirce vorgetragenen Argumente unvollständig oder irreführend sind. Und schließlich will ich dafür argumentieren, dass Peirces Antwort einige Vorzüge gegenüber jeder der wesentlichen zeitgenössischen Antworten besitzt. Daher hat sie es zumindest verdient, in der aktuellen Debatte ernstgenommen zu werden. Die Gliederung des Aufsatzes ist eher dialektisch als chronologisch. Nachdem ich in Abschnitt 2 das skeptische Argument dargestellt habe, werde ich mich in Abschnitt 3 James zuwenden. Der Rest des Aufsatzes ist der Peirceschen Antwort gewidmet.
2. Das skeptische Argument Das Problem des Skeptizismus kann in die Form eines Paradoxes gebracht werden. Dieses besteht in der gemeinsamen Unvereinbarkeit dreier Behauptungen, von denen aber jede für sich betrachtet akzeptabel erscheint. Lassen wir SH für eine beliebige Hypothese stehen, wie zum Beispiel für die Hypothese, dass ich ein Gehirn im Tank bin, dessen Erfahrungen die Folge einer künstlichen Stimulation der Nervenzellen sind. Lassen wir O irgendeine Aussage sein, die ich zu wissen behaupte. Die Aussage O sollte dabei so gewählt werden, dass sie die 3 Ich habe vor, John Deweys Antwort auf den Skeptizismus in einem gesonderten Aufsatz anzugehen.
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Unwahrheit der in Betracht gezogenen skeptischen Hypothese impliziert. Zum Beispiel könnte O die Aussage sein, dass ich zwei Hände habe. Die drei miteinander unvereinbaren Behauptungen sind dann die folgenden: (1) Ich weiß, dass O. (2) Ich weiß nicht, dass nicht SH. (3) Wenn ich nicht weiß, dass nicht SH, dann weiß ich nicht, dass O. Diese drei Behauptungen sind miteinander unvereinbar, und trotzdem scheint jede von ihnen auf den ersten Blick akzeptabel. Die erste Prämisse ist akzeptabel, da wir ziemlich sicher annehmen, O zu wissen. Die zweite Behauptung ist plausibel, weil SH genau die Art von Aussage ist, die man allem Anschein nach einfach nicht wissen kann: Sie beinhaltet eine Vorstellung, wie die von Gehirnen im Tank, die phänomenologisch ununterscheidbar vom normalen Leben ist. Noch genauer gesagt, wird (2) durch Symmetrie gestützt. Es ist durchaus möglich, dass alles, was wir wahrnehmen, nur eine vollkommene Illusion ist. Es scheint daher keinerlei Grund vorhanden zu sein, der normalen Perspektive den Vorzug vor der Illusionshypothese zu geben. Beide sind vollkommen symmetrisch.4 Die dritte Prämisse schließlich scheint auch wahr zu sein. Wenn ich weiß, dass ich zwei Hände habe, dann weiß ich, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Der Skeptiker sieht nun die Plausibilität von (2) und (3) als Grund dafür, (1) zurückzuweisen, er argumentiert also wie folgt: (S1) Ich weiß nicht, dass nicht SH. (S2) Wenn ich nicht weiß, dass nicht SH, dann weiß ich nicht, dass O. Also: (S3) Ich weiß nicht, dass O. Zum Beispiel: (S1*) Ich weiß nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin. (S2*) Wenn ich nicht weiß, dass ich kein Gehirn im Tank bin, dann weiß ich nicht, dass ich zwei Hände habe. Also: (S3*) Ich weiß nicht, dass ich zwei Hände habe. 4 Franklin (1991) bezeichnet das Argument der Symmetrie als das beste Argument für den Skeptizismus (S. 309).
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Dasselbe Argument ist gleichermaßen auf jede Behauptung des gesunden Menschenverstandes anwendbar, und daher folgert der Skeptiker, dass wir schwerlich überhaupt irgendetwas wissen.
3. James’ Wette Fügen wir dem skeptischen Argument folgende sehr plausible Prämisse hinzu: (S4) Wenn ich nicht weiß, dass O, dann sollte ich aufhören zu glauben, dass O. Aus (S3) und (S4) folgt dann: (S5) Ich sollte aufhören zu glauben, dass O. Aus (S1), (S2) und (S4) können wir zum Beispiel schließen, dass ich aufhören sollte zu glauben, ich hätte zwei Hände. Da O eine beliebige Glaubensvorstellung sei, können wir die folgende Konklusion ziehen: (UK) Ich sollte all meine aktuellen Glaubensvorstellungen aufgeben. Mit (UK) werde ich mich auf die „Ungewissheitskonsequenz“ des skeptischen Arguments (ergänzt durch die Prämisse (S4)) beziehen. Dass sich aus dem skeptischen Argument die Ungewissheitskonsequenz ergibt, bemerkt auch H. O. Mounce (1997, 100): Betrachten wir daher die Perspektive, die vom Skeptiker eingenommen wird, als gegeben [ . . . ] Auf den Punkt gebracht heißt das, dass wir keine absolute Gewissheit haben. Aber welche Konsequenzen sollen nun daraus folgen? Wird von uns wirklich erwartet, dass wir uns ohne jegliche Erwartungen der Zukunft zuwenden und alles als ungewiss betrachten?
Wie wir noch sehen werden, besagt Mounces Antwort, dass es von einem praktischen Gesichtspunkt aus einfach irrational wäre, alles als ungewiss zu betrachten. Der Beweis für die praktische Absurdität der Ungewissheitskonsequenz beruht, in Analogie zu James’ berühmter Verteidigung des religiösen Glaubens in „The Will to Believe“, in der Anwendung eines Wettarguments. (James wiederum wurde stark durch Pascals Wettargument beeinflusst, welches sich in den Pensées wiederfindet.) Rein praktisch gesehen ist es besser, an seinen Glaubensvorstellungen festzuhalten, als im Gegensatz dazu alles aufzugeben. Lassen wir uns um des Argumentes Willen annehmen, es sei irrational, alles als ungewiss zu betrachten. Was wäre daraus zu folgern? Wohl nur, dass wir praktische Gründe hätten, eine der Prämissen – von (S1), (S2), (S4) bis zu (UK) – für falsch zu halten. Man könnte solch eine Antwort als Angriff auf (S4) ansehen, auf die Annahme, dass man aufhören sollte, das zu glauben, was man nicht
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weiß. Wählt man diese Lesart, so soll das Argument zeigen, dass wir durchaus mit der skeptischen Konsequenz leben können, keine gewöhnlichen Dinge zu wissen; nur muss dies eben keineswegs unsere epistemische Praxis beeinträchtigen. Andererseits kann dieses Argument auch als eine reductio ad absurdum des skeptischen Konzepts von Wissen angesehen werden. Mounce käme hierfür als Beispiel in Betracht. Das skeptische Paradox kann in seinen Augen nur deswegen entstehen, weil Wissen als absoluter Begriff aufgefasst wird. Doch dabei sollte es sich es sich um ein Missverständnis handeln, denn „unser Wissen ist stets relativ zu normalen Umständen, die über unser Wissen hinausgehen“ (S. 99). Obwohl sich Mounce nicht explizit dazu äußert, scheint es so auszusehen, als würde er eher (S2) zurückweisen. Wir können durchaus normale Dinge wissen, ohne gleichzeitig zu wissen, dass die skeptischen Hypothesen falsch sind. Der Grund dafür liegt darin, dass der Schritt von dem einen Wissensanspruch zu dem anderen eine Verschiebung der Perspektive beinhaltet. So gesehen wird es aber schwer, den Pragmatismus vom Kontextualismus im Sinne von David Lewis, Keith DeRose und anderen zu unterscheiden.5 Doch bevor wir uns den Einzelheiten von Mounces Argument zuwenden, wird es zunächst hilfreich sein, die zentralen Ideen von James’ Aufsatz in Erinnerung zu rufen.6 Entscheidend für seine Diskussion ist eine einleuchtende Taxonomie verschiedener Arten von Optionen, d.h., von Entscheidungen, die jeweils zwei Hypothesen beinhalten. Solch eine Option heißt lebend, wenn beide Hypothesen lebendig sind, d. h., wenn beide nicht von vornherein ausgeschlossen werden, sondern als Glaubensinhalt einer Person, wenn auch vielleicht nur in bescheidenem Maße, zur Disposition stehen. Bedeutsam heißt eine Option, wenn sie wichtig ist, weil zum Beispiel die Möglichkeit auf einen großen Gewinn besteht und die Gelegenheit dazu einmalig ist. Weiter ist eine Option erzwungen, wenn sie in einem gewissen Sinn unvermeidbar ist. Wenn beide Hypothesen eine vollständige logische Disjunktion bilden, in dem Sinne, dass sie erschöpfend sind, dann ist die Option erzwungen. So ist zum Beispiel die Disjunktion „entweder H akzeptieren oder nicht akzeptieren“ eine erzwungene Option: Man kann die Wahl einer der beiden Alternativen nicht vermeiden, wohingegen die Option „entweder liebe mich oder hasse mich“, um eines von James’ Beispielen zu benutzen, durchaus umgangen werden kann, indem man keines von beiden tut. Doch selbst eine unvollständige logische Disjunktion kann erzwungen sein, wenn die Ablehnung einer der beiden Hypothesen, was die Konsequenzen betrifft, ununterscheidbar von der Wahl einer der beiden Hypothesen ist. Und schließlich heißt eine Option noch echt, wenn sie lebend, bedeutsam und erzwungen ist. 5 Für
mehr Informationen zum Kontextualismus siehe auch Abschnitt 7. nicht anders angegeben, beziehen sich die Referenzen auf James’ Aufsatz aus dem Jahre
6 Wenn
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James setzt nun zwei Thesen über echte Optionen an. Seine erste These lautet wie folgt (S. 11): Unserer Leidenschaft ist nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit gegeben, eine Option zwischen Hypothesen zu entscheiden, wann immer es sich dabei um eine echte Option handelt, die aufgrund ihrer Natur nicht durch intellektuelle Erwägungen entschieden werden kann; unter diesen Umständen ist „Entscheide nichts, sondern lass die Frage offen“ selbst eine leidenschaftliche Entscheidung – wie die Entscheidung zwischen ja und nein – und trägt dementsprechend dasselbe Risiko, die Wahrheit zu verlieren.
Damit setzt sich James in Widerspruch zu der Annahme, dass die einzige rationale ‚intellektuelle‘ Strategie in Fällen wie den eben beschriebenen darin besteht, sich eines Urteils zu enhalten. James’ zentrales Beispiel bezieht sich auf religiösen Glauben. Hier ist zunächst einmal zu sagen, dass allein theoretische Überlegungen in dieser Angelegenheit zu keiner Entscheidung führen können, oder zumindest ist es das, was James denkt. Wird weiter vorausgesetzt, dass die Option in Bezug auf religiösen Glauben lebend ist und dass demnach beide Alternativen lebende Hypothesen für eine Person darstellen, dann ist diese Option zugleich bedeutsam und erzwungen. Sie ist bedeutsam, weil „angenommen wird, dass wir durch unseren Glauben, sogar im jetzigen Moment, ein wesentliches Gut gewinnen, es durch unseren Unglauben aber verlieren“ (S. 26). Und die Option ist erzwungen, weil „wir uns der Angelegenheit nicht dadurch entziehen können, dass wir skeptisch bleiben und nach mehr Licht verlangen, da wir auf diese Art im Falle, dass Religion unwahr wäre, einen Fehler vermeiden, gleichzeitig aber, wenn sie wahr wäre, ein Gut verlieren würden, und zwar ebenso sicher, als wenn wir uns positiv dafür entscheiden würden, nicht zu glauben“ (S. 26). Letztendlich sagt der religiöse Skeptiker, „dass es besser und weiser ist, Angst davor zu haben, es könnte sich bei der religiösen Hypothese um einen Irrtum handeln, als an unserer Hoffnung festzuhalten, dass sie wahr sein könnte“ (S. 27). Mit anderen Worten, „es geht nicht um die Gegenüberstellung von Intellekt und Leidenschaft, sondern um einen Intellekt, dessen Gesetz von einer bestimmen Leidenschaft vorgeschrieben wird“. Aber James ist nicht einfach nur an der Aufstellung dieser These gelegen. Diese konnte ja bisher nur die Zulässigkeit, nicht aber die einzigartige Rationalität der religiösen Hypothese zeigen. Er fährt fort zu argumentieren, dass die skeptische Strategie tatsächlich auch weniger rational als die ihr gegenüberstehende Alternative ist, da sie eine Person daran hindert, gewisse faktische Wahrheiten zu erwerben. Denn angenommen, dass Religion wirklich wahr wäre, so wird der religiöse Skeptiker niemals in der Lage sein, das auch anerkennen zu können,
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wohingegen dies für eine vertrauensvollere Person durchaus möglich wäre. Aus diesen Gründen hält James die agnostische Regel der Suche nach Wahrheit für nicht akzeptabel. Und daher besagt seine zweite These auch, „dass eine Regel irrational wäre, wenn sie mich davon abhielte, bestimmte Arten von Wahrheiten anzuerkennen, sollten diese wirklich vorhanden sein“ (S. 28). Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass es ebenso irrational wäre, sich stets auf unzureichende Evidenzen zu verlassen. Denn angenommen, dass Religion nicht wahr wäre, so wird eine vertrauensselige Person trotzdem glauben, dass sie wahr sei. Oder um James etwas zu paraphrasieren: Eine Regel, die mich zur Annahme verschiedenster Wahrheiten verpflichten würde, welche aber nicht vorhanden wären, könnte nun einmal nur eine irrationale Regel sein. Als Agnostiker laufen wir also einerseits Gefahr, die Wahrheit zu verlieren, während wir andererseits durch überhastete Zugeständnisse riskieren, falsche Tatsachen zu glauben. Meines Erachtens gibt es keinen Grund, der einen Strategie den Vorzug vor der anderen zu geben. Im nun Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass die von James vorgeschlagene Strategie auf ernsthafte Probleme stößt, wenn man sie auf den radikalen Skeptizismus anwendet. Doch lag es überhaupt in James’ Absicht, seine Thesen auch auf den radikalen Skeptizimus anzuwenden? Es gibt Gründe anzunehmen, dass er dies vorhatte, wenngleich diese Gründe nicht ganz schlüssig sind. Zum einen bemerkt James sehr wohl, dass der radikale Skeptizismus allein durch Logik oder theoretische Überlegungen nicht widerlegt werden kann.7 Weiter behauptet er, dass es eine Entscheidung der Leidenschaft ist, ob jemand ein radikaler Skeptizist ist, d. h., dass es sich dabei um eine Sache des Willens handelt.8 Und darüber hinaus wendet er seine These auf den moralischen Skeptizismus an – auf die Frage, ob man moralische Glaubensvorstellungen haben sollte oder nicht – und er behauptet, dass der intellektuelle und der moralische Skeptizismus gleichermaßen fundiert sind, zumindest vom Standpunkt der Logik und vom Standpunkt rein theoretischer Überlegungen.9 All dies verstärkt in der Tat den Eindruck, dass er den radikalen Skeptizismus als Spezialfall seiner Thesen betrachten würde. Und so ist es wenig überraschend, dass dies genau die Art und Weise ist, in der er manchmal in der Literatur interpretiert wird.10 Andererseits behauptet James nach der 7 „Wenn ein pyrrhonistischer Skeptiker uns fragen sollte, wie wir wissen können, dass es eine Wahrheit gibt, kann unsere Logik darauf eine Antwort finden? Nein! Mit aller Sicherheit kann sie das nicht.“ (S. 10) 8 „Es geht nur um Willen gegen Willen – wir sind gewillt, aufgrund eines Glaubens oder einer Annahme am Leben teilzuhaben, um welches sich der Skeptiker, für seinen Teil, gar nicht kümmert.“ (S. 10) 9 „Der moralische Skeptizismus kann nicht stärker widerlegt oder bewiesen werden als der intellektuelle [radikale] Skeptizismus.“ (S. 10) 10 Für ein jüngeres Beispiel siehe auch Weintraub 1997, 26. Weintraub sieht James’ Erlaubnis, „auf eigenes Risiko jede Hypothese zu glauben, die lebendig genug ist, um unseren Willen zu ver-
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Aufstellung seiner ersten These, sich von nun an „auf dogmatischem Boden“ zu befinden, und „lässt den systematischen philosophischen Skeptizismus gänzlich außer Acht“ (S. 12). Einige von James’ Kommentatoren haben sich bezüglich des radikalen Skeptizismus noch ausführlicher geäußert. So ist H. O. Mounce der Meinung, dass James’ Aussagen „überall dort, wo der Skeptizismus auftaucht, von Bedeutung sind“ (1997, 96). So sollen sie zum Beispiel bezüglich des „philosophischen Skeptizismus“ von Bedeutung sein, wenn man diesen als eine Position auffasst, die „jede Gewissheit anzweifeln will“ (S. 96), was eigentlich nichts anderes heißt, als dass aus ihr die Konsequenz (UK) folgt. Ich will aber zu zeigen versuchen, dass Mounces Argument auf ein Hindernis stößt, das jede weitere Anstrengung in dieser Richtung zu untergraben droht. Vor der Ausführung seines Arguments hält Mounce fest, dass wir oftmals behaupten, Dinge zu wissen, obwohl es logisch durchaus möglich ist, dass wir uns dabei eigentlich irren. Nehmen wir einmal an, um sein eigenes Beispiel zu benutzen, ich hätte mein Auto irgendwo geparkt, meinetwegen gleich hinter dem Supermarkt. Wenn ich nun ein gutes Gedächtnis habe und mir merken kann, wo ich den Wagen vor, sagen wir, 20 Minuten abgestellt habe, dann bin ich nach normalen Standards durchaus dazu berechtigt zu sagen, dass ich weiß, wo der Wagen ist. Und will ich dann irgendwann wieder nach Hause fahren, weiß ich, was zu tun ist. Es könnte aber jemand meinen Wissensanspruch aus folgendem Grund in Frage stellen: Da ich in der Zwischenzeit kein Auge auf den Wagen geworfen habe, kann ich auch nicht wissen, dass er nicht etwa von der Polizei abgeschleppt wurde. Doch sollte die Polizei meinen Wagen abgeschleppt haben, dann kann er sich nicht mehr hinter dem Supermarkt befinden. Folglich weiß ich nicht, wo sich der Wagen befindet und sollte mich daher jeglicher Vermutung über den Aufenthaltsort des Wagens enthalten. Auf dieselbe Art und Weise kann man gegen jeden beliebigen empirischen Wissensanspruch argumentieren. Wenn ich zum Beispiel ernsthaft vorhabe, heute Nachmittag einem Treffen beizuwohnen, dann bin ich auch dazu berechtigt zu sagen, ich weiß, dass ich an dem Treffen teilnehmen werde. Doch ich kann mir eigentlich nicht sicher sein, dass mir auf meinem Weg nichts Ernsthaftes zustößt, was mich womöglich davon abhalten würde, zu meinem Treffen zu kommen. Damit weiß ich also letzten Endes nicht, dass ich zu meinem Treffen kommen werde, und sollte somit auch nicht glauben, es zu wissen. Mounce hat darauf folgende Antwort parat (S. 100): Aber in diesem Fall [wenn wir alles als ungewiss ansehen sollten] sollten wir nicht in der Lage sein, selbst mit den normalen Umständen fertig zu führen“, als einen Spezialfall, so dass es nach James’ Sicht nur eine leidenschaftliche (nicht intellektuelle) Wahl unter vielen ist, wenn man alles als ungewiss ansieht.
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werden, auch wenn die Ereignisse ihren normalen Lauf nehmen sollten, in welchem Fall wir durch ganz normales Überlegen gewusst hätten, was zu tun sei. Praktisch gesehen ist diese Haltung ja völlig verrückt. Durch normales Nachdenken könnten wir zwar etwas verlieren, doch andererseits können wir nichts gewinnen. Darüber hinaus müssen wir irgendeine Haltung einnehmen, denn selbst wenn wir einer Entscheidung ausweichen, haben wir uns dazu entschlossen, den Dingen ihren freien Lauf zu lassen und alles als ungewiss zu betrachten. Diese Option ist, wie James gesagt hätte, erzwungen.
Es wird hier so dargestellt, als hätten wir die Wahl zwischen dem Festhalten an allen Glaubensvorstellungen und ihrer Aufgabe. Unter diesem Gesichtspunkt können wir ruhig zugestehen, dass die Option in James’ Sinn erzwungen ist, und wir können gleichfalls zugestehen, dass diese Angelegenheit durch theoretische Überlegungen allein nicht entschieden werden kann.11 Es bleibt dennoch zu zeigen, dass die Option sowohl bedeutsam als auch lebendig ist, denn sonst ist James’ These nicht anwendbar. Im Folgenden werde ich aber zu zeigen versuchen, dass nur jeweils eines, nicht jedoch beides zusammen möglich ist. Der Ausgangspunkt für mein Argument wird dabei in der Beobachtung liegen, dass man sich der skeptizistischen Option von zwei verschiedenen Seiten nähern kann. Man kann sie entweder von unserem aktuellen doxastischen Standpunkt oder von einer nicht verbindlichen skeptizistischen Position aus angehen. Betrachten wir die Option nun zunächst aus unserer aktuellen doxastischen Perspektive. Hier ist es zumindest oberflächlich möglich, die Sache mit Mounces Augen zu sehen, wobei man zwei alternative Weltzustände in Betracht zu ziehen hat: Entweder nehmen die Ereignisse ihren normalen Lauf oder sie tun es nicht. Normal soll hier als relativ zu unseren Glaubensvorstellungen aufgefasst werden. Nehmen wir nun an, wir treffen die Entscheidung, an unseren normalen Glaubensvorstellungen festzuhalten. Dann werden wir, wie Mounce es ausdrückt, wissen, was zu tun ist, was mit anderen Worten heißen soll, dass wir durch unsere Glaubensvorstellungen und unsere Bedürfnisse zu einer bestimmten Handlung veranlasst werden. Wenn die Umstände normal sind („der Wagen befindet sich noch immer hinter dem Supermarkt“), so wird meine Handlung („schau nach dem Wagen“) zu einem befriedigenden Ergebnis führen („ich finde den Wagen dort vor, wo ich ihn abgestellt hatte“). Wenn die Umstände aber unnormal sein sollten („die Polizei hat meinen Wagen abgeschleppt“), wird 11 In
seinen Pensées bemerkte Pascal, dass die Wahl zwischen dem von ihm so genannten Dogmatismus (an unseren Glaubensvorstellungen festzuhalten) und dem radikalen Skeptizismus (alles aufzugeben) erzwungen ist im Hinblick auf das, was keine neutrale Haltung erlaubt, ohne dass man dadurch nicht gleich zum Skeptiker wird (Paragraph 434 in der Ausgabe von Brunschvicg). Sein letztes Wort bezüglich des Skeptizismus ist aber theistisch und besitzt nicht die Form eines Wettarguments (siehe auch denselben Paragraphen).
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mich meine Handlung zur Frustration bringen. Wenn wir also auf normale Art und Weise denken, könnten wir zwar etwas ‚verlieren‘, also nicht unsere Ziele erreichen, zugleich besteht aber auch die Möglichkeit, etwas zu ‚gewinnen‘. Sollten wir jedoch alternativ beschließen, wie ein Skeptiker zu denken, dann können wir nur verlieren: Wir werden niemals wissen, was zu tun ist, und in einem Zustand der Passivität verharren.12 Somit können wir, um James ein wenig zu umschreiben, durch unseren Glauben wesentliche Güter hinzugewinnen, diese durch unseren Unglauben aber verlieren, was nichts anderes bedeutet, als dass die Option bedeutsam ist. Man beachte hierbei, dass wir für diese Schlussfolgerung Gebrauch von wesentlichen Glaubensvorstellungen gemacht haben, die sich auf die Konsequenzen bestimmter Handlungen unter verschiedenen Umständen beziehen. Doch ist die Option, vom Standpunkt unserer normalen Glaubensvorstellungen, auch tatsächlich lebendig? Worin besteht die Verbindung zwischen vollständigem Glauben und Lebendigkeit? Die Tatsache, dass eine bestimmte Hypothese für eine Person lebendig ist, impliziert ja noch lange nicht, dass diese Person auch von der Wahrheit der Hypothese überzeugt ist. Und James ist diesbezüglich lediglich der Meinung, dass sich die Hypothese dann „unter den geistig vorstellbaren Möglichkeiten“ (S. 2) befindet, dass also eine gewisse Bereitschaft zum Handeln besteht (S. 3). Wir sind jedoch an der umgekehrten Beziehung interessiert: Angenommen, dass eine bestimmte Aussage geglaubt wird – welche Schlussfolgerungen bezüglich der Lebendigkeit dieser Aussage und der Lebendigkeit weiterer mit ihr unvereinbarer Aussagen lassen sich dann ziehen? James vertritt hier die Auffassung, dass „das Maximum an Lebendigkeit einer Hypothese die Bereitschaft zur Folge hat, unwiderruflich zu handeln“, und dass es sich dabei praktisch gesehen um nichts anderes als um Glauben handelt (S. 3). Eine Aussage, die geglaubt wird, ist demnach maximal lebendig für eben die Person, die diesen Glauben hat. Daraus schließe ich, dass jede weitere unvereinbare Alternative maximal tot ist, eingeschlossen der Alternative, den Glauben gänzlich aufzugeben und durch nichts zu ersetzen: Wenn wir aufgrund der Wahrheit einer bestimmten Hypothese dazu bereit sind, unwiderruflich zu handeln, dann gedenken wir natürlich keineswegs, so zu handeln, als ob die Hypothese nicht wahr wäre. Folglich ist die Möglichkeit, all meine Glaubensvorstellungen als ungewiss zu betrachten, aus Sicht eben dieser Glaubensvorstellungen gleichermaßen tot. James’ Thesen sind also auf das Problem des radikalen Skeptizismus mindestens nicht direkt anwendbar. Ganz anders ist die Situation mit der religiösen 12 Zumindest ist dies die Humesche Ansicht: würden wir im wahren Leben zu Skeptiker werden, dann würde „jede Diskussion und jede Handlung augenblicklich vorbei sein, und der Mensch würde in völlige Teilnahmslosigkeit versinken“ (1777, 160).
