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German Pages 144 [152] Year 1951
NICOLAI
HARTMANN
TELEOLOGISCHES
DENKEN
TELEOLOGISCHES DENKEN VON
NICOLAI HARTMANN
WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP.
BERLIN 1951
Archiv-Kummer 4253 51 Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35. Druck von Thormann & Goetsch, Berlin
Vorwort Daß dieses Buch sich gegen gewisse Machenschaften der Metaphysik wendet, der alten sowohl wie mancher neuen, brauche ich nicht besonders zu rechtfertigen; man wird die hier ans Licht gezogenen Fehler und Vorurteile wohl im ganzen zugeben und ihre Bekämpfung gerechtfertigt finden, wennschon sie im Denken unserer Zeit keineswegs ausgestorben sind. Daß es aber hierbei um den eigentlichen Kernpunkt alter und neuer Metaphysik geht, auch derjenigen, die nicht diesen königlichen Titel führt — um einen Punkt, der auch von kritischen Köpfen schwerlich jemals ganz als solcher erkannt worden ist —, muß ich besonders aussprechen. Denn das ist es, was viele der Heutigen teils noch nicht, teils nicht mehr wissen, wiewohl ein stiller und zäher Kampf darum das spekulative Denken von jeher begleitet hat. Ist es doch so geworden, daß auch diejenigen, die es aus ihrer Geschichts- und Gegenwartskenntnis sehr wohl wissen, es doch nicht recht glauben wollen und gerne achtlos beiseite schieben. Wie sehr vollends ihr eigenes Denken immer noch teleologisch gefangen ist, ahnen vielleicht nur die wenigsten. Denn darin ändern sich die Menschen mit den Zeitaltern nur wenig; sie wählen sich nach wie vor ihr Weltbild nicht so sehr nach Vernunft und Einsicht, als nach ihren Wünschen und Sehnsüchten. Die traditionelle Metaphysik ist oft auf ihre großen Leitgedanken hin dargestellt, oft auf ihre Fehler hin kritisiert worden; aber sie wurde dabei nicht auf ihr innerstes treibendes Motiv hin untersucht. Ich erblicke ein solches in dem unwiderstehlichen Zuge zur Teleologie, der wie Proteus in ungezählten Gestalten sich birgt, oft nur schwer wiedererkennbar und doch immer der gleiche bleibend. Von den Gestalten freilich sollen hier nur die repräsentativen berücksichtigt werden. Der Nachdruck der Untersuchung liegt auf den Triebfedern oder „Motiven" dieses unwiderstehlichen Zuges selbst. Der zentrale Gedanke der Arbeit liegt in der Kategorialanalyse der Finalität. Sie war deswegen ursprünglich als ein Teil der speziellen Kategorienlehre (Naturphilosophie) gedacht. Aus diesem Zusammenhang mußte ich sie herauslösen, weil ihr Problemhorizont weit über den der Naturkategorien hinauswuchs. Doch bleibt die Herauslösung ein Kompromiß : eine einzelne Kategorie läßt sich aus dem Verbände der übrigen nicht losreißen. Daher die Notwendigkeit der zahlreichen Verweisungen auf anderweitig Gesagtes. Berlin, im Oktober 1944*
Nicolai H a r t m a n n
* Das Manuskript lag seit 1944 druckfertig vor, sollte aber erst nach Erscheinen der „Philosophie der Natur" veröffentlicht werden. Es wird hier unverändert aus dem Nachlaß herausgegeben.
Inhalt Einleitung 1. Vorsehungsglaube und Metaphysik 2. Finalität als Bewußtseinskategorie 3. Unterstellung der Finalität für andere Kategorien 4. Die drei Grundformen der Teleologie 6. Transzendentaler Schein
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1. Kapitel. Motive des naiven Bewußtseins a) Die Sprache und der Alltag b) Ablehnung des Sinnlosen c) Ablehnung des Zufalls d) Unbewußte Vermenschlichung e) Die vermeintlich unbewußte Zwecktätigkeit
12 12 13 15 16 17
2. Kapitel. Motive des wissenschaftlichen Denkens a) Art und Auswahl der Phänomene b) Verwechselung von Kausal- und Finalverhältnis c) Umkehrung des Verhältnisses in der Theorie d) Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit e) Fehlurteile im Streit der Theorien
18 18 19 21 23 25
3. Kapitel. Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens . . 27 a) Unbemerkte Übertragung der höheren Kategorien 27 b) Der Schluß aus falscher Alternative 29 c) Begriffliche und methodologische Täuschungen 30 d) Die Metaphysik des „Verstehens" 32 e) Die Geschichtsteleologie 34 4. Kapitel. Populärmetaphysische Motive a) Gottesbegriff und Weltordnung b) Die Metaphysik des Pantheismus c) Schicksalsidee und Theodizeeproblem d) Der physikoteleologische Schein
35 35 37 39 40
5.Kapitel. Spekulativ-metaphysische Motive a) Formenteleologie und Idealismus b) Descartes und Kant c) Unklarheit in der Geschichte des Kausalitätsbegriffs d) Die Auswirkung der Lehre von Potenz und Aktus e) Die Unbegreiflichkeit des Hervorbringens im Kausalverhältnis . .
42 42 45 46 48 51
6. Kapitel. Weitere spekulativ-metaphysische Motive a) Typologie und Teleologie b) Verkappte Teleologie im Gedanken der Weltganzheit c) Das metaphysische Bedürfnis nach einer Garantie des Sinnes . . d) Der Wertrealismus und die Metaphysik der Werte e) Der ethische Wertrealismus f) Besorgnisse um die Willensfreiheit
53 53 55 56 58 60 61
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Inhalt
7. K a p i t e l . K a t e g o r i a l a n a l y s e d e s F i n a l n e x u s a) Einteilung der Aufgabe b) Die unvollständige Finalanalyse des Aristoteles c) Die drei Akte des Finalnexus und ihr inneres Verhältnis d) Finalität als Überformung der Kausalität e) Der Grund der äußeren Ununterscheidbarkeit f) Beschluß der Finalanalyse
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8. K a p i t e l . E r g ä n z u n g e n z u r F i n a l a n a l y s e a) Das intuitive Denken in der Zwecktätigkeit b) Finalität als Auffassungskategorie c) Finalität als Realkategorie d) Praktischer und methodologischer Sinn der Finalisierung e) Sinn und Grenzen des Stufenarguments f) Scheinbare und wirkliche Übergangsformen
76 76 78 80 81 84 86
9. K a p i t e l . Z w e c k m ä ß i g k e i t u n d Z w e c k t ä t i g k e i t a) Gründe der fehlerhaften Alternative b) Die Zweiheit der Aspekte im Problem des Lebendigen c) Einschläge des Irrationalen im Organischen d) Die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen e) Gegen den Geschichtsteleologismus
89 89 90 92 94 98
. . . .
10. K a p i t e l . Die g e i s t m e t a p h y s i s c h e n A r g u m e n t e 100 a) Richtigstellung verschobener Modalbegriffe 100 b) Metaphysik der Umkehrung und Irrationalität des Hervorbringens 102 c) Zur Metaphysik des „Sinnverstehens" 103 d) Der Fehler im Typenargument 105 11. K a p i t e l . D i e e i g e n t l i c h e n S i n n - u n d W e r t a r g u m e n t e . . . . a) Metaphysisches Einheits- und Sinnbedürfnis b) Das große Vorurteil der Sinnmetaphysik c) Zum Verhältnis von Wertgehalt und Zwecktätigkeit d) Zum Argument des ethischen Wertrealismus e) Aufhebung der metaphysischen Wertalternative f) Die Verbindlichkeit sittlicher Normen
107 107 110 112 114 116 117
12. K a p i t e l . T e l e o l o g i e u n d W i l l e n s f r e i h e i t a) Negative und positive Freiheit b) Offenheit und Überformbarkeit des Kausalnexus c) Kausaldeterminismus und Finaldeterminismus d) Das Fiasko des Finaldeterminismus
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13. K a p i t e l . V o r d e r g r ü n d e u n d H i n t e r g r ü n d e a) Vulgäre Motive, nüchtern gesehen b) Die Flucht vor dem Sinnlosen und Zufälligen c) Anthropozentrismus und Anthropomorphismus d) Schicksalsidee und Vorsehungsglaube e) Anpassung und Formenteleologie
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Einleitung 1. Vorsehungsglaube und Metaphysik Im Anfang des menschlichen Denkens war der Zweck. Götter schufen die Welt, wie der Mensch Menschenwerke schafft, um etwas zu schaffen. Sie planten, richteten ein, fügten und trennten nach ihrem Ratschluß und in den Grenzen ihres Könnens, wie der Mensch in den Grenzen des seinen. Was die Naturmächte im Menschenleben bewirken, war auf den Menschen abgesehen. Der Regen, der seinen Acker grünen läßt, der Wind, der sein Schiff heimwärts führt, ist die Gunst höheren Willens; die Dürre, an der die Saat verdirbt, das Unwetter, das ihn verschlägt, ist die Ungunst unerforschlicher Absicht. Und erscheint dem Menschen in Krieg und Zerstörung die Sinnlosigkeit des Geschehens handgreiflich, so bekennt er doch ergeben, wie Homer im Eingang der Ilias: Διός δ'έτελείετο βουλή. Das ist teleologisches Denken. Und zwar schon nicht mehr ein ganz naives, sondern bereits ein weltanschaulich geformtes. Der Mensch sieht in den über ihm waltenden Mächten das ihm Verwandte, ihm Ähnliche. So gewinnt das Geschehen, in das er sich hineingerissen sieht, ihm einen Sinn, der auch bestehen bleibt, wo er ihn nicht faßt. Irgendwo müssen Absichten verborgen sein, die auch ihn betreffen. Gegen sie anzukämpfen, ist sinnlos. Der Mensch begeht zwar immer wieder den Fehler, es zu tun. Aber er ist unweise in solchem Tun. Ein Schicksalsglaube bildet sich heraus: alles, was geschieht, ist vorbestimmt. Das ist schon nicht mehr einfach teleologisches Denken, sondern Vorsehungsglaube. Nicht alles mythische und selbst nicht alles religiöse Denken ist von dieser Art. Die Welt kann dabei auch so gedacht sein, daß die Götter in ihr mit einem Chaos ringen, einer Vorwelt der Unordnung und der Planlosigkeit, die sie mit ihrem Walten nur teilweise überwinden. Auch dann aber bleibt der Mensch den überlegenen Zwecken ihres Waltens unterworfen und tut gut, sich mit ihnen ins Einvernehmen zu setzen. Wo solche Weltanschauung in klare, bewußte Form eingeht und philosophisch zu werden beginnt, tendiert sie schon um der eigenen Einheit und Konsequenz willen zum Vorsehungsgedanken. Und erst auf dieser Stufe wird der Rest des Chaotischen aus der gegebenen Welt verdrängt, und die Vorstellung einer zweckgeleiteten Gesamtordnung beherrscht das Ganze. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß die Geschichte der Metaphysik nahezu eine einzige, geschlossene Reihe teleologischer Systeme bildet. Der Einschlag des Anthropomorphismus ist dabei sehr verschie1 Hartmann, Teleologie
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Einleitung
den, genau so wie die Nähe oder Perne zum mythischen und religiösen Denken. Aber im Grundsätzlichen der Teleologie macht das nur einen geringen Unterschied aus. Ob man sich die zwecksetzende Macht mehr personalistisch als Weltvernunft oder mehr unbestimmt als zielgeleitete Weltordnung denkt, ob man ihr Prinzip in oder außer der Welt sucht, es für faßbar und angebbar oder für verborgen und geheimnisvolljenseitig hält, ändert am Grundschema des Weltbildes und an der von ihm bestimmten Lebensauffassung wenig. In dieser Hinsicht stehen die verschiedenen Abarten des Theismus, Deismus, Pantheismus, Panentheismus, des Emanatismus, Evolutionismus und Vernunftidealismus dicht beieinander, von den zahllosen Ismen sekundären Typs gar nicht zu reden. Von der Teleologie der Systeme wird noch manches zu sagen sein. Sie ist nicht überall dieselbe, sie ist fast so mannigfaltig wie die Weltbilder. Und für die genauere Beurteilung des teleologischen Denkens sind die Abarten als solche nicht unwichtig. Vor der Hand aber genügt es, auf das Gemeinsame in ihnen aufmerksam zu sein. Die geschichtliche Linie, die sie bilden, ist indessen keine stetige. Zweimal im Laufe der Zeiten haben sich bedeutende Ansätze kausalen Denkens dazwischengedrängt. Das erstemal geschah es bei den Griechen in der vorsokratischen Philosophie, das zweitemal, als im neuzeitlichen Denken der große Aufschwung der exakten Wissenschaften einsetzte. In der Antike führte das nur bis zur Atomistik und versandete dann im Materialismus ; im 17. Jahrhundert drang es nur teilweise bis in die Metaphysik durch, und selbst das biologische Denken blieb unberührt davon. Beide Male wurden die neuen, nüchternen Ansätze von der Macht und dem Glänze teleologischen Denkens überboten und verdrängt. Wir stehen heute zum dritten Male vor der Entscheidung. Die Gefahren sind nach beiden Seiten die alten: das Falschspiel materialistischer Vereinfachung auf der einen, das nicht geringere der teleologischen Spekulation auf der anderen Seite. Nur klare Durchleuchtung der weltanschaulichen Motive und kategoriale Kritik der Voraussetzungen kann uns davor bewahren, daß wir ein drittesmal den Weg unter den Füßen verlieren. 2. Finalität als Bewußtseinskategorie Die Kategorien der realen Welt, in der wir leben, sind nicht durchgängig identisch mit den Kategorien unseres Verstandes und unserer Anschauung. Die ersteren stehen fest, solange die Welt dieselbe bleibt; die letzteren wandeln sich geschichtlich ab. Was in der Welt kausal determiniert ist — und das ist in der anorganischen Natur wohl alles Geschehen —, braucht deswegen doch nicht als kausal determiniert erkannt zu sein. Sofern wir es aber trotzdem als einem Zusammenhange unterworfen auffassen, stellen wir es anderweitig determiniert vor. Die Rolle solcher anderweitiger Determination in unserer Vorstellungsweise
Einleitung
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hat ohne Zweifel die längste Zeit das Verhältnis von „Mittel und Zweck" gespielt. Der Kausalität als Realkategorie der Naturvorgänge stand die „Finalität" (Zweckläufigkeit) als Verstandeskategorie gegenüber. Im Reich der Kategorien ist das kein vereinzelter Fall. Auch Raum und Zeit sind als Anschauungskategorien nicht identisch mit dem Realraum und der Realzeit; und vollends vom dynamischen Gefüge hat das naive Bewußtsein überhaupt keine Vorstellung. Von der Naturgesetzlichkeit im strengen Sinne wußte man bis auf die Neuzeit auch in der Wissenschaft nichts, und von den Kategorien des Organischen (und vollends des Seelischen) fehlen unserem Denken wohl bis heute noch die wichtigsten. Dafür gibt es untrügliche Anzeichen. Im Falle der Kausalität nun bedeutet diese kategoriale Diskrepanz, daß an ihrer Stelle die Finalität sich im menschlichen Welt- und Gegenstandsbewußtsein vordrängt. Im Maße ihres Sich-Vordrängens ist denn auch die Anpassung des Erkenntnisapparates an den Realgegenstand gestört; denn intakt besteht sie nur dort, wo die Erkenntniskategorien den Seinskategorien wirklich entsprechen. Diese Störung ist zwar im wissenschaftlichen Bewußtsein unserer Zeit teilweise behoben. Im erlebenden und praktisch urteilenden Bewußtsein hat sie aber immer noch weitgehend die Vorherrschaft. Die Finalität funktioniert dort wie eine legitime Erkenntniskategorie, d. h. sie tritt mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit (des Zutreffens auf den Gegenstand) auf. Das ist begreiflich, weil das erlebende Bewußtsein sich über seine Kategorien keine Rechenschaft gibt. Erstaunlicher aber ist es, daß auch das philosophische Bewußtsein weithin vom finalen Denken beherrscht ist. Denn hier ist das wissenschaftliche Bewußtsein mit seiner weit kritischeren Haltung vorausgegangen und hat bereits gegen die Teleologie des naiven Denkens eine gewisse Distanz geschaffen. Daß die spekulativen Systeme fast alle teleologisch aufgebaut sind, — wenn auch nicht immer in ausgesprochener Weise, so doch um so mehr verkappt oder gar ihnen selbst unbewußt —, hat offenbar noch seine besonderen Gründe, die man im Wesen des spekulativen Denkens selbst suchen muß. Dieses Denken eben hat den Drang zur Einheit, Ganzheit und Überschau, die Zweckvorstellung aber gibt mit spielender Leichtigkeit faßliche Einheitsaspekte, wo die Phänomene sonst in verwirrender Mannigfaltigkeit zerfließen und das kausale Denken nur vereinzelte Fäden bestehender Zusammenhänge erfaßt. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß Finalität in erster Näherung sich als Umkehrung der Kausalität darstellt, nämlich als die zeitliche Umkehr der Dependenzrichtung im Prozeß: Abhängigkeit des Früheren vom Späteren. Das bedeutet nicht nur die Umkehrung des Kausalnexus, sondern auch der Zeitfolge. Und da die Zeitfolge in Wirklichkeit durch keine Macht der Welt umgekehrt werden kann, so muß man vielmehr sagen: der Finalnexus ist eine Determination, welche der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft. Die Prozeßstadien werden hier nicht rechtläufig durch das bereits Gewordene, 1*
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sondern rückläufig von einem Endstadium her bestimmt, auf das es in dem Prozeß „abgesehen" ist, dem alles in ihm als Mittel „dient", und auf das er hintendiert wie auf einen magnetischen Pol. Dieses Endstadium ist dann eben der „Zweck", um dessentwillen die Reihe der Stadien da ist, das τέλος — was zugleich Ende und Vollendung bedeutet. Wo es sich um das Verständnis komplexer Gebilde handelt, die in einem entsprechend komplizierten Prozeß Zustandekommen, da ist die Finalerklärung erheblich im Vorteil. Das kausale Denken muß mühsam die verstreuten Ursachen zusammensuchen, aus denen gerade so ein Gebilde sich ergeben konnte; das finale Denken überspringt diese ganze, unabsehbare Aufgabe, es setzt beim anderen Ende ein, beim gegebenen Resultat, erklärt es für den Zweck des Geschehens und kann dann voraussetzen, daß sich die „Mittel" für diesen Zweck eben zusammenfinden „mußten", weil der Zweck sie „forderte" — gleichgültig dagegen, wie weit verstreut im Zusammenhang des Weltgeschehens die einzelnen Komponenten liegen mögen. So kommt ohne Schwierigkeiten ein Einheitsbild zustande, während im kausalen Denken die Ursachenketten nach rückwärts divergierend ins Unendliche führen und alles Fortschreiten in ihrer Verfolgung die Mannigfaltigkeit nur weiter anwachsen, die Einheit aber immer mehr verschwinden läßt. Die mißliche Kehrseite dabei ist nur die einmal gemachte Voraussetzung: die gegen den Fluß der Zeit und der Prozesse gehende Rückläufigkeit der Determination selbst. Hier gilt das Gegenwärtige als bestimmt durch das Zukünftige (das noch nicht Gewordene), das Vergangene durch das Gegenwärtige, „um dessentwillen" es schon in seinem Zeitpunkte so sein mußte, wie es war. Dabei wird denn das noch ungewordene Künftige als irgendwie schon im Gegenwärtigen „enthalten" oder „wirksam" vorgestellt; das Spätere greift dem Früheren vor, das Irreale (das auch noch anders ausfallen kann) dem Realen, das schon voll bestimmt ist. Das, was nur in Gedanken vorweggenommen werden kann, wird ohne ein Denken als vorweg bestehend vorausgesetzt. Und dem entspricht sehr genau der Begriff der „Entwicklung", der hier in der Regel unbesehen eingesetzt wird. Er bedeutet eben dieses Verhältnis, daß ein vorbestimmtes Endstadium von vornherein in den Prozeßstadien „eingewickelt" enthalten ist und deren Abfolge laufend als „Zweckursache" (causa finalis) determiniert. So wenigstens ist es im eigentlichen und streng verstandenen Entwicklungsbegriff, in dem der Wortsinn des „Auswickeins" noch nicht verblaßt ist. Das Kausalschema ist hierbei offenbar auf dieselbe zeitliche Abfolge der Stadien, der es rechtläufig zukommt, umgekehrt (rückläufig in der Zeit) übertragen. Der Komplementärbegriff der Entwickelung ist daher der des „Angelegtseins" auf das Endstadium, oder schlechthin der „Anlage" (δύναμη, potentia).
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3. Unterstellung der Finalität für speziellere Kategorien Mittelbar aber tritt das Finalschema im Denken nicht nur der Kausalit ä t entgegen, sondern auch den höheren Determinationsformen, wie wir sie schon unter den Naturkategorien antreffen: der Wechselwirkung, der Zentráldetermination und der Ganzheitsdetermination, ja in gewissen Grenzen sogar der Naturgesetzlichkeit überhaupt. Was die letztere anlangt, so ist es an ihr am leichtesten zu sehen. Gesetzlichkeit in der Natur ist die Gleichartigkeit der Prozeßabläufe, das real Allgemeine in ihnen. Diese Gleichartigkeit kannte man schon lange vor dem Aufkommen des Gesetzesgedankens. Das antike Denken faßte sie als die Identität der Seinsformen, aber es verstand diese Formen als Zwecke, auf welche die Prozesse hinauslaufen mußten. Und weil sie beharrten, während die Dinge, in denen sie sich realisieren, entstehen und vergehen, nannte man sie Formsubstanzen. Gegen diese Formsubstanzen hat dann im ausgehenden Mittelalter das beginnende kausale Denken den Kampf geführt. Das Resultat war der Begriff des Naturgesetzes. In ihm lebt der alte Grundgedanke von der Gleichförmigkeit der Naturabläufe fort ; er beruht nur jetzt auf einer anderen kategorialen Grundlage : auf der mathematischen Determination der Größenverhältnisse und der unverbrüchlichen Gleichheit der Wirkungen gleicher Ursachen. Die Wechselwirkung besteht im Sichkreuzen der mannigfaltigen Ursachenmomente in der Gleichzeitigkeit. I n diesem Sichkreuzen kommen die Gefüge zustande, die wir im Resultat als Naturgebilde kennen. Geht man von diesen Resultaten aus, so ist die einfachste Erklärungsweise ihres Zustandekommens wiederum die teleologische: das Geflecht der Ursachenmomente, welches sie zuwege bringt, wird als Mittel zum Zweck ihres Zustandekommens gedeutet, und man ist des mühevollen Verfolgens der rückwärts in infinitum verlaufenden Kausalfaden überhoben. Bei der Zentraldetermination haben wir es mit einer Überformung des Kausalnexus zu tun. Das Grundschema bleibt auch in ihr das Verhältnis von Ursache und Wirkung, nur die besondere Art der Ursachenkollokation ist eine eigene. Darum wird sie leicht übersehen. Man stößt aber auf sie, wenn man das Ineinanderstecken der verschiedenen Größenordnungen des dynamischen Gefüges verfolgt. Es zeigt sich hier, daß nicht behebige größere Gefüge sich aus beliebigen kleineren bilden, sondern nur bestimmte aus bestimmten : so etwa die Moleküle bestimmter chemischer Verbindungen nur aus Atomen bestimmter Struktur, aber auch Planetensysteme nur im Gravitationsfelde von Zentralkörpern bestimmter Masse und Mächtigkeit. Das Gesetz, das hierbei herrscht, kann man dahin formulieren, daß die Außenkräfte der Elemente zu Innenkräften der sich aus ihnen bildenden Gefüge werden; was wiederum bedeutet, daß über jeder Art von kleineren dynamischen Gefügen nur solche größere Gefüge sich bilden können, in welchen die Außenkräfte
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der ersteren die Rolle von aufbauenden Innenkräften übernehmen. Wie nun das finale Denken aus der allgemeinen Wechselwirkung ein „Hinstreben" aller Prozeßkomponenten auf eine Gesamtresultante macht, so verfahrt es auch bei der Zentraldetermination. Es versteht die Einfügung von Außenkräften der kleineren Gefüge in den Aufbau der größeren als ein Hinstreben jener auf diese, wobei dann die Elemente mitsamt ihren Kraftfeldern als Mittel zum Zweck des Auf baus der Gefüge dastehen und nun ihrerseits durch die in ihnen wirksame Tendenz, die Gefüge hervorzubringen, erklärt werden. Man faßt also das dynamische Gleichgewicht, in dem die Gefüge bestehen, als einen Zustand, auf den die Elemente „hinstreben". Dann ist der ganze Stufenbau der Natur teleologisch von oben her determiniert, und das Ineinander der Gefüge müßte bedeuten, daß die größeren Gefüge in den kleineren als „Anlage" vorbestimmt sind. Ganz ähnlich geschieht es auch mit der Ganzheitsdetermination. Sie besteht, ontologisch verstanden, ganz einfach darin, daß bestimmte Gefüge sich nur innerhalb von Verbänden höherer Größenordnung bilden können, also — umgekehrt wie bei der Zentraldetermination — die Innenkräfte der größeren Gefüge bereits zu ihrem Aufbau benötigen. So können ζ. B. Kristalle sich nur in bestimmten Schichten erkaltender Himmelskörper unter bestimmten Druck- und Temperaturverhältnissen bilden. Das finale Denken dreht auch hier den Sinn der Abhängigkeit um: es läßt die größeren Gefüge den Zweck verfolgen, die kleineren hervorzubringen; es schreibt ihnen eine Entwicklungstendenz in Richtung auf die letzteren zu, als trügen sie die „Anlage" zum Hervorbringen in sich. Diese Deutung erweist sich dann als ein Schachzug von größter Tragweite, denn unter die Gefüge mittlerer Größenordnung, die weitgehend durch die Innenverhältnisse von Gefügen höherer Größenordnung bedingt sind, gehören auch die Organismen. Man bekommt also durch diese Art von Teleologie nichts Geringeres als ein Angelegtsein ganzer kosmischer Systeme auf die Entstehung lebender Wesen — und mittelbar des Menschen — auf der Erde heraus. Wollte man das im heutigen Stadium der Forschung ernst nehmen, man bekäme ein Weltbild von geradezu phantastischer Einheitlichkeit, aber auch entsprechend phantastischer Haltlosigkeit heraus. Den Gipfel aber erreicht die Unterstellung finaler Vorstellungsweise erst, wo das kosmologische Denken dem biologischen weicht. Nicht die dynamischen, sondern die organischen Gefüge sind es, in denen die Kategorie der Ganzheitsdetermination die vorherrschende Stellung gewinnt ; und sie sind es, an denen das Verhältnis der Zweckmäßigkeit als ein ihnen von Grund aus wesentliches in die Augen springt. An ihnen also setzt erst die unwiderstehliche Tendenz des Bewußtseins ein, Zweckmäßigkeit in Zweckläufigkeit und Zwecktätigkeit umzudeuten. Das aber ist ein besonderes Kapitel, das keineswegs bloß das philosophisch-weltanschauliche Denken, sondern nicht weniger auch
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das positiv wissenschaftliche betrifft. Von ihm wird noch, besonders zu handeln sein. An diesem Problembereich scheiden sich radikal die Wege von phänomengerechter Ontologie und spekulativer Teleologie. 4. Die drei Grundformen der Teleologie Die Finalität ist im Bewußtsein eine hybride Kategorie. Sie hat die Tendenz, sich überall einzudrängen, wo das Denken auf Determinationsformen stößt, die es einstweilen nicht zu durchschauen vermag. Daß einzelne Kategorien sich im Denken vordrängen und gleichsam tyrannisch werden, ist eine wohlbekannte Tatsache; man denke etwa an die Substanz und an die Tendenz des unkritischen Bewußtseins, alles zu substantialisieren, was eine gewisse Geschlossenheit und Dauer zeigt. Bei der Finalität aber kommt zu dieser expansiven Tendenz noch die Fähigkeit, Lösungen alter metaphysischer Rätsel vorzutäuschen und mit einem Wurf große Mannigfaltigkeiten im Lichte einer einfachen Einheit übersehbar erscheinen zu lassen. So ist denn das Verständnis des ganzen kategorialen Aufbaus der Natur durch das finale Denkschema in Frage gestellt. Diese Bedrohung reicht tief bis in das Denken des Alltags hinein; auch hier, wo es sich keineswegs um die großen Rätselfragen der natürlichen Ganzheiten handelt, neigt das Bewußtsein dazu, die größeren Zusammenhänge unter Finalgesichtspunkten zu sehen. Das mag für einen sehr primitiven Bedarf zureichen. Aber da alle Deutung von Realverhältnissen den Sinn einer Orientierung des Menschen in der Welt hat, so sind natürlich auch praktisch die Grenzen eng gezogen, bis zu denen ein teleologisches Denken zureichen kann. Indessen nicht alle Teleologie ist von gleicher Art. Es sind hier vielmehr zahlreiche Sonderformen zu unterscheiden, von denen wiederum drei als die grundlegenden gelten dürfen. Die erste dieser Formen ist die Teleologie der Prozesse. In ihr werden alle Geschehnisse, einerlei ob es solche der Natur oder solche der Menschensphäre sind, als vom Ende her bestimmt aufgefaßt. Die Frage, „warum" etwas geschieht, ist hier ganz durch die nach dem „Wozu" verdrängt. Es braucht bei dieser Ansicht nicht so zu sein, daß es gar kein Warum mehr gibt, aber das Warum ist unwesentlich und betrifft nur die für unwesentlich oder zufällig gehaltenen Seiten der Vorgänge. So ist es z. B. in der Aristotelischen Teleologie. Wichtig sind nur die Entstehungsprozesse der Dinge, vor allem der lebendigen, und diese sind durch substantielle Formprinzipien bestimmt, auf welche die Prozesse hinauslaufen. Denn die Formen bilden ihr „Telos". Sie sind die „immanenten", d. h. wörtlich die der Sache einwohnenden Zwecke, auf die es in ihnen abgesehen ist. Das Wesentliche dieser Theorie besteht darin, daß alle für eine Sache charakteristische Determination als eine „innere" aufgefaßt wird, als die aus dem „Wesen" (τί ή ν είναι, essentia) der Sache hervorgehende; alle äußere Determination, die aus dem große-
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ren Zusammenhang der Dinge und Geschehnisse folgt, gilt für unwesentlich. Und die Folge ist natürlich, daß die größeren Umkreise des Realzusammenhanges selbst zum Unwesentlichen herabsinken. Damit entschwinden denn auch leicht die größeren, nicht in gleicher Unmittelbarkeit gegebenen Ganzheiten ins Unwesentliche. Die zweite Art der Teleologie ist die der F o r m e n selbst. Hier geht es nicht um die Formläufigkeit zeitlicher Vorgänge, sondern um das Verhältnis der Formen zueinander. Die Formtypen der Gebilde, aus denen die reale Welt besteht, bilden eine Stufenfolge, es gibt höhere und niedere Formung. Die organischen Formen haben mit Recht immer für die höheren gegenüber den anorganischen gegolten, der Mensch wiederum als höhere Formung gegenüber dem Tier. Innerhalb dieser Klassen aber stufen sich die Formen noch mannigfaltig ab — bis hinab zu den mutmaßlichen letzten Einheiten der Materie, einerlei ob man diese als Atome oder sonst etwas vorstellt. In dieser Stufenfolge nun bedeutet die teleologische Ordnung die Abhängigkeit der niederen Formen von den höheren, in der Weise nämlich, daß immer die niedere nur um der höheren willen da ist, also in diesem Sinne durch sie determiniert ist. Das ist nicht so gemeint wie in der Ganzheitsdetermination, die ja ein Ineinanderstecken der Formen voraussetzt, wobei dann das größere Ganze nur einen bestimmten Beitrag zur Entstehung der Formelemente liefert; hier sind die Formen vielmehr als nebeneinanderbestehend gedacht, wobei die höhere ja nicht Überformung der niederen zu sein braucht, wohl aber dem Semsverhältnis nach das Ziel sein kann, auf das jene ausgerichtet ist. Bei dieser Weltansicht trägt also die niedere Form die Bestimmung zur höheren in sich, einerlei ob sie in sie als Glied eingeht oder bloß ihre Seinsvoraussetzung bildet. Sie hat die innere „Destination", das Sein der höheren Form zu ermöglichen. Das kann so gemeint sein, daß sie direkt den Zweck hat, diese hervorzubringen, ja sie vielleicht gar als Anlage in sich trägt ; es kann aber auch bloß so sein, daß beide einem größeren Finalzusammenhang eingeordnet sind, in dem das niedere Gebilde dem höheren zu seinem Bestehen dient. Diese Art von Teleologie ist in zahlreichen Weltbildern der Populärmetaphysik vertreten, am bekanntesten wohl in solchen „Schöpfungsgeschichten", die den Menschen als Ziel und Zweck der ganzen Naturstufenordnung betrachten. Aber auch ernstere Metaphysik nimmt diesen Gedanken auf; in der Scholastik ist die Teleologie der Formen überhaupt eines der vorherrschenden Motive, und selbst bei Aristoteles finden sich die Ansätze zu ihr. In der Hegeischen Realdialektik ist es vollends das Leitmotiv der Weltordnimg, daß alle niedere Form die Tendenz zur höheren in sich hat und sich erst in ihr vollendet. An dritter Stelle kann man neben der Teleologie der Prozesse und der Formen die „Teleologie des Ganzen" nennen. Hierbei wird der als Einheit verstandenen Welt ein oberstes bewegendes oder schaffendes Prinzip zugeschrieben, das als Absolutes, Weltgrund oder Gottheit, die Mannigfaltigkeit der Seinsformen zwecktätig hervorbringt. Während
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jene ersten beiden Arten der Teleologie immerhin noch von der Besonderheit der Phänomene ausgehen, verfahrt die Teleologie des Ganzen rein summarisch, ohne auf das Besondere Rücksicht zu nehmen. In ihren theologischen und halbtheologischen Formen (zu den letzteren zählen auch die Pantheismen) bildet sie die am meisten verbreitete und populärste Form des finalen Weltbildes. Charakteristisch für sie ist, daß das Telos hier weder den Prozessen noch den Formgebilden immanent gedacht ist (nicht als ihr innerer Antrieb), sondern weit jenseits ihrer, „über" ihnen, als transzendenter Zweck. Meist wird es als Endzweck verstanden, der von einer Weltvernunft gesetzt ist ; und dann ist es nur konsequent, wenn die letztere auch als lenkende Vorsehung das Ganze des Weltprozesses durchwaltet und über der Verwirklichung des Endzweckes wacht. Alle Autonomie und alle Selbständigkeit der Gebilde ist hiermit a limine aufgehoben. Das aber ist freilich eine Konsequenz, die wir nur selten in klar ausgesprochener Form gezogen finden. 5. Transzendentaler Schein Von diesen drei Formen der Teleologie ist die erste die grundlegende. Sie betrifft die Aufhebung der Kausalstruktur in der Welt; und sie beschränkt sich darauf, diese auf der ganzen Linie durch den Finalzusammenhang in den zeitlichen Abläufen zu ersetzen. Sie ist insofern die schlichteste und nüchternste Form der Teleologie und trägt mehr als die andern einen einfachen kategorialen Charakter. Darum ist sie auch diejenige, die am meisten ernst genommen zu werden verdient und der Gegenargumentation wert ist. Mit ihr hat es in erster Linie die Auseinandersetzung zu tun. Die anderen beiden Formen sind um vieles phantasievoller. Die zweite betrifft den Stufenbau der Natur und die Ganzheitsdetermination. Darüber hinaus aber betrifft sie auch die Schichtung der realenWelt. Sie beeinträchtigt zwar nicht die Schichtenfolge selbst, wohl aber die natürliche Schichtendependenz. Denn sie invertiert das „kategoriale Grundgesetz". Dieses besagt, daß die niederen Kategorien die stärkeren sind; danach können sich die Kategorien einer höheren Seinsschicht nicht auf die niedere Schicht beziehen, sie nicht bestimmen oder umschaffen. Also können auch die höheren Gebilde nicht für die kategoriale Struktur der niederen bestimmend sein. Die Teleologie der Formen dagegen läßt grundsätzlich und durchgehend die höheren Formen zweckbestimmend für die niederen sein, so daß das ganze Reich der Formen von oben her determiniert ist. Dann gibt es kein „Aufruhen" der höheren Seinsschicht auf der niederen, wie das Gesetz der Stärke es verlangt, sondern nur umgekehrt ein „Abhängen" der niederen von der höheren. Die dritte Form schließlich betrifft die Selbständigkeit der ganzen realen Welt. Sie hebt alle Eigenbestimmung in ihr auf, sowohl die der Gebilde als auch die der ganzen Seinsschichten, und läßt nur die Deter-
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mination eines Absoluten übrig, einerlei ob dieses als Weltvernunft oder als Weltwille oder als sonst was gedacht ist, einerlei auch, ob es innerweltlich oder außerweltlich vorgestellt wird. Dieses Absolute aber macht sie für alles verantwortlich. Auch das Geringste in der Welt muß dann als von ihm gewollt, gesetzt oder bestimmt gelten. In voller Konsequenz ist dieser Gedanke schwerlich jemals zuende gedacht worden. Denn er bedeutet u. a. die Vernichtung eines wollenden und verantwortlich handelnden Wesens. Aber auch in mehr oder weniger inkonsequenter Fassung ist er überaus folgenschwer und überdies stets durch seine verführerische Einheitlichkeit gefahrlich. Angesichts dieser Sachlage, die eine dreifache Bedrohung des philosophischen Denkens bedeutet, erhebt sich die Frage, wie die Philosophie ihr begegnen soll. Denn es geht auf die Dauer nicht an, sie auf sich beruhen zu lassen. Zu sehr sind dafür die Hintergründe des philosophischen Denkens selbst teleologisch durchsetzt. Macht man sich aber an die Arbeit ihrer Durchleuchtung, so ergibt sich sehr bald ein verzweigtes Geflecht von Sonderfragen, in die man hineingerät. Indessen sind es zwei Aufgaben, die sich gleich zu Anfang von einander scheiden lassen. Die erste besteht darin, zu bestimmen, welche Motive eigentlich das Bewußtsein immer wieder auf die Finalauffassung hindrängen. Die zweite aber läuft darauf hinaus, zu untersuchen, wie das wissenschaftlich nüchterne Denken der Teleologie auf ihren verschiedenen Gebieten und in ihren ebenso verschiedenen Fassungen zu begegnen hat. Es ist klar, daß die zweite Aufgabe erst nach Erledigung der ersten in Angriff genommen werden kann. Denn nicht nur die bewußten Argumente bedürfen der Kritik, sondern auch die verborgenen Motive. Bei der ersten Aufgabe liegt also zunächst das Hauptgewicht. Denn wenn die Finalität etwa im Gebiet der Natur auch noch so sehr eine Pseudokategorie ist und auf Schein beruht, der Schein selbst besteht eben doch, und zwar in vielen Fragen mit ungebrochener Kraft. Man muß also mit ihm rechnen und irgendwie fertigzuwerden suchen. Ganz aufheben kann man ihn schwerlich. Er hat etwas vom „transzendentalen Schein" im Sinne Kants. Man widerlegt ihn, und er bleibt bestehen, in der Art, wie Sinnestäuschungen bestehen bleiben, auch wenn man sie durchschaut. Nur daß es sich hier nicht um die Sinne handelt, sondern um sehr allgemeine Denk- und Vorstellungsformen, also recht eigentlich um Kategorien unseres Welt- und Gegenstandsbewußtseins. Man kann also gegen das teleologische Denken nicht einfach so vorgehen wie gegen einen Irrtum, den man eines Tages einsieht und abtut. Dafür sitzt er zu tief in unserer Sehweise fest. Man kann ihn aber wohl durchschauen und grundsätzlich auflösen, indem man seine Wurzeln bloßlegt. Auch damit freilich hebt man ihn nicht auf. Aber wenigstens das philosophische Bewußtsein kann man auf diesem Umwege von ihm frei machen. Und das ist immerhin der Mühe wert. Darum gerade ist es wichtig, die Motive des Scheins, soweit irgend sie sich fassen lassen, in möglichster Klarheit zu übersehen. In gewissem
Einleitung
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Sinne ist diese Aufgabe wichtiger als alles Widerlegen. Denn die Motive sind es, die fortbestehen, weil sie nicht außer uns, sondern in unserem eigenen Denken liegen. Sie selbst sind durchaus nicht Schein, sondern sehr drastische, reale Mächte in unserem Bewußtsein. Sie sind Seinsgründe des Scheines. Man sieht, es handelt sich um eine neue Kritik der teleologischen Urteilskraft, radikaler und allgemeiner als die Kantische, Denn diese blieb auf zwei Gebiete, das biologische und das metaphysische, beschränkt. Sie ging auch nicht bis auf die Motive des Teleologismus zurück, sondern setzte bei der wissenschaftlichen Problematik ein. Diese Grenzen müssen nun überschritten werden. Das kann nur von unten auf, im Ansetzen bei sehr bekannten und zum Teil primitiven Phänomenen geschehen.