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Option, der sich viele von uns natürlicherweise aus einer agnostischen Perspektive nähern und somit zunächst einmal zulassen, dass die Option für uns lebendig sein könnte. Demnach sind diese zwei Optionen – die skeptizistische und die religiöse – in einer wichtigen Hinsicht nicht analog zueinander.13 Es stellt sich die Frage, ob wir die skeptische Option nicht besser aus einer agnostischen Perspektive als aus unserer jetzigen Perspektive betrachten sollten. Dies hieße natürlich, sie so zu betrachten, als wäre nichts gewiss, also eben genau so, wie es der radikale Skeptiker tun würde. Anders als im Fall der Religion würde es sich hierbei aber nur um eine rein hypothetische Aufgabe handeln. Die Frage ist nun, ob wir uns in der Rolle eines Skeptikers dazu entschließen sollten, auch im wirklichen Leben in der Position des Skeptikers zu verharren, oder ob wir uns eher an unsere normalen Glaubensvorstellungen klammern sollten. Zumindest hypothetisch wird die Option auf diese Art lebendig. Doch besteht nun die Schwierigkeit darin, für die Bedeutsamkeit der Option zu argumentieren. Denn aus der Sicht des Skeptikers scheint es nicht gut möglich zu behaupten, dass sich uns eine bestimmte Handlung (normalerweise) aufdrängen würde, wenn wir an unseren Glaubensvorstellungen festhalten würden. Es findet sich einfach keinerlei Grund zu dieser Annahme, da ja alles in Frage gestellt wird. Und aus demselben Grund scheint sich auch nichts bezüglich der Konsequenzen zu ergeben, die sich aus diesen oder jenen Handlungen unter normalen Umständen ergeben. Der radikale Skeptiker stellt die Möglichkeit in Frage, überhaupt einen Glauben rechtfertigen zu können, einschließlich der Glaubensvorstellungen, die die kausalen Wirkungen dieser oder jener Handlung (oder auch der Inaktivität) betreffen.14 Wir sind also nicht mehr in der Lage, zu argumentieren, dass durch unseren Glauben wesentliche Güter hinzuzugewinnen sind, die durch unseren Unglauben verloren gegangen wären. Auch in diesem Fall lassen sich also James’ Thesen, ob sie nun wahr oder falsch sind, nicht auf den radikalen Skeptizismus anwenden. James’ Wette erweist sich gegenüber dem radikalen Skeptizismus als wirkungslos. Jeder Versuch in dieser Richtung sieht sich einem ähnlichen Dilemma wie dem gegenüber, dem bereits Mounces Argument begegnet ist. Entweder 13 James schreibt, dass sein Argument für religiösen Glauben nur für diejenigen gemeint ist, die nicht gleich von Beginn an ausschließen, dass die religiöse Hypothese wahr sein könnte (S. 26): „Selbstverständlich müssen wir diese Möglichkeit zu Beginn erst einmal zugestehen. Wenn wir diese Frage überhaupt diskutieren wollen, muss es sich um eine lebendige Option handeln. Falls Religion für einen von Euch gleich im Voraus von den Hypothesen ausgeschlossen sein sollte, die irgendwie auch nur möglicherweise wahr sein könnten, dann brauchen wir gar nicht erst weiterzugehen. Ich wende mich hier ausschließlich an den übriggebliebenen Rest.“ 14 Siehe auch Weintraub 1997, 28. Taliaferro (1992) verteidigt ein Wettargument gegen radikalen Skeptizismus auf empirischer Grundlage. Aus der Beobachtung, dass ein Skeptiker schwerlich den wahrscheinlichen Ausgang seiner Handlungen wissen kann, schließt er, dass „ein durch und durch pyrrhonischer Skeptiker nicht wissen würde, wie er wetten sollte“ (S. 229).
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wird die Wette innerhalb unserer alltäglichen doxastischen Sichtweise ausgeführt, in welchem Fall sie bedeutsam, aber nicht lebendig wäre, oder man geht die Wette aus Sicht des radikalen Skeptizismus an, in welchem Fall sie lebendig, aber nicht bedeutsam wäre. Für eine kohärente pragmatistische Antwort auf den Skeptizismus müssen wir woanders hinschauen.
4. Peirces Antwort auf den Skeptizismus In seiner Kritik des Cartesischen Zweifels – der Vorstellung, dass wir in der Philosophie damit beginnen sollten, alles anzuzweifeln (oder mindestens zu versuchen, alles anzuzweifeln) – wies Peirce darauf hin, dass es einer Person unmöglich ist, sich durch einen reinen Willensakt in einen Zustand universalen Zweifels zu versetzen; es ist nicht einmal möglich, durch einen Willensakt auch nur eine einzige Aussage anzuzweifeln, die man selbst glaubt. Soviel ich weiß, befasst sich Peirce nicht ausführlich mit dem modernen skeptischen Argument, welches die Möglichkeit der systematischen Täuschung behandelt. Wie ich zu zeigen versuche, ist es durch die Kombination verschiedener Teile von Peirces Theorie nichtsdestoweniger möglich, eine kohärente Widerlegung des skeptischen Arguments zu rekonstruieren. Dieser Rekonstruktion zufolge würde Peirce die erste Prämisse, (S1), zurückweisen, also die Prämisse, dass wir nicht wissen, dass wir nicht getäuscht werden. In diesem Abschnitt werde ich mich ganz auf Peirces Anwort konzentrieren, so wie ich sie mir bei ihm vorstellen könnte.15 Leider ist jedoch Putnams Diskussion zu allgemein gehalten, um die angeblich gesonderte Rolle des sozialen Aspekts in Peirces Theorie in Bezug auf den radikalen Skeptizismus zu belegen. Weitere Argumente zugunsten dieser Antwort werde ich dann in Abschnitt 5 darlegen. Die Interpretation von Peirces Werk gleicht einem Gelehrtenstreit, und einige der interpretatorischen Schwierigkeiten werden im weiteren Verlauf noch angesprochen werden. Ich möchte dennoch hervorheben, dass die zentrale Fragestellung lautet, ob es überhaupt eine kohärente pragmatische Antwort auf das skeptizistische Argument gibt. Dabei spielt es aber eigentlich keine entscheidende Rolle, ob Peirce oder irgendwer sonst jemals diese Antwort wirklich vertreten hat. 15 Zu einer alternativen Darstellung von Peirces Antwort auf den Skeptizismus siehe auch Putnam 1995. Putnam sieht die pragmatistische Antwort auf den Skeptizismus in dem Vorschlag, Nachforschung (engl. „inquiry“) als „kooperative menschliche Interaktion mit einem Umfeld“ (S. 70) zu verstehen. Gleichzeitig wird darin der „methodologische Solipsismus“ von Carnap und den logischen Empiristen zurückgewiesen. Es ist wahr, dass für Peirce das Problem letztendlich darin bestand, „wie man den Glauben verfestigen kann, und zwar nicht nur in einem Individuum, sondern auch in der Gesellschaft“ (1877, 13).
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Fangen wir mit Peirces Auffassung von Wissen an. Wissen, so wird uns gesagt, ist nichts anderes als reiner Glauben, oder um es mit seinen eigenen Worten wiederzugeben, „der Zustand völliger Gewohnheit [ . . . ] ist, im Falle des Denkens, der Zustand des fixierten Glaubens oder des perfekten Wissens“ (1905a, 170, mit meiner Hervorhebung).16 Wie ist Peirce zu dieser Ansicht gekommen? Da sich bei ihm selbst kein klares Argument finden lässt, möchte ich folgende Rekonstruktion vorschlagen. Nach Peirce ist „der Zweifel ein ungemütlicher und unbefriedigender Zustand, aus dem wir uns zu befreien versuchen, um in einen Zustand des Glaubens zu gelangen“ (ebd., S. 10). Dieser Zustand des Glaubens dagegen, den er als eine Gewohnheit des Geistes ansieht, „ist ein ruhiger und befriedigender Zustand, den wir weder verlassen noch in einen anderen Zustand des Glaubens überführen wollen“ (ebd.). Weiter macht Peirce noch die berühmte zusätzliche Behauptung, „das einzige Ende des Nachforschens ist die Festsetzung einer Überzeugung“ (1877, 11). Bringt man dies alles nun mit der vorsichtigen Annahme zusammen, dass im Wissen, was auch immer dessen genaue Natur sein mag, das eigentliche Ziel unserer Nachforschung besteht, so folgt daraus, dass Wissen reiner Glauben ist. Diese Analyse wird vermutlich einigen Widerspruch hervorrufen. Wissen mit reinem Glauben zu identifizieren, klingt sicherlich absurd. Eine Glaubensvorstellung muss mindestens wahr sein, damit wir überhaupt von Wissen reden können. Wenn unser Glaube als Wissen gelten soll, so muss er außerdem nach der gängigen Auffassung entweder argumentativ begründet sein (Internalismus) oder aber unser Glauben muss das Ergebnis eines zuverlässigen Aneignungsprozesses sein (Externalismus). Peirces Analyse impliziert dagegen, dass weder internalistische noch externalistische Rechtfertigung ein Bestandteil des Wissensbegriffs sei. Zum Teil rührt das Problem daher, dass Peirce seine Analyse des Wissens auf missverständliche Art und Weise durchführt. Um zu sehen, wo genau das Problem liegt, sei hier die folgende Passage betrachtet, in der Peirce seine Auffassung von Wahrheit erklärt: Die einzige direkte Motivation für unsere Suche nach Glauben besteht in der Irritation, die durch den Zweifel ausgelöst wird. Sicherlich ist es am besten für uns, wenn unser Glauben derart beschaffen ist, dass er auf zuverlässige Art und Weise unsere Handlungen bestimmt und dadurch unsere Bedürfnisse befriedigen kann. Und unter diesem Gesichtspunkt werden wir jeden Glauben zurückweisen, der ungeeignet erscheint, dieses Ergebnis zu gewährleisten. Doch passiert dies nur, indem in uns Zweifel an diesem 16 Die Bestimmungen „perfekt“ und „fixiert“ sind im Folgenden nicht von Bedeutung. Peirce dachte, dass perfektes Wissen ein Glaube ist, der stabil ist und nicht mehr abgeändert werden kann. Er betrachtete perfektes Wissen als ein Ideal, das im Laufe der Zeit allerdings nie völlig erreicht wird.
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Glauben entstehen. Unsere Suche beginnt also mit Zweifeln und kommt erst dann zu einem Ende, wenn die Zweifel ausgeräumt sind. Folglich besteht das einzige Ziel unserer Nachforschung darin, unsere Überzeugungen zu verfestigen. Nun könnten wir uns vielleicht einbilden, dass uns dies nicht reichen mag und dass wir nicht einfach nur eine Überzeugung suchen, sondern eine Überzeugung, die zugleich auch wahr ist. Doch wenn man diesen Gedanken genauer hinterfragt, erweist er sich als nicht haltbar, denn wenn wir erst einmal einen festen Glauben erreicht haben, sind wir doch völlig zufriedengestellt, sei der Glaube nun wahr oder falsch. Und es ist klar, dass nichts außerhalb des Bereiches unseres Wissens unser Ziel sein kann, denn nichts, was unseren Verstand nicht beeinflusst, kann als Motiv geistiger Anstrengung in Betracht kommen. Man könnte höchstens sagen, dass wir nach einem Glauben suchen, von dem wir denken, dass er wahr ist. Aber eigentlich halten wir alle unsere Glaubensvorstellungen für wahr, und tatsächlich handelt es sich hierbei um eine reine Tautologie. (1877, 11).
Peirce überlegt also folgendermaßen: Das Ziel aller Nachforschung ist die Verfestigung des Glaubens, welcher unsere Handlungen bestimmt und damit unsere Bedürfnisse zu befriedigen hilft. Im Allgemeinen ist dieses Ziel erreicht, wenn wir uns in einem Zustand vollständiger Befriedigung befinden und kein Bedürfnis mehr verspüren, noch weitere Handlungen zu unternehmen. Wir werden im Laufe einer Nachforschung völlig zufriedengestellt, wenn wir einen Glauben erreicht haben, von dem wir denken, dass er wahr ist, egal, ob dieser Glaube nun auch objektiv wahr oder falsch ist. Es ist also nicht Ziel unserer Nachforschung, objektive Wahrheit zu erlangen. Da unser Ziel darin besteht, Wissen zu erlangen, ist objektive Wahrheit kein Bestandteil des Wissens. Dies scheint nahezulegen, dass nach Peirces Auffassung das Ziel unserer Nachforschung nicht in der Wahrheit besteht und dass sich seine Analyse des Wissens damit in Konflikt zur Standardanalyse der Wahrheit befindet.17 Doch ist dies nicht korrekt. Peirce sagt hier ja nur, dass es vom Standpunkt dessen, der Nachforschungen betreibt, keinen Unterschied zwischen Glauben und wahrem Glauben gibt. Wenn man Wahrheit danach beurteilt, wie sie sich im Lichte dessen, der Nachforschungen betreibt, zeigt, dann ist Glaube immer zugleich auch wahr. Jemand, der Nachforschungen betreibt, kann nicht zum einen glauben, dass p, und zugleich auch darüber im Zweifel sein, ob p wirklich wahr ist. Peirces Auffassung befindet sich in dieser Hinsicht nicht in Konflikt zur Standarddefinition des Wissens, da die Standardepistemologie anstelle der Perspektive der ersten Person eine Perspektive der dritten Person einnimmt. Und aus Sicht der dritten Person gibt es durchaus einen Unterschied zwischen reinem Glauben und wahrem Glau17 Ansgar Beckermann sieht diese Passage von Peirce als Bestätigung dafür, dass Wahrheit nicht das Ziel unserer Nachforschung sein kann (2001, 590).
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ben. Eine weitere Person Y kann selbstverständlich zwischen dem, was X glaubt und dem, was aus Sicht von Y auch wahr ist, unterscheiden. Eine viel schwierigere Frage ist die, ob Peirces Auffassung von Rechtfertigung der Standarddefinition von Wissen widerspricht. Nach Peirce ist das einzige Ziel einer Nachforschung, eine Glaubensvorstellung zu fixieren. Das scheint zu implizieren, dass gute Gründe oder Rechtfertigungen für unseren Glauben als solches nicht Ziel unserer Nachforschung und damit auch nicht Teil des Wissens sind. Nach dieser Deutung vertritt Peirce eine Analyse von Wissen, wonach Wissen sich auf bloß wahren Glauben reduziert, wenn die Perspektive der dritten Person angenommen wird. Dies folgt tatsächlich unter der zusätzlichen Annahme, dass Rechtfertigung kein Bestandteil des Glaubensbegriffs ist, d. h., dass es durchaus möglich ist, an p zu glauben, ohne zu glauben, dass p gerechtfertigt werden kann. Aber ist diese Annahme wirklich korrekt? Vielleicht ist sie genau so fragwürdig wie die Behauptung, man könne an p glauben, ohne dabei zu glauben, dass p wahr ist. Um Peirce zu paraphrasieren: Das Ziel unserer Nachforschung besteht darin, unsere Überzeugungen zu verfestigen. Nun könnten wir uns vielleicht einbilden, dass uns dies nicht reichen mag und dass wir nicht einfach nur eine Überzeugung suchen, sondern eine Überzeugung, die zugleich auch gerechtfertigt ist. Doch wenn man diesen Gedanken genauer hinterfragt, erweist er sich als nicht haltbar, denn wenn wir erst einmal einen festen Glauben erreicht haben, sind wir doch völlig zufriedengestellt, sei der Glaube gerechtfertigt oder nicht. Und es ist klar, dass nichts außerhalb des Bereiches unseres Wissens unser Ziel sein kann, denn nichts, was unseren Verstand nicht beeinflusst, kann als Motiv geistiger Anstrengung in Betracht kommen. Man könnte höchstens sagen, dass wir nach einem Glauben suchen, von dem wir denken, dass er gerechtfertigt ist. Aber eigentlich halten wir alle unsere Glaubensvorstellungen für gerechtfertigt, und tatsächlich handelt es sich hierbei um eine reine Tautologie. Wenn Peirce dieses Argument akzeptieren würde, dann wäre seine Analyse von Wissen aus der Ich-Perspektive mit der traditionellen Definition von Wissen verträglich. Im Folgenden werde ich dennoch davon ausgehen, dass Peirce Wissen aus dem Standpunkt der dritten Person als bloß wahre Glaubensvorstellung analysiert. Auf jeden Fall soll hier unterstrichen werden, dass Peirce keineswegs den Wert von Gründen und Argumenten beim Prozess der Glaubensfestigung in Frage stellen will, obschon viele unserer Überzeugungen sicherlich unreflektiert übernommen werden. Und ebenso wenig streitet er ab, dass es selbstverständlich Gründe
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dafür geben könnte, einen Glauben in Frage zu stellen. Er lehnt aber die Idee ab, dass es zum einen ein Teilziel unserer Nachforschung sein sollte, solche Gründe zu liefern, und dass es zweitens Bestandteil des Wissenskonzepts ist, über Gründe zu verfügen, insofern als über Gründe zu verfügen nicht schon Bestandteil des Glaubensbegriffs ist. Es gibt nun einen unmittelbaren Einwand gegen jede Wissensanalyse, die keinerlei Angaben zur Rechtfertigung oder Zuverlässigkeit macht. Nehmen wir an, eine Person bestimmt ihren Glauben rein zufällig. Mit aller Sicherheit lässt sich sagen, dass sie auf diese Art zu keinerlei Wissen gelangt. Peirce betrachtet in seinem Essay „The Fixation of Belief“ diese Zufallsmethode der Glaubensfestlegung, die er als „die Methode der Hartnäckigkeit“ bezeichnet, und er hält dazu fest, „ein Mensch, der sich dieser Methode verschreibt, wird bald feststellen, dass andere Menschen sich in ihren Meinungen von ihm unterscheiden, und er wird in einem seiner besseren Momente herausfinden, dass ihre Meinung genauso gut wie seine ist, und dies wird das Vertrauen in seinen Glauben erschüttern“ (S. 12). Die Methode wird sich daher dank der Unstimmigkeiten, die sie mit aller Wahrscheinlichkeit nach sich zieht, als ungeeignet für die Praxis herausstellen. Aufgrund dessen, was Peirce „den sozialen Antrieb“ nennt, wird sie eher Zweifel an die Stelle des Glaubens setzen, als dass sie zu einer festen Meinung führt. Wissen ist daher durch die Zufallsmethode nicht möglich, oder doch zumindest unwahrscheinlich. Das wiederum ergibt sich daraus, dass auch Glauben mit Hilfe dieser Methode nicht möglich oder zumindest unwahrscheinlich ist. Ich werde zunächst zu zeigen versuchen, dass Peirces Strategie darin besteht, Belege dafür zu finden, dass wir wissen, dass wir nicht getäuscht werden. Bevor wir uns den Details zuwenden, müssen wir noch festhalten, dass das skeptische Argument in der Ich-Perspektive dargelegt ist. Aus der Sicht der ersten Person reduziert sich Wissen laut Peirce auf reinen Glauben. Um die Unwahrheit von (S1) zu beweisen, muss Peirce demnach Folgendes zeigen. Derjenige, der Nachforschungen betreibt und der sich am Ausgangspunkt aller Philosophie mit dem skeptischen Argument konfrontiert sieht, hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass er nicht getäuscht wird. Dies wird nun in drei Schritten nachgewiesen. Zuerst einmal hält Peirce fest, dass der Ausgangspunkt, nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in der Philosophie, bei denselben Glaubensvorstellungen liegen muss, die wir auch unseren normalen Nachforschungen und Überlegungen zugrunde legen: Es wird von Philosophen aller möglichen Richtungen vorgeschlagen, dass der Ausgangspunkt jeglicher Philosophie in einem bestimmten geistigen Zustand liegen soll, in dem sich aber eigentlich kein einziger Mensch, und schon gar kein Anfänger, befindet. Der eine schlägt vor, damit zu beginnen, dass man alles anzweifelt, und darauf sagt er dann, dass es nur ein einziges
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Ding gibt, das nicht anzuzweifeln ist, ganz als ob Zweifeln ‚so einfach wie Lügen‘ wäre. Wieder ein anderer schlägt vor, damit zu beginnen, ‚die ersten Eindrücke der Sinne‘ zu beobachten und dabei zu vergessen, dass all unsere Empfindungen bereits das Ergebnis kognitiver Formung sind. In Wahrheit gibt es nur einen geistigen Zustand, von dem aus man ‚seinen Anfang nehmen‘ kann, nämlich genau den geistigen Zustand, in dem man sich gerade befindet, wenn man ‚seinen Anfang nehmen‘ will – ein Zustand, in dem man mit einer großen Menge bereits vorgefertigter Kognition beladen ist und derer man sich nicht einfach so entledigen könnte, wenn man es wollte. Und wer weiß schon, ob man sich nicht jede Möglichkeit des Wissens nehmen würde, wenn man solch eine Fähigkeit besäße [ . . . ] Alles, was man nun in keinster Weise anzweifelt, muss als unfehlbare, als absolute Wahrheit betrachtet werden. (1905a, 167).
Zum zweiten ist mein Glaube daran, dass ich ein normaler Mensch mit zwei Händen bin und nicht systematisch getäuscht werde, klarerweise Teil dieser „Menge bereits vorgefertigter Kognition“, also genau der Glaubensvorstellungen, die meinem praktischen Handeln und Nachforschen zugrunde liegen. Wie auch Isaac Levi (1991, 58) formuliert: Ich halte daran fest, dass eine Person X in ihrem praktischen Handeln und in ihren Nachforschungen daran gebunden ist, die Drohung eines melan genie zu ignorieren und den Gedanken daran, dass sie ein Gehirn im Tank sei, zurückzuweisen. Sie ist verpflichtet, die logische Möglichkeit auszuschließen, dass es auch nur den geringsten Fehler in ihren festen Überzeugungen gibt.
Es folgt also, dass ich am Ausgangspunkt aller Philosophie nicht daran glaube, systematisch getäuscht zu werden. Drittens bleibt noch herauszustellen, dass ich mich in Konfrontation mit dem skeptischen Argument nicht dazu veranlasst sehen sollte, plötzlich etwas anzuzweifeln, was ich vorher auch nicht angezweifelt habe. Denn obwohl ich die Drohung des radikalen Skeptizismus in meinem praktischen Handeln und in meinen Nachforschungen ignorieren muss, könnte diese Haltung ja darauf zurückzuführen sein, dass mein Glaube daran, dass ich nicht systematisch getäuscht wurde, noch nicht herausgefordert wurde. Die interessante Frage ist klarerweise, was ich glaube oder was ich glauben sollte, immer vorausgesetzt, dass mir der Skeptiker im Verlauf seiner Argumentation mein Wissen über die Nicht-Täuschung abgestritten hat – und dabei geht es nicht darum, was ich bereits vorher schon geglaubt habe. Aus der folgenden Passage wird klar, worin Peirces Antwort auf diese Herausforderung bestehen müsste: Für den Leser ist es wichtig, sich klar zu machen, dass jeder echte Zweifel eine äußere Ursache hat und meist aus einer Überraschung resultiert.
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Und ebenso, dass es für einen Menschen genauso unmöglich ist, kraft einer ähnlichen Willensanstrengung, wie sie für das Aufstellen der Bedingungen eines mathematischen Theorems ausreichen würde, aus sich selbst heraus solch einen Zweifel zu produzieren, als wie es ihm unmöglich ist, sich durch reine Willenskraft selbst zu überraschen. (1905b, 484)
Peirce meint damit, dass nur äußere Faktoren als Verursacher von Zweifeln in Frage kommen, und dass wiederum Zweifel ‚meist‘ durch Überraschungen hervorgerufen werden, was auch die Schlussfolgerung erlaubt, dass es ebenso Ereignisse geben kann, die Zweifel hervorrufen und nicht überraschend sind. Wieder an anderer Stelle lässt er sowohl innere als auch äußere Ursachen für Zweifel gelten, ohne aber zu erklären, um was für innere Ursachen es sich dabei handeln könnte (1905a, 299). Doch ungeachtet dessen scheint sein letztes Wort zu sein, dass allein die Überraschung die einzig wahre Ursache von Zweifeln sein kann, wobei Überraschung wiederum durch ungewöhnliche Erfahrungen ausgelöst wird: „Denn der Glaube, solange er vorhanden ist, ist eine starke Gewohnheit, und diese zwingt einen Menschen dazu, so lange zu glauben, bis ihn irgendeine Überraschung mit dieser Gewohnheit brechen lässt. Die Erschütterung eines Glaubens kann nur auf eine ungewöhnliche Erfahrung zurückgeführt werden“ (1905, 299). Wenn der Skeptiker mir mein Wissen über Nicht-Täuschung abspricht, handelt es sich dabei um ein äußeres Ereignis, das in der Welt meiner Erfahrung stattfindet. Aber nicht alle äußeren Ereignisse sind Ursachen von Zweifeln. Als solche werden nur diejenigen Ereignisse betrachtet, die auch überraschend sind. Und niemand könnte behaupten, von der Tatsache überrascht zu sein, dass mir im Laufe der skeptizistischen Argumentation das Wissen darüber abgesprochen wird, dass die skeptische Hypothese falsch ist – bestürzt oder amüsiert vielleicht, aber doch kaum überrascht. Nach der Analyse dessen, was alles Zweifel hervorrufen könnte, sollte mich die Tatsache, dass mir der Skeptiker Wissen über die systematische Täuschung abspricht, nicht dazu veranlassen, die Gültigkeit meiner Wissensansprüche in Frage zu stellen. Kurzum glaube ich also, dass ich nicht getäuscht werde, da ich einfach keinen Zweifel daran habe, nicht getäuscht zu werden. Um solch eine Überlegung überhaupt auslösen zu können, ist die skeptische Herausforderung nicht stark genug. Der Skeptiker sollte schon mit etwas mehr als bloßem Widerspruch aufwarten. Wenn Wahrheit nach eigenem Ermessen bewertet wird, dann ist auch mein Glaube wahr, und folglich weiß ich auch, dass ich nicht getäuscht werde.