I. Kapitel
Motive des naiven Bewußtseins a. Die Sprache und der Alltag Man kann die Motive des Teleologismus in vier Gruppen einteilen. Die erste liegt in der geschichtlichen Bedingtheit unseres Denkens, in dem Herkommen aus einer Tradition, die teleologisch ist. Das hohe Alter und die schwer entwirrbaren Ursprünge dieser Tradition machen sie zu einer kompakten Macht in unserem Denken. Die drei anderen Gruppen enthalten zeitlose Momente. Sie wurzeln in der Artung des Menschenwesens und seiner Gesamtsituation in der Welt. Sie differenzieren sich nach den Stufen des Weltbewußtseins. Es gibt hiernach Motive des naiven, des wissenschaftlichen und des philosophisch-spekulativen Bewußtseins. Ihre Grenzen sind nirgends scharf zu ziehen, sie greifen mannigfach ineinander über. Aber ihr Grundcharakter bleibt dabei doch ein verschiedener. Es ist außerdem vor aller Diskussion einleuchtend, daß die erste Gruppe sich mit den drei folgenden überschneidet. Die geschichtliche Tradition des menschlichen Denkens ist ja eben die des naiven, wissenschaftlichen und philosophischen Bewußtseins. Und es muß sogleich gesagt werden, daß sie sich am plastischsten auf dem Gebiet des philosophischen Denkens fassen läßt. Sie soll deswegen in der Hauptsache bei den teleologischen Motiven des letzteren mitbehandelt werden. Zum Teil freilich ist sie älter als die Philosophie. Aber von ihrer vorphilosophischen Gestalt ist bereits in der Einleitung die Rede gewesen, wo sie zu einer noch allgemeineren Orientierung diente. Vom teleologischen Weltbilde des mythischen und religiösen Denkens soll also hier nicht noch einmal die Rede sein. Man muß nur im Auge behalten, daß hinter allen späteren und kunstvolleren Formen der Teleologie die Herkunft von einem solchen steht und sich oft noch in der besonderen Ausprägung der Sehweise verrät. Von besonderem Gewicht ist hierbei das unverstellte Gesicht des Anthropomorphismus. Es wird sich noch zeigen, wie sehr gerade dieses auch in den spekulativen Weltbildern der Metaphysik wiederkehrt, obgleich es dort nicht mehr ohne weiteres wiederzuerkennen ist. Von größtem Gewicht dagegen sind hier die Motive des naiven Bewußtseins. Darunter ist nicht das Weltbewußtsein fern vergangener Zeiten zu verstehen, sondern das des Alltags von heute. Es handelt sich um Auffassungsweisen im Erleben, Reagieren und Handeln selbst, um
Die Sprache und der Alltag /
Ablehnung des Sinnlosen
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solche also, die vor aller Reflexion da sind und die Sehweise beherrschen. Sie stecken in den gangbaren Begriffen des Alltags und in den Wendungen der Sprache, auch ohne daß man sich ihrer bewußt wird. Jedermann versteht sie auf den ersten Anhieb, niemand wundert sich über sie, obgleich sie über das Wichtigste vorentscheiden und wohl der Verwunderung wert wären. Da ist die Tendenz, bei jeder Gelegenheit zu fragen, „wozu" es gerade so kommen mußte. „Wozu mußte mir das passieren?" Oder: „Wozu muß ich so leiden ?", „Wozu mußte er so früh sterben ?" Bei jedem Geschehnis, das uns irgendwie „betrifft", liegt es nah, so zu fragen, und wenn es auch nur der Ausdruck der Rat- und Hilflosigkeit ist. Man setzt stillschweigend voraus, daß es doch zu irgendetwas gut sein müsse; man sucht einen Sinn, eine Rechtfertigung darin zu fassen. Als ob es so ausgemacht wäre, daß alles, was geschieht, einen Sinn haben muß. Das beschränkt sich auch keineswegs auf das explizite „Wozu". Es steht vielmehr verborgen auch immer wieder in den Fragen scheinbar kausalen Charakters: „warum, weshalb, weswegen". Wir fragen eben auch ganz in dem gleichen Sinne: „Warum mußte mir das geschehen ?" Oder: „Weshalb mußte er so früh sterben?" Und wir meinen damit ein ganz klares „Wozu". Die Sprache eben verwürfelt das kausale und das finale Verhältnis. Und da das naive Bewußtsein in erster Linie final interessiert ist und die Frage nach dem Zweck bevorzugt, so fallt die Verwürfelung zu ungunsten der Kausalität aus. Das Kausalinteresse verschwindet in der Aktualität des Lebens hinter dem Finalinteresse. Die Vorentscheidung, die sich in solchen Wendungen ausspricht, kann einen nicht wunder nehmen. Die Worte „warum, weshalb, weswegen" haben ja gerade ursprünglich einen finalen Sinn ; sie besagen von Haus aus: „um welches Zieles willen", und aller kausale Sinn, den ein wissenschaftlich besonnenes Bewußtsein damit verbindet, ist ihnen erst nachträglich aufgeprägt. Die Fragewörter der Umgangssprache geben dem reinen Ursachenverhältnis überhaupt wenig Spielraum. Die Prägungen der Sprache stammen alle aus der Zeit des noch eindeutig finalen Denkens. Das Fragen nach dem reinen „Woher" oder „Wodurch" kommt erst relativ spät auf. Und ebendaher mag es sein, daß auch die entsprechenden Wendungen selbst sich nicht in gleicher Gangbarkeit durchgesetzt haben. Das gilt in ganz ähnlicher Weise wie für das Deutsche auch für andere Sprachen. b. Ablehnung des Sinnlosen Es wäre indessen ganz falsch, wenn man auf Grund dieses Sprachphänomens die Wurzeln des finalen Denkens bei der Sprache allein, oder auch nur vorwiegend bei ihr, erblicken wollte. Sie ist ja nur der äußere Ausdruck einer ursprünglichen Tendenz, in allen Geschehnissen einen „Sinn" oder eine „Bestimmung" zu suchen. Diese Tendenz ist viel allgemeiner ; sie setzt sich auch in einem Bewußtsein durch, das längst
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1. Kapitel. Motive des naiven Bewufitseins
des nüchternen Pragens nach der Ursache mächtig geworden ist, das also zwischen diesem und der Sinnfrage sehr wohl zu unterscheiden gelernt hat. In den schicksalhaft anmutenden Ereignissen des eigenen Lebens neigt auch ein solches noch dazu, überall nach der Bestimmung, ,zu etwas' ' auszuschauen. Denn auch vom besseren Wissen läßt sich diese Tendenz nicht so leicht niederhalten. Sie überfallt gleichsam das Denken aus dem Hinterhalt und ist aller Einsicht zum Trotz immer wieder ungerufen da. Sie fragt den Verstand nicht um Erlaubnis, sie drängt sich vor; ja, sie zeigt die Tendenz, den Verstand und die nüchterne Überlegung herabzusetzen, zu verdächtigen oder zu verlästern. Denn sie ist dort verwurzelt, wohin die Überlegung und das Urteil sich nicht erstrecken: in den dunklen Gefühlshintergründen des Unterbewußten. Diesen Hintergründen schreibt der im Leben Stehende gern eine überlegene Bedeutung zu, hält die aus ihnen kommenden Fingerzeige für untrüglich. Denn sie treten nicht nur mit einer gewissen subjektiven Evidenz auf, sondern sind auch in sich einfach, eindeutig und nicht weiter analysierbar, während der Verstand stets vielerlei Möglichkeiten sieht und dadurch schwankend erscheint. Das ergibt dann leicht eine Lebenshaltung, die sich aller Kontrolle der Überlegung entzieht. Es soll nicht geleugnet werden, daß sich mit einer solchen Lebenshaltung sehr wohl leben läßt. Was praktisch für sie spricht, ist die ungeheure Vereinfachung, in der sie die Lebenszusammenhänge selbst erscheinen läßt. Käme es im Leben nur auf diesen pragmatischen Vorzug an, so läge kein Grund vor, den Menschen aus solcher Haltung aufzustören. Zwei Dinge aber sind es, die schon in der Praxis ihr eine Grenze setzen. Das eine ist die Enge der Perspektiven, in denen solche Sehweise bestenfalls sich rechtfertigt; das andere ist das gelegentlich doch immer wieder sich meldende Wissen um offensichtlich kausale Zusammenhänge. Ist doch auch der kindliche Optimismus, der dem Glauben an eine lenkende Vernunft in unseren Schicksalen zugrunde liegt, der ständigen Gefahr des Scheiterns an der gleichgültigen Härte des wirklichen Geschehens ausgesetzt ; und wo er scheitert, hinterläßt er Ratlosigkeit und Verzweiflung. Nur das vom praktischen Leben sich entfernende spekulative Denken vermag dann noch konsequent weiterzugehen bis zur Rechtfertigung des Übels und des Bösen. Aber auch das bedeutet dann ja nicht, daß man den postulierten Sinn und Zweck auch gleich sähe, sondern nur, daß man ihn voraussetzt und in seinem Bestehen wenigstens keinen Widerspruch gegen die harte Drastik des Lebens sieht. Hinter alledem steht natürlich nicht einfach die Willkür einer ungezügelten Phantasie, sondern die bedrückend empfundene Unerträglichkeit des Sinnlosen. Nicht zwar an allem Geschehen empfindet der Mensch das Sinnlose als unerträglich, es geht ihn ja so vieles, was geschieht, nichts an. Er könnte sich wohl auch da hineinversetzen, aber er t u t es nicht, er lebt darüber hinweg, weil es ihn nicht berührt. Dafür, wo es ihn selbst betrifft, wo etwas schwer und tragisch in sein Leben hineinschneidet, da empfindet er es zehnfach schwer, wenn er keinen Sinn
Ablehnung des Sinnlosen / Ablehnung des Zufalls
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darin sieht; und dabei ist es relativ gleichgültig, ob der ersehnte Sinn des Geschehens unmittelbar ihn und sein Leben betrifft oder nicht. Der Mensch sträubt sich einfach dagegen, daß es gar keinen Sinn haben könnte; er will es mit dem Glauben zwingen, daß da ein Sinn sei, will der Härte des Realen als des gegen ihn absolut Gleichgültigen nicht ins Gesicht sehen. Er meint gleich, das Leben lohnte sich sonst nicht. Er hadert mit dem Geschick, mit dem Weltlauf, der Weltordnung. Er denkt eben im Grunde eudämonologisch, möchte um jeden Preis den Glauben an eine gerechte Verteilung von Glück und Unglück aufrecht erhalten. Und die Leidenschaft dieser Tendenz kann ihn selbst engherzig und ungerecht machen. Da rechnet er sich dann seinen Glauben als eine Art Verdienst der Stärke an ; und den Ungläubigen empfindet er als den Schwachen, Verzweifelten, Törichten, Unwürdigen. Er verachtet seine Haltung als die des Defaitisten, der „es aufgegeben hat", einen Sinn in sein Leben zu bringen. Es kommt ihm nicht der Gedanke, es könnte auch auf der anderen Seite ein Recht und ein Sinn sein. Himmelfern hegt es ihm, auch nur zu ahnen, daß Sinngebung ein Vorrecht des Menschen sein könnte, und daß vielleicht gerade er in seiner Ahnungslosigkeit sich selbst um dieses Vorrecht bringt. c. Ablehnung des Zufalls Nicht weniger unerträglich als die Sinnlosigkeit der Geschehnisse ist dem Menschen seine Ohnmacht gegen den „Zufall". Dabei schwebt das Zufällige nicht etwa gleich als das Sinnlose vor, erst mittelbar scheint es wohl mit ihm zusammenzufallen. Zunächst ist es nur das Unberechenbare, nicht Vorgesehene und in der Regel auch nicht Vorsehbare, das gleichsam jederzeit wie aus dem Hinterhalt hervorgesprungen dasteht und das Geplante über den Haufen wirft. Es ist gar nicht nötig, darunter ein aller Ordnung und Gesetzlichkeit Entzogenes zu verstehen; meist begreift der Mensch sehr wohl, daß das „Zufallige" nicht anders ausfallen konnte, und nur einen Schritt weit davon entfernt ist auch die Einsicht, daß es in seiner Weise „notwendig" ist, nämlich kausal notwendig. Aber eben dieses blind Notwendige ist das ihm unversehens Zustoßende, Zufallende. Darum lehnt der Mensch den Zufall ab. Er, der immer Planende, Vorsorgende, hat die eingewurzelte Aversion gegen ihn wie gegen einen Erbfeind seines Geschlechts, den ewigen Störer und Vernichter seiner Taten. Aus dieser Aversion erwächst die Verneinung. Wie aber kann er das tatsächlich immer wiederkehrende Auftreten des Zufälligen verleugnen? Das ist nur möglich, indem er es in ein gleichfalls Vorgesehenes und Gewolltes umdeutet, nur freilich von einer anderen Vorsehung und einem anderen Willen als dem seinen. Auf diesem Umwege bekommt dann alles in der Welt seine Bestimmung und seine teleologische Planmäßigkeit. Und wenn es dem Menschen gelingt, sich mit jener anderen Vorsehung in
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1. Kapitel. Motire des naiven Bewußtseina
ahnungsvolle Verbindung zu setzen, so hört auch das hilflose Ausgeliefertsein an das Unvorhergesehene auf. Aber auch ohne diese letzte, anspruchsvolle Konsequenz ist die Hauptsache erreicht. Hauptsache eben ist, daß der Zufall, auch wo er den Handelnden aus dem Hinterhalt überfallt, nicht mehr im „Zufallen" von ohngefähr besteht, sondern als ein ihm Gesandtes und weise Zugedachtes, als „Geschick" oder „Schicksal" im ursprünglichen Sinne des Wortes hingenommen wird. Man kann dieselbe Tendenz übrigens auch a parte meliori vorfinden. Nur ist sie da wohl nicht von gleicher Aktualität. Der sog. Zufall kann ja auch Gutes bringen; und dann erscheint dem Menschen das, was ihm in den Schoß fällt, als ihm „geschenkt", ihm zugewandt, als Glück, das ihm gewährt wird. Auch damit lehnt er den Zufall ab. Und an die Stelle blindnotwendiger Zusammenhänge, deren Resultate auch einmal zu seinen Gunsten ausfallen können — was ja an sich nahe läge und wohl verständlich wäre — rückt das Bild einer über ihm waltenden Güte, und das Menschenherz verehrt nun diese Güte in überschwänglichem Dankesgefühl. Ja, es dankt und preist keineswegs nur da, wo es personale Vorstellungen vom Träger solcher Güte hat, sondern auch, wo es nicht weiß, wem hier zu danken wäre. d. Unbewußte Vermenschlichung Es steckt in alledem derselbe naive Anthropomorphismus, von dem schon oben die Rede war : die Tendenz des Menschen, alles nach Analogie seiner selbst zu verstehen. Lebewesen und Naturmächte, ja sogar einzelne Dinge, werden wie menschenähnliche Wesen angesehen, Ereignisse wie menschliche Handlungen beurteilt: Wille, Absichten, Gesinnungen — vorwiegend gegen ihn, den Menschen, — werden ihnen zugeschrieben, Güte und Bosheit ihren Wirkungen untergeschoben. Kinder sind imstande, Dinge zu bestrafen; sie lieben die einen und hassen die anderen, nicht auf ihre Nutzbarkeit hin, sondern weil ihnen die einen „gut", die anderen „böse" sind. Es ist dasselbe, was der mythische Mensch mit Steinen, Bergen und Bächen macht, indem er sie beseelt. Nur die Form der Phantasie ist eine andere. Aber auch der Erwachsene von heute kann gelegentlich noch eine Wut auf gewisse Dinge haben, sich über die „Tücke des Objekts" ärgern und sieh in aufwallendem Zerstörungsdrang an ihm „rächen". Diese Art der Vermenschlichung ist nicht nur naiv, sondern auch weitgehend unbewußt. Wird der Gereifte sich ihrer bewußt, so schämt er sich ihrer. Oder er lacht über sich selbst. Aber die unbewußte Tendenz selbst wird er damit noch nicht los. Sie begleitet ihn stillschweigend durchs Leben, und gelegentlich bestimmt sie allem besseren Wissen zum Trotz sein Handeln. Eine weltanschaulich ernstere Form nimmt sie an, wo das Bedürfnis Platz greift, alles das eigene lieben Betreffende in das Gesamtbild eines
Unbewußte Vermenschlichung
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Zweckgefiiges einzubeziehen. Ein solches Zweckgefüge eben glaubt der Mensch im eigenen Leben erblicken zu können. Die Einbeziehung aber geschieht in dem Glauben, mit den Ereignissen auf diese Weise am besten „fertig zu werden". Ein solcher Glaube kann zu sehr merkwürdigen Konsequenzen führen, etwa dahin, daß der Mensch sich auch bei offenkundigem Mißgeschick oder Mißlingen nachträglich einredet, er selbst habe es im Grunde so gewollt. Der Selbstbetrug, der darin hegt, wird ihm nicht bewußt. Stärker als der Wunsch nach Glück und Gelingen erweist sich hier das Bedürfnis, die Welt mitsamt ihrem unberechenbaren Ablauf als die Welt des Menschen, die auf ihn orientierte und zentrierte, zu verstehen. Dieses Bedürfnis kann auch eine ganz individualistische Form annehmen, und dann gilt dem Einzelnen die Welt überhaupt nur noch als „die seinige". Aber auch abgesehen von so extremer Ichzentriertheit bleibt doch für diese Sehweise charakteristisch, daß dem Menschen an allem Geschehen, auch dem größten, nur wichtig ist, was es „für ihn" ist. Daß es auch dabei auf unbewußte Vermenschlichung, ja auf eine ungeheuerliche Engherzigkeit der Weltauffassung hinausläuft, ist leicht zu sehen. Aber wer einmal in dieser Sehweise gefangen ist, kann so leicht nicht aus ihr heraus. Er hat die charakteristische Borniertheit des halben und in seiner Halbheit festgefahrenen Begreifens an sich. e. D i e vermeintlich u n b e w u ß t e Z w e c k t ä t i g k e i t
Zu alledem kommt aber noch etwas anderes. Der Mensch wird nämlich auch von innen her, aus den Geheimnissen seines eigenen Wesens, zur Teleologie gedrängt. Er selbst ist sich nicht weniger rätselhaft als die ihn umgebende äußere Welt. Und im eigenen Inneren kann er ein „Zufälliges" noch weit weniger anerkennen als außer sich. Es gibt eine verblüffende Zweckmäßigkeit des nicht bewußt Gewollten, wohl aber als Motiv in den Willen Eingreifenden, das gelegentlich, über alle sorgfältigen Erwägungen hinweggreifend, die Entscheidimg gibt und sich dann im Resultat als durchaus treffsicher erweist. Das ist am auffallendsten dort, wo es sich um Entscheidungen in komplizierten Situationen handelt, die zu plötzlich vor sich gehen, um bewußt durchüberlegt zu sein. Wir haben dann den Eindruck, hier müsse etwas in uns am Werk sein, das klüger ist als unser bewußt zwecktätiges Handeln. Und dann hegt der Schluß nah, daß dieses Etwas in einer das Bewußtsein umgehenden und es an Kraft überbietenden Zwecktätigkeit bestehen müsse. Vielmehr ein bewußter Schluß wird hier gar nicht erst gezogen; das dunkle Wissen um die Treffsicherheit dieser sich im eigenen Tun äußernden Instanz kann gar nicht umhin, sie als eine aus dem Verborgenen hervor Zwecke verfolgende Macht zu verstehen. Freilich, was sie ist, weiß es nicht. Wer sich in diese merkwürdige Erscheinung vertieft, kommt wohl leicht zu der Überzeugung, es müsse ein Faden des Weltgeschehens sein, 2 Hartmann, Teleologie
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2. Kapitel. Motive des wissenschaftlichen Denkens
der durch unser Menschenwesen hindurchgeht und es von überlegenen Zwecken her lenkt. Das Bewußtsein, so scheint es, wird hierbei nach Gesichtspunkten höherer Zweckmäßigkeit aus- oder eingeschaltet, je nachdem ob ihm in der Ausführung eine Rolle zufällt oder nicht. Niemals aber besteht es im Zweckbewußtsein. Und darum bleiben uns die Zwecke dieser Finaldetermination verborgen. In solcher Überzeugung hat die teleologische Auffassung von Welt und Menschenleben eine geradezu mystische, und darum schwer angreifbare Stütze. Ihr liegt es himmelfern zu bedenken, daß der Mensch, ebenso wie jedes Lebewesen, artgemäß angepaßt ist an die Grundsituation seines Lebens, und daß diese Anpassung ebensogut auch auf etwas ganz anderem beruhen könnte als auf Weisheit und Vernunft einer alles lenkenden Instanz, — einerlei, ob diese nun als in ihm oder außer ihm bestehend vorgestellt wird. Erst ein sehr spätes wissenschaftliches Denken kommt dem Geheimnis von anderer Seite auf die Spur. Aber auch dieses Denken dringt gegen die Aktualität des unmittelbar Erlebten nicht durch, denn es ist kompliziert und reicht bis in die Komplexheit der einschlägigen Phänomene nicht so leicht hinein. Es nimmt seinen Umweg über die Instinktphänomene des tierischen Lebens und ihre selektiven Ursprünge. Es erfordert ein minutiöses Eindringen in die besondere Art, wie auch das instinktarme Menschenwesen in langem Lern- und Gewöhnungsprozeß Dinge und Situationen beherrschen lernt, wie es auf seinem Wege vom Kinde zum Erwachsenen langsam die umgebende Welt zu meistern und das Gegebene sich verfügbar zu machen beginnt. Ein Verstehen solcher Art, das über die in den Phänomenen enthaltenen Determinationsformen nicht vorentscheidet, sondern erst nach ihnen als den maßgebenden Kategorien menschlicher Aktivität sucht, ist nicht auf einen Schlag zu gewinnen. Die heutige Anthropologie steht erst in den Anfängen solcher Überlegungen. Und wenn sie auch einen vielversprechenden Weg eröffnet, das Leben selbst mit seinen Rätselfragen kann doch auf ihre Resultate nicht warten. Es hilft sich mit seinen vereinfachten Deutungen und wird durch sie immer wieder zur Teleologie zurückgeführt. 2. K a p i t e l
Motive des wissenschaftlichen Denkens a. Art und Auswahl der Phänomene Es liegt auf der Hand, daß das wissenschaftliche Denken den genannten Verführungen weniger unterhegt als das naive. In seinen reiferen Stadien tritt es ihnen ja auch bewußt entgegen und wird dann zum Hauptträger einer ganz anderen Weltorientierung. Dafür aber wird die Wissenschaft von anderer Seite her doch wieder zur Teleologie gedrängt. Denn ihre Probleme sind nicht nur ausgereifter und tiefer als die des Alltags, sondern
Art υ. Auswahl der Phänomene / Verwechselung von Kausal- u. Finalverhältnis
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auch entsprechend schwieriger, undurchdringlicher und rätselhafter. Wo aber das Erkennen vor dem Undurchdringlichen steht, da neigt es mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Lösungen, welche die Sachlage vereinfachen und ein greifbares Resultat vortäuschen. Das aber geschieht am leichtesten durch die Kategorie des Zweckes. Von den mancherlei Irrwegen, welche die Wissenschaft in teleologischer Richtung eingeschlagen hat, sind nicht alle gleich lehrreich. Manche von ihnen beruhen auf mehr äußeren Fehlern, auf durchsichtigen Vorurteilen und Einseitigkeiten oder auch auf unsachlichem Vorgehen. Von diesen soll hier nicht die Rede sein, zumal die Vorurteile, um die es sich handelt, zumeist die aus der Sphäre des naiven Denkens mitgebrachten sind. Aber keineswegs alle Teleologismen des wissenschaftlichen Denkens sind von dieser Art. Es gibt auch solche, die sehr prinzipieller Natur sind und durchaus erst an der wissenschaftlichen Problematik entstehen. Von diesen muß hier gesondert gehandelt werden. Da es sich aber hierbei um eine Auslese von Motiven unter dem Gesichtspunkt des Lehrreichen handelt, so kann das Vorgehen im Folgenden kein historisches sein, obgleich das Material durchweg der Geschichte der Wissenschaften entnommen werden muß. Denn in der Geschichte häufen sich einige wenige Formen teleologischen Denkens bis zum Überdruß, während andere, an sich nicht weniger bemerkenswerte, von ihnen verdrängt und kaum bemerkbar dastehen. Die Darlegung muß also einer anderen, mehr systematisch angelegten Ordnung folgen. b. Verwechselung von Kausal- und Finalverhältnis Man muß sich zuerst fragen: wie ist es überhaupt möglich, daß ein Kausalprozeß für einen Finalprozeß gehalten wird? Man sollte doch meinen, es müßte einem Vorgang anzusehen sein, ob sein Verlauf vom Früheren oder vom Späteren her bestimmt ist. Hier aber liegt gerade die erste Merkwürdigkeit in der Gegebenheitsweise zeitlicher Vorgänge : es ist einem Ablauf rein als solchem niemals anzusehen, ob er kausal oder final determiniert ist. Und da in aller Finaldetermination das Kausalverhältnis schon mit vorausgesetzt ist — denn im Realprozeß bringen auch die Mittel den Zweck kausal hervor —, so muß man richtiger sagen: es ist einem Ablauf als solchem nicht anzusehen, ob er bloß kausal oder auch final determiniert ist. Warum dem so ist, dürfte aus den Humeschen Analysen wohlbekannt sein, die freilich nur das kausale Geschehen betreffen. Gegeben ist hiernach überhaupt niemals ein Abhängigkeitsverhältnis, sondern durchaus nur eine zeitliche Aufeinanderfolge ; alles übrige ist vom Verstände hinzugefügt. Die ganze weitere Streitfrage geht dann lediglich darum, ob das Abhängigkeitsverhältnis mit Recht oder mit Unrecht hinzugefügt wird. Um diese Frage allein geht es auch in Kants aprioristischer Lösung. Hier aber handelt es sich nicht um sie, sondern um eine viel einfachere Konsequenz: darum nämlich, daß die bloße Gregebenheit des Nacheinander 2·
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2. Kapitel. Motive des wissenschaftlichen Denkens
keine Entscheidung über kausalen oder finalen Charakter der Abhängigkeit enthält. Wie sollte sie das auch, da sie doch, rein als solche, nicht einmal das Abhängigsein selbst gewährleistet! Die Gegebenheitsweise der Prozesse leistet also von vornherein der Verwechselung kausaler und finaler Determination Vorschub. Nicht in der Weise freilich, daß sie einseitig auf die eine oder die andere hindrängte — das Hindrängen gibt es, aber es ist anderen Ursprungs —, wohl aber in der Weise, daß eine Deutungstendenz der Auffassung, die nach der einen oder der anderen Seite geht, a n ihr (der Gregebenheit) keinerlei Widerstand findet. So ist es zu verstehen, daß die teleologische Tendenz, die das naive Bewußtsein mitbringt, und die vom metaphysischen Bedürfnis her dann noch mancherlei Bestärkimg erfahrt, in der Wissenschaft zunächst keinen Gegenhalt findet. Freilich findet sie auch keinen Anhalt. Aber dieses rein Negative bildet noch kein Gegengewicht. Wäre das Ursachenverhältnis in ähnlicher Weise gegeben wie das Zeitverhältnis, so wäre das Gegengewicht da. Aber es ist ebensowenig wie das Zweckverhältnis direkt aufweisbar. Nur die Reihe der Zustände selbst in den Prozessen ist gegeben. Dieses Gegebene aber läßt ebensowohl Dependenz vom Früheren wie vom Späteren her zu. Konkreter kann man das so ausdrücken: wenn keine Richtung der Dependenz eindeutig gegeben ist, so läßt jede Ursache sich auch als Mittel, jede Wirkung auch als Zweck auffassen. Und ebenso umgekehrt. Und tatsächlich sind ja auch im final gelenkten Prozeß die Mittel die Ursachen, welche die Verwirklichung des Zweckes bewirken, der erreichte Zweck aber die Wirkung der Mittel, und zwar der ganzen Reihe der Mittel. Und darum wählt ja auch der Handelnde die Mittel, die er „anwendet", so aus, daß sie den gewünschten Zweck zur Folge haben. Zweckmäßige Mittel sind eben nur diejenigen, welche das Bezweckte kausal hervorbringen. Findet der Mensch keine solchen Mittel, so ist sein Handeln gelähmt. Das Charakteristische aber ist, daß es auch im menschlichen Tun den „Mitteln" (oder was in ihm als Mittel erscheint) nicht anzusehen ist, ob sie wirklich Mittel sind oder bloß final-zufallige Ursachen eines Resultats, das man hinterher für den Zweck des Tuns h ä l t ; was dann weiter bedeutet, daß auch hier finales und kausales Geschehen, also absichtsvolles Handeln und unabsichtliches Bewirken, nicht immer eindeutig unterscheidbar ist. Das ist ein Phänomen, das wir im Leben gut kennen ; alles irrtümliche Zumessen von Schuld und Verdienst hat hier seine Wurzel. Und wo es u m folgenschwere Entscheidung geht — wie etwa vor Gericht bei der Frage, ob der Effekt einer T a t gewollt war (ein dolus malus vorlag) oder nicht —, da kann diese grundsätzliche Ununterscheidbarkeit die schwersten Folgen haben. Denkt man sich in diese Sachlage recht hinein, so wird es verständlich, daß auch in einem der Tendenz nach wissenschaftlichen Denken der leiseste Anstoß nach der teleologischen Seite genügt, um Vorgänge von
Umkehrung des Verhältnisses in der Theorie
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durchaus neutralem Ansehen final erscheinen zu lassen. Scheint sich doch allgemein zu ergeben, daß jeder Kausalprozeß sich ebensogut als Finalprozeß verstehen läßt. c. U m k e h r u n g des Verhältnisses in d e r Theorie Damit stehen wir dicht vor einer Konsequenz, die oft von den Theorien zum Hauptargument des Teleologismus gemacht worden ist. Denn nun kehrt man den Spieß um und sagt : im Kausalnexus steckt immer schon verborgen die Finaldetermination; dann ist alle Unentschiedenheit aufgehoben, und alle Wirkung ist in Wahrheit schon Zweck der Ursachen, diese aber sind in Wahrheit die Mittel der Wirkung. Und ist man einmal so weit, so sieht das Ergebnis auch fast selbstverständlich aus. Muß denn nicht die Wirkung in der Ursache „enthalten" sein? Wie könnte sie sonst aus ihr hervorgehen! Und wenn sie in der Ursache enthalten ist, muß diese da nicht auf die Wirkung hin „angelegt" sein ? Liegt hier aber ein Anlageverhältnis vor, so muß die Ursache doch auch auf die Wirkung abzielen, muß also Mittel zu ihr als ihrem Zweck sein. Eine etwas andere Wendung gibt man dem Argument, wenn man anstelle des Enthaltenseins und Angelegtseins das Bild der Ausrichtung einführt. Die Ursache ist auf die Wirkung „gerichtet", muß also diese zum Ziel haben ; sie könnte sonst nicht eindeutig auf sie hinausführen. Es entgeht dem Argumentierenden, daß eben das Bild der Richtung ein zweideutiges ist : es kann die Absicht bedeuten und ist dann der menschlichen Zwecksetzung entnommen, es kann aber auch bloß die unvermeidliche Folge bedeuten. Im letzteren Sinne drückt es zutreffend das Kausalverhältnis aus, involviert aber wird es stillschweigend im ersteren Sinne. Und dadurch scheint in der Ursache ein „Mittel" zu liegen, das seinerseits schon vom Zweck her bestimmt ist. Gedankengänge dieser Art sind es, die implicite der ganzen teleologischen Physik des Mittelalters zugrundeliegen. In ihnen wurzelt der Begriff der causa finalis, die als immanente, zugleich bewegende und lenkende K r a f t den Werdeprozeß der Dinge bestimmt, und neben der schließlich jede anderweitige causa efficiens als unwesentlich verschwindet. Man darf annehmen, daß auch das große Vorbild dieser Theorien, die Aristotelische Physik, bereits aus ähnlichen Überlegungen erwachsen war. Freilich waren dort andere Motive die vordergründigen. Die neuzeitlichen Nachfolger haben das Argument klarer ausgesprochen, vor allem Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik". Nach ihm ist das Verhältnis ein objektiv dialektisches: die Ursache kann nur deshalb die Wirkung hervorbringen, weil diese schon der Grund ihres Wirkens ist. Nicht wenige einflußreiche Denker sind ihm darin gefolgt (z. B. Eduard v. Hartmann). Man kann aber auch vor Hegel Anklänge desselben Gedankens finden; so bei Leibniz und einigen Leibnizianern, denen die Kausalität nur als Sache der Erscheinung gilt, während die Entwicklung der Substanzen eine finale ist.
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2. Kapitel. Motive des wissenschaftlichen Denkens
Solche Argumentationen, die im Grunde alle auf einfache Inversion des Abhängigkeitsverhältnisses hinauslaufen, wären an sich nicht so verführerisch, wenn ihnen nicht jene anderen Motive entgegenkämen, die aus dem naiven Bewußtsein in das wissenschaftliche hineinragen. Dazu aber kommt noch sehr viel anderes, was erst in der wissenschaftlichen Überlegung aktuell wird. So z.B. dieses, daß alle Ganzheitsdetermination fast zwangsläufig für Zwecktätigkeit gehalten wird. Das gilt nicht nur im Reiche der organischen Ganzheiten — bei diesen setzen vielmehr noch besondere Phänomene der Scheinfinalität ein —, sondern schon weit unterhalb ihrer bei den anorganischen Naturgebilden, und zwar überall da, wo diese eine gewisse durchsichtige Geschlossenheit und auffallende Erhaltungskraft zeigen. So sah Kepler das Sonnensystem mit seiner wunderbaren Gesetzesordnung als „Weltharmonik" an, auf deren Bestehen und Selbsterhaltung hin die Gesetze der Planetenbewegung angelegt sein müßten. Und man braucht diesen Gedanken nur ein wenig zu verallgemeinern, so läuft er auf eine Wiederkehr des alten Zweckformenreiches in neuer Gestalt und im Einklang mit der neuentdeckten Gesetzlichkeit der Naturvorgänge hinaus. Denn eben diese Gesetzlichkeit läßt sich dann widerstandslos als Mittel zum Zweck der Weltharmonik deuten. Vorschub leistet dem natürlich die sehr erklärliche Meinung, daß alle Ordnung, Schönheit oder Harmonie nur durch einen ordnenden Verstand zustande kommen könne. Und selbst wo die Vorstellungsweise nicht ganz so gröblich anthropomorph ist, lehnt man es doch geflissentlich ab, daß das Geordnete und Wohlgefügte durch bloße Kontingenz — d. h. aus dem bloß kausal Notwendigen, aber final Zufälligen — entstehen könnte. Daß schon eine sehr einfache statistische Überlegung uns eines anderen belehrt, ist zwar ein alter Gedanke, hat sich aber bis in sehr neue Zeiten hinein kaum irgendwo durchsetzen können. Es muß denn auch gleich an dieser Stelle ausgesprochen werden, daß sich in fast aller Problematik der einschlägigen Art ein Moment der Denkbequemlichkeit — um nicht zu sagen der Denkfaulheit — geltend macht. Es ist verführerisch leicht, mit einer bequemen Einheitskategorie das Unbewältigte und vielleicht auch Undurchdringliche zu „meistern", statt den mühevollen Weg langsamer Forschung zu beschreiten, auf dem der Einzelne in seiner Zeit nicht zu Ende kommt. Denn unerschöpflich sind die Probleme; mit dem Prinzip des Zweckes aber ist der Verstand aller Nöte überhoben. Mit ihm kann er den undurchsichtigen Entstehungsprozeß von seinem Ende her fassen und alle unerforschten Bedingungen als wohlgewählte Mittel verstehen. Hieraus ergibt sich die unwiderstehliche Tendenz, dort, wo die Kausalerklärung aufhört (oder auch nur einstweilen nicht weiterkommt), teleologisch fortzufahren. Wobei dann das kausal Erkannte sich als bloßer Teilaspekt dem eingeführten Zweckverhältnis einfügt. Denn dieses geht von vornherein auf das Ganze des Phänomenzusammenhanges. Die Folge ist aber, daß das Finalverhältnis dem Kausalverhältnis übergeordnet erscheint.
Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit
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Dieses zusammen mit dem Argument der Umkehrung ergibt eine Art subjektiven Zwanges zur teleologischen Deutung, dem auch der methodisch Geübte und Vorsichtige sich nicht leicht entzieht. d. Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit Dem allen ließe sich vielleicht noch mit ruhiger kritischer Überlegung allein begegnen, wenn es nicht ein großes Wissenschaftsgebiet gäbe, auf dem der Schein finaler Determination am Gegenstande selbst sich bis zu einer Art Denkzwang verdichtet. Dieses Gebiet ist das der biologischen Wissenschaften. Das Grundphänomen ist hier die tiefe Zweckmäßigkeit, die den Organismus ebensowohl in seinen inneren Funktionen und Formen als auch in seinem Verhältnis zur umgebenden Welt auszeichnet. Diese Zweckmäßigkeit soll hier in ihren Einzelheiten nicht geschildert werden; von ihr ist in den biologischen Wissenschaften selbst so viel die Rede, daß sie ohne weiteres als bekannt vorausgesetzt werden kann. Nur drei Dinge sind es, die an dieser Stelle hervorgehoben zu werden verdienen. 1. Der „Zweck", auf den hier Formen und Funktionen bezogen sind, ist immer das Leben selbst — seine Erhaltung und Selbstbehauptung —, einerlei ob es sich um das Leben des Individuums oder das der Art (Stammesleben) handelt. Zweckmäßig in diesem Sinne ist so gut wie alles an den Organismen, von den äußerlichen Schutzfarben und Zeichnungen bis zu den subtilsten Regulationen, Reaktionen, Instinkten. Ausnahmen davon gibt es freilich, aber keine sehr gewichtigen; und meist ist dann das Unzweckmäßige durch anderweitige Einrichtungen besonderer Art ausgeglichen. 2. Diese Zweckmäßigkeit ist nicht etwas Umstrittenes oder auch nur Umstreitbares ; sie ist vielmehr schlechterdings gegeben, ist ein durchaus greifbares Erfahrungsphänomen, und zwar ein als große Hauptlinie durch das ganze Reich des Organischen durchgehendes, zugleich aber auch ein in den Einzelheiten immer wieder überraschendes und erstaunliches. Denn es handelt sich hier nirgends um die äußerliche oder „zufällige" Zweckmäßigkeit — wie der Mensch sie an Dingen vorfindet, die keineswegs für seine Zwecke geschaffen sind, die er aber für diese verwenden kann —, sondern um wesentliche, dem Organismus als solchem eigentümliche Zweckmäßigkeit, ohne welche er gar nicht bestehen kann. 3. Aber eben diese Zweckmäßigkeit ist nicht nur empirisch gegeben, sondern auch a priori einsichtig. Genauer gesprochen, das Grundsätzliche an ihr ist a priori einsichtig, und dadurch bekommt sie den Charakter einer Kategorie des Organischen. Es leuchtet nämlich durchaus am Wesen der Sache ein, daß ein Organismus mit unzweckmäßigen Organen, Gliedern, Formen und Funktionen nicht lebensfähig sein kann. Das ist ein wichtiger Satz in der Theorie des Organischen; und er bleibt unbestreitbar, solange man ihn nur auf Wesentüches und wirklich Lebensrelevantes bezieht, und nicht auf irrelevante Nebensachen. Denn das
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2. Kapitel. Motive des wissenschaftlichen Denkens
fortgesetzte Zugrundegehen unzweckmäßig geratener Individuen bildet einen wesentlichen Faktor im phylogenetischen Werdegang der Artformen. Hat man dieses einmal erfaßt, so ist damit auch erwiesen, daß es das wesenhaft Zweckmäßige auch außerhalb des vom Menschen Bezweckten gibt. Und dann ist es begreiflich, daß man das gleiche Prinzip auch im Außerorganischen wiederzufinden meinte; sind doch die dynamischen Gefüge im Aufbau des Kosmos ausgewogene Gleichgewichte. Ihre Kraftkomponenten lassen sich also mühelos gleichfalls als zweckmäßig für das Ganze verstehen. Dann aber ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Deutung der Gefüge als determinierender Zwecke. Ohne Zweifel steckte ein solches Abfärben der organischen Zweckmäßigkeit auf den allgemeinen Naturbegriff in der teleologischen Physik des Aristoteles und des Mittelalters. Wichtig indessen ist hier nicht diese Erweiterung des Prinzips, sondern zunächst nur das, was auf biologischem Gebiet mit ihm geschah. An sich nämlich ist Zweckmäßigkeit etwas ganz anderes als Zwecktätigkeit (Zweckläufigkeit oder Zweckbestimmtheit). Aber es liegt dem unkritischen Denken nun einmal nichts näher als die Verwechselung von Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit. Schon die Mißverständlichkeit des Wortes verführt dazu: daß etwas „zweckmäßig" ist, heißt ja geradezu, daß es das geeignete Mittel zu etwas ist. Da kann man sich kaum wundern, daß zu dem Mittel nun auch ein Zweck hinzugedacht und das ganze Verhältnis als ein finales aufgefaßt wird. Damit aber gewöhnt sich das Denken, hinter aller Zweckmäßigkeit eine reale Zweckbestimmtheit zu vermuten. Es darf fraglich erscheinen, ob vor der Kritik der Urteilskraft überhaupt irgendwo ein klarer Grenzstrich zwischen Zweckmäßigkeit und Zweckbestimmtheit gezogen worden ist. Tatsächlich läßt sich ja auch alle Zweckmäßigkeit widerstandslos als Produkt von Zwecktätigkeit verstehen, solange es keine genauere Kategorialanalyse gibt, die hier einen Riegel vorschiebt. Diese Widerstandslosigkeit beruht darauf, daß es einem Prozeßablauf als solchem, zumal wenn er in einem Prozeßgefüge verläuft, niemals direkt anzusehen ist, wie er determiniert ist, ob in ihm die hervorbringenden Ursachen wirkliche (d. h. ad finem ausgewählte) Mittel sind oder nicht. Man kann dieses die „determinative Neutralität" der Phänomene nennen. Von ihr war schon oben die Rede, aber die kategoriale Erklärung für sie wird später noch besonders zu geben sein. Indessen liegt hier die Wurzel zahlloser Mißverständnisse. Ist es doch schon gar nicht so einfach, diese Neutralität auch nur einzusehen. Dem leistet natürlich die tiefe Rätselhaftigkeit des Organischen Vorschub. Man braucht dazu gar nicht erst die auffallendsten und kompliziertesten Erscheinungen heranzuziehen, wie etwa die der organischen Regulationen. Es genügt schon, sich an das Grundverhältnis von Form und Prozeß zu halten. Die wichtigsten Vorgänge im Organismus sind eben Formbildungsprozesse, und in diesen ist das Charakteristische, daß
Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit / Fehlurteile im Streit der Theorien
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eine Reihe formverschiedener Stadien zielgerecht auf ein Endstadium hinausläuft, welches die vollentwickelte, lebensfähige Form darstellt. Die letztere erscheint deshalb als der determinierende Zweck des ganzen Prozesses. Die Kantische Analyse sprach diesem Schein die Berechtigung ab; sie unterschied streng zwischen der „Beurteilung eines Dinges als Naturzweck" und der Neigung, es „für einen Zweck der Natur zu halten". Aber sie drang damit nicht tief in das wissenschaftliche Bewußtsein durch. Es blieb im großen Ganzen bei den alten Anschauungen, und bis heute zeigt sich in vielen biologischen Theorien derselbe Mangel an gedanklicher Schulung, gegen den sich einst die Kritik der teleologischen Urteilskraft richtete. e. Fehlurteile im Streit der Theorien Hiermit hängt aufs engste die unerfreuliche Spaltung in der Theorie des Organischen zusammen, die aus der gegenseitigen Bekämpfung von „Vitalismus und Mechanismus" zur Genüge bekannt ist. Beide Seiten haben es sich in diesem Streit wohl zu leicht gemacht, beide haben sich einseitig an die Schwächen des Gegners gehalten, ohne das Affirmative genügend zu berücksichtigen, um das es ihm eigentlich ging. So hat man dem Vitalismus ohne Zweifel Unrecht getan, wenn man jeden Versuch, eine eigene Determinationsweise in den morphogenetischen Prozessen zu umschreiben (etwa als planmäßig lenkende oder regulierende Instanz), von vornherein als teleologisch verwarf. Mit solchen Versuchen ist ja zunächst nur ein Phänomen beschrieben; und wenn man von den unvermeidlichen Verfehlungen und Vagheiten in ihnen absieht, so bleibt doch unbestreitbar das Positive zurück, daß sie überhaupt Ernst damit machen, die unterscheidende Eigentümlichkeit von selbsttätig formaufbauenden Vorgängen allererst greifbar zu machen. Daß aber diese Eigentümlichkeit eine kausal nicht bis zu Ende faßbare ist, entspricht der schlichten Erfahrung der Forschung. Der Gegner kann wohl meist nachweisen, daß noch vieles bislang Unerforschte sich dem eindringenden Fahnden nach Ursachen erschließt, wo man es nicht für möglich gehalten hätte, aber er kann nicht zeigen, daß man auf diesem Wege die rätselhafte steuernde und hinlenkende Wirkung von Erbfaktoren in ihrem Wesenskern erklären kann. Hier eben hegt ein kategoriäles Novum des Organischen, und in der Ausrichtung auf dieses besteht das Verdienst der vitalistischen Theorie. Daß die letztere selbst sich immer wieder durch vorschnelle Einführung teleologischer Begriffe ins Unrecht setzt, ist freilich ihre Schwäche. Aber das hebt die Ausrichtung auf das affirmativ Gesehene doch nicht auf. Noch größer sind indessen die Fehler, die sich der Vitalismus seinerseits in der Kritik des „Mechanismus" zuschulden kommen läßt. Wenn er nichts täte, als das Nichtausreichen der linearen Kausalität nachzuweisen, so behielte er Recht. Aber er bleibt nicht dabei. So haben viele, sonst durchaus ernsthafte Vitalisten der Kausalforschung am Organismus
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2. Kapitel. Motive dea wissenschaftlichen Denkens
kurzerhand eine „Maschinentheorie" unterschoben. Sie verstehen darunter die Auffassung des Organismus als einer komplizierten Maschine nach Analogie des technischen Menschenwerks. Im 17. und 18. Jahrhundert hat es solche Auffassung gegeben; der heutigen Wissenschaft dürfte sie selbst in den extremen Theorien ganz fremd sein, viel zu solide ist dafür ihr wirkliches Verfahren. Der Vitalist kämpft hier gegen ein viel zu einfaches Schema, das dem Ernst der Forschung in keiner Weise mehr entspricht. Schon der von ihm erfundene und polemisch geprägte Ausdruck „Mechanismus" ist irreführend. Denn nicht alle Kausalität ist „mechanisch". Auch in anderer Hinsicht ist die Herabsetzung der Kausalforschung in der Biologie zur Maschinentheorie gänzlich abwegig. Steht doch gerade hinter der Maschine der zwecktätig konstruierende Verstand des Technikers. Das teleologische Fehlurteil wäre also damit nicht aufgehoben, sondern nur verschoben. Was allenfalls noch anginge, wäre die Auffassung, der Organismus sei ein höherer Typus des „dynamischen Gefüges" — wie wir solche vom Atom aufwärts bis zum kosmischen Spiralsystem in allen Größenordnungen finden. Das wäre wenigstens konsequent im Sinne der Theorie. Haltbar würde es deswegen auch noch nicht sein, denn die für den Organismus charakteristischen Selbstwiederbildungsprozesse finden sich am dynamischen Gefüge nirgends. Die aber gerade würde es zu erklären gelten. Und hier wäre der wirklich schwache Punkt einer rein kausalistischen Theorie. Eine Kritik, die sich gegen ihn richtete, würde leichte Arbeit haben. Statt dessen lieben es die Vitalisten, ihren Gegnern ein falsches, von niemandem behauptetes Anschauungsschema unterzuschieben und dieses dann zu widerlegen. Was offenkundig auf eine ignoratio elenchi hinausläuft. Darüber hinaus muß man allgemein und grundsätzlich sagen: wo Theorien diskutiert werden, ist es stets unfruchtbar, den Gegner bloß an seinen Fehlern und Schwächen zu packen. Fehler und Schwächen können der Theorie auch ganz äußerlich sein, ihr Sinn und Wesen kann in etwas ganz anderem hegen. Nur um das Wesen aber sollte eine ernsthafte Diskussion gehen. In jeder Theorie gibt es eine gewisse Enge der Begriffe, die revidiert und überwunden werden muß; bei den Kausalisten liegt sie meist in der veralteten Erkenntnistheorie, die sie zugrundelegen, deren positivistische Begriffe hier unmöglich zureichen können, weil sie für ganz andere Erkenntniszwecke geprägt sind (für die der exakten Naturwissenschaft). In den meisten Theorien gibt es überdies offenkundige Überspannung von an sich fruchtbaren Prinzipien; und es scheint dem logisch ungeschulten Denken dann leicht, das Prinzip zu widerlegen, indem es die überspannten Folgerungen widerlegt. Nichts ist falscher als das. So glaubte man in der Biologie das Selektionsprinzip überwunden zu haben, wenn man die übertriebenen Ansprüche seiner Anwendung aufgedeckt hatte. Man setzte dort ein, wo das Prinzip seine natürliche Grenze hat, glaubte aber, es damit auch innerhalb seiner Geltungsgrenze aufgehoben zu haben. Der Fehler des Gegners — in
Unbemerkte Übertragung der höheren Kategorien
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seiner begreiflichen Entdeckerfreude — war eben bloß der einer Grenzüberschreitung. Sieht man genauer zu, was ein vernünftiger Vitalismus und was ein aktiv forschender Kausalismus eigentlich will — nämlich wenn beide sich auf ihr affirmatives Wesen besinnen —, so findet man zu seinem Erstaunen, daß sie einander garnicht so sehr feindlich gegenüberstehen, daß sie vielmehr nur die verschiedenen Seiten einer und derselben Problemsituation vertreten. Der eine sucht mit den Kausalzusammenhängen so weit vorzudringen, wie diese nur irgend führen; daß sie ihm das ganze Geheimnis des Organismus erschließen werden, meint er garnicht. Der andere sucht nach einem positiven Ausdruck für das, was an überkausaler Bestimmung im Organismus steckt; daß diese Bestimmung allein für alles aufkomme und gar keine Kausaldetermination neben sich dulde, meint er gar nicht und kann er natürlich auch im Ernst nicht meinen. Was also hindert die beiden Theorien, sich zu vereinigen und eine einzige Theorie zu werden ? Es scheint: nichts als der Eigensinn der eigenen Überspanntheit beider, sowie die Unfähigkeit, das Affirmative der Gegenseite auch nur zu sehen.
3. K a p i t e l
Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens a. Unbemerkte Übertragung der höheren Kategorien Solche Fehlurteile im Streit der wissenschaftlichen Theorien sind überaus lehrreich für die Sachlage im Teleologieproblem. Aber weder gehören sie der organologischen Wissenschaft allein an — hier sind sie nur am bekanntesten —, noch erschöpfen sie die im Reich der Forschung sich geltend machenden Motive finalistischer Tendenzen. Die Verführung zur Teleologie wäre auf Grund der betrachteten Motive schwerlich so mächtig, wie sie sich tatsächlich erweist, wenn nicht eine versteckte Tendenz der Angleichung alles Unerkannten und Unerkennbaren an das Wohlbekannte und Geläufige hinzukäme. Von allen Determinationsformen ist aber die finale die dem Menschen geläufigste. Er kennt sie in der eigenen Aktivität, die eben eine zwecktätige ist; er kennt sie also nur zu gut von sich selbst her, und sie paßt allem Anschein nach gar zu schön auf die unzähligen Fälle rätselhafter Zweckmäßigkeit, die ihm im Felde der Forschung begegnen: sie löst gleichsam mit einem Schlage alle Rätsel, entschleiert alles Geheimnisvolle. Und da sie das ohnehin ihm Geläufige ist, so überträgt er sie auf den Organismus, auf das eigene Lebensschicksal, auf den Lauf der Geschichte, auf die Welt als Ganzes. Zwecktätigkeit ist vielleicht die am meisten dominante Kategorie des bewußten personalen Geistes: der Geist eben ist der Zwecksetzung und der Verwertung vorhandener Mittel für die gesetzten Zwecke mächtig, und in den Grenzen seines
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3. Kapitel. Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens
Wissens und Könnens auch der Realisation von Zwecken. Das Zweckverhältnis ist es, das sein eigenes Tun beherrscht und leitet. Wie also kann man sich darüber wundern, daß er a priori geneigt ist, überall da, wo ihm auffallende Zweckmäßigkeit begegnet, ein reales Zweckverhältnis anzunehmen ? Es besteht hier so etwas, was man zwangsläufige Verführung nennen kann. Das der Zwecktätigkeit mächtige Wesen hat gar zu leichtes Spiel damit, alle Zweckmäßigkeit in der Natur und in der Welt überhaupt nach Analogie seiner selbst als Zwecktätigkeit zu verstehen. Freilich bedeutet diese allgemeine Tendenz nichts Geringeres als einen allgemeinen Anthropomorphismus. Die Welt wird so angesehen, als wäre sie von Grund aus dem Menschen ähnlich. Will man das kategorial prägnant ausdrücken, so handelt es sich hier um die Übertragung einer weit höheren Kategorie — einer solchen des geistigen Seins — auf die niederen Seinsschichten, zum mindesten aber auf die des Organischen. Was es damit auf sich hat, wird noch im kritischen Teil zu zeigen sein. Ohne weiteres aber leuchtet es ein, daß eine Theorie, die so vorgeht, unaufhaltsam in das Denkschema der „Metaphysik von oben" hineingedrängt wird, welches für alle diejenigen Systeme charakteristisch ist, die Bewußtsein, Vernunft oder Geist zum allgemeinen Prinzip der Welt machen und dem Menschen dadurch seine Eigenart und Sonderstellung in der Welt rauben. Außerordentlich verstärkt wird dieses Motiv noch durch die Leichtigkeit, mit der sich die großen Rätselfragen zu lösen scheinen, wenn man einmal das Zweckprinzip als konstitutive Kategorie zugestanden hat, durch das also, was oben das „leichte Spiel" genannt wurde. Teleologie, wo sie zurecht besteht, hat den unschätzbaren Vorzug, daß sie nicht Teillösungen gibt, wie die mühevolle Kausalforschung, die immer nur einzelne Fäden aus dem Geflecht der Ursachen entwirrt, sondern Totallösungen. Sie kann den Verlauf eines hochkomplexen Vorganges, ohne dessen Einzelheiten zu übersehen, direkt von einem Zentralpunkt aus erleuchten. Hat der Vorgang nämlich einen Zweck, und ist dieser für alle Teilvorgänge wirklich bestimmend, so genügt es, den Zweck zu erfassen und sich an seine alles bestimmende Funktion zu halten; die besonderen Mittel und Wege sind dann nur noch von untergeordneter Bedeutung. Das ist in der Tat ein gewaltiger Vorzug. Die Teleologie scheint hiernach unermeßlich viel mehr zu leisten als die mühsam schreitende Kausalforschung; das Unbefriedigende der „halben Lösungen" fällt bei ihr a limine fort, man „versteht" mit einem Schlage das Ganze, und zwar vom Prinzip des Ganzen her. Oder anders ausgedrückt : die unübersichtlichen Zwischenglieder werden übersprungen, und vom Ende her wird das Geschehen als sinnvoll geleitetes begriffen. Diesen Vorzug darf man der Teleologie keineswegs bestreiten. Er besteht zu Recht, aber freilich nur dort, wo sie selbst kategorial zu Recht besteht, d. h. wo es wirklich
Der Schluß aus falscher Alternative
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den bestimmenden Zweck gibt. Das aber ist der schwache Punkt des ganzen Verfahrens. Denn wo im Reiche der Natur oder im Ganzen der Welt ließen sich wohl bestimmende Zwecke wirklich aufweisen! b. Der Schluß aus falscher Alternative Es gibt noch mancherlei Gründe, teils subjektiver, teils aber auch objektiver Art, die dieser Verführung des wissenschaftlichen Denkens Vorschub leisten. Zu den objektiven oder doch sehr objektiv scheinenden zählt das folgende Argument ; es wird freilich niemals als Argument ausgesprochen, verrät sich aber leicht in den Nebensätzen und in der Form der Begriffe. Man kennt oberhalb des Kausalnexus keine andere Determinationsform mehr als den Finalnexus ; man muß also zwangsläufig auf diesen verfallen, wo jener zur Erklärung nicht mehr zureicht. Es ist ein regelrechter Schluß, der hier gezogen wird, und zwar ein disjunktiver. Man geht von einer Alternative aus: die Sache (das Gebilde, der Prozeß, der Organismus) muß entweder kausal oder final determiniert sein, muß also entweder mechanistisch oder teleologisch zu verstehen sein; und dann schließt man im modus tollendo ponens weiter: da er kausal nicht zu verstehen ist, muß er teleologisch zu verstehen und also final determiniert sein. Die Logik lehrt, daß ein solcher Schlußmodus nur schließt, wenn der Obersatz eine vollständige Disjunktion ist. Die Voraussetzung ist also, daß es keine anderen Arten der Determination mehr gibt als nur die kausale und die finale. Diese Voraussetzung ist offenbar fehlerhaft. Auch wenn wir nichts von höheren Determinationstypen wüßten (oberhalb der Kausalität), könnten wir doch nicht dafür einstehen, daß es sie nicht gibt. Im Gegenteil, es wäre sehr erstaunlich, wenn es sie in den höheren Seinsschichten nicht geben sollte, im Organischen, im Seelischen usw., und solche müßten dann mitten innestehen zwischen Kausal- und Finalnexus. Schon im Physischen, unterhalb des Lebendigen, lassen sich gewisse höhere Determinationstypen aufweisen (Zentraldetermination und Ganzheitsdeterminationen des dynamischen Gefüges) ; und vollends bei der organischen Natur ist doch gerade das die Grundfrage, vor der wir stehen: ob nicht eine besondere, uns Menschen nicht geläufige und vielleicht schwer zugängliche Form der Determination die morphogenetischen Prozesse, die Wiederbildung des Individuums, kurz die wichtigsten organischen Vorgänge beherrscht. Es ist merkwürdig zu sehen, wie dieser typische Schlußfehler immer wieder in den biologischen Theorien gemacht wird, und zwar auf beiden Seiten. Mechanisten und Vitalisten scheinen sich darin einig zu sein, daß es keine dritte Möglichkeit neben Kausalität und Finalität gibt. Auch die vorsichtigen Umschreibungen, wenn etwa statt von Zwecktätigkeit von „Zielstrebigkeit" oder „Planmäßigkeit" gesprochen wird, können das teleologische Schema nur ungenügend verdecken. Besser wäre schon
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3. Kapitel. Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens
der von Driesch gewählte Terminus „Ganzheitskausalität", wenn er nicht durch die Art, wie er verwandt wird, gleichfalls das finale Schema verriete. Nicht ganz übersehen darf man hierbei auch eine gewisse Aversion gegen das nüchterne kausale Denken, die sich als Bückstand aus der Zeit vor 300 Jahren gleichsam unterirdisch erhalten hat. Damals wurde die Teleologie im naturwissenschaftlichen Denken entthront, aber das weltanschauliche Bedürfnis wurde nur in den konsequenteren Köpfen davon überzeugt. Man hat nach wie vor stille Hoffnungen auf übergreifende Zweckzusammenhänge genährt und gewissermaßen eifersüchtig darauf hingehorcht, ob nicht doch irgendwo der verhaßten Kausalität „eins ausgewischt" würde. Und wo das in neuen Theorien geschah, da stürzte man sich darauf, ohne Rücksicht, ob der neue Gedanke eine Auswertung in teleologischem Sinne überhaupt zuließ oder nicht. So war es seinerzeit mit Humes Kritik der Kausalassoziation, so wieder in unserer Zeit mit den antikausalen Konsequenzen der Quantenmechanik. c. Begriffliche und methodologische Täuschungen Selbstverständlich spielt hier noch eine Fülle weiterer Motive mit hinein. Man sieht sie am deutlichsten, wenn man, vom biologischen Denken ausgehend, auf die weiteren Lebens- und Wissensgebiete hinblickt. Ein schillernder Begriff ist da z. B. der Entwicklungsbegriff. Man hat sich einerseits daran gewöhnt, jede geschlossene Kette von Abläufen eine „Entwicklung" zu nennen, hält aber andererseits doch etwas vom ursprünglichen Sinn des Wortes fest, der die Auswickelung eines Eingewickelten bedeutet. Der geschichtliche Ursprung dieses Begriffs in den Schriften Pio tins (έξέλιξυ) zeigt die Urbedeutung ganz eindeutig an. In ihr aber steckt ein teleologisches Schema: das Eingewickelte ist als das dirigierende Prinzip der Auswickelung gemeint, sofern diese auf ein vorbestimmtes Resultat hinausläuft. In den biologischen Präformationstheorien des 18. Jahrhunderts hat das noch eine breite Rolle gespielt. Das sieht zwar auf den ersten Blick recht unschuldig aus. Dadurch aber, daß im 19. Jahrhundert der Begriff der Entwicklung zum Schlagwort bedeutender Theorien wurde, und zwar ebenso sehr auf naturwissenschaftlichem Gebiet wie auf soziologischem, wirtschaftswissenschaftlichem, geschichtstheoretischem und vielen anderen, bekam die Sachlage ein ernsteres Gesicht. Das Schillern des Entwicklungsbegriffs bewirkte nun, daß man ihn harmlos als Bezeichnung für beliebige Prozesse einführen und dann viel später, wenn man den Sinn der Einführung längst vergessen hatte, sich seines anderen Gesichts erinnern konnte. Dieses andere Gesicht aber zeigte sich dann als ein teleologisches. So konnte es denn hinterher scheinen, als „zeige" die in Frage stehende Sache, resp. das Phänomen selbst, als seinen Kern ein Zweckverhältnis.
Begriffliche und methodologische Täuschungen
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Nicht immer hat das zum Mißbrauch geführt. Wenn man ζ. B. eine chemische Reaktion unachtsam als „Entwicklung" bezeichnete, so meinte man damit schwerlich jemals etwas mehr als den simplen Ablauf des Vorgangs. Sprach man aber von „Entwicklung" der modernen Geldwirtschaft, des Kapitalismus, der Industrialisierung oder gar von der der Aufklärung, des Pietismus, der Romantik — von geschichtlichen Vorgängen also, in denen menschliche Tendenzen und Ziele eine sehr wesentliche Rolle spielen, so zeigte der Entwicklungsbegriff deutlich sein anderes Gesicht, und die Konsequenz, den Vorgang teleologisch zu verstehen, lag nah. Darin aber steckte eine geschichtsphilosophische Vorentscheidung, die sich rächen mußte. Das Schillern des Begriffs konnte jederzeit so oder so ausschlagen. Und wo das teleologisch-weltanschauliche Interesse überwog, konnte es aus ihm mit Leichtigkeit seine Scheinbeweise ziehen. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhange wurde das methodologische Moment, das Kant in der Kritik der Urteilskraft der Teleologie zugesprochen hatte. Es besteht darin, daß wir unter dem Gesichtspunkt von „Zwecken" — nämlich durch die Betrachtung der Sache, „als ob" sie um eines Zweckes willen so gebildet wäre, wie sie ist, — tatsächlich gerade auf die Spur von Kausalzusammenhängen hingelenkt werden. Es wurde schon oben darauf hingewiesen, wie dieser wahrhaft kritische Gedanke sich im Denken des vergangenen Jahrhunderts nicht rein durchzusetzen vermochte. Nicht nur die offenkundig rückfälligen Theorien des deutschen Idealismus haben hier verwirrend gewirkt. Auch die biologische Wissenschaft selbst hat die Konsequenzen nicht rein zu ziehen gewußt, obgleich sie praktisch dem von Kant angegebenen Regulativ ihre großen Erfolge verdankte. I n der Theorie blieb auch sie vielfach rückständig. Anstatt aus dem Prinzip die Folgerung zu ziehen, daß „Zwecke" biologisch bloß „regulative" Bedeutung haben, meinte man immer wieder, darin eine Art Recht zu finden, sie als „konstitutiv" anzusehen. Der Irrtum ist menschlich sehr wohl verständlich, aber der Wissenschaft hat er einen Bärendienst geleistet. Noch weiter in den Konsequenzen geht ein anderes methodologisches Fehlurteil. Man kann sich nämlich auch direkt an die Teleologie der Methode halten. In aller Forschung steht der Gegenstand, den es zu erfassen gilt, als Endzweck der Bemühung da. Freilich ist es in Wahrheit nur die „Erfassung" des Gegenstandes, nicht also dieser selbst, worauf die Absicht sich richtet. Ein solcher Unterschied aber geht im methodologischen Denken leicht verloren, zumal wenn es ohne erkenntnistheoretische Fundierung ist. Dieses Zweckverhältnis nun, das ja an sich zu Recht besteht, wird sodami auf die Sache selbst übertragen, die ratio cognoscendi wird mit der ratio essendi verwechselt, und zuletzt meint man, der Naturprozeß sei in ähnlicher Weise auf sein Endstadium bedacht, wie die Erkenntnis auf das ihre. Daß das Erfassen ein geistiger Akt ist, von Grund aus anders als das Naturgeschehen, vergißt man darüber.