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5. Weitere Unterstützung für Peirces Antwort Peirces Antwort auf den radikalen Skeptizismus beruht auf einer Reihe von Behauptungen. Einige von ihnen sind entweder offensichtlich oder werden durch weitere Überlegungen fundiert, die er zu ihren Gunsten vorbringt. Dies gilt sowohl für die Behauptung, dass wir im täglichen Leben nicht im Geringsten daran zweifeln, nicht systematisch getäuscht zu werden, als auch für die Behauptung, dass der Ausgangspunkt aller philosophischen Nachforschungen in unserer Alltagsperspektive liegt. Für andere entscheidende Thesen fehlt es allerdings an hinreichenden Argumenten. Mein nächster Schritt wird nun darin bestehen, die Ecksteine von Peirces Antiskeptizismus mit weiteren Argumenten zu versehen und ebenso ein paar geringfügige Mängel zu beheben, die sich bei der Angabe von Gründen für echten Zweifel eingefunden haben. Zum einen könnte sich Peirce in der Analyse des Wissens als wahren Glaubens Unterstützung von Crispin Sartwell (1991; 1992) holen, der diese Position heftig verteidigt hat.18 Sartwell stellt zum Beispiel einige ziemlich überzeugende Überlegungen zur Stützung der These auf, Wissen sei „der Zweck oder der telos unserer Nachforschungen“ (Sartwell 1992, 167): Man wird mich wahrscheinlich beschuldigen, nur das Problem zu verschieben, wenn ich die Annahme aufstelle, dass Wissen das Ziel unserer Nachforschungen sei [ . . . ] Aber ich würde meine Ankläger an diesem Punkt fragen, ob sie auf eine bessere Art und Weise diejenige Vorstellung darlegen können, die Theorien über das Wissen analysieren oder beschreiben, ohne aber zugunsten einer solchen Theorie das Problem nur zu verschieben. Und wenn Wissen nicht der epistemische telos im Hinblick auf bestimmte Propositionen ist, so frage ich weiter, warum man dann in der Geschichte der Philosophie so viel Anstrengungen auf die Theorie des Wissens verwandt hat und welche Funktion dieser Begriff in dieser Geschichte dann noch einnimmt. Wenn denn Wissen nicht das alles umspannende Ziel der Nach18 In Sartwell 1991 oder 1992 findet sich keinerlei Referenz auf Peirce, aber seine (kurze) Diskussion von James’ „The Will to Believe“ in Fußnote 8 seines Aufsatzes von 1991 zeigt, dass er durchaus mit der amerikanischen pragmatistischen Tradition vertraut ist. In Deutschland ist Sartwells Theorie von Ansgar Beckermann (2001) verteidigt worden. Alvin Goldmans Buch von 1999 ist gänzlich der Beschreibung dessen gewidmet, was er „schwaches Wissen“ (S. 23 f.) nennt und wobei es sich um wahren Glauben ohne jegliche Anforderungen an Begründetheit handelt. Nach Goldmans Terminologie läuft der Besitz von „starkem Wissen“ darauf hinaus, über einen wahren Glauben zu verfügen, der zusätzlich zum Ausschluss alternativer Möglichkeiten durch eine Art von Rechtfertigung oder Berechtigung getragen wird. Stephan Hetherington (2001) wiederum schlägt eine abgestufte Auffassung von Wissen vor, in welcher einfacher wahrer Glaube minimales Wissen darstellt. Wissen höheren Grades entsteht dann, wenn wir Rechtfertigungen liefern können. Zumindest oberflächlich gibt es hier eine gewisse Ähnlichkeit zu Peirce in der Auffassung, dass wahrer Glaube eine Form von Wissen ist. Dafür läuft Peirce aber die Idee zuwider, dass wir durch das Hinzufügen von Rechtfertigungen zu unseren bereits vorhandenen Glaubensvorstellungen unser Wissen verbessern können.
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forschung ist, warum ist dieser Begriff dann so wichtig und warum sollten wir uns in der normativen Epistemologie noch weiter damit herumschlagen, was Wissen überhaupt ist und wie man es erreichen kann? (Sartwell 1992, 174 f.)
Wissen ist also entweder der telos der Nachforschung, oder es wird ziemlich schwierig, seine als zentral angenommene Rolle einerseits in der Epistemologie und allgemein in der Philosophie zu erklären. Zum zweiten liefert Sartwell eine interessante alternative Erklärung dafür, warum die Zufallsmethode der Glaubensfestsetzung so unbefriedigend ist. Gehen wir noch einmal zu der Person zurück, die durch reinen Zufall zu wahrem Glauben gelangt ist. Wir alle haben ja das Gefühl, dass dies irgendwie unbefriedigend ist. Hält man sich an die Standardmeinung, so können wir unseren Eindruck damit begründen, dass dieser Person jegliche geeignete Rechtfertigung fehlt. Peirce hatte gegen diese Methode, wie wir uns erinnern, so argumentiert, dass die Zufallsmethode kraft des sozialen Antriebs nicht in der Lage sein wird, Meinungen festsetzen zu können, und damit wird sie zumindest auf lange Sicht nicht dazu in der Lage sein, Wissen hervorzubringen. Wie auch Sartwell darlegt: Selbst wenn diese eine Person mit Hilfe der Zufallsmethode zu Wissen gelangen sollte, so gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass sie in der Zukunft weiter so viel Glück haben wird. Für uns gibt es folglich keinen Grund, ihren Aussagen über solche zukünftigen Sachverhalte zu vertrauen, die wir für uns selbst nicht verifizieren können. Auf der anderen Seite muss allgemeine Unzuverlässigkeit nicht ausschließen, dass man nicht doch in bestimmten Fällen über Wissen verfügen kann. Wir können auch weiterhin sagen, dass diese Person mit einem wahren Glauben auch über Wissen verfügt. Die Wahrer-Glaube-Analyse ist durchaus mit dem Unbehagen über die Methode der Hartnäckigkeit als allgemeine Methode zur Glaubensfestlegung verträglich. Wir müssen hier noch festhalten, dass Peirce sich beim Einwand gegen die Methode der Hartnäckigkeit auf die Perspektive der ersten Person beruft, wohingegen Sartwell die Angelegenheit aus der Perspektive der dritten Person betrachtet. Drittens ist eine etwas detailliertere argumentative Untermauerung der These vonnöten, dass ich mich nicht gleich zum Zweifel veranlasst sehe, wenn mir der Skeptiker Wissen bezüglich der Nicht-Täuschung abspricht. Zum einen liefert Peirce keine explizite Analyse des Begriffs der Überraschung, die ja bei seiner Verteidigung der in Frage gestellten Behauptung eine zentrale Rolle spielt. Außerdem scheint seine These etwas zu restriktiv, dass die Überraschung die einzige Ursache von Zweifeln ist. Aufbauend auf Paul Horwichs (1980) Analyse der Überraschung ist hier nun ein etwas detaillierteres Argument für die Behauptung, dass es nicht überraschend sein sollte, wenn mir der Skeptiker mein Wissen bezüglich der Nicht-
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Täuschung abspricht.19 Was soll es heißen, wenn ein Ereignis überraschend ist? Nach Horwichs Meinung ist es nicht ausreichend, dass ein Ereignis vor dem Hintergrund unserer aktuellen Theorie unwahrscheinlich ist, um das Ereignis damit als überraschend bezeichnen zu können (S. 101). Zum Beispiel war es im Voraus ziemlich unwahrscheinlich, dass die Person, die bei der letzten Lotterie den Hauptgewinn gezogen hat, wirklich gewinnen würde. Aber es ist nun kaum überraschend, dass sie gewonnen hat. Irgendjemand musste ja schließlich gewinnen, und diese eine Person war nun einmal die Glückliche. Was man neben geringer Wahrscheinlichkeit noch bräuchte, wäre eine alternative Theorie, die das Ereignis wahrscheinlich machen würde. Nehmen wir zum Beispiel an, ich wäre völlig davon überzeugt, dass sich meine Frau gerade bei Verwandten in Frankfurt am Main befindet, und nun entdecke ich jemanden in Konstanz, der ihr absolut gleich sieht. Unter Horwichs Analyse würde dies ein überraschendes Ereignis sein. Zum einen ist das Ereignis ziemlich unwahrscheinlich, wenn man sich die Frankfurt-Hypothese vor Augen hält, und zum anderen gibt es eine alternative Hypothese, nach welcher das Ereignis wahrscheinlich wäre: Die Frau, die ich da eben gesehen habe, ist tatsächlich meine Ehefrau; nur ist sie nicht in Frankfurt, sondern in Konstanz. Wenden wir dies nun auf das skeptische Szenario an. Damit ich so überrascht bin, dass ich gleich all meinen Glauben über die Nicht-Täuschung aufgebe, muss eine ungewöhnliche Erfahrung vorliegen, die zum einen ziemlich unwahrscheinlich in Bezug auf meine Hypothese ist, andererseits aber in Bezug auf die Täuschungshypothese wahrscheinlich ist. Doch keine Täuschungshypothese könnte meine Erfahrung wahrscheinlicher machen, da sie alle, ex hypothesi, ununterscheidbar vom normalen Leben wären. Und alles, was unwahrscheinlich ist in Bezug auf meinen Glauben, dass ich ein echter Mensch bin, ist somit gleichermaßen unerwartet in Bezug auf eine alternative Hypothese, wie zum Beispiel die, dass ich ein Gehirn im Tank bin. Wenn Überraschung die einzige Ursache des Zweifels ist, wie Peirce manchmal denkt, könnte mich nichts auf der Welt daran zweifeln lassen, dass ich nicht getäuscht werde. Dies gilt insbesondere für das äußere Ereignis, bei welchem mir der Skeptiker Wissen über die NichtTäuschung abspricht. Aber noch immer erscheint Peirces These zu restriktiv, dass Überraschung die einzige Ursache für Zweifel sei. Isaac Levi hat angemerkt, dass wir manchmal Gründe haben, eine Theorie anzuzweifeln, weil sie es nicht schafft, Ereignisse zu erklären, die wir gerne erklärt hätten (Levi 1991, 153). Obwohl Anomalien normalerweise durch äußere Umstände hervorgerufen werden (durch die Beobachtung von Ereignissen, die die Theorie nicht erklären kann), enthalten sie nicht 19 Ähnliche Analysen der Überraschung oder dessen, wie ein Ereignis sein muss, damit es weiter erklärt werden muss, stammen von John Leslie (1989) und Peter van Inwagen (1993).
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unbedingt ein Überraschungselement. Denn die unerklärten Ereignisse, die sich in der Anomalie äußern, müssen vor dem Hintergrund der Theorie, anders als überraschende Elemente, nicht unwahrscheinlich sein. Wie Levi anmerkt, ist ungeachtet all dessen das Unvermögen zu einer Erklärung nicht Ansporn genug, unseren aktuellen Standpunkt aufzugeben: „Man sollte keine Theorie, deren Wahrheit man sich gerade sicher ist, nur aus dem Grund aufgeben, dass sie sich noch nicht als fähig erwiesen hat, gewisse Phänomene zu erklären“ (ebd.). Der Grund dafür liegt darin, dass man durch die Aufgabe einer Theorie all der in dieser Theorie enthaltenen Informationen beraubt wird, die normalerweise von einigem Wert für die Erklärung anderer Phänomene sind (ebd.). Wir bräuchten eher den zusätzlichen Anreiz einer alternativen Theorie (S. 154). Diese neue Theorie muss noch dazu versprechen können, die Anomalie auszuräumen und gleichzeitig alles zu erklären, was bereits durch die alte Theorie erklärt wurde (ebd.). Tatsächlich sollte die alternative Theorie eine echte Verbesserung in Bezug auf die aktuelle Theorie darstellen: „Um zu rechtfertigen, dass man sich einer Hypothese A öffnet, die anfangs nicht ernsthaft in Betracht gezogen wurde, muss die Hinzunahme von A in den Korpus in Bezug auf die Informationen wertvoller als der Status quo sein“ (S. 157). Wenn Überraschung die einzige Ursache für Zweifel ist, dann habe ich keinen Zweifel daran, nicht getäuscht zu werden, und folglich glaube ich auch nicht, dass ich getäuscht werde. Aber wie wir eben gesehen haben, ist die Überraschung nicht die einzige Ursache für Zweifel. Auch eine Anomalie kann diesen Effekt hervorrufen. Wird nun eine Anomalie in meinem Standpunkt hervorgerufen, dadurch dass mir der Skeptiker Wissen bezüglich der Nicht-Täuschung abspricht, und wenn dem so wäre, wäre das dann ein Grund zu zweifeln? Die Antwort lautet folgendermaßen: Nach der Definition haben alle skeptischen Hypothesen die Konsequenzen, die sich aus den Beobachtungen ergeben, mit unserem normalen Standpunkt gemein. Also werden sie nicht in der Lage sein, Ergebnisse zu erklären, die sich nicht auch schon vorher erklären ließen. Das wiederum bedeutet, dass sie die Anomalien unseres aktuellen Standpunkts nicht beseitigen können. Mit anderen Worten: Keine einzige Anomalie in unserem normalen Standpunkt, sei sie nun auf das Absprechen unseres Wissens bezüglich Nicht-Täuschung (falls dies wirklich Anomalie verursachen sollte) oder auf irgendwelche anderen Ereignisse zurückzuführen, könnte uns zu einer wohlgesonnenen Einstellung gegenüber den skeptischen Hypothesen veranlassen.
6. Drei Wege zum Skeptizismus Was ist eigentlich an Peirces Ansatz „pragmatisch“ zu nennen? Peirce besteht darauf, dass der Beginn aller Philosophie in unserer normalen Alltagsperspek-
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tive zu finden ist. Die Funktion unserer normalen Glaubensvorstellungen besteht in der Bereitstellung dessen, was Levi einen Standard ernsthafter Möglichkeit nennt. Dessen vordergründiger Zweck wiederum ist verständlicherweise die Leitung unserer Handlungen, so dass diese unsere Bedürfnisse befriedigen. Die praktische Perspektive ist in dieser Hinsicht zentral. Darüber hinaus sind die Kriterien für die Entscheidung darüber, ob wir eine alternative Hypothese in Frage kommen lassen, ihrer Natur nach durchaus praktisch. Wenn es uns bloß darum ginge, Fehler zu vermeiden, würden wir besser daran tun, zu Skeptikern zu werden. Doch das Vermeiden von Fehlern ist nicht das einzige Ziel einer Nachforschung. Wir wollen ebenso zu substanzieller Wahrheit gelangen. Zu diesem letzten Punkt hat sich James recht klar geäußert. In dem frühen Aufsatz „The Sentiment of Rationality“ verweist er auf unseren Wunsch, „Ungewissheit aus der Zukunft zu verbannen“ (S. 77), und zwar mit dem Ziel, „Erwartungen zu definieren“ (S. 81). Aufgrund seiner Bedeutung beim praktischen Handeln schätzte er den Richtwert für die Definition von Erwartungen letzten Endes als praktisch ein. Ähnlich hat John Dewey „unsere Suche nach Gewissheit“ hervorgehoben und hinzugefügt, „der letztendliche Grund für unsere Suche nach kognitiver Gewissheit ist das Bedürfnis nach Sicherheit in den Ergebnissen unserer Handlungen“ (1929, 39). Bevor wir nicht ein klares Anzeichen dafür haben, dass unser aktueller Standpunkt einen Fehler enthält, sind wir nicht gewillt, seine Vorhersagekraft zu opfern. Es gibt für uns keinerlei Beweggrund zur Aufgabe unseres aktuellen Standpunkts, solange es nicht eine Aussicht auf mögliche Verbesserung gibt. Wie können wir nun mit Hilfe des pragmatistischen Modells die Tatsache erklären, dass einige Philosophen behaupten, nicht zu wissen, dass sie keine Gehirne im Tank (oder auch nicht anderweitig getäuscht) sind? Eine plausible Analyse des Skeptizismus sollte dieser Tatsache Rechnung tragen können. Das Peircesche Modell erklärt die Anziehungskraft des Skeptizismus mit dem Verweis auf das Unvermögen, einen der drei folgenden Grundzüge einer rationalen Nachforschung zu erkennen. In einer Nachforschung liegt der Ausgangspunkt eher in unseren gewöhnlichen Glaubensvorstellungen als, sagen wir, in einer tabula rasa. Es stimmt, dass der normale Standpunkt und jede beliebige skeptische Hypothese vom Standpunkt einer tabula rasa völlig symmetrisch sind: Beide kommen zu denselben Beobachtungskonsequenzen, und es gibt keinen Grund, dem einen oder dem anderen Standpunkt den Vorzug zu geben. Vom Standpunkt der tabula rasa kann man dem Skeptizismus nicht entgehen. Doch wenn nicht wirklich gute Gründe für eine andere Handlungsweise vorliegen sollten, dann werden wir das Argument des Skeptikers von unserer gewöhnlichen doxastischen Perspektive aus angehen. Und von diesem Standpunkt aus besehen sind die normale Ansicht und
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die skeptische Hypothese nicht symmetrisch: Die erste glauben wir, die zweite nicht. Doch hält man noch kein Allheilmittel gegen den Skeptizismus in der Hand, wenn man nur den Vorrang unserer normalen Perspektive einräumt. In der Philosophie sind wir manchmal etwas voreilig, wenn es darum geht, weitere alternative Hypothesen vor einem neutralen Hintergrund in Betracht zu ziehen. Tatsächlich machen wir so etwas automatisch, und als Konsequenz dessen neigen wir dann dazu zu vergessen, dass es überhaupt einen Moment in der Nachforschung gibt, der der neutralen Bewertung alternativer Theorien vorausgeht, und dass es sich dabei um einen Moment handelt, in dem sich eigentlich erst entscheidet, ob wir eine andere alternative Theorie überhaupt in Frage kommen lassen. Die Entscheidung darüber geschieht auf der Grundlage einer Bewertung, die eben nicht auf neutraler Basis, sondern von unserer aktuellen doxastischen Position aus gemacht wird. Der Skeptizismus ist die unausweichliche Folge davon, dass man von unserer Alltagsperspektive direkt zu einer neutralen Behandlung des Skeptizismus übergeht, ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, welchen Nutzen man davon hätte. Insbesondere gilt, dass es nicht ausreichend für das Hervorrufen echten Zweifels ist, wenn mir der Skeptiker Wissen bezüglich der Nicht-Täuschung abspricht. Schließlich übt der Skeptizismus eine besonders starke Anziehung auf diejenigen Philosophen aus, denen es allein um das Vermeiden von Fehlern geht – allerdings auf Kosten wesentlicher Informationen. Radikaler Skeptizismus ist bestens dazu geeignet, wenn es darum geht, Fehler zu vermeiden: Der beste Weg, um Fehler zu vermeiden, besteht nun einmal darin, an gar nichts zu glauben. Nur ist diese Position rein hypothetisch, da es jedem Menschen mit Bedürfnissen und Absichten wichtig sein muss, wesentliche Informationen zu erlangen, die seine Handlungen bestimmen und so seine Bedürfnisse zu befriedigen helfen. Nichtsdestotrotz gibt es in der Philosophie eine Neigung zu der Annahme, dass der praktische Standpunkt unwichtig wäre.20 Dies lässt auf eine dritte Art von Nachlässigkeit schließen: die Weigerung, unser Interesse am praktischen Handeln in Betracht zu ziehen, wenn es um die Entscheidung geht, ob man sich einer neuen Hypothese öffnen soll. Dies führt ebenfalls auf direktem Weg in den Skeptizismus.
7. Ein Vergleich mit anderen Antworten Der nächste Schritt wird darin bestehen, die pragmatische Antwort auf den Skeptizismus mit den zur Zeit bekanntesten Ansätzen kurz zu vergleichen. Kehren wir noch einmal zum ursprünglichen skeptischen Argument zurück. 20 Siehe
dazu Mounce 1997, 101.
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(S1) Ich weiß nicht, dass nicht SH. (S2) Wenn ich nicht weiß, dass nicht SH, dann weiß ich nicht, dass O. Also: (S3) Ich weiß nicht, dass O. Der Pragmatist umgeht die skeptische Schlussfolgerung, indem er (S1) zurückweist. Wir wissen, dass wir keine Gehirne im Tank sind, die systematisch getäuscht werden. Und wie wir gesehen haben, kann diese Annahme durch einen gut durchdachten Ansatz über Wissen und Nachforschungen unterstützt werden. G. E. Moore ist berühmt für seine Argumentation dafür zu wissen – aufbauend auf seiner Überzeugung, die Schlussfolgerung des skeptischen Argumentes müsse falsch sein –, wie man die skeptische Hypothese verneinen kann (Moore 1925). Allerdings ist es Moore nicht gelungen, seine Strategie mit einer Analyse des Wissens zu ergänzen, die sie unterstützen würde. So genannte NeoMooresche Theorien versuchen nun, einen Ansatz zum Wissen zu liefern, der die Unwahrheit von (S1) nachweisen könnte. So schlägt zum Beispiel Ernest Sosa (1999) vor, die von ihm so bezeichnete „Sicherheit“ (engl. „safety“) als zentrale Komponente unseres Wissens zu betrachten. Dieser Begriff ist wie folgt charakterisiert: Verfügt eine Person über Wissen bezüglich einer kontingenten Proposition P, dann ist P sicher, wenn die Person zum einen den wahren Glauben, dass P, hat und wenn es dazu noch eine Vielzahl von nahegelegenen möglichen Welten gibt, die dadurch charakterisiert sind, dass, wenn die Person glaubt, dass P wahr ist, P in der betreffenden Welt auch tatsächlich wahr ist. Ohne sich mit den Details zu befassen, kann gezeigt werden, dass dieser Vorschlag die Zurückweisung von (S1) erlaubt. Diese Vorteile hat er mit der pragmatistischen Theorie gemein. Dennoch besteht für Neo-Mooresche Theorien ein generelles Problem „im Fehlen der diagnostischen Anziehungskraft“ (Pritchard 2002, 239). Das soll heißen, dass sie Probleme damit haben zu erklären, warum so viele Philosophen der Auffassung waren, der radikale Skeptizismus sei in gewisser Hinsicht intellektuell unvermeidbar. Für den Pragmatisten ist dies kein Rätsel. Von seinem Standpunkt aus führen nicht weniger als drei Wege zum Skeptizismus, die mit der Vernachlässigung eines der drei pragmatischen Aspekte von Nachforschung einhergehen, auf welche oben aufmerksam gemacht wurde. Eine weitere bekannte Antwort besteht in der Zurückweisung von (S2). Philosophen dieser Richtung sind der Auffassung, dass allein aus der Tatsache, dass wir die radikale skeptische Hypothese nicht zu verneinen wissen, noch nicht folgt, dass wir deswegen auch kein Wissen über gewöhnliche Aussagen besitzen, selbst wenn dies vielleicht den Anschein haben sollte. Ein solcher Ansatz ist
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unter der Bezeichnung „Relevante-Alternativen-Theorie“ bekannt worden. Danach sind skeptische Fehlermöglichkeiten einfach nicht in dem Maße für unser Alltagswissen relevant, wie es alltägliche Fehlermöglichkeiten sind. Das Problem hierbei besteht allerdings darin, diese Behauptung mit einer Erklärung zu verbinden, warum skeptische Fehlermöglichkeiten irrelevant sein sollten. Besonders Fred Dretske (1970) hat in dieser Richtung einige Anstrengungen unternommen. Dabei hat sich die aktuelle Diskussion auf das so genannte Prinzip der Abgeschlossenheit (engl. „closure“) konzentriert. (Prinzip der Abgeschlossenheit) Wenn S weiß, dass p, und wenn S weiß, dass p q impliziert, dann weiß S, dass q. Wenn ich weiß, dass ich gerade sitze, und wenn ich weiter weiß, dass jemand, der sitzt, kein Gehirn im Tank ist, dann weiß ich auch, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Es wurden verschiedene Versuche zum Aufbau von Theorien unternommen, die die Abgeschlossenheit verletzen. Ein prominentes Beispiel ist Nozicks kausale Theorie des Wissens (siehe Nozick 1981). Doch wie schon Pritchard bemerkt, gibt es auf den ersten Blick Spannungen bei der Annahme solch eines Vorschlags, da die Idee, wir müssten die Konsequenzen dessen, was wir bereits wissen, auch wissen, „extrem stark“ (S. 222) ist. Aus der Sicht des Pragmatisten ist die Idee, Abgeschlossenheit für rationale Menschen zurückzuweisen, genauso absurd, wie sie es natürlich zu sein hat. Vom Standpunkt dieser Theorie kann Geschlossenheit nur dann fehlen, wenn man glauben würde, dass p, und dass p q impliziert, ohne dass man glaubt, dass q. Dies könnte nur dann passieren, wenn die Person aus irgendeinem Grund (Gedächtnisschwäche usw.) nicht in der Lage ist, ihre kognitiven Verpflichtungen zu erfüllen. Die, wie ich meine, zentrale Frage dagegen ist, inwiefern ideal rationale Personen – d. h. Personen, die allen ihren Verpflichtungen nachkommen – sich vom Skeptiker beeindrucken lassen sollten. Eine weitere Antwort auf den radikalen Skeptizismus, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, liefert der Kontextualismus. Seinen Ausgangspunkt bildet unser vermuteter „Biperspektivismus“ (Williams 1991): Auf der einen Seite denken wir, dass es im Alltagskontext völlig angemessen erscheint, wenn wir Subjekten Wissen zuschreiben; auf der anderen Seite erscheint es unangemessen, Subjekten in den Kontexten Wissen zuzuschreiben, in welchen skeptische Fehlermöglichkeiten auftreten. Während der Skeptizismus unter den Bedingungen philosophischer Reflexion überzeugend erscheint, kann er niemals Einfluss auf unser Alltagsleben haben, in dem er keineswegs ignoriert wird. Wie kann man dies erklären? Der Kontextualist ist der Meinung, diese Intuitionen würden nicht miteinander konfligieren, sondern wären eher die Wirkung einer Empfindlichkeit seitens
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der Person, die Wissen zuschreibt, auf eine Schwankung im epistemischen Standard, die ihrerseits durch einen Wechsel im konversationellen Kontext verursacht wird. Genauer gesagt kann von Kontext zu Kontext die Stärke derjenigen epistemischen Position variieren, in welcher sich eine Person befinden muss, damit sie über Wissen verfügen kann. Wenn das wirklich so wäre, dann könnte es zugleich wahr sein, dass ich einerseits im Alltagskontext über Wissen verfüge und dass mir andererseits dieses Wissen in skeptischen konversationellen Kontexten fehlt. Die einflussreichsten Vertreter von Theorien dieser Art sind Steward Cohen (1986), Keith DeRose (1992; 1995), und David Lewis (1979; 1996). Der Kontextualist braucht eine unabhängige Beschreibung dessen, was alles einen Wechsel im konversationellen Kontext verursachen kann. Diese Darstellung muss gleichzeitig implizieren, dass sich der Kontext durch den Skeptiker, der jemandem Wissen bezüglich einer Nicht-Täuschung abspricht, zu einem anspruchsvolleren Kontext verändert. Keith DeRose hat eine detaillierte Theorie vorgelegt, die genau das leisten soll. Er charakterisiert den Mechanismus, der den epistemischen Standard anhebt, wie folgt: Wenn behauptet wird, dass eine beliebige Person S die Proposition P weiß (oder nicht weiß), dann werden die Standards für Wissen (die Standards darüber, wie gut eine epistemische Position sein muss, um als Wissen zu gelten) in der Regel angehoben. Falls erforderlich, erreicht man dabei solch eine Stufe, auf der verlangt wird, dass S’s Glaube an das bestimmte P empfindlich sein muss, um als Wissen bezeichnet werden zu können. (1995, 36)
S’s Glaube an P ist per Definition empfindlich, wenn S die Proposition P nicht in der nächstgelegenen möglichen Welt glaubt, in der P falsch ist. Wenn also zum Beispiel jemand behauptet, ich wüsste nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin, so hebt dies den Standard für Wissen. Und zwar wird der Standard auf eine solche Stufe gehoben, dass von meiner Überzeugung „Ich bin kein Gehirn im Tank“ verlangt wird, empfindlich zu sein, damit sie als Wissen betrachtet werden kann, so dass ich in der nächstgelegenen möglichen Welt, in welcher ich ein Gehirn im Tank bin, nicht glaube, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Da ich in der nächstgelegenen Gehirn-im-Tank-Welt vermutlich immer noch glaube, ich sei kein Gehirn im Tank, weiß ich in diesem neuen Kontext folglich nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Mit dieser Annahme gibt es einige wohlbekannte Probleme. Zumindest in der von David Lewis vertreteten Version besteht die ernsthafteste Schwierigkeit in der bedenklichen Legitimierung der Standards des Skeptikers als die doch richtigen Standards, so dass uns schlussendlich Wissen fehlt. Lewis (1979) ist nämlich der Meinung, dass „Wissen“ auf dieselbe Art kontextsensitiv ist, wie es Begriffe wie „flach“ sind. In einem alltäglichen Kontext könnten wir alle zustimmen, dass der Tisch vor unserer Nase „flach“ ist. Aber wenn nun eine Person herein-
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käme und abstreiten würde, dass er flach ist, würden wir deswegen kaum einen Streit anfangen. Stattdessen würden wir annehmen, dass sie „flach“ in einem anspruchsvolleren Sinn benutzt, und die Standards für „Flachheit“ so anheben, dass ihre Behauptung wahr wird. Lewis nennt diesen Mechanismus eine „Akkommodationsregel“. Es gibt nun tatsächlich einen Sinn, in dem der anspruchsvollere Standard von „Flachheit“ korrekter und wissenschaftlicher ist, wohingegen unsere Alltagsbehauptung nur einfach so geäußert wird. Wenn Wissen nach demselben Muster aufgebaut wird, erscheint der Skeptiker als derjenige, der die präziseren und korrekteren Standards zur Aufstellung von Wissensbehauptungen benutzt.21 So wie ich den Pragmatismus verstehe, weist er den Biperspektivismus zurück, der den Ausgangspunkt für den Kontextualisten gebildet hat. Dabei untergräbt er die Motivation dafür, überhaupt zu denken, dass Wissen kontextabhängig ist.22 Vielleicht scheint es unangemessen zu sein, Personen Wissen in konversationellen Kontexten zuzuschreiben, in denen skeptische Fehlermöglichkeiten aufgekommen sind. Dennoch ist dies nur dem Anschein nach so und kann mit Verweis auf die oben beschriebenen drei Arten von Vernachlässigung erklärt werden, also (i) mit dem Fehler, nicht anzuerkennen, dass unsere alltägliche doxastische Position der Ausgangspunkt aller Nachforschungen ist, oder (ii) mit der vielleicht unbewussten Neigung, den Schritt in der Nachforschung zu überspringen, an dem entschieden wird, ob eine alternative Hypothese vor einem normalen Hintergrund in Frage kommen kann, oder (iii) mit der Missachtung unseres legitimen Interesses an wesentlicher Wahrheit. Die reine Tatsache zum Beispiel, dass man uns Wissen bezüglich einer NichtTäuschung abgesprochen hat, ist noch lange kein Grund für uns anzuzweifeln, dass wir nicht systematisch getäuscht werden. Wenn man dies nicht erkennt, 21 Williams hat eine Version des Kontextualismus entwickelt, die dem Skeptiker nicht zugesteht, einen höheren epistemischen Standard zu gebrauchen. 22 Mounce (1997, 101) ist anderer Meinung: „Weitere Betrachtungen werden ergeben, dass es keine Unvereinbarkeit zwischen der Perspektive des Skeptikers und der gewöhnlichen Praxis gibt, solange keine von beiden als absolut betrachtet wird. Es ist nicht die Perspektive des Skeptikers, aber seine Weigerung, jede andere zu akzeptieren, die seinen Skeptizismus hervorrufen könnte. Es gibt keine Vereinbarkeit zwischen dem Zugeständnis dieser Perspektive und der der gewöhnlichen Praxis. Manchmal tut man gut daran, sich in Erinnerung zu rufen, dass unsere normalen Erwartungen nicht garantiert sind und dass unsere Gewissheit nicht absolut ist.“ Für eine überzeugende Kritik am Gebrauch solcher „doppelten Standards“ siehe Levi 1991, 58–60. Levis Schlussfolgerung (S. 60) ist, „die doppelten Standards fallen entweder in einen einzigen zusammen oder stellen die Irrelevanz des zweiten [skeptischen] Standards für die Zwecke der praktischen Überlegung oder der theoretischen Nachforschung sicher“, und auch, „nichtsdestotrotz zu sagen, dass es von philosophischer Wichtigkeit ist, heißt Zweifel daran zu erwecken, wie wichtig philosophische Wichtigkeit eigentlich sein kann“ (ebd.). Man könnte noch hinzufügen, dass der Pragmatismus seinen distinktiven Charakter verliert, wenn er doppelte Standards benutzen soll, und dass es dann schwer wird, ihn vom Kontextualismus zu unterscheiden.
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könnte man zu dem Gedanken verleitet werden, es sei unangemessen, einer Person Wissen in Abhängigkeit von einem Kontext zuzuschreiben, in welchem skeptische Hypothesen aufgekommen sind. Damit wir uns einer alternativen Theorie zuwenden, müssen wir mit der aktuellen Theorie unzufrieden gewesen sein, was vielleicht auf eine Anomalie zurückzuführen sein könnte. Und zusätzlich muss es eine gewisse Hoffnung darauf geben, dass die alternative Hypothese die Situation verbessern könnte. Wie ich versucht habe zu zeigen, stellt das Akzeptieren einer skeptischen Hypothese niemals eine echte Verbesserung im Vergleich zur normalen nicht-skeptischen Perspektive dar.
8. Schlussfolgerung Ich habe versucht, etwas Licht auf die pragmatistische Antwort auf den radikalen Zweifel zu werfen, und habe mich dabei auf zwei Antworten konzentriert, die in der amerikanischen pragmatistischen Tradition zu finden sind. Diese unterscheiden sich nicht nur in einigen Details, sondern in ihrer ganzen argumentativen Strategie voneinander. Die eine Strategie besteht in James’ Versuch, sein Argument gegen Skeptizismus in der Religion als ein Argument gegen radikalen Skeptizismus zu benutzen. Sein Versuch konnte allerdings nicht in ein wasserdichtes kohärentes Argument verwandelt werden. Dagegen haben wir gesehen, dass Peirces Antwort den Kern zu einer kohärenten pragmatistischen Antwort auf den radikalen Zweifel enthält. Peirces Antwort läuft im Wesentlichen auf Folgendes hinaus: Der Skeptiker besteht darauf, dass ich meinen Glauben, kein Gehirn im Tank zu sein, rechtfertigen sollte, ohne die Wahrheit dessen vorauszusetzen, was zu rechtfertigen ist. Bin ich dazu nicht in der Lage, dann – so behauptet der Skeptiker – wüsste ich nicht, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Der Pragmatist wendet sich gegen diese Art von Argumentation. Da ich davon überzeugt bin, kein Gehirn im Tank zu sein, bin ich auch von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt und folglich auch davon, dass ich weiß. Der Skeptiker ist da anderer Meinung. Aber solange ich nicht wirklich gute Gründe habe, mich seiner Perspektive zu öffnen (was heißen soll, dass ich meine eigene Perspektive anzweifle), gibt es für mich keine rationale Grundlage, seine Perspektive überhaupt in Betracht zu ziehen. Der Skeptiker kann seine Meinungsverschiedenheit nicht als hinreichende Rechtfertigung dafür aufstellen, dass ich mich seiner Perspektive öffne. Es liegt einzig und allein am Skeptiker, eine Rechtfertigung dafür zu liefern, dass ich die skeptische Herausforderung in Betracht ziehen sollte. Ansonsten kommt der Skeptizismus für mich nicht einmal in Frage. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass die charakteristische pragmatistische Antwort auf den radikalen Skeptizismus darin besteht, ‚ihn gleich zu Beginn fal-
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len zu lassen‘. Falls dies heißen sollte, dass man sich ohne jegliches Argument von ihm abwendet, so wird das schwerlich jemanden überzeugen können. Es ist auch unnötig. Wie ich gesagt habe, gibt es eine kohärente und distinktiv pragmatistische Antwort auf den radikalen Skeptizismus. Sie ist ebenso präzise und detailliert wie die etwas besser bekannten Zurückweisungen – wie der Kontextualismus und die Relevante-Alternativen-Theorie –, ohne mit einer von beiden zusammenzufallen, und zumindest in gewisser Hinsicht ist sie sogar überlegen. Ich schließe daraus, dass die pragmatistische Antwort auf den Skeptizismus es verdient hat, in der zeitgenössischen Debatte ernstgenommen zu werden.
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Isaac Levi
Korrigierbarkeit ohne Solidarität1 Charles Peirce bezeichnete sich selbst als Fallibilisten. John Dewey erklärte die Suche nach Gewissheit für hoffnungslos. Und nach William James können wir Erkenntnis zwar haben, aber niemals sicher wissen, wann das der Fall ist. Zeitgenössische Kommentatoren (wie Louis Menand (2001)) haben solche Bemerkungen als Ausdruck einer Haltung zur Ungewissheit angesehen, die meiner Ansicht nach mit einer der charakteristischen Einsichten in Konflikt steht, die alle drei klassischen Pragmatisten vertraten. Als Peirce sich für den Fallibilismus erklärte, meinte er nicht, seine aktuellen Überzeugungen könnten falsch sein, sondern vielmehr, er könnte seine aktuellen Überzeugungen aus gutem Grund ändern. Diese beiden Behauptungen sind von Grund auf verschieden. Ich bin absolut sicher, dass es in der Nähe von Brantford, Ontario, ein Indianerreservat gibt. Ich schließe die logische Möglichkeit aus, dass das Reservat bei Brantford nicht existiert. In James’ Terminologie ist diese logische Möglichkeit nicht lebendig.2 Sie ist tot. Ich habe keinen lebendigen Zweifel, das sie wahr ist. Gleichzeitig schließe ich die logische Möglichkeit nicht aus, dass neue Überlegungen in der Zukunft rechtfertigen können, dass ich meine Meinung ändere. Natürlich bin ich jetzt überzeugt, dass ich, wenn dies geschehen sollte, einen Fehler mache. Trotzdem, falls ich meine Meinung ändere und zu der Überzeugung komme, dass es in der Nähe von Brantford kein Reservat gibt, dann werde ich mir der Wahrheit meiner neuen Überzeugung sicher sein. Ich ziehe es vor, das, was Peirce „Fallibilismus“, Theorie der Fehlbarkeit, nannte, „Korrigibilismus“, „Theorie der Korrigierbarkeit“, zu nennen. Ein Fallibilist bestreitet, dass sich Forscher ihrer üblichen extralogischen Überzeugungen absolut sicher sein können. Alle Aussagen sind Vermutungen, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind. In meiner Terminologie war Peirce ein epistemologischer Infallibilist und ein Korrigibilist.3 1 Aus
dem Englischen übersetzt von Martin Suhr. vgl. William James, Der Wille zum Glauben, in: Pragmatismus, Stuttgart 1997, S. 129] 3 In „Was heißt Pragmatismus“ [5.411–5.437; Apel II, S. 389 ff.] schreibt Peirce: „Das aber, was man überhaupt nicht bezweifelt, muss man als untrüglich [infallible], als absolute Wahrheit ansehen.“ 2 [A.d.Ü.:
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Ich verstehe James so, dass er die Revidierbarkeit unserer Doktrinen betont, wenn er behauptet, wir könnten niemals sicher sein, wann wir Erkenntnis haben. Die Suche nach Gewissheit, die Dewey für eine Schimäre hielt, ist eine Suche nach Überzeugungen, die gegen künftige Kritik immun sind. Dewey bestand zwar darauf, dass Gesichtspunkte so geklärt werden können, dass sie späterer Forschung als Hilfsmittel dienen können. Sie sind aber nicht so endgültig geklärt, dass sie gegen jede Verbesserung in der Zukunft immun sind.4 Dass eine Unterscheidung zwischen Fehlbarkeit und Korrigierbarkeit zu den Grundüberzeugungen der klassischen Pragmatisten gehörte, wird durch die originellste Komponente der Ansichten, die sie alle teilten, belegt. Peirce beharrte darauf, dass die Bemühungen, aktuelle Überzeugungen zu rechtfertigen oder zu erklären, wie sie die Erkenntnistheorie seit Descartes charakterisieren, fallen gelassen werden sollten. Soweit wir damit befasst sein sollten, unsere Überzeugung zu rechtfertigen, sollte sich das Interesse darauf konzentrieren, Überzeugungsänderungen zu rechtfertigen. Die Forscher sollten sich dafür interessieren, die Ersetzung von Zweifel durch eine volle Überzeugung zu rechtfertigen, und vermutlich auch dafür, eine volle Überzeugung durch Zweifel zu ersetzen. Außerdem sollte die Rechtfertigung von Überzeugungsänderungen in den Methoden und der Information begründet sein, die gegenwärtig frei von lebendigem Zweifel sind. James wie Dewey teilten dieses Interesse an einer Neuausrichtung der Erkenntnistheorie. Nach dieser Ansicht wird der übliche Gesichtspunkt, an dem Änderungen des Gesichtspunkts bemessen werden sollen, mit gerade so viel Gewissheit als wahr bezeichnet, wie nötig ist, um als Beweisbasis für die gegenwärtig unternommene Forschung gelten zu können. Durch das Überzeugung–Zweifel-Modell wird die Theorie der epistemologischen Fehlbarkeit ebenso vorausgesetzt wie die Theorie der Korrigierbarkeit. Dewey suchte diese vorrangige Befassung mit der Rechtfertigung von Überzeugungsänderungen auf die Rechtfertigung von Gesichtspunktsänderungen in Ethik und Politik sowie im Umgang mit der Schaffung und kritischen Bewertung von Kunstwerken auszudehnen. Zum Beispiel insistierte Dewey darauf, dass die moralische Anstrengung, den Entschluss zu fassen, seine Pflicht zu tun, einen unverdient großen Anteil der Aufmerksamkeit von Moralisten, Politikern, Therapeuten und Philosophen beanspruche. Diese Aufmerksamkeit ist nicht wegen eines Mangels an Fragen über[5.416; Apel II, S. 397]. Trotz seiner offiziellen Erklärung zur Fehlbarkeit [fallibilism] unterstützt Peirce explizit die Unfehlbarkeit, wie ich es hier beabsichtige. Die Festlegung der ersten Person auf die untrügliche Wahrheit ihrer Ansicht darf nicht mit der Behauptung verwechselt werden, dass sie ein untrügliches Orakel ist, wie die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes, die für den Papst in Anspruch genommen wird, der ex cathedra spricht. 4 Dewey, Logik.
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trieben, die in einem gegebenen Kontext mehr oder weniger nicht-kontrovers beantwortet werden. Aber allzu oft sind diese Fragen nach angeblich sicheren unkorrigierbaren moralischen Prinzipien, die von der Vernunft unterstützt werden, vorverpackt, oder die Lösungen werden aus moralischen Intuitionen abgeleitet, die in den Augen des Skeptikers (meiner Ansicht nach mit Recht) ein unkritisch akzeptiertes Vorurteil zu sein scheinen. Weder moralische Intuition noch reine praktische Vernunft sichern die Klärung moralischer Urteile, die über moralische Banalitäten hinausgehen. Dagegen wird Frage vernachlässigt, wie man eine Untersuchung führen soll, um Zweifel bezüglich der jeweiligen moralischen Pflichten zu beseitigen. Wie Berlin und Williams war auch Dewey ein Wertpluralist, der auf dem multidimensionalen Aspekt der Wertbindungen der jeweiligen Handelnden bestand. Solche Wertbindungen neigen freilich dazu, in Konflikt zu geraten, wie Berlin und Williams später selbst zugaben. Aber anders als Berlin und Williams glaubte Dewey, entstehende Konflikte böten den Anlass zu moralischen Untersuchungen, die sich von Grund auf von den Bemühungen unterscheiden, jene Erbsünde zu überwinden, vor der wir uns sehen, wenn wir zum Beispiel versuchen, eine vorgeschriebene Diät einzuhalten. In solchen Fällen ist eine Therapie geboten, die uns dazu bringen soll, das zu tun, was wir tun sollen, und nicht eine Untersuchung, die zu bestimmen sucht, was wir tun sollten. Anlässe zu moralischen Konflikten sind Gelegenheiten von „wirklichem und lebendigem Zweifel“ und verlangen genauso sicher nach einer Beseitigung dieses Zweifels durch Forschung wie Zweifel über die chemische Zusammensetzung der Sonne. Die Struktur der Forschung und der Charakter des Zweifels mögen sich in einigen Hinsichten vom wissenschaftlichen Fall unterscheiden; aber im groben Umriss sollte es wichtige Ähnlichkeiten geben. Ähnliche Beobachtungen gelten mutatis mutandis für Deweys Ansicht von Politik. Er schrieb: „Wenn wir an der falschen Stelle nach der Öffentlichkeit suchen, werden wir den Platz des Staates niemals bestimmen“ (Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, S. 46). Nach Dewey ist das Problem der „Entdeckung des Staates“ ein „praktisches Problem“ (S. 41 f.). Es bezieht sich darauf, „den Grad an Organisation, den die Öffentlichkeit erreicht hat“, einzuschätzen, „und den Grad, in welchem die Amtspersonen so eingesetzt sind, dass sie ihre Funktion der Obhut über die öffentlichen Interessen ausüben“ (S. 42). Es gibt aber keine Apriori-Regel, die aufgestellt werden kann und deren Befolgung dann einen guten Staat hervorbringen würde. [ . . . ] Die Bildung von Staaten muss ein experimenteller Prozess sein. Dieser Versuchsprozess kann mit verschiedenen Graden von Blindheit und Zufall vonstatten gehen und mit den Kosten ungeregelter Verfahren der Erprobung, des Umhertastens und Herumtappens, ohne Einsicht in das, worauf die Menschen
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hinauswollen, ohne klare Kenntnis dessen, was einen guten Staat ausmacht, selbst dann, wenn er erreicht ist. Oder er verläuft intelligenter, weil er von dem Wissen über die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, geleitet wird. Aber auch dann ist er noch immer experimentell. Und weil die Bedingungen des Handelns und der Untersuchung und des Wissens immer wechseln, muss das Experiment immer wieder aufgenommen werden; der Staat muss immer wieder neu entdeckt werden. [ . . . ] Der Glaube an politische Beständigkeit, an die Heiligkeit einer durch die Anstrengungen unserer Väter gesegneten und durch die Tradition geweihten Staatsform, ist einer der Stolpersteine auf dem Weg zu einem geregelten und gerichteten Wandel; er ist eine Einladung zu Revolte und Revolution. (42 f.)
Man sollte seine Ansicht ändern, um eine Schwierigkeit oder einen Zweifel oder ein Problem anzugehen. Der Wandel des Gesichtspunktes kann das eigene Urteil über das, was wahr ist, betreffen, die eigenen Ziele oder die Werturteile, einschließlich des Urteils, was besser ist als was, und was, nach Erwägung aller Dinge, in einem gegebenen Kontext der Überlegung getan werden sollte. Allgemeiner gesagt: Jede Änderung der Haltung, die sich der kritischen Reflexion darbietet, könnte als Stoff problemlösender Untersuchung dienen. Jeffords5 verwickelte sich ungewollt in moralische Widersprüche, weil er anfänglich überzeugt war, er könne sowohl seine Pflicht als loyales Mitglied der Republikanischen Senatspartei tun wie die weitere Verpflichtung, seinem Engagement für Bildung, Streitfragen der medizinischen Vorsorge usf. treu zu bleiben, erfüllen. Vielleicht war er früher überzeugt, die Optionen, vor denen er in seinen politischen Entscheidungen stand, könnten auf eine Weise bewertet werden, die sich sowohl mit seinem Engagement für die Republikanische Partei wie mit dem für seine politischen Projekte vereinbaren ließe. Aber entgegen seinen anfänglichen Erwartungen ließen die Tatsachen, wie er sie mit der Zeit sah, nicht die gleichzeitige Verwirklichung seiner verschiedenen Wertbindungen zu.6 Jeffords musste seine Überzeugungen über die Tatsachen ändern, genau wie es Michelson tat, als er in seinen Anfangsexperimenten mit dem Interferometer ein Nullergebnis erhielt. Sowohl Jeffords wie Michelson mussten Anpassungen vornehmen, um Widersprüche zu vermeiden. Aber Jeffords musste auch seine Wertbindungen ändern. Er konnte nicht länger verlangen, dass die Bewertung der Optionen, vor denen er stand, den Forderungen der Republikaner wie seinen 5 [A.d.Ü.: James Jeffords (*1934), Senator aus Vermont, der am 24.5.2002 die Republikanische Partei verließ und unabhängig wurde.] 6 Die Motive, die ich Jeffords zuschreibe, sind reine Spekulation auf meiner Seite. Es gibt die Auffassung, sein einziges Interesse seit der Komiteevorsitz gewesen. Ich weiß nicht, was in ihm vorging. Aber selbst wenn es wahr ist, dass das Interesse am Vorsitz eine Rolle in seinen Überlegungen gespielt hat, scheint es mir unwahrscheilich, dass es der einzige Wert oder das einzige Interesse war, das hier im Spiel war. Für den Zweck dieser Illustration genügt es anzunehmen, dass er sich einem Konflikt zwischen verschiedenen Komponenten seiner Wertbindungen gegenübersah.