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3. Kapitel. Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens
Bei nüchterner Überlegung wird es einem schwer, sich in ein solches Netz selbstverschuldeter Fehler hineinzuversetzen. Man vergesse aber nicht, daß in den Jahrzehnten des Methodologismus die direkte Fühlung mit der Gegenstandsrealität fast abgerissen war, daß ein überkritiz istisch gewordenes Denken die natürlichen Formen der Gregebenheit nicht nur verdächtigte, sondern sich ihrer geradezu schämte. Man „fand" sich im Denken und wollte nichts sehen als das Denken, wollte von ihm aus alles beurteilen; ja man leitete aus Überlegungen dieser Art einen allgemeinen logischen Idealismus ab und hielt jeden anderen Ansatz für dogmatisch. Gehalten haben sich solche Theorien freilich nicht. Wohl aber haben sie auf das wissenschaftliche Denken abgefärbt, sodaß ihre Konsequenzen dort erhalten blieben, nachdem sie selbst längst zusammengebrochen waren. Es ist bekannt, wie Hans Driesch seinem Vitalismus nachträglich ein geradezu solipsistisches Fundament zu geben suchte, und wie der Positivismus Machs und seiner Schule sich durch einen methodologischen Subjektivismus vor Einwänden zu retten suchte, denen er nicht gewachsen war. Das eine wie das andere hat seine weiten Kreise gezogen, nachdem die fragwürdigen Ursprünge so gut wie vergessen waren. d. Die Metaphysik des „Verstehens" Diesen methodologischen Antrieben eng verwandt, wiewohl um vieles ernster, ist der gedankliche Anstoß, der um dieselbe Zeit auf dem Gebiet der geisteswissenschaftlichen Forschung von Wilhelm Dilthey ausging. Auch er nahm seinen Ursprung von der Methode, griff aber von ihr bewußt auf das Gegenstandsgebiet über, dem die Methode galt. Dasselbe Jahrhundert, das die Naturwissenschaften zur Höhe geführt, hatte auch die Geschichte-, Sprach-, Kunst- und Literaturwissenschaft erstmalig zum vollen Erblühen gebracht. Die erkenntnistheoretischen Probleme aber, die hiermit neu heraufgeführt wurden, waren vernachlässigt, und die Analogie mit den Naturwissenschaften, auf die man sich zunächst hingedrängt sah, hatte zu einem völligen Versagen der Theorie geführt. Den Einsichtigen war es längst klar, daß es sich hier um einen toto genere anderen Typus des Erkennens handeln müsse. Ihn zu bestimmen war die Aufgabe. Im Gegensatz zum Naturgeschehen, das blind seinen Gesetzen und Ursachen folgt, ist das seelische und geschichtliche Geschehen auf einen „Sinn" hin orientiert, der sich in ihm erfüllt. Man muß also dem Begreifen und Erklären nach Ursachen eine andere Art des Erfassens entgegensetzen, wie es den Gegenständen höherer Seinsordnung gemäß ist. Dilthey nennt es das „Verstehen". Diese Art des Erfassens gilt nun folgerichtig als das höhere Erkennen, das überlegene, das von vornherein auf den Kern des Gegenstandes geht. Und in der Tat läßt sich nachweisen, daß die Geisteswissenschaften in diesem Sinne verfahren, d. h. sinn-
Die Metaphysik des „Verstehens"
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erfassende, deutende, interpretierende Wissenschaften sind. Man kann heute sagen, daß der Grundgedanke des Sinnverstehens sich auf dem Gebiete, für das er gefaßt war, voll und ganz bewährt hat. Doch lag in ihm die Gefahr, über dieses Gebiet hinauszuweisen und rückwärts auf den Naturgegenstand überzugreifen. Wohl konnte das angesichts der mächtig entfalteten Naturwissenschaften und ihrer klaren Methodologie nur schüchtern und gleichsam versteckt geschehen; aber wenn man bedenkt, vor was für Rätseln die Biologie steht, und wie zugespitzt dort der Streit der Theorien ist, so versteht man es schon, wie der Übergriff gleichsam zwangsläufig geschehen mußte; ist doch der Mensch selbst auch organisches Wesen. In ihm eben stoßen seelisches und leibliches Leben so eng aufeinander, bilden derartig eine unlösbare Einheit, daß das Sinnverstehen, einmal eingeführt, unweigerlich mit auf die organische Welt hinausbezogen wird. Ist das aber geschehen, so meldet sich das Überlegenheitsbewußtsein des sinndeutenden „Verstehens" über das Erklären, und es scheint, als geschähe dem Gegenstande Unrecht, wenn man ihn nur nach naturwissenschaftlicher Art begreifen will. „Verstehen" aber läßt sich nur „Sinn", sowie alles, was dem verwandt ist : Wert, Zweck, Bedeutung. Hinter dem zunächst rein deskriptiv eingeführten Terminus „Sinn" birgt sich eben in Wahrheit ein teleologisches Verhältnis. Und nur dadurch überhaupt ist es möglich, mit ihm das Wunder der methodischen Umstellung zu vollziehen. Denn das ist, wie wir gesehen haben, das Eigentümliche der Teleologie, daß sie ein Erfassen des Wesens einer Sache direkt aus ihrem Zentrum heraus ermöglicht. Die Bedingung freilich ist, daß sie selbst zu Recht besteht, d. h. daß im .Gegenstande ein Zweckverhältnis vorliegt. Daß ein solches in den seelischen und geistesgeschichtlichen Vorgängen vorliegt, darin wurzelt der Erfolg des „Verstehens", sowie der Theorie, die sich auf seinem Begriff aufbaut. Daß es unterhalb dieser Gebiete nicht aufweisbar ist, zieht dem Verstehen selbst wie der Theorie eine unübersteigliche Grenze vor. Daß die Verfechter der Theorie diese Grenze nicht eingehalten haben, ist ihr Fehler und hat ihre an sich gerechte Sache ins Unrecht gesetzt. Die außerordentliche Vorsicht der Terminologie, die stets nur die eigene kritische Tendenz hervorkehrt, die gemachten Voraussetzungen aber verschleiert, hat das Gewicht und die Größe des Fehlers, der liier begangen wurde, verdeckt. Man muß die Begriffe ein wenig vergröbern, wenn man ihn sichtbar machen will. Gemeint ist dieses: wenn wir den Naturgegenstand wirklich „verstehen" wollen, so müssen wir auch ihn auf seinen Sinn hin ansehen, müssen ihm also einen Sinn zuschreiben; damit aber schreiben wir ihm einen konstitutiven Zweck als inneres bestimmendes Prinzip zu, haben ihn alsö bereits teleologisch gedeutet. Wenn es aber wahr ist, daß nur ein Verstand einen Zweck setzen kann — wie das die Kritik der teleologischen Urteilskraft in mancherlei Formen ausgesprochen hat —, so würde die Konsequenz die sein, daß die Natur, weil ihr Inneres ein „verstehbares" ist, „Verstand" enthalten müsse. 3 Hartmann, Teleologie
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3. Kapitel. Weitere Motive des wissenschaftlichen Denkens
I n dieser Form wird der geistmetaphysische Hintergrund der Theorie deutlich greifbar. Ein Inneres der N a t u r schwebt hier dem Suchenden vor Augen, nach Analogie des Menscheninneren. Das scheint ihm einleuchtend: es muß doch etwas zu „verstehen" geben am Wesen der natürlichen Gebilde; da aber nur Sinn sich verstehen läßt, müssen diese einen Sinn haben, der ihr Inneres ausmacht. Wer aber würde beweisen können, daß sie über das hinaus, was sie „sind", noch einen Sinn h a b e n ? e. Die Geschichtsteleologie Auch unabhängig von eigentlicher Wissenschaftstheorie gibt es in den Geisteswissenschaften eine teleologische Art der Betrachtung, besonders in der Geschichtswissenschaft. Gemeint ist hier nicht der ganz naive Geschichtsteleologismus, der an eine göttliche Lenkung des Weltgeschehens glaubt, sondern ein viel subtilerer, der sich auf die Eigenart des geschichtlichen Geschehens selbst gründet. E r hält sich nicht an ein allgemeines Sinnpostulat. Das Phänomen, von dem er ausgeht, ist ein durchaus greifbares, empirisches. E r findet, daß die Richtung im Handeln des Politikers nicht unbedingt identisch ist mit seinen bewußten Zielen : es ist, als wäre der Handelnde über die eigene Zwecksetzung hinaus noch einmal zweckgeleitet, als wirkte durch ihn hindurch ein größerer Zweckzusammenhang, in dessen Dienst er tritt, ohne ihn seinerseits ganz zu durchschauen. Der Historiker sagt dann: es ist die Tendenz der Geschichte selbst in bestimmter Zeit, die eines Volkes oder seines objektiven Geistes in bestimmter Entwicklungsphase, die durch ihn hindurch wirkt, ihn also mitsamt seinen besonderen — vielleicht subjektiv bestimmten oder ehrgeizigen — Plänen zum Mittel und Werkzeug ihrer Zwecke macht. Das Phänomen, das hier zugrunde liegt, ist von vielen der großen Geschichtsforscher gesehen worden; und nicht wenige haben es auch in klaren Worten ausgesprochen. Es ist dasselbe, was Hegel dazu brachte, das geschichtlich führende Individuum als den Sachwalter des objektiven Geistes (des „Volksgeistes") zu betrachten. Aber nicht auf die philosophische Theorie kommt es hierbei an, sondern auf die Überzeugung, die hier unmittelbar in der Arbeit des Historikers sich geltend macht, und zwar ohne daß dieser sich der metaphysischen Konsequenzen seines Vorgehens bewußt zu sein brauchte. Die stillschweigende Voraussetzung ist eben, daß es eine reale Zweckläufigkeit im geschichtlichen Handeln des Menschen gibt, die nicht in seinem Zweckbewußtsein und seiner Vorausschau aufgeht; es scheint, daß geschichtliche Tendenzen, die ein Volk erfassen und in seinen zeitweiligen Lenkern sich der Bewußtheit nähern können, nur die Entfaltung von etwas sind, was von Anbeginn in einem Volke „angelegt" ist und zur Verwirklichung drängt. Es handelt sich also um eine Realteleologie des geschichtlichen Lebens von Völkern und ganzen Völkergruppen, die nicht die des Menschen ist.
Die Geschichteteleologie / Gottesbegriff und Weltordnung
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Das meiste in dieser Geschichteteleologie bleibt dabei freilich ganz und gar ungeklärt. Unerörtert bleibt, was überhaupt bestehende „Tendenzen" in einem Volksganzen sind, desgleichen als was ihr Wechseln nach Zeitaltern und Generationen zu verstehen ist. Wenn solche Tendenzen bewußt werden, so nehmen sie den Charakter von Zielen an, inhaltlich also von Ideen, die der Mensch zu seinen Zwecken, Aufgaben oder Normen macht. Aber das Irritierende bleibt, daß sie vor ihrem Bewußtwerden geschichtlich wirksam sind. So wenigstens ist ihr Begriff gemeint. Der Begriff aber ist es, der die teleologischen Konsequenzen hergibt. Mit diesen Fragen sind natürlich noch weitere verknüpft, die alle in demselben Punkte wurzeln. Was heißt es z. B., daß ein Volk seine eigene Richtung (sein „Prinzip") in die Weltgeschichte mitbringt? Ist sie ihm gegeben, ist sie Schicksal, ist sie Anlage ? Oder ist sie bloß die gewordene Eigenart, die erst nachträglich auf Richtung und Zielsetzung hindrängt ? Und dieselbe Frage muß man im Hinblick auf die neuen Strömungen und Bewegungen stellen, die unter unseren Augen im Geistesleben eines Volkes aufkommen und wieder verschwinden, aber mit offenkundiger Eigentendenz auftreten. Auch ihnen folgt das klare Zielbewußtsein meist erst nach. Aber welche kategoriale Form haben sie vor dem Einsetzen des Zielbewußtseins ? Fragen dieser Art sind es, die immer wieder auf den Geschichtsteleologismus hinausdrängen. Sie sind nicht etwa zu vernachlässigen, weil sie im Bewußtsein des Geschichtsforschers zumeist nur ein latentes Bestehen haben und nur gelegentlich zum wissenschaftlichen Gesamtaspekt oder zur Geschichtstheorie durchdringen. In Wahrheit bestimmen sie die Forschung weit mehr, als diese es ausspricht, und zwar sowohl im positiven wie im negativen Sinne, im ungewollten Hindrängen auf ungreifbare Finalzusammenhänge wie in der gewollten Abwehr gegen sie. Weit stärker aber ist im allgemeinen das Hindrängen als die Abwehr. 4. K a p i t e l
Populärmetaphysische Motive a. Gottesbegriff und Weltordnung Neben die teleologischen Motive der positiven Wissenschaft treten die des philosophischen Denkens. Die Grenze ist hier natürlich nicht überall scharf ziehbar, wie ja auch Wissenschaft und Philosophie selbst mannigfach ineinandergreifen. Aber es kommt auch nicht so sehr auf Grenzziehung an wie auf die kategorialen Unterschiede, wobei dann gerade die Zusammenhänge wichtiger als die Trennungsstriche sind. Da es sich bei der philosophischen Teleologie durchweg um metaphysische Fragen handelt, so kann man auch schlechthin von „metaphysischen" Motiven sprechen. Hier aber muß man einen weiteren Unterschied machen zwischen solchen Motiven, die direkt dem meta3·
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4. Kapitel. Populännetaphyeisohe Motive
physischen Bedürfnis entspringen, und solchen, die erst unter bestimmten theoretischen Voraussetzungen sich geltend machen. Man kann die ersteren populärmetaphysische Motive nennen, die letzteren etwa spekulativ-metaphysische. Zu beginnen haben wir mit den ersteren. Sie stehen denen des naiven Bewußtseins wieder um vieles näher als die der positiven Wissenschaft, erheben aber eine andere Form des Geltungsanspruchs. Im übrigen sind auch hier die Grenzen nirgends scharf gezogen, weder zwischen spekulativen und populärmetaphysischen Motiven noch zwischen diesen und denen des naiven Bewußtseins. Handelt es sich doch vielfach um inhaltlich ein und dasselbe; nur die Ausgestaltung und die Argumentation ist verschieden. Die erste Stelle nimmt auch hier, wie im naiven Bewußtsein, das religiöse Bedürfnis ein, im Grunde also die Tendenz des Menschen, sich mit den Mächten zu stellen, von denen er sich abhängig fühlt. Es ist die längste Zeit das beherrschende Moment der Metaphysik gewesen. Die philosophische Gottesvorstellung ist indessen nicht die religiöse. Sie hebt sich, geleitet durch das theoretische Interesse, schon früh von dieser ab, ihren Vertretern aber wird dieser Unterschied erst spät bewußt. Um den Gottesbegriff ist denn auch in den Jahrhunderten des Mittelalters mehr gerungen worden, als die Verwurzelung im Glauben und im Dogma es eigentlich hätte zulassen können. Der philosophische Gottesbegriff ist, so möchte man sagen, von Anbeginn durch und durch reine Teleologie: aufgebaut auf der Grundanschauung, daß eine einheitliche, vernünftige, vorschauend bestimmende Macht in der Welt waltet und alles in ihr, den Menschen mit eingeschlossen, auf ein sinnvolles Ziel hinlenkt. Alles andere tritt gegen diese Zentralidee zurück. Es ist dafür relativ gleichgültig, ob die Gottheit in der Einzahl oder in der Vielzahl gedacht ist, ob sie schrankenlos oder durch einen mächtigen Gegenspieler (einen Zerstörer, Gegengott, Satanas usw.) gehemmt waltet, ob sie bloß Weltbaumeister, Erhalter und Lenker oder auch Weltschöpfer, ob sie Geber aller Gesetze des Seienden oder nur Geber von Geboten für den Menschen, Walter des Rechts und der Sitten ist. Auch die halb ohnmächtigen Götter des Olymp sind ein Versuch, Ordnung, Einheit und planvolles Walten in der gegebenen Welt zu erblicken; und der schon von den Alten gerügte Mangel an Einheit und Kraft ist schließlich kein rein erfundener, sondern nur eine Konzession an die verwirrende Mannigfaltigkeit und den Widerstreit der Welt. Grundsätzlich sind hier überall die bestimmenden Mächte der Welt, auch wo ihrer Gegensätzlichkeit Spielraum gelassen wird, nach Analogie des Wollens und Handelns verstanden, wie es der Mensch vom eigenen Verhalten her kennt. Und so scheint die Welt, im Ganzen wie im Teil und im privaten Leben doch annähernd sinnvoll verständlich, wennschon der Mensch nicht hoffen kann, die Zwecke der Gottheit im einzelnen zu durchschauen. Gerade dieses Nichtdurchschauenkönnen aber entlastet ihn weitgehend; denn was er nicht versteht oder von menschlichen
Grottesbegriff und Weltordnung
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Die Metaphysik des Pantheismus
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Gesichtspunkten aus nicht billigen kann, das kann er so immer noch dem Walten höherer Weisheit, weiterer Planung und Zielsetzung zuschreiben, die ihm nicht mehr faßbar ist. Jedes Mißgeschick und jedes ungerechte Leiden kann ihm immer noch durch „unerforschlichen Ratschluß" gerechtfertigt scheinen. Diese teleologische Theologie ist von Grund aus anthropomorph. Die Teleologie, die in diesem populärmetaphysischen Gottesbegriff steckt, darf man nicht gar zu leicht nehmen. Sie hat geschichtlich eine außerordentliche Stabilität gezeigt und ist noch in ihren späten, halb säkularisierten Formen von erstaunlicher Tragkraft. Man kann das am besten an gewissen Argumentationsweisen der theologischen Apologetik sehen, deren Element von jeher die Populärmetaphysik gewesen ist. Hier nämlich kehrte man das Folgeverhältnis um und „bewies" das Dasein Gottes aus der Finalordnung der Welt. Ein Zeichen, wie sehr die letztere von Hause aus das Grundmoment im philosophischen Gottesbegriff ausmacht. b. Die Metaphysik des Pantheismus Das ändert sich nicht, wenn man den mehr äußerlichen Anthropomorphismus im Gottesbegriff fallen läßt und nur eine allgemeine Weltvernunft zurückbehält. Die meisten metaphysischen Systeme haben das gemacht. Es fallen dabei nur die Züge der Personalität, die Teleologie bleibt bestehen. Das Gedankenexperiment, das hier vollzogen wird, ist übrigens nicht ungefährlich, es bringt den Denker leicht in Widerstreit mit sich selbst. Ein halber Abbau der Personalität ist inkonsequent, wie oft von theistischer Seite geltend gemacht worden ist; ein vollständiger aber, der der Gottheit auch das Bewußtsein nimmt, ist für eine Welterklärung aus Vernunft und planender Schöpfertätigkeit nicht mehr zu gebrauchen. Denn „unbewußte Vernunft" ist ein in sich widersprechender Begriff, weil die teleologische Weltauffassung ja gerade darin besteht, daß man ein Urwesen annimmt, welches die allein dem Bewußtsein mögliche Setzung von Zwecken, Wahl der Mittel und Verwirklichung der Zwecke durch die gewählten Mittel vollzieht. Es hilft nichts, daß man sich dieser Kalamität gegenüber auf die Autorität sehr großer Denker beruft, die solcher Halbheit das Wort geredet haben. In der Philosophie ist mit Autorität nichts zu erreichen ; und von jeher war es gerade die Autorität, gegen die sich das kritische Denken gewandt hat. Alle Systeme, die einen „verbesserten" Gottesbegriff zugrundegelegt haben, die also ihrerseits schon sehr kritisch vorzugehen meinten, wenn sie die naive Menschenähnlichkeit Gottes — Bewußtsein, Wille, Zorn, Rache, Güte und Gnade — preisgaben, haben das erfahren müssen. Ein personal gedachter Gott ist im Hinblick auf die vorsehende, leitende und bildende Funktion, die ihm beigelegt wird, wenigstens folgerichtig gedacht; ein impersonaler Gott, eine „unbewußte Intelligenz" — also ein im kategorialen Sinne unter-
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4. Kapitel. Populännetaphysieche Motive
menschlich gedachtes Absolutes — ist im Hinblick auf diese Funktion jedenfalls nicht folgerichtig gedacht, auch wenn es noch so sehr als übermenschlich proklamiert wurde. Es ist nicht tragfahig, weil es den Widerspruch in sich trägt. Diese Dinge stehen dem Pantheismus bereits ganz nah, haben sich ja auch des öfteren in seine Formen gekleidet. Es muß aber gesagt werden, daß auch die pantheistische Lösung, von der man sich einst die größten Dinge versprach, an der Sachlage selbst nichts ändert. Es soll nicht verkannt werden, daß die Einheitlichkeit des Weltbildes hier einen Höhepunkt erreicht. Und das dürfte es wohl sein, was das metaphysische Denken immer wieder bestochen hat, die Welt selbst als Gottheit zu denken. Der Dualismus von Gott und Welt fallt dabei weg, die Transzendentien des extramundanen Wesens belasten das Denken nicht mehr, die ganze Problematik des Seienden, der Weltentstehung und dessen, was noch werden soll, steht vereinfacht und gleichsam entlastet da. Aber es handelt sich hier nicht um Vereinfachung und Entlastung, sondern um das metaphysische Teleologieproblem. Und da sieht die Sache doch sehr anders aus. Für die Gottheit als vorsehend planende und Ziele verfolgende Macht ist es ganz gleichgültig, ob sie in der Welt oder neben ihr stehend waltet, ob sie mit ihr identisch oder nicht identisch ist. Ist sie vollkommen identisch mit der Welt — was denkbar, aber kaum jemals konsequent durchgeführt worden ist (denn es bleibt dann gar kein Unterschied mehr übrig) —, so springt einfach die Teleologie Gottes auf die Welt selbst über, und diese ist dann das sich selbst bildende und entfaltende Urwesen. Dann aber ist die Welt auch notwendig entweder ein bewußtes oder ein unbewußt zwecktätiges Wesen. Es springt also auch die oben entwickelte Aporie auf sie über; denn im ersteren Falle müßte sie ein Wesen von personaler Art nach Analogie des Menschen sein, im letzteren Falle aber ein in sich widerspruchsvolles Etwas, das die Funktionen des Bewußtseins ausübt, ohne Bewußtsein zu haben. Man wende nun nicht ein, daß ein Pantheismus doch auch ebenso gut ohne allgemeine Welt-Teleologie bestehen könne. Wohl wäre es denkbar, daß die Welt als Selbstentfaltung Gottes auch anders als final determiniert wäre. Aber zwei Dinge sind hierbei zu bedenken. Erstens hat kein Denker in der Geschichte der Metaphysik etwas derartiges gedacht. Mancher wird hier vielleicht Spinoza anführen wollen, der im Appendix des ersten Buches seiner Ethica gegen eine bestimmte Art teleologischen Denkens Stellung nimmt. Aber hier liegt etwas ganz anderes vor: Spinoza wendet sich nur gegen die Unterschiebung kiemmenschlicher Zwecke in die weit größeren Natur- und Weltverhältnisse, keineswegs aber gegen die Teleologie der Formen und die der Prozesse überhaupt. Sein Begriff der causa sive ratio ist weit entfernt, ein eigentlicher Kausalitätsbegriff zu sein, und im amor dei intellectualis bricht deutlich das finale Erklärungsschema durch.
Die Metaphysik dee Pantheismus / Schicksaleidee und Theodizeeproblem
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Zweitens aber hat es doch seinen bestimmten Sinn, wenn der Pantheismus trotz Ablehnung einzelner hergebrachter Momente im Gottesbegriff doch an eben diesem Begriff festhält. Anderenfalls könnte er ja ebensogut ein ganz ungöttliches Urprinzip verkünden und alles von diesem ableiten. Das tut er nirgends. Was aber ist der Grund, daß er es nicht tut ? Die Antwort kann nur lauten: eben dieses, daß nur ein als Gottheit gedachtes Urwesen eine sinn- und zweckgeleitete Welt bestimmen kann. Darauf aber, daß die Welt eine solche ist, kommt es ihm vor allem an. Solch eine Welt kann er bejahen und sich wünschen. Darum muß das Prinzip, das im Ganzen der Welt steckt, ein „göttliches" sein. Gott ist im Pantheismus nur in die Welt hineingenommen. Darum bleibt er in allen anderen Zügen auch hier genau das, was er im metaphysischen Theismus war. Die simple Wahrheit ist : man will eine teleologisch angelegte Welt haben, darum sucht man nicht einen beliebigen, sondern einen göttlichen Weltgrund. Gott ist hier nur ein Name für die Sinnordnung der Welt. c. Schicksalsidee und Theodizeeproblem Vom einfachen Schicksals- und Vorsehungsglauben, wie wir ihn unter den Motiven des naiven Bewußtseins fanden, ist die philosophische Schicksalsidee wohl zu unterscheiden. Es ist zwar dieselbe Ablehnung des Sinnlosen und des Zufalls, die ihr zugrunde liegt; aber es ist nicht wie dort der Protest gegen jede Art der Determination, die gleichgültig über das Leben und Ergehen des Einzelmenschen hinweggeht. Das philosophische Denken läßt auch in seiner populären Form der Vorsehung einen weiteren Spielraum. Der Mensch erwartet von ihr nicht mehr, daß es gerade auf ihn abgesehen sei, faßt das „Geschick", das ihn trifft, nicht mehr ausschließlich als ein „ihm Geschicktes" auf; es genügt ihm jetzt zu wissen, daß überhaupt ein sinnvolles Ziel dahintersteht, das sich im Zuge der Geschehnisse verwirklicht, und zwar mit durch das private Schicksal verwirklicht, das ihm zufallt. Die Selbstverständlichkeit der Frage, „wozu" etwas geschieht, und mit ihr die Voraussetzung, daß überhaupt alles zu einem Zwecke geschieht, besteht hier ungebrochen fort; aber der Mensch prätendiert nicht mehr darauf, daß seine Person der Träger dieser Zwecke sei, und daß die Planung im Weltgeschehen es auf ihn abgesehen habe. Diese erweiterte Schicksalsidee entbehrt nicht einer gewissen Großartigkeit. Die ältere Stoa hat ihr den klassischen Ausdruck gegeben, indem sie die waltende Macht der Vorsehung (πρόνοια) als den allgemeinen Welt-Logos verstand, worin Weltgesetz, Weltsinn und Weltvernunft in eins gedacht waren. Inhaltlich aber verstand sie das Sinnmoment hierbei als die Hinlenkung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit, kraft deren ein jeder das, was er getan, auch einmal wiedererleiden sollte (άντπταθείν).
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4. Kapitel. Populärmetaphysische Motive
Mit dieser „Antipathie"-Lehre verband sich früh, schon in der alten Stoa, das Theodizeeproblem. Denn ein Rest des Gottesbegriffs steckte eben doch auch in der Vorsehungsidee; ohne leitende Vernunft wäre ja auch das vorbestimmte Schicksal ein sinnloses. Andererseits aber konnte dem spekulativen Denken auf dieser Stufe doch auch nicht entgehen, daß die ausgleichende Gerechtigkeit im Leben an allen Enden versagt, auch wenn der Einzelmensch sie nicht engherzig auf sich bezieht. Und so setzt denn zugleich mit der Vorsehungsidee großen Stils auch das Hadern des nach Gerechtigkeit und Glückseligkeit verlangenden menschlichen Denkens ein. Damit wird die Gottheit entthront und vor den Richterstuhl der menschlichen Vernunft zitiert. Was für allen frommen Glauben als ein Nonsens erscheinen muß, geschieht hier zwangsläufig, und zwar im Namen desselben Sinnbedürfhisses und derselben universalen Teleologie, mit der auch die philosophische Gottesidee selbst steht und fallt. Diese Problematik hängt nicht an einer bestimmten Form des Gottesbegriffs oder auch nur der Schicksalsidee. Sie ist aller Vorsehungstheorie eigen und hat sich über viele Jahrhunderte des spekulativen Denkens hingezogen. Im Altertum erschien sie in pantheistischer, im 17. Jahrhundert bei Leibniz in theistischer Form, ohne daß sich an ihr selbst etwas Wesentliches geändert hätte. Nur die Lösungsversuche sind verschieden. Sie zeugt deutlich davon, daß sich die allgemeine WeltTeleologie aus ihren eigenen Grundmotiven heraus sehr schnell in Widersprüche verstrickt, aus denen sie mit ihren Mitteln nicht wieder herausfindet. d. Der physikoteleologische Schein In weitgehender Unabhängigkeit von diesen Überlegungen, und ohne deren moralisch-postulatorische Seite auch nur zu berühren, steht das Motiv der Bezogenheit der ganzen Welt auf den Menschen als ihr Ziel und ihre Krönung da. Es sieht so aus, als wäre alles in dieser Welt für den Menschen eingerichtet, als läge alles für ihn bereit da und warte nur auf ihn als Nutznießer und Herrn. Man kann dieses Gedankenmotiv als Anthropozentrismus bezeichnen. Von jeder Art Anthropomorphismus muß man es streng unterscheiden. Es hat mit diesem gar keine Ähnlichkeit. Weder die Welt noch Gott wird hier nach Analogie des Menschen verstanden; ein Gottesbegriff ist für den Anthropozentrismus überhaupt nicht erforderlich, obgleich letzterer sich sehr wohl aus den Absichten eines auf den Menschen bedachten Weltschöpfers heraus verstehen läßt. Es geht hier durchaus nur um die Stellung des Menschen in der Welt; und diese könnte an sich sehr wohl zutreffend erschaut sein, auch wenn der bekannte Gottesbeweis, den die theologische Apologetik auf ihr aufgebaut hat, das Schicksal aller Gottesbeweise teilt, ein Fehlschluß zu sein. Das Grundmotiv ist also ein selbständiges, und keineswegs ein von Hause aus physikotheologisches.
Der phyeikoteleologische Schein
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Wohl aber ist es ein physikoteleologisches, d. h. ein solches, das in der Gesamtanschauung der Natur besteht. Die Natur eben wird hier in ihrem ganzen Stufenreich als auf den Menschen hin geordnet und angelegt betrachtet. Das Erstaunliche bei dieser Betrachtungsweise ist die außerordentliche Leichtigkeit, mit der in der Anschauung das durchgehende Hysteron-Proteron einsetzt : der Mensch ist mit allen seinen Funktionen an die gegebenen Verhältnisse auf der Erde angepaßt — es konnte ja in diesen Verhältnissen überhaupt nur ein an sie angepaßtes Wesen entstehen und sich erhalten —, aber es „scheint" unentwegt umgekehrt, als wären Himmel und Erde mit allem Detail in ihrem Bereich dem Menschen angepaßt. Und alles in diesem Bereich, begonnen mit Sonne, Mond, Luft und Licht bis hinauf zur Mannigfaltigkeit der Pflanzenund Tierwelt, scheint nun um seinetwillen nicht nur geschaffen und dazusein, sondern auch eigens so beschaffen zu sein, wie es ist. Dieses ist es, was man treffend als den „physikoteleologischen Schein" bezeichnen kann. Diesen Schein zu unterschätzen, weil die Naturwissenschaft ihn längst erledigt hat, wäre ganz abwegig. Wann hätte je ein populärmetaphysisches Gedankenmotiv sich durch Forschung und Wissenschaft verdrängen lassen! Es besteht, von der gereiften Einsicht verjagt, nichtsdestoweniger im Stillen und gleichsam unterirdisch fort. Was ihm im populären Denken immer wieder Auftrieb gibt, ist einfach dieses: dem Angepaßtsein als solchem ist es nicht anzusehen, „was" eigentlich „wem" angepaßt ist, welches der feste und welches der bewegliche Faktor der Beziehung ist. Man denke etwa an Kants Argument, daß die Natur dem Verstände „angemessen" sei. Und da nun der Mensch zunächst immer von sich aus als gegebenem Blickpunkt perspektivisch in die umgebende Welt hineinblickt, so muß ihm zunächst alles auf ihn bezogen und zentriert erscheinen. Es läßt sich nicht verkennen, daß diesem physikoteleologischen Schein etwas vom Charakter des „transzendentalen Scheins" anhaftet, der sich wohl aufklären und durchschauen, aber nie ganz aufheben läßt. Das an wissenschaftliche Einstellung gewöhnte Bewußtsein ist dafür ein schlechter Maßstab; besser sieht man seine Kraft und Tragweite, wenn man auf solche philosophische Weltbilder hinblickt, welche die ganze Welt nur als die des Menschen zu verstehen suchen. Diese brauchen noch nicht eigentlich idealistisch zu sein; es genügt, wenn sie alle Dinge auf den Menschen hin orientiert, um ihn zentriert und durch Eigenschaften charakterisiert sehen, die nur für ihn bestehen. Auch heutige Vertreter der Lebens- und Existenzphilosophie haben diesen Weg betreten. Wohin er führt, läßt sich gerade an solchen Gedankenbauten eindeutig sehen. Derselbe physikoteleologische Schein besteht übrigens auch bei Ausschaltung des Menschen als Endzweck. Er haftet ebensosehr den übrigen Lebewesen an wie dem Menschen, und zwar schon in der bloßen Zweckmäßigkeit der äußeren Lebensbedingungen, in denen sie leben und ge-
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5. Kapitel. Spekulativ-metaphysische Motive
deihen. Auch für sie scheint die ganze Welt zweckvoll eingerichtet zu sein. Denn auch hier besteht überall das gleiche Verhältnis der Angepaßtheit, dem man es a priori nicht ansehen kann, „was" eigentlich „wem" angepaßt ist: die umgebende Welt dem Tiere oder das Tier der umgebenden Welt. Dieses Verhältnis wird in gewissen Fällen auch für das biologisch-wissenschaftliche Denken irritierend, dort nämlich, wo es sich um die „fremddienliche Zweckmäßigkeit" heterogener Arten für einander handelt. Von hier aus geht die Problematik des Naturformenverhältnisses geradlinig und ohne Sprung in die der allgemeinen Zweckmäßigkeit des Organischen über, von der oben die Rede war.
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Spekulativ-metaphysische Motive a. Formenteleologie und Idealismus Eng verwandt dem Anthropozentrismus ist der Gedanke der Formenteleologie. Er beschränkt sich nur nicht auf die Perspektive des Menschen, auch nicht auf die ihr ähnliche des Organischen, sondern hält sich grundsätzlich an die Stufenordnung des Seienden, in der stets das Bestehen des niederen Gebildes die Vorbedingung des höheren ist. Diese Ordnung läßt sich spekulativ ohne Schwierigkeiten auch „nach oben zu" über den Menschen hinaus verlängern, wobei man dann auf ein höchstes oder vollkommenstes Wesen hinausgeführt wird. Es scheint nämlich, als wären durchgehend die niederen Gebilde um der höheren willen da, als hätten sie alle von Stufe zu Stufe die „Bestimmung" in sich, die höhere Seinsform zu tragen oder gar erst hervorzubringen. Die niederen Formen werden auf diese Weise zu Mitteln der höheren herabgesetzt, wodurch ihnen dann gleichzeitig die Selbständigkeit ihres Bestehens abgesprochen wird. Dieser Gedanke variiert in verschiedenen Bildern und entsprechend verschiedenen Ordnungsbegriffen. Er kann sehr neutral als bloße Teleologie der Seinsbedingungen auftreten, kann aber auch als „Entwicklung" der höheren Gebilde aus den niederen verstanden werden, wobei die ersteren in den letzteren,,angelegt' ' sein müßten. Er kann schließlich auch so gefaßt werden, daß ein oberstes Zweckprinzip der ganzen Welt die Stufenordnung durchwaltet. In diesem Falle muß natürlich das Prinzip von unten auf schon in den niedersten Seinsformen, also etwa denen der unbelebten Natur, resp. der Materie, enthalten und wirksam sein. Da aber das oberste Zweckprinzip nur bei der höchsten Seinsform liegen kann, also von der Art des geistigen Seins sein muß, so ergibt sich, daß schon in der Materie der Geist angelegt sein und von da aus in der aufsteigenden Reihe der Gebilde sich „entfalten" muß.
Formenteleologìe und Idealismus
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In dieser Perspektive ist die Natur durchaus nur um des Geistes willen da. Aber der Gedanke greift damit weit über den Bereich der Natur hinaus, er spannt alle Schichten des Realen in ein einziges teleologisches Schema. Dabei wird die Selbständigkeit der niederen Stufen nicht in jeder Hinsicht aufgehoben, sondern nur im Hinblick auf ihre Bestimmung. Es wird nicht behauptet, daß alles Materielle zum Lebendigen empordränge, alles Lebendige zum Seelischen, alles Seelische zur Freiheit und Bewußtheit des Geistes. Das würde den Phänomenen widersprechen, denn es gibt unendlich viel leblose Naturgebilde, die auf ihrer Stufe verharren, Lebewesen, die nicht zum Bewußtsein gelangen, usf. Nicht alle Bestimmung zum höheren Sein kann sich erfüllen. Nur die Bestimmung selbst kann durchgehend bestehen und sich eben daran erfüllen, daß die niederen Stufen des Seienden den höheren als Grundlage dienen. Dieses gedankliche Motiv, meist mit einer Theorie der Formenkontinuität verbunden, ist geschichtlich von hoher Autorität getragen und hat sich in den verschiedensten Zeiten immer wieder durchgesetzt. Im Aristotelischen Stufenbau der Welt ist es unverkennbar enthalten: ein oberstes bewegendes Prinzip zieht alles Seiende zu sich hinauf, und die Reihe der Formen ist die Stufenfolge, die zu ihm hinaufführt. Die Hochscholastik hat diese Perspektive übernommen, sie im dogmatisierten Gottesbegriff verankert und im übrigen fast als Selbstverständlichkeit behandelt. Leibniz machte daraus ein einziges großes Kontinuum der Seinsformen, die er als Entwicklungsstufen der Monaden verstand, so daß die empirisch gegebenen Einschnitte der aufsteigenden Reihe darin nahezu verschwanden. Hegel endlich spannte sie in ein realdialektisches Verhältnis ein: jede niedere Form hat ihre Vollendung in der höheren, hat die Tendenz, zu ihr zu werden; alles ist „aufwärts" gerichtet, alles vom höheren Ziele her bestimmt, denn das Niedere ist das in sich Unfertige und Unvollkommene. Diese Formenteleologie ist bei den größten ihrer Vertreter freilich durch mancherlei Abstriche gemildert. So bei Hegel z. B. durch den Gedanken, daß nicht eine höchste Stufe allein für sich, sondern vielmehr die ganze aufsteigende Reihe das maßgebende Prinzip bildet; das wollte der Satz besagen: „die Wahrheit ist das Ganze". Aber das ändert am Grundsätzlichen nichts. Gerade im „Ganzen" gesehen, ist es eben doch eine „Metaphysik von oben", in der durchgehend das Niedere um des Höheren willen da ist. Verwandt diesen Dingen sowie dem populärmetaphysischen Anthropozentrismus ist auch die Einstellung des Idealismus. Das gilt von seinen beiden Hauptformen, der subjektiven wie der objektiv-metaphysischen; es gilt auch noch dort, wo seine Grundmotive „kritischer" Art sind. Die subjektive Form des Idealismus nimmt die Welt ins Bewußtsein hinein, sie ist die „seinige", von ihm hervorgebracht, fällt also unter seine Kategorien. Damit fällt sie auch unter seine Endabsichten, sein Telos. Dieser Zusammenhang ist sehr einleuchtend an Fichtes erster
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6. Kapitel. Spekulativ-metaphysische Motive
Wissenschaftslehre zu sehen. Das Ich „setzt" das Nicht-Ich; aber warum tut es das ? Fichtes Antwort liegt im Übergang zur praktischen Philosophie: es muß das Nicht-Ich setzen, weil es ein tätiges Ich ist, Tätigkeit aber eine Welt voraussetzt, an der es tätig sein kann. Oder mit Fichtes Ausdruck: es produziert die Welt, um eine Welt zu haben, „auf die es handeln kann". Sieht man sich den Aufbau der Wissenschaftslehre auf diesen kritischen Punkt hin an, so findet man, daß er von den ersten Schritten ab genau ebenso teleologisch angelegt ist. Daß Fichte selbst sich sehr energisch gegen den Verdacht der Teleologie verwahrt, will dem gegenüber wenig bedeuten, denn es ist nur eine mehr äußere und gröbliche Form des Zweckverhältnisses, die er abwehrt. Die innere Form der Schlußweise kann er nicht verleugnén. Diese aber ist von Anbeginn auf die Frage eingestellt: was muß das Ich tun, um das zu sein, was sein Begriff besagt, Bewußtsein seiner selbst ? Und die Antwort fallt so aus, daß es von einer Aktion zur anderen weitergeführt wird, wobei es eine lange Stufenreihe der Tätigkeiten durchläuft, in der immer die niedere um der höheren willen geschieht. Das läuft unverkennbar auf die oben gezeichnete Formenteleologie hinaus. Daß diese hier als eine innere des Bewußtseins auftritt, ändert an der Sachlage nur wenig. Das ist auch der Grund, warum der subjektive Idealismus so leicht in den „objektiven" umschlagen konnte. Nur das Stehenbleiben bei der Innensphäre des Bewußtseins wird preisgegeben; die ohnehin darüber hinausgewachsene Stufenfolge mit ihrer Zweckordnung bleibt dieselbe. Oder auch so: die Welt wird hier in ein Bewußtsein höherer Ordnung hineingenommen, nicht mehr also in das menschliche, sondern in ein transzendentales, objektives, absolutes, in eine Weltvernunft, die ihrerseits bereits als gewiß hingenommen ist. Damit fallt sie unter deren Kategorien, und wiederum vor allem unter ihr Telos. Die Stufen, in denen sie sich entfaltet, sind die Gestalten, welche die Weltvernunft annimmt, und ihre Reihenordnung zeigt deutlich das Aufwärtsstreben von der niederen zur höheren Form. Der Mensch als denkender und philosophierender sieht sich selbst am Ende dieser Entwicklung, und auf ihn hin, resp. auf sein philosophisches Weltbewußtsein hin, ist die ganze Reihe angelegt. In beiden Fällen, im subjektiven wie im objektiven Idealismus, haben wir dasselbe Ausgehen von der Vernunft als der umfassenden Sphäre, in beiden Fällen ist die Welt Vernunft. In beiden Fällen sind es die Prinzipien des Geistes — Prinzipien des Sinnes, des Zweckes, des Wertes —, die zugleich als Prinzipien der ganzen Welt dastehen. Es ist oft ausgesprochen worden, daß es sich hier überall um nichts anderes als den säkularisierten intellectus divinus handelt. Und in der Tat ist dieser geschichtliche Zusammenhang nicht zu verkennen. War doch schon in der Scholastik der „göttliche Verstand" der Träger und Inbegriff der Universalien, durch die der menschliche die Welt begreift.
Descartes und Kant
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b. Descartes und Kant Wie sehr das der Fall ist, und wie stark sich dieser Zusammenhang bis in das Erkenntnisproblem hinein geltend macht, dafür ist die Problematik des Apriorismus bei den großen Denkern der Neuzeit ein gutes Beispiel. Sieht man diese Entwicklung nur von der Kritik der reinen Vernunft aus, so ist ihr teleologisches Fundament kaum mehr erkennbar. Wohl aber wird es sichtbar, wenn man von den älteren Fassungen ausgeht. Was Kant in seiner transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe eigentlich „deduzieren" wollte, waren nicht die Kategorien selbst, sondern ihre „objektive Gültigkeit" für Gegenstände möglicher Erfahrung. Als Deduktionsgrund dient die „transzendentale Apperzeption", sofern sie dem gegebenen Mannigfaltigen ebenso zugrunde liegt wie den Kategorien. In ihr wiederum steckt der Gedanke eines Bewußtseins höherer Ordnung über dem empirischen Bewußtsein des Einzelnen, welches eben deswegen über die Erfahrung und die Gegenstände der Erfahrung übergreift. Es ist den Interpreten Kants nicht entgangen, daß sich in diesem Gedanken ein säkularisierter Rest des alten intellectus divinus birgt; denn auch dieser war ja von vornherein als ein übergreifender gedacht, als welterschaffend einerseits und den menschlichen Intellekt erleuchtend andererseits. Immerhin sind die Hintergründe hier verdeckt. Ganz anders aber sieht die Sache bei den älteren Lösungsversuchen aus. Denn das Problem ist um vieles älter. Als Repräsentanten dafür kann man Descartes anführen. Auch er kennt das Problem der objektiven Gültigkeit. Es hängt an den ideae innatae. Da diese der Erfahrung vorausgehen, besteht die Möglichkeit, daß der menschliche Verstand, indem er sie anwendet und die Dinge nach ihnen beurteilt, einer ungeheuren, lebenslänglichen Täuschung unterliegt. Diese Möglichkeit faßt Descartes unter der Idee des deus malignus zusammen: es könnte sein, daß ein böswilliger Gott unseren Verstand so eingerichtet hätte, daß unsere Vorstellungen grundsätzlich unzutreffend ausfallen müssen; das eben würde es bedeuten, daß unsere eingeborenen Ideen keine objektive Gültigkeit haben. Man weiß, wie Descartes sich hier geholfen hat. Der springende Punkt ist der Beweis für das Dasein Gottes; wobei das Hauptgewicht darauf liegt, daß nicht eine beliebige Gottesidee zugrundegelegt wird, sondern in aller Form die alte des Anselmus : Gott als absolut vollkommenes Wesen. Und hier wurzelt nun das teleologische Moment des ganzen Gedankenganges, wie denn auch gerade an diesem Punkt alles weitere hängt: ein absolut vollkommenes Wesen kann kein deus malignus sein, es muß ein allgütiger Gott sein. Dann aber kann es in seiner Absicht nicht liegen, den Menschen in grundsätzlicher Täuschung zu halten. Es müssen also die eingeborenen Ideen, die er unserem Verstände gegeben hat, auf die Dinge und auf die Welt überhaupt zutreffen, die zu erkennen
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5. Kapitel. Spekuiativ-metaphyeische Motive
unserem Verstände obliegt, und was uns unter ihrer Leitung „klar und deutlich" erscheint, muß sich auch in Wirklichkeit so verhalten. Wenn man über die Gegensätze der metaphysischen Voraussetzungen hinwegblickt, wird man schwerlich verkennen, daß dieser Gedankengang dem Kantischen im Kerne verwandt ist und daß er seinerseits bereits eine Art transzendentaler Deduktion darstellt, wiewohl gerade der „transzendentale" Charakter in ihr durch die hergebrachte Form der Gottesmetaphysik verdeckt wird. Hier wie dort geht es um die „objektive Gültigkeit" der apriorischen Prinzipien des menschlichen Verstandes, hier wie dort ist es eine ihn und die Welt der Gegenstände überwölbende Instanz, bei der die Lösung gesucht wird. Nur das optimistisch-teleologische Element ist es, das bei Descartes offen zutage liegt und gleichsam bei seinem traditionellen Namen genannt ist, bei Kant aber hinter dem schwer greifbaren Gedanken der „transzendentalen Apperzeption" verborgen ist. An die Stelle der Realität des vollkommensten Wesens ist der transzendentale Idealismus mit seiner Unterordnung der empirischen Welt unter ein Bewußtsein höherer Ordnung getreten. In diesem aber ist das Zweckverhältnis unkenntlich geworden. Der Weg, den der Deduktionsgedanke von Descartes bis Kant beschrieben hat, läßt sich noch in mancherlei Phasen greifen. Statt weiterer Belege sei hier nur an Leibniz' „prästabilierte Harmonie" erinnert. Diese ist gewiß nicht in erster Linie für das Erkenntnisproblem geprägt worden, kommt ihm aber doch nicht weniger als etwa dem Leib-SeeleProblem zugute. J a , auch rein erkenntnistheoretisch fallt ihr eine womöglich noch größere Rolle zu als dem cartesischen Gottesbegriff, weil der Apriorismus bei Leibniz viel weiter reicht und die äußeren Quellen des sinnlichen Erfassens den Monaden abgeschnitten sind. Deutlich zeigt der Harmoniebegriff die teleologische Form, und das Prästabiliertsein unterstreicht es noch. Darüber kann auch die nüchterne Überlegung nicht hinwegtäuschen, daß hinter dieser Harmonie die Identität der ewigen Ideen steht, unter denen einerseits die Welt geschaffen ist, die aber andererseits auch im Verstände des Menschen den Apparat der Repräsentation beherrschen. Es ist und bleibt auch im Verstände des Menschen die Vorsorge des allgütigen Wesens, welche die „beste aller möglichen Welten" geschaffen hat. Der Mensch eben mitsamt seiner Erkenntnis ist nur eine Stufe im Formenkontinuum dieser Welt. c. Unklarheit in d e r Geschichte des Kausalitätsbegriffs Nicht an der Formenteleologie allein hängen die spekulativ-metaphysischen Motive des finalen Denkens. Sie haften ebenso sehr auch a n der Deutung der Prozesse und sogar der einzelnen Gebilde. Von alters her war der Begriff der Ursache (αΙτία) vieldeutig. Aristoteles faßte ihn so weit, daß er jede Art von Seinsgrund darunter begreifen konnte. I n diesem Bestreben unterschied er vier Arten der
Unklarheit in der Geschichte des Kausalitätebegriffs
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οίτία: die Materie, die substantielle Form (Wesenheit), den Ursprung der Bewegung und den Zweck. Man sieht, hier ist das Finalverhältnis als Spezialform der Ursächlichkeit dieser subsumiert. Bei solcher Einteilung kann man die beiden Determinationsformen natürlich nicht einmal klar voneinander unterscheiden. Form und Materie haben der Sache nach erst recht nichts mit Ursache zu schaffen. Am ehesten paßt noch der an dritter Stelle aufgezählte „Bewegungsursprung" auf das, was im strengen Sinne „Ursache" ist. Aber auch er betrifft nur das erste Glied des Prozesses, nicht laufend jedes Stadium, sofern es ein weiteres hervorbringt. Ein wirklicher Kausalitätsbegriff ist eben hier noch gar nicht vorhanden; was immerhin wunder nehmen kann, weil die Atomistik mit der Herausarbeitung eines solchen voraufgegangen war. Diese Begriffsverwirrung wird indessen erst voll gemacht durch die Gleichsetzung von drei Arten der αΙτία, nämlich der Form, des Bewegungsursprungs und des Zweckes. Das Resultat ist die bekannte Zweiheit von Materie und Form, die nun übrigbleibt. Aber das einfache Resultat ist durch Gewalttat erzielt : wer bewegende Ursache und Zweck gleichsetzt, der entscheidet vor über die Art, wie die Geschehnisse in der Welt determiniert sind; er macht sie alle zu Finalprozessen, weil jede bewegende Ursache ihm als „Zweckursache" gilt (causa finalis). Damit ist in der Tat der Gegensatz der Determinationsweisen so gut wie vernichtet, und übrig gebheben ist allein die Finalität. Für einen freien Kausalzusammenhang ist in dieser Zwangsjacke kein Spielraum mehr. An sich ist das nun bloß eine spekulative These und durchaus noch kein Motiv des metaphysischen Denkens. Wenn aber der Urheber der These zu einzigartiger Autorität aufrückt und sich in dieser Stellung viele Jahrhunderte lang erhält, dann wird daraus eine Tradition und zuletzt eine Art Dogma, das für unantastbar gilt. Es ist das Schicksal der europäischen Philosophie, daß eben dieses Aufrücken zum Dogma sich an der Gleichsetzung von causa efficiens und causa finalis vollzog. Dadurch wurde diese zu einem „Motiv" des spekulativen Denkens — rein sekundär durch das einmal eingefahrene Denkgeleise —, wie es stärker und autoritativer kaum denkbar ist. Daß in dem Gegensatz von causa immanens und causa transiens sich daneben noch ein Rest von selbständig ontologischer Besinnung erhielt, konnte gegen die Übermacht des dogmatiäierten teleologischen Denkens nicht mehr aufkommen. Lag doch von vornherein in der Hochscholastik der ganze Nachdruck auf der causa immanens, d.h. in der darinbleibenden oder beharrenden Ursache, die letzten Endes zur essentia gehörte, während die causa transiens (die in die Wirkung verschwindende) als etwas Akzidentelles galt. Heute ist es leicht zu sehen, daß gerade in der letzteren das eigentliche Kausalitätsprinzip steckte. Aber das war jenen Zeiten verborgen. Die ungeheure Verunklärung des Kausalitätsbegriffs, die hier ihre Wurzel hat, konnte natürlich nicht bei ihm allein stehen bleiben. Sie griff über auf eine Menge weiterer Begriffe, auf den der Form, der Be-
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5. Kapitel. Spekulativ-metaphysische Motive
wegung, des Lebens, ja auf den Begriff der Natur selbst. Die Aristotelische „Physik" spricht das in aller Offenheit aus: φύαι;, verstanden als die „Natur einer Sache", besagt hier soviel wie ihr richtungbestimmendes Wesen, oder einfach die „Bestimmung" der Sache zu etwas. Sie zeigt das Schema der immanenten Zweckursache. Jedes Ding trägt hiernach seine „Bestimmung" in sich, und sofern es diese erfüllt, ist seine Veränderung die naturgemäße Entfaltung seines Wesens. Aus diesem Naturbegriff entsprang später der Gedanke der natura naturans als der schöpferisch bildenden Natur, wie wir ihn heute noch von Giordano Bruno und seinen Nachfolgern her kennen. Es ist allem Gerede von Kausalität zum Trotz ein durch und durch teleologischer Naturbegriff. Mit diesem Naturbegriff hat sich dann noch in der Naturphilosophie der Idealisten eine wahre Komödie abgespielt. Zuerst nahm man im Sinne dieses geheimnisvollen Naturprinzips stillschweigend das Schema der Finalursache in die zeitliche Kausalfolge hinein, wobei man wie selbstverständlich noch Intelligenz oder Willen, oder auch beides dazupackte. Hinterher aber holte man mit geeigneter Analyse diese Requisiten eines nach dem anderen wieder hervor. Der Erfolg schien ein vollständiger zu sein. Was konnte ihm auch fehlen? Der selbstgemachte Naturbegriff gab einwandfrei seine Bestandstücke her. Es war die reine Koffertheorie. Aber der Koffer war nicht erst von Schelling gepackt worden, sondern viele hundert Jahre früher, in der Hauptsache schon von Aristoteles. d. Die Auswirkung der Lehre von Potenz und Aktus Das Geflecht metaphysischer Begriffe, die hier zum Range zwingender Motive aufgerückt sind, ist damit noch nicht erschöpft. Es ist von eigenartigem geschichtlichem Interesse zu sehen, wie auch die feineren und hintergründigeren Fäden dieses Geflechts auf den Altmeister Aristoteles zurückgehen. Am nachhaltigsten dürfte hier seine Lehre von „Dynamis und Energeia" gewirkt haben; „Potenz und Aktus" waren die wohlgewählten lateinischen, „Möglichkeit und Wirklichkeit" die weit weniger zutreffenden deutschen Übersetzungen dieser Bezeichnungen. Denn gerade reine Modalitätsbegriffe waren sie von Hause aus nicht. Eine eigenartige Verwürfelung metaphysischer Grundmomente liegt in ihnen vor. Die Dynamis ist weit entfernt, reine „Möglichkeit" zu sein. Von Anbeginn wird sie einerseits als teleologische Potenz „zu etwas" verstanden, was in ihr als Ziel vorgezeichnet ist, sei es als „Anlage" wie im Reich des Organischen, sei es als „Fähigkeit" (aktives Können) wie in der Techne (der Kunstfertigkeit) des Menschen; überhaupt ist ihr Begriff von diesen beiden Gebieten hergenommen und dann erst verallgemeinert auf die ganze Natur und die Welt überhaupt übertragen. Andererseits aber, soweit sie „Möglichkeit" bedeutet, ist mit ihr die disjunktive Doppelmöglichkeit gemeint, die immer zugleich das Möglichsein von A und
Die Auswirkung der Lehre von Potenz und Aktus
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non-A besagt. Wie diese Unbestimmtheit in ihr mit der teleologischen Hinordnung auf dasjenige, „dessen" Möglichkeit sie ist, sich reimen soll, bleibt hierbei durchaus offen, und zwar allen Bemühungen des Aristoteles zum Trotz, durch Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Dynamis für beide Momente Spielraum zu schaffen. Das Wesentliche bleibt schließlich doch das affirmative Moment in der Dynamis, das teleologische, was Mar aus der Lehre von der Priorität der Energeia vor der Dynamis hervorgeht. Diese Lehre besagt eben, daß jede Potenz ihre inhaltliche Bestimmung von der Verwirklichung her hat, auf die sie final hinzielt, also diese dem Logos wie dem Sein nach schon voraussetzt. Es ist in ihr auf den Zweck abgesehen. Und solange dieser nicht verwirklicht ist, wartet sie nur auf die Entscheidung für oder wider das Zustandekommen der Sache —, nicht anders als auch die menschliche Absicht auf die Chance ihrer Verwirklichung wartet. Und ebenso ist denn auch die Energeia nicht der reine Seinsmodus eines beliebigen Wirklichen, einerlei wie es zustande kommt, sondern durchaus nur die Verwirklichung eines „Eidos", d. h. einer Formsubstanz, die als Zweck vorgegeben ist. Dieses Vorgegebensein reimt sich genau mit der Priorität der Energeia, sofern diese in der Dynamis vorbesteht. Das ist von ausschlaggebender Bedeutung: gemäß diesem Energeia-Begriff ist zum Beispiel ein Bruchstück, das als solches ja nicht Verwirklichung eines Eidos ist, nichts „Wirkliches"; und ebenso wenig wirklich ist eine gleichgültige, d. h. „zufallige" oder „automatische" Bewegung, eine Zerstörung oder ein Zerfall. All sowas ist eben kein Gelingen und Zustandekommen, keine Vollendung (Entelecheia) von etwas, was entstehen sollte und worauf es abgesehen war. In der Aristotelischen Welt muß also sehr vieles als unwirklich gelten, was tatsächlich besteht. Das ist natürlich nur sinnvoll, wenn man die Welt von vornherein von einem unveränderlichen Formenreich aus betrachtet und nur das als im vollen Sinne seiend ansieht, was Realisation der reinen Formen ist. In der Tat spielen Gebilde und Werdeprozesse anderer Art bei Aristoteles eine ganz untergeordnete Rolle, und die für sie geprägten Begriffe des „Zufälligen" und „Automatischen" bleiben durchaus unerklärt in der Luft schweben. Dieser metaphysische Wirklichkeitsbegriff, nach dem nur das Wohlgelungene und Formgerechte „wirklich" ist, hat ebenso wie die Formenteleologie bis in die Neuzeit hinein vorgeherrscht. Er ist zwar nicht unbestritten geblieben, blieb aber dennoch gerade in den großen Systemen maßgebend. Er verband sich im Mittelalter mit dem Realitätsbegriff, der ursprünglich etwas anderes bedeutete: in einer Sache ist soviel reali tas, als an erfüllter positiver Wesensbestimmung in ihr ist ; von den niedersten zu den höchsten Gebilden führt eine geschlossene Stufenfolge der zunehmenden Realität, und ganz obenan steht das ens realissimum. Noch bei Hegel gibt es diesen teleologischen Wirklichkeitsbegriff. Weltbekannt wurde das Prinzip, das er in der Vorrede seiner Rechtsphilosophie proklamierte: was vernünftig ist, das ist auch wirklich, und 4 Hartmann, Teleologie
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5. Kapitel. Spekulativ-metaphysiacho Motive
umgekehrt. Welchen teleologischen Optimismus des Geisteslebens und der Geschichte dieser Satz bei Hegel besagt, bedarf keines Wortes der Erklärung. Man vergißt aber darüber nur zu leicht, daß er seinen Ursprung in dem alten Prinzip der actualitas hat, deren Sinn nicht ein schlicht modaler, sondern der oben angegebene teleologische ist, daß nur die Verwirklichung einer Idee (eines Form- und Wertprinzips) „wirklich" ist. Unter dieser Voraussetzung ist der Satz Hegels eine Selbstverständlichkeit . Für unser Problem aber liegt die wichtigste Konsequenz der Lehre von Dynamis und Energeia in der Auffassung der „Bewegung". Genau genommen ist dafür freilich der Bewegungsbegriff viel zu eng, denn waa die Alten unter κίνηση verstanden, umfaßt alle Arten des Vorganges, des Prozesses, des Geschehens, vor allem auch alle qualitative Veränderung. Was also ist „Kinesis", wenn man sie aus dem Widerspiel der beiden Seinsmodi heraus bestimmen will ? Sie geht offenbar weder in Dynamis noch in Energeia auf; jene vielmehr ist ihr Anfangs-, diese ihr Endstadium, sie selbst aber steht mitten inne, ist der Übergang von jener zu dieser. Denn jeder wesenhafte Prozeß ist ja als Verwirklichung eines Eidos bestimmt. Aristoteles definiert in seiner Physik: Kinesis ist die Wirklichkeit eines bloß Möglichseienden, und zwar gerade sofern es bloß möglich ist. Das ist eine Bestimmung, die von Rechtswegen beiden Modalbegriffen widerstreitet, denn das bloß Mögliche hat ex definitione keine Wirklichkeit. Nun aber haben die Übergangsstadien doch auch ein Wirklichsein, wennschon sie nicht Verwirklichung des Endzieles sind. Hier bricht also deutlich schon bei Aristoteles selbst ein anderer Wirklichkeitsbegriff durch, und dieser ist neutral und ateleologisch. Aber nicht das ist die Folgerung, die· Aristoteles zieht. Er schließt umgekehrt: die Kinesis ist unvollendete Wirklichkeit (ένίργεια άτελήΐ), die noch nicht zum Ende gekommene Verwirklichung. Aus dem so über die Dialektik des inneren Widerstreits hinweg gebildeten „Begriff" des Geschehens kann man dann wiederum mitLeichtigkeit die ganze Naturteleologie herausholen. Und was in diesem Schema nicht aufgeht, ist nur das Entstehen des Nicht-Formgerechten und Nicht-Zweckgerechten. Dieses tut man dann als das Zufällige und. Unwesentliche ab. So hat sich denn hier das metaphysische Denken vollkommen im eigenen Netz gefangen. Das zwecklose Geschehen, das seinem Schema, widerstreitet, ist zwar nicht ganz zu verleugnen, aber es ist zum Nebensächlichen herabgesetzt, das man vernachlässigen kann, und das kein selbständiges Probleminteresse beansprucht. Die Ursächlichkeit aber, soweit man sie anerkennt und der Erörterung wert erachtet, hat vollkommen das Gesicht eines zielbewußt lenkenden Prinzips angenommen, so wie wir es vom Tun des Menschen her kennen.