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politischen Projekten genügte. Er konnte das Urteil in dem Sinne in der Schwebe lassen, dass er die Forderungen der Republikaner als zulässigen Weg der Bewertung seiner Optionen und die Forderungen seiner Projekte im Bereich der Erziehung, der Umwelt und der medizinische Fürsorge als zulässigen Maßstab für die Bewertung seiner Optionen anerkennen konnte. Aus dieser Perspektive war er in der Lage zu untersuchen, ob er den einen oder den andern dieser zulässigen Maßstäbe ausschließen oder einen anderen Maßstab anlegen sollte, der sich irgendwie als potenzielle Lösung zwischen den beiden eignete. Er konnte dieses tun, ohne eine petitio principii zu begehen. Deweys Art von Wertpluralismus fügt sich also gut in ein Überzeugung–Zweifel-Modell der Forschung, das auf Fragen des Wertes erweitert ist und auf der Trennung von Infallibilismus und Inkorrigibilismus beharrt. Ein Wertpluralist der Deweyschen Richtung kann Wertbindungen mit voller und aufrichtiger Überzeugung und ohne den geringsten Zweifel unterstützen. Nichtsdestoweniger kann sich der Wertpluralist ungewollt einer Situation gegenübersehen, die mit diesen Überzeugungen in Konflikt gerät, und gute Gründe dafür finden, verschiedene Elemente solcher Bindungen in Zweifel zu ziehen. Und Dewey behauptete, man könne hoffen, den Zweifel später durch Forschung zu beiseitigen und den Konflikt in diesem Sinne zu lösen. In einer Hinsicht scheint sich freilich die so verstandene Moralforschung von der Untersuchung zu unterscheiden, deren Ergebnis eine Änderung der Meinungen und Überzeugungen ist. Bei praktischen Überlegungen ist die Wahl oft kategorisch. Aber eine richtig durchgeführte Forschung braucht Zeit. Keine prästabilierte Harmonie kann garantieren, dass Handelnde, die nachdenken, die Gelegenheit haben werden, Konflikte vor dem Moment der Wahl zu lösen. Existenzialisten, Behavioristen und subjektivistische Bayesianer stimmen darin überein, dass die Bestimmtheit der Wahl erfordere, dass der Handelnde seine Präferenz durch seine Wahl schafft, ob er nun die Gelegenheit gehabt hat, alle für seine Überlegung relevanten Erwägungen durchzuspielen und zu überprüfen, oder nicht. Diese Ansicht unterstützt die Idee, dass Forschung, die sich bemüht, Konflikte zu lösen, durch existenzialistische Wahl ersetzt werden kann. Pragmatisten sollten dieser Idee widerstehen. Wahltheoretischer machismo ist ein armseliger Ersatz für Forschung. Wenn wir nach Abwägung aller Dinge keine andere Option als nur diejenige ausmachen können, die zum besten Ergebnis führt, mag es ein, dass wir eine Entscheidung zu treffen haben. Aber wir sollten nicht so tun, als diene das, was wir gewählt haben, zum Besten, wenn wir keine Basis dafür haben. Hätte Jeffords eine Entscheidung treffen müssen, ohne seine Loyalität zur Republikanischen Partei oder zu seinen Gesetzesvorhaben aufgegeben zu haben, hätte er erklären müssen, seine Wahl diene nicht dem Besten, weil es kein Bes-
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tes gebe. Eine Wahl treffen zu müssen, ohne alle Zweifel beseitigt zu haben, ist gleichbedeutend damit, eine Wahl zu treffen, ohne jeden Konflikt beseitigt zu haben. Und das ist gleichbedeutend damit, eine Entscheidung zu treffen, ohne sich nach Abwägung aller Dinge für das Beste zu entscheiden. Dewey ist tatsächlich Wertpluralist. Es gibt nicht nur einen einzigen Wertmaßstab, wie Utilitaristen oder verwandte Theoretiker meinen, der alle Unwissenheit bezüglich dessen, was getan werden sollte, auf die Unkenntnis wertfreier Tatsachen reduziert. Es gibt auch kein System von hierarchisch geordneten moralischen Prinzipien, so dass im Falle, dass ein oder zwei von ihnen in ihren Empfehlungen in Konflikt geraten, schon vorweg feststeht, welches Prinzip den Vorrang vor welchem hat. Dieser Wertpluralismus motiviert in großem Maße Deweys Ansicht von Moralforschung als Problemlösung und unterscheidet sich scharf von dem Pluralismus von Berlin und Williams. Wie würde eine Verwirklichung der Erweiterung von Deweys Überzeugung– Zweifel-Modell auf Wertänderungen aussehen? Pragmatisten behaupten, wir versuchten in wissenschaftlichem Kontext, die Überzeugung zu festigen und dadurch Zweifel zu beseitigen. Die üblicherweise vertretenen Überzeugungen werden als wahr beurteilt, sogar als gewiss wahr. Es besteht keine ernsthafte Möglichkeit, dass sie falsch sind. Es gibt freilich potenzielle Überzeugungen, die Vermutungen sind – potenzielle Antwortkandidaten auf Fragen, die Forscher ernst nehmen. Analytische Philosophen fragen, ob solche ‚Propositionen‘ nach pragmatistischer Ansicht Wahrheitswerte haben. Peirce und James antworteten explizit bejahend. Sie erkannten an, dass solche Propositionen wahr und falsch und nichts anderes sein könnten. Und ich glaube, dass Dewey eine ähnliche Position unterstützt hätte, hätte er sich die Mühe gemacht, darauf zu antworten. Unglücklicherweise ist diese Frage im gegenwärtigen Klima nicht so trivial. Damit eine potenzielle Überzeugung (eine Proposition) einen Wahrheitswert haben kann, muss es für einen Forscher widerspruchsfrei möglich sein, das Urteil hinsichtlich ihres Wahrheitswertes in der Schwebe zu lassen, sie als möglich oder unmöglich zu beurteilen, ihr eine Wahrscheinlichkeit zuzuteilen (sei sie numerisch bestimmt oder nicht), ihrem Wahrsein einen Wert zuzuordnen. Die NichtTrivialität dieses Punktes wird deutlich, wenn wir andere propositionale Einstellungen als die Wahrheit betrachten. Frank Ramsey (1990) hat bekanntlich und mit Recht bemerkt, dass Urteile, die nur probabilistische Grade an Überzeugung besitzen, keine Wahrheitswerte haben. L. J. Savage (1954) hat gezeigt, dass man Urteilen subjektiver Wahrscheinlichkeit nicht widerspruchsfrei Wahrscheinlichkeiten ‚höherer Stufe‘ zuordnen kann. Ähnliche qualitative Argumente können vorgebracht werden, um zu zeigen, dass man Urteilen, die eine ernsthafte Möglichkeit ausdrücken, oder Urteilen der Nützlichkeit keine Wahrscheinlichkeiten zuweisen kann.
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Ich kann auf die Details dieser Argumente hier nicht eingehen. Es ist wichtig zu betonen, dass die Schwierigkeit bei der Urteilsenthaltung hinsichtlich der Wahrheit von Werturteilen und der Zuweisung subjektiver Wahrscheinlichkeiten die Ansicht unterstützt, die eine Vielzahl von Expressivisten und Emotivisten in der Ethik vertreten, dass Werturteile keine Wahrheitswerte haben. In dieser Hinsicht gleichen Wünsche und Werte, nicht anders als doxastische Einstellungen, Graden von Überzeugung oder Urteilen, die eine ernsthafte Möglichkeit ausdrücken. Andererseits untergräbt die Perspektive, die hier entsteht, die weit verbreitete Ansicht (die von Williams und von Emotivisten und Expressivisten vertreten wird), es gebe einen grundlegenden Unterschied zwischen (mit Überzeugung verbundener) theoretischer Rationalität, die auf objektive Wahrheit bezogen ist, und praktischer Rationalität, für die das nicht gilt. Doxastische Einstellungen haben ebenso wie Wahrscheinlichkeitsurteile, und konative und bewertende Einstellungen ebenso wie Präferenzen, zum größten Teil keine Wahrheitswerte. Grade von Überzeugung und Wunsch sitzen im selben Boot. Die Hauptausnahme ist die volle Überzeugung. Ich behaupte nicht, dass die klassischen Pragmatisten diese Tatsache anerkennen. Aber ganz sicher befürworteten sie ein integriertes Verständnis praktischer und theoretischer Rationalität. Wissenschaft unterscheidet sich von dem, was Dewey „gesunder Menschenverstand“ nannte, durch ihre Ziele. Infolgedessen unterscheidet sie sich auch durch ihre Methoden von ihm. Aber insoweit Rationalität eine Rolle spielt, ist sie eine Mittel–Zweck-Rationalität. Das heißt, sie ist praktische Rationalität. Nun ist die Bedeutsamkeit des außergewöhnlichen Status der vollen Überzeugung folgende. Forscher können bei der Änderung voller Überzeugungen versuchen, Irrtum zu vermeiden. Wie James richtig darlegte, ist es keine gute Idee, Irrtumsvermeidung bis zum Ausschluss aller anderen Erwägungen zu betreiben; denn dann würde man niemals den Zweifel beseitigen. Man braucht irgendeinen Anreiz, um einen Irrtum zu riskieren. In einigen Kontexten besteht dieser Anreiz in der Suche nach Erklärungen. In anderen darin, Voraussagen zu treffen. In anderen in der Suche nach Heilmitteln für Krankheiten, usw. usf. Information, die im Kontext des besonderen Problematischen als relevant und wichtig angesehen wird, liefert den Anreiz. Folglich ist der gemeinsame Zug der primären Ziele bestimmter Anstrengungen, um die Überzeugung zu ändern, die Suche nach neuer irrtumsfreier Information. Peirce legte sehr viel Wert auf die Suche nach der wahren, vollständigen Geschichte der Welt am Ende aller Tage als das letzte Ziel der Forschung. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass diese Ansicht für Peirces eigenen Pragmatismus katastrophal ist und aufgegeben werden sollte, so wie es meiner Überzeugung nach Dewey getan hat.
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Aber Dewey scheint das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu haben. Es bleibt immer noch von größter Bedeutung, Irrtum zu vermeiden. Auch Pragmatisten können das Interesse, das Eindringen falscher Überzeugungen in die sich entwickelnde Lehre zu vermeiden, als Bestandteil eines primären Forschungsziels respektieren. Sowohl Peirce wie James haben einen solchen Respekt entweder unterstützt oder hätten es doch im Einklang mit dem, was sie geschrieben haben, tun können. Dewey ist ein etwas verzwickterer Fall. Dewey war daran interessiert, das Überzeugung–Zweifel-Modell der Forschung auf Fragen der Ethik, Politik, Kunst und Kultur zu erweitern. Sein Interesse bestand weder darin, „den Rest der Kultur auf die epistemologische Ebene der Naturwissenschaften emporzuheben“, noch darin, „die Naturwissenschaften auf eine epistemologische Ebene mit Kunst, Religion und Politik herabzustufen“ (Rorty 1991, 36). Richard Rorty hat versucht, diese Vision von Erhöhen oder Erniedrigen epistemologischer Ebenen den Pragmatisten und besonders Dewey anzuhängen. Rorty pflegte vom Herabstufen der Naturwissenschaften zu reden und schrieb eine solche Ansicht Dewey zu. Jetzt gibt er etwas widerwillig zu, dass dies historisch vielleicht nicht ganz genau ist. Er gibt allerdings nicht zu, dass der nüchterne Streitpunkt von Erhöhen oder Erniedrigen von Ebenen für Dewey gar nicht die Frage war. Es geht nicht um eine akademische Hackordnung. Wahr ist, dass die Pragmatisten glaubten, sowohl die wissenschaftliche Forschung wie andere Formen intellektueller Überlegung seien, wenn gut geführt, Anstrengungen, um optimale Lösungen für die untersuchten Probleme zu finden. Dewey sah, dass die Wertbindungen zu legitimen Zielen einer Forschung werden können, die Zweifel beseitigen will. Das bedeutet nicht, dass die Ziele der Wissenschaft, Moralität, Kunst, Politik usf. alle dieselben sind. A fortiori können die Methoden nicht dieselben sein. Aber die Art von Intelligenz oder Rationalität, welche die eine oder die andere Art von Tätigkeit lenken sollte, weist eine ähnliche Struktur auf, die zu betonen wichtig ist. Einer solchen Sicht steht freilich im Wege, dass Wertbindungen und die Werturteile, die sie ausdrücken, keine Wahrheitswerte zu haben scheinen. Dewey hat dies tatsächlich manchmal bestritten und Rorty hat darauf bestanden, man könne Werturteilen die Zuschreibung von Wahrheitswerten zugestehen, die Tarskiähnlichen Anforderungen genügen. Aber kann man das Urteil hinsichtlich der Wahrheit oder Falschheit von Werturteilen in der Schwebe lassen? Kann man sie kohärent als in wechselndem Grade wahrscheinlich beurteilen? Ich habe eine Theorie darüber vorgelegt, wie ein Handelnder das Urteil zwischen konkurrierenden Arten der Bewertung von Optionen in der Schwebe lassen kann. Aber dieses In-der-Schwebe-Lassen ist kein Aufschub im Hinblick auf den Wahrheitswert. Und die rivalisierenden Ar-
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ten der Bewertung können nicht als mehr oder weniger wahrscheinlich beurteilt werden. Will man versuchen, Irrtum zu vermeiden, so erfordert das, das Risiko oder die Wahrscheinlichkeit von Irrtum ernst zu nehmen. Forscher riskieren keinen Irrtum, wenn sie ihre Wahrscheinlichkeitsurteile je nach verfügbarer Information ändern. Sie riskieren auch keinen Irrtum, wenn sie ihre Werte ändern. Aber sie riskieren nach ihrem eigenen besten Wissen und Gewissen Irrtum, wenn sie ihren sich entwickelnden Lehren neue Überzeugungen hinzufügen. Eine Erklärung, wie Änderungen von Wertbindungen und Wahrscheinlichkeitsurteilen gerechtfertigt werden können, die die Irrtumsvermeidung als das Ziel von Bemühungen ansieht, solche Änderungen vorzunehmen, wird auf diese Weise inkohärent. Dewey hat bekanntlich darauf gedrungen, dass „die fundamentale Einheit der Struktur der Forschung im gesunden Menschenverstand und in der Wissenschaft anerkannt wird, da ihr Unterschied ein Unterschied der Probleme ist, mit denen sie sich direkt befassen, nicht ihrer jeweiligen Logiken“ (Dewey, Logik, S. 102). Die ‚fundamentale Einheit‘, die Dewey hier anmahnt, ist nicht die Einheit eines standardisierten Problemlösungsprogramms. Die Methoden, die geeignet sind, bestimmte Arten von Problemen zu lösen, können unter Umständen für die Lösung anderer Probleme gänzlich ungeeignet sein. Es gibt weder für Dewey noch für Peirce eine ‚wissenschaftliche Methode‘, die sowohl den Wissenschaften wie den Aktivitäten von Gebrauch und Genuss, die Dewey „gesunder Menschenverstand“ nannte, gemeinsam ist. Die wissenschaftliche Methode, für die Dewey ständig warb, war das, was er die Logik nannte, die der Struktur aller wohlgeführten Untersuchungen gemeinsam war. Alle problemlösende Forschung betrifft die Anpassung von Mitteln an Ziele. Die gemeinsame Logik oder, wenn man will, Methode betrifft die Minimalanforderungen an eine praktische Rationalität in solcher zielgerichteten Aktivität. Folglich beinhaltet alle problemlösende Aktivität die Klärung der Ziele, die bei der Lösung eines Problem erfüllt werden sollen, die Identifizierung potenzieller Lösungen für ein Problem sowie die Erforschung von Methoden, um die relativen Verdienste potenzieller Lösungen einzuschätzen und zu einem Urteil darüber zu kommen, welche Lösung akzeptierbar ist. Das alles gehört zu Eigenschaften, die der wissenschaftlichen Forschung, der Schaffung von Kunstwerken und dem moralischen Kampf gemeinsam sind. Aber Dewey hat niemals bestritten, dass diese Aktivitäten ebenso Unterschiede wie Ähnlichkeiten aufweisen. Intellektuelle Anarchisten wie Feyerabend und Pseudopragmatisten wie Rorty sprechen sich gern gegen Methoden aus. Rorty geißelt Dewey und Sidney Hook wegen eines gewissen „Szientismus“, der Loblieder auf die wissenschaftliche Methode singe. Aber natürlich wussten Dewey wie auch Hook sehr wohl, dass ver-
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schiedene Typen von Problemen nach verschiedenen Methoden und Verfahren verlangen. Die Methoden der Physik und der Biologie unterscheiden sich deutlich genug voneinander, und die Methoden beider wiederum von den Techniken, die in Ökonomie, Soziologie, Geschichte und Literatur, Malerei, Politik und Unternehmertätigkeiten angewendet werden. Dewey hielt es aber für geboten, die Gemeinsamkeiten in den Strukturen solcher Überlegungen und Forschungen zu betonen. Die Behauptung, das Interesse an Irrtumsvermeidung sei eine gemeinsame Eigenschaft der Ziele von Forschungen, die bestrebt sind, volle Überzeugungen – das heißt Urteile der Wahrheit – zu modifizieren, ist durchaus vereinbar mit der Leugnung, Irrtumsvermeidung sei eine Eigenschaft anderer Arten problemlösender Aktivität. Dewey, der Wertpluralist, hätte das Vermeiden von Irrtum in bestimmten Arten von Aktivitäten ohne Zögern als einen kognitiven Wertbestandteil anerkennen können, der nicht auf ökonomische, politische, moralische, ästhetische oder andere Werte reduzierbar ist, und zwar ohne die antireduktionistische und pluralistische Haltung zu kompromittieren, für die er bekanntlich eintrat. Aber anders als Peirce und James tat er das nicht. Wissenschaftliche Forschung war für Dewey ein Mittel für die Interessen von Gebrauch und Genuss. Aber wissenschaftliche Forschung hat keine von den Zielen des gesunden Menschenverstandes unabhängigen autonomen Ziele. Dewey sah das Interesse, das Eindringen falscher Überzeugungen in die sich entwickelnde Lehre zu vermeiden, nicht als ernsthaftes Desiderat der Forschung an. Rorty bewundert diesen Aspekt bei Dewey. Aber diese Haltung ist reduktionistisch und anti-pluralistisch und steht im Widerspruch zu Haltungen, die sowohl Dewey wie Rorty einzuimpfen suchen. Warum sollte man nicht zugeben, dass in einigen Fällen wichtiger problemlösender Aktivitäten die Vermeidung von Irrtum ein Desiderat ist, das nicht auf die anderen Interessen von Gebrauch und Genuss reduzierbar ist? Aber wenn einige Wertänderungen nicht das Eindringen neuer Überzeugungen beinhalten, kann in solchen Änderungen nicht das Problem des Irrtumrisikos stecken. Wenn bei der Änderung von Werturteilen, die keine Änderungen von Urteilen voller Überzeugung zur Folge haben, nicht die Irrtumsvermeidung von Belang ist, entsteht ein bestimmtes Problem. Forschung, die Zweifel über Werte beseitigen will, reduziert die Anzahl der Optionen, die bei Entscheidungen als zulässig gelten. Je mehr Möglichkeiten wir beseitigen, um so mehr Zweifel wird eliminiert. Was soll uns davon abhalten, den Weg bis zu Ende zu gehen und alle Möglichkeiten, Optionen als besser oder schlechter zu bewerten, zu beseitigen? Wir können darauf hinweisen, dass ein mögliches Desiderat bei solchen Untersuchungen darin besteht, Inkohärenz zu vermeiden. Das legt den Gedanken nahe, dass wir die Option, alle Möglichkeiten der Bewertung als zulässig zu ent-
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fernen, ausschließen sollten. Aber dieses Desiderat scheint die Empfehlung zur Folge zu haben, nur noch eine Möglichkeit, Optionen als zulässig zu bewerten, zurückzubehalten. Das ist zwar besser als eine Aufforderung zur Inkohärenz; aber nicht sehr viel. Es ermutigt Voreingenommenheit selbst in Situationen, in denen es keine Basis dafür gibt, eine Methode auszuschließen, die alle Optionen bis auf eine ausschließt. Die Antwort, dass wir eine bestimmte Rangordnung privilegieren sollten, die geklärt oder wenigstens relativ geklärt ist, reicht nicht aus. Eine solche Alternative steht uns hier nicht offen, weil wir in einer Situation sind, wo der Handelnde oder die Gemeinschaft im Zweifel darüber ist, welche der vielen Rangordnungen privilegiert werden soll. Wir können auch nicht das Irrtumsrisiko berücksichtigen, denn, wie gerade dargelegt, die Methoden der Evaluation sind weder wahr noch falsch. Der Begriff eines Irrtumsrisikos hat keinen guten Sinn. Als Jeffords die Republikanische Partei verließ, gab er ein lebenslanges Netz von persönlichen Verbindungen auf, die ihm lieb waren. Aber falls er seine Umweltanliegen verrät, verliert er das Vertrauen seiner Wähler. Vielleicht sollte die Lösung dieses Konflikts auf einer Entscheidung beruhen, „Solidarität“ mit dem Standpunkt einer bestimmten Gemeinschaft statt mit dem einer anderen zu wählen. Nach Rorty gründen Pragmatisten die „Objektivität“ ihrer Ansichten auf die Solidarität mit einer Gemeinschaft. Für Pragmatisten ist der Wunsch nach Objektivität nicht der Wunsch, den Schranken der jeweiligen Gemeinschaften zu entkommen, sondern einfach der Wunsch nach so viel intersubjektiver Übereinstimmung wie möglich, der Wunsch, den Bezug von „wir“ so weit wie möglich auszudehnen. (Rorty 1991, 23)
Das ist die Ansicht, die Rorty selbst manchmal „postmodern“ nennt (1991, 198 f.). Er scheint Dewey für einen Postmodernisten vor der Zeit zu halten. Aber dies ist gewiss ein Fehler. Ob in wissenschaftlicher Forschung, moralischer Reflexion, der Schaffung von Kunstwerken oder wo immer sonst es echten Zweifel an dem gibt, was man glauben oder tun soll, die Entscheidung, vor der der Forscher steht, betrifft im allgemeinen nicht die Frage, mit welchen verschiedenen Gemeinschaften Solidarität geübt werden soll. Auch sucht der pragmatische Forscher bei solchen Untersuchungen nicht, den Konsens so weit wie möglich auszudehnen. Wahr ist, wenn X damit befasst ist, nicht nur X’s Überzeugung festzulegen, sondern X’s Schlussfolgerungen gegenüber Mitgliedern der Gemeinschaft zu rechtfertigen, dann wird der anfängliche Bestand an geklärten Überzeugungen durch relevante gemeinsame Übereinstimmungen zwischen der Gemeinschaft Y und X konstituiert sein. Das heißt, X wird vorgeben müssen, viele Dinge nicht
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zu glauben, die er, X, für selbstverständlich hält. Aber dann sollte die Anstrengung, Zweifel zu beseitigen, mit dem Ziel unternommen werden, Information zu erhalten, die allgemein als wertvoll anerkannt wird, während gleichzeitig das Irrtumsrisiko, vom Standpunkt des gemeinsamen anfänglichen Gesichtspunkts aus bewertet, minimiert wird. X hofft, dass durch diese Vorspiegelung eines derart offenen Geistes Y und X gemeinsam zu der Schlussfolgerung gelangen, die X schon unterstützt. Es bedeutet nicht, dass X um der Solidarität mit der Gemeinschaft willen tatsächlich von seiner anfänglichen Ansicht konvertiert oder konvertieren sollte, falls die gemeinsame Untersuchung zu einer Schlussfolgerung kommt, die anders ausfällt, als X erwartet. Wenn es dahin kommt, Wertkonflikte zu lösen, wie in Jeffords Dilemma, dann trivialisiert der Vorschlag, es sei lediglich eine Frage der Gemeinschaft, mit der man sich in der Hoffnung auf Maximierung der Übereinstimmung identifiziert, die Streitfrage. Es mag tatsächlich ein echter Verlust für Jeffords gewesen sein, die Republikanische Partei zu verlassen, den man auch nicht ignorieren soll. Aber ganz gewiss würde dieser Verlust an Wert verlieren, wenn er lediglich eingegangen worden wäre, um sich mit einer anderen Gemeinschaft zu verbinden. Jeffords hatte irgendwie zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass die Werte, die von den Umweltschützern vertreten wurden, Vorrang vor der Loyalität zu der Republikanischen Partei hatten. Ich sage „Schlussfolgerung“; denn um vor sich selbst oder vor anderen zu rechtfertigen, dass er die Partei verließ, sollten die Annahmen, von denen er ausging, keine der umstrittenen Streitfragen für geklärt halten. Das heißt, selbst wenn wir uns Rortys irreführende Sprechweise zunutze machten und Jeffords Entscheidung als eine Wahl zwischen Solidarität mit einer der beiden Gemeinschaften ansehen, dann ist keine dieser Gemeinschaften die Gemeinschaft, mit der der Forscher solidarisch ist, wenn er die Entscheidung trifft. Und keine dieser Gemeinschaften ist die Gemeinschaft, deren Gesichtspunkt eine Garantie für die Entscheidung darstellt, die Jeffords traf. Sobald wir dies einmal gesehen haben, verschwindet die Frage der Solidarität mit einer Gemeinschaft als eine Erwägung, die man bei der Lösung von Zweifeln an Werten beschwören könnte, von der Bildfläche. Besteht die Möglichkeit zu einer Lösung von Wertkonflikten, ohne eine petitio principii zu begehen? Dewey war davon überzeugt. Sonst hätte Moralforschung nur wenig Sinn. Aber wie soll eine solche Beweisführung beschrieben werden? Ich wünsche, ich hätte eine knappe und klare Antwort. Aber ich habe sie nicht. Und ich bin nicht sicher, dass ich Deweys Antwort gut genug verstehe, um sie genau zu erklären. Wir könnten uns an die Unterscheidung halten zwischen denjenigen Überzeugungen und Werturteilen, die der Forscher für selbstverständlich nimmt, und den Werten, die in der Schwebe gehalten werden, um zu einem Urteil zu kommen.
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Jeffords hatte ein langes Leben als loyales Mitglied der Republikanischen Partei verbracht, obgleich der herrschende Tenor der Partei mit seinem Denken nicht im Einklang stand. Aber vielleicht war er bereit, so lange zu bleiben, wie er die Hoffnung hegte, die Politik, zu der er in Opposition stand, verbessern zu können. Als er diese Hoffnung verlor, hätte er immer noch schließen können, Loyalität zur Partei genieße Vorrang vor Engagement für Umwelt, Gesundheitsfürsorge und Erziehung. Aber die Mitgliedschaft in der Art von Partei, in der er keine effektive Stimme haben konnte, hätte vielleicht nur schlecht zu den Idealen vom Dienst an der Öffentlichkeit gepasst, die er immer noch für selbstverständlich hielt. Zu diesen Idealen passte besser, ein Unabhängiger zu werden. Vielleicht lieferte sein klarer Hintergrund auf diese Weise eine Rechtfertigung dafür, die Partei zu verlassen. Wie mein Kollege Akeel Bilgrami angedeutet hat, hängen einige Wertbindungen, die in Zweifel gezogen werden, besser mit den Wertbindungen zusammen, die schon für selbstverständlich gehalten werden, als andere, in einem Sinn von „zusammenhängen“, der irgendwie verständlich gemacht werden kann. Alternativ könnte die Befassung mit der Art von Gedankenexperimenten mit potenziellen Lösungen von Wertkonflikten, die Dewey manchmal erwog, eine Konfliktlösung bieten. Ich bin nicht sicher, wie man eine dieser Gedankenlinien auf wohlstrukturierte Weise entwickeln könnte. Aber ich denke doch, es lohnt, Fragen wie diese zu verfolgen, ihnen Gestalt zu verleihen und provisorische Antworten zu geben. Vielleicht bin ich Rortys Begriff von Solidarität mit einer Gemeinschaft gegenüber zu wenig wohlwollend gewesen. Sowohl John Dewey wie Charles Peirce könnten die Solidarität mit einer Gemeinschaft von Forschern, die sich mit einer intelligent vorgenommenen problemlösenden Forschung befassen, als Ideal unterstützen. Und Rorty scheint dasselbe zu tun. Aber der Schein trügt. Für Dewey und Peirce läuft eine solche Solidarität auf eine gemeinsame Verpflichtung hinaus, auf Schwierigkeiten mit Hilfe intelligent vorgenommener Forschung zu reagieren. Nach Rorty erlangt solche intelligent vorgenommene problemlösende Forschung „eine angemessene Mischung aus ungezwungener Übereinstimmung und toleranter Nicht-Übereinstimmung“ (Rorty 1991, 41). Für einen Pragmatisten dagegen sollte intelligent betriebene problemlösende Forschung oder die Anpassung von Mitteln an Ziele nicht auf der Basis des Ausmaßes und der Qualität von Übereinstimmung und NichtÜbereinstimmung charakterisiert werden. Die fortwährende Verschwendung unserer Energieressourcen könnte Ausdruck eines ungezwungenen Konsenses sein, begleitet von der Toleranz derjenigen, die eine andere Meinung haben. Aber die Abweichler von diesem Konsens können vielleicht überzeugt sein, dass dies keine intelligente Anpassung
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von Mitteln an Ziele ist. Haben sie sich dadurch selbst aus der Gemeinschaft der intelligenten Forscher ausgeschlossen? Im Allgemeinen stimmt die Intelligenz, mit der problemlösende Forschung betrieben wird, nur sehr unvollkommen mit der Art und Weise zusammen, wie Übereinstimmung erreicht und NichtÜbereinstimmung toleriert wird. Rorty scheint zu glauben, das Tolerieren abweichender Meinungen solle gefördert werden, weil wir die Fehlbarkeit unserer Ansichten erkennen und uns mit dem Abweichler solidarisch fühlen und dementsprechend Respekt vor ihm haben. Eine solche Ansicht spiegelt die allzu vertraute Tendenz wider, Fehlbarkeit mit Korrigierbarkeit zusammenfallen zu lassen. Wenn jeder von uns einen Unterschied zwischen dem anerkennt, was gewiss wahr und geklärt, und dem, was zweifelhaft und möglicherweise falsch ist, während wir anerkennen, dass jeder von uns diese Unterscheidung anders trifft, sollten wir zwischen zwei Arten von Meinungsverschiedenheit unterscheiden. Im einen Fall sind wir sicher, dass der Andersdenkende im Irrtum ist, und erkennen keinen Grund, der gut genug ist, unsere Meinung zu ändern. Im anderen Fall kann der Charakter der vorgetragenen Ansichten oder ein gewisses Verdienst des Andersmeinenden eine Rechtfertigung bieten, von einer festen Ablehnung, die abweichende Meinung ernst zu nehmen, zu einer Position der Urteilsenthaltung überzuwechseln. Im ersten Fall ist die Einstellung gegenüber der Ansicht des Abweichlers eine der Verachtung. Wir finden uns mit dem Ausdruck seiner Ansichten aus Höflichkeit oder Freundschaft ab oder weil wir es ablehnen, sie grausam zu unterdrücken. Aber wir schließen die abweichenden Ansichten als lebendige Alternativen aus. Sie erhalten nicht ernsthaft Gehör. Im zweiten Fall empfinden wir genügend Respekt vor den abweichenden Ansichten, um ihnen ein offenes Ohr zu schenken. Rortys Ideen über Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung sind unempfindlich gegen den Unterschied zwischen verächtlicher Toleranz und Respekt. Diese Unempfindlichkeit ist ein Ausdruck der Unempfindlichkeit gegenüber der Unterscheidung von Fehlbarkeit und Korrigierbarkeit auf der Ebene der sozialen Interaktion.7 Pragmatisten, die darauf bestehen, den Fallibilismus zu verwerfen, während sie an der Theorie der Korrigierbarkeit festhalten, behaupten, dass wir vielleicht Verachtung für die Ansichten eines Andersdenkenden empfinden, weil wir keinen Zweifel haben, dass seine Ansichten falsch und seine Werte jämmerlich sind. Aber wenn uns die Ansichten des Andersdenkenden irgendwie einen guten Grund geben, unsere Meinungen zu ändern, verdienen sie unseren Respekt. Eine intelligent geführte Untersuchung, wie der Pragmatismus von Peirce und 7 Mehr
zu diesem Thema siehe Levi 1997, Kap. 12.
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Dewey sie versteht, ist ein ernsthaftes Geschäft. Es ist nicht immer offensichtlich, wann man seinen Geist eher öffnen als schließen sollte. Die Pragmatisten sahen, dass beide Arten von Änderung nach Rechtfertigung durch intelligent betriebene Forschung verlangen. Rortys Postmodernismus dagegen beraubt die wertvollsten Einsichten von Peirce, James und Dewey in einer Weise ihrer Substanz, die uns die Möglichkeit nimmt, Übereinstimmung, NichtÜbereinstimmung und Forschung überhaupt ernst zu nehmen.
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Hans Rott
Unstimmigkeiten: Pragmatistische Gedanken über Bedeutungsund Meinungsverschiedenheiten 1. Einleitung In diesem Aufsatz geht es um Situationen des folgenden Typs. Sagt Franz zu Fritz: „Karl ist ein guter Freund.“ – „Nein! Karl ist überhaupt kein guter Freund“, entgegnet Fritz empört. Woraufhin die beiden sich gehörig in die Haare geraten. Wenn zwei Personen gegensätzliche Behauptungen aufstellen, dann fangen sie leicht zu streiten an. Manchmal endet ein solcher Streit glimpflich, wenn die Beteiligten feststellen, daß sich die Frage nur um eine façon de parler dreht, manchmal aber bringt er eine fundamentale Opposition der Ansichten zum Ausdruck. Mit einem ähnlichen Problem haben wir es zu tun, wenn eine einzelne Person heute das Gegenteil dessen sagt, was sie vor einiger Zeit behauptet hatte. Entweder hat sie ihre Meinung geändert oder es gab nur eine Verschiebung im Sprachgebrauch, im Ideolekt dieser Person. Intuitiv würde man auch hier sagen, die Person befinde sich im ersten Fall mit ihrem ‚früheren Selbst‘ im Widerstreit, während es sich im zweiten Fall nur um eine Änderung der Sprechweise handelt. Das intrapersonale Problem, bezogen auf zwei verschiedene Zeitpunkte, ist aus dieser Perspektive nur eine Variante des zuvor geschilderten interpersonalen Problems. Wer heute wie Fritz denkt, war gestern vielleicht noch Franzens Ansicht. Wie auch immer eine sprachphilosophische Theorie der Bedeutung aussehen mag, es scheint klar zu sein, daß die eben geschilderten Intuitionen respektiert werden müssen. Diese Ansicht vertreten auch zwei der bedeutendsten Sprachphilosophen der letzten 50 Jahre. So fordert Michael Dummett 1975 in seinem richtungweisenden Artikel „Was ist eine Bedeutungstheorie?“: [ . . . ] was wir von einer Bedeutungstheorie zu erwarten berechtigt sind: Eine solche Theorie sollte imstande sein, zu unterscheiden zwischen Unstimmigkeiten, die sich von einem Unterschied der Interpretation herschreiben [disagreements stemming from difference of interpretation], und inhaltlichen Unstimmigkeiten (also solchen hinsichtlich der Fakten) [disagree-
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ments of substance (disagreements about the facts)]; sie sollte erklären können, wie Meinungsverschiedenheiten in bezug auf den Wahrheitswert von Sätzen [disagreement over the truth-value of sentences] selbst dann möglich sind, wenn hinsichtlich ihrer Bedeutung Einigkeit besteht [agreement over their meaning]. [ . . . ] eine Bedeutungstheorie, die die Lebensfähigkeit der Unterscheidung grundsätzlich bestreitet, geht das Risiko ein, solipsistisch zu werden. (Dummett 1982, 124)
Hilary Putnam (1986, 1987) formuliert eine ähnliche Bedingung, die er die Bedingung der Invarianz von Bedeutungen bei normalen Prozessen der Meinungsbildung („Constraint of invariance of meanings under normal processes of belief fixation“) nennt: [ . . . ] ein Begriff der ‚Bedeutung‘, nach dem normale Prozesse der Meinungsbildung (einschließlich des induktiven Schließens) die ‚Bedeutungen‘ der Fragen verändern, die wir zu beantworten suchen, ist nicht nur eine schlechte Explikation des vortheoretischen Begriffs, sondern eine, die den ‚explizierten‘ Begriff jeglicher erkenntnistheoretischer Signifikanz beraubt. (Putnam 1986, 411; Übersetzung H. R.)
Oder kürzer: Inhalte müssen bei normalen Prozessen der Meinungsbildung invariant bleiben. (Putnam 1987, 265, im Original vollständig kursiviert; Übersetzung H. R.)
Hinzuzufügen bleibt, daß der Wandel von Theorien oder Bedeutungen zwar nur ein Spezialfall des allgemeineren Problems der Unstimmigkeit1 zwischen Theorien bzw. Bedeutungen ist – der Spezialfall, in dem das Subjekt dasselbe bleibt. Er ist jedoch zweifellos ein besonders wichtiger Fall. Und ein Fall, der für eine pragmatistische Analyse wie geschaffen scheint. Denn der Pragmatismus ist eine Philosophie, die sich der Dynamik verschrieben hat, wie Alfred Jules Ayer (1965) in seinem Buch Origins of Pragmatism sehr treffend formuliert: Eines der hauptsächlichen Charakteristika des Pragmatismus, das nicht nur bei Peirce, sondern auch bei James und Dewey und ihren Anhängern deutlich wird, ist, daß er eine dynamische Philosophie ist. Im Gegensatz zu Philosophen wie Platon und Descartes, die sich den Standpunkt des reinen Intellekts bei der Betrachtung ewiger Wahrheiten zu eigen machen, nehmen die Pragmatisten die Position eines Forschers ein, der sich an die sich wandelnde Welt anpaßt und diese zu verändern hilft. (Ayer 1968, 5 f.; Übersetzung H. R.) 1 Das deutsche Wort „Unstimmigkeit“ deckt leider nicht alle Facetten des für meine Zwecke eigentlich besser geeigneten englischen Wortes „disagreement“ ab, das gut, aber schwerfällig auch mit „Nicht-Übereinstimmung“ übersetzt werden könnte. Wie unten hoffentlich klar werden wird, ist es unwesentlich, ob und wie aufgrund einer Nicht-Übereinstimmung ein Streit entsteht.
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Aufgrund ihrer dynamischen Orientierung läßt die pragmatistische Philosophie erwarten, daß sich aus ihrem Blickwinkel nicht nur die Entstehung, sondern auch die Änderung von Überzeugungen und Bedeutungen als wesentlich herausstellen wird. Auf den ersten Blick scheinen mit dem bisher Gesagten Selbstverständlichkeiten ausgedrückt, die kaum einer weiteren Diskussion würdig sind. Wie so oft täuscht der erste Blick jedoch, wie man sich folgendermaßen klarmachen kann. Wenn widersprüchliche Aussagen nicht auf substantiellen Meinungsverschiedenheiten, sondern auf Bedeutungsdiskrepanzen gründen, dann müssen diese Aussagen Wörter enthalten, bezüglich deren Kernbedeutung Differenzen bestehen. Franz und Fritz sind sich offenbar nicht einig über das, was einen guten Freund ausmacht. Es gibt Merkmale der Freundschaft, bezüglich derer sich die beiden uneins sind. Oder – noch eine Spur abstrakter ausgedrückt – Franz und Fritz würden verschiedene bedeutungskonstitutive Sätze für Freundschaft anerkennen. Bedeutungskonstitutive Sätze werden in der Philosophie oft analytische Sätze genannt. Nun sind allerdings analytische Sätze seit mindestens einem halben Jahrhundert ins Kreuzfeuer schärfster philosophischer Kritik geraten. Wenn es – wie seit Quines „Zwei Dogmen des Empirismus“ (1951) der notorische Verdacht lautet – gar keinen sinnvollen Begriff von analytischen Sätzen gäbe, dann würde auch die Unterscheidung von Meinungs- und Bedeutungsdifferenz hinfällig. Damit würden aber die so selbstverständlich anmutenden Forderungen von Dummett und Putnam in Frage gestellt. Tatsächlich stellt sich die Sachlage aus meiner Sicht sogar noch komplizierter dar. In einer jüngeren Veröffentlichung (Rott 2004) habe ich die These vertreten, daß der Begriff des analytischen Satzes (genauer: des analytisch wahren Satzes) gegen die prinzipiell gut begründete Kritik Quines in Schutz genommen und gerettet werden kann.2 Meine in diesem Zusammenhang angebotene Explikation analytischer Sätze, die sich an Gedanken von Kant, Frege und Quine selbst anschließt, ist ihrerseits in der intuitiven Unterscheidung zwischen Meinungsund Bedeutungsverschiedenheit fundiert. Hierbei werden die Meinungen eines Subjekts als sprachlich ausformuliert und in einer umfassenden Theorie zusammengefaßt gedacht, weshalb ich im ersten Falle auch von einer Verschiedenheit der Theorien sprechen will. Im vorliegenden Aufsatz will ich meinen eigenen Vorschlag einer kritischen Prüfung nach pragmatistischen Kriterien unterziehen. Dazu sollen zunächst in aller Kürze die zentralen Präsuppositionen und Behauptungen dieses Ansatzes wiedergegeben werden. Danach diskutiere ich insgesamt sechs Methoden, die das Versprechen bergen, den Unterschied zwischen Bedeutungsänderung und Meinungsänderung anhand klarer Kriterien festzumachen. Jeder dieser Vorschlä2 Ein
vergleichbares Unternehmen mit vielen Unterschieden im Detail stellt Pagin 2001 dar.
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ge wird einzeln skizziert und kritisiert. Am Ende wird sich eine insgesamt skeptische Konklusion ergeben.
2. Analytische Urteile und die Änderung von Theorien 2.1. Vorentscheidungen Als erstes sollen einige generelle Präsuppositionen des vorzustellenden Ansatzes dargelegt werden. Für eine detaillierte Argumentation sei auf Rott 2004 verwiesen. Wir werden uns mit der Bedeutung von Wörtern auseinandersetzen, die in dem Sinne als theoretische Begriffe gelten können, daß sie in einem noch näher zu spezifizierenden Sinn ‚von der Theorie herkommen‘.3 In erster Näherung kann man dies dahingehend präzisieren, daß theoretische Begriffe solche sind, deren Bedeutung, Anwendung oder Messung von der Theorie abhängt, in denen sie vorkommen. Ex negativo heißt dies, daß die Bedeutung theoretischer Begriffe nicht bestimmt ist durch (i) angeborene Ideen, (ii) Akte der Beobachtung, (iii) die Lebenswelt des Sprechers oder (iv) durch andere, relativ zur gerade interessierenden Theorie niedriger stehende oder irgendwie vorgängige Theorien. Die Bedeutung von theoretischen Begriffen soll jedenfalls zu einem großen Grade durch die ‚theoretische Rolle‘ fixiert werden, die sie in der relevanten Theorie spielen. Die theoretische Rolle eines Begriffs kann nun wiederum durch die Rolle gewisser Sätze bestimmt werden, in denen dieser Begriff vorkommt. Diese Sätze mit bedeutungskonstitutiver Funktion wollen wir analytische Sätze nennen. Wichtig ist, was hier unter einer Theorie zu verstehen ist. Mit „der interessierenden Theorie“ ist eine Sammlung von Sätzen gemeint, denen das Subjekt (ggf. nach gründlicher Reflexion) zustimmen würde.4 Diese Sammlung repräsentiert das, was das Subjekt glaubt, seine Überzeugungen und Meinungen. Je nach interessierendem Kontext kann man sie einschränken auf das vergleichsweise Wenige, was ein Subjekt über einen eng umrissenen Gegenstandsbereich glaubt, oder man kann die Theorie ausweiten auf die Gesamtheit aller Sätze, die der Sprecher für wahr hält. Theorien in unserem Sinne sind jedenfalls in erster Linie sprachliche Produkte, die in konkreten Texten mündlich oder schriftlich artikuliert und die von Theoriebenutzern interpretiert werden. Theorien und ihr Gebrauch sind also die primären Gegenstände unserer Untersuchung. Und wichtig ist weiter: Spra3 Vgl.
Putnam 1962, 219, und Stegmüller 1973, 30–34. genauer: denen es zustimmen sollte, gegeben die anderen Sätze, zu denen es sich ausdrücklich bekennt. 4 Oder
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chen sind demgegenüber methodologisch sekundär, sie müssen den vorfindbaren Theorien erst zugeordnet werden. Die Zuordnung einer Sprache zu einem bestimmten Text oder Äußerungsakt ist keineswegs trivial und hängt unter anderem vom Grad der Feinheit ab, an dem man interessiert ist.5 Neben den sogenannten natürlichen Sprachen, die meistens mit den Hochsprachen von real existierenden Staatsgebilden identifiziert werden, gibt es Soziolekte und regionale Dialekte, technische und wissenschaftliche Fachsprachen und – nicht zu vernachlässigen! – ideolektale Abwandlungen. Deshalb darf beileibe nicht alles, was in derselben Sprache verfaßt zu sein scheint, als in derselben Sprache verfaßt interpretiert werden. 2.2. Lehren aus der Geschichte des Analytizitätsbegriffs In der philosophischen Tradition ist der Begriff des analytischen Satzes außergewöhnlich eng mit dem Werk Immanuel Kants verbunden (der von analytischen Urteilen sprach), doch endet die Begriffsgeschichte natürlich nicht mit Kant. In der heutigen Diskussion sind vielerlei Analytizitätsbegriffe im Umlauf. Ich möchte mich hier aber auf den Begriff beschränken, den ich in Rott 2004 aus der Diskussion einiger wichtiger, wenn auch nicht im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit stehender Ideen von Kant, Frege und Quine herausgearbeitet habe. Während es für Kant die Differenz zwischen der erkenntnistheoretischen Dichotomie a priori–a posteriori und der sprachlogischen Dichotomie analytisch–synthetisch absolut zentral war, ist diese Differenz in den Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts bekanntlich nicht universell beibehalten worden. Und wie bereits erwähnt, gibt es spätestens seit Quine große prinzipielle Zweifel an der Haltbarkeit der Dichotomie analytisch–synthetisch. Als das aussichtsreichste Kriterium für die Analytizität eines Satzes hat sich das der Revidierbarkeit herausgestellt. Natürlich kann eine Person aufgrund von neuen Erfahrungen oder Informationen ihre Meinungen ändern, und dies heißt (im obengenannten Sinne): ihre Theorie ändern. Änderungen, die man intuitiv als klein oder ‚lokal‘ empfindet, sind alltäglich und harmlos. Die Änderung einer Theorie kann aber, so die Grundidee meiner Explikation, auch zur Änderung von Bedeutungen führen, und zwar genau dann, wenn die Änderung der Theorie ‚groß‘ oder ‚einschneidend‘ ist. Man kann also analytische Sätze durchaus 5 Hier bin ich anderer Ansicht als David Lewis, der in „Languages and Language“ (1975, 173) die These vertritt, daß einzelne Sprechakte in den meisten Fällen die Sprache determinieren, die im jeweiligen Performanzakt zur Verwendung kam. Mir scheint Lewis’ Bemerkung an dieser Stelle nicht gut zur beinahe gleichzeitig von ihm ausgearbeiteten Theorie der radikalen Interpretation (1974) zu passen, die eine sehr feine Individuation von Sprachen vorsieht und die Identifikation der von einem Sprecher (bei Lewis: von Karl) verwendeten Sprache zu den Aufgaben einer Theorie der Person (der Theorie über die Person Karl) zählt.
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aufgeben. Analytische Sätze können jedoch nicht aufgegeben oder verneint werden, ohne die Zugehörigkeit zur jeweiligen Sprachgemeinschaft aufzukündigen. In einem gewissen Sinn stellt dies eine systematische Ausarbeitung derjenigen Position dar, die Davidson in seinem berühmten Artikel „Was ist eigentlich ein Begriffsschema?“ (1986, 261) angreift: „Manchmal sind Revisionen der Liste der in einem Fach für wahr gehaltenen Sätze so gravierend, daß wir womöglich das Gefühl haben, die betroffenen Termini hätten ihre Bedeutung geändert.“ Diese Grundidee werde ich zu präzisieren versuchen. Bevor ich daran gehe, ist aber ein Hinweis darauf angebracht, daß sich in den Kantischen, Fregeschen und Quineschen Arbeiten – Arbeiten von Autoren, die für ihr rigoroses Bemühen um Exaktheit geradezu berüchtigt waren – Hinweise finden, die uns klar machen, daß Analytizität letztlich ein ‚weicher‘ Begriff ist, dessen Präzisierungsmöglichkeiten begrenzt sind, weil psychologische und soziologische Faktoren eine nicht wegzudefinierende Rolle spielen. Kant (Kritik der reinen Vernunft, B 17, B 205, B 746, B 749, Prolegomena § 2a, c) hebt bei der Explikation von analytischen Urteilen auf das wirkliche Denken von Subjekten ab (nicht etwa auf ihr DenkenSollen), eine von Kant mehrfach und sehr bewußt gewählte Formulierung, deren Wortsinn kaum anders als psychologisch interpretiert werden kann. Freges (1884) Argumentation gründet sich letztlich auf das, was die Gemeinschaft der Mathematiker als Systeme der Logik, Arithmetik oder Geometrie akzeptiert, um das sogenannte ‚natürliche‘ Schließen, die ‚natürlichen‘ Zahlen oder den natürlichen Raum zu repräsentieren. Quine (1951) blockt logisch-empiristische Erklärungsversuche des Analytizitätsbegriffs dadurch ab, daß er ausdrücklich (wenn auch eher beiläufig) auf die „mentalen oder verhaltensmäßigen oder kulturellen Faktoren“ verweist, die für den Analytizitätsbegriff relevant sind. 2.3. Die Grundidee Die folgenden Definitionen bilden zusammengenommen den Kern meines Vorschlags in Rott 2004 und sollen als Rahmen für die nachfolgende Diskussion dienen. Der Grundgedanke ist, daß Theorienänderung dann zu Bedeutungsänderung führt, wenn sehr zentrale oder hochstehende Prinzipien der Theorie preisgegeben werden – Prinzipien, die man als konstitutiv für die Bedeutung gewisser in ihnen vorkommender Begriffe bezeichnen kann. Für eine genauere Formulierung benötigen wir einige Definitionen. So wollen wir sagen, die Revision einer Theorie T in der Sprache L sei klein (oder evolutionär oder konservativ), wenn das Resultat der Revision, T 0, wieder als eine Theorie verstanden wird, die in der Sprache L formuliert ist. Die Revision heißt groß (oder revolutionär) wenn T 0 nicht mehr als in der Sprache L formuliert verstanden wird. Auf die naheliegende Frage, wer hier eigentlich etwas versteht, kommen wir gleich zu sprechen.
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Wir können nun sagen, analytische Sätze einer Theorie T in der Sprache L sind solche, die unter allen evolutionären Revisionen erhalten bleiben. Durch Kontraposition des Definiens ergibt sich die folgende logisch äquivalente, aber vielleicht leichter verständliche Fassung: Wer auch immer, aus welchen Gründen auch immer, einen analytischen Satz der Theorie T in der Sprache L aufgibt, der verläßt die Evolution der Theorie T und geht über zu einer neuen Theorie T 0 in einer anderen Sprache L0. Eine alternative Idee, die der soeben niedergelegten strukturell ähnlich ist, lautet folgendermaßen. Wer auch immer, aus welchen Gründen auch immer, einen analytischen Satz der Theorie T (in der Sprache L) aufgibt, der beendet die Evolution der Theorie T und geht über zu einer wirklich und wesentlich verschiedenen Theorie T 0, die nicht mehr als eine revidierte Variante von T verstanden werden kann, sondern einen echten Bruch oder Neubeginn darstellt. Es muß hier nicht entschieden werden, welche dieser beiden Ideen für welche möglichen Anwendungsfälle die richtigere ist. Für die folgenden Überlegungen genügt es, die allgemeine Grundstruktur dieses Erklärungsansatzes zugrundezulegen. 2.4. Die Bringschuld Die Grundstruktur allein macht aber natürlich noch keine Theorie der Analytizität aus. Was muß hinzukommen, um den Vorschlag mit Substanz zu füllen? Einerseits ist dies ein konkretes, detailliert ausgeführtes Modell, wie man Theorien revidiert (aus welchen Gründen auch immer). Die Theorie der Überzeugungsrevision6 bietet hier ein technisch anspruchsvolles Werkzeug, nämlich den komparativen Begriff der epistemischen Verankerung, den wir für unsere Zwecke als einen Gradmesser für die Bedeutungskonstitutivität uminterpretieren können. Andererseits brauchen wir neben diesem technischen Theorienelement eine irreduzibel nicht-technische Komponente. Gefragt sind intuitive Auskünfte darüber, wann eine andere Sprache gesprochen oder eine wirklich und wesentlich verschiedene Theorie vertreten wird (oder vertreten werden würde). Eine solche Antwort können wir nur von kompetenten Sprechern der relevanten Sprache und kompetenten Theoretikern des je interessierenden Bereichs erhalten. Es scheint offensichtlich, daß allein Personen, die aktiv und über einen längeren Zeitraum hinweg an der Praxis des Sprach- und Theoriengebrauchs beteiligt sind, über ein hinreichend gut fundiertes Urteil in der Sache verfügen können. Jedoch ist dieser Vorschlag nicht frei von Komplikationen. So haben etwa Theoretiker der Festkörperphysik zwar die ideale Voraussetzung für Urteile über 6 Zum Beispiel im Gewande von philosophisch-logischen Modellen, wie sie in Gärdenfors 1988, Hansson 1999 und Rott 2001 dargestellt sind.