Die Unbegreiflichkeit dee Hervorbriiigens im Kauealverhâltnis
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e. Die Unbegreiflichkeit des Hervorbringens im Kausalverhältnis Zu diesen rein historischen Motiven, hinter denen sich, noch deutlich erkennbar, eine Reihe von solchen des naiven Bewußtseins birgt, treten solche von echt systematischem Charakter, die deutlich das Gesicht ungelöster metaphysischer Probleme zeigen und als solche wohl auch nicht aufhebbar sind. Unter diesen machen sich in erster Linie diejenigen bemerkbar, die am Wesen der Kausalitätskategorie hängen, in der Weise nämlich, daß sie das spekulative Denken an ihr irre machen. Auf sie konnte bereits oben bei den Motiven des wissenschaftlichen Denkens mehrfach hingewiesen werden. Sie erschöpfen sich aber nicht in der Kausalaporetik, soweit die Wissenschaft sie verfolgen kann. Das metaphysische Denken geht beträchtlich über sie hinaus. Es muß da vor allem an die immer wiederkehrende Verwechselung von Kausal- und FinalVerhältnis, sowie an die Umkehrung der Determinationsrichtung in der Theorie erinnert werden (vgl. Kap. 2 b und c). Die Tendenz des Bewußtseins zu solcher Umkehrung erwies sich als verwurzelt in der Tatsache, daß es einem Prozeß als solchem nicht anzusehen ist, ob er kausal oder final determiniert ist, in der Leichtigkeit, mit der alle Rätsel sich zu lösen scheinen, wenn man ein Zweckverhältnis annimmt, sowie in dem unaufhebbaren Denkzwang, alle Zweckmäßigkeit für Zwecktätigkeit zu halten. Aber auch damit ist die Verwurzelung dieser Tendenz nicht erschöpft. Es liegt hier noch ein weiteres metaphysisches Moment zugrunde, das freilich erst bei höherer Entwickelung des spekulativen Denkens ans Licht kommt. Dieses besteht in der gnoseologischen Irrationalität des Kausalnexus selbst. Wie in anderen Realkategorien auch gibt es hier einen unerkennbaren Rest, den wir nicht ausschöpfen können. Wäre Kausalität ein bloßes Gesetz, wie man sie ja meist als ein solches faßt, so könnte das widersinnig erscheinen. Aber sie geht in Gesetzlichkeit nicht auf. Hinter dem Gesetz steht das reale „Kausalverhältnis", das in jedem Falle ein anderes und individuelles ist ; und wiederum dahinter steht die „Kausalreihe", die vorwärts wie rückwärts ins Unendliche läuft und in der Verschlingung der Reihen den „Kausalprozeß" bildet. Aber auch das ist nicht das Letzte und Innerste der Kausalität. Dieses kommt erst heraus in der Dynamik der Reihe, sofern hier Glied für Glied produktiv ist, hervorbringend, und zwar je nach dem breit in der Simultaneität auslangenden Ursachenkomplex immer anderes hervorbringend. An diesem dynamischen Moment des Hervorbringens hängt der unerkennbare Rest in der Kausalitätskategorie. Und es dürfte klar sein, daß gerade hier der eigentliche Kern ihres Wesens liegt. Denn das Hervorbringen ist ja identisch mit dem „Bewirken" als solchem. Niemand anderes als Kant — der ja auch als erster eine Kategorialanalyse der Kausalität versuchte — hat dieses Unerkennbare gesehen und als solches bezeichnet. „Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne, wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeit4*
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punkte ein entgegengesetzter in einem anderen folgen könne, davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff" (Krit. d. r. V. 2. Aufl. 252). Deutlicher kann man die Irrationalität gerade des kategorialen Kernes in der Kausalität nicht aussprechen. Kant weiß sehr genau, daß wir auf empirischem Wege sehr vieles über die besondere Art des Hervorbringens im Einzelfall herausbringen können; das eben tun die Naturwissenschaften, und dazu führt alle Kenntnis von Kräften und Gesetzen. Aber in den letzteren ist doch das Grundsätzliche des Hervorbringens als solchen immer schon vorausgesetzt; dieses könnte also nur a priori eingesehen werden, und eben diese apriorische und grundsätzliche Einsicht haben wir nicht. Das ist an sich nichts sonderlich Merkwürdiges an einer Realkategorie. Auch andere Kategorien enthalten irrationale Reste; am bekanntesten ist das àn der Substanz. Und es widerspricht auch nicht dem Apriorismus der Erkenntnis, der sich auf den Kategorien aufbaut. Denn Erkenntniskategorien sind nur teilweise identisch mit den Realkategorien, und beide sind nicht durchweg rational. Erkenntniskategorien sind wohl Werkzeuge der Erkenntnis, aber nicht Erkenntnisgegenstände; und wenn sie nachträglich in der Kategorialanalyse zu Gegenständen gemacht werden, so erweist sich eben, daß der Erkenntnis selbst diese ihre Werkzeuge keineswegs ganz erfaßbar sind. Und offenbar ist die Erkenntnis der Gegenstände durch sie unabhängig von ihrer eigenen Erkennbarkeit. Der Philosophie aber kann man es nicht verdenken, wenn sie nun gerade darauf aus ist, die Kategorien selbst auch zu erkennen und jede Grenze, vor die sie sich hier gestellt sieht, zu überwinden. Und das nun wirkt sich an der Kausalität so aus, daß man um jeden Preis einen Grund für das „Hervorbringen" in ihr beizubringen sucht; man will nicht nur die Form und Gesetzlichkeit des Bewirkens erkennen, sondern auch das Bewirken selbst erklären. Das ist der Punkt, in dem sich das Zweckverhältnis anbietet : eben das Bewirken scheint erklärbar zu werden, wenn man ein „Angelegtsein" der Wirkung in der Ursache nach dem Schema der Potenz-Lehre, oder gar ein Abgesehensein des ganzen Prozesses auf sie annimmt. Das aber bedeutet, daß man den Finalnexus zum verborgenen Hintergrund des Kausalnexus macht — und zwar allgemein und grundsätzlich, überall in der realen Welt, in allen Geschehnissen und Abläufen. In der Tat nämlich könnte das „Angelegtsein" das Hervorbringen erklären — freilich nur dann, wenn es mit il^m seine Richtigkeit hat, und auch das natürlich nur unter Preisgabe des eigentlich produktiven Charakters im Hervorbringen. Denn dieser besteht im Entstehen eines Neuartigen, das vorher nicht vorhanden war; war aber das Bewirkte in der Ursache schon angelegt und vorgezeichnet, so fällt das Neuartige in ihm fort, und es schält sich nur ein schon Vorhandengewesenes heraus. Der Prozeß ist dann ein bloßer „Entwickelungsprozeß", der das Eingewickelte auswickelt, ist also unproduktiv. Der echte Kausalprozeß dagegen, in dem nichts vorgezeichnet ist, ist ein schöpferischer Prozeß.
Unbegreif lichk. d. Hervorbringens i. Kausalverh. / Typologie und Teleologie
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Nimmt man ihm also seinen unerkennbaren Kern, indem man in diesem ein Finalverhältnis nach Analogie menschlicher Absicht vermutet, so nimmt man ihm gerade das wichtigste Moment seines kategorialen Wesens, die unerschöpfliche Produktivität. Hier gilt es radikal umzulernen über die traditionellen Begriffe. Solange „Entwicklung" für produktiv, Kausalität für steril und „mechanisch" gilt, ist es unmöglich, dem spekulativ-metaphysischen Antrieb des Denkens zur Teleologisierung des Kausalverhältnisses zu begegnen. Dieser Antrieb aber ist ebenso tief eingewurzelt wie die Ungeklärtheit der genannten Begriffe. Ganz freilich kann man das hier zugrundeliegende Mißverständnis erst durch eine genaue Kategorialanalyse der Finalität beheben. Diese wird weiter unten durchzuführen sein. Einstweilen kommt es nur darauf an, das Zusammenwirken der an sich heterogenen Motive selbst zu durchschauen. Die spielend leichte Verwechselung von Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit kombiniert sich mit der scheinbar unschuldigen Vertauschung der Richtungen des determinativen Nexus in den Prozessen; und beides zusammen verbindet sich nun mit dem Bedürfnis, auch das Undurchdringliche im Wesen des kausalen Hervorbringens zu erklären. So entsteht ein fast zwangsläufiges Hindrängen des spekulativen Denkens auf das teleologische Schema. Die Mehrzahl der großen philosophischen Systeme hat ihm nachgegeben. 6. K a p i t e l
Weitere spekulativ-metaphysisçhe Motive a. Typologie und Teleologie Die aufgezählten Motive der spekulativen Metaphysik halten sich noch ganz in den Grenzen des theoretischen Problemkreises. Sie stehen aber selten für sich allein da, treten meist kombiniert mit außertheöretischen Antrieben auf, solchen des Ethos und der Anthropologie, der Wertund Geschichtsphilosophie. Von dieser Art ist z. B. der teleologische Einschlag in der Einteilung der Menschen nach Typen. Schon das Schicksal der Einzelnen, wenn man es in der Rückschau nachträglich als Ganzes überschaut, scheint auf eine gewisse Form des Menschlichen hinzutendieren, die den Eindruck macht, als wäre sie ihm aufgeprägt ; man denke etwa daran, wie der eine vom „Glück", der andere vom „Pech" verfolgt zu sein scheint, wie das eine und das andere nicht ganz äußerlich im Zusammentreffen der Umstände allein wurzelt, sondern auch mit von innen her charakterlich bedingt ist. In fast aller Typologie, mit der man die Menschenmannigfaltigkeit zu meistern gesucht hat, spielen bewußt oder unbewußt solche Gesichtspunkte mit. Vielleicht ist es auch gar nicht anders möglich, Menschentypen als solche prägnant faßbar zu machen, als eben durch
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6. Kapitel. Weitere spekulativ-metaphysische Motive
Zugrundelegung eines Systems möglicher Lebensausrichtungen, wobei dann hinter jeder der letzteren ein Lebensideal steht, das sich unwillkürlich als Zweck darstellt. Ob das notwendig so sein muß, mag dahingestellt bleiben. Nicht verkennen aber wird man dürfen, daß in dem Verfahren der Typenschau und Einteilung nach Typen wohl immer ein in diesem Sinne teleologischer Kern steckt. Selbstverständlich braucht dieser Kern nicht bewußt zu sein. E r nimmt denn auch, ans Licht gezogen, leicht Formen an, in denen die Finalstruktur des Gedankens vollkommen verschleiert ist. Man glaubt vielleicht, bei einem rein empirischen Einteilungsprinzip zu stehen, oder gar bloß unverbindlich nach einem Ordnungsprinzip in der ungeheuren Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu fahnden, merkt dabei aber nicht, daß man in Wirklichkeit die Gesichtspunkte der Einteilung nach gewissen Ziel- und Wertrichtungen des Menschenlebens auswählt. I n der Anthropologie, Psychologie. Charakterologie spielt das ohne Zweifel eine Rolle. Es scheint gewisse Sinnformen des Lebens zu geben, greifbar unter bestimmter Wertauswahl, auf welche zu die Menschenmannigfaltigkeit konvergiert. Und da diese Formen sich im Leben des einzelnen Vertreters von innen heraus mit einer gewissen Zwangsläufigkeit „entwickeln", so liegt es nahe, sie als Formzwecke zu verstehen und das Tun des Menschen als Mittel ihrer Verwirklichung auszulegen. Sie haben dann unverkennbar den Charakter der „Anlage" (potentia) im Aristotelischen Sinne. Man darf diese Dinge nicht vergröbern; es steckt auch ein fruchtbares, zum mindesten heuristisches Prinzip in solcher Überlegung. Aber gelegentlich tritt doch auch die versteckte Teleologie in ihr deutlich wie eine Überzeugung zutage; es sind nicht die schlechtesten Typendenker, die sich auf das Dichterwort von dem „Gesetz, nach dem wir angetreten", berufen. Die Methode des Vorgehens aber gleitet dann leicht vom bloß deskriptiven Konstatieren in ein Normerfassen hinüber. Daß es sich hier auch um seelische Stabilitätsformen handeln könnte, die sich in gewissen Grenzen rein selektiv immer wieder einstellen müssen, das zu erwägen ist schon um vieles schwieriger und hegt dem idealisierenden Denken fern. An sich wäre gegen ein solches Verfahren nichts einzuwenden, wenn es nicht doch schließlich auf eine zwangsläufige Täuschung hinausliefe. Die Täuschung ist die, daß sich das Bild eines nicht vom Menschen gesetzten, sondern ihm von höherer Instanz vorgeschriebenen Zweckes seines persönlichen Lebens aufdrängt, und daß die bestimmende K r a f t eines solchen schließlich geglaubt wird, ja daß aus dem Glauben wieder eine Theorie der Typenbildung und aus dieser eine allgemeine teleologische Metaphysik des Menschenwesens gemacht wird. Denn selbstverständlich bleibt dieses Motiv teleologischen Denkens nicht isoliert für sich stehen, sondern kombiniert sich mannigfaltig mit anderen, auch wenn diese dem Ursprung nach ihm heterogen sind. Nah hegt es z. B., den Gedanken der zweckartig wirkenden Idealtypen mit
Typologie und Teleologie / Verkappte Teleologie usw.
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dem Phänomen jener vermeintlich „unbewußten Zwecktätigkeit" zu verbinden, von der oben die Rede war (Kap. lc). Diese täuscht dem Menschen einen Übergang oder Aufstieg von bewußtloser zu bewußter Teleologie in den höheren Lebewesen vor, dergestalt, daß alle unbewußten Tendenzen, Triebe, Reaktionen, alles dunkle Begehren schon in derselben Finalform erscheint wie das zwecksetzende Wollen. Wenn dem tatsächlich so ist, wenn also solche zweckgeleitete Tendenzen aus dem Unbewußten kommen und nur nachträglich teilweise vom Bewußtsein aufgegriffen werden, so muß es nicht nur überhaupt im Menschen eine Finalität ohne Zweckbewußtsein geben, und nicht nur die organischen Prozesse alle dürften dann konstitutiv teleologisch verstanden werden, sondern auch die Grundtypen der seelischen und charakterlichen Formung des Menschenwesens könnten dann ebensogut für Zweckformen im scholastischen Sinne gelten, die als Anlage den Individuen mitgegeben wären und sich in ihrem Leben und Schicksal zu verwirklichen hätten. Daß hiermit der alten Formenmetaphysik wieder Tor und Tür geöffnet wird, das freilich meinen und sehen die Vertreter solcher Typologie keineswegs. Sie würden sich wohl auch bedenken, auf ihrem Wege fortzuschreiten, wenn es ihrer Arbeitsweise gegeben wäre, metaphysische Konsequenzen des eigenen Tuns unparteiisch zu ziehen. Sie halten sich in ihrer Einstellung wohl nur, weil sie mit Scheuklappen arbeiten und den Ausblick auf das Ganze der von ihnen mitberührten Probleme aus den Augen verloren haben. b. Verkappte Teleologie im Gedanken der Welt->Ganzheit Nicht aus den Spezialproblemen der Metaphysik allein resultiert der spekulative Zweckgedanke. Man möchte umgekehrt sagen, er hängt noch mehr an den Bemühungen um Einheit und Ganzheit der Welt. Und wahrscheinlich sind die speziellen und peripheren Motive nur deswegen so gefährlich, weil sie auf dem Hintergrunde einer teleologischen Ganzheitsvorstellung erwachsen. Die letztere kommt ihnen gleichsam halbwegs entgegen und bildet so eine Art Aufnahmeschema für sie. Diejenige Realkategorie, mit der wir einer neutralen Erfassung der Weltganzheit am nächsten kommen, ist die allgemeine Wechselwirkung. Sie besagt die gegenseitige Beeinflussung gleichzeitig ablaufender Prozesse in der Weise, daß die Kausalität der Aufeinanderfolge keine bloß lineare mehr ist, sondern in jedem Weltaugenblick ein Geflecht von Ursachen zeigt, die über die Breite des Weltgeschehens verstreut liegen und erst zusammen die eigentliche causa efficiens ausmachen. Die Wechselwirkung selbst aber, in solcher Breite gesehen, wird nun leicht als Finaleinheit des Weltzusammenhanges verstanden und zwar einfach deswegen, weil wir sie auf andere Weise überhaupt schwer als Einheit fassen können. Denn das reelle Verfolgen der Fäden dieses ungeheuren
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6. Kapitel. Weitere spekulativ-metaphysische Motive
Geflechts ist an empirische Bedingungen gebunden und erstreckt sich nie weiter, als der Horizont des Gegebenen gewisse Schlüsse ermöglicht, die ihrerseits in der Reichweite begrenzt sind. Das generelle Motiv des Teleologismus beruht so auf dem unwiderstehlichen Bedürfnis nach Einheit im Zusammenhange unseres Weltverstehens. Man bedenke nun: an der Einheit und Ganzheit der Welt, rein als solcher, läßt sich a priori nicht gut zweifeln. Schon die Einheit von Raum und Zeit, für die es ja wiederum besondere Gründe kategorialer Art gibt, läßt es nicht anders erwarten; auch die Geschlossenheit natürlicher dynamischer Gefüge widerstreitet dem nicht, da wir ja eine Fülle von Außenbeziehungen dieser Gefüge sogar empirisch kennen. Soweit ist das Einheitsstreben der Erkenntnis ja auch einwandfrei; und wenn es sich mit dieser allgemeinen und nicht näher bestimmten Einheitsvorstellung zufrieden gäbe, würde es von hier aus nicht so leicht auf spekulative Thesen hingedrängt werden. Aber das metaphysische Denken verlangt weit mehr, es will auch das Einzelgeschehen im Leben aus dieser Einheit heraus begreiflich machen. Das ist eine Anforderung, die schwer zu erfüllen ist; dazu bedarf es des genauen Wissens um die besondere Struktur der Einheit. Auf kausalem Wege erfassen wir im Leben immer nur vereinzelte Fäden des Zusammenhanges. Darum taucht die Tendenz auf, die Totalität auf anderem Wege als Einheit zu begreifen. Und das nun geschieht am einfachsten, wenn man die Gesamtheit der Ursachenmomente, die sich zu einer Gesamtursache verbinden, überspringt und an ihre Stelle die Konvergenz alles Geschehens auf einen postulierten Einheitszweck setzt. Man kann das auch anders ausdrücken. Wie diffus auch die Kausalketten zusammenkommen mögen, man muß ihnen doch die Einheit der Welt zugrunde legen, sonst könnten sie sich überhaupt nicht kreuzen. Der Fehler entsteht in dem Augenblick, wo man diese lose und in sich neutrale Ganzheit als ein Angelegtsein des Geschehens auf eine bestimmte Einheitsform oder auf bestimmte Richtung des Geschehens versteht. Das zu vermeiden, solange man die wirkliche Struktur des Ganzen nicht kennt, ist nicht leicht. c. Das metaphysische Bedürfnis nach einer Garantie des Sinnes Neben das Bedürfnis nach Einheit tritt das noch stärkere Bedürfnis nach Sinn — eine Forderung, unter welche im Grunde aller Wertgehalt des Lebens fallt. Von diesem Bedürfnis war schon oben bei den Motiven des naiven Bewußtseins die Rede ; in der spekulativen Metaphysik aber nimmt es andere Formen an, es geht nicht mehr in der populären Angst vor dem Sinnlosen auf, es treibt ganze Theorien hervor und macht die innerste Triebfeder großer Systeme aus.
Das metaphysische Bedürfnis nach einer Garantie des Sinnes
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Die höchsten Gesichtspunkte der Orientierung im Leben sind Sinnund Wertgesichtspunkte, weit mehr als die niederen. Man kann wohl auf Sinn im Kleinen verzichten, dem Leben gleichsam seine kleinen Sinnwidrigkeiten nachsehen, aber nicht im Großen, nicht im Ganzen des Lebens. Sinn des Lebens — das ist vielleicht die lebensmächtigste Frage. Darum ist alle spekulative Metaphysik vom Sinnproblem beherrscht. Wo sie dieses nicht stellt und nicht in irgendeiner Weise zu lösen sucht, da wird sie leicht von dem im Leben stehenden Menschen abgelehnt, sie mag im übrigen so tiefsinnig sein, wie sie will. Die Ablehnung einer sinnwidrigen Welt darf vielleicht überhaupt als stärkste Triebfeder der Metaphysik gelten. Die meisten metaphysischen Systeme sind Versuche, die sinnlose Welt sinnvoll zu sehen; und wenn das in ihr selbst nicht möglich ist, so scheuen diese Versuche auch nicht vor dem Postulat einer hinter ihr stehenden sinnvollen Welt zurück. Zusammen mit dem Bedürfnis nach Einheit und Ganzheit ergibt diese Tendenz das Postulat eines sinngebenden „Absoluten", welches der Welt zugrundeläge, auf welches sie aber zugleich teleologisch ausgerichtet wäre. Ein solches ist dann sehr wohl imstande, eine summarische Gesamtlösung aller Welträtsel vorzutäuschen. Was dieser metaphysischen Tendenz immer wieder Auftrieb gibt, ist nicht schwer zu erraten. Man überlegt etwa so : wenn die Welt als Ganzes keinen Sinn hat, so kann auch das Menschenleben, und vollends jede Einzelheit in ihm, keinen Sinn haben. Man sucht eben den Sinn, da er so häufig sich an den Einzelgeschehnissen nicht findet, unwillkürlich in größeren und immer größeren Zusammenhängen und gelangt so sehr bald, wennschon durch einen Sprung, auf das Ganze der Welt hinaus. Und so befestigt sich mit der Zeit ein Satz, der schließlich als Axiom gilt: in einem sinnlosen Ganzen kann auch der Teil nicht sinnvoll sein. Daraus folgt aber, daß die Sinngebung unserem Leben aus der allgemeinen Weltordnung zukommen müßte. Daß sie nachträglich im Teilgeschehen, etwa erst durch den Menschen ins Leben hineinkäme, gilt als unmöglich. Und auch das nimmt sehr schnell die Form eines Axioms an: es gibt keine Epigenesis des Sinnes. Daß der Sinn des Menschenlebens auch gerade mit darin bestehen könnte, daß der Mensch selbst ihn in die Welt bringt, und daß gerade eine schon von Anbeginn sinngerechte Welt für ihn sinnlos sein könnte, — das auch nur von ferne zu kombinieren, liegt allen solchen Überlegungen himmelfern. Die Argumentation geht vielmehr, einmal begonnen, unaufhaltsam fort. Man überlegt weiter: Sinngebung ohne Sinnerfüllung wäre selbst sinnlos. Sinnerfüllung aber besteht in Wertrealisation. Wertrealisation wiederum kann es nur in Form von Zwecktätigkeit geben. Dazu müssen die Werte entweder Zwecke des Menschen oder des Weltprozesses sein. Da nun die Welt und das Leben eine Wertfülle zeigen, die nicht durch den Menschen realisiert sein kann, so muß im Weltprozeß die Zweck-
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6. Kapitel. Weitere spekulativ-metaphysische Motive
tätigkeit enthalten sein, die sie realisiert hat. Daß tausendfach im Leben Wertvolles und Wertwidriges bunt durcheinander zustandekommt, ohne daß es bezweckt wäre, ja daß es schon nach den einfachsten Gesetzen der Statistik unwahrscheinlich ist, daß immer nur Wertwidriges entsteht, — das einzusehen hindert den Menschen sein Anthropomorphismus : er kann sich das Gute, Nützliche, Schöne nicht anders als beabsichtigt vorstellen. Vielleicht wären diese Motive dem spekulativen Denken nicht so überzeugend und fast axiomatisch geworden, wenn es sich bloß um Sinngebung überhaupt handelte. Es kommt hier aber noch ein zweites Moment hinzu. Man kann es das Bedürfnis nach einer Garantie des Sinnes nennen. Was in die Freiheit des Menschen gestellt ist, dafür haben wir keine hinreichende Gewähr. Mit der hohen Gabe der Freiheit ist es ja gerade umgekehrt bestellt: sie ist immer Freiheit zum Guten und zum Bösen zugleich. Der freie Wille ist derjenige, der stets ebensosehr für wie gegen das Wertvolle entscheiden kann, und darum allein heißt er der „freie". Dem metaphysischen Denken aber ist es im Hinblick auf das Ganze des Lebens und der Welt um eine Gewißheit zu tun, daß das Sinnvolle irgendwie zu seinem Recht komme. Diese Gewißheit kann das Handeln des Menschen in der Tat nicht geben. Die Garantie des Sinnes muß er also, solange er an einer solchen festhält, notgedrungen über sich suchen. d. Der Wertrealismus und die Metaphysik der Werte In veränderter Form kehren dieselben Motive im Wertrealismus wieder. Darunter ist nicht nur die relativ seltene Form der Werttheorie zu verstehen, die sich selbst so nennt, sondern jede Metaphysik, die den Werten oder Sinnprinzipien verwandter Art (denn der Wertbegriff kommt erst spät auf) unmittelbar realitätsbestimmende Kraft zuschreibt. In folgender Weise etwa kann man sich das wertrealistische Denkschema zurechtlegen. Werte bilden nun einmal die als sinngebend empfundenen Mächte im Leben; und in der Tat sind sie es in dem Sinne, daß nur „unter" ihnen als Maßstäben das Reale wertvoll und wertwidrig, sinnvoll und sinnwidrig sein kann. Darum wird es dem Menschen schwer zu glauben, daß diese „Mächte" von sich aus im Leben machtlos, nur ideale Forderungen sein sollten. Und nun deutet man die sinngebende Macht in eine sinnerfüllende um, die Wert und Unwert bestimmende in eine wertrealisierende. Werte müssen, so scheint es, wenn sie sinngebend sind, auch real determinierende Macht in der Welt haben, auf die sich ihre Sinngebung bezieht. So kommt man zu der Ansicht, die Werte müßten überhaupt Realprinzipien des Weltgeschehens und der Gebilde sein, die in diesem Geschehen zustande kommen. Und da eine Determination, die von den Werten ausgeht, nur teleologisch sein kann, denn vom Zielpunkt aus
Der WertrealismuB und die MetaphyBik der Werte
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•wird hier der Gang der Geschehnisse bestimmt, so folgt weiter, daß die Prozesse im Weltgeschehen überhaupt und im ganzen final determiniert sein müssen. Solche Schlüsse sind erst spät offenkundig gezogen worden. Vielzusehr verdeckt waren der älteren Metaphysik ihre eigenen Motive. Aber es gibt ein latentes Vorhandensein solcher Motive, das um nichts weniger wirksam ist als ausgesprochene Argumente ; ja es ist aller Angreifbarkeit entzogen, und zwar gerade weil seine oft recht komplizierten Schlußketten nicht ins Bewußtsein und ins Licht möglicher Kritik gehoben sind. In diesem Sinne haben die obigen Gedankenzusammenhänge eine sehr lange und reiche Geschichte. Sie zu schreiben, würde ein Buch für sich ergeben. Deutlich erkennbar sind ihre Anfange bei Piaton, in dessen „Idee" eine Gleichsetzung von Prinzip, Wesen und Wert lag. Außerdem konvergierte sein Ideenreich nach oben zu in einer „Idee des Guten", die offenkundig erstes Weltprinzip und Wertprinzip zugleich ist. Der berühmten Gleichsetzung des Wahren, Schönen und Guten hätte es demgegenüber gar nicht mehr bedurft. Dieses Gedankenschema ist in veränderter Ausführung und Terminologie immer wieder nachgebildet worden. Es war, solange man am Grundgedanken festhielt, offenbar schwer, es durch ein anderes zu ersetzen. Aristoteles und die Stoa, Plotin und Augustin haben es aufgenommen und jeder in seiner Weise verarbeitet. Das Mittelalter übernahm es teils in der neuplatonischen, teils in der Aristotelischen Form und fügte es mühelos seinen theistischen Anschauungen ein. Man vereinfachte die Grundidee sogar noch zu dem Satz : omne ens est bonum; so daß es schon unverständlich wurde, woher denn überhaupt noch das Wertwidrige und Böse in die Welt kommen sollte. Dafür freiüch hatten die christlichen Denker ihre Auskünfte bereit in der Existenz des Bösen als einer selbständigen und wertfeindlichen Macht in der Welt. Bis in den deutschen Idealismus und Neukantianismus hinein erstrecken sich die Ausläufer dieses Wertrealismus. Die neuere Form des alten Gedankens läuft darauf hinaus, daß die Seinsprinzipien „nach oben zu" teleologisch fundiert sind — so etwa wie wir es von der Formen teleologie her kennen — und in eine höchste Schicht auslaufen, die nicht nur alles an ihr Hängende trägt, sondern auch deutlich eine Schicht von Werten ist. Die Realkategorien scheinen nach oben hin in Werte überzugehen. Angesichts des in unseren Tagen verbreiteten Wertrelativismus gestaltet sich der Gedanke dann noch einmal um. Man meint nun: entweder sind Werte nur Setzungen des Menschen, relativ auf menschliche Art und geschichtliche Situation, oder sie müssen als bewegende Mächte Realkraft haben. Und im letzteren Falle müssen sie wie Weltzwecke funktionieren — im Leben des Einzelmenschen und besonders in der Geschichte —, müssen also die Geschehnisse final determinieren. Das ist ein Schluß aus einer Alternative, die man unbesehen als totale
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6. Kapitel. Weitere spekulativ-metaphysische Motive
Disjunktion hinnimmt, um aus ihr durch Aufhebung des ersten Falles den zweiten zu folgern. Unerörtert bleibt dabei, ob es nicht noch eine dritte Seinsweise der Werte geben könnte, die weder auf dem Dafürhalten des Menschen noch dem bestimmenden Charakter von Realprinzipien beruhte. Erstaunlich ist dieses Hinweggleiten über den springenden Punkt, nachdem doch schon Hegel eine solche Möglichkeit aufgezeigt hatte. Aber es ist damit nicht anders als mit anderen stillschweigenden Voraussetzungen der Wertmetaphysik. Ist es doch zum mindesten fraglich, ob Werte überhaupt von sich aus determinierende Gewalt über das Reale haben und ob sie eine solche, wenn sie überhaupt in Frage kommt, nicht erst sekundär von anderer Seite her gewinnen müßten. e. Der ethische Wertrealismus Schließlich gewinnt der Wertrealismus noch einmal eine besondere Note unter dem Gesichtspunkt der Moral. Das Ethos des Menschen eben steht unter Wertprinzipien, und für diese sucht man daher nach einer Fundierung, die keine Möglichkeit des Ausweichens mehr offen läßt. Denn damit steht und fallt die Gültigkeit des moralischen Urteils. Das Argument, in schlichte Worte gebracht, würde also etwa so lauten : sittliche Forderungen (Sollen, Normen) können nur dann allgemeine Verbindlichkeit haben, wenn sie Zweckprinzipien des Weltgeschehens sind, nicht aber wenn ein jeder seine privaten Zwecke ihnen entgegensetzen kann. Das würde heißen: nur in einer Welt, die schon ohne uns Menschen auf sittliche Werte hin determiniert ist, können wir sittliche Wesen sein. Wobei die metaphysische Vorstellung zugrunde zu liegen scheint, daß wir selbst uns nur dann von höheren Zwecken bestimmen lassen können, wenn diese schon ohne unser Wissen und Wollen die Geschehnisse, in denen wir handelnd mit tätig sind, durchwalten. Damit macht man nicht nur den Finalnexus überhaupt, sondern speziell die Finalität sittlicher Werte in der realen Welt zu einem sittlichen Postulat. Es soll hier noch nicht erörtert werden, wie das mit dem anderen, nicht weniger wichtigen sittlichen Postulat, dem der Freiheit, sollte zusammenbestehen können. Wohl aber ist sogleich hier auf eines aufmerksam zu machen. Der Ausgang des Arguments liegt bei der allgemeinen Verbindlichkeit sittlicher Normen. An dieser kann man zwar im Sinne des Relativismus seinen Zweifel haben, aber als moralisches Postulat, zumal im Hinblick auf ein einziges allgemeines und oberstes Sittengesetz — etwa im Sinne Kants — wird man sie auch nicht von der Hand weisen können. Gesteht man sie aber zu, was folgt dann eigentlich daraus ? Es folgt doch schwerlich die absolute und weltumfassende Determinationskraft der Werte. Die allgemeine Verbindlichkeit bedeutet ja auch im besten Falle nur, daß die Forderung als solche immer und überall ohne Rücksicht auf Person und Umstände in Kraft ist, nicht aber, daß
Der ethische Wertrealiamua / Besorgnisse um die WiUenafreiheit
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sie auch die reale Macht hat, den Menschen, und nun gar den Weltlauf, zu bestimmen. Im moralischen Wertrealismus steckt also ein ganz gröblicher Fehler: die Verwechselung von Verbindlichkeit eines ideellen Prinzips mit der Determinationskraft eines Realprinzips. Es fehlt hier von vornherein an einer gründlichen Analyse der moralischen Grundphänomene. Die Grundbegriffe sind aus anderen Theorien unbesehen und halb unverstanden herübergenommen. Aus ihnen allein aber sind dann die weitgehendsten metaphysischen Konsequenzen gezogen. Was wunder, wenn diese vollkommen verkehrt ausfallen. f. Besorgnisse um die Willensfreiheit In bemerkenswertem Widerstreit mit dem vorigen steht ein anderes Argument des Teleologismus, das sich gleichfalls auf ein ethisches Grundphänomen bezieht. Es betrifft das Problem der Willensfreiheit. Jetzt meint man, umgekehrt wie oben, der Mensch kann nur sittlich gut oder böse sein, wenn ihm Schuld und Verdienst seiner Taten auch wirklich zufallt, wenn also nicht über seinen Kopf hinweg der Lauf der Geschehnisse schon durch Werte bestimmt ist, sondern er sich „frei" für oder wider diese entscheiden kann. Man bemerkt denn auch, einmal hierauf aufmerksam geworden, sehr richtig, daß es sich in der Freiheit um die Grundbedingung alles Höheren und Sinnhaften im Menschen handelt, daß es ohne sie kein Ethos und keine sinnvoll an den Menschen gerichtete Forderung geben kann. Und so schnellt denn mit einem Schlage die andere Waagschale hoch, und die der Freiheit senkt sich tief herab. Ihr Übergewicht ist ein gewaltiges. Es ist wohlbekannt, daß viele berühmte Systeme der Metaphysik in der Hauptsache um der Freiheit willen erbaut worden sind. Das gilt am meisten von der deutschen Philosophie, speziell für die Zeit seit Kant. Und nirgends wohl in der Geschichte der Philosophie sind so große Zurüstungen der Metaphysik gemacht worden wie hier, wo es um Metaphysik der Freiheit ging. Wie aber kam man darauf, diese Zurüstungen gerade teleologisch zu gestalten? Denn das tat man im weitesten Maße; und zwar, man tat es nicht so sehr auf Grund von ausgesprochenen Überlegungen oder Schlußresultaten, sondern ohne jede Rechenschaft, ohne ein Wort der Begründimg, als könnte und dürfte es gar nicht anders sein. Ja, man tat es teilweise wohl gar den eigenen kritischen Ansprüchen entgegen, offenbar ohne zu bemerken, wie sehr man diesen ins Gesicht schlug. Der Gedanke, der hier zugrundelag und der in der Stille wohl noch heute manchen spekulativen Kopf verführt, ist ein sehr einfacher. Er läßt sich in wenige Sätze zusammenfassen. Man geht davon aus, daß ohne durchgehende Determination die Weltordnung und Weltgesetzlichkeit, wie wir sie teilweise durch die Wissenschaften kennen gelernt haben, nicht bestehen könnte. Man muß .also mit einem Determinismus in irgendeiner Form wohl oder übel
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6. K a p i t e l . Weitere apekulativ-metaphyBieche Motive
rechnen. Wie aber kann Freiheit mit Determinismus zusammen bestehen ? Hier erinnert man sich der zwei bekannten Determinationsformen, die uns in der realen Welt entgegentreten, des Kausalnexus und des Finalnexus; je nachdem also, welcher von beiden der herrschende ist, bekommen wir einen Kausaldeterminismus oder einen Finaldeterminismus. Und nun scheint das Problem sich ganz von selbst zu lösen. Man meint es deutlich einzusehen : bei durchgehendem Kausalnexus in der Welt ist keine Freiheit möglich, das haben die Determinismen des siebzehnten Jahrhunderts ja immer wieder gezeigt; ohne Freiheit aber gibt es kein moralisches Wesen. Nun aber gibt es moralische Wesen. Also kann es sich nicht um einen Kausaldeterminismus der Welt handeln. Dagegen bei durchgehendem Finalnexus müßte Freiheit sehr wohl möglich sein; er ist ja die „Umkehrung" des Kausalnexus, ist bestimmt vom Ende her, wie der menschliche Wille auch. Welche Instanz hierbei die Zwecke setzt und für geeignete Auswahl der Mittel sorgt, ist dabei relativ gleichgültig ; göttliche Vorsehung (wie bei Schelling) und absolute Weltvernunft (wie bei Hegel) unterscheiden sich da nur peripher. Auf die Gleichschaltung von Freiheit und Notwendigkeit kommt es allein an, und die ist sehr wohl zu erreichen, da es sich in beiden um die gleiche Bindung an das Endglied handelt. Man kann dieses Argument auch gröber fassen, etwa mit Hilfe des metaphysischen Wertbegriffs. Es sieht dann etwa so aus: in einer determinierten Welt ist Freiheit nur möglich, wenn die Determination in. einer Herrschaft der Werte besteht. In diesem Falle aber ist die Weltordnung eine teleologische. Die Freiheit selbst ist dann freilich nahezu gleichgesetzt mit dem Determiniertsein des Willens durch die Werte, und zwar durch dieselben Werte, die auch außerhalb seiner die Welt beherrschen. Daß sie die Vollendung ihrer Verwirklichung nur auf dem Umwege über den Willen und das Tun des Menschen finden, könnte deswegen immer noch seine Richtigkeit haben. Ohne hier auf die vergröberte Fassung näher einzugehen, lassen sich zu der ersten und wichtigeren Form des Arguments noch folgende Ergänzungen bringen, die ihrerseits nahezu das Gewicht selbständiger Motive haben. 1. Der Kausaldeterminismus scheint der Willensfreiheit bedrohlich entgegenzustehen, weil der Kausalnexus selbst der Willensentscheidung und der von ihr gelenkten Handlung fremdartig ist. Er setzt der menschlichen Initiative in jedem Augenblick ein festes Gefüge des mit Notwendigkeit Gewordenen gegenüber, aus dem weiteres und weiteres mit gleicher Notwendigkeit hervorgehen muß. Diese Notwendigkeit ist gepaart mit vollkommenster Gleichgültigkeit gegen das, was dabei zustande kommt. Und diese Gleichgültigkeit — die sog. „Blindheit" des Kausalnexus — ist dasjenige, was den Menschen fremdartig und gleichsam feindselig anmutet. Denn was aus seinem Willen heraus geschieht, das geht nicht blind, sondern sehend, vorsehend, von Schritt zu Schritt vorsorgend und die Schritte noch überwachend und nach-
Besorgnisse um die Willensfreiheit
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regulierend vor sich. Darum ist der Schein so unwiderstehlich, daß in einer kausal durchdeterminierten Welt der menschliche Wille mit seiner ganz anderen Art von Richtungsbestimmung verloren und gleichsam lahmgelegt sein müsse. 2. Dagegen erscheint der Finaldeterminismus harmlos, weil der Finalnexus selbst der Willensentscheidung „verwandt" ist. Wollen und Handeln sind selbst der kategorialen Form nach ein finales Geschehen: hier eben werden doch nachweisbar Zwecke gesetzt und durch die Reihe selbstgewählter Mittel hindurch verwirklicht. Ein solches Verfahren paßt mit seiner ganzen Innenstruktur genau in eine final geordnete Welt hinein, es macht in ihrem Gefüge nur ein Glied unter unübersehbar vielen homogenen Gliedern aus, die alle die gleiche Ausrichtung auf Zwecke haben. Wenn nun der Wille frei sein muß, um sittlicher Wille sein zu können, so muß das am ehesten angehen, wenn die reale Welt, in der er auftritt, final determiniert ist ; denn auf diese Weise haben die determinativen Zusammenhänge, in die er hineintrifft, von vornherein die der seinigen verwandte Struktur. Die Freiheit der Entscheidung bestünde dann in der Zwecksetzung des Menschen inmitten einer Fülle schon gesetzter Zwecke. 3. Verstärkend tritt hierzu ein Gedanke, der den Argumenten des Wertrealismus näher steht als denen der Freiheit. Man denkt sich das ethische Verhältnis etwa so: sittliche Werte kämen am besten zur Verwirklichung durch unseren Willen, wenn der letztere nicht nur von uns selbst her final determiniert, sondern auch vom Weltzusammenhang her final überdeterminiert wäre. Das würde bedeuten, daß der Mensch mit allen seinen Taten nicht nur einen bewußten Zweck verfolgt, sondern darüber hinaus auch noch einen ihm unbewußten. Der letztere ist ihm durch die allgemeine Weltteleologie gesetzt oder durch eine Weltvernunft, Vorsehung, Gottheit. Von diesem Zweck, der dann natürlich als der „höhere" und weit wichtigere gilt, wird er gewissermaßen „überlistet" (dieses Wort im Sinne von Hegels „List der Vernunft" verstanden). Die Überdetermination selbst aber wird hierbei so verstanden, daß sie in einem Konformsein der Weltvernunft mit dem eigenen Willen des Menschen besteht. An einen Konflikt zwischen Zweck und Zweck, die beide Zwecke einer und derselben Handlung sein sollen, denkt man hierbei natürlich nicht. 4. Schließlich taucht hinter alledem noch die Meinung auf, das die ganze Welt durchziehende Kausalgeflecht müsse auch direkt die Handlungsfreiheit des Menschen einschränken. Ja, man denkt sich, einmal hierauf aufmerksam geworden, diese Beschränkung als eine absolute, lähmende, jeden selbständigen Schritt verhindernde. Hebt man den Kausalnexus auf, so fallt mit einem Schlage alle Einschränkung weg, und das Reich des Handelns scheint sich ohne Grenze auszuweiten; ersetzt man ihn aber gar durch den Finalnexus, so scheint gleichzeitig auch für die „Mittel" des Handelns ausreichend gesorgt zu sein : es müßten
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7. Kapitel. Kategorialanalyse des Finalnexus
dem Menschen dann gleichsam von der Vorsehung die Machtfaktoren in die Hand gespielt sein, weil ein dem seinigen homogenes Zwecksystem der Welt sie ja schon vorgebildet haben müßte. Daß hierbei Freiheit des Handelns für Freiheit des Willens genommen ist, daß nach der inhaltlichen Bestimmung des Willens gar nicht mehr gefragt ist, und daß es kaum abzusehen ist, was in einer solchen Welt dem Willen noch zu entscheiden bliebe — das alles bleibt hierbei unerwogen und unberücksichtigt. Das aber heißt, das eigentliche Freiheitsproblem bleibt unberücksichtigt. 7. K a p i t e l
Kategorialanalyse des Finalnexus a. Einteilung der Aufgabe Was ist nun mit der langen Reihe der Motive teleologischen Denkens anzufangen 1 Offenbar gilt es, alles das an ihnen, was nicht schon mit der bloßen Aufdeckung zusammenbricht, auf seine Standfestigkeit hin zu untersuchen. Und das ist nicht wenig. Schon die vorangegangenen deskriptiven Kapitel haben gezeigt, wie ungleichartig diese Motive sind; die nachfolgenden kritischen werden aus ihnen zunächst das Widerlegenswerte herauszufinden haben. Denn zum Teil handelt es sich in den Motiven um bloße Ungeklärtheiten, Entgleisungen und BegriffsVerschiebungen, zum Teil um traditionelle Vorurteile, zum Teil aber auch um ausdrücklich durchgeführte Argumente. Die ersteren braucht man nur zu klären, wozu teilweise schon die volle Bewußtmachung genügt. Die Vorurteile gilt es an ihrer geschichtlichen Wurzel zu fassen, um dort die ersten Fehlerquellen aufzudecken. Insonderheit ist das dort geboten, wo sie sich an hohe geschichtliche Autorität anklammern. In vielen Fällen ist das schon bei ihrer Darlegung selbst genügend geschehen; von diesen soll im folgenden nicht mehr die Rede sein. In anderen Fällen aber bedarf es eines genaueren Eingehens auf sie. Schließlich müssen die eigentlichen Argumente auf ihre Prämissen und Schlußweisen hin geprüft werden. Denn hier bedarf es in jedem Einzelfalle einer sorgfältigen Widerlegung. Dieses Geschäft läßt sich nur dadurch vereinfachen, daß man gewisse letzte, überall versteckt wiederkehrende Voraussetzungen aufspürt und sich zunächst an diese hält. Mit ihnen fallen dann zugleich sehr viele weitere Thesen, deren gemeinsame Verwurzelung man auf den ersten Blick nicht sehen konnte. Im großen Ganzen dieser Zusammenhänge muß aber gesagt werden, daß die Begriffsunklarheiten und Vorurteile verderblicher sind als die Argumente. Sie sind zwar an sich gewichtloser, haften aber dafür um so zäher in den Denktraditionen; in vielen Fällen fußen sogar die Prämissen der Argumente schon mit auf ihnen. Denn nicht immer ist es das erkennende Denken, das bei der Wahl der letzteren den Ausschlag gibt.