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Theorien der Festkörperphysik. Sie haben jedoch keine Ausbildung in linguistischer Semantik und sprachphilosophischer Bedeutungstheorie. Können sie dann kompetent genug sein, um in semantischen Begriffen über ihre physikalischen Sprachen und Theorien zu reden? Und gesetzt, sie seien es, dann schließt sich die weitere Frage an, ob sie überhaupt willens wären, solche Urteile zu fällen, oder nicht vielmehr philosophische Diskurse als zwar nicht-triviale, aber letztlich belanglose Betätigungen des menschlichen Geistes ansehen.7 „Was kann für meine alltägliche Arbeit daran hängen“, so mag der Physiker fragen, „ob meine Uneinigkeit mit dem Kollegen XY ein Problem der Verschiedenheit von Theorien oder der Verschiedenheit von Bedeutungen darstellt? Ich habe mit substantiellen physikalischen Fragestellungen genug zu tun – zuviel, um mich auf solche spitzfindigen Wortklaubereien einzulassen. Was nicht von empirischem Belang ist, braucht mich nicht zu kümmern.“ Wir werden versuchen herauszufinden, was wir diesem Physiker von philosophischer Seite her entgegnen können. Dem Pragmatismus zugeneigte Philosophen tun sicher gut daran, die Entgegnung des praktizierenden Wissenschaftlers ernstzunehmen, steht sie doch im Einklang mit überliefertem pragmatistischen Gedankengut. Charles Sanders Peirce gab in „Wie unsere Ideen zu klären sind“ eine der vielen Umschreibungen seiner sogenannten Pragmatischen Maxime:8 „es gibt keinen Bedeutungsunterschied, der so fein ist, daß er in etwas anderem als einem möglichen Unterschied in der Praxis bestünde“ (Peirce 1878, 93, CP 5.400). William James kleidete in seiner zweiten Pragmatismus-Vorlesung dieselbe Maxime in womöglich noch prägnantere Worte: Im Kern all unserer begrifflichen Unterscheidungen steht eine konkrete Tatsache: Wie subtil diese Unterscheidungen auch immer sein mögen, keine ist so raffiniert, dass sie in etwas anderem bestünde als in einem möglichen Unterschied in der Praxis. [ . . . ] Nirgends kann ein Unterschied sein, der nicht anderswo einen Unterschied macht. Es gibt keinen Unterschied auf der Ebene abstrakter Wahrheit, der sich nicht auch in einem Unterschied auf der Ebene der konkreten Tatsachen ausdrückt und in einem daraus resultierenden Verhalten, das irgendjemandem auferlegt wird, irgendwie, irgendwo und irgendwann. (James 1907, 61–63)
Der intendierte Anwendungsbereich dieser Maxime ist universell, sie betrifft die Alltags- ebenso wie die Wissenschaftssprache und selbstverständlich auch die Sprache der Philosophie. Wir werden zum Ende dieses Aufsatzes die Pragmatische Maxime auf die philosophische Ebene beziehen, genauer: auf die Metaebene, in der wir uns über semantische Theorien Gedanken machen. 7 Für
diesen Gedanken bin ich Felix Mühlhölzer und Olaf Müller zu Dank verpflichtet. Jahre 1878 sprach Peirce allerdings noch nicht von der „Pragmatischen Maxime“, sondern bezog sich hierauf als auf „die Regel für [ . . . ] den dritten Grad der Klarheit der Apprehension“ (vgl. Peirce 1878, 194 f., CP 5.402). 8 Im
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3. Ein Anschauungsbeispiel und ein erster Versuch Wir kommen zurück auf das eingangs erwähnte Beispiel des guten Freundes und bauen es etwas aus für eine allgemeinere Betrachtung. Welche Bedeutung hat eine Aussage der Form F x x ist ein (guter oder wahrer) Freund? Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir uns zunächst auf die intutiv naheliegende und altehrwürdige Idee von Merkmalskombinationen verlegen. Unter einem F -Profil für ein Individuum x verstehen wir von nun an ein Tupel h±F1 x, ±F2 x, . . . , ±F13 xi, welches für ein Individuum x das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen der im folgenden erklärten (und nur um des Beispiels willen zusammengestellten) Eigenschaften angibt: F1 x x ist eine nette Person, F2 x auf x ist Verlaß, F3 x x ist eine interessante Person, F4 x x ist kein Egomane, F5 x x hilft einem, wenn man ihn/sie braucht, F6 x mit x gibt es einen Fundus gemeinsamer Erlebnisse, F7 x x ist eine Person, mit der man seine Ferien verbringen könnte, F8 x x ist eine Person, die man bei wichtigen Entscheidungen um Rat fragen würde, F9 x x ist eine Person, mit der man über alle möglichen persönlichen Angelegenheiten reden kann, F10 x x ist eine Person, mit der man nach einem harten Arbeitstag etwas trinken gehen wollte, F11 x x ist eine Person, der man ohne zu zögern seine Wohnung untervermieten würde, F12 x x ist eine Person, die man zu seiner Geburtstagsfeier einladen würde, F13 x x hat ungefähr dieselben Interessen wie man selbst.
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Wie kommt nun ein Urteil darüber zustande, ob Karl ein guter Freund ist oder nicht? Ein naheliegender Gedanke ist es, ein solches Urteil als in zwei Komponenten zerlegbar zu betrachten. Zuerst soll ein Sprecher versuchen, das F -Profil für Karl zu erstellen und damit so etwas wie eine faktische Grundlage für die schwierige Frage nach der Freundschaft zu schaffen. Als zweite Komponente ist nun anzunehmen, daß der Sprecher über eine Methode der Aggregation verfügt, d.h. über eine Funktion, die für jedes mögliche 13-Tupel des F -Profils einen Wert der Form F k oder ¬F k ergibt (k steht für „Karl“). Diese Funktion soll die Bedeutung des Wortes „Freund“ spezifizieren und gehört, explizit in Regeln gefaßt, zu des Sprechers allgemeiner Theorie über die Freundschaft. Wenn der Sprecher nun seine Bedeutungsfunktion auf seine faktische Grundlage anwendet, dann ergibt sich als Wert sein Urteil über Karls Qualifikation als Freund. Mit dieser Trennung hätte man die Frage nach Meinungs- oder Bedeutungsdiskrepanz schnell erledigt: Unterscheiden sich Franz und Fritz im F -Profil, welches sie Karl beilegen, so liegt offenbar eine Meinungsverschiedenheit vor; unterscheiden sie sich in der Funktion, die F -Profile in Urteile über die F Eigenschaft überführt, so haben wir es mit einer Bedeutungsverschiedenheit zu tun. Im ersten Fall meint Franz vielleicht, Karl würde einem helfen, wenn man ihn braucht, während Fritz die Hilfsbereitschaft Karls bezweifelt. Der zweite Fall liegt zum Beispiel vor, wenn für Freundschaft in Franzens Sinne Zuverlässigkeit sehr wichtig ist, während es für Fritz vor allem auf den Kneipenbesuch nach der Arbeit ankommt. Da nun Franz F k und Fritz ¬F k behauptet, muß entweder eine Meinungs- oder eine Bedeutungsdifferenz vorliegen, oder auch beides. Es bleibt allein zu ermitteln, worin die Unstimmigkeit liegt, um zu wissen, ob eine substantielle Uneinigkeit vorliegt oder nur eine unterschiedliche Vorstellung davon, was einen guten Freund ausmacht. Leider ist diese Idee zu schön, um tragfähig zu sein. Wir vernachlässigen einmal den unübersichtlichen Fall, in welchem sowohl Bedeutungs- als auch Meinungsverschiedenheit vorliegt, und beschränken uns auf die beiden ‚reinen‘ Fälle. Um einen solchen zu diagnostizieren, muß man herausfinden, ob eine Übereinstimmung bezüglich der Fakten vorliegt (dann müßte ja die Bedeutungskomponente unterschiedlich sein) oder eine Übereinstimmung bezüglich der Bedeutung (dann ist es die Faktenkomponente, die differiert). Ist es aber möglich, eine perfekte Übereinstimmung in einer dieser beiden Komponenten zu festzustellen? Eine prinzipielle Schwierigkeit betrifft beide Alternativen. Welche Garantie gibt es, daß die Prädikate F1 bis F13 den Bedeutungsgehalt von „Freund“ auch wirklich ausschöpfen? Gleichgültig, ob Identität des Profils oder der Bedeutungsfunktion behauptet wird – jede solche Behauptung wird angreifbar durch die Vorhaltung, es seien doch weitere relevante Prädikate vergessen worden. Bezüglich des Vorliegens von F14 , F15 und F16
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etwa könne es doch Meinungsverschiedenheiten geben oder verschiedene Auffassungen über die Art und Weise, wie diese Prädikate für die Zuerkennung des Freundestitels F zu Buche schlagen sollten. Aber selbst wenn wir annehmen könnten, daß aufgrund der Semantik des deutschen Wortes „Freund“ unmißverständlich klar wäre, welche Prädikate zum relevanten Profil gehören und welche nicht, es blieben noch immer große Schwierigkeiten bestehen. Auf der einen Seite ist nämlich die These, daß eine Gleichheit bezüglich des F -Profils vorliege, schon deshalb nicht unkontrovers belegbar, weil die Aussagen im Profil selbst erläuterungsbedürftig sind. Was heißt denn „nett“, was „interessant“ und was sind „ungefähr dieselben Interessen“? Wenn die Antwort auf diese Fragen vielleicht auch leichter fällt als die Entscheidung, ob jemand ein guter Freund ist oder nicht, so bleibt doch auch bei den vermeintlichen ‚Fakten‘ ein großes Maß an Vagheit und Abhängigkeit vom Standpunkt des Betrachters.9 Auf der anderen Seite steht die Feststellung der Identität der Bedeutungen vor ebenso großen Problemen. Es gibt in unserem Beispiel die sehr große Zahl von 213 = 8 192 F -Profilen, die schon kaum mehr zu überblicken ist. Sie ist aber noch harmlos verglichen mit den 28192 Funktionen, die für jedes mögliche Profil ein Urteil über die Freundeseigenschaft vorsehen. Dies ergibt eine ungeheuer große Zahl mit mehr als 2 400 Dezimalstellen, und es ist nicht vorstellbar, daß über diese Menge von Bedeutungsfunktionen ohne weitere Hilfsmittel sinnvolle Betrachtungen angestellt werden. Hilfe winkt nun tatsächlich von daher, daß es ja Zusammenhänge zwischen verschiedenen Profilen gibt, die für eine bequeme Zusammenfassung von Profilmengen in Gruppen verwendbar sind. Man könnte etwa die Ansicht vertreten, daß „Freund“ ein cluster term ist, der zwar nicht fest zu definieren, aber immerhin über Familienähnlichkeiten zu umschreiben ist. Um F x zu garantieren, wäre dann zwar nicht die Wahrheit irgendeiner bestimmten Einzelaussage Fi x notwendig. Aber vielleicht kann die Erfüllung von, sagen wir, neun aus den dreizehn Eigenschaften F1 bis F13 als hinreichend und notwendig für Freundschaft gelten? Verschafft dieses Argument eine gewisse Entlastung, so gibt es eine weitere Erwägung, die die Durchführbarkeit des Tests auf Bedeutungsidentität für zwei uneinige Parteien (Franz und Fritz) vollends unglaublich macht. Bisher haben wir uns nämlich der Idealisierung bedient, daß alle betroffenen Prädikate in dem Sinne binär sind, daß sie von einem gegebenen Individuum entweder erfüllt wer9 Meinungsverschiedenheiten
im Profil schließen das Vorliegen von Bedeutungsverschiedenheiten natürlich nicht aus. Aussichten festzustellen, ob die Diskutanten über den Wahrheitswert von F k genau deshalb uneins sind, weil sie verschiedene F -Profile für k handhaben, gibt es zum Beispiel, wenn Fritz sagt: „Wenn F10 k der Fall wäre, dann wäre auch F k wahr.“ In diesem Szenario kann es sein, daß Franz und Fritz das Wort „Freund“ in genau derselben Bedeutung verwenden und die Uneinigkeit allein aus der Unstimmigkeit hinsichtlich des Faktums F10 k resultiert.
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den oder nicht. Aber dies ist natürlich unrealistisch. In Wirklichkeit kommt es, um Freundschaft zu ermessen, sehr wohl darauf an, in welchem Grade jemand nett oder interessant ist oder dieselben Interessen hat wie man selbst. Wenn einige der sogenannten ‚faktischen‘ Variablen des Profils sich in Gradierungen ausdifferenzieren lassen, dann gibt es, ungeachtet möglicher Profilgruppierungen, eine unvorstellbar große, ja sogar i.a. als unendlich anzunehmende Anzahl unterschiedlicher Bedeutungsfunktionen. Wie sollte man erwarten können, daß irgendzwei beliebige Sprecher sich ein und derselben Bedeutungsfunktion bedienen? Wir müssen uns aufgrund dieser Schwierigkeiten der Merkmalsmechanik auf die Suche nach besseren Methoden zur Unterscheidung von Diskrepanzen in der Theorie und Diskrepanzen in der Bedeutung machen.
4. Sechs Methoden, Unterschiede in der Theorie und Unterschiede in der Bedeutung auseinanderzuhalten Die im folgenden nacheinander besprochenen Methoden gründen sich (1) auf sprachliches Verhalten, (2) auf Übersetzbarkeit, (3) auf unabhängigen Zugang zu den Bedeutungen der Wörter, (4) auf Streit, (5) auf eine solipsistische Methode und (6) auf neue Evidenzen. Zunächst wird die Grundidee einer jeden dieser Methoden kurz skizziert, um dann einer Kritik unterzogen zu werden. Statt von Unstimmigkeiten oder Unterschieden werde ich mich aus stilistischen Gründen gelegentlich auf den temporalen Spezialfall beschränken und nur vom Wandel von Theorien oder Bedeutungen sprechen. 4.1. Sprachliches Verhalten Idee: Bedeutungswandel ist Wandel, der Folgen nur für das sprachliche Verhalten der Subjekte hat, Wandel in den Überzeugungen und Meinungen hat hingegen Folgen für alle möglichen Arten von Handlungen. Denn Überzeugungen und Meinungen gehen als wesentliche Prämissen in praktische Syllogismen und entscheidungstheoretische Überlegungen ein, die gegenüber bloßen Umformulierungen invariant sind. Kritik: Sprachliches Verhalten von anderen Arten des Verhaltens zu isolieren wäre außerordentlich künstlich und würde auch dem Geiste des Pragmatismus widersprechen. Es ist sehr schwer vorzustellen, daß unterschiedliche Weisen, die Dinge der Welt sprachlich zu klassifizieren, ohne praktische, außersprachliche Konsequenzen bliebe. Schon seit Peirce wird im Pragmatismus der Zusammenhang zwischen sprachlicher Bedeutung und außersprachlichem Geschehen besonders eng konzipiert: „Deshalb verlegt der Pragmatizist die Bedeutung in
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die Zukunft. [ . . . ] Aber wenn jene Form des Satzes, die als seine Bedeutung verstanden werden soll, auf jede Situation und auf jeden Zweck, auf den der Satz irgendeinen Bezug hat, anwendbar sein soll, dann muß er einfach die allgemeine Beschreibung all der experimentellen Phänomene sein, die die Aussage des Satzes virtuell vorhersagt“ (Peirce 1905a, 442, CP 5.427). Wenn sich diese Passage dem Leser auch nicht unbedingt unmittelbar erschließt, so wird doch klar, daß Sprache für Peirce kein isoliertes Phänomen ist. Bedeutungsvarianzen sind nur Varianzen, insofern sie Auswirkungen auf das außersprachliche Verhalten der Subjekte haben. In dieser Hinsicht ist Peirce zweifellos zuzustimmen. 4.2. Übersetzbarkeit Idee: Bedeutungsverschiedenheiten sind Verschiedenheiten, die durch eine adäquate Übersetzung von der Sprache des einen in die Sprache des anderen beigelegt werden können; bei Meinungsverschiedenheiten gelingt das nicht. Die Methode, bedeutungstheoretische Fragen auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Übersetzung zu reduzieren, erlangte durch Philosophen wie Quine, Kuhn und Davidson große Bekanntheit. Sie ist – wiederum in einem schwer zu interpretierenden Kontext – bereits bei Peirce zu finden, und zwar in demselben Absatz, aus dem wir gerade eben schon zitierten: „Die rationale Bedeutung jedes Satzes liegt in der Zukunft. Wieso? Die Bedeutung eines Satzes ist selbst ein Satz. In der Tat ist es kein anderer als der Satz selbst, von dem er die Bedeutung ist: Er ist eine Übersetzung von ihm. Aber welche der Myriaden von Formen, in die ein Satz übersetzt werden kann, ist die eine, die seine Bedeutung genannt werden muß? Für den Pragmatizisten ist es die Form, in der der Satz auf das menschliche Verhalten anwendbar wird“ (Peirce 1905a, 442, CP 5.427). Kritik: Die offensichtliche Kritik an dieser Idee lautet, daß nicht klar ist und ohne Zirkularität auch nicht zu klären sein wird, was denn unter einer adäquaten Übersetzung zu verstehen sei. Natürlich qualifiziert sich nicht jede Abbildung von Ausdrücken einer Sprache in die Ausdrücke einer anderen Sprache als eine gute Übersetzung. Die intuitive Anforderung, daß eine solche Abbildung bedeutungserhaltend zu sein habe, können wir aber nicht verwenden, da wir ja gerade mittels des Übersetzungsbegriffs versuchen, Gleichheit und Verschiedenheit von Bedeutungen auseinanderzuhalten. Doch damit enden die Probleme dieses Vorschlags nicht. Denn einerseits ist möglich, daß eine inhaltliche Übereinstimmung von Meinungen deshalb nicht in einer adäquaten Übersetzung zum Ausdruck kommen kann, weil gewisse Aussagen der Quellsprache in der Zielsprache schlichtweg nicht ausdrückbar sind. Andererseits ist auch der umgekehrte Fall nicht selten, daß genuine Unstimmigkeiten durch eine geschickt gewählte Übersetzung ‚wegübersetzt‘ werden; in der Diplomatie etwa scheinen solche Übersetzungen
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als – meist allerdings wenig nachhaltige – Problemlösungsstrategien gang und gäbe zu sein. Wie soll es aber gelingen, solche trügerischen Übersetzungen mit prinzipiellen Mitteln als inadäquat zurückzuweisen? Das Übersetzbarkeitskriterium bietet uns also nicht die erhoffte Trennschärfe.
4.3. Unabhängiger Zugang zu den Bedeutungen der Wörter Idee: Es gibt Methoden des direkten, nicht-sprachlich vermittelten Zugangs zu den Bedeutungen der in einem Satz vorkommenden Ausdrücke, etwa die alte Methode des Hinweisens oder neue Methoden der Kognitionswissenschaft. Solche Methoden erlauben uns, unabhängig vom konkret vorliegenden Satz festzustellen, ob eine Diskrepanz in den Bedeutungen vorliegt oder nicht. Das heißt, die Wahrheit von Sätzen oder die Akzeptanz von Theorien kann allein deshalb schon keine bedeutungskonstitutive Rolle spielen, weil sie der Bedeutung von Wörtern methodisch nachgeordnet ist. Die Bedeutungen der Wörter sind wie sie sind, unabhängig davon, ob die aus ihnen zusammengesetzten Sätze die Zustimmung unserer Gesprächspartner finden oder nicht. Kritik: Dies ist ein Kriterium mit sehr eingeschränkter Reichweite. Schon das obige Beispiel des Wortes „Freund“ macht dies klar. Es ist wenig aussichtsreich zu versuchen, jemandem die Bedeutung des Wortes beizubringen, indem man auf zehn mustergültige, besonders gute Freunde und auf zehn besonders klare Gegenbeispiele mit dem Finger zeigt, begleitet durch deutlich wahrnehmbare bejahende bzw. verneinende Ausdrücke. Man sieht es den Menschen nicht an, man kann nicht unmittelbar verifizieren, ob sie gute Freunde von mir sind oder nicht. Ebenso schwer kann man sich vorstellen, es sei sinnvoll, im Hirn nach Orten zu suchen, in denen dieses so geschätzte Prädikat „Freund“ repräsentiert ist, und man nur hinsehen muß, ob die entsprechende Stelle gerade ‚aktiv ist‘ (‚feuert‘) oder nicht. Eine schöne Illustration zur Beschränktheit des direkten Zugangs gibt William James zu Beginn seiner sechsten Pragmatismus-Vorlesung, wo er klar macht, daß das, was uns an einer Wanduhr gleichsam als ‚Kopie‘ im Kopf direkt gegeben ist, zwar wohl die Zeiger einschließt. Aber schon das Uhrwerk ist für uns als Nicht-Uhrmacher nicht mehr unmittelbar präsent, ganz zu schweigen von so abstrakten Entitäten wie der zeitmessenden Funktion der Uhr oder der Elastizität der Feder (James 1907, 132). Der größte Teil der sprachlichen Ausdrücke kann nicht ohne kontextualisierte Verwendung in Sätzen, Texten und Äußerungen erlernt werden. Ein weiteres, mit dem eben Gesagten zusammenhängendes Problem stellt die von Quine (1969) diagnostizierte Unerforschlichkeit der Referenz dar, die weitere Argumente gegen einen direkten Zugang zu Wortbedeutungen liefert – wenn man Referenz überhaupt als Explikat für Bedeutung gelten
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lassen will.10 4.4. Streit Idee: Es handelt sich um eine Uneinigkeit bezüglich der Tatsachen, wenn zwei Subjekte auch nach langer und intensiver Diskussion und gegebenenfalls unter Mithilfe von kompetenten Dolmetschern zu dem Schluß kommen (würden), daß immer noch ein Grund vorliegt, sich über den wahren Stand der Dinge zu streiten. Wenn dies nicht der Fall ist, dann gibt es nur eine Uneinigkeit bezüglich der Bedeutungen. Kritik: Anlaß für Streit kann vieles sein. Nicht nur die Uneinigkeit darüber, welche Eigenschaften die Dinge ‚in Wirklichkeit‘ besitzen, sondern auch verschiedene Ansichten über die beste, angemessenste, effizienteste Art, die Natur unter sprachliche Begriffe zu bringen, können zu Auseinandersetzungen führen. Und wie die Erfahrung lehrt, mildert die vermeintliche Erkenntnis, es handle sich bei einem Streit nicht um eine faktische, sondern nur um eine terminologische Frage, die Heftigkeit und Qualität des Streits gar nicht. Insofern es aber nicht möglich ist, zwei verschiedene Arten von Streit gefühlsmäßig voneinander zu unterscheiden, kann auf diese Idee keine Unterscheidung zwischen Diskrepanzen der Theorie und solchen der Bedeutung aufbauen.11 4.5. Die solipsistische Methode Idee: Diese Methode ist von vornherein auf die intrapersonale Problematik des Wandels von Bedeutungen oder Theorien eingeschränkt. Innerhalb eines einzelnen Subjekts, so die Annahme, gibt es ein nicht weiter reduzierbares Gefühl, eine Art Selbstbewußtheit, welches dem Subjekt sagt, ob es seine Ansichten mit Bezug auf die fraglichen Tatsachen wirklich geändert hat oder ob sich nur die 10 Bilgrami (1992, 78–80, 122–129; vgl. auch die Kurzfassung Bilgrami 2002) möchte die Unterscheidung zwischen Theorien- und Bedeutungswandel retten. Er diskutiert ein von ihm auf Scheffler (1967) zurückgeführtes Argument, wonach diese Unterscheidung einen Übergang vom Bedeutungsbegriff („enger Inhalt“) zum Referenzbegriff („weiter Inhalt“) erfordere. Auf der Grundlage seines modifizierten Externalismus weist Bilgrami das Argument zurück, ohne die Unterscheidung preiszugeben. Dieselbe Idee, daß nämlich verschiedene Theorien ‚über die gleichen Dinge‘ sprechen können, liegt Putnams (1975a) „principle of the benefit of the doubt“ zugrunde, welches Koellmann (2002) anhand von Beispielen aus Nutzen- und Wahrscheinlichkeitstheorie kritisiert. 11 Es ist nun Zeit, meine Zweifel an der Angemessenheit der zunächst so plausibel klingenden Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Franz und Fritz zu Beginn dieses Aufsatzes zu bekennen. Mir erscheint es unrealistisch zu erwarten, daß Fritz nach einem lapidaren „Ach so, du verstehst unter einem Freund etwas anderes als ich“ seinen Gesprächspartner Franz in Ruhe lassen wird. Zu rechnen ist vielmehr damit, daß er das abweichende Verständnis von Freundschaft mit der gleichen Vehemenz kritisieren wird wie vorher die vermutete Meinungsverschiedenheit.