Einteilung der Aufgabe / Die unvollständige Finalanalyse des Aristoteles
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Zur Vereinfachung der Aufgabe sei noch folgendes gesagt. Die Einteilung der Motive in Ungeklärtheiten, Vorurteile und Argumente überschneidet sich mit der oben eingehaltenen, nach der sich die Motive als solche des naiven Bewußtseins, der Wissenschaft und des metaphysischen Denkens abstufen. Sie überschneidet sich auch mit der nach den Inhaltsgebieten — des Lebendigen, des Menschenwesens, des Ethos, der Geschichte usf. ; und vollends quer steht sie zu der kategorialen Einteilung der drei Arten teleologischen Denkens, der Teleologie der Prozesse, der Formen und des Ganzen. In der Hauptsache aber wird die Behandlung der Motive sich an die inhaltliche Zusammengehörigkeit zu halten haben, d. h. an die der Gebiete, auf denen sie auftritt. Innerhalb ihrer aber wird sie trachten müssen, überall beim sachlich Gewichtigen und Fundamentalen anzusetzen, d. h. sich zunächst an die „Argumente" und ihre Prämissen zu halten und erst nach deren Erledigung zu den Vorurteilen und Unklarheiten überzugehen. Dieser, und nicht der umgekehrte Weg, ist geboten, weil in den Argumenten am ehesten sich die Hintergründe der Vorurteile, in diesen aber die der unbemerkten Unklarheiten, ins Licht rücken lassen. Zu beginnen ist daher mit den Hauptargumenten des Teleologismus, die in den Thesen enthalten sind: 1. Es ist einem Ablauf nicht anzusehen, ob er kausal oder final determiniert ist, jede Ursache läßt sich auch als Mittel verstehen. Und 2. Im Kausalnexus steckt verborgen schon der Finalnexus. Um diese Argumente folgerichtig zu entkräften, bedarf es einer genauen Kategorialanalyse des Finalnexus. b. Die unvollständige Finalanalyse des Aristoteles Der erste und allem anderen zugrundeliegende Irrtum hinsichtlich des Finalnexus ist der, daß man ihn für die einfache Umkehrung des Kausalnexus hielt. Nach dieser Ansicht hätten beide dieselbe zeitlichlineare Struktur, nur daß beim einen die bewegende Kraft von rückwärts „stößt", beim anderen von vorne „zieht". Diese Vorstellung ist erstaunlich primitiv, von aller kategorialen Fragestellung weit entfernt. Das Spätere kann auf das Frühere offenbar nicht „wirken", weil es noch gar nicht da ist, wenn dieses eintritt; oder auch umgekehrt, weil das Frühere nicht mehr da ist, wenn das Spätere eintritt. Der Grund dafür liegt bei der absoluten Irreversibilität des Zeitflusses selbst. So einfach also kann es in der Finalverknüpfung nicht hergehen. Etwas, was erst künftig wirklich wird, kann nur dann auf Gegenwärtiges einwirken, wenn es auf irgendeine Art vor seiner Verwirklichung „vorbesteht" ; und das wiederum ist nur denkbar, wenn es bei diesem Vorbestehen von anderer Seinsweise ist als das Beale, zu dem es ja erst aufrücken soll. Es müßte also durch irgendeine Macht inhaltlich, aber als ein Irreales, vorweggenommen und zum Gegenwärtigen gemacht werden, ohne doch in dieser selben Gegenwart schon real zu werden. 5 Hartmann, Teleologie
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7. Kapitel. Kategorialanalyse des Filialnexus
Das ist es, was nur möglich ist in einem Bewußtsein. Das Bewußtsein hat die erstaunliche Freiheit, das noch Unwirkliche beliebig weit voraus denken oder vorstellen zu können. Das Vorweggenommene hat dann die Seinsweise eines nur in mente, dort aber dafür in der T a t vor seinem Realwerden Bestehenden. E s ist die Seinsweise des Gedankens, der Absicht, des gesetzten Zweckes. Seiner Formung (dem Sosein) nach kann es deswegen doch sehr wohl das getreue Vorbild dessen sein, was hernach verwirklicht wird. Aristoteles nannte es darum treffend das elpoç έν ψυχή. Dann aber ist es natürlich nicht ein in der Sache vorbestehender „immanenter Zweck", sondern der in einem planenden und schaffenden Bewußtsein vorbestehende und ihm allein immanente Zweck. Das Bewußtsein aber ist nicht das der Sache oder des Prozesses, sondern das einer Person. E s berührt uns heute wie die Ironie eines Denkerschicksals, wenn wir sehen, daß gerade Aristoteles, der f ü r so viele Jahrhunderte der Klassiker des metaphysisch-teleologischen Denkens geworden ist, doch auch derjenige war, der das erste klar durchgeführte Stück einer durchaus objektiven Kategorialanalyse des Finalnexus geliefert h a t und damit zugleich den Weg zur Überwindung seiner eigenen Metaphysik gewiesen hat. Solche Selbstkorrektur ist bei den Großen des Geistes nicht selten. Im Falle des Aristoteles ist sie von besonderem Gewicht, weil sie die geschichtliche Urzelle einer langen Entwicklung betrifft. Aber auch der Sache nach ist seine Analyse des Finalprozesses, wenn auch unvollständig, so doch unübertroffen geblieben. Man t u t deswegen auch heute noch gut, auf sie zurückzugreifen. Gemeint ist die Stelle der „Metaphysik" im 7. Kapitel des Buches Z, an der das Werdende (γιγνόμενον) untersucht wird. Die grundlegende Orientierung dazu geschieht nicht an beliebigen Prozessen, sondern an solchen der menschlichen Kunstfertigkeit (τέχνη). Die Beispiele sind das Tun des Baumeisters und das des Arztes. Gezeigt wird, daß es zwei heterogene Arten der Tätigkeit sind, die hier hintereinandergeschaltet sind; Aristoteles nennt sie schlechtweg zwei „Bewegungen" (κινήσεις). Zugrunde liegt das vorbestehende είδος ív tt¡ ψ-χη. Beim Arzt ist es das genaue Wissen um den normalen Körperzustand, der hergestellt werden soll (ϋγίεια), beim Baumeister der Plan des Hauses. Von diesem Eidos geht zunächst die erste „Bewegung" aus, sie besteht in der νόησίζ, einer Überlegung, welche die Mittel zur Verwirklichung des Eidos aufspürt; und zwar verfährt diese so, daß sie vom Zweck (dem Eidos) aus zuerst das letzte Mittel findet, sodann das vorletzte und so immer weiter rückwärts die Mittel erschließt, bis herab zu dem ersten oder „äußersten", welches direkt zu ergreifen in der Macht des Menschen steht. Die Reihe der Mittel wird also hier vom Zweck aus rückläufig erschlossen. Sodann aber setzt die zweite Bewegung ein, die ποίηση. Ihr Name besagt es, daß sie die ausführende oder ins Werk setzende ist. Sie geht von dem Endgliede der νόησις (dem zeitlich ersten Mittel) aus und schreitet nun durch dieselbe Reihe der Mittel in umgekehrter, zeit-
Die unvollständige Finalanalyse des Aristoteles
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lieh rechtläufiger Folge vorwärts, indem sie fortlaufend eines durch das andere verwirklicht, bis sie vom zeitlich letzten Mittel aus unmittelbar den Zweck (das Eidos) verwirklichen kann. Von diesen zwei „Bewegungen" ist also deutlich die erste ein bloß im Bewußtsein
ττοίησι; Fig. 1 stattfindender, noetischer Prozeß, was ja auch der Name νόησι; unzweideutig sagt, die zweite aber ein in der Außenwelt ablaufender Realprozeß. Das Schema in Fig. 1 deutet das durch den Gegensatz der punktierten und der ausgezogenen Linie an; der Zweck tritt dabei zweimal auf: Z1 als bloß gesetzter vor Einsetzen der ersten Bewegung, Z2 als realisierter nach Ablauf beider hintereinandergeschalteter Bewegungen. Beide Bewegungen schließen in dem Zeitpunkte ψ (ψυχή), an dem der Handelnde sich befindet, aneinander an. Das Ausschlaggebende und Unverlierbare an dieser Aristotelischen Analyse ist die Einsicht, daß es sich im Finalnexus um einen geschichteten, zum mindesten also zwiefachen Zusammenhang handelt, daß hier nicht eine einfache Reihe besteht, sondern zwei, die das gleiche Intervall überspannen und dabei so zueinander stehen, daß der eine Prozeß direkt an den anderen anschließt. Auf diese Weise erst wird es klar, was für eine unerläßliche Rolle im Finalnexus das Bewußtsein spielt (hier noch undifferenziert als ψνχή auftretend). Der zweite Prozeß, die eigentliche Verwirklichung, läuft nicht ohne den ersten ab, der erste aber geht vom bloßen Z1( dem im Bewußtsein gesetzten Zweck (είδο; έν ψ-χη) aus und verläuft auch als reiner Bewußtseinsprozeß (νόησις). Warum dem so sein muß, weiß Aristoteles offenbar noch nicht, er beschreibt nur, was er vorfindet. Der Grund aber liegt in der Richtung der νόησίζ: sie läuft vom Späteren zum Früheren, durchläuft die Reihe der Mittel rückläufig, dem Zeitfluß entgegen; das ist es, was nur ein Bewußtsein in Gedanken vollziehen kann, die Realprozesse dagegen sind an die Richtung des Zeitflusses gebunden und können in ihm nicht rückwärts laufen. Die große Bedeutung dieses letzteren Punktes hegt darin, daß er die Ausdehnung des Finalprinzips auf Prozesse, die nicht von einem Bewußtsein geleitet sind, ausschließt. Ohne rückläufige Auswahl der Mittel für den Zweck keine Finalordnung des Prozesses, und ohne vorgeschaltetes Bewußtsein keine rückläufige Auswahl der Mittel. Damit ist, streng genommen, ein erster Schritt zur Kritik aller Teleologie bereits vollzogen. Daß er u. a. die Teleologie aus dem ganzen Reich der Natur verbannt, ist leicht zu sehen.
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7. Kapitel. Kategorialanalyse des Finalnexus
Das Eigenartige aber in der Arbeitsweise des Aristoteles, der diesen Schritt ermöglicht hat, ist gerade die Tatsache, daß er weit entfernt war, eine in diesem Sinne kritische Konsequenz zu ziehen. Vielmehr übertrug er ohne Hemmung das gefundene Verhältnis von den Werdeprozessen der τέχνη auf die der φύσίζ. Hierbei ist es für immer ungeklärt geblieben, wie eigentlich er sich die Übertragung dachte. Wenn der Same einer Pflanze das Eidos des ausgebildeten Arttypus als immanenten Zweck enthalten sollte, so hätte wohl gezeigt werden müssen, wo und wie denn hier die „erste Bewegung" abläuft; wenn er sie aber für die Naturprozesse strich, weil sie νόησι; ist und das Samenkorn doch keine νόησι$ vollziehen kann, so wäre zu zeigen gewesen, was denn an ihre Stelle tritt. Wir finden darauf keine Antwort, es sei denn, daß man den Gedanken der Potentialität als Auskunft ansehen will. Potenz aber hat hier nicht den Sinn einer „Fähigkeit", sondern den der „Anlage"; und wie Anlagen für Selektion von Mitteln aufkommen sollen, bleibt natürlich erst recht ungeklärt. Kurz, die Inkonsequenz ist deutlich zu greifen, wie sehr sie auch durch ein Gefüge undurchsichtiger metaphysischer Begriffe verschleiert sein mag. Der Bedeutung der Finalanalyse selbst, soweit sie hier vorgetrieben war, tut diese Inkonsequenz des Metaphysikers zugunsten seiner teleologischen Lieblingsidee natürlich keinerlei Abbruch. Ihr Resultat bleibt vielmehr vollkommen intakt bestehen. Nur freilich ist sie selbst auch unvollständig und bedarf der Ergänzung. Es fehlt ihr das erste Glied: der Zweck nämlich muß, bevor aus ihm Mittel abgeleitet werden, doch erst einmal „gesetzt" werden. Und zwar muß er „vor-gesetzt" werden, nämlich in die Zukunft hinaus, an einen Zeitpunkt, der noch nicht ist. Und auch das kann nur von einem Bewußtsein vollzogen werden. In der Aristotelischen Wendung vom είδος âv ψυχή verbirgt sich dieses erste Glied; ganz freilich läßt es sich nicht verbergen. In Wahrheit handelt es sich um die erste Bedingung des ganzen Vollzugszusammenhanges. c. Die drei Akte des Finalnexus und ihr inneres Verhältnis Und nun ist es leicht ersichtlich, wieviel an diesem ersten Gliede hegt. Läßt man es nämlich fort, so verschwindet mit dem Vorsetzen die eine entscheidende Leistung des Bewußtseins, und der Schein kann entstehen, als könnten auch in den Naturprozessen „immanente" Zwecke wirksam sein, die niemand „gesetzt" hat, die also einfach da sind, ohne ein Bewußtsein, das sie vorzeichnet. Die andere Leistung des Bewußtseins, die νόησίΐ, läßt sich dann immerhin leichter unterschlagen; so wie es Aristoteles ohne jeden Versuch einer Erklärung bei den Naturprozessen gemacht hat. Die Problemsituation ist hiernach genügend geklärt, um die positiven Folgerungen zu ziehen und die vervollständigte Kategorialanalyse des Finalnexus zu geben. Diese läßt sich am besten vom Aspekt des ganzen Aktgefüges aus geben, dessen drei Stufen oder Phasen jetzt übersehbar
Die drei Akte des Einalnexus und ihr inneres Verhältnis
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geworden sind. Man kann die letzteren auch ohne weiteres „Akte" nen nen, denn es handelt sich in ihnen um echte Vollzüge ; man darf sie nur nicht voneinander losreißen und isolieren. Denn im vollziehenden Β ewußtsein sind sie fest verbunden. 1. A k t : Setzung des Zweckes im Bewußtsein mit Überspringung des Zeitflusses, als Antizipation des Künftigen; 2. A k t : Selektion der Mittel vom gesetzten Zweck aus im Bewußtsein (rückläufige Determination) ; 3. A k t : Realisation durch die Reihe der seligierten Mittel; rechtläufiger Realprozeß außerhalb des Bewußtseins.
Fig. 2
Das Schema von Fig. 2 zeigt, daß es sich beim 2. und 3. Akt um dieselben „Bewegungen" handelt wie bei Aristoteles (Fig. 1). Nur der 1. Akt ist hinzugetreten. In dieses Gefüge der Bindungen zwischen dem agierenden Bewußtsein und seinem „Zweck" ist der letztere wieder doppelt eingeschaltet, als vorgesetzter, noch irrealer, aber schon die Mittel bestimmender Zu und als realisierter Z2, also mit verschiedener Seinsweise. Neu aber kommt hinzu, daß auch das Bewußtsein selbst zweimal eingeschaltet ist: zuerst als zwecksetzendes, sodann aber als realisierendes, denn im 1. und 3. Akt geht die Bewegung direkt von ihm aus. Der 2. Akt schließt sich so an den ersten an, daß er der Realisierung gegenüber mit ihm eine engere Einheit bildet. Man könnte also die beiden Hauptfunktionen des Bewußtseins im Finalgefüge auch als die des wollenden und des handelnden Bewußtseins bezeichnen. Doch trifft das nur halb zu. Hält man vorläufig einmal nur diese Dinge zusammen, so muß es auf den ersten Bück einleuchten, daß es sich hier um eine unvergleichlich höhere und kompliziertere Form des Nexus handelt als im Kausalzusammenhang. Schon die dreifach sich überlagernde Bindung zwischen Ausgang und Ende des Prozesses beweist das, vielmehr aber noch das Vorausgesetztsein des setzenden und seligierenden Bewußtseins, von dem die Akte ausgehen. Schon hieraus folgt, daß es sich in keiner Weise
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7. Kapitel. Kategorialanalyae dea Finalnexug
um einfache Umkehrung des Kausalnexus handelt. Das einzige Glied des ganzen Aktgefüges, auf welches das noch am ehesten zuträfe, wäre der 2. Akt, die Selektion der Mittel vom Zweck aus. Aber isoliert t r i t t er nicht auf, und der eigentliche Realprozeß ist auch im Finalnexus rechtläufig. Denn der 1. und 2. Akt spielen durchaus nur in mente. Und hier sind sie auch nur möglich durch die eigenartige Bewegungsfreiheit, welche das Bewußtsein in der Anschauungszeit hat. I n der Realzeit nämlich kann sich kein Ding und kein Mensch frei bewegen, hier ist alles an seine Zeitstelle gebunden und kann aus ihr nicht heraus ; nur in der Vorstellung kann sich der Mensch in beliebig andere Zeiten versetzen, kann beim Vergangenen verweilen, das Künftige vorwegnehmen, kann den Zeitfluß beschleunigen, anhalten, rückwärts durchlaufen. Das eben ist seine Freiheit in der Anschauungszeit*). Nur auf diese Weise ist es möglich, daß er im Finalverhältnis den Zweck „vorsetzt", den Zeitlauf überspringend und das Künftige antizipierend. Und ebenso ist es nur auf diese Weise möglich, daß er vom gesetzten Zweck aus die Mittel rückläufig seligiert ; denn hierbei muß er die Zeitfolge rückwärts durchlaufen. Eines wie das andere ist in der Realzeit nicht möglich, wohl aber in der Anschauungszeit. Man sieht hieraus, wie die Vorbedingung einer fruchtbaren Kategorialanalyse des Finalnexus in einer entsprechend eindringenden Analyse der Zeit hegt. Ohne zureichende Unterscheidung zwischen Realzeit und Anschauungszeit kommt man hier keinen Schritt vorwärts. Ferner, der 3. Akt, die Realisation des Zweckes, ist nicht nur ein rechtläufiger Realprozeß, in der Realzeit ablaufend wie andere Prozesse auch, sondern auch ein reiner Kausalprozeß. I n ihm eben „bewirken" die Mittel der Reihe nach einander und zuletzt den Zweck. Dieses Bewirken ist durchaus ein kausales: das frühere Mittel bringt das spätere ursächlich hervor; und alle zusammen bilden eine Kausalreihe. Der große Unterschied von anderweitigen Kausalreihen ist nur der, daß hier die einzelnen Glieder der Reihe eben daraufhin ausgewählt sind, daß sie den gewünschten Effekt kausal hervorbringen. Das widerstreitet also keineswegs dem Sinn des Finalverhältnisses. I m Gegenteil, der 2. Akt des letzteren besteht ja gerade darin, daß er, vom Zweck ausgehend, fortlaufend rückwärts die Mittel findet. Hier werden also solche sich darbietende Umstände des gegebenen Realzusammenhanges ausgewählt, welche den gesetzten Zweck direkt oder mittelbar zur Kausalfolge haben. Das Bewußtsein „seligiert" sie auf ihre Brauchbarkeit oder Zweckmäßigkeit hin, das aber heißt: es wählt sie darauf hin aus, ob sie den gewünschten Zweck kausal hervorbringen oder nicht. Und das eben heißt es, daß die „Mittel" für den Zweck unter der Mannigfaltigkeit des Gegebenen ausgewählt werden müssen. Wäre *) Vgl. die genauere Kategorialanalyae der Zeit in „Philosophie der Natur", Kap. 14 und 15.
Die drei Aktes des Finalnexus usw. / Finalität als Überformung usw.
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dem nicht so, so müßte ja jedes beliebige Mittel gleich geeignet oder ungeeignet sein*). Noch eins ist als unmittelbare Folge aus dem Gesagten zu ziehen. Finalprozesse sind begrenzte Prozesse — im auffallenden Gegensatz zur Unbegrenztheit des Kausalprozesses —, sie haben Anfang und Ende. Sie beginnen mit der Setzung des Zweckes in einem bestimmten Zeitstadium und enden mit der Realisierung des Zweckes in einem anderen. Die Bindung an das Endstadium ist in ihnen vom 1. Akt her vorgezeichnet, und sie erhält sich auch im 3. Akt. Sie sind in diesem Sinne wirklich „vom Ende her" bestimmt. Die Determination in ihnen ist keine vorwärts stoßende oder schiebende, sondern eine attraktive, vom Ende her ziehende. Daran ändert auch die Kausalstruktur des dritten Aktes nichts. Es sind vorgesehene und vorbestimmte Prozesse, gelenkt und geleitet auf das, worauf es „abgesehen" ist. Das ist ihr auffallendster Gegensatz zu den einfachen Kausalprozessen, die da „blind" sind und gleichgültig dagegen ablaufen, wohinaus sie führen. Kausalprozesse haben zwar auch eine Richtung, und zwar auch eine inhaltliche. Aber bei ihnen ist die Richtung nicht vorgezeichnet, sie „resultiert" nur aus den Kausalfaktoren. Darum braucht der Prozeß auch keine Begrenzung; und so kennen wir ihn an den Abläufen der anorganischen Natur überall dort, wo noch keine höhere Determination hinzutritt. Umgekehrt ist die Finalität die charakteristische Determinationsform des Wollens, Begehrens, Strebens, Handelns. Diese Akte sind charakteristisch begrenzt, und zwar eben durch den Zielpunkt, der ihnen im Zweck gesetzt ist. Tatsächlich kennen wir den Finalnexus auch nur von diesen Akten her. Für das Gebiet des Ethos ist das ausschlaggebend, denn nur Finaldetermination ist imstande, einem Sollen zu folgen. d. Finalität als Überformung der Kausalität Aus der Seins weise des 1. und 2. Aktes — daß sie nur in mente ablaufen — folgt nun in aller Klarheit, daß der Finalnexus an einen Vollzieher gebunden ist, der ihn bewerkstelligen kann: an einen „Träger" der Akte, einen „Setzer" des Zweckes und „Wähler" der Mittel. Ja, es kommt praktisch hinzu, daß ja auch der 3. Akt, die Verwirklichung des Zweckes, meist noch „überwacht" werden muß; denn in der Auswahl der Mittel kann das Bewußtsein sich irren, dann aber tritt irgendwo in *) Hiergegen scheint zu sprechen, daß im Leben sich die Auswahl der Mittel meist derart ineins mit dem Entschluß (der Zwecksetzung) vollzieht, daß sich nicht zwei Akte auseinanderhalten lassen. Dazu ist zu bemerken, daß es sich in der Regel um ein weitgehend abgekürztes Verfahren handelt, dem fertig eingefahrene Geleise der Gewohnheit zur Verfügung stehen; es springt da gleichsam ein fertig vorseligiertes System von Mitteln direkt auf den gesetzten Zweck ein. Es finden sich aber auch immer wieder neuartige Situationen, in denen ein besonderes Aufsuchen geeigneter Mittel nötig wird. In solchen Fällen sind dann die beiden Akte leicht zu unterscheiden.
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7. Kapitel. Kategorialanalyse des Finalnexus
der Reihe die Abweichung von der vorgezeichneten Linie auf, die ihrerseits durch neue Mittel ausgeglichen werden muß. Kurz, der Final prozeß ist immer „jemandes" Betreiben, er läuft nicht von selbst, er muß ins Werk gesetzt, in Gang gebracht und durchgeführt werden. Daraus ergibt sich zugleich: „Urheber" des Finalprozesses können nur bewußte Wesen sein, nur sie können ihn „bewerkstelligen". Die Gründe dafür sind die oben angegebenen: nur ein Bewußtsein hat Beweglichkeit in der Anschauungszeit, kann den Zeitlauf überspringen, kann vorsetzen, vorwegnehmen, Mittel sehgieren und rückläufig gegen die übersprungene Zeitfolge bis auf das „erste" zurückverfolgen. Daraus folgt weiter : es gibt keine „immanenten Zwecke" in dem Sinne, daß sie behebigen bewußtlosen Gebilden innewohnen könnten. Ja, es kann überhaupt keine Naturfinalität geben, es sei denn, daß eine Weltvernunft dahinter stecke, welche die Rolle der nötigen Aktvollzüge übernähme. Damit erledigt sich auf einen Schlag die Mehrzahl der metaphysischen Vorurteile und Argumente, die zur Stützung teleologischer Weltbilder erdacht worden sind. Daß es in der Natur — ζ. B. in der organischen — eine Fülle von Vorgängen gibt, die, von außen betrachtet, dem Finalgeschehen zum Verwechseln ähnlich sehen (so verlaufen, „als ob" ein Verstand sie lenkte), das wird hiermit natürlich in keiner Weise bestritten. Wohl aber muß auf Grund der Finalanalyse bestritten werden, daß es in Wirklichkeit Finalprozesse sind. Diesen Punkt zu klären, ist Sache einer weiteren Untersuchung, die das Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit betrifft. Neben diese erste Hauptkonsequenz mit ihren abgeleiteten Folgesätzen tritt nun aber eine zweite, nicht weniger wichtige. Sie ergibt sich aus dem kausalen Charakter des dritten Aktes im Finalnexus. Sie läßt sich so formulieren: der Kausalnexus ist nicht nur nicht bedingt durch den Finalnexus — wie das die Argumente idealistischer Metaphysiker zu erweisen versucht haben —, sondern er ist vielmehr seinerseits Bedingung des Finalnexus und liegt ihm als seine kategoriale Voraussetzimg zugriAde. Brächten die Mittel nicht der Reihe nach einander kausal hervor, so ließe sich überhaupt kein Zweck realisieren; es bliebe beim bloßen Setzen des Zweckes, der Setzende aber wäre ohnmächtig, ihn zu realisieren. Das bedeutet weiter: gäbe es keine bestimmte Kausalfolge von bestehenden Kräften, Umständen oder Geschehnissen, so könnte niemand aus ihnen die für seine Zwecke geeigneten Mittel heraussehgieren. Das Geeignetsein eben, die „Zweckmäßigkeit" des Mittels, ist nichts anderes als dieses, daß es in bestimmter Verwendung — d. h. unter Ausnutzung seiner besonderen Kausalwirkung — „Ursache" des gewünschten Zweckes ist. Wer einen Stein aufhebt, sich gegen einen wütenden Hund zu wehren, wählt den Stein um seiner Schwere willen; denn auf das Trägheitsmoment des Wurfes kommt es an. Er nutzt die Kausalwirkung der Masse aus.
Finalität als Überformung usw. / Der Grund d. äuß. Ununterscheidbark
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Hier ist der Ort, sich klar zu machen, wie die ältere Metaphysik dem Kausaldeterminismus Unrecht getan hat. Durchgehende Kausalität lähmt das Handeln keineswegs, sie ist vielmehr seine Voraussetzung. In einer Welt, die nicht durchgehend kausal determiniert wäre, könnte es keinen Finalprozeß geben. Auch Wille, Streben, Handlung, die Akte der Freiheit, sind darum nur in einer schon durchgehend kausal determinierten Welt möglich. Das ist eine ganz einfache Folgerung, wenn man einmal begriffen hat, was es mit der Auswahl „geeigneter" Mittel für einen Zweck auf sich hat. Aber es ist die Umkehrung der üblichen Auffassung, die da meint, Kausaldetermination müßte alle Selbsttätigkeit des Menschen lahmen. Hier gilt es von Grund aus umzulernen, und zwar durch die Kategorialanalyse: der Finalnexus ist es, der den Kausalnexus voraussetzt, nicht umgekehrt, wie die Metaphysiker des Vernunftidealismus es gewollt haben. Es ist eine vollkommene Verkennung der kategorialen Sachlage, die niedere und einfachere Determinationsform auf die höhere und weit kompliziertere zurückzuführen. Im Reich der Kategorien ist es immer umgekehrt : nicht zwar so, daß sich die höheren auf die niederen zurückführen ließen (das würde ihr Novum aufheben), wohl aber so, daß, wo überhaupt ein Bedingungsverhältnis vorliegt, die niedere Kategorie Bedingung der höheren ist. Die Wiederkehr des Kausalnexus im dritten Akt des Finalnexus darf als typische Überformung des Kausalnexus gelten. Überformung ist ja überhaupt das charakteristische Verhältnis, das immer wieder dort auftritt, wo Kategorien einer niederen Seinsschicht in einer höheren als Elemente von deren Kategorien wiederkehren. Im Falle des Finalnexus aber handelt es sich um eine besonders hohe Überformung: er läßt dem kausal ablaufenden Realprozeß (im 3. Akt) zwei in mente spielende Akte vorausgehen. Damit eben überformt er ihn, lenkt ihn, den an sich blinden Kausalprozeß, auf Zwecke hin; er begrenzt ihn zugleich, leitet, artikuliert ihn, gibt ihm einen Sinn, spannt ihn in die Formgebung unter Werten ein. e. Der Grund der äußeren UnUnterscheidbarkeit Hierauf beruht ferner die irritierende Tatsache, daß es einem Realprozeß nicht anzusehen ist, ob er kausal oder final determiniert ist. Von dieser Tatsache war oben bereits die Rede. Sie ist das verwirrendste Phänomen im ganzen Problembereich der Teleologie (Kap. 2b). Die Kategorialanalyse klärt auch diese Sachlage ; sie sagt, warum es so sein muß. In der Tat, es kann bei der dreifachen Bindung im Finalnexus gar nicht anders sein. Der 1. und 2. Akt seines Aktgefüges spielen ganz diesseits des Realprozesses, rein im Bewußtsein, der 3. Akt aber, der allein direkt gegeben ist — sei es beobachtbar oder erlebbar —, ist ein reiner Kausalprozeß. Die Reihe der Mittel bewirkt den Zweck ebenso kausal wie eine ziellose Ursachenreihe ihre Wirkung.
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7. Kapitel. Kategorialanalyee des Finalnexus
Dieser Ursachenreihe eben kann man es nicht direkt ansehen, ob es eine Reihe von „Mitteln" ist, die für einen Zweck seligiert sind, oder nicht; sie könnten sich auch bloß „zufallig", d. h. kausalnotwendig, im Realzusammenhange zusammengefunden haben. Also kann man es ihr auch nicht ansehen, ob eine Zwecksetzung und finale Leitung des Prozesses dahintersteht, und das besagt weiter, ob ein zwecktätiges Bewußtsein dahintersteht. Genau genommen ist ja auch die Alternative „kausal oder final" schon schief. Bedenkt man es recht, so ist der Realprozeß unter allen Umständen kausal, einerlei ob er final überformt ist oder nicht. Isoliert man den dritten Akt und hält in ihm gleichwohl die Gebundenheit an ein „Ende" fest, so erscheint der Finalnexus als Umkehrung des Kausalnexus. Und das ist es, was immer wieder zu jener Alternative verführt. Aber eben das ist widersinnig, denn die Bindung an das „Ende" geschieht im 1. und 2. Akt; isoliert man aber den 3. Akt, so hat man ebendamit auf die Bindung an ein „Ende" verzichtet. Es darf dem gegenüber keineswegs verkannt werden, daß wir es in der Praxis des Lebens einem Realgeschehen meist sehr wohl ansehen, ob es rein kausal ist oder final überformt, d. h. daß wir meist sehr wohl wissen, ob wir es mit menschlichem Tun, Handlung, beabsichtigter Wirkung zu tun haben oder nicht. Das aber beruht auf ganz anderen Zusammenhängen, auf Erfahrung, die ja gerade in diesem Punkte überaus reichhaltig ist und sich bis in die feinsinnigste Fühlung mit verborgenen menschlichen Absichten hinein erstrecken kann. Aber diese Erfahrung hat Grenzen. Wir schieben auch leicht einmal dem Mitmenschen Absichten unter, die er nicht hat, die aber zum Resultat seines Tuns passen würden. Viel Unrecht geschieht auf diese Weise. Oder man denke an die vor Gericht immer wiederkehrende Frage: Hat der Angeklagte töten wollen ? Liegt Totschlag vor oder fahrlässige Tötung ? Und wie oft, zumal wenn der Beschuldigte sich zu verbergen weiß, ist die Frage nicht lösbar. Das sind so recht Proben auf das Exempel der UnUnterscheidbarkeit. Nur das untrügliche Wissen um die seelischen Vorgänge, die dem Tun vorausgehen, könnte hier eindeutig entscheiden. Aber welcher Mensch hat da das untrügliche Wissen ? Noch viel mehr ist es so in den weltanschaulichen Dingen, wo keine Erfahrung den Gegenhalt bildet, keine „Menschenkenntnis" dem Urteil zurechthilft. So war es einst im mythischen Denken: ist der Blitz das Geschoß des Zeus, der Sturm die Wut des Poseidon? Aber auch im gereifteren metaphysischen Denken: ist das Geschick der Völker in der Geschichte vorgezeichnete Sendung, ist es bloßes Zusammentreffen unberechenbarer Umstände ? Ist der Aufbau der realen Welt, in dem immer höhere Gebilde sich über niederen erheben, ein planvolles Ganzes, oder ist er ein bloß gesetzmäßiges Sichüberhöhen, in dem das nicht Erhaltungsfahige sich von selbst aufhebt? Vollends irritierend wird dieses Schillern des Prozesses im Reich des Organischen, wo wir die besondere Art der Ganzheitsdetermination nicht kennen. Hier kommt noch die Aufdringlichkeit der „Zweckmäßig-
Der Grund der äußeren Ununterscheidbarkeit / Beschluß der Finalanalyse 75 keit" hinzu und die Verführung, sie für Zwecktätigkeit zu halten, die Fülle der sinnreichen Einrichtungen und die Ähnlichkeit im Verhalten der höheren Organismen mit der Handlung des Menschen. Nirgends aber, das zeigt die Kategorialanalyse der Finalität, haben wir ein Recht, Finalprozesse anzunehmen, wo wir den 1. und 2. Akt des ganzen Aktgefüges nicht wirklich konstatieren können. Das gilt ohne Unterschied für alle Gegenstandsgebiete, auf denen der transzendentale Schein der Teleologie besteht. Der aber geht weit. Denn wo und wie immer ein komplexes Gebilde in der Welt entsteht, und sei es noch so unbezweckt, rückwärts vom Resultat aus gesehen erscheinen doch immer die Teilursachen als „zweckmäßig" für das Gebilde. Darum erscheinen sie als Mittel eines Finalprozesses. f. Beschluß der Finalanalyse Mit der Analyse des Finalnexus ist also in der Tat die ganze Serie der ontologischen Hauptargumente des Teleologismus widerlegt. Es wird zu diesen allerdings noch mancherlei zu bemerken sein. Und dann stehen noch die Sinn- und Wertargumente aus, desgleichen das Freiheitsargument, sowie manche Motive des naiven und wissenschaftlichen Bewußtseins. Zunächst aber gilt es, weitere Konsequenzen zu ziehen. Darauf, daß es einem Realprozeß grundsätzlich — wenn nicht besondere Erfahrung darüber belehrt — nicht anzusehen ist, ob er freiläufig kausal oder drittes Glied eines Finalnexus ist, beruht die vielgerühmte Unwiderleglichkeit der allgemeinen Teleologie. Nicht bestreiten eben läßt sich, daß alle Ursachen für ihre Wirkungen als „zweckmäßig" betrachtet werden können. Wie könnte es auch anders sein ? Sie bringen ja eben diese ihre Wirkungen hervor. In Wirklichkeit beweist das gar nichts. Vielmehr, es sollte einen eher stutzig machen : gar zu durchsichtig ist hier die schematische Äußerlichkeit und gleichsam der Automatismus des Zweckmäßigseins. „So" ist auch die Schneeschmelze zweckmäßig für das Anschwellen der Flüsse, so der Erdschatten für die Verfinsterung des Mondes. Durchschaut man diese Sachlage, so ist damit alle teleologische Metaphysik, und in Sonderheit die Naturteleologie, aufs beste widerlegt. Nicht in dem Sinne freilich widerlegt, daß ihre Unmöglichkeit überhaupt erwiesen wäre; das kommt bei metaphysischen Thesen nicht in Frage, weil man sie direkt ebenso wenig beweisen wie widerlegen kann, sie bewegen sich eben jenseits aller Erfahrungsmöglichkeit, wo kein Anhalt der Gegebenheit mehr ist, gleichsam im luftleeren Raum. Wohl aber ist sie in dem Sinne widerlegt, daß ihre Argumente als gänzlich unzulänglich und illusorisch erwiesen sind. Denn diese lassen sich aufdecken und bei ihren Voraussetzungen fassen. Ein Realprozeß zeigt unmittelbar immer nur den Kausalnexus. Auch der freilich ist durchaus nicht immer faßbar; aber wenn überhaupt Realdetermination an ihm faßbar wird, so ist es die kausale. Steht nun faktisch
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7. Kapitel. Kategorialanalyse des Finalnexus
Finaldetermination dahinter — was ja an sich immer möglich ist, da der 1. und 2. Akt des Finalnexus im 3. nicht mit erscheint, — so können wir doch um sie nur auf andere Weise wissen, durch Analogie, durch Erfahrung und Verallgemeinerung, durch besondere Schlüsse oder Annahmen. Aber dieses andere Wissen gerade bedarf der Begründung. Denn von sich aus ist es vage und fragwürdig, in vielen Fällen aber im höchsten Grade anfechtbar. Die Teleologie dagegen setzt es stillschweigend voraus, als wäre es unmittelbar gegeben oder a priori gewiß. In dieser Voraussetzung steckt der Fehler. Es ist die reine petitio principii. Es gibt ein altes Falschspiel der Metaphysik mit dem onus probandi. Sie schiebt dem Gegner die Beweislast zu, als hätte er spekulative Behauptungen gemacht. Und wenn der Gegner in metaphysischen Dingen zu erfahren ist, um sich aufs Beweisen einzulassen, so triumphiert sie und meint, er könne seine Position nicht rechtfertigen. Daß sie selbst es war, die mit sehr gewichtigen Behauptungen sich vorgewagt hat, macht sie dann gerne durch den Appell an populäre Überzeugungen vergessen. So hat es auch von jeher die teleologische Metaphysik gemacht. Sie stellt eine These von unabsehbarer Tragweite auf, sie „behauptet", sie also sollte beweisen. Statt dessen verlangt sie von den nüchternen Kausalforschern, sie sollten beweisen, daß sie Unrecht habe. Als ob die Realprozesse nicht auch im Falle der Finaldetermination Kausalprozesse wären! Der Unterschied ist nur, daß im einen Falle eine dahinterstehende Zwecksetzung und Auswahl von Mitteln behauptet wird, im anderen Falle aber nicht. Denn diese erscheinen nicht mit im Realprozeß. Gerade der Kausalforscher braucht hier nichts zu beweisen, er hält sich einfach an die Phänomene. Man kann bei geschicktem Operieren natürlich immer die Beweislast verschieben. Man kann damit aber nicht hindern, daß sie doch schließlich ebendahin zurückfallt, wo sie der Sache nach hegt. 8. K a p i t e l
Ergänzungen zur Finalanalyse a. Das intuitive Denken in der Zwecktätigkeit Die Analyse des Finalnexus ließ sich in sehr bestimmten Grenzen halten. Sie genügte auch in diesen Grenzen schon zur Entkräftung der teleologischen Hauptargumente und eröffnete zugleich den Ausblick auf eine recht stattüche Reihe von Konsequenzen. In Wirklichkeit ist sie damit nicht abgeschlossen. Der Reichtum an Phänomenen und Scheinphänomenen, der hier hineinspielt, ist dafür viel zu groß. Es sollen daher im folgenden einige Ergänzungen gegeben werden, die das Bild zum Teil abrunden, zum Teil aber auch erweitern. Darüber hinaus ist auch dieses Problemgebiet natürlich von Mißverständ-
Das intuitive Denken in der Zwecktätigkeit
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nissen umlagert, denen es an rechter Stelle zu begegnen gilt. Teilweise greifen die genannten Aufgaben derartig eng ineinander, daß es vorteilhafter ist, sie miteinander zu verbinden, als sie zu isolieren. Einen zentralen Punkt macht im Finalnexus die Rolle des Bewußtseins aus. Finden doch die beiden ersten Akte seines Aktgefiiges nur in mente statt. Darauf beruht die kategoriale UnStatthaftigkeit seiner Übertragung auf bewußtlose Gebilde. Hier aber bedarf es eines genaueren Eindringens. Denn versteht man unter Bewußtsein nur die voll-bewußten Akte, so ist es leicht zu sehen, daß der Bewußtseinsbegriff für das Problem der Finalprozesse zu eng begrenzt ist. Der Finalnexus geht „nicht ohne" Bewußtsein vor sich, aber auch nicht alles in ihm ist ins Bewußtsein gehoben. Das ist es, was den Schein einer vom Bewußtsein ablösbaren Zwecktätigkeit begünstigt. Ein gewisses Bewußtsein des Zwecks muß da sein, aber weder braucht es immer ein klar ausgeprägtes zu sein, noch brauchen die Mittel ins volle Licht des Bewußtseins zu fallen — hier gibt es Abkürzungen und Automatisierungen aller Art —, noch auch braucht der Realprozeß durchweg vom Bewußtsein verfolgt zu werden. Ja, das letztere braucht nicht einmal dann der Fall zu sein, wenn die Verwirklichung tatsächlich an gewissen kritischen Punkten vom Bewußtsein nachreguliert wird. Man seligiert Mittel für seine Zwecke gewöhnlich ebenso intuitiv, wie man im Leben Schlüsse zieht, ohne genau zu wissen, welche Schritte man •dabei tut. Nur die Resultate werden voll bewußt genommen, beobachtet und gegenständlich geprägt. Dabei verfährt das intuitive Denken, wo es folgerichtig ist, nach genau denselben logischen Gesetzen wie das diskursive; es weiß nur nicht darum, hat seine Folgerichtigkeit nur im Gefühl. Die Probe auf das Exempel aber ist die jederzeit bestehende Möglichkeit, es in diskursives Denken überzuführen, d. h. seine sprunghaft vollzogenen Schritte nachträglich ins Bewußtsein zu heben und kontrollierbar zu machen. Auch der Prozeß der Aristotelischen νόησις ist in der Regel ein solcher des intuitiven Denkens : blitzartig werden in ihm die Mittel überschlagen, die für einen vorbestimmten Zweck in Frage kommen, ohne daß er dabei als eigentliches Auswählen empfunden würde. Alles Nichtgeeignete scheidet auf den ersten Blick aus, und nur wo Erfahrung oder Lebenskenntnis versagt, setzt bewußte Prüfung ein. Oft genug bleibt sie ja auch aus, und dann eben mißlingt dem Menschen die Verwirklichung seines Zweckes. Diese Einrichtung ist offenbar lebensnotwendig. In zahllosen Fällen muß der Mensch sich im Augenblick, überrascht von der Plötzlichkeit der Situation, entscheiden. Nur ein aufs äußerste abgekürztes Verfahren kann solcher Anforderung gerecht werden. Das Verweilen beim Zweck kann dagegen um vieles eher ein dauerndes sein. Der Zweck eben steht im Interessenpunkt, auf ihn ist es abgesehen. Er bleibt auch der gleiche für die ganze Reihe der Mittel, die einander ablösen und nur Durchgangs•charakter haben.
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Durch diese Sachlage wird die Komplexheit des Vorganges dem Bewußtsein selbst weitgehend verdeckt. Das Psychisch-Reale aber deckt sich nicht mit dem Bewußten. Es existiert seelisch, auch ohne daß es dem Bewußtsein präsent, von ihm bemerkt oder beachtet wäre; am wenigsten aber wartet es darauf, daß ein analysierendes Bewußtsein es zu seinem „Gegenstande" macht. Man ziehe nun daraus nicht den Schluß, daß selbst im bewußten Menschenwesen der Finalnexus ohne Bewußtsein zustande komme. Es ist gerade umgekehrt: er hängt stets am Zweckbewußtsein, wenn auch einem dunklen und nicht gegenständlich expliziten; und selbst das Suchen nach Mitteln ist nicht einfach ein unbewußtes, es verläuft nur in der Regel unbemerkt ; aber wo es auf Hemmungen stößt, rückt es ins volle Bewußtsein auf. Es teilt die Art der unbemerkten Akte, wie sie fast überall im produktiven Denken vorliegen, im Entdecken, Erfinden, in der schlagfertigen Antwort. Die voll bewußte Überlegung ist überhaupt im Leben selten. Das Begehren faßt seinen Gegenstand emotional, das Handeln wartet nicht auf das Urteil. Entsprechend intuitiv werden die Mittel erfaßt. b. Finalität als Auffassungskategorie Daß wir es überhaupt in der Finalität mit einer Kategorie zu tun haben, dürfte aus allem Gesagten längst klar geworden sein. Aber Kategorien pflegen doppelt aufzutreten, als Realkategorien und als Erkenntnis- oder Auffassungskategorien. Dieser Unterschied ist bei vielen Kategorien auch ein inhaltlicher, bei anderen nur ein solcher des Anwendungsgebietes; ersteres ζ. B. wenn der Raum als Realraum wesentlich andere Züge zeigt wie als Anschauungsraum, letzteres wenn die Substanz, die als Erhaltungsform nur der anorganischen Natur eigen ist, vom Bewußtsein auf höhere Seinsschichten, auf seelisches und geistiges Sein übertragen wird. Wir sagen im zweiten Falle, daß eine solche Kategorie im Bewußtsein eine „hybride" ist, d. h. die Tendenz zeigt, sich widerrechtlich auf Gebiete auszubreiten, auf denen sie nichts zu suchen hat. Finalität ist nun zweifellos Realkategorie der höchsten Seinsschichten, des Bewußtseins, vielleicht sogar erst des geistigen Bewußtseins. Hier jedenfalls kennen wir sie als die Form des Wollens, Strebens, Tuns, Handelns. Und die Kategorialanalyse hat gezeigt, daß sie unterhalb eines Bewußtseins, das zum mindesten der freien Bewegung in der Anschauungszeit (im Vorgriff und Rückverfolgen) mächtig ist, nicht auftreten kann. Darüber hinaus aber tritt die Finalität im Bewußtsein auch als Inhaltskategorie der Anschauung, des Erlebens, der Vorstellung und der Erkenntnis auf. Sie ist darin durchaus vergleichbar den bekannten Anschauungsformen des Raumes und der Zeit; sie bestimmt die Bewußtseinsinhalte nur nicht so automatisch wie diese, sondern ihre An-
Finalität als Auffassungskategorie
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Wendung ist weitgehend in die Willkür des Bewußtseins gestellt. Dennoch besteht auch zu ihr als Auffassungsform eine gewisse Nötigung, von der sich das Bewußtsein nur schwer frei macht. Und in diesem Sinne ist sie — eben als Auffassungsform — eine hybride Kategorie, noch weit mehr, als das von der Substanz gelten konnte: das Bewußtsein hat die Tendenz, sie unbesehen von Gegenständen, auf die sie paßt, und nach deren Analogie auf solche Gegenstände und ganze Gegenstandsgebiete zu übertragen, auf welche sie nicht paßt. Ihre Anwendung ist legitim überall, wo es sich um Erfassung von Gegenständen handelt, die selbst echte Finalprozesse sind (fremdes Tun, Verhalten, Gesinnung, Streben), oder von Gegenständen, welche Gebilde sind, die selbst Träger und Urheber finaler Initiative sind. Das ganze weite Reich der menschlichen Verhältnisse, einschließlich derjenigen großen Stils (ζ. B. mancher Zusammenhänge im geschichtlichen Geschehen) gehört hierher. Man wird also die Erkenntnisbedeutung der Finalität als Auffassungskategorie gewiß nicht unterschätzen dürfen. Über die Grenzen dieser Gebiete hinaus dagegen ist sie eine geradezu exzessiv hybride, d. h. durch ihre Vordringlichkeit im illegitimen Gebrauch wahrhaft gefährliche Kategorie. Es liegt hier der einzigartige Fall vor, daß das Bewußtsein die Tendenz zeigt, eine Kategorie, die als Realkategorie nur ihm selbst zukommt, in seiner Auffassung von Gegenständen nahezu auf alles anzuwenden, was ihm nur irgend faßbar wird. Dadurch überlastet es die Auffassungskategorie weit über ihre Tragkraft hinaus und entwertet ihre Anwendung. Der Grund für diese merkwürdige Tendenz ist wohl einfach darin zu suchen, daß die Finalität die dem Bewußtsein eigene, ihm geläufige und daher selbstverständliche Art der Determinations- und Aktionsform ist, d. h. daß sie seine eigentümliche Realkategorie ist. Davon geben die oben aufgezählten Motive der Teleologie eine einzige lange Reihe von Beispielen. Aber natürlich stuft sich das auffassende Bewußtsein gerade in diesem Punkte sehr mannigfaltig ab. Nennt man die hybrid gewordene Finalkategorie im Unterschied zur legitimen Auffassungsform „Finalisierung", so kann man die Abstufung etwa folgendermaßen andeuten. Das kindlichnaive Bewußtsein finalisiert nahezu alles, was ihm begegnet ; das gereifte und gebildete Bewußtsein tut es nur noch mit Auswahl. Das philosophische Denken finalisiert im großen ganzen nur noch spekulativ, d. h. nur noch das, worüber ihm Erfahrung versagt ist ; und das positiv wissenschaftliche Bewußtsein finalisiert überhaupt kaum mehr, mit Ausnahme freiüch einiger Gegenstandsgebiete, deren Rätselhaftigkeit es nicht zu überwinden vermag. In der „Finalisierung" der Welt durch die Auffassung des Menschen — einerlei welchen Umfanges und welcher Stufe — besteht die sog. Teleologie.
so
8. Kapitel. Ergänzungen zur Finalanalyse
c. Finalität als Realkategorie Es muß an dieser Stelle auch etwas über die Finalität als Realkategorie eingefügt werden. Schon um des Vergleiches willen, erst recht aber um der weiteren kategorialen Orientierung willen, ist das nötig. Es handelt sich dabei nicht mehr um eigentliche Kategorialanalyse, diese ist vielmehr oben in der Finalanalyse gegeben worden, sondern lediglich um den Geltungsbereich und die Bedeutung der Finalität für den Menschen. Als Realkategorie des seelischen und geistigen Seins ist die Finalität nichts Geringeres als das zentrale Moment des Menschenwesens, genauer gesprochen, des personalen Geistes. Denn weder ist sie dem völlig geistlosen Bewußtsein (etwa dem bloß wahrnehmenden und rein triebhaft gebundenen) eigen, noch auch dem objektiven Geiste, der vielmehr kein eigenes Bewußtsein über dem personalen hat. Im Menschenwesen als Person aber fallt ihr die hohe Funktion zu, das Machtmittel des Geistes über das gesamte geistlose Sein, in erster Linie also über alles das, was „Natur" außerhalb wie innerhalb des Menschen ist, zu sein. Die ungeheure Macht des zwecktätigen Wesens in der Welt beruht nicht auf der „Stärke" des Geistes — das ontisch höchste Gebilde ist vielmehr das abhängigste und exponierteste —, sondern auf seiner Fähigkeit, die weit stärkeren, aber „blinden" (ziellosen) Naturmächte für sich arbeiten zu lassen, d. h. sie als „Mittel" zu gebrauchen, sie gleichsam vor seine Zwecke zu spannen. Hegel, der dieses Verhältnis genau durchschaute, obgleich er es nicht der Zwecktätigkeit als solcher zuschrieb, hat es die „Lost der Vernunft" genannt. Das Bild besagt dieses, daß hier die Naturkräfte in der Tat „überlistet" werden, denn in ihrem Wesen oder ihrer Eigentendenz liegt es nicht, daß sie menschlichen Zwecken dienen. Wohl aber liegt es in ihrem Wesen, sich solchem Dienst widerstandslos zu fügen, soweit nur irgend der Mensch ihre Eigenart erkennt und sich dienstbar zu machen weiß. Es ist die kategoriale Überlegenheit des schwächeren Wesens, als des „höheren", über das bei weitem stärkere niedere. Freilich tut es nicht die Zwecktätigkeit allein. Es gehört dazu noch manche andere wichtige Realkategorie, ζ. B. die Vorsehung, sowie ein breit ausgebildeter Apparat der Erfahrung und des Erkenntnisapriorismus; ohne den letzteren ist ein zweckmäßiges Rechnen mit der Naturgesetzlichkeit nicht möglich. Aber das zentrale Moment bleibt eben doch die Zwecktätigkeit selbst, d. h. die Fähigkeit, einem Realablauf die beiden ersten Akte des Finalgefüges vorausschicken zu können, die Zwecksetzung und die Selektion der Mittel. Es ist dieses ein großes Beispiel für das Ineinandergreifen der beiden kategorialen Gesetze: des Gesetzes der Stärke und des Gesetzes der Freiheit. Keine Macht „höherer" Art kann die Prinzipien der niederen Seinsschicht aufheben, aber über deren Walten hinaus ist die Eigenbestimmung der höheren „frei". Der Geist kann die Naturgesetze nicht
Finalität als Realkategorie / Praktischer und methodologischer Sinn usw. 81 ändern, darüber hat er keine Macht. Er kann nicht gegen sie arbeiten, aber er kann sie erkennen und unter Befolgung ihrer Eigenart sie für seine höheren Zwecke unter Wertgesichtspunkten auswerten. Die Unterlegenheit des niederen Seins besteht gerade darin, daß es von sich aus der vorsehenden Richtunggebung, der Zwecksetzung, Ausnutzung und Auswertung nicht fähig ist. Wenn es selbst schon Zwecke in sich trüge, die es verfolgen könnte, es würde sich schwerlich von einem schwachen und rundum abhängigen Wesen, wie der Mensch eines ist, Zwecke vorzeichnen lassen. Von hier aus begreift man erst ganz, was für einen ungeheuren Fehler die philosophische Teleologie beging, als sie diese Kategorie — nicht blind, wie das naive Bewußtsein, sondern sehenden Auges — auf die Natur und die ganze Welt übertrug. Indem sie die geistlosen Prozesse für Finalprozesse erklärte, beraubte sie den Menschen seiner Sonderstellung in der Welt, seiner ihm eigenen Überlegenheit und Machtstellung, ja mittelbar sogar seiner hohen Aufgabe als sittlich handelndes Wesen; denn auch zum Handeln ist Beherrschung von Mitteln erforderlich. Sie stellte die Natur ihm gleich und nivellierte dadurch die wesentlichen Unterschiede des Seienden. Das ist ein gefährlicher Schritt, ein wirkliches Berauben. Denn eine Macht, die der Mensch nicht mehr sieht und nicht glaubt, die er sich wegdisputieren läßt, und um die er dann nicht mehr weiß, ist keine Macht mehr. Es nützt ihm nichts, daß sie ihm immer noch zur Verfügung stehen würde, wenn er sie sehen und ergreifen könnte. Einmal geblendet auf diesem Punkte, kann er sie nicht mehr ergreifen. Hier erst erweist sich der Fehler der Teleologie als wahrhaft verhängnisvoll, noch viel mehr für das Verständnis des Menschen als für das der Natur : er eben bedeutet mittelbar die Herabsetzung des Menschen. d. Praktischer und methodologischer Sinn der Finalisierung Trotzdem würde man sich hiernach das kategoriale Verhältnis doch wieder zu einfach vorstellen, wenn man den Blick nur auf die großen Fehler und Gefahren der Finalisierung allein geheftet halten und gleichsam mit Scheuklappen gegen die nach allen Seiten sich öffnenden Problemketten mitten durch sie hindurch wollte. Das Merkwürdige nämlich ist, daß auch die hybrid gewordene Auffassungskategorie der Finalität auf manchen Gebieten doch nicht einer gewissen Lebensnotwendigkeit entbehrt: sie ist uns unentbehrlich geworden und zwar als Anschauungsform von hochkomplizierten Verhältnissen, deren Teilverhältnisse wir nicht mehr übersehen oder auseinanderhalten (distinkt machen) können, in denen wir aber leben oder mit denen wir es dauernd zu tun haben, zu denen wir also irgendeine bestimmte Stellung einnehmen müssen. Nach Beispielen dafür braucht man nicht lange zu suchen. Jahrtausendelang hat der Mensch die idealen Forderungen der Moral — deren 6 Hartmann, Teleologie
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8. Kapitel. Ergänzungen zur Finalanalyse
Ursprung und Seinsweise in der Tat schwer zu erfassen ist — für Gebote (also Absichten) der Gottheit gehalten, und hat dabei sehr wohl als sittliches Wesen leben können; er hat damit das Reich der Werte finalisiert, was diesem gewiß nicht gemäß ist (man vergleiche oben die Aporien des Wertrealismus), aber er fand damit eine Form, sich in dem ihm Undurchschaubaren praktisch zurechtzufinden und so trotz seiner Täuschung als wertbewußtes und wertbestimmtes Wesen sein Leben zu gestalten. Oder ein anderes Beispiel: er verstand die sich darbietende Chance, etwas zu leisten, als seine „Bestimmung", seine „Mission", sein „Berufensein"; und ebendadurch leistete er gelegentlich wirklich Bedeutendes. Wie man solche Phänomene auch im übrigen deuten mag, theoretisch gesehen beruhen sie unverkennbar auf illegitimer Finalisierung. Aber im praktischen Leben kann der Mensch nicht darauf warten, bis ihm vielleicht mit der Reife der Jahre der Sinn für das Entwirren sonderbar verschlungener Determinationsfaden aufzugehen beginnt. Er muß sich entscheiden, wo er vor die Entscheidung gestellt ist. Und da braucht er die Abbreviatur der Finalisierung, die ihm eine Sicht von größerer Ganzheit vor das innere Auge zaubert. Die Rolle der Finalisierung ist hier überall grundsätzlich dieselbe, wie Kant sie als die des „regulativen Prinzips" im Problembereich des Organischen aufgezeigt hat, eines Prinzips, das keine objektive Geltung beanspruchen kann, dennoch aber als das eines Subjekts sich im Leben bewährt. In der Biologie entspricht dem bekanntlich ein breiter Gebrauch der Finalisierung mit sehr weit abgestuften Bewußtseinsgraden: man betrachtet die zweckmäßigen Funktionen der Organe, „als ob" sie wirklich den Zweck verfolgten, dem sie zu dienen scheinen. Und man trifft damit mittelbar doch etwas vom Wesen des Realverhältnisses, weil tatsächlich ja auch die als „Mittel" verstandenen Ursachen immer noch als hervorbringende „Ursachen" verstanden werden. Das ist die affirmative Kehrseite des Verhältnisses, daß es einem Realprozeß „nicht anzusehen ist", ob hinter ihm Zwecksetzung und Selektion von Mitteln steht, oder ob er frei und zwecklos abläuft. Es ist eben in beiden Fällen derselbe Kausalprozeß, der allein in der Erscheinung vorliegt. Der Fehler einer solchen Finalisierung beginnt erst, wo wir die „Zwecke" für wirklich gesetzte und final wirksame (immanente Zwecke) halten. Dem Praktiker der organologischen Forschung liegt solches spekulative Theoretisieren fern; nur der Theoretiker der Biologie verfallt leicht dieser Verführung. Sieht man von solchen Entgleisungen ab, so hegt gerade hier der Grund, warum derartige „Als-Ob"-Aspekte uns wirklich auf die organologischen RealVerhältnisse — in erster Linie also wohl auf die auch hier überall zugrundehegenden Kausalverhältnisse — hinführen können. Es ist eben inhaltlich dieselbe Reihe, einerlei ob sie eine kausal freilaufende oder dritter Akt einer Finalverflechtung ist. Und auf das Inhaltliche Durchschauen allein kommt es in der Spezialforschung organischer Verhältnisse an.
Praktischer und methodologischer Sinn der Finalisierung
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Man mache sich nun klar, wie ungeheuerlich die Verkehrung der Dinge ist, wenn man hieraus theoretisch, sei es biologisch oder philosophisch, die umgekehrte Konsequenz zieht. Man meint etwa, weil die Kette der Glieder es zuläßt, daß man sie rückwärts lese, und weil man hierbei den Erfolg hat, wirklich auf den Realzusammenhang hingelenkt zu werden, so hätte man nun auch Recht, die Dependenz selbst in ihr als eine rückläufige, vom Effekt her geleitete, zu verstehen. Und hier wird es verständlich, warum diesem „Erfolg" eines bloßen Methodenprinzips der transzendentale Schein des Naturfinalismus, wie eine ewige Täuschungsquelle der Theorie, anhaften bleibt. In Wahrheit folgt natürlich keinerlei Rückläufigkeit aus jenem Erfolg. Jeder stillschweigende Schluß dieser Art ist eine totale Verkennung der Sachlage; ja er verstößt gegen die einfachsten kategorialen Gesetze, die den höheren Kategorien keinen Eingriff in den Bereich der niederen gestatten: man macht den einfachen Nexus, der den hochkomplexen trägt und seine Vorbedingung ist, zu dem von ihm getragenen. Man involviert damit Vernunft undBewußtsein in Verhältnisse, die ontisch weit unterhalb ihrer stehen. Ein typisches metaphysisches Hysteron-Proteron. Schließlich schneidet man sich mit solchem Vorgehen auch methodologisch die weitere Erforschung der Sache ab. Denn hält man erst einmal den Effekt für den Zweck einer Funktion, so scheinen deren Glieder und Komponenten bereits vom Zweck aus als seine „Mittel" verständlich, und man fragt nicht weiter nach ihrem Woher und Wodurch. Das Wozu hat bereits vorentschieden, und es scheint, daß mit dem Zweck alles „erklärt" sei. Man beruhigt sich dann gern bei der bequemen summarischen Auskunft, zu der man aus anthropomorphistischen oder traditionellen Gründen ohnehin neigt, und der Effekt ist die Lahmlegung der Erkenntnis, das Abbrechen des Fragens und Suchens. In diesem Sinne erscheint die Finalisierung im erkennenden Bewußteein nicht nur als hybride Kategorie, sondern als ein wahres asylum ignorantiae. Die aus der Zweckmäßigkeit, einem eindeutigen Phänomen, gezogenen spekulativen Konsequenzen sind in sich selbst leere Tautologien: sie „erklären" etwa die organischen Regulationen mit dem Zweck, zu regulieren, die Wiederbildung der Artform in der Fortpflanzimg mit dem Zweck, sich wiederzubilden usf.; kein Wunder, daß man auf diese Weise nicht vom Fleck kommt. Das ist im Grunde die alte scholastische Methode der vires occultae. Es gibt ein ganzes Heer von toten teleologischen Begriffen, deren einstiger methodologischer Sinn längst vergessen ist. Wo noch Reste davon fortvegetieren, versperren sie nur den Weg lebendiger Forschung. Aus dieser Stickluft faulen Wissens führen die Impulse kategorialer Besinnung erst wieder ins Freie.
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e. Sinn und Grenzen des Stufenarguments I n den weiteren Bereich einer Kategorialanalyse der Finalität gehört noch ein Wort über das Stufenargument, das sich auf den scheinbar gegebenen Übergang von „bewußtloser Zwecktätigkeit" zur bewußten stützt. Von diesem Übergang war bereits.zu Anfang (Kap. le) die Rede. Es ist jetzt notwendig, diesem Phänomen näherzutreten und das auf ihm aufgebaute Argument der Teleologie zu untersuchen. Wir kommen damit wieder in die Nähe der Problemgruppe, die uns zuerst am intuitiven Denken in der Zwecktätigkeit begegnet war. Es besteht immer ein gewisser Schein, als wiese die bewußte Zwecktätigkeit in uns selbst auf eine unbewußte zurück, die ihr vorhergeht und deren bloße Portsetzung das zweckbewußte Tun ist. Man gerät, wenn man dieser Weisung folgt, zunächst in das Reich der triebhaften Aktion, des natürlichen Tendierens, Begehrens und Reagierens, sodann aber weiter abwärts zu rein organischen Aktivitäten. Einmal so weit gelangt, sieht man aber auch keinen Grund mehr, die unbewußte Zwecktätigkeit nicht auch anderweitig im Kosmos und im Menschenleben zu suchen. Gegen diesen Schein kommt man mit der oben gegebenen Kategorialanalyse wohl grundsätzlich auf. Doch genügt sie in ihrer Allgemeinheit nicht, den Schein positiv zu erklären. Nach ihr gehört wohl ein bewußtes Wesen zur Zwecktätigkeit, nicht aber ein explizites Bewußtsein der Einzelheiten im Aktgefüge des Finalnexus (ζ. B. der Mittel). Es gibt, wie sich zeigte, auch das unbemerkte und blitzartig vorgehende Seligieren der Mittel, um das wir nicht gegenständlich wissen. Daß nun hier überhaupt ein gewisser Stufengang vorliegt, läßt sich nicht gut bezweifeln. Blickt man auf das Triebleben hin, das aus tiefer Unbewußtheit ins Bewußtsein hineinragt, so kann man ihm ein Ausgerichtetsein auf Ziele nicht absprechen. Solche Ausrichtungen übernimmt das Bewußtsein zunächst wahllos, richtiger, es wird in sie eingeschaltet, wird also selbst zum Organ der Ausführung in ihnen, d. h. zum Mittel. Es erscheint hierbei überhaupt nur als Begleitphänomen; höher hinauf dann als Teilphänomen. Abwärts stuft sich dieses Verhältnis zum mindesten bis zu den Instinkten ab, in denen das Bewußtsein ganz verschwunden ist. Aufwärts aber gelangt man dahin, das Bewußtsein auch im zweckbewußten Tun nur noch als Begleitphänomen unbewußter Zwecktätigkeit zu verstehen. Es ist ohne weiteres klar, welche ungeheure Stütze das teleologische Denken an' einer solchen Stufenordnung gewinnt. Gerade darum aber ist es notwendig, hier mit Fehlschlüssen und Vorurteilen aufzuräumen. Denn freilich läßt sich gegen die ganze Sehweise in diesem Gedankengang mancherlei vorbringen. Gerade eigentliche Zwecktätigkeit nämlich läßt sich in den natürlichen Tendenzen der Lebewesen nicht nachweisen und wenn sie uns noch so sehr zielgeleitet erscheinen. Wirklich aufweisbar ist da überall nur die dunkle Form des Hindrängens. Aber das ist gerade das Fragliche,
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ob das Hindrängen als solches zwecktätig ist. Auch der Fluß drängt zum Meere hin, auch der elektrische Strom zum Ausgleich der Spannung; aber wer wollte solche Tendenzen als finale bezeichnen ! Vom Resultat solcher Vorgänge aus kann man sich natürlich leicht täuschen ; Resultate, wo sie greifbar und auffallig sind, erscheinen schon als solche leicht wie Zwecke. Außerdem gibt es ja die irritierendste Ähnlichkeit zwischen Triebaktionen und gewolltem Tun. Da aber das letztere bewußt zwecktätig ist, so erscheint der Trieb zwecktätig. Dieser Täuschung muß man immer wieder die an sich einfache Überlegung entgegenhalten: naturhafte Tendenzen und Vitalantriebe des Seelenlebens sind wohl äußerst zweckmäßig und müssen daher, wenn sie bewußt werden, die Form der Zwecktätigkeit annehmen. Von Hause aus aber brauchen sie keineswegs zweckgeleitet zu sein. Vielmehr sind sie zunächst durchaus bloß sehr genaue Angepaßtheiten seelischer Aktivität an bestimmte Lebensyerhältnisse. Das ist am deutlichsten gerade an den nach außen gerichteten aktiven Akten zu sehen; denn ändert man die Lebensverhältnisse, so werden dieselben spezifisch geformten seelischen Tendenzen „unzweckmäßig" und verHeren ihre Angepaßtheit. Aber es ist mit der seelischen Angepaßtheit überhaupt dasselbe wie mit der der organischen Formen und Funktionen, an die sie ja auch gebunden bleiben : ihr Sinn ist ein selektiver. Es können sich eben auch im menschlichen Seelenleben nur solche aktiven Tendenzen halten, die an einen gegebenen Lebenszuschnitt zweckmäßig angepaßt sind; andere würden uns gefährden und auf die Dauer zugrundegehen lassen. Nicht anders ist es eine Stufe tiefer mit den sog. Instinkten. Versteht man unter diesen die hochkomplexen Reaktionsweisen mit scharf ausgeprägter Sinn-Richtung auf organischer Basis, so kann man folgendes sagen: der Instinkt scheint eine Art Mittelding zwischen bewußter und unbewußter Zwecktätigkeit zu sein. Ein Bewußtsein des Zweckes fehlt hier genau so sehr wie ein Bewußtsein der Mittel. Woraus dann der Teleologist es leicht hat, den Schluß zu ziehen : also muß es hier den real bestimmenden Zweck ohne Zweckbewußtsein geben. Aber mit welchem Recht sprechen wir dann überhaupt noch vom „Zweck" ? Ist denn der Instinkt überhaupt zwecktätig ? Wir wissen doch immer nur von der „Zweckmäßigkeit" seiner Funktion; zahlreiche Beispiele zeigen auch, daß er in Zwecktätigkeit übergeht, wenn er bewußt wird. Nur das ist konstatierbar. Aber das berechtigt nicht zu dem Schluß, daß seine Zweckmäßigkeit auch vor dem Bewußtwerden auf Zwecktätigkeit beruhte. Rückschlüsse solcher Art sind gefährlich. Man verliert mit ihnen sehr schnell den Boden der Phänomene unter den Füßen, und zwar ohne es zu merken. Der Hunger des Tieres ist gewiß zweckmäßig. Aber hat das Tier etwa dabei den Zweck der Stoffassimilation ? Oder hat auch nur der Mensch ihn ? Beide haben vielmehr nur ein Gefühl der Unbefriedigtheit und den daraus resultierenden zweckmäßigen Drang. Der Geschlechtstrieb ist ebenso zweckmäßig, nur liegt das, dem er dient, das Stammesleben, bereits
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weit über den Belang des Individuums hinaus. Aber ist es wahr, daß das Tier, oder auch nur der Mensch, damit den Zweck der Arterhaltung verfolgt ? Das Tier folgt einfach einem Drang, dessen Sinn es nicht ahnt, der Mensch aber folgt ihm, zum mindesten ohne daß er ihn zu ahnen braucht. Die Zweckmäßigkeit aber liegt schon im Drange selbst, ohne daß irgendwie nachfolgendes Zweckbewußtsein ihm etwas Wesentliches hinzufügen hönnte. Allgemein gesprochen: der Trieb als solcher ist kein Treiben in uns, sondern ein Getriebensein. Und die treibende Macht ist kein gesetzter Zweck, sondern eine organisch-funktionale Resultante, spürbar und sich ankündigend im Bedürfnis. Der Instinkt vollends ist ein Getriebensein in Reaktion auf sehr bestimmte Reizmomente der Außenwelt, auf Dinge, Umstände, Lebewesen u. a. m. Die Gleichartigkeit im Reagieren von Individuen einer Art ist dann der gemeinsame Artinstinkt. Der Irrtum, dem der Mensch in seiner Beurteilung dieser Dinge immer so leicht verfällt, entsteht oft genug einfach durch die Zweideutigkeit der Begriffe. Den Begriff des „Strebens" ζ. B. wendet man mit der größten Sorglosigkeit auf alle möglichen Formen des rein organischen oder organisch bedingten seelischen Dranges an. Man bemerkt nicht, daß man ebendamit die Vorstellung der Zwecktätigkeit schon ganz gedankenlos auf den Drang überträgt, bei dem sie doch zum mindesten erst in Frage stehen sollte. Solcher im unkontrollierten Sprachgebrauch gleichsam schlüpfrig gewordener Begriffe gibt es gerade auf diesem Grenzgebiet viele. Und die Vertreter des Stufenarguments sind es, die sich das meist recht gewissenlos zunutze machen. Man wird also umgekehrt sagen müssen: zur Zwecktätigkeit rückt der Instinkt nur in einem Wesen mit genügend hoch entfaltetem Bewußtsein auf. Da eben schaltet sich das Bewußtsein wie ein Organ in das Getriebensein ein, lange bevor es sich der zwecksetzenden Funktion bemächtigt; es übernimmt die Richtungsziele der vorgefundenen Tendenzen und wirkt sich im Finden der Mittel für sie (als seine Zwecke) aus. Weiter abwärts vom Instinkt braucht man die Stufen nicht mehr zu verfolgen. Hier gehen sie in die einfachen organischen Funktionen über. Und es sollte klar sein, daß diese überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit Finalprozessen zeigen, sondern höchstens noch aus Gründen der Theorie dafür genommen werden. Das aber gehört in einen anderen Zusammenhang. f. Scheinbare und wirkliche Übergangsformen Das Stufenargument wandelt sich auch noch in anderer Weise ab. Es scheint ineinandergeschaltete Zwecktätigkeit der Einheiten verschiedener Größenordnung zu geben: so etwa im Ordnungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft (beim Menschen), Individuum und Gesamtleben der Art (bei allen Organismen) oder auch von Zelle und vielzelligem Organismus. Und es scheint dann weiter, daß in dem Aufeinanderstoßen der Zwecktätigkeiten verschiedener Ordnung sogar
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Konflikte auftreten können, was dann wie eine Art Auflehnung des Gebildes niederer Ordnung mit seinen Selbstzwecken gegen die des höheren Gebildes aussieht; wobei aber das niedere durch das höhere schließlich doch gezwungen, ja gewissermaßen „überlistet" wird. Als Beispiel dafür schwebt dabei wohl der Geschlechtsinstinkt des Individuums vor, in dem dieses, überlistet von der Zwecktätigkeit des Artlebens, diesem den Dienst der Fortpflanzung leistet. Man kann diesen Gedanken beliebig weit ausspinnen. Seinen Ursprung dürfte er wohl am Verhältnis von menschlichem Einzelwesen und Gemeinwesen genommen haben; denn hier wenigstens kennen wir explizite Konflikte der angegebenen Art, hier sind sie nicht erdacht, sondern durchaus reell. Das Fragwürdige ist nur eben das, worauf es der Teleologie hierbei allein ankommt: ob nämlich wirklich die Tendenzen von Einheiten verschiedener Ordnung echte Zwecktätigkeit sind, ob es sich also bei ihrem Aufeinanderstoßen und den eventuellen Konflikten, die sich ergeben können, um Konflikte von Zwecktätigkeiten handelt. Nicht einmal im Falle des Menschen und seiner Gemeinschaftsbildung ist das einleuchtend; denn ist die Gemeinschaft des Wollens und Handelns fähig, wenn nicht der Einzelne sie repräsentiert ? An solche Fragen denkt der Theoretiker der Teleologie nicht; statt ihnen nachzugehen und vielleicht um ihnen zu entgehen, bildet er sich einen Begriff des Konflikts, nach dem es das Aufeinanderstoßen überhaupt nur zwischen zweierlei Finalität geben kann. Das letztere nun ist offenkundig grundfalsch. Den Konflikt gibt es tausendfach zwischen dem Streben des Menschen und ganz naturhafter Macht. Überall, wo der Mensch in seiner Berechnung Fehler macht und die Ausnutzung der Naturkraft ihm mißlingt, wird das sehr drastisch fühlbar; und es gibt Lebensgebiete, auf denen der Mensch dauernd im Kampfe mit unbewältigten Naturmächten steht. Vollends der Staat ist von sich aus nicht zwecktätig ; er wird es immer erst durch das führende Individuum. Auch im Reich des Organischen ist die „Art" (das Stammesteben) nicht zwecktätig im Individuum; ihr Leben in ihm besteht vielmehr direkt in den Artinstinkten sowie überhaupt in den auf die Wiederbildung angelegten Funktionen. Alle Deutungen solcher Funktionen als Zwecktätigkeit sind bloß nachträgliche Umkehrungen des Verhältnisses. Als Übergangsformen des Finalnexus zur Bewußtheit verstanden, sind diese Phänomene eben vielmehr keine echten Übergangsformen, sondern bloß konstruierte oder gleichsam in die Region des Unerkennbaren hinein projizierte. Was also bleibt von der Stufenordnung der Zwecktätigkeit übrig, auf die sich das Stufenargument der Teleologie stützt ? Es bleibt dieses übrig, daß es hier in der Tat eine sehr charakteristische Stufenfolge gibt. Diese ist nur etwas ganz anderes als ein Übergang von unbewußter zu bewußter Zwecktätigkeit. Sie ist der Übergang von komplex angepaßten Reaktionsformen der vitalen und psychovitalen
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8. Kapitel. Ergänzungen zur Finalanalyse
Sphäre des Menschenwesens zu bewußter Zwecktätigkeit. Und neben die Reaktionsformen sind hier auch gewisse mehr spontane Aktionsformen zu setzen, die aber ihrerseits niemals ohne auslösende Reaktivität einsetzen. Bei diesen Übergangsformen — den echten, im Gegensatz zu den genannten unechten — fallen zuerst die für das organische Leben am meisten relevanten „Effekte" (der Reaktionen) ins Bewußtsein. Und dann erscheinen sie dem Bewußtsein als „Zwecke" der empfundenen triebhaften Tendenzen. Die vermittelnden Ursachenketten werden erst viel langsamer oder auch garnicht bewußt. Zur eigentlichen Zwecktätigkeit aber wird das Ganze erst, wenn das Bewußtsein diese Ursachenkette nicht nur erfaßt, sondern auch verändert, sie etwa vereinfacht, ausbaut oder „verbessert", und zwar im Hinblick auf den vorerfaßten Erfolg, der dann eben der gewünschte und gesetzte Zweck ist. Das aber geschieht nur, wenn das Bewußtsein die Reaktionsweise selbst umgestaltet, d. h. sie überformt und differenziert. Solche Überformung setzt überall da ein, wo das Bewußtsein bei seiner Einschaltung in die Reaktion diese zu leiten beginnt; damit zugleich setzt aber unvermeidlich die Spezialisierung ihrer Funktion ein, diese wird von Fall zu Fall eine andere, ihre Mannigfaltigkeit wächst, und der Umkreis der Lebenslagen wächst, mit denen sie fertig wird. Erst auf diesem Umwege wird tatsächlich aus der Ursachenkette eine Reihe seligierter „Mittel" — auch das zwar zunächst nur teilweise, aber doch in gewissen wesentlichen Teilen. Diese Umgestaltung ist für das Lebewesen nicht in jeder Hinsicht eine Verbesserung. Die unbewußten Reaktionen sind durch ihre feste Angepaßtheit im ganzen gerade von höherer Zweckmäßigkeit, man möchte sagen, von größerer Vollkommenheit. Das ist von den Instinkten her wohlbekannt: es ist ihr Vorteil, daß sie dem Zugriff des Bewußtseins entzogen sind. Sie funktionieren eben dadurch zuverlässig und nahezu unstörbar. Was dagegen hier wirklich erreicht wird, ist ein anderer Vorzug: das Freiwerden der Aktionskraft vom vitalen Getriebensein und ihr Eintreten in den Dienst von wirklich gesetzten und bewußt verfolgten Zwecken, womit ihr Bereich und ihre Bedeutung auf eine ganz andere Stufe gehoben wird. Überdies darf man hierbei von „Verbesserung" überall da in ganz eindeutigem Sinne sprechen, wo die Lebensverhältnisse stark variieren, der Mensch vor immer neue Schwierigkeiten gestellt ist und der schwerfallige Apparat der organischen Anpassung diesem Wechsel so schnell nicht folgen kann. Das Bewußtsein schafft die Umstellung auf einen Ruck, nämlich vom bewußt gewünschten und erstrebten Erfolge aus. Es macht diesen zum Zweck und seligiert von ihm aus die Mittel. Es arbeitet dazu mit der laufenden Erfahrung Hand in Hand; es probiert aus und bleibt bei dem, was Erfolg hat. Und vielleicht darf man sagen : der Mißerfolg der triebhaften Reaktion ist der Erwecker der Zwecktätigkeit.
Gründe der fehlerhaften Alternative
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9. K a p i t e l
Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit a. Gründe der fehlerhaften Alternative In den Überlegungen der letzten Abschnitte tauchte immer wieder der Begriff der Anpassung auf. Hinter ihm aber steht ein Zweckmäßigkeitsproblem rein biologischer Art. Auf dieses sieht man sich also zurückgeworfen. In denselben Problembereich aber gehört der größte Teil jener Vorurteile und Argumente, die uns unter den teleologischen Motiven des wissenschaftlichen Denkens (Kap. 2 und 3) begegnet sind. Mit diesen müssen wir es nun noch einmal aufnehmen. Eine Reihe der einschlägigen Fragen ist bereits oben beantwortet worden: ζ. B. warum wir alle Ganzheitsdetermination für Finalität halten, warum der Entwicklungsbegriff uns so leicht täuscht, warum wir immer geneigt sind, nach Totallösungen zu haschen, warum wir der Suggestion der bequemsten Lösung unterliegen, warum sogar die Neigung besteht, die Finalität vom Organischen rückwärts auf das Physische zu übertragen. Desgleichen ließen sich auch schon die Gründe aufdecken, warum der Vitalist die Kausalstruktur zum „Mechanismus" vereinfacht, warum er sich mit Vorliebe an die schwächsten Argumente des Gegners hält, warum er gerade der Enge positivistischer Begriffe und der Überspannung von an sich fruchtbaren Prinzipien so große Bedeutung beimißt, selbst aber dabei einem durchsichtigen Anthropomorphismus verfällt. Diese Fragen können grundsätzlich mit der Aufdeckung der Motive als erledigt gelten. Nicht ganz so einfach steht es mit den zentraleren Fragen des Vitalismusstreites : warum wird immer wieder, auch nach Aufdeckung der Fehlerquelle, Zweckmäßigkeit für Zwecktätigkeit gehalten ? Warum hält man die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen a priori für unmöglich ? Warum geht man dauernd in beiden Lagern von der Alternative „Kausalität oder Finalität" aus, als ob es keine anderen Möglichkeiten mehr gäbe? Es soll hier mit der letzteren Frage begonnen werden. Es bleibt eben doch erstaunlich, daß hier zwei Theorien sich feindlich gegenüberstehen, die beide je einen Nexus als kategorial einzige Determination zugrundelegen, und doch beide damit nicht auskommen. Der Vitalismus erklärt im Grunde „tautologisch", erklärt also in Wahrheit garnichts ; er kann außerdem den angenommenen Finalnexus nicht nachweisen. Der reine Kausalismus aber erklärt nur Bruchstücke, er kann wohl Kausalfaden aufweisen, aber stets nur einige; er erklärt also nicht das, worauf es eigentlich ankam, und er weiß um dieses Versagen. Dieses ist in der Biologie eine fast schon verewigte Streitlage, sie besteht bereits seit der Antike. Warum also beharren beide Theorien auf dem Ausgang von der gleichen Alternative? Warum rechnen sie nach wie vor nicht mit der kategorial naheliegenden Möglichkeit anderer Determinationsformen?
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Die erste Antwort hierauf lautete: sie kennen keine andere Determinationsform. Das hat zunächst einen apriorischen Grund. Man hat beiderseits den Finalnexus einfach für die Umkehrung des Kausalnexus gehalten; ist er aber wirklich bloß die Umkehrung, so kann es natürlich nur „eine" solche geben und nicht ihrer mehrere. Dieser Irrtum ist durch die Kategorialanalyse des Finalnexus behoben: nur der zweite Akt des Finalgefüges kann bestenfalls als Umkehrung gelten, nur er läuft rückwärts in der Zeit; aber er ist kein Realprozeß. Der dritte Akt aber, der wirklich ein solcher ist, schreitet rechtläufig in der Zeit vorwärts, nicht anders als andere Realprozesse auch. Ein apriorischer Grund für die Richtigkeit der Alternative hegt also hier in Wahrheit nicht vor. Einen anderen Grund ähnlicher Art könnte man darin erblicken, daß überhaupt nur nach einem linear fortlaufenden Nexus gesucht wird. Es hat sich die Auffassung festgesetzt, Determination könne nur die Form eines solchen haben. Dann aber scheint es, ein solcher Nexus könne nur vom Anfang her oder vom Ende her determinieren; womit jede dritte Möglichkeit ausgeschlossen zu sein scheint. Im zeitlich linearen Schema bestehen auch tatsächlich nur diese beiden Möglichkeiten (nämlich wenn man von jedem komplexeren Determinationsgefüge absieht). Andere tauchen erst auf, wenn man sich im Schema der Simultanverbundenheit umsieht. Dieser Schritt ist nun in der Kategorialanalyse der physischen Seinsschicht längst geschehen. Zum mindesten hegt er bei Kant in der Kategorie der Wechselwirkung vor. Kant hat die letztere zwar nur wenig entwickelt, aber schon das Wenige genügt, um zu sehen, daß es sich um einen nicht linear fortlaufenden und nicht zeitlich-sukzessiven Abhängigkeitstypus handelt. Damit zerfallt auch der zweite apriorische Grund der schicksalschweren Alternative in nichts. Freilich ist die Wechselwirkung von jeher eine unpopuläre Kategorie gewesen, so recht das Gegenteil einer hybriden Kategorie. Ihr reicher Problemgehalt ist wohl überhaupt erst in der Analyse des „dynamischen Gefüges" und seiner ihm eigenen Determinationsformen ans Licht gekommen*). b. Die Zweiheit der Aspekte im Problem des Lebendigen Hinter diesen „Gründen" der Alternative steht aber noch etwas anderes. Es ist ein Moment, das man erkenntnistheoretisch nennen könnte, das aber im Grunde wohl anthropologisch ist. In ihm hegt ein Zwang von ungleich größerer Tiefe und Schicksalhaftigkeit. Es betrifft die Gegebenheitsweise des Organischen. Wie eigentlich ist uns das Lebendige als solches gegeben ? Offenbar in zwei gänzlich verschiedenen und geradezu entgegengesetzten Aspekten, die zwar letzten Endes dieselbe Sache betreffen, und doch gerade inhaltlich weit auseinanderklaffen. Einerseits ist uns im organischen Selbstgefühl der Innenaspekt des Lebens gegeben; direkt freilich nur der des *) Vgl. hierzu „Philosophie der Natur", Kap. 36a, b und 38b.
Die Zweiheit der Aspekte im Problem des Lebendigen
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eigenen, aber der dafür in um so größerer Unmittelbarkeit. Diese Gegebenheit hat sehr bestimmte Art und Grenzen: das Leben in uns „erlebt" eich selbst, aber nur im Ganzen und als Ganzes. Schon die besonderen organischen Zustände werden nur verschwommen erlebt. Die eigentlich organischen Vorgänge erleben wir nicht, weder die einzelne Muskelkontraktion noch die Peristaltik, noch den Blutkreislauf, von den fundamentaleren Prozessen des Lebensvorganges ganz zu schweigen. Wir wissen im Leben nicht, was da „in uns" vorgeht, es ist dem Bewußtsein entzogen. Erst die Wissenschaft lehrt es, aber auf dem Umwege über die andere Gegebenheit. Andererseits nämlich ist uns der gegenständliche Außenaspekt des Lebendigen durch Vermittlung der äußeren Wahrnehmung gegeben. Organismen sind raum-zeitliche Gebilde, erscheinen als Dinge unter Dingen, lassen sich wissenschaftlich erforschen und analysieren wie Dinge. Man kann sie beobachten, mit ihnen experimentieren. Dieser Aspekt belehrt über eine unabsehbare Fülle von Einzelheiten der organischen Vorgänge; aber es ist nicht die unmittelbare innere Gegebenheit, und das Leben als Ganzes wird durch ihn nicht erfaßt. Diese beiden Aspekte und Gegebenheitskreise des Lebendigen stimmen nun durchaus nicht ohne weiteres überein. Sie bestehen in einer gewissen Unabhängigkeit voneinander und führen, entsprechend der entgegengesetzten Sicht, die in ihnen herrscht, auch zu entgegengesetzten Auffassungen. Die innere Gegebenheit drängt zur Auffassung des Organischen nach Analogie des Seelischen, die äußere zur Auffassung nach Analogie des Physisch-Materiellen. Ein dritter Aspekt aber, der den Gegensatz beider überbrücken könnte, ist nicht gegeben; das wird u. a. überwältigend spürbar im Problem der psychophysischen Einheit: die Zweiheit der Aspekte scheint die Einheit des Menschenwesens (das Ich) zu zerreißen. Das ist der eigentliche Grund des unüberwindlichen Scheines jener Alternative. Die innere Gegebenheit ist ja im Grunde die des Seelenlebens, das Seelenleben aber kennt in seinem Bereich die Herrschaft des Finalnexus; in ihm ist alles Tendenz, Streben, Begehren. Die äußere Gegebenheit aber ist im Grunde die der Dingwelt, und die Dingwelt ist uns bekannt als die vom Kausalnexus beherrschte. Die Folge davon ist, daß der Innenaspekt uns zur Teleologie des Organischen drängt, der Außenaspekt dagegen zur Kausalauffassimg. Insofern kann man nicht einmal sagen, die Alternative „kausal—final" 'sei eine willkürlich zurechtgemachte. Sie ist vielmehr durch die Spaltung der Zugänge unvermeidlich und als Schein niemals ganz aufhebbar. Denn eben der Schein hat seinen ontischen Grund in der einmal vorhegenden Zweiheit der Gegebenheitsfelder. Es hegt auf der Hand, daß beide Aspekte einseitig sein müssen. Dann aber ist zu erwarten, daß es auch mit den beiden Determinationsprinzipien, die infolge der einseitigen Aspekte eingesetzt wurden, nicht seine Richtigkeit haben kann. Es sind übertragene Prinzipien, sie können
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schwerlich genau auf den Eigencharakter des Organischen zupassen. Und dann kann auch die Alternative nicht stimmen. Es könnte ja sein, daß die organische Welt noch ihre eigene, nicht vom Seelischen und nicht vom Physischen her entlehnte Determinationsform hat. Unter kategorialen Gesichtspunkten müßten reiner Kausalismus des Organischen und reiner Finalismus selbst dann fehlerhaft sein, wenn sie nicht zu Unstimmigkeiten führten. Denn beide vergewaltigen das Phänomen; sie beurteilen die Lebenserscheinungen unter Kategorien, die ihnen nicht selbst abgewonnen, sondern von einer anderen Seinsschicht her übertragen sind. Es sind nicht die eigenen besonderen Kategorien des Lebendigen, sondern fremde. Das geht freilich beim Kausalnexus noch an, denn als niedere Kategorie ragt er tatsächlich in das Reich des Organischen hinein, er reicht nur nicht zu für dessen Eigenart. Beim Finalnexus dagegen hört alle Berechtigung auf, hier hegt eine charakteristische kategoriale Grenzüberschreitung vor. Der Finalnexus ist Kategorie einer höheren Semsschicht und kann sich als solche nicht auf Gebilde der niederen Schicht rückerstrecken. Wiederkehr der Kategorien in der Schichtenfolge der realen Welt gibt es nur von der niederen zur höheren Schicht, nicht umgekehrt. Was in diesem Falle ja auch deutlich daran zu erkennen ist, daß Finalität im Organischen ein Zweckbewußtsein voraussetzen würde, für das hier die Vorbedingungen fehlen. Daher besteht der große Unterschied in der Fruchtbarkeit der Anwendung. Mit der Kausalitätskategorie kommt die Erforschung des Organischen wenigstens ständig vorwärts, wenn sie auch das Ganze des Lebensrätsels nicht bewältigt. Mit der Finalkategorie gelangt sie nur zu Deutungen, die dem Fortgange der Forschung nicht standhalten. c. Einschläge des Irrationalen im Organischen Die Tendenz der Übertragung ist rein als solche und vor aller kritischen Überlegung eine zwangsläufige. Die Semsschicht des Organischen ist eben weit weniger zugänglich als die nach unten und nach oben angrenzenden Schichten, das Physische und das Seelische. Jenes ist im Außenaspekt, dieses im Innenaspekt direkt gegeben. Was ontisch zwischen ihnen hegt, vom Physischen getragen, das Seelische tragend, ist nicht direkt und eindeutig gegeben : die Lebendigkeit. Ihre Gegebenheit ist eine mittelbare, aufgeteilt in die Zugänge, die jene beiden eröffnen. Beide aber sind für ihre Eigenart unzureichend. So kommt es, daß wir wohl vom Determinationstypus des Physischen und dem des Seelischen etwas wissen, aber nicht von dem des Organischen. Anthropologisch ist diese breite Lücke unseres Wissens auch sehr wohl verständlich: es ist offenbar zweckmäßig, daß der Ablauf der organischen Funktionen dem Bewußtsein entzogen ist; denn damit ist er auch dem Zugriff des Willens entzogen und vor ihm sichergestellt. Der Mensch kann mit diesen Funktionen, auf denen sein Leben und das Stammesleben seiner Art beruht, nicht so leicht experimentie-
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ren. Er ist, während er in der umgebenden Außenwelt sich die Dinge und Verhältnisse fortschreitend verfügbar macht, in diesem Punkte bei der Tierheit geblieben. Und es ist leicht zu verstehen, daß das sein Vorteil ist. Diese breite Lücke unseres Wissens ohne weiteres auszufüllen, ist unmöglich. Der langsame Schritt der Forschung schreitet.zwar auch hier unausgesetzt vorwärts, vorwiegend vom Außenaspekt als dem inhaltlich weit reicheren her, aber sie zu schließen ist eine unabsehbare Aufgabe. Denn hier stößt die Forschung auf Einschläge des Unerkennbaren (gnoseologisch Irrationalen), die sie mit ihren Mitteln nicht bewältigen kann. Um jedes Irrationale, insonderheit solange es nicht scharf ausgegrenzt ist, geht im Erkenntnisfortschritt der Kampf ; und oft genug häufen sich darum die Hypothesen und Theorien. Auch um die große Lücke im Wissen um das Organische fahndet die Erkenntnis unaufhörlich nach einer Ausfüllung. Immer wieder verfällt sie auf die Determinationskategorien der angrenzenden Schichten. Und immer wieder erweist sich die lineare Kausalität als zu einfach, die Finalität als zu kompliziert. Aber der Fehler ist ungleich. Die Übertragung des Kausalnexus ist an sich berechtigt, sie reicht nur nicht an die Autonomie organischer Funktionen heran. Die Übertragung des Finalnexus dagegen ist unberechtigt, sie verstößt gegen das kategoriale Grundgesetz und gegen das kategoriale Wesen der Finalität selbst. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Verborgenheit und Ungreifbarkeit der komplexen Determinationsformen, wie die Kategorialanalyse sie schon im Reich des Anorganischen aufzeigen kann. Zu diesen gehören die Formen der Zentraldetermination und der Ganzheitsdetermination. An den dynamischen Gefügen sind sie ohne weiteres aufweisbar. Aber sie sind bereits hohe Überformungen der Kausalität und Wechselwirkung. Immerhin kann man von ihnen nicht sagen, daß sie irrational wären; die Zugänge zu ihnen sind nur durch kompliziertere Wege wissenschaftlicher Erkenntnis vermittelt. Wenn das biologische Denken auch nur mit ihnen ernsthaft rechnete, so könnte es sich schwerlich mehr auf die traditionelle Alternative von kausal und final versteifen ; denn hier hegen eben doch bereits Determinationsformen anderer Art vor, und zwar offenkundig solche, die mitten inne zwischen jenen beiden stehen. Macht man sich das einmal klar, so wird es höchst unwahrscheinlich, daß es im Reich des Organischen nicht noch weitere, und zwar wiederum höhere Determinationsformen geben sollte. Schon die morphogenetischen Prozesse lassen das nicht anders erwarten, zumal wo diese, wie in der Wiederbildung des Individuums, den Charakter einer langen Entwicklung mit vielen heterogenen Formstadien annehmen. Darüber hinaus aber gibt es an den organischen Gefügen Prozeßgleichgewichte und Regulationen, die womöglich noch deutlicher dafür sprechen. Zum mindesten wird man „eine" spezifisch organische Determinationsform anerkennen müssen: diejenige, welche vom Anlagesystem der Keim-
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zelle aus den Entwicklungsgang des Individuums bestimmt. Da wir diese Determinationsform nicht kennen, sie vielmehr nur aus der Regelmäßigkeit der einschlägigen Vorgänge erschließen können, andererseits aber an ihrem Bestehen doch auch gar nicht zweifeln können, so kann man sie als den gesuchten nexus organicus bezeichnen. Damit ist wenigstens so viel erreicht, daß die einfache Alternative zweier allein möglicher Determinationsformen endgültig durchbrochen ist. Und das ändert die Sachlage von Grund aus. Hat der Organismus seine eigene Form der Determination, so sind die extremen Theorien, die ihn nach Art der Dinge mechanisieren oder nach Art des personalen Wesens finalisieren wollen, erledigt. Ihre gemeinsame Fehlerquelle ist nicht nur aufgedeckt, sondern auch grundsätzlich überwunden. Bedenkt man aber, daß es sich hier gar nicht einmal nur um den einen Typus des nexus organicus handelt, sondern um mehrere Formen organischer Zentral- und Ganzheitsdetermination, so wird es vollends zur Gewißheit, daß wir weder den hier ganz deplacierten Finalnexus heranzuziehen, noch den zwar überall im Organismus vorhandenen, aber nicht ausreichenden Kausalnexus über seine Tragkraft in Anspruch zu nehmen brauchen, um den charakteristischen Lebenserscheinungen gerecht zu werden. Der Organismus hat vielmehr seine eigenen Kategorien, die — wie alle Seinskategorien — gleichgültig gegen unser Wissen und Nichtwissen bestehen. d. Die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen Auch die andere Grundfrage des biologischen Denkens, warum wir das Zweckmäßige immer so leicht und unbesehen auf Zwecktätigkeit zurückführen, ist mit dem oben (Kap. 2) Gesagten nicht erledigt. Man kann die Frage präziser so stellen: warum halten wir die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen a priori für unmöglich? An dieser Frage gibt es noch etwas Grundsätzliches zu klären. Es handelt sich hier noch gar nicht um eine inhaltliche Lösung der Entstehungsfrage selbst. Das gehört unter die Kategorien des Organischen. Hier geht es nur um die Gründe eines transzendentalen Scheines — einer apriorischen Voraussetzung, die den Charakter einer Auffassungskategorie ohne objektive Gültigkeit hat. Und, da im Alltagsbewußtsein das Zwecklose als das „Zufallige" gilt, so kann man die Frage auch so fassen: warum lehnen wir a priori die Zufälligkeit des Zweckmäßigen ab ? Bei dieser zweiten Fassung ist einzusetzen. In ihr ist nämlich der ontische Charakter der Zufälligkeit selbst durchaus verkannt. Man meint, das Zufällige sei das Undeterminierte, es ist aber vielmehr das Notwendige, nur eben nicht das final Notwendige. Zufallig im kausalen. Sinne kann man wohl das Ganze der realen Welt nennen, weil an ihm die Determiniertheit antinomisch wird, aber nicht irgendetwas Besonde-
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rea oder Einzelnes in ihr; da gibt es immer unabsehbare Reihen der Kausalfaktoren, nur daß wir sie nicht kennen oder nicht übersehen. „Zufällig" im kausalen Sinne („ohne" Ursachen seines Entstehens) ist das Zweckmäßige in keinem Fall: es hat seine Ursachen, und es muß auf Grund ihrer ausfallen, wie es ausfällt. Was man mit einigem Recht daran „zufallig" nennt, hegt nur darin, daß aus den Ursachen etwas hervorgeht, was gerade für etwas anderes „passend" oder zweckmäßig ist. „Zufällig" heißt hier nur: nicht für den Zweck gemacht, dem es „gemäß" ist, oder für den es passend ist, also nicht um des Zweckes, willen (durch seine Setzung und Auswahl der Mittel für ihn) entstanden. Dieser Sinn des „Zufallens" ist die erste und legitime Bedeutung der alten Termini convenientia und contingentia. Diese besagen nichts als das „wie es halt zusammentrifft". Es hegt gar kein Grund vor, zu meinen, daß bei der unübersehbaren Mannigfaltigkeit dessen, was in diesem Sinne „zufallig" zustandekommt, nicht auch „Zweckmäßiges" entstehen sollte. Das folgt einfach nach den Gesetzen der Statistik. Mit welcher Häufigkeit es auftritt,, ist dabei zunächst ganz gleichgültig. Denn daß das Zweckmäßige, einmal entstanden, sich durch Bestand von allem Unzweckmäßigen abhebt, während dieses zugrundegeht, das hängt an keinen statistischen. Gründen, sondern liegt im Wesen des Zweckmäßigseins selbst (d. h. des „gerade passend Ausgefallenseins"). Die Zweckmäßigkeit eines Gebildes in sich selbst (z. B. seiner Teile füreinander) bedeutet eben dieses,, daß es Bestand, Gleichgewicht, Stabilität hat. Die Entstehung eines solchen Gebildes ist dann zwar „zufällig", sein Bestehenbleiben dagegen ist nichts weniger als zufällig. Es ist die einfache Folge des zustandegekommenen inneren Gleichgewichts. Wie der Sinn des Zufälligen, so wird gewöhnlich auch der Sinn der „Zweckmäßigkeit" verkannt. „Zweckmäßig" ist nämlich auch im Bereich des zwecktätigen Tuns keineswegs nur das Zweckgeleitete, sondern ebensosehr jedes „Mittel", das sich als geeignet zur Verwendung erweist und das wir deswegen für unseren Zweck „wählen". Wir wissen dabei auch im Leben sehr wohl darum, daß diese Mittel eine nur zufallige Zweckmäßigkeit haben, daß sie nicht um unserer Benutzung willen entstanden sind; und wir finden nichts Erstaunliches daran. Letzteres ganz mit Recht : es wäre vielmehr erstaunlich, wenn unter der unübersehbaren Mannigfaltigkeit dessen, was zustandekommt, nicht, auch das eine und das andere sich fände, was für unsere Zwecke passend wäre. In diesem Sinne sind Bäume zweckmäßig zum Bauen, Wasserläufe zur Rrafterzeugung, Kohlenlager für die Industrie. Niemand denkt hier daran, der Natur solche Zwecke unterzuschieben. „Zweckmäßig" ist alles, was wir „nützlich" nennen, alle irgendwie gegebenen Verhältnisse oder Umstände, sofern sie für etwas günstig oder förderlich sind. Auch unser menschliches Tun kann ja „zweckmäßig" für etwas ganz, anderes sein, als was wir mit ihm bezwecken. Und es hegt kein Grund, vor zu meinen, daß es innerhalb der reinen Naturverhältnisse anders sei.
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9. Kapitel. Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit
Das alles sind Dinge, die auf der Hand liegen, wenn man sie erst einmal in den Blick bekommen hat. Daß es daran so lange gefehlt hat, daran ist u. a. die alte Vorstellung schuld, daß jede andere als die finale Determination unproduktiv sei. Wo Zweckmäßiges entstehen soll, da muß irgendeine schöpferische Macht am Werke sein. Dabei denkt man etwa an „Findigkeit", erstmaliges Erdenken und Erfinden; im Finalprozeß ist ein vordenkendes und handelndes Wesen „erfinderisch" (ζ. B. in der Auswahl der Mittel). Man denkt also ganz anthropomorphistisch, wenn man aus diesem Grunde die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen ablehnt. Aber die Sachlage ist vielmehr umgekehrt. Wo „immanente Zwecke" den Prozeß beherrschen, da müssen sie von vornherein in der Sache, die da entsteht, angelegt sein; dann aber ist der Prozeß „Entwickelung", d. h. bloße Auswickelung eines Eingewickelten. Es kommt also nichts Neues zustande, und der Prozeß ist vielmehr unproduktiv. „Schöpferische Entwickelung" ist ein Widerspruch in sich selbst. Produktivität als solche hat mit Zweckmäßigkeit nichts zu tun. Es gibt zwar echte finale Produktivität, aber nur dort, wo ein geistiges Wesen neuartige Zwecke setzt, welche die Natur nicht kennt. Wo das geistlose Bewußtsein bloß vitalen Tendenzen dient, ist seine Zwecktätigkeit nicht produktiv. Der Kausalprozeß dagegen, zumal der komplexe, konkret verstandene, ist in seiner Weise sehr wohl produktiv. Er bringt Neues hervor, gerade weil es in ihm auf nichts angelegt ist, er selbst also auf nichts festgelegt ist. Er bringt es immerfort hervor, ohne darauf aus zu sein. Es kommt eben immer wieder anderes zustande. Der Kreis des Möglichen in ihm wird auch nicht nur enger, sondern ebensosehr im Fortschreiten weiter; es wird von jedem Stadium aus Neues möglich. Schon der Mechanismus ist in diesem Sinne produktiv — nicht natürlich der künstliche, in dem es ja vielmehr auf Zwecke abgesehen ist, wohl aber der kosmische mit seinem unübersehbaren Formenreichtum. Wieviel mehr aber muß das von den höheren Formen des Kausalprozesses gelten! Denn es ist nur der geringste Teil des Kausalzusammenhanges, der als „mechanisch" gelten kann. Gerade die Losigkeit der Verknüpfung (der simultanen) in den großen Ursachenkomplexen, d. h. dieses, daß sie nicht isoliert sind, nicht geschlossen, daß sie jedem Einfluß offenstehen, von wo immer er komme, daß also der Prozeß in jedem seiner Stadien ab- und umgelenkt werden kann, dieses Ausgesetztsein allem von außen Kommenden („Zufalligen"), — gerade das ist der Boden des Produktiven. Und tatsächlich, gerade dieses Moment macht es, daß in den Naturprozessen, bei aller Gleichartigkeit der Grundformen, Gesetzlichkeit und Allgemeinheit, immer wieder Neues entsteht. Ja, daß die wirkliche Naturgesetzlichkeit sich nicht, wie in der klassischen Physik gelehrt wurde, in allgemeinen Formen des Ablaufs erschöpft, sondern sich nur auf statisti-
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schem Wege annähernd adäquat fassen läßt, darf hierfür als Probe auf das Exempel gelten. Das Zweckmäßige entsteht deswegen so leicht „aus" dem Zwecklosen, weil überhaupt so viel Verschiedenartiges auf dem Wege bloß kausaler „Konvenier«" entsteht. Es kommt eben wirklich unübersehbar Vieles zustande, Zweckmäßiges und Unzweckmäßiges. Aber nicht alles kann sich halten. Zu bestandhaften Gebilden wird nur, was sich zweckmäßig (für sein Bestehen) zusammenfindet, was geschlossene Ganzheiten bildet und mit sich selbst in ein inneres Gleichgewicht kommt. Denn damit fällt es dann unter ein anderes und offenbar höheres Prinzip, das der Ganzheitsdetermination. Es ist leicht zu sehen, daß in allen diesen Überlegungen, soweit sie vom statistisch-sporadischen Auftreten des Zweckmäßigen inmitten des Unzweckmäßigen ausgehen, ein Selektionsprinzip entscheidend mitspricht. Dieses ist nicht identisch mit dem biologischen Prinzip gleichen Namens, es ist etwas noch Allgemeineres, auch die anorganische Natur Betreffendes. Es bedeutet nichts als dieses, daß von allen Gebilden, welche entstehen, sich nur diejenigen erhalten können, in denen sich die Glieder, Teilprozesse und Kräfte gegenseitig ausgleichen, bzw. in Gang halten; nur solche also, in denen sich ein dynamisches Gleichgewicht mit genügender Stabilität herstellt. In solchen Gebilden eben ist alles „zweckmäßig" füreinander. Wo das nicht der Fall ist, müssen die Gebilde sich wieder auflösen. Es können also immer nur solche Gebilde übrig bleiben, in denen diese Bedingung erfüllt ist. Das ist, wie gesagt, noch keineswegs die „natürliche Zuchtwahl". Zu dieser gehören sehr viel mehr Bedingungen, die erfüllt sein müssen, ζ. B. die ganze Apparatur der selbsttätigen Wiederbildung, Fortpflanzung und Vererbung der Eigenschaften. Und es ist klar, daß erst bei Erfüllung dieser Bedingungen das Prinzip sein volles Gewicht gewinnt. Aber auch ohnedem ist es ein Prinzip von beträchtlicher Bedeutung und sehr wohl angetan, die Entstehung des Zweckmäßigen aus dem Zwecklosen (bloß kausal Notwendigen) grundsätzlich verständlich zu machen. Man kann sie um ihrer Einfachheit und Allgemeinheit willen als selectio primitiva bezeichnen. Zugleich aber ist es auch sehr wohl verständlich, daß das Resultat solcher Selektion, das übriggebliebene „Zweckmäßige", dem unkritischen Blick immer teleologisch erscheinen muß: die wiederkehrende Gleichgewichtsform „erscheint" ihm eben als Zweck, um dessentwillen die Teile und Teilprozesse da sind und so beschaffen sind, wie sie sind. Und dann glaubt man, daß die ganze Natur von ihren einfachsten Gestalten aufwärts auf ein System fester Formen hin geordnet ist, denen alle Gebilde in ihrem Werdegange „zustreben". So war die Natur bei Aristoteles gedacht, und so ist sie jahrhundertelang gesehen worden*). *) Von der eigenartigen Stellung des biologischen Selektionsprinzips soll hier nicht die Rede sein. Das gehört in die Kategorienlehre. Vgl. „Philosophie der Natur", Kap. 58 und 69. 7 Hartmann, Teleologie
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θ. Kapitel. Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit e. Gegen den Geschichtsteleologismus
Enger, als man meinen sollte, hängt hiermit die Fragwürdigkeit der Teleologie im Geschichtsproblem zusammen. Zwar liegt die Frage hier ganz anders : gegeben sind keine fertigen Gebilde, deren Zweckmäßigkeit uns auffallt, eher vielleicht das Gegenteil, das ewige Versagen der vom Menschen ins Leben gerufenen Einrichtungen; dafür aber ist hier die wirklich zwecktätige Aktivität des Menschen gegeben, der sich als Politiker an der Gestaltung des Geschichtsprozesses versucht. Aber dabei bleibt das deutende Denken nicht stehen. Der Politiker gerade scheint über die eigene bewußte Zwecksetzung hinaus noch in anderer Weise zweckgeleitet zu sein; er scheint von etwas Größerem erfaßt zu sein, was durch ihn hindurch wirkt, von der Gesamttendenz des Volkes, das er führt, einerlei ob man sich diese als einen gemeinsamen Willen oder als in die Geschichte mitgebrachtes Prinzip (Hegel) oder als eine über ihm waltende Vorsehung denkt. Was geschichtliche „Tendenzen" eigentlich sind, ist selbst ein Rätsel, das seiner Lösung harrt. Von ihm war bereits oben die Rede (Kap. 3e). Man meint nun, hier müsse doch jedenfalls schon ein Zweck vorhanden sein, nur gerade im Bewußtsein des Handelnden könne er seinen Ursprung nicht haben. Der führende Mann müsse derjenige sein, der ihn zuerst erfaßt, ausspricht und bewußt macht. Diese Lehre aber, am bekanntesten aus der Hegeischen Geschichtsphilosophie, ist immer die Antwort darauf schuldig geblieben, wie denn ein solcher „Zweck" vor allem Zweckbewußtsein vorbestehen könne. Und hier ist der Punkt, in dem ihre Aporetik mit der des Organischen zusammentrifft : hier wie dort bleibt es unverständlich, wie Zwecke ohne zwecksetzendes Bewußtsein bestimmend sein können. Das Phänomen, nüchtern betrachtet, zeigt denn, auch ein ganz anderes Bild. Die Menge als vielköpfiges Ganzes ist gemeinhin der einheitlichen Zwecksetzung nicht fähig; die Initiative kann f ü r sie nur der Einzelne ergreifen, vorausgesetzt, daß er sie dafür gewinnen und mitreißen kann. I m Durchschnitt nun setzt der Einzelne zwar Zwecke, aber nur die nächsten, und jeder einen anderen. Der Politiker dagegen, wenn er wirklich mehr ist als einer der Vielen, setzt den gemeinsamen Zweck. Und das ist immer der weiter ausschauende. Aber er entnimmt ihn nicht einer vorbestehenden Tendenz, die ihn schon vorzeichnet, sondern erfaßt und setzt ihn seinerseits, und zwar nicht willkürlich, sondern als Antwort auf eine gewordene politische Lage, als Lösung einer Aufgabe, vor die das Volk gestellt ist. Die Menschen beschwören zwar auch mit durch ihr Tun die geschichtliche Situation herauf, in der die Not oder die Aufgabe des Augenblicks wurzelt; aber sie wissen nicht darum, die Folgen ihres Tuns sind nicht ihr Ziel, und hernach stehen sie überrumpelt und ratlos vor dem sie überfallenden Unerwarteten. Der fruchtbare Politiker — der „konstruktive", wie man heute sagt — ist derjenige, der hier R a t weiß.
Gegen den Geaohichtateleologismus
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Und mehr noch: der echte Politiker wird nicht nur nicht von weisen Zwecken einer höheren Instanz geleitet; er muß Adelmehr, wo er selbst nicht das Maß an Vorsehung hat, dessen er bedarf, probieren und wagen. Die Entscheidung aber darüber, ob er das Rechte gewählt und die Mittel der Durchführung richtig eingeschätzt habe, hegt allein beim Erfolg. Nachträglich sieht der Erfolg, wenn er ein positiver ist, stets so aus, als hätte er im Bewußtsein des Politikers als Zweck vorbestanden ; und weil sich auch geschichtlich nur das halten kann, was für das Ganze des Gemeinschaftslebens zweckmäßig ist, so sieht es hinterher so aus, als wäre der leitende Staatsmann von unbewußten Zwecken einer Gesamttendenz seinerseits geleitet. Daß viele andere Versuche, die ebenso zwecktätig ins Werk gesetzt waren, gescheitert, ja oft schon im Ansatz aufgegeben werden mußten, ist später schnell vergessen. Manchmal ist es, als spielte der wirkliche Geschichtslauf dem immer zu teleologischer Deutung neigenden Menschen einen Streich. Können doch die bewußt gesetzten Zwecke des Politikers sogar irrig sein und dennoch eine Aktion ins Leben rufen, die sich als fruchtbar bewährt! Der Erfolg seiner Initiative kann eben ein ganz anderer sein als derjenige, den er bezweckte. In der Geschichte aber kommt es auf den Erfolg an. Es wird nachträglich doch immer so aussehen, als wäre er bezweckt worden. Diese Täuschung ist sehr verständlich. Aber die philosophische Theorie der Geschichte sollte ihr nicht verfallen. Auch hier also Hegt etwas wie ein Selektionsprinzip vor. Den rechten Weg schlägt derjenige Staatsmann ein, dessen bewußte Absichten sich so auswirken, daß die vorliegende Aufgabe gelöst, die entstandene Not behoben, die gewordene geschichtliche Lage zu positiver Entfaltung ausgenutzt wird. Dieser ist dann der erfolgreiche Politiker. Sekundär können natürlich in seinem Bewußtsein, wenn es vom Erfolg oder Mißerfolg lernt, sich auch wirklich die Richtpunkte einer laufenden Entwicklung zu bewußten Zwecken erheben. Im allgemeinen aber wird der Satz gelten müssen: nicht die Zwecke des Politikers entscheiden über den Gang der Geschichte, sondern der Gang der Geschichte entscheidet über die Zwecke des Politikers — darüber nämlich, ob sie einem Volke zum Heile gereichen oder zum Unheil. Direkt kann der Staatsmann den Staat nur auf kurze Sicht unter gesetzten Zwecken leiten. Er ist eben auch nur Mensch mit menschlicher Vorsehung, nicht ein übermenschliches Bewußtsein. Auf weitere Sicht entscheiden die nicht vorgesehenen Faktoren. Der Geschichtsprozeß ist nur im Kleinen — in den Grenzen menschlicher Voraussicht — zweck- und sinngeleitet. Im Großen ist er weder zwecktätig noch sinngerichtet. Aber stets können sich auch in der Geschichte nur solche Gebilde (Staaten, Verfassungen, Einrichtungen) halten, in denen alles „zweckmäßig" aufeinander abgestimmt ist. Und auch diese Zweckmäßigkeit ist, obgleich immer wieder vom Menschen erstrebt, schließlich doch mehr ein Selektionsprodukt als ein zwecktätig geschaffenes Gebilde. 7·
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10. Kapitel. Die geistmetaphysischen Argumente
10. K a p i t e l
Die geistmetaphysischen Argumente a. Richtigstellung verschobener Moäalbegriffe Die lange Reihe der Sinn- und Wertargumente, zu der mit der Geschichtsteleologie bereits der Übergang gemacht ist, erstreckt sich von den Motiven des naiven Bewußtseins (der Tendenz des ,,Wozu"-Fragens) bis in die spekulativen Regionen des metaphysischen Denkens. Manche von ihnen sind bereits durch ihre bloße Darlegung so gut "wie erledigt. Bei anderen bedarf es einer genaueren Widerlegung. In diesen hegt der Schwerpunkt des ganzen Fragebereiches der Sinn- und Wert-Teleologie. Bevor wir an sie herantreten, ist noch ein Wort zur alten PotenzAktus-Lehre, sowie zum Begriff der causa finalis zu sagen. Die Schwächen und Zweideutigkeiten der Aristotelischen und scholastischen Modalitätslehre wurden oben (Kap. 5d) bereits dargelegt; hinzuzufügen bleibt dem nur noch, wie nach Auflösung einer irrigen Modalkonstruktion die ontischen Modalkategorien sich gestalten. Die umfassende Modalanalyse, die allein dieser Aufgabe entsprechen könnte, bildet aber eine ganze Wissenschaft für sich. Sie braucht hier auch nicht gebracht zu werden, weil sie anderweitig ausführlich dargelegt ist*). An die Resultate dieser Durchführung braucht hier nur erinnert zu werden. „Dynamis und Energeia" waren von Anbeginn keine reinen Modalstufen des Seienden, sondern die Pole eines Sinn- und Zweckverhältnisses, welches allem Werden zugrundegelegt wurde : Zweck ist hier die „substantielle Form", Energeia ist die Verwirklichung der Form, Dynamis ist ihr Vorbestehen als Anlage oder Fähigkeit vor der Verwirklichung. Dynamis ist also nicht das Möglichsein von etwas, Energeia nicht das Wirklichsein. Umgekehrt ausgedrückt : Möglichkeit ist nicht die „Potenz zu etwas", denn sie ist nicht Bestimmung zu etwas ¡außerdem ist sie nicht disjunktiv — nicht zugleich Möglichkeit von A und nonA —, wenigstens als Realmöglichkeit ist sie das nicht, denn diese muß in die Realwirklichkeit als ihr Bestandteil eingehen, in der aber die Möglichkeit von non-Α vielmehr ausgeschlossen ist. Ebenso ist Wirklichkeit nicht Energeia, wenigstens nicht als Realwirklichkeit, denn sie ist nicht Verwirklichung von etwas als Form und Zweck Vorgezeichnetem ; jedes Bruchstück, jedes ziellose Geschehen ist ebenso wirklich. Sie ist überhaupt nicht ein Gelingen, nicht Vollendung. Beide Modi bestehen gleichgültig gegen Ziele und Tendenzen. Darüber hinaus aber liegt der größere Irrtum in der Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Bestehen nämlich beide in einer Welt nebeneinander, so muß diese Welt in zweierlei Seiendes zerfallen, und neben den im vollen Sinne seienden Gebilden (den wirklichen) muß es ein Heer bloß möglicher, also gleichsam halbseiender Gebilde geben. Das *) Vgl. „Möglichkeit und Wirklichkeit", Einleitung 2—5, Kap. 12—15.
Richtigstellung verschobener Modalbegriffe
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widerstreitet allen Phänomenen. Das wahre Verhältnis der beiden Modi in der realen Welt ist vielmehr dieses, daß nicht nur alles, was wirklich ist, zum mindesten auch möglich sein muß, sondern auch alles, was möglich ist, auch wirklich sein muß. Dieser letztere Satz, auf den ersten Blick eine Paradoxie, ist nicht schwer zu erweisen, wenn man auf das konkrete Geschehen hinblickt. Die Realmöglichkeit nämlich besteht in einer geschlossenen Kette von Bedingungen, die alle bis zur letzten erfüllt sein müssen, wenn das Geschehnis A eintritt ; solange noch eine Bedingung fehlt, ist A nicht möglich, sind aber alle beisammen, so kann A nicht mehr ausbleiben, wird also ebendamit zugleich unaufhaltsam „wirklich". Auf diese Weise zerfällt die reale Welt nicht mehr in zweierlei Seiendes. Möglichkeit und Wirklichkeit sind als Realmodi fest aneinander gefesselt. Im Bewußtsein freilich, als Denkmodi, klaffen sie weit auseinander; im Denken eben ist alles „möglich", was in sich widerspruchslos ist, das Denken ist nicht an die Totalität der Bedingungsketten gebunden. Aber damit entfernt es sich von der Realität und erschwert sich selbst das Erfassen der Realverhältnisse. Die Begriffe „Potenz und Aktus" sind deswegen so irreführend auf ontologischem Boden, weil sie außer der verkappten Teleologie, die sie enthalten, auch eine unheilvolle Vermengung von Realmodi und Denkmodi darstellen. Die Denkmöglichkeit mit ihrer disjunktiven Struktur ist in die Dynamis hineingenommen, gleichwohl aber wird diese als Realmodus ausgespielt. Das macht auch den Aktus-Begriff zweideutig. Darum konnte sich so hartnäckig das Moment des Telos, das den Seinsmodi ganz fremd gegenübersteht, in diesen Begriffen verbergen. Mit der Klarstellung der Intermodalverhältnisse des realen Seins fällt diese Täuschung endgültig hin Erst von hier aus wird es durchsichtig, warum die Naturprozesse — d. h. alles, was die Alten unter κίνηση zusammenfaßten — nicht „unvollendete Verwirklichung" (Ενέργεια άτελής) sind, sondern indifferentes Fortlaufen ohne Formziele; desgleichen warum reale Vorgänge im allgemeinen nicht aus einem „Sinn" heraus zu „verstehen" sind. Hinter der Potenzlehre steckt eine unausgesprochene Sinnmetaphysik, übertragen von der Aktionssphäre des Menschen auf die Welt. Sie ist durch nichts gerechtfertigt. Aber sie galt einst für so gewiß, daß die verschobenen Modalbegriffe Potenz und Aktus an ihr eine fast unangreifbare Stütze zu haben schienen. Der ontologische Grundfehler, der in diesen verschobenen und durchaus unechten Modalbegriffen seine Prägung fand, ist fast durch die ganze ältere Metaphysik hindurchgegangen. Auch die Verfälschung des Kausalitätsbegriffs hat- hier eine ihrer Quellen; deutlich spricht das schon aus dem Kategorienpaar „Tun und Leiden" (ποιεΐν—ιτάσχίΐν). Diese setzen ein Aktives und ein Passives, beide als Träger (Substanzen) voraus, welche bestehen bleiben, während die echte Ursache total in die Wirkung hinein aufgeht und verschwindet; Ursache und Wirkung
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10. Kapitel. Die geistmetaphysischen Argumente
sind eben nicht Substanzen, sondern Zustände, Prozeßstadien. Das aber ist von der Potenzenlehre aus nicht faßbar. Ebenso falsch angelegt ist jener Begriff der φύσις, als der „Natur einer Sache", von den Späteren als natura naturane gefaßt. Auch das hat nur Sinn als teleologische Potenz. Und dasselbe gilt von der causa essentialis, causa immanens, causa finalis. Überall hier schwebt als Ursache ein überzeitliches Formprinzip vor, das als „innewohnender Zweck" die Sache auf ihrem Werdegang gestaltet. Der Zweck ist zur wirkenden Ursache gemacht. Überhaupt dürfte in dem Begriff der causa finalis die ganze Reihe der genannten Fehler sich besonders grotesk verbunden haben. Dieser Begriff ist, streng genommen, ein Widerspruch in sich selbst. Es kann etwas entweder causa oder finis sein, aber nicht beides ineins ; ein Vorgang kann vom Anfang oder vom Ende her determiniert sein, im letzteren Falle aber liegen die Ursachen in den „Mitteln" und nicht im Zweck. Das dritte Glied des Nexus ist ein kausaler Prozeß. Die causa finalis ist eine ganz schematische Umkehrung des Kausalnexus, ein ohne alle Dynamik abstrakt vorgestelltes Verhältnis, ohne Rücksicht auf die Eigenart der bewegenden Mächte — als wäre immer das Künftige schon gegenwärtig wirksam und im Vorhandenen vorgegeben. b. Metaphysik der Umkehrung und Irrationalität des Hervorbringens Es muß im Anschluß an diese Dinge noch einmal grundsätzlich auf den Gedanken einer Umkehrung des Kausalnexus eingegangen werden. Seine Darlegung ist in Kap. 2 c gegeben worden. Die charakteristische Form, in der er auftritt und dann geradezu als Argument der Teleologie dient, ist die, daß man im Hintergrunde aller Kausalität ein Finalverhältnis vermutet: die Ursache, so meint man, könne ihre Wirkung nur darum „hervorbringen", weil diese schon in ihr angelegt sei; dann aber müsse sie als Zweck in der Ursache vorbestehen, und alles scheinbar kausale Hervorbringen wäre vielmehr im Grunde finales Verwirklichen. Gegen diese Auffassung spricht klar die Kategorialanalyse des Finalnexus (Kap. 7d), indem sie vielmehr den letzteren als Überformung des Kausalnexus erweist. Das bedeutet, daß Finalität vielmehr die Kausalität voraussetzt, weil ihr dritter Akt eindeutig kausales Gepräge hat. Die Inversion dieses Verhältnisses — es ist ein eindeutiges kategoriales Abhängigkeitsverhältnis — muß unter allen Umständen fehlerhaft ausfallen. Damit ist aber das eigentliche Motiv der Umkehrung nicht aus der Welt geschafft. Es besteht darin, daß im Kausalnexus selbst das „Hervorbringen" der Wirkung unbegriffen und unerklärt dasteht. Wir erklären zwar sehr vieles in der Welt durch die Kausalabhängigkeit, diese selbst, in ihrem Kernpunkt genommen, können wir aber nicht erklären. Sie durch sich selbst begreiflich machen zu wollen, wäre ein vergebliches Bemühen : man würde immer das schon voraussetzen, was man erklären
Metaphysik der Umkehrung usw. / Zur Metaphysik des „Sinnverstehens" 103 wollte. Eben diese Grenze des Begreifens ist es aber, die sich das spekulative Denken nicht gefallen lassen will : man will durchaus das Hervorbringen selbst begreifen. Und man glaubt das zu können, indem man das Hervorgebrachte schon in die „Ursache" hineinnimmt; dadurch macht man die Ursache zur Potenz, zur Anlage, betrachtet sie wie einen Entwicklungskeim, "der da seine „Bestimmung" und seinen Zweck in sich trage. Der logische Fehler, der hier begangen wird, ist der eines „qui nimium probat, nihil probat". Man beweist zuviel, und damit beweist man gar nichts. In der Tat, man will hier zuviel erklären ; man vergißt, daß Kategorien erste Voraussetzungen alles Erklärens sind, daß also immer etwas Unerklärliches in ihnen selbst zurückbleiben muß. Wer dieses Unerklärliche wegerklärt, tut des Guten zuviel. Das aber tut man, wenn man dem Hervorbringen der Wirkung ein FinalVerhältnis unterschiebt. Ist nämlich die Wirkung schon als „Anlage" in der Ursache enthalten, so ist das Bewirken kein Hervorbringen mehr, ja genau genommen auch kein Bewirken mehr, sondern nur noch die „Entwickelung" eines schon Vorbestehenden. So wird denn in der Tat der Kausalnexus unproduktiv gemacht. Und damit wird sein kategorialer Charakter von Grund aus verkannt. Daß außerdem eine solche „Erklärung" tautologisch bleibt, ist neben diesem Hauptfehler nur eine Kleinigkeit: man „erklärt" die Wirkung aus der Vorwegnahme des Bewirkten. Es ist dieselbe stereotype Tautologie, die aller teleologischen Erklärung anhaftet. Die Finalisierung des Kausalnexus widerstreitet also nicht nur der Kategorialanalyse des Finalnexus, sondern erst recht der des Kausalnexus selbst. In Wahrheit steht ja auch hinter ihr bereits deutlich ein geistmetaphysisches Motiv, und es ist kein Zufall, daß sie geschichtlich immer im Gefolge spiritualistischer und vernunftidealistischer Weltbilder auftritt. Unabhängig aber davon ist ihre Argumentationsweise eine erkenntnistheoretisch fehlerhafte: geboten nämlich ist aus Gründen einfacher kritischer Besinnung, das Unerklärbare, wo und wie es uns auch begegnet, unangetastet stehen zu lassen. Deutet man es durch spekulative Kunstgriffe weg, so verfehlt man das Wesen der Sache erst recht und verschüttet auch den Zugang zum Erkennbaren. Es ist eine gefährliche Anmaßung des Rationalismus, an einer Realkategorie „alles" begreifbar machen zu wollen. Es muß immer ein unerkennbarer Rest zurückbleiben. Diesen richtig einzuschätzen und in das Erkennbare einzugliedern, ist die Aufgabe. Darum muß das unerklärbare Moment des „Hervorbringens" in der Kausalität als ein solches respektiert und vor spekulativen Verunglimpfungen bewahrt werden. c. Zur Metaphysik des „Sinnverstehens" Weit deutlicher tritt der geistmetaphysische Hintergrund in der Theorie des „Sinnverstehens" zutage (vgl. Kap. 3d). Man braucht, um das einzusehen, keineswegs die Bedeutung des verstehenden Vorgehens auf seinen eigentümlichen Gebieten, denen der Geisteswissenschaften,
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zu unterschätzen. Das Verhältnis des Verstehens ist hergenommen von der Art, wie der Hörende sich zum gesprochenen Wort, der Philologe sich zum Text verhält; gemeint aber ist, daß es auch in den Geschehnissen der realen Welt etwas gibt, was erst durch Deutung, Auslegung, Interpretation ans Licht kommt — als wäre die Welt ein Text, in dem noch etwas anderes als sie selbst steckte, ein Gedanke, der verstanden oder mißverstanden werden kann. Darum neigt die Theorie dazu, das „Verstehen" einfach als das höhere Erkennen anzusehen — im Gegensatz zum Begreifen und Erklären, sofern dieses nicht nach einem „Sinn" fahndet, sondern sich auf Gesetze und Ursachen beschränkt. Da sich aber nur Sinn, oder was dem verwandt ist, Wert, Zweck, Bedeutung, verstehen läßt, so setzt man damit in der Sache etwas Sinnartiges voraus, auf das hin sie geordnet oder angelegt ist. Dieses Geordnet- und Angelegtsein aber ist offenkundig ein finales. Und streng genommen, müßte man nun auch einen zwecksetzenden (resp. sinngebenden) Verstand voraussetzen; und dann müßte die Welt Verstand enthalten, weil sie einem Verstände verstehbar ist. Das letztere ist freilich schon eine Vergröberung und wird so natürlich nirgends offen behauptet. Das ändert aber nichts an der Mißlichkeit der Konsequenz, die man heraufbeschworen hat. Und hier ist der Punkt, in dem sich die scheinbar vorsichtige Tendenz des Sinnverstehens ganz eng mit dem naiven „Wozu"-Fragen begegnet (Kap. la), worin wahrscheinlich auch die Bereitschaft wurzelt, auf die sie bei ihren Jüngern stößt. Hier wie dort wird stillschweigend eine Ausrichtung aller Dinge auf sinnvolle Ziele vorausgesetzt. Welche Fehler darin stecken, ist damit teilweise schon gesagt. Man muß sie aber ausdrücklich herausheben, um ihrer Herr zu werden. Erstens, daß nicht alles Gegebene in dieser Weise „verstehbar" ist, sondern nur das, was wirklich einen „Sinn" hat, den es mehr oder weniger ausdrückt oder verbirgt, sollte ohne weiteres einleuchtend sein. Darin eben gleicht das Tun oder Verhalten des Menschen dem gesprochenen oder geschriebenen Wort, daß es außer dem, was es ist, noch etwas ausdrückt, verrät oder verbirgt: eine Ausrichtung auf Erstrebtes, Gewünschtes unter Werten, die es sinnvoll machen, oder auch nur eine generelle Einstellung oder Gesinnung. Insofern ist alles Verhalten auch Symbol. Das Gleiche kann in gewissen Grenzen wohl auch noch vom geschichtlichen Geschehen gelten, soweit der Mensch in ihm bestimmend ist. Darüber hinaus wird es fragwürdig, und zwar um so mehr, je weiter ab vom Bereich menschlichen Verhaltens die Sache Hegt. Die Welt in ihrem weiteren Bestände, das Geschehen und die Folge der Ereignisse in ihr, ist auf diese Weise nicht „verstehbar", weil sie nicht Ausdruck von etwas, nicht die Sprache oder das Symbol eines Sinnes ist. Bildlich kann wohl auch der nüchtern Forschende sein Verhältnis zu ihr so fassen : man spricht etwa vom „Buche der Natur", in dem es zu „lesen" gelte (nach dem berühmten Gleichnis Galileis) ; aber wenn darunter mehr als
Zur Metaphysik des „Sinnverstehens" / Der Fehler im Typenargument
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ein Bild verstanden wird, so ist auch diese Rede abwegig, und die Tendenz des Verstehens wird zum künstlichen Hineintragen eines postulierten Sinnes. Einst in der Scholastik barg sich in der Lehre von der analogia entis eine solche Tendenz ; sie war der Ausfluß einer theologisch fundierten Weltidee. Heute, ohne ein solches Fundament, ist sie nur noch das Zeugnis eines kategorialen Fehlers, nämlich der Übertragung eines Prinzips von der höheren Seinsschicht auf die niedere. Was dem kategorialen Gesetz der Wiederkehr widerstreitet, welches besagt, daß nur niedere Kategorien in höheren Schichten, aber nicht höhere in niederen wiederauftauchen können. Daraus folgt zweitens : das Verstehen ist freilich in gewissem Sinne ein „höheres Erkennen", aber doch nur in dem Sinne, daß es die adäquate Form des Erkennens höherer Gegenstände ist. Es hat die Form eines Wiedererkennens dessen, was schon geistiger Gehalt war. Es ist also überall da im Recht, wo das Objekt ein geistiges Etwas ist oder ein solches in sich birgt. Aber es ist keineswegs höheres Erkennen im Sinne einer besseren oder vollkommeneren Erkenntnis. Bei Gegenständen niederer Seinsordnung ist es gerade das unangemessene, also zum mindesten das unvollkommene Erkennen — soweit man sagen kann, daß es hier überhaupt noch etwas erfaßt. Es ist damit grundsätzlich ebenso wie mit dem Erkennen niederer Gegenstände, also etwa dem mathematischen Erkennen von Naturvorgängen : auch dieses ist auf seinem Gebiet das allein zuständige, aber es läßt sich gleichfalls nicht ungestraft auf höhere Gegenstände, etwa auf Vorgänge des seelischen oder geistigen Lebens übertragen. Es würde sie vielmehr verunglimpfen. Drittens schließlich reicht auch bei den Gegenständen der höchsten Ordnung das Sinnverstehen allein nicht aus. Es muß immer noch durch das einfache Begreifen und Erklären ergänzt werden, sonst bleibt es zusammenhanglos. Genauer gesprochen, es setzt auch auf seinem eigenen Gebiet schon das Begreifen schlichter Seinszusammenhänge diesseits alles Sinnverstehens voraus. So haben menschliche Situationen, Schicksale, Charaktere, Handlungen auch ein Geflecht von Ursachen hinter sich, und an diesen ist gemeinhin nichts zu „verstehen", sie können nur begriffen und aus ihnen kann nur erklärt werden. Ohne solches Erklären läßt sich in der Regel auch der Sinn eines menschlichen Verhaltens nur unvollkommen, und oft genug gar nicht, verstehen. Aller wirklich bestehende Sinnzusammenhang ist eben eingefügt in einen harten Realzusammenhang und von ihm getragen. d. Der Fehler im Typenargument Auch die Teleologie des Typendenkens läßt sich in diesem Zusammenhang noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Sinn- und Wertargumente erledigen. Mit der Denktechnik des Verstehens hängt sie insofern zusammen, als auch die Aufteilung menschlicher Eigenart nach Typen es in erster Linie auf die Sinneinheit gewisser Vorzugsrichtifngen der
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10. Kapitel. Die geistmetaphyaischen Argumente
inneren Gesamteinstellung abgesehen hat (vgl.Kap. 6a). Eine Typologie, die nicht an der Oberfläche haften bleiben will, kann nicht rein empirischstatistisch vorgehen; sie muß von Anbeginn Wesenszüge herausheben und nach diesen ihre Einteilung vornehmen. Sie gerät dabei aber ungewollt auf den Abweg, die Sinnformen, die sie erschaut, für Formzwecke zu nehmen, auf die alle Mannigfaltigkeit hin konvergiert. Ob dabei mehr das Schema der Norm, der Potenz oder der Anlage vorschwebt, macht demgegenüber nur einen sekundären Unterschied aus. An sich bildet die Typologie ein Parallelphänomen zur Gesetzesforschung der Naturwissenschaften. Hier wie dort geht es um Erfassung des real Allgemeinen in der gegebenen Mannigfaltigkeit, also um die Gleichartigkeit in den Phänomenen. Nur daß das Allgemeine hier von ganz anderer Act ist und mit ganz anderen Mitteln erfaßt werden muß. Auf das „Verstehen" allein freilich kann man diese Mittel nicht beschränken. Die Teleologie ist hier gewissermaßen gröber. Denn es handelt sich, wie gesagt, um die Konvergenz; diese bedeutet nicht eine exakte Gesetzlichkeit, sie läßt vielmehr weiteste Streuung der Fälle zu. Die Frage aber ist: warum konvergiert denn überhaupt die ungeheure Menschenmannigfaltigkeit auf einige wenige große Grundformen ? Dafür nämlich gibt es auch andere Gründe als die in Zwecksystemen bestehenden Formtypen. Erstens ist von einer gewissen Reife des Menschen ab die Selbstbeschränkung einfach eine Lebensnotwendigkeit. Schon die möglichen Betätigungsfelder sind beschränkt, es gibt ihrer in bestimmter Zeit und gemeinsamer sozialer Sachlage nur eine begrenzte Anzahl. Mit ihnen aber hängen unaufhebbar gewisse Grundformen menschlicher Durchbildung, einschließlich der mit ihnen gegebenen Vereinseitigung, zusammen. Jede Berufsart z. B. schafft sich auf die Dauer ihren Menschentypus, sie seligiert ihn heraus und sie bildet ihn auch ihrerseits aus. In diesen Tätigkeitsfeldern sind nur Menschen einer bestimmten Art möglich, weil andere sich darin nicht halten können. Indem der Mensch in sein Feld hineinwächst, sich ihm anpaßt und das Mitgebrachte auf das Feld hin auswertet, „gerät" er in den bestimmten Typus hinein. Dieser also braucht nicht unbedingt von Anbeginn sein Typus zu sein. Zu berücksichtigen ist zweitens: an einem Typus kann vieles auf Anlage beruhen, aber eine eigentliche Entwickelung des Typus aus der Anlage in einem Menschen gibt es schwerlich. Dazu gehört eine Fülle äußerer Bedingungen. Darum ist auch die Mannigfaltigkeit der Typen viel enger als die der Veranlagung. Anlagen eben sind viel weniger bestimmt, jede läßt noch vielerlei Entwickelung zu, nicht selten auch auf verschiedene Typen hin. Der Typus also ist nicht das Gesetz, nach dem wir „angetreten", er ist eher noch eines, in das wir eingetreten oder durch die Lebensverhältnisse hineingedrängt sind. Dazu kommt drittens, daß die Typen selbst geschichtlich variieren, in erster Linie mit den allgemeinen Lebensbedingungen, dann aber auch mit den vorherrschenden geistigen Strömungen. In den letzteren darf
Der Fehler im Typenargument / Metaphysisches Einheita- und Sinnbedürfhis 1Q7 man am ehesten bestimmende Sinngehalte voraussetzen, aber sie sind nicht identisch mit den Formmomenten der Typen. Und weder sie noch die vorherrschenden Typen selbst sind stabil oder absolut. Beide haben die gleiche geschichtliche Relativität. Man kann viertens die Menschentypen auch nicht ohne weiteres als Sinn- und Zweckformen bezeichnen, obgleich wohl immer etwas von solchen in ihnen steckt. Sie können auch weitgehend als bloße Arten des inneren Ausgleichs, des leibseelischen Gleichgewichts, kurz als Stabilitätsformen gedeutet werden. Und von diesen muß dann wohl auch gelten, was allgemein von Stabilitätsformen gilt: sie müssen sich unter bestimmten Bedingungen, wo und wie diese auch entstehen, auf selektivem Wege immer wieder einstellen, d. h. sie müssen von einer Unzahl instabiler Formen übrigbleiben. Darum müssen sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren, solange die gleichen Voraussetzungen in der umgebenden Welt fortbestehen; und so müssen sie zu einer gewissen bedingten Allgemeinheit gelangen. Dieser Folgezusammenhang würde schon allein fast genügen, das auf den ersten Blick rätselhafte Konvergenzphänomen zu erklären. Daß unter den seligierenden Faktoren auch Sinnmomente sind (Werte, Wertgruppen und das zugehörige Wertbewußtsein derer, die der Typik unterliegen), ändert hieran nur wenig. Und andererseits, solange eine Typologie, und sei es selbst unter Wertgesichtspunkten, nicht weiter geht, als die Registrierung solcher Stabilitätsformen und ihre Erhebung zu abgerundeten Idealtypen es verlangt, ist sie vollkommen im Recht. Sie setzt sich erst ins Unrecht, wo sie nachträglich die Idealtypen zu Normen stempelt und die an sich rein statistische Konvergenz teleologisiert. 11. K a p i t e l
Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente a. Metaphysisches Einheits- und Sinnbedürfnis Subjektiv liegt bei den Sinn- und Wertargumenten ohne Zweifel das stärkste Motiv der allgemeinen Welt-Teleologie. Die Mehrzahl der naiven und metaphysischen Motive hängt an ihnen. Aber so sehr die Gesichtspunkte hier eine nicht nur unkritische, sondern zum Teil geradezu kindlich unreife Haltung des Denkens zeigen, bleibt es doch eine ernste Aufgabe, ihre Fehler bloßzulegen, weil sie nun einmal fast den ganzen Gefühlshintergrund des spekulativ-weltanschaulichen Denkens beherrschen. In dieser ihrer Hintergrundsstellung sind sie keineswegs leicht an der Wurzel zu fassen. Da ist zunächst das Einheitsbedürfnis. Warum drängt unser Denken so sehr dazu, die Welt um ihrer Einheit willen final zu verstehen, — final im Sinne einer Teleologie des Ganzen —, während sie ihm doch keinerlei Anhalt dazu bietet ? Doch wohl darum, weil sie ihm gerade nicht
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11· Kapitel. Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente
als Einheit eines Ganzen durchschaubar ist (Kap. 6b). E s ist im Grunde die Flucht vor dem sich aufdrängenden Unerkennbaren, die Ungeduld, zu etwas Greifbarem zu gelangen, statt des unendlichen Suchens ein Ende und einen Halt zu finden. Daß die Welt eine natürliche Einheit h a t , und daß man diese mit vorschnellen Einheitsbildern nur unkenntlich macht, das zu erkennen ist schon ein spätes Produkt der Kritik. Da man der Verflochtenheit der Kausalketten und der Simultanverbundenheit (Wechselwirkung) nicht in infinitum nachgehen kann, sieht man sich gedrängt, das Ganze der Welt vom Ende aus zu sehen, das aber dann vorweggenommen und als Telos verstanden werden muß. Diese Umkehrung ist nun aber am Ganzen der Welt noch u m vieles illusorischer als am Organismus. Beim Organismus kennen wir wenigstens das „ E n d e " (ζ. B. das der morphogenetischen Prozesse) aus der Erfahrung; a m Ganzen der Welt kennen wir es nicht nur nicht, sondern haben auch a priori keinerlei tragfähige Vorstellung davon. Die Umkehrung ist hier nicht nur ein Irrweg, sondern geradezu Selbsttäuschung. Es ist eine gefahrliche Vorliebe des endlichen Erkennens, überall im Gegebenen gleich Einheiten sehen zu wollen. Insofern kann man sagen, daß die „Einheit" als gefühlsmäßige Auffassungsform eine hybride Kategorie ist. Vielleicht ist es gerade umgekehrt : mit nichts muß man in der Metaphysik vorsichtiger sein als mit der Vorwegnahme von Einheitsbildern. Es ist ja so leicht, solche Bilder zu entwerfen. Aber es kommen so nur künstliche Systeme zustande, und die wirkliche Einheit der Welt, die es ja geben muß, verfehlt man so am leichtesten. Eng verwandt dem Einheitsbedürfnis ist das Sinnbedürfnis. Von diesem Motiv der Teleologie — es ist wohl das lebensmächtigste von allen — ist oben auf zwei verschiedenen Stufen die Rede gewesen (Kap. 1 b und 6c). Der Mensch kann auf einen „Sinn des Lebens" nicht verzichten, es lohnte sich ihm sonst nicht zu leben. Eine Haupttriebfeder der Metaphysik war immer die Ablehnung einer „sinnwidrigen W e l t " ; sie wiederholte deshalb unentwegt den Versuch, in der realen Welt einen sinnvollen Plan nachzuweisen; und wo der Metaphysik das nicht gelingen wollte, da entstand in ihr die Tendenz zu postulatorischen Thesen. Zu den Postulaten solcher Art ist ebensosehr der Gedanke einer „jenseitigen besseren Welt" zu rechnen wie der eines sinngebundenen und sinnverbürgenden „Absoluten" — einerlei ob das letztere dabei die Form der Gottheit, der Vernunft, des Geistes oder sonst eine andere annimmt. Eines ist dabei in jedem Falle klar: die Welt als Ganzes muß, wenn wirklich ein Sinnprinzip sie von unten auf beherrscht, teleologisch angelegt sein. Dabei muß man aber doch zunächst ganz schlicht fragen : gibt es denn wirklich, außer in denWünschen des Menschen, irgendein Anzeichen dafür, daß die Welt über ihr bloßes Dasein und dessen Geformtheit hinaus noch einen Sinn h ä t t e ? Daß in ihr viel Sinnvolles, Wertvolles, ja gerade-
Metaphysisches Einheita- und Sinnbsdürfnis
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zu Wunderbares sich vollzieht, entsteht und vergeht, ist kein Anzeichen; denn es entsteht und vergeht ebensoviel Sinnloses und Wertloses, oder gar Sinnwidriges, ja geradezu Abscheuliches und Entsetzüches. Da gleicht sich also wohl beides aus; oder, wie oft behauptet worden, das Sinnwidrige überwiegt. Gibt es doch so Entsetzliches, daß man wohl meinen kann, keine Herrlichkeit des Sinnvollen könne es aufwiegen. Darum ist das Theodizeeproblem ein so altes exemplum crucis. Jedenfalls ist die „Rechtfertigung" Gottes als Weltschöpfer niemals gelungen. Sodann ist zu sagen, daß in den Überlegungen der Metaphysiker das Sinnlose meist mit dem Sinnwidrigen verwechselt ist. Das ist indessen zweierlei sehr Verschiedenes. Ist die Welt, in der wir leben, bloß „sinnlos", d. h. nicht auf Sinnprinzipien aufgebaut, so kann sie deswegen doch sehr wohl der Sinngebung zugänglich sein, ihr offen stehen; und das ist «twas, was sehr schwer ins Gewicht fällt, wenn etwa der Mensch in der Lage ist, Wertprinzipien in ihr geltend zu machen. Eine solche Welt wäre keineswegs abzulehnen. Sie könnte dem Sinnbedürfnis des Menschen noch sehr wohl entsprechen. Nur eine von sich aus „sinnwidrige" Welt wäre abzulehnen. Aber gerade eine solche wäre ebenso teleologisch angelegt wie eine von sich aus sinnvolle Welt: die Vorstellung dabei ist die «iner satanischen Weltordnung, die das Wertwidrige um seiner selbst willen verfolgt und sich deswegen aller Sinngebung widersetzen müßte. Man könnte eine solche Weltordnung auch als die Vorsehung eines „deus malignus" bezeichnen. Nur eine solche wäre empörend. In den Gedankengängen des Theodizeeproblems hat man sie manchmal unbedachterweise vorausgesetzt: von der allmächtigen Gottheit mußte ja doch alles, auch das Schlimmste in der Welt, vorgesehen und gewollt worden sein. Darum konnte die Rechnung niemals aufgehen. Mit einer bloß „sinnlosen" Welt hätte man ohne Zweifel leichteres Spiel gehabt. Man ist also meist — wahrscheinlich immer — von der falschen Alternative ausgegangen, die Welt müsse entweder sinnvoll oder sinnwidrig sein. Das ist eine unvollständige Disjunktion. Der dritte mögliche Fall eben ist die bloß „sinnlose", aber nicht sinnwidrige Welt. Das ist die Welt, die nur als Ganzes nicht auf Sinn angelegt ist, in der es aber j e nach den Umständen (d. h. nach der blinden Notwendigkeit des „Zufälligen") Sinnvolles und Sinnwidriges bunt durcheinander gibt. Das Letztere aber ist es gçrade, was wir in der gegebenen Welt auf Schritt und Tritt empirisch kennen. Dieses bunte Durcheinander von Sinnvollem und Sinnwidrigem braucht durchaus nicht teleologisch gedeutet zu werden; es ist ja in ihm keinerlei vorgezeichnete Richtung, und nur die gegen Ziele gleichgültige Notwendigkeit der Kausalverflechtung entscheidet über den Ausfall. Mit dem bloß Notwendigen läßt sich nicht rechten. Erst der Mensch mit seiner Umdeutung hat sich die sinnoffene Welt in eine sinnverschlossene verwandelt. Damit erst versagt er ihr die Sinngebung, die er ihr leisten könnte, und macht sie so zu einer wirklich sinnwidrigen Welt.
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11. Kapitel. Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente b. Das große Vorurteil der Sinnmetaphysik
An dieser Stelle aber setzt nun erst die tiefere Problematik der Sinnmetaphysik ein. Denn hier meldet sich eine sehr naheliegende und verbreitete Auffassung, die der allgemeinen Weltteleologie wieder alle Trümpfe in die Hand zu spielen scheint (vgl. Kap. 6c). Man meint, Sinngebung durch den Menschen wäre ohnmächtig, weil in einer von sich aus sinnlosen Welt das Sinnwidrige stärker sein müsse als sie. Dem kommt das kritische Wissen um die vielseitige Bedingtheit und Abhängigkeit des Menschenwesens entgegen: wie er selbst das gebrechlichste und verletzlichste Wesen ist, so ist auch sein Machtbereich ein begrenzter und durch unübersehbar mannigfaltige Störung von Seiten primitiver und geistloser Mächte (Mächte niederer Seinsordnung) bedroht. Vom"Menschen ist daher eine Sinngebung des Lebens nicht zu erwarten; er kann nicht einmal dem eigenen persönlichen Leben, geschweige denn dem gemeinsamen geschichtlichen Leben die Garantie einer sinnvollen Ordnung oder Allsrichtung geben. Man kann diese Auffassung in folgender Weise als Grundsatz aussprechen: Sinngebung kann nur vom Ganzen ausgehen, weil sie ihrem Wesen nach das Ganze betrifft. Ist die Welt im Ganzen sinnlos, so kann sie auch im einzelnen nicht sinnvoll sein. Oder auch so : in einem sinnlosen Ganzen kann auch ein Teil nicht sinnvoll sein. Sinn- und Wertgehalt kann nicht nachträglich (epigenetisch) in die Welt kommen. E s gibt keine Epigenesis des Sinnes. Auch dieses Axiom — denn ein solches ist es — findet sich in ganzer Schroffheit wohl nirgends ausgesprochen. Um so mehr liegt es stillschweigend den großen Schlußfolgerungen zugrunde, welche die Metaphysik aus der Absolutheit des Sinnpostulats gezogen hat. Hier aber, und nicht bei dem Postulat selbst, liegt der zentrale Fehler ihres Vorgehens, das. große Vorurteil der Sinnmetaphysik. Um das einzusehen, gilt es zunächst, die vier folgenden Punkte ins Auge zu fassen. 1. Es liegt gar kein Grund vor, warum Sinngebung nicht von einem Teil der Welt ausgehen, also epigenetisch in ihr entstehen und für einen gewissen Ausschnitt der Welt, etwa die Menschenwelt, gelten könnte. Sinngebung als solche hängt nicht an der Reichweite ihrer Macht in der Welt, sondern nur an zwei Bedingungen: erstens daß eine sinngebende, d. h. geistige Instanz vorhanden sei, und zweitens, daß der Umkreis der Welt, in dem sie ontisch steht, ihr nicht aktiv (sinnwidrig-zwecktätig)widerstehe. Diese beiden Bedingungen sind im Bereich der Menschenwelt erfüllt. Der Mensch hat die Macht der Sinngebung, und der reale Ausschnitt, der Welt, der allein ihn praktisch angeht, ist als ein bloß sinnloser zugleich ein sinnoffener. Die Welt, in der er sich findet, steht von sich aus. sinnindifferent da. Der Mensch hat die Fähigkeit, Zwecke zu setzen und in den Grenzen seines Wissens und Könnens zu realisieren; er hat ferner das dazugehörige Maß an Vorsehung, sowie die Freiheit, sich für
Das große Vorurteil der Sinnmetaphysik
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das zu entscheiden, was ihm als wertvoll einleuchtet. Und er hat ebenso die Fähigkeit des Wertbewußtseins, allererst im Gegensatz zum Gegebenen zu erschauen, was sinngebend für ihn und seine ganze Lebenssphäre ist. Daß er mit dieser Fähigkeit nicht infalübel ist, daß er auch da Irrtümern unterliegt, ja daß erst die anwachsende Lebenserfahrung ihm fortschreitend das Wertgefühl erweitert und vertieft, ändert hieran grundsätzlich nichts. In der ihn umgebenden Welt aber kann ihm wohl fremde menschliche Initiative entgegenarbeiten, nicht jedoch die Welt selbst. Und menschliche Initiative ist stets nur eine Macht von gleicher Größenordnung mit der seinigen. Mit ihr also kann er es grundsätzlich sehr wohl aufnehmen. 2. Das entspricht vollkommen aller menschlichen Erfahrung. Überall wo der Mensch es nur mit Naturmächten zu tun hat, findet er diese gleichgültig, richtungslos, lenkbar, muß sich aber, um sie wirklich lenken zu können, ihnen anpassen. Diese Anpassung bedeutet nur, daß er die Gesetze der Natur nicht umschaffen kann, daß er also vielmehr sie erkennen und durch Erkenntnis ausnutzen lernen muß; wobei das Ausnutzen identisch damit ist, daß er unter ihnen die geeigneten Mittel für seine Zwecke aufzufinden weiß. Die sinnvolle Zweckrichtung aber gibt er — dank seiner Fähigkeit, im Vorgriff über die Zeit hinweg Ziele zu bestimmen und Mittel zu seligieren (1. und 2. Akt des Finalnexus). Hier wurzelt die Eigenart der Überlegenheit des geistigen Wesens über das geistlose Sein. Diese Überlegenheit gibt der Mensch preis, wenn er der Welt, in der er steht, selbständige Sinnordnung und Teleologie im Ganzen zuschreibt. Hätten die Naturmächte ihrerseits schon eigene Sinnrichtung und Hinordnung auf vorgezeichnete Ziele, die nicht er ihnen gesteckt hat, er würde sie mit aller Überlegenheit des Geistes nicht von ihnen ablenken können. 3. „Sinn" kann es nicht an sich, sondern nur „für jemand" geben. Sinn ist nicht gleich Wert; vielmehr auch das Wertvolle kann einen Sinn nur „für jemand" haben, „für" den es dann eben sinnvoll ist. Und dasselbe gilt vom Sinnwidrigen. Auch dieses kann nur „für jemand" sinnwidrig sein; denn seine Voraussetzung ist, daß es einem schon fixierten Sinn widerstreitet, der seinerseits nur für jemand bestehen kann. Die Welt also kann keinen Sinn haben vor dem Auftreten des geistigsinnempfänglichen und sinnverstehenden Wesens in ihr. Ein solches aber keimen wir außer dem Menschen nicht. Dasselbe gilt natürlich auch negativ: auch „sinnwidrig" könnte die Welt erst „für" den Menschen sein, nicht ohne ihn und nicht vor seinem Auftreten in ihr. Wohl aber kann sie ohne ihn von Anbeginn „sinnlos", d. h. sinnindifferent, sein. Ja, streng genommen, muß sie notwendig ohne ihn sinnlos sein. 4. Die Hauptsache in alledem ist aber dieses : in einer schon von sich aus sinnerfüllten Welt wäre ein der Sinngebung mächtiges Wesen schlechthin überflüssig. Es hätte keine Aufgabe, die seinen Gaben gemäß wäre, könnte sich auch keine stellen, könnte nichts von sich aus in die Welt hineintragen, was sie nicht schon hätte. Der Sinn seines Wesens
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11. Kapitel. Die eigentlichen Sinn- lind Wertargumente
wäre in einer solchen Welt verloren, der Mensch wäre in ihr fehl am Platze. Der Sinn seines Wesens erfüllt sich gerade nur in einer an sich „sinnlosen" Welt — wohlverstanden, in einer sinnindifferenten, nicht in einer sinnwidrigen. Und so ist denn die sinnlose Welt für ihn gerade die allein sinnvolle Welt. Das mag paradox klingen. Es ist auch ein merkwürdiges, ja wahrhaft irritierendes Verhältnis, zum mindesten ein solches von dialektischer Struktur. Nur darf man das Dialektische an ihm nicht als bloße Bewegung des Gedankens, geschweige denn als Begriffsspielerei verstehen. Es ist vielmehr ein echt realdialektisches Verhältnis, dem gerade bei nüchternem Durchdenken der Sachlage nichts abzuhandeln ist. Die Realitätsverwurzelung in ihm liegt einfach in den besonderen und auszeichnenden Fähigkeiten eines der Sinngebung mächtigen Wesens. Es sind die bereits aufgezählten Fähigkeiten des Wertbewußtseins, der Freiheit, der Vorsehung und der Zwecktätigkeit. Diese Fähigkeiten vereinigt gerade der Mensch. Sie sind so tief charakteristisch für ihn, daß man die Bestimmung seines Wesens geradezu auf ihnen aufbauen müßte. Bleiben diese hohen Fähigkeiten ohne ein Schaffensfeld, so ist der Mensch in der Tat in dieser Welt seines Sinnes beraubt. Nun aber ist die gegebene realeWelt keine solche, in der er keine Aufgabe mehr fände. I n seiner Sinngebung an die von sich aus sinnlose Welt hat der Mensch seine ihm eigentümliche Sinnerfüllung. Eine schon sinngeordnete Welt würde ihn um diese betrügen. Das metaphysische Bedürfnis, das eine solche Welt zum Postulat macht, ist eine ungeheure Selbsttäuschung und Selbstverkennung des Menschen. Es ist gerade umgekehrt, als wie der unkritisch Denkende in seiner Kurzsichtigkeit es meint : er ersehnt, was ihn im Kern seines Wesens vernichten würde, während die von ihm verkannte und abgelehnte wirkliche Welt eben •diejenige ist, in der dieser sein Wesenskern sinngemäß zu seinem Recht kommt. I n zugespitzt dialektischer Form kann man das Gesagte kurz so zusammenfassen : gerade dadurch, daß in der Welt nicht über den Kopf des Menschen hinweg für Sinngebung gesorgt ist, ist in Wahrheit in ihr der Spielraum für seine Sinnerfüllung gegeben. c. Zum Verhältnis von Wertgehalt und Zwecktätigkeit Alle Sinngebung ist wertbezogen. Man könnte danach erwarten, daß sich das Sinnargument einfach auf die Werte übertragen ließe ; was zur Folge hätte, daß auch dieselben Einwände sich gegen den Wertrealismus erheben ließen. Das ist aber nur teilweise der Fall, weil von den aufgezählten vier Punkten der dritte sich nicht auf die Werte übertragen läßt : Werte kann es sehr wohl auch an sich geben, und Wertvolles kann in der Welt real bestehen, ohne auf ein Subjekt bezogen zu sein, während Sinn nur „für" jemand bestehen kann.
Zum Verhältnis von Wertgehalt und Zwecktätigkeit
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Und hier setzt nun ein anderes Argument der Teleologie ein, das einer ganz anderen weltanschaulichen Einstellung, einer weltbejahenden und optimistischen, entspringt. Die reale Welt, in der wir leben — so sagt man jetzt — ist auch ohne unser Zutun werterfüllt. Und man meint damit : sie enthält zwar Wertvolles und Wertwidriges bunt durcheinandergewürfelt, aber sie ist nicht wertentblößt, sie braucht nicht erst auf den Menschen zu warten, damit Wertvolles in ihr entstehe, sie enthält auch von sich aus schon unzähliges Wertvolle. Und Sache des Menschen bleibt es nur, dièses zu sehen und zu würdigen. Dann aber erhebt sich die Frage: wie kann es dieses Wertvolle in ihr geben, wenn die Prozesse, in denen es entsteht, nicht final determiniert, d. h. auf Werte ausgerichtet sind? Die Stärke dieses Arguments darf nicht unterschätzt werden. Denn es ist nicht, wie die soeben besprochenen, ein postulatorisches. Es fußt vielmehr auf solider Tatsächlichkeit. Man kann den Wertgehalt der gegebenen Welt zwar gering einschätzen, aber man kann ihn nicht einfach bestreiten. Das Mehr oder Weniger macht jedoch hier keinen Unterschied aus. Indessen Hegt hier eine stillschweigend hingenommene Voraussetzung zugrunde. Sie lautet, schlicht ausgesprochen, dahin, daß Werte nur zwecktätig (final) realisiert werden können. Das würde bedeuten, daß Wertvolles nur dort entstehen könnte, wo die Werte zu Zwecken gemacht und für ihre Realisation Mittel seligiert werden. Diese Voraussetzung ist durch nichts gerechtfertigt. Sogar die sittlichen Werte realisieren sich am Menschen nicht dadurch, daß sie selbst zu Zwecken seines Tuns gemacht werden, sondern gemeinhin dadurch daß andere Werte (Sachverhaltswerte) erstrebt werden. In der sittlichen Handlung ist eben der intendierte Wert mit dem Wert der Intention selbst nicht identisch*). Unterhalb der sittlichen Werte aber, in dem weiten Bereich der Güter-, Sachverhalts- und Vitalwerte, gilt eine noch viel weiter reichende Unabhängigkeit vom Erstrebtsein. In der realen Welt wird durch das laufende Geschehen immerzu wahllos Wertwidriges und Wertvolles realisiert, ohne Zwecktätigkeit, nach bloßer blinder Notwendigkeit, also durch Kontingenz (d. h. wie es sich gerade trifft). Das Weltgeschehen unterhalb des menschlichen Tuns ist eben bloß wertindifferent, nicht wertwidrig ; es ist weder wertgeleitet noch unwertgeleitet. Da aber alles Entstandene, einerlei wie es entsteht, doch auch unter WertUnwert-Abstufungen fällt, so kann es nicht anders sein, als daß unter dem Entstandenen stets auch Wertvolles und Wertwidriges nebeneinandersteht. Das „Fallen" unter die Wertdimensionen ist ja nichts anderes als die Kehrseite von deren Bezogensein auf alles Seiende. Es ist hierfür entscheidend, daß man sich vom Wesen der Werte keine falsche Vorstellung, vor allem also keine teleologische, mache. Es ist ein Irrtum, Werte für die determinierenden Realgründe des Wertvollen *) Vgl. hierzu „Ethik", Kap. 27 a—d.
8 Hartmann, Teleologie
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11. Kapitel. Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente
in der realen Welt zu halten. Sie bestimmen eben nur den Wertgrad dessen, was ist, nicht sein Zustandekommen. Letzteres kann höchstens durch Vermittelung des menschlichen Willens geschehen; aber für die große Masse des Wertvollen in der Welt kommt das nicht in Frage. Werte sind wohl die entscheidende Instanz, ,,unter" der allein etwas wertvoll sein kann; aber sie sind keineswegs notwendig die Macht, die das Entstehen des Wertvollen bestimmt. Hier haben wir ein strenges Parallelphänomen zu dem einst von Kant in der Kritik der Urteilskraft aufgedeckten Verhältnis: wie es „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" allenthalben in der Welt gibt, so gibt es auch ein Wertvollsein ohne Determination der Werdeprozesse durch den Wert. Und es ist nicht schwer zu sehen, daß im letzten Grunde beide Phänomene ein und dasselbe Verhältnis betreffen. Wohl aber gehört die sinngebende Macht des geistig-personalen Menschenwesens dazu, um das zwecklos entstandene Wertvolle in der Welt auch auszuwerten. Insofern bleibt auch die Wertfülle der Welt ohne den Menschen ohne Sinnerfüllung. Erst im Wertbewußtsein des Menschen und in der adäquaten Wertantwort, wie nur er sie aufbringen kann, hegt die Sinnerfüllung dieser Wertfülle. Auch in dieser Hinsicht, und keineswegs bloß in seiner zwecktätigen Aktivität, erweist der Mensch sich als das sinngebende Wesen in der Welt. Ohne ihn wäre auch die größte Wertfülle gleichsam „vergeblich" da. d. Zum Argument des ethischen Wertrealismus Diese Gedankengänge gehören bereits in das weitere Problem des Wertrealismus ; und sie könnten vielleicht genügen, seine Theorie zu widerlegen. Aber es gibt noch einen engeren, ethischen Wertrealismus, der auch im Wollen und Handeln des Menschen eine direkt von den Werten, und zwar speziell von den sittlichen, ausgehende Determination annimmt (vgl. Kap. 6e). Das ist zwar ursprünglich nur eine untergeordnete Form derselben Grundannahme, gestützt auf die traditionelle Gleichsetzung von Wert,Wesenheit und bewegendem Prinzip, und stabilisiert durch eine geschichtliche Kontinuität, die von Piaton bis Hegel reicht ; aber im ethischen Felde nimmt sie nicht nur eine besondere Form an, sondern beschwört auch eine Aporie von noch ganz anderer Tragweite herauf. Wenn nämlich allgemein, und folglich auch auf sittlichem Gebiet, die Werte determinierende Macht im Weltgeschehen hätten, so bliebe dem Menschen als sittlichem Wesen kein Spielraum in der Welt. Er wäre als Verwirklicher auch der sittlichen Werte überflüssig. Genauer gesprochen, die sittlichen Werte müßten dann sein Tun wie Naturgesetze determinieren. Dann aber wäre sein Tun zwar wertvoll, ja es müßte sogar durchgehend wertvoll — ohne die Möglichkeit des Verstoßes und des „Bösen" — sein, aber es wäre nicht „sittlich" wertvoll. Denn es bliebe dem Menschen keine Freiheit der Entscheidung mehr, für oder
Zum Argument des ethischen Wertrealismus
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•wider das Seinsollende zu handeln. „Sittlich gut" aber ist nur ein Tun, das auch die Möglichkeit hatte, sich anders zu entscheiden. Das Gesetz, das hier zugrunde liegt, kann man das Kantische nennen. Es besagt, daß überhaupt nur ein freier Wille sittlich gut oder böse sein kann. Und von Kant stammt die Formel, daß der sittliche Wille nicht unter dem Sittengesetz wie „unter einem Naturgesetz" stehen dürfe, sondern nur wie unter einem Sollen, das zwar unbedingt und unnachsichtig Geltung hat, aber ihn nicht zwingt. Was vom einheitlich verstandenen Sittengesetz gilt, das muß sinngemäß auch von seiner Auflösung in eine Mannigfaltigkeit sittlicher Werte gelten. Auch sie determinieren den Willen nicht direkt. Sie haben so wenig wie ein Sollensgesetz die reale Macht dazu. Und das ist nicht nur für sie wesentlich, sondern auch für die Stellung des Menschen in der Welt. Gerade dieses nämlich, daß sittliche Werte von sich aus nicht die Macht haben, sich in der realen Welt durchzusetzen, daß sie also keine Realmächte sind, sondern bloß den Modus des Seinsollens haben, dem das Reale entsprechen oder nicht entsprechen kann, gibt dem Menschen seine Sonderstellung in der Welt. Werte überhaupt sind, soweit sie sich nicht „zufallig" realisieren, auf ihn als Mittler angewiesen. Nämlich angewiesen sind sie auf ein wertwahrnehmendes, vorsehendes und zwecktätiges Wesen, das außerdem noch die Freiheit hat, sich für oder wider sie zu entscheiden. Von den sittlichen Werten aber, da für sie die „zufällige" Realisierung nicht in Betracht kommt, gilt der Satz, daß sie überhaupt nur durch die Vermittelung des menschlichen freien Willens sich realisieren können. So entspricht es dem oben angeführten Kantischen Gesetz. Daraus ergibt sich der Grundsatz, der dem ethischen Wertreaüsmus den Boden entzieht : gerade die Ohnmacht der Werte in der realen Welt ist die Grundbedingung der eigenartigen Machtstellung des Menschen in der Welt. In einer von den Werten bereits durchgehend teleologisch beherrschten Welt hätte der Mensch keine Sonderstellung und keine Überlegenheit. Denn er hätte in ihr keine Aufgabe, wäre nicht zum Gestalter und Mitschöpfer der Welt berufen. Er wäre in ihr nur ein passives „Mittel" der über ihn hinweg und durch ihn hindurch sich auswirkenden Determination der Welt durch die Werte. Er wäre also in ihr garnicht „Mensch", nicht wenigstens in dem eigentlichen und vollen Sinne des Wortes, nicht sittlich verantwortliches Wesen. Die reale Determinationskraft der Werte wäre die Vernichtung des Menschen. Sofern nun Werte die sinnbestimmende Instanz in aller Sinngebung sind, läßt sich dieses Verhältnis als Sinnargument auch umgekehrt aussprechen: gerade ein in der realen Welt von sich aus ohnmächtiges Wertreich ist das für den Menschen allein sinnvolle. Das steht in strenger Parallele zu dem anderen Satz, daß gerade eine an sich wertindifferente Welt die für ihn allein sinnvolle Welt ist. So hängt die Dialektik des Wertes mit der des Sinnes unlösbar zusammen. 8*
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11. Kapitel. Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente e. Aufhebung der metaphysischen Wertalternative
Allen solchen Überlegungen zum Trotz, obgleich sie seit Fichte nicht mehr als neu gelten können, hält sich aufs Zäheste in der ethischenTheorie die Überzeugung, daß Werte auch eine direkt determinierende K r a f t haben müßten. Man meint das etwa so: etwas auch nur Objektives, nicht vom Menschen Dekretiertes, könnten Werte nur sein, wenn sie kosmische Zwecke sind und den realen Weltlauf bestimmen. Sind sie das nicht, so müßten sie bloße Setzungen, wenn nicht gar Satzungen des Menschen sein; und dann müßte der Mensch in der Lage sein, Werte zu kreieren, welche er will. Die zweite Möglichkeit ist die des heutigen Wertrelativismus, der da behauptet, jedes Zeitalter „schaffe" sich „seine" Werte. Das ist also eine klare Alternative: entweder bewegende Weltmächte oder willkürliche Zielsetzung des Menschen, Realteleologie der Werte oder historischer Wertrelativismus. Daß in dieser Alternative etwas nicht stimmt, ist leicht zu sehen. Aber worin der Fehler liegt, ist nicht auf den ersten Blick durchsichtig, auch nicht, wenn man das oben entwickelte Verhältnis von Mensch und Wert in Betracht zieht. Dazu bedarf es noch einer anderen Erwägung. 1. Die Alternative ist weder totale Disjunktion ( so daß sich aus ihr etwas Positives schließen ließe), noch sind ihre Glieder in sich stichhaltig. I m zweiten Gliede ist das Bestehen der Werte gleichgesetzt ihrer „Geltung" in bestimmter Zeit, im ersten ist es einer bewegenden Realkraft gleichgesetzt. Beides ist vollkommen willkürlich. Denn natürlich können bestehende Werte in einem bestimmten Menschenmilieu auch unerkannt sein, d. h. nicht in Geltung sein; man übersieht dabei aber völlig, daß ja das Wertvollsein einer Handlungsweise sich dadurch nicht ändert oder verringert, daß weit und breit niemand sie als wertvoll empfindet und anerkennt, daß also sie nicht als das gilt, was sie ist. Und natürlich können Werte ebenso auch bestehen, ohne irgendetwas in der Welt zu bewegen oder zu bestimmen, d. h. sie können als bloße Forderungen bestehen. Die Forderung selbst kann deswegen sehr wohl eine unbedingte und „ideale" sein. 2. Daß die Alternative selbst keine totale Disjunktion ist, ergibt sich schon daraus, daß es einen dritten Fall gibt, der in ihr übersehen ist. Werte können nämlich sehr wohl ein vom Menschen unabhängiges Bestehen haben, ohne daß sie deswegen gleich teleologisch determinierende Realkraft zu haben brauchten. Werte sind überhaupt nicht K r ä f t e oder Energien, ja sie sind nicht einmal Seinsgesetze. Aber sie sind auch nicht bloße Gedanken oder Phantasien des Menschen. Der dritte Fall also ist gerade der allein zutreffende. E r aber war der in der Alternative nicht vorgesehene Fall. Also ist die Alternative falsch. So allein entspricht es auch dem Sinn des Sollens, der den ethischen Werten anhaftet und als solcher an ihnen vom Wertbewußtsein empfunden wird. Dieses Sollen macht sich als Mahnung, als Forderung, als Aufruf geltend. Die Forderung ist eine strikte und unbedingte, aber
Aufhebung der metaphysischen Wertalt. / Verbindlichkeit sittlicher Nonnen 117
sie ist auch nicht mehr als bloße Forderung, nicht Nötigung, nicht Zwang. 3. Werte sind von sich aus etwas ganz Ateleologisches. Der Mensch wählt zwar unter dem Gesichtspunkt von Werten seine Zwecke und setzt sie dann, um sie zu verwirklichen. Er eben ist das der Zwecktätigkeit mächtige Wesen. Ohne sein Zutun aber bleiben die Werte rein ideale Forderungen, unabhängig davon, ob sie sich in irgendwelchen Vorgängen der Welt realisieren oder nicht. Ihre direkte Beziehung zum Realen ist überhaupt nur diese, daß sich „unter" ihnen alles, was es gibt, in Wertvolles und Wertwidriges scheidet. Aber diese Scheidung ist nur eine axiologische ; sie gibt dem, was real ist und real geschieht, nur das Vorzeichen, das Plus oder Minus im Sinne des Wertes selbst. Sie ist aber keineswegs eine solche des Realitätsgehaltes und folglich auch keineswegs eine solche der bestehenden Tendenzen in den Realvorgängen. 4. So allein entspricht es dem Ethos des Menschen. Ist er Herr über die Werte, kann er sie machen oder vernichten, so ist alles Ethos „unter Werten" leerer Schein. Sind aber die Werte Herr über ihn, können sie ihn ohne sein Zutun bestimmen, so ist er ihr Knecht, ohne eigene Entscheidungsfreiheit, und für sein Ethos ist in der von ihnen beherrschten Welt kein Raum. f. Die Verbindlichkeit sittlicher Normen Nicht erledigt ist hiermit die große Frage, was denn eigentlich den sittlichen Werten an bestimmender Kraft bleibt, wenn sie doch nicht direkt real determinierende Mächte sind. Denn ohne Zweifel bleibt ihnen eine ganz bestimmte Kraft dieser Art, wir nennen sie die Verbindlichkeit der moralischen Forderung, die von ihnen ausgeht. Diese Frage ist eine Grundfrage aller Ethik und kann im Rahmen des Teleologieproblems allein nicht behandelt werden. Sie spielt hier nur insoweit hinein, als die Mehrzahl der metaphysischen Werttheorien nicht frei ist von der Auffassung, daß Werte, und zwar auch sittliche Werte, ihre Verbindlichkeit aus einem hinter ihnen stehenden Zweckverhältnis haben (was also dem obigen Punkt 3 zuwiderläuft). Man meint eben, ihre Verbindlichkeit könne nur bestehen, wenn sie entweder doch im Grunde die bewegenden Zwecke des Weltgeschehens sind, oder wenn es eine höhere Macht gibt, die darüber wacht, daß ihre Forderung erfüllt werde. Das letztere in populärer Form würde etwa lauten: „Wenn Gott nicht ist, so ist alles erlaubt". Ohne nun hierbei auf die metaphysische Grundfrage nach dem Wesen der Werte selbst einzugehen, kann man doch die folgenden Punkte herausheben, die nur die Verbindlichkeit als solche betreffen. 1. Sittliche Normen üben ihre Kraft als Forderung (Mahnung, Weckruf, Stimme des Gewissens) im Leben nicht durch eine Autorität aus, die hinter ihnen stünde, auch nicht durch einen Zwang, den wir als solchen empfinden, sondern lediglich dadurch, daß sie uns einleuchten, überzeugen und vom Wertgefühl anerkannt werden; man kann auch
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11. Kapitel. Die eigentlichen Sinn- und Wertargumente
eagen, dadurch, daß etwas in uns selbst, wenn wir sie verstanden haben, für sie spricht. Dafür aber ist es ganz gleichgültig, ob sie sich ohne unser Zutun in der Welt durchsetzen oder nicht, ob eine Gottheit sie anbefiehlt und über ihrer Erfüllung mit Lohn und Strafe wacht oder nicht. Ohne Einleuchten wird auch das von der Allmacht Befohlene nicht als gerecht und gut, d. h. nicht als sittlich gefordert empfunden. Dieses Verhältnis drückt nicht ein Axiom oder ein Postulat aus, sondern ein aufweisbares und in keiner Weise bestreitbares Phänomen. Es macht den Wahrheitsgehalt der Kantischen These von der Autonomie des Sittengesetzes aus. Die Ablehnung aller „Heteronomie", für die Kant einen umständlichen Umweg einschlug, hat hier ihren einfachen Grund. 2. Andererseits ist es auch nicht so, daß die sittlichen Werte nichts und niemand in der Welt direkt determinieren. Wäre dem so, so könnten wir auch nicht um sie wissen, denn sie würden dann auch unser Wertfühlen nicht bestimmen, sich uns also auch nicht in ihm ankündigen. In diesem Punkte aber haben sie bestimmende Kraft, und in diesem Punkte haben wir keine Freiheit ihnen gegenüber : wir können uns wohl mit dem Wissen und mit der Tat gegen sie entscheiden, aber nicht mit dem sittlichen Empfinden, dem Gewissen, kurz mit dem Wertgefühl. Darum erhebt das Gewissen seine Stimme auch gegen das eigene Tun. Es ist freilich nicht so, daß stets alle sittlichen Werte das Wertgefühl bestimmen; dazu gehört vielmehr die sittliche Reife, das Geöffnetsein desWertgefühls. Der Mensch kann auch verblendet sein, wertblind oder unreif für das Verständnis eines Wertes. Aber wenn er die Reife hat, wenn ihm der Blick für einen Wert aufgegangen ist, so kann er es nicht mehr hindern, daß dieser Wert sein Empfinden nun auch bestimmt. Er kann sich ihm nicht entziehen. Dafür ist die Sprache des Gewissens, soweit es eben erwacht ist, das beredte Zeugnis. Es fehlt also vom ethischen Phänomen aus gesehen, nicht an Beweiskraft für das Verbindlichsein sittlicher Werte, einerlei welche Seinsweise diese im übrigen haben mögen. Und diese Verbindlichkeit ist in der Tat auch eine echte Determination. Aber nur das Wertfühlen, nicht der Wille, ist dieser Determination direkt unterworfen. Der Wille eben ist „frei", auch den Werten gegenüber, das Wertgefühl ist unfrei. Und axiologisch autonom sind nur die Werte, nicht der Mensch mit seinem sittlichen Wertempfinden. 3. Da man eine allgemeine Teleologie sittlicher Normen in der Welt nicht nachweisen kann, so hat die Theorie daraus eine Art Postulat gemacht. Dieses Postulat ist heller Wahnsinn: der Mensch vernichtet dadurch sich selbst, er verleugnet das Höchste in seinem Wesen, das, was ihn recht eigentlich heraushebt aus der Reihe der Lebewesen. Man meint, nur wenn die Normen Weltzwecke sind, kann unser Handeln verbindlich durch sie bestimmt werden. Man vergißt darüber, daß es dann kein „sittliches" Handeln mehr wäre, daß dann über uns hinweg bestimmt wäre, was wir tun und lassen müßten. Man macht sich auch
Die Verbindlichkeit sittlicher Normen / Negative und positive Freiheit 119 nicht klar, daß es dann gar keine Normen und an uns gestellte Forderungen mehr wären, sondern einfache Seinsgesetze des Wollens. Dieser Punkt ist nur die Version eines schon früher dargelegten Gegenarguments und insofern hier nichts Neues mehr. Aber man mache sich klar, daß dieselbe Konsequenz auch für den Fall gilt, daß die Gottheit hinter den Werten steht und mit Lohn und Strafe über der Erfüllung ihrer Forderungen wacht. Da hört dann auch die Echtheit und Ehrlichkeit alles sittlichen Strebens auf, und an die Stelle des Sinnes für das Rechte tritt die eudämonologisch-egoistische Sorge um das eigene Seelenheil. Man darf hier wohl in allem Ernst von theologischer Korruption des sittlichen Bewußtseins sprechen. Das Charakteristische aber ist, daß dabei eine teleologische Vorstellungsweise das eigentlich korrumpierende Moment ist. 4. Die echte sittliche Forderung muß überdies noch aus einem anderen Grunde unabhängig von aller sie realisierenden Kraft bestehen. Es darf ihr nämlich keinen Eintrag tun, wenn sie im wirklichen Handeln des Menschen unerfüllt bleibt. Es ändert auch offenbar am Wesen des Sollens nichts, ob es von einem realen Willen befolgt wird oder nicht, ob also das Reale, dem es gilt, ihm entspricht oder nicht. Das ist die Kehrseite jener Ohnmacht der Werte, sich in der Welt durchzusetzen, die zunächst nur wie eine Schwäche der Werte aussah. Es zeigt sich jetzt, daß eben darin auch eine Stärke liegt, eine wahrhaft großartige Überlegenheit und Erhabenheit der Werte : der Widerstreit des Realen gegen ihre Forderung ist seinerseits ohnmächtig gegen sie, er kann ihnen nichts abhandeln, geschweige denn sie aufheben. Eine solche Erhabenheit können Werte — und mit ihnen alles an ihnen hängende Seinsollen — nur haben, wenn sie nicht Realzwecke irgendwelchen Geschehens sind. Ein Zweck ist, wenn er sich nicht verwirklicht, auch erledigt. 12. Kapitel
Teleologie und Willensfreiheit a. Negative und positive Freiheit Wie auch die Besorgnis um die Willensfreiheit ein gewichtiges Motiv der Teleologie ausmacht, obgleich sie sich in der Mehrzahl der Theorien gar nicht so recht mit dem Teleologismus der Werte reimen will, wurde bei der Darlegung der metaphysischen Motive gezeigt (Kap. 6f). Warum aber erscheint dem metaphysischen Denken der einfache Kausaldeterminismus bedrohlich, lähmend, alle Freiheit erstickend — so sehr, daß wir geneigt sind, der Freiheit zuliebe sogar einen gewissen Indeterminismus anzunehmen, — der Finaldeterminismus dagegen harmlos und ungefährlich ? Offenbar nicht nur, weil Finalität dem Wollen und Handeln verwandt, Kausalität aber ihm fremdartig ist ; auch nicht bloß, weil man sich
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12. Kapitel. Teleologie und Willensfreiheit
die sittliche Wertverwirklichung final denkt ; gleichfalls wohl auch nicht allein, weil man Freiheit des Willens mit Freiheit der Handlung verwechselt. Das alles spielt gewiß mit. Aber es reicht nicht aus, um die teleologistische These, und vollends die Leidenschaft, mit der sie verfochten worden ist, zu tragen. Das eigentliche Vorurteil, das hier vorliegt, wurzelt schon in einer irrtümlichen Auffassung der beiden Determinationsformen. Um diesen Irrtum zu beheben, bedarf es noch einer Fortführung der Kategorialanalyse sowohl des Kausalnexus als auch des Finalnexus, zugleich aber auch einer Klarstellung dessen, was eigentlich sittliche Freiheit ist. Denn auch an ihrem Begriff hängt, heute noch unbehoben, ein altes Mißverständnis. Man kann heute, wie einst in vorkantischer Zeit, in den ethischen Theorien der Auffassung begegnen, Willensfreiheit sei „negative Freiheit", obgleich ein solcher Freiheitsbegriff eindeutig durch Kant widerlegt ist. Die Negativität darin bedeutet das bloße „Freisein von etwas", z.B. von äußerer oder innerer Determination. Daß eine solche Freiheit nicht möglich wäre, selbst wenn sie noch so sehr vom ethischen Phänomen aus gefordert wäre, ist oft genug erwiesen worden. Und dawider läßt sich nicht streiten. Es wäre also Grund vorhanden, den Freiheitsbegriff selbst zu revidieren. Über wenige Dinge bestehen so viel fehlerhafte Anschauungen wie über die Willensfreiheit; man müßte sie von rechts wegen alle erst säuberlich abbauen, um das Verhältnis zur Kausaldetermination in der Welt auch nur richtig sehen zu können. Das erfordert aber eine breitere kategoriale Untersuchung. Von dieser muß hier abgesehen werden. Wichtig ist für unser Problem nur der Abbau der „negativen Freiheit". Freier Wille ist nämlich gar nicht ein unbestimmter Wille. Sittliche Freiheit ist nicht Unentschiedenheit, sondern gerade die positive Entscheidung, also Determination. Nur eben ist sie die eigene, autonome Determination der sittlichen Person in ihrem Willen. Der Wille im ethischen Sinne also ist derjenige Wille, der außer den zahllosen Kausalmomenten, die sich in ihm auswirken, noch eine eigene Determinante von anderer Art enthält, eine Determinante, die nicht aus dem Kausalgefüge der Welt stammt. Also nicht die Aufhebung irgendeiner Determination zeichnet ihn aus, sondern das Hinzutreten einer neuen, nicht ein Minus an Determination, sondern gerade ein Plus an Determination. Das bedeutet aber, daß es sich hier nicht um „Freiheit im negativen Verstände" handelt, sondern um „Freiheit im positiven Verstände" (Kant). Die Determinante, die positiv hinzukommt, ist eine durchaus irreale, sie stammt aus dem Wertreich; oder, wenn man das Kantisch ausdrücken will: sie stammt aus dem Sittengesetz und ist eine solche des reinen Sollens. Sie determiniert zwar nicht unmittelbar von sich aus das Tun, wohl aber mittelbar durch den freien Einsatz des Willens für sie
Negative u. positive Freiheit / Offenheit u. Überformbarkeit d.Kausalnexus
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(oder auch wider sie). Die direkte Bestimmung, die von ihr ausgeht, besteht nur darin, daß der Wert (das Sollen) dem Wertbewußtsein einleuchtet. Dieses Verhältnis ist freilich in Wirklichkeit noch komplizierter. Dem Sollen (Wert) gegenüber muß nämlich der Wille sehr wohl negative Freiheit haben, muß sich für oder wider seine Forderung entscheiden können. Er kann hier auch wirklich negativ frei sein, weil das Sollen ja nicht ihn direkt determiniert, sondern nur das Wertgefühl bestimmt. Aber den Kausalfaktoren gegenüber, die in ihn hineinspielen, kann er zugleich nur „positiv frei" sein. Er fügt eben zu diesen noch die eigene Stellungnahme zum Sollen hinzu. Dieses vollständige Verhältnis der determinierenden Momente im Willen kann hier nicht dargelegt werden, es kann dafür nur auf anderweitig gegebene Darstellung verwiesen werden (vgl. „Ethik", Kap. 82 d - h ) . „Freiheit im negativen Verstände" könnte dem Kausalgeflecht gegenüber natürlich nur bestehen, wenn der Kausalzusammenhang Lücken hat. Sie setzt also einen partialen Indeterminismus voraus. Fast alle Freiheitstheorien der Geschichte beruhen auf dieser Folgerung : sie sind indeterministisch. Allein Kant macht es anders, und zwar eben durch Einführung der „Freiheit im positiven Verstände". Aber er steht allein da und ist im Kernpunkt seiner Freiheitslehre, der ein rein kategorialer ist, auch von seinen Nachfolgern nicht verstanden worden. Alle indeterministischen Freiheitstheorien machen den Fehler, daß sie Willensfreiheit für negative Freiheit halten. Aber eben damit heben sie sich selbst auf. Denn weder läßt sich ein Indeterminismus im Ernst halten, noch ist sittliche Freiheit negative Freiheit. Führt man dagegen die „positive Freiheit" ein, so wird die Sachlage von Grund aus geändert. Ein Plus an Determination lassen nämlich die Kausalzusammenhänge der realen Welt sehr wohl zu. Nur ein Minus lassen sie nicht zu. Das eben besagt ja die Kausalität, daß jedes Ursachenmoment unaufhebbar seine Wirkung hat, einerlei welche Determinanten sonst noch im gleichen Ursachenkomplex mitspielen. Aber sie besagt nicht, daß keine anderen Determinanten als Ursachen, die selbst Wirkungen anderer Ursachen sind, sich im Kausalnexus auswirken könnten. b. Offenheit und Überformbarkeit des Kausalnexus Hier nun setzt die Kategorialanalyse des Kausalnexus ein. Der Notwendigkeitstypus im Kausalnexus besagt nur, daß alles, was an bestimmenden Momenten (Teilursachen) in ihm enthalten ist, sich auch unaufhaltsam weiter auswirkt; alles, was einmal geworden ist, ist auch Ursache von Wirkungen, und die Reihe der Wirkungen kann nicht abgeschnitten werden. Aber es besagt nicht, daß keine anderen Momente als die vom Kausalnexus mitgebrachten (bewirkten) in ihm als Determinanten bestimmend sein könnten, — vorausgesetzt natürlich, daß es
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12. Kapitel. Teleologie und Willensfreiheit
außerhalb seiner eine Sphäre gibt, aus der solche Determinanten herstammen und in ihn hineinspielen könnten. Gibt es nun eine solche Sphäre (es müßte natürlich eine irreale sein) und können aus ihr gewisse Momente in den Realnexus des Geschehens eintreten, so erweist sich der Kausalnexus als „offen" für sie: er nimmt sie als Ursachenmomente mit unter die übrigen Ursachen auf (unter die seinen) und führt die von ihnen ausgehenden Wirkungen oder Wirkungsänderungen in der Zeit genau ebenso fort, als ob sie aus ihm stammten. Das aber bedeutet, daß er gegen den Ursprung dessen, was sich in ihm auswirkt, vollkommen gleichgültig ist. In ihm läuft alles kausal weiter, einerlei ob es kausalen Ursprungs ist oder nicht. Wie ist das möglich ? Man meint, das könne nicht sein, weil doch die Ursachenmomente in jedem Prozeßstadium schon komplett beisammen sind und in ihrer Totalität schon zureichen, die Gesamtwirkung hervorzubringen. Aber man vergißt dabei eines: die Gesamtwirkung ist im Kausalnexus nicht vorher bestimmt, nicht vorgesehen, vorgezeichnet, beabsichtigt; der Prozeß ist nicht auf sie „angelegt". Sie kommt so, wie sie ausfällt, nur zustande, weil der Ursachenkomplex gerade so und nicht anders ist. Ändert sich vor der Auswirkung etwas in ihm, tritt noch eine Komponente hinzu — woher immer sie auch kommen mag —, so fällt eben auch die Gesamtwirkung anders aus. Denn der Kausalprozeß ist gleichgültig gegen das Resultat. Darum ist er auch gleichgültig gegen determinierende Momente, die als Komponenten der Ursachenkomplexe von außen in ihn eintreten. Er nimmt sie widerstandslos in sich auf. Er ist „überformbar" durch höhere Determination. Darauf beruht ja auch die Möglichkeit, den Kausalprozeß zwecktätig zu lenken, ihm vorsehend einen Zweck zu geben und Mittel für diesen zu seligieren (vgl. Kap. 7d). Man gibt ihm damit eine veränderte Richtung. Da der 3. Akt des Finalnexus im Kausalgeschehen abläuft, so sind es der 1. und 2. Akt, durch welche die überkausale Determinante in ihn hineingetragen wird. Das ist der springende Punkt im Freiheitsproblem. Kant hat ihn vorgesehen in seinem Begriff des ersten Anhebens einer Kausalreihe in der Zeit. Der Kausalnexus ist ein offener Nexus, und weil er offen ist, ist er überformbar. Und er ist offen, weil er nicht auf ein Endglied hin „angelegt" und festgelegt ist. Seine Ursachenkomplexe sind in der Tat niemals geschlossen — wie sie denn auch extensiv grundsätzlich die ganze Simultaneität umfassen —, sie nehmen jede beliebige auswärtige Komponente auf, wenn es solche gibt, und die Richtung der Resultante verschiebt sich dabei widerstandslos. Es gibt in einem Ursachenkomplex keine obere Grenze der Determiniertheit. Jeder noch so reiche Ursachenkomplex, solange er eben als flüchtiges Durchgangsstadium des Prozesses besteht, nimmt ohne Grenzen weitere Determinanten auf, von wo immer sie kommen mögen. Es gibt in ihm keine Überdetermination,
Offenheit und Überformbarkeit / Kausal- und Finaldeterminismus
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ebenso wie es keine Unterdetermination gibt. Wo die Gesamtursache arm ist, da ist auch die Gesamtwirkung arm ; wo sie reich ist, fällt auch diese reich aus. Aber die Determination ist stets zureichend. Das ist der Grund, warum ein voll determinierter kausaler Gesamtprozeß laufender Ereignisse jederzeit einem Plus an Determination offen steht, warum also „Freiheit im positiven Verstände" durch einen noch so vollständigen Kausaldeterminismus nicht abgeschnitten, ja nicht einmal eingeschränkt wird. Diese einfache Einsicht wird nur immer wieder dadurch verdunkelt, daß man gewohnt ist, den Prozeß vom Resultat aus zu sehen, so als wäre er auf dieses angelegt. Der Fehler also liegt in der traditionellen Finalisierung der Prozesse. Tatsächlich wird der Prozeß erst durch den Eintritt einer Finalkomponente auf ein Resultat ausgerichtet. Das aber geschieht ja erst durch die Willensentscheidung. Vor ihr ist der Prozeß ein gegen alles, was „herauskommt", gleichgültiger. c. Kausaldeterminismus und Finaldeterminismus Die hochgesteigerte Angst vor dem Kausaldeterminismus, die so viele sonst scharfsinnige Denker dem Indeterminismus in die Arme getrieben hat, erweist sich hiermit als ein glattes Mißverständnis des Kausalnexus. Der Mangel an Kategorialanalyse, das „Sehen vom Ende her" und die Verwechselung mit dem Finalnexus reichte hin, einen solchen Irrtum zu verschulden. Bis in unsere Zeit hinein hat das Mißverständnis sich halten können; auch heute noch herrscht in diesem Punkte, selbst bei den Fachleuten, tiefe Unbildung. Die einfache Konsequenz des Gesagten ist diese: wo es sich bloß um Kausaldetermination handelt, da bedarf es für die Willensfreiheit keines Indeterminismus. Ein einfacher Kausaldeterminismus ist vollkommen neutral gegen das Einsetzen höherer Determination und die„Freiheit im positiven Verstände". Denn er ist indifferent, richtungslos, harmlos, weil er tendenzlos ist. Es bedarf für die Freiheit keiner Lücke in ihm. Er leistet, auch als lückenloser, den Werttendenzen und der Zwecksetzung keinen Widerstand. Das ist der eigentliche Sinn von Kants Lösung der Kausalantinomie : ein und derselbe Vorgang kann sehr wohl durchgehend kausal determiniert sein und dennoch „Kausalität aus Freiheit" (d. h. aus anderer Sphäre her) enthalten. Auch die fremde Komponente eben nimmt im Kausalgeflecht die Form einer wirkenden „Ursache" an. Das alles aber nimmt ein vollkommen anderes Gesicht an, wenn es sich um Finaldetermination handelt. Der Finalnexus ist, wie gezeigt wurde, kein „offener" Nexus. In ihm sind die Determinantenkomplexe absolut geschlossen. Sie müssen es sein, weil sonst der vorgezeichnete Zweck nicht erreicht wird : im dritten Akt des Finalnexus, der im übrigen ein Kausalprozeß ist, müssen die Ursachenkomplexe gegen Eingriffe von außen abgeschirmt sein. Sie können neben den „seligierten Mitteln"
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12. Kapitel. Teleologie und Willensfreiheit
keine anderen Ursachenmomente mehr aufnehmen, weil diese den Prozeß· ablenken und dadurch das finale Gelenktsein in ihm aufheben würden. Der Finalnexus hat diese Exklusivität gegen das ihn umgebende Geschehen an sich, weil er zielgerichtet ist, auf das bestimmte Resultat festgelegt ist. Und man kann hinzufügen, daß er als wirkliche Realdetermination überhaupt nur zustandekommt, wenn es gelingt, diese Isolierung der bewirkenden Momente in seinem dritten Akt durchzuführen. Jede äußere, nicht vorgesehene Einwirkung ist hier eine Störung, ist Ablenkung vom Zweck, und zwar in jedem Stadium der Realisation ; eine einzige fremde Determinante in beliebiger Phase des Werdeprozesses zerbricht ihn schon, zerstört ihn, hebt ihn auf. Oder aber der Finalnexus scheidet sie aus. Zerbricht sie ihn, so wird der Zweck nicht erreicht, und er selbst besteht nicht mehr. Scheidet er sie aber aus, so lenkt er damit den Prozeß auf den gesetzten Zweck zurück. Er kann das nur tun, indem er durch Selektion neuer Mittel die Ablenkung kompensiert. Das ist es, was wir in unserem praktischen Tun jederzeit machen : wir gleichen die Störungen durch Mittel aus, die wir eigens als Gegenmittel seligieren. Deswegen überlassen wir den einmal in Gang gesetzten Prozeß der Verwirklichung nicht sich selbst, sondern überwachen ihn und helfen ihm durch fortgesetzt neues Eingreifen nach. Das Eingreifen aber setzt das erneute Einsetzen des zweiten Aktes voraus, der im Ausfindigmachen neuer Mittel besteht. In der Teleologie des Menschen, die nicht allmächtig ist, nur begrenzte Vorsehung und Vorbestimmungskraft hat, gibt es beides: das Zerstörtwerden des Finalprozesses (das Mißlingen der Absicht) und das Zurücklenken auf den Zweck durch laufendes Überwachen des Prozesses. In einer allgemeinen Weltteleologie mit entsprechender Allmacht, unbegrenzter Vorsehung und Vorbestimmung wäre das anders, anders also im Falle einer göttlichen Vorsehung, anders auch im Falle „immanenter Weltzwecke". Hier müßten die Zwecke unendlich viel mächtiger sein als die des Menschen. Sie würden dafür sorgen, daß jede Ablenkung, die er durch seine Zwecksetzung und überhaupt durch seine Selbstdetermination zuwege brächte, über lang oder kurz wieder zurückgelenkt würde. Oder aber die Entschlüsse und Zwecksetzungen des Menschen wären von vorn herein, ihm unbewußt, in den großen Finalnexus des Weltgeschehens einbezogen. Sie würden dann nur als dessen untergeordnete „Mittel" funktionieren, wären also in Wirklichkeit auch gar nicht als die seinigen, d. h. nicht als die des Menschen, anzusehen. Der Wille des Menschen wäre alsdann total heteronom determiniert. Erst hier also hätten wir es wirklich mit einem Determinismus im schlechten Sinne des Wortes zu tun. Über den Kopf des Menschen hinweg wäre alles in alle Zukunft vorbestimmt; und durch sein Bawußtsein hindurch, wie durch ein bloßes Medium, müßten sich die großen Realisationsketten dieses Vorbestimmten unwandelbar vollziehen.
Kausal- und Finaldeterminismue / Daa Fiasko des Finaldeterminismus 125 Ob nun so oder so, in beiden Fällen bleibt dem Menschenwesen keine Freiheit der Entscheidung mehr. Das aber heißt: in einer durchgehend final determinierten Welt ist Freiheit ein Ding der Unmöglichkeit. Eine solche Welt würde in der Tat die Vernichtung des Menschen als sittlichen Wesens bedeuten. d. Das Fiasko des Finaldeterminismus Es ist also gerade umgekehrt, als wie man es immer geglaubt hat. Nicht der Kausaldeterminismus ist der gefährliche Feind der Willensfreiheit, sondern der Finaldeterminismus. Das konnte man nur darum so lange verkennen, weil man beide nicht durchschaute, ja weil man sie vielfach miteinander verwechselte. Gerade weil der Finaldeterminismüs strukturell der Willensbestimmung „verwandt" ist, ja weil er geradezu darin besteht, daß er die Determinationsform der menschlichen Handlung auf das Ganze der Welt überträgt, läßt er dem Menschen keinen Vorrang in der Welt, keine Überlegenheit, keine Sonderstellung. Der Vorrang eben besteht wesentlich in der Fähigkeit, Zwecke zu setzen und zu verfolgen. Mit ihm steht und fällt auch die Freiheit. Nur in einer Welt, in der nicht alles auf Endstadien festgelegt ist, kann der Mensch noch Entscheidungen treffen, „seine" Zwecke setzen und realisieren und dadurch an seinem eigenen Tun Schuld und Verdienst haben. Der streng zuende gedachte Finaldeterminismus ist der eigentliche Fatalismus, das Ausgeliefertsein des Menschen an das vorbestimmte Geschick. Unter seiner Voraussetzung wird es im Grunde .gleichgültig, was der Mensch tut, und noch gleichgültiger, was er plant oder sich vornimmt: er ändert mit seinen kleinen Entschlüssen nichts mehr am festgelegten Lauf der Dinge. Diese Weltordnung läßt dem Menschen nichts übrig, als die Hände in den Schoß zu legen. Er kann sich wohl der Täuschung eingebildeter Freiheit hingeben; aber das bedeutet •dann eben nur ein Leben in der Illusion. Sehr deutlich kommt das in der Prädestinationslehre heraus, wie sie auf christlicher und außerchristlicher JBasis des öfteren vertreten worden ist, — einer wahrhaft teuflischen Erfindung der Spekulation unter dem Deckmantel religiöser Frömmigkeit. Wie denkende Menschen mit dieser Perspektive vor Augen noch haben leben und wirken können, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht annehmen müßte, daß sie die furchtbaren Konsequenzen der eigenen Theorie niemals wirklich bis zu Ende gezogen haben. Was in alledem deutlich sichtbar wird, ist die Tatsache, daß der Teleologismus auch auf ethischem Gebiet — d. h. gerade dort, wo man seine stärksten Stützen glaubte — ein vollständiges Fiasko erleidet. Man kommt damit auch vom Freiheitsproblem aus auf das dialektische Verhältnis hinaus, das sich schon oben vom Sinnproblem aus ergab: «ine Welt, in der über den menschlichen Willen hinweg schon für alles gesorgt ist, ist gerade diejenige, in der für ein freies Wesen, und also auch
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13. Kapitel. Vordergründe und Hintergründe
für Sinn und Bestimmung des Menschen, am schlechtesten gesorgt ist. Sie hebt das moralische Wesen in ihm auf. Darüber hinaus aber richtet der Finaldeterminismus als Metaphysik des menschlichen Ethos auch noch weitere Verwirrung im Widerstreit der Theorien an. Stammt doch der ganze Unfug des ethischen Indeterminismus mitsamt seinen erstaunlichen Inkonsequenzen aus der kategorialen Verirrung der Theorie in den verkappten Finaldeterminismus. In der Tat hat man sich einst in den Zeiten der noch ungebrochenen Gläubigkeit gerade vom Dogma der „Vorsehung" aus die Theorie erdacht, Gott müsse dem Menschen einen gewissen Spielraum der Selbstbestimmung lassen — gleichsam pädagogisch, zur Bewährung seiner Würdigkeit —, müsse also zugunsten des Menschen auf einen Bruchteil seiner allwissenden und allmächtigen Vorbestimmung verzichten. Was dann in der Tat auf gewisse Lücken in der Weltdetermination hinausläuft, also eine Art Urform des späteren Indeterminismus darstellt. Aber selbstverständlich war das nur sinnvoll, wenn es sich um Finaldetermination der Welt handelte. Daß man später dieses Schema in säkularisierter Form auf den Kaasalnexus anwandte und so zu einem partiellen Kausahndeterminismus gelangte, beruht schon auf Verkennung der radikalen Verschiedenheit beider Determinationsformen. Mit dem Kausalnexus als Grundform der Weltdetermination ist wohl — bis auf den Ansatz Kants, der unvollständig blieb — bis heute noch kein ernsthafter Versuch in der Metaphysik der Sitten und des menschlichen Ethos gemacht worden. Zu sehr dürfte immer bei den Verfechtern der Freiheit das Denkschema des Indeterminismus als einzig mögliche Auskunft vorgeschwebt haben. Mit diesem Schema aber ist es unmöglich, die kategoriale Chance, die der bloße Kausalnexus einer affirmativen Lösung des Freiheitsproblems darbietet, auch nur klar zu sehen, geschweige denn auszuwerten. Erst eine grundlegende Kategorialanalyse beider Determinationsformen — wie sie oben für den Finalnexus wenigstens angedeutet werden konnte (Kap. 7) —, sowie ein radikaler Abbau der traditionellen Fehler und Vorurteile kann hier Spielraum schaffen. Wir stehen mit den Ansätzen zu solcher Analyse heute im ersten Anfang einer neuen Freiheitslehre. 13. K a p i t e l
Vordergründe und Hintergründe a. Vulgäre Motive, nüchtern gesehen Die restlichen Motive des Teleologismus haben nicht mehr den Charakter von Argumenten; sie sind nur Vorurteile und Unstimmigkeiten, meist solche des naiven Bewußtseins. Der Sache nach sind sie mit den Argumenten des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens zugleich erledigt. Man braucht sie also nur auf diese zurückzuführen, um di&
Vulgäre Motive, nüchtern gesehen
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Fehlerquellen in ihnen bloßzulegen. Das braucht hier nicht mehr ausdrücklich zu geschehen ; diese Arbeit ist so elementar und selbstverständlich, daß ein jeder sie unwillkürlich bei der Auseinandersetzung mit jenen Argumenten mit vollzieht. Andererseits sind diese Motive doch nicht ohne Hintergründe, und die lassen sich nicht auf den ersten Anhieb aufdecken. In der deskriptiven Aufzählung der einschlägigen Phänomene (vorwiegend in Kap.l) stand die Betrachtung noch mehr bei den Vordergründen. Erst die Analyse der Argumente konnte hier tiefer hineinleuchten. Denn stillschweigend hegen viele der letzteren ihnen schon zugrunde. Darum hat sich nach der Behandlung der Argumente die Sachlage geändert, und zwar nicht in der Weise bloß, daß jetzt die Argumente selbst den Hintergrund bildeten, sondern noch in einem anderen Sinne. Durch die Bloßlegung der Argumente und ihre Widerlegung werden Hintergründe anderer, mehr subjektiver und seelischer Art greifbar, an die man im Leben am wenigsten denkt, die aber doch eben im Leben selbst die größte Rolle spielen. Wir kehren hiermit zu den Anfangen unserer Betrachtung zurück. Da ist zunächst das vulgäre „Wozu"-Fragen des naiven Bewußtseins. Bei jedem Widerfahrnis glaubt der Betroffene, es mit einer ihm geltenden Bedeutung zu tun zu haben; er sucht zwar meist nicht weiter nach dem „Zweck" (des vermeintlichen Gegenspielers), setzt ihn aber doch voraus. Wir wissen jetzt, daß nicht nur das Sinnbedürfnis des naiven Bewußtseins dahinter steckt, sondern auch die richtungheischende Vorherrschaft der hybriden Zweck-Kategorie, der teleologische Denkzwang, der seinerseits wiederum die anthropomorphe Weltvorstellung im Gefolge hat. Damit aber wird der Ausblick auf eine noch andere Seite der,,Wozu"Frage frei. Wie die Zweckkategorie überall, wo sie angewandt wird, eine Vereinfachung der Sache bedeutet, mit der man es zu tun hat, so auch hier. Es ist viel leichter, ein Widerfahrnis mit einer Bedeutung, und sei es· auch nur der Vermutung eines Zweckes, abzutun, als sein Zustandekommen auf Ursachen hin zu untersuchen. Im schnellen Wechsel der Ereignisse ist das Untersuchen meist gar nicht möglich. Der Zweck entbindet uns gleichsam von der schwierigen Aufgabe des Ausschauens nach Ursachen. Praktisch ist ja auch das Bedürfnis, mit der Sache „fertig zu werden", um vieles stärker als das Interesse, sie zu begreifen. Und die Unterstellung des Zweckes ist ja auch insoweit ganz harmlos, ala sie nur einen modus vivendi bildet, eine Vereinfachung, eine Bequemlichkeit, ja ein Hinweggleiten des Bewußtseins über das Unverstandene der Sachlage. Sie wird erst irreführend, wo sie sich ins Weltanschauliche wendet. Diese Wendung aber ist freilich bei einmal fest gewordener Denkgewohnheit der „Wozu"-Frage nicht zu vermeiden. Weniger harmlos ist schon das Suchen nach einer „Bestimmung" in den Ereignissen. Denn bei der Bestimmung handelt es sich um die dem Menschen geltende „Schickung"; mit einer solchen aber ist die
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12. Kapitel. Teleologie und Willensfreiheit
weltanschauliche Grundfrage schon vorentschieden. Das Fahnden nach „Bestimmung" ist überdies auch anspruchsvoller: der Mensch meint damit, daß die Ereignisse es auf ihn abgesehen haben, um seinetwillen eintreten, sich um seine Person drehen. Es liegt da ein Egozentrismus zugrunde, der leicht alle Maßstäbe verliert und mittelbar zu ungeheuerlicher Überschätzung der eigenen Person und ihrer kleinmenschlichen Interessen führt. In diesem Sinne ist es anmaßend, wenn der Fromme im Leiden oder Untergang der Seinigen eine Schickung zum Zweck seiner Prüfung oder Läuterung sieht. Das groteske Wichtignehmen des eigenen Ichs mag dabei zwar ein naives und gutgläubiges sein, die Schwäche der auf das Subjekt zentrierten Weltansicht wird dennoch in ihm greifbar, ja aufdringlich. Die Unfähigkeit zu größerem und objektivem Überblick zeigt deutlich die Enge und Borniertheit des am Seienden als solchem gänzlich uninteressierten Denkens. Das ist der Innenaspekt dieser wohlbekannten, vulgären Alltagsmotive des teleologischen Denkens, wenn man sie im Lichte der Kategorialanalyse nüchtern betrachtet. Sie sind in ihren Hintergründen nicht so unschuldig, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Und man versteht es wohl, wie die unbemerkten Irrtumsquellen auch des philosophischen Denkens aus ihnen immer wieder neu gespeist werden. b. Die Flucht vor dem Sinnlosen und Zufälligen Ein Motiv, das durch alle Schichten des Bewußtseins vom naiven bis zum metaphysisch spekulativen hindurchgeht, ist die „Unerträglichkeit des Sinnlosen" und die Flucht des Denkens vor ihm. Der berechtigten Gefühlstendenz, die hierin hegt, ist oben bei der Analyse des Phänomens Genüge geschehen; desgleichen konnten die wesentlichsten Irrtumsquellen in ihr aufgezeigt werden. Aber auch mit diesem an sich berechtigten Motiv wird doch im Leben mancherlei Falschspiel getrieben. Ist es eigentlich wahr, daß alles Sinnlose unerträglich ist ? Das läßt sich schwerlich bejahen, wenn man sich einmal klargemacht hat, wie skrupellos hier das Sinnlose mit dem Sinnwidrigen verwürfelt ist, und wie eigentlich — d. h. gemäß unserem natürlichen Sinnbedürfnis — nur das „Sinnwidrige" als unerträglich gelten kann. Und auch von diesem darf man es wohl nur von einer gewissen Größe oder „Schwere" ab behaupten; im Kleinen nehmen wir es im Leben relativ leicht und achtlos hin. Nun aber ist bei weitem das meiste, was uns widerfährt oder begegnet, durchaus nicht sinnwidrig, sondern nur sinnlos. Soweit hat die Analyse des Sinnproblems und der Sinnmetaphysik die Sachlage bereits geklärt. Darüber hinaus aber ist hier natürlich die subjektive Seite der Sache von hohem Interesse. Es scheint hier nämlich so etwas wie eine Verkehrung des ganzen Verhältnisses im Denken sich breitzumachen. Man bedenke: warum eigentlich wird das „bloß Sinnlose" als deprimierend empfunden ? Ist es nicht das Neutrale, das „uns
Die Flacht vor dem Sinnlosen und Zuf&lligen
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nichts will", weder im Guten noch im Bösen? Jedenfalls hat es keine gegen das Sinnvolle gerichtete Spitze. Mit solchen neutralen Vorgängen rechnen wir doch im kleinen und in der umgebenden Natur immerfort, ohne daß widerstrebende Gefühle sich dagegen regten; warum rechnen wir nicht im Leben immer, auch in größeren Dingen, ebenso nüchtern mit ihnen? Darauf gibt es wohl nur die eine Antwort: sobald wir die Betroffenen sind, empfinden wir eben die Vorgänge nicht mehr als neutral, empfinden sie als gegen uns gerichtet, und damit auch als gegen das Sinnvolle überhaupt gerichtet. Hier wird also seitens des Subjekts das an sich Indifferente in ein quasi Beabsichtigtes umgedeutet. Und erst in dieser Umdeutung erscheint es uns „unerträglich". Das ist nun in der Tat die vollständige Verkehrung der Sachlage. Man meint, das Sinnlose in der Welt durch Einflechtung