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Gepflogenheiten, wie es die Tatsachen verbalisiert, geändert haben. Was zwischen verschiedenen Personen aufgrund von Kommunikationsproblemen möglicherweise prinzipiell unzugänglich ist, kann innerhalb ein und derselben Person ohne weiteres transparent sein – jedenfalls dann, wenn man von der idealisierenden Annahme einer perfekten Introspektion und eines perfekten Gedächtnisses ausgeht. Kritik: Zunächst ist natürlich anzumerken, daß die Einschränkung auf den intrapersonalen Fall eine substantielle Einbuße an Erklärungskraft mit sich bringt. Aber auch wenn man diese Einschränkung zu akzeptieren bereit ist, stellen sich weitere Probleme. Die Zuverlässigkeit von introspektiven Gefühlen ist niedrig, und es gibt keine Regeln oder Standards, welche sie überprüfbar machen würden. Mir scheinen hier die Wittgensteinschen Bedenken, welche jedes Reden von der Richtigkeit einer bestimmten Verbindung von Empfindungen und Zeichen unterminieren, immer noch zutreffend.12 Wenn es aber keine private Festlegung von Bedeutungen geben kann, dann können Änderungen der Bedeutung auch nicht privat von Änderungen der Meinung unterschieden werden. Der positive Teil der solipsistischen Antwort könnte immerhin so aussehen: Jede Person weiß, ob sie zwischen zwei Zeitpunkten neue Informationen erhalten hat oder nicht. Wenn sie dies verneint, dann kann man sich schwerlich vorstellen, wodurch ein Theorienwandel angestoßen worden sein sollte. Jede Diskrepanz zwischen früheren und späteren Aussagen, so scheint es, muß dann auf gewandelte Bedeutungen zurückzuführen sein. Dieser Gedanke führt uns zum nächsten und letzten Versuch. 4.6. Neue Evidenzen Idee: Eine Unstimmigkeit oder Änderung von Überzeugungen über die vorliegenden Fakten ist dann und nur dann zu konstatieren, wenn es einen Unterschied in der zugrundeliegenden Information oder, anders gesagt, wenn es neue Evidenz gibt. Kritik: Dieses Kritierium ist weder notwendig noch hinreichend. Denn einerseits gibt es durchaus Meinungsänderung, die durch keinerlei neue Evidenz veranlaßt wird. Ein besonderer Spezialfall hiervon liegt vor, wenn eine Person im Prozess der Reflexion entdeckt, daß ihre Meinungen oder Überzeugungen über einen bestimmten Gegenstandsbereich widersprüchlich sind. In diesem Fall wird sich die Person normalerweise bemühen, den Widerspruch aufzulösen.13 Andererseits gibt es Bedeutungs- oder Sprachwandel auch als Resultat von Beobachtungen. Hierzu ein etwas krudes Beispiel. Die Aussage „Einige Fische 12 Philosophische 13 Für
Untersuchungen, §§ 258–260; vgl. 342, 540, 649. interessante Überlegungen zu diesem Thema siehe Cantwell 1998 und Olsson 2003.
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haben Lungen“ etwa mag zu einem früheren Zeitpunkt gerechtfertigt gewesen sein – zu einem Zeitpunkt, als der Begriff „Fisch“ schlechthin alle im Wasser lebenden Wesen von einer bestimmten Mindestgröße umfaßte. Nach der Entdeckung einer großen Anzahl von Delphinen und Walen – allesamt Instantiierungen, die eigentlich positive Beispiele des eben zitierten Satzes sein sollten, entschließt man sich jedoch, diese relativ großen, wohlumgrenzten Tierklassen aus dem Skopus des Begriffs „Fisch“ zu nehmen und den Säugetieren zuzuschlagen. Damit aber scheint es angemessen zu sagen, daß durch die Beobachtung von Delphinen und Walen der Satz „Einige Fische haben Lungen“ kurioserweise nicht nur keine Stützung erfährt, sondern sogar inakzeptabel wird.14 Wenn diese kurzen Betrachtungen auch nur skizzenhaften Charakter haben, so lohnt es sich doch, die Frage zu stellen, wohin sie uns geführt haben. Sechs verschiedene mögliche Ansätze zur Separation von Diskrepanzen in Bedeutungen und Meinungen wurden vorgestellt. Zu allen sechs Vorschlägen sind Kritiken recht schnell bei der Hand gewesen, und diese Kritiken erscheinen mir als durchaus stichhaltig. Andererseits ist es mir nicht gelungen, weitere vielversprechende Ansatzpunkte für die Scheidung von Bedeutungs- und Theorienvarianz zu finden.
5. Peirces Wende In der bisherigen Darstellung ist die konventionelle Seite der Sprache etwas zu kurz gekommen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, es sei doch allein schon durch Franzens und Fritzens Teilhabe an der deutschen Sprachgemeinschaft bestimmt, was die Bedeutung des Wortes „Freund“ sei. Für die Feststellung dieser Bedeutung mag man empfehlen, einfach in einem führenden Wörterbuch (etwa von Grimm, Paul, Wahrig oder Duden) nachzuschlagen oder, aufwendiger, eingehende empirische Untersuchungen unter kompetenten Sprechern des Deutschen durchzuführen. Ich möchte aber daran erinnern, daß wir uns oben entschieden hatten, Mikrovariation der Sprache ernst zu nehmen und – je nach gerade verfolgtem Zweck – auch auf Soziolekte, Dialekte, Fachsprachen und Ideolekte als eigene Sprachen zu rekurrieren. Daß Angesprochene oder auch Dritte einer gegebenen Äußerung eine bestimmte Sprache zuweisen, wird durch das allgemeine Ziel motiviert, den Sprecher zu verstehen und aus dem, was er sagt, ‚Sinn zu machen‘. 14 Diese Bemerkung beschreibt eine mögliche Entwicklung der biologischen Systematik. Ich verbinde hiermit keine Behauptung über ihre tatsächliche, kompliziertere Entwicklung. So hat Aristoteles gewußt, daß Wale keine Fische sind, während Carl von Linné, der Begründer der modernen Taxonomie im 18. Jahrhundert, sie wieder zu den Fischen zählte.
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Wenn man die im letzten Abschnitt erhobenen Zweifel teilt, dann geben auch berühmt gewordene Beispiele der pragmatistischen Literatur Rätsel auf. In „Wie unsere Ideen zu klären sind“ aus dem Jahre 1878 illustriert Charles Sanders Peirce seine Pragmatische Maxime anhand des folgenden Falles, der es wert ist, ausführlich wiedergegeben zu werden:15 Wir wollen diese Regel durch einige Beispiele veranschaulichen; und um mit einem möglichst einfachen zu beginnen, wollen wir fragen, was wir meinen, wenn wir ein Ding hart nennen. Offensichtlich dies: daß es von vielen anderen Substanzen nicht geritzt werden wird. Der ganze Begriff dieser Eigenschaft, wie der jeder anderen, liegt in ihren gedachten Wirkungen. Es gibt absolut keinen Unterschied zwischen einem harten und einem weichen Ding, solange sie nicht auf die Probe gestellt worden sind. Nehmen wir z. B. an, ein Diamant könnte in der Mitte eines Polsters von weicher Baumwolle kristallisiert werden und würde dort verbleiben, bis es schließlich verbrannt wird. Würde es falsch sein zu sagen, daß der Diamant weich war? Das scheint eine alberne Frage und ist es in der Tat auch, außer im Bereich der Logik. [ . . . ] Wir können im vorliegenden Fall unsere Frage ändern und fragen, was uns zu sagen hindert, daß alle harten Körper völlig weich bleiben, bis sie berührt werden, woraufhin ihre Härte mit zunehmendem Druck ansteigt, bis sie geritzt werden. Eine Überlegung wird zeigen, daß die Antwort diese ist: An dieser Redeweise würde nichts Falsches sein. Sie würde eine Abänderung unseres jetzigen Sprachgebrauchs im Hinblick auf die Wörter hart und weich einschließen, aber nicht eine Abänderung ihrer Bedeutung. Denn sie stellt keine Tatsache als von dem, was diese Tatsache ist, verschieden dar; sondern sie impliziert nur eine Anordnung von Tatsachen, die außerordentlich ungeschickt wäre. Das führt uns zu der Bemerkung, daß die Frage, was unter Umständen geschehen würde, die nicht in Wirklichkeit eintreten, keine Frage der Tatsachen ist, sondern die nach ihrer klarsten Anordnung. (Peirce 1878, 195 f., CP 5.403)
In den Begriffen des vorliegenden Aufsatzes ausgedrückt, sagt Peirce hier folgendes: Wenn Franz Diamanten hart nennt und Fritz sich dafür entscheidet, sie weich zu nennen, dann handelt es sich, solange die Diamanten keinem Test unterworfen sind, nur um eine Differenz in der Art und Weise, die Welt durch sprachliche Begriffe zu organisieren. Wir bewegen uns hierbei in einem Bereich, der nach Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit beurteilt wird, nicht nach Wahrheit und Falschheit. Es ist nicht so, daß Franzens Theorie wahr und Fritzens Theorie falsch wäre. Tatsächlich besteht eigentlich gar kein echter Widerspruch zwischen Franz und Fritz, es gibt keine echte Meinungsverschiedenheit, sie verwenden die Wörter „hart“ und „weich“ nur auf unterschiedliche Weise. Wir kön15 Zur Formulierung der Pragmatischen Maxime s. die folgende Fußnote. Vgl. auch die Darstellung in Ayer 1968, 29–62.
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nen auch sagen, es gibt einen Unterschied der Bedeutung der Wörter zwischen Franz und Fritz – auch wenn Peirce selbst diese Redeweise in der zitierten Stelle zurückweist. 27 Jahre später, im Artikel „Kernfragen des Pragmatizismus“, kam Peirce auf seine Analyse des Beispiels zurück und hat sie revidiert: In der Tat ist es die Realität gewisser Möglichkeiten, auf der der Pragmatizismus mit allem Nachdruck besteht. Der Artikel vom Januar 1878 bemühte sich, über diesen Punkt hinwegzugehen, da er für die breite Öffentlichkeit, an die dieser Artikel sich wandte, unpassend schien; oder vielleicht war sich der Verfasser selbst noch nicht im klaren. Er sagte damals, wenn sich ein Diamant in einer Schicht Baumwolle bilden und dort verbrennen würde, ohne daß je eine harte Schneide oder etwas Scharfes auf ihn gedrückt worden sei, wäre es bloß eine Frage der Nomenklatur, ob man diesen Diamanten hart oder weich nennen sollte. Ohne Zweifel ist das wahr, abgesehen von dem krassen Irrtum, den das Wort BLOSS darstellt, insofern es impliziert, Symbole seien nicht real ‚gültig‘. Nomenklatur schließt Klassifikation ein; und Klassifikation ist wahr oder falsch, und das Allgemeine, auf das sie bezug nimmt, ist entweder ein Reales in einem Fall oder ein Figment im anderen Fall. Denn wenn der Leser die ursprüngliche Maxime des Pragmatizismus zu Anfang dieses Artikels heranzieht,16 wird er einsehen, daß die ‚entscheidende‘ Frage nicht die ist, was tatsächlich geschah, sondern ob es gut gewesen wäre, sich nach einem Verhaltensmuster zu richten, dessen erfolgreiches Ergebnis davon abhängig ist, ob jener Diamant einem Versuch, ihn zu ritzen, widerstehen würde, oder ob alle anderen logischen Mittel, um zu bestimmen, wie er klassifiziert werden sollte, zu der Konklusion führen würden, die – um genau die Worte jenes Artikels zu zitieren – in der Überzeugung bestehen würde, „die allein das Ergebnis der Forschung, die weit genug getrieben wurde, sein kann“. (Peirce 1905b, 467 f., CP 5.453)
Peirce verwirft hiermit seine frühere Ansicht, wonach es sich bei der Frage, ob man ungetestete Diamanten auch „weich“ nennen könne, um eine Frage ohne faktischen Gehalt handle. Er hält daran fest, daß es sich hier in der Tat um ein Problem der Nomenklatur handelt, doch sind im Gegensatz zu früher Fragen der Nomenklatur für ihn nun wahrheitswertfähig.17 Die Stelle wirkt wie eine prosaische Artikulation der berühmten Metapher Platons (Phaidros 265e), wonach 16 „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Auswirkungen haben könnten, wir den Gegenständen unseres Begriffes in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff jener Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes“ (Peirce 1905b, 454, CP 5.438; dies wiederholt fast wörtlich Peirce 1878, 195, CP 5.402). Peirce gibt gleich anschließend noch eine Reformulierung „im Indikativ: [ . . . ] Der volle intellektuelle Bedeutungsgehalt irgendeines Symbols besteht in der Gesamtheit aller allgemeinen Formen rationalen Verhaltens, die aus der Annahme des Symbols konditional in Bezug auf alle möglichen verschiedenartigen Umstände und Bestrebungen folgen“ (Peirce 1905b, 454, CP 5.438). 17 Fragen der Klassifikation und deren Zusammenhang mit Theorienbildung haben schon den sehr
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man bei klassifikatorischen Einteilungen der Natur gemäß zu verfahren und die Schnitte an den Gelenken auszuführen habe. Hier wird eine klare Abkehr von der Position erkennbar, die Peirce früher vertreten hatte. Der Peirce von 1905 hätte wohl nichts dagegen, von einer Meinungsverschiedenheit oder inhaltlichen Unstimmigkeit zu sprechen, wenn Franz den Diamanten hart und Fritz ihn weich nennt. Peirce verwendet sein altes Beispiel jetzt, um den „Scholastischen Realismus“ zu charakterisieren, den er inzwischen als integralen Bestandteil seines „Pragmatizismus“ ansieht. Dieser Realismus besteht in einer ganz bestimmten Einstellung gegenüber Possibilia; er erkennt die Wahrheitsfähigkeit von kontrafaktischen Konditionalsätzen ebenso an wie die Existenz von bestimmten Möglichkeiten. Das Mögliche ist aber abhängig von der Struktur des Wirklichen: Es fragt sich nun, war dieser Diamant wirklich hart? Sicher ist, daß kein tatsächliches Faktum erkennbar ist, das ihn bestimmt hätte, hart zu sein. Aber ist seine Härte nicht trotzdem ein reales Faktum? Sagt man, wie es der Artikel vom Januar 1878 zu intendieren scheint, daß es eben so sei, wie ein willkürlicher ‚Sprachgebrauch‘ unsere Gedanken anordne, so heißt das, daß man sich gegen die Realität dieser Eigenschaft entscheidet, da das Reale das ist, was das, was es ist, unabhängig von dem ist, was man zu irgendeiner Zeit von ihm denkt. Man erinnere sich, daß der Zustand dieses Diamanten kein isoliertes Faktum ist. Dergleichen gibt es nicht; und ein isoliertes Faktum könnte schwerlich real sein. Es ist ein untrennbarer, wenn auch herausgehobener Teil der einheitlichen Wirklichkeit der Natur. Da es ein Diamant ist, handelt es sich um reinen Kohlenstoff in der Form eines mehr oder weniger durchsichtigen Kristalls (spröde und nach den Flächen des Oktaeders leicht spaltbar, es sei denn, es handle sich um eine völlig unbekannte Art), der, wenn er nicht in einer der Weisen, in denen man Diamanten schleifen kann, geschliffen wurde, die Gestalt eines Oktaeders angenommen hat, offenbar regelmäßig [ . . . ] mit muscheligem Bruch und wahrscheinlich etwas abgerundeten Flächen. Wird er keinerlei erheblichem Druck unterworfen, so könnte man finden, daß er unlöslich ist, sehr stark lichtbrechend, daß er unter Radiumstrahlen (und vielleicht unter ‚dunklem Licht‘ und Röntgenstrahlen) ein eigentümliches bläuliches Phosphoreszieren zeigt, daß er dasselbe spezifische Gewicht wie rote und gelbe Arsenblende hat und daß er jungen Peirce (1861) umgetrieben: „By his system of nomenclature, Sir William Hamilton has conferred an immense boon not alone on his own school but on all English philosophers who believe in anchoring words to fixed meanings. I deeply regret that I am not one of these. That is the best way to be stationary, no doubt. But, nevertheless, I believe in mooring our words by certain applications and letting them change their meaning as our conceptions of the things to which we have applied them progresses“ (Peirce, Writings I, 58). Man beachte die typisch pragmatistische Referenz auf dynamische Prozesse, die das asymptotische Zustreben auf eine ‚wahre‘ Klassifikation nicht ausschließt. Der erwähnte Sir William Hamilton (1788–1856), Inhaber des Lehrstuhls für Logik und Metaphysik an der Universität Edinburgh, förderte übrigens die Verbreitung der Lehren Kants in der britischen Philosophie.
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während seiner Verbrennung weniger Hitze abgibt, als jede andere Kohlenart abgegeben haben würde. Von einigen dieser Eigenschaften glaubt man, daß sie untrennbar mit Härte verbunden seien. Denn wie diese sind sie für die hohe Polymerisation des Moleküls kennzeichnend. Aber wie das auch sein mag, wie sollte es möglich sein, daß durch die Härte, die alle anderen Diamanten besitzen, nicht irgendeine reale Relation unter den Diamanten angezeigt wird, ohne die ein Stück Kohle kein Diamant sein würde? Ist es nicht eine monströse Verkehrung des Wortes und Begriffes real, zu sagen, der Zufall, daß der Diamantspat nicht rechtzeitig eintraf, habe die Härte des Diamanten daran gehindert, die Realität zu haben, die sie fast ohne Zweifel im entgegengesetzten Falle gehabt hätte? (Peirce 1905b, 471 f., CP 5.457)
Hiermit ist der Versuch angedeutet, die nur dispositionelle Eigenschaft der Kratzfestigkeit des Diamanten auf wissenschaftlich respektablere Eigenschaften zurückzuführen: „aus Kohlenstoff bestehend“, „von geometrisch regelmäßiger, kristalliner Struktur“ und „hochpolymer“. Diese Reduktion auf Eigenschaften, deren Wirklichkeit unkontrovers ist, scheint Peirces realistischer Einstellung gegenüber Possibilia allerdings wieder etwas die Pointe zu rauben, da diese durch eine erfolgreiche Reduktion ja als prinzipiell verzichtbar erwiesen werden könnten. Für uns ist die metatheoretische Frage von Interesse, ob es sich bei Peirces Wandlung um eine Meinungsänderung (Theorienänderung) handelt, oder ob wir ‚nur‘ mit einer Änderung von Peirces Gebrauch solcher Worte wie „real“, „wahr“ und „Bedeutung“ konfrontiert werden. Es ist instruktiv, Peirces Pragmatische Maxime auf seine eigene Theorienbildung anzuwenden. Gut pragmatistisch müssen wir uns also die Frage stellen, welchen Unterschied es für Peirce macht, ob er im Diamantenbeispiel für Unstimmigkeiten in der Sprache (1878) oder für Unstimmigkeiten in der Theorie (1905) plädiert. Man könnte konstatieren, daß hier ganz offenbar eine Wende von einer instrumentalistischen hin zu einer realistischen Position vollzogen wurde, aber diese theoretisierende Antwort verschiebt die Frage nur und beantwortet sie nicht. Welchen praktischen Unterschied macht denn diese Wende? Ich sehe keinen. Die Pragmatische Maxime verbietet uns, Unterscheidungen zu treffen, die keine Unterschiede in der Praxis machen. An diesem Maßstab gemessen hat unsere Diskussion in diesem und dem vergangenen Abschnitt ergeben, daß keine klaren praktischen Unterschiede zwischen Unstimmigkeiten der Bedeutung und Unstimmigkeiten der Meinung zu erkennen sind. Hiermit ist nicht nur Peirces Wende, sondern auch der Lösungsversuch in Rott 2004 in Frage gestellt.
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6. Schluß Wir kommen schließlich – nachdem wir ein oder zwei Runden in der Überlegungsspirale durchlaufen haben – einer Position nahe, die bereits Mitte der 70er Jahre in einigen höchst einflußreichen Artikeln eingenommen worden war. Mit einem Schuß Übertreibung interpretierte Hilary Putnam (1975b, 76) nicht nur Quines „Zwei Dogmen des Empirismus“, sondern dessen gesamtes bis dahin vorliegendes Werk als Angriff auf genau die Unterscheidung, um die es uns in diesem Artikel gegangen ist: Wenn Quine einen entscheidenden Beitrag zur Philosophie geleistet hat, dann ist es die Erkenntnis, daß sich Bedeutungsänderungen und Theorieänderungen nicht scharf trennen lassen. Ich glaube zwar nicht wie Quine, daß sich überhaupt nicht definieren lasse, was eine Bedeutungsänderung ist; doch folgt daraus keineswegs, daß die Dichotomie „es hat sich entweder etwas an der Bedeutung oder etwas an der Theorie geändert“ haltbar wäre.
Im Resultat ganz ähnlich lautete die Schlußfolgerung des ebenso schwierigen wie tiefgründigen Aufsatzes „Was ist eigentlich ein Begriffsschema?“ von Donald Davidson (1986, 280 f.): Das Maximum an Sinn erzielen wir in bezug auf die Wörter und Gedanken anderer, wenn wir so interpretieren, daß Einigkeit optimiert wird (was, wie gesagt, Raum einschließt für erklärbare Irrtümer, mithin für Meinungsverschiedenheiten). Wie steht es dementsprechend mit der Frage des Begriffsrelativismus? Die Antwort lautet meines Erachtens, daß wir über Unterschiede im Begriffsschema so ziemlich das gleiche sagen müssen, was wir auch über Unterschiede in der Überzeugung sagen: Wir steigern die Klarheit und Schärfe der Unterschiedsbekundungen – seien es Unterschiede des Schemas oder der Meinung –, indem wir die Basis der gemeinsamen (übersetzbaren) Sprache bzw. der geteilten Meinungen vergrößern. Eine klare Grenze zwischen diesen Fällen ist eigentlich nicht zu erkennen. Wenn wir beschließen, einen Satz der Fremdsprache, der von ihren Sprechern abgelehnt wird, durch einen Satz zu übersetzen, dem wir auf Gemeinschaftsbasis in hohem Maße beipflichten, sind wir vielleicht versucht, dies einen Unterschied der Schemata zu nennen; wenn wir entscheiden, die Belege in anderer Weise unterzubringen, mag es natürlicher sein, von einer Meinungsverschiedenheit zu reden. Doch wenn andere anders denken als wir, kann weder ein allgemeines Prinzip noch Berufung auf Belege uns zu der Entscheidung zwingen, der Unterschied liege nicht in unseren Begriffen, sondern in unseren Überzeugungen.
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Es spielt offenbar keine Rolle, ob wir uns mit dem Fall beschäftigen, in dem ein unbeteiligter Dritter versucht, eine Unstimmigkeit zwischen zwei Positionen zu interpretieren, oder ob der Interpret selbst zum Zeitpunkt des Interpretierens eine der beiden gegenüberstehenden Positionen vertritt und damit für eine der beiden Seiten die Perspektive der ersten Person einnimmt. Wichtig ist, daß es für Davidson keine klare Trennlinie zwischen dem Wechsel von begrifflichem Schema (in unserer Terminologie: einer Unstimmigkeit von Bedeutungen) und dem Wechsel von Inhalt (in unserer Terminologie: einer Unstimmigkeit von Meinungen) gibt, und dies aus zweierlei Gründen. Erstens können im Prozeß der Interpretation der anderen Position (bzw.: der beiden Positionen) verschiedene Strategien der ‚Übersetzung‘ gewählt werden, die Sätze verschiedener Wichtigkeit18 ändern. Zweitens scheint Davidson hier auch keine großen Bedenken zu haben, den Wechsel festverwurzelter Sätze als einen Wechsel des Begriffsschemas zu bezeichnen – solange dies gleichsam unverbindlich, ohne großen erkenntnistheoretischen Anspruch geschieht. Wie fest verwurzelt ein Satz sein muß, damit eine solche Benennung sinnvoll ist, liegt im Ermessen des Interpreten und ist nicht scharf definierbar. In einem späteren Artikel erkennt Davidson (1995, 214–217) die Möglichkeit von Bedeutungswandel bei der Änderung eines Überzeugungssystems einerseits an, beschreibt andererseits (unter Verwendung zweier Metaphern), wie es auch in seinem wesentlich holistischen Ansatz möglich ist, daß Bedeutungen bei Überzeugungsänderungen stabil bleiben. Hiermit sucht er nicht nur explizit die in der Einleitung zitierte Invarianzbedingung Putnams zu erfüllen, sondern er macht sich auch deren Voraussetzung zu eigen: daß es zumindest in heuristischer Redeweise möglich ist, Fragen der Bedeutung (das, was Überzeugungen identifiziert und individuiert) von Fragen der Überzeugungsänderung abzutrennen.19 Unklar bleibt aber, welche Tragweite diese relativ wenig prominente Stelle innerhalb Davidsons Werk hat. Am Ende bleibt Skepsis. Skepsis auch und vor allem meinem eigenen Vorschlag in Rott 2004 gegenüber. In jenem Aufsatz versuchte ich, eine im wesentlichen von Quine inspirierte Analyse der Bedeutung theoretischer Begriffe 18 Davidsons Worte „in hohem Maße beipflichten“ (im Original „strongly attached“) erinnern sehr an den oben erwähnten Begriff der epistemischen Verankerung. 19 Es ist nicht leicht, die Metaphern Davidsons (1995) sinnvoll aufzulösen. In der ersten Metapher entsprechen wohl die (absoluten Positionen der) Knoten in einem Spinnennetz einzelnen Überzeugungen und die Fäden inferentiellen Verbindungen. In der zweiten Metapher scheint Davidson Überzeugungen durch die Positionen der Passagiere relativ zum Schwerpunkt eines Flugzeugs repräsentieren zu wollen. Davidsons Punkt ist es in beiden Versionen, daß die Änderung einer einzelnen Überzeugung nicht notwendig alle Überzeugungen ändern muß, weil kompensatorische Änderungen möglich sind. Eine gewisse Schwierigkeit in Davidsons Darstellung besteht darin, daß Überzeugungen hier über einen externen Referenzpunkt, an anderer Stelle des Artikels jedoch über die relativen Positionen der Überzeugungen zueinander identifiziert werden.
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und, damit eng zusammenhängend, analytischer Sätze zu geben, ohne mir die Quinesche Radikalkritik an der analytisch–synthetisch-Unterscheidung zu eigen zu machen. Mein Vorschlag hatte eine Fundierung in Prozessen der Änderung von Korpora, denen – neben einer technischen Modellierung durch Relationen der ‚Verankerung‘ – grundlegende Urteile darüber beigesellt werden müssen, ob es sich bei einer gegebenen Unstimmigkeit um Sprachwandel (d. h. Bedeutungswandel) oder lediglich um Theorienwandel innerhalb einer Sprache handle. Meine Hypothese war, kompetente Sprecher und Theoretiker würden ein sicheres intuitives Vermögen besitzen, das ihnen auf valide Art und Weise zwischen Sprach- und Theorienwandel zu unterscheiden erlaubt. Die in diesem Aufsatz entwickelten, mit Peirces Pragmatischer Maxime zugespitzten Gedanken lassen diese Hypothese als allzu optimistisch erscheinen.
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Unstimmigkeiten
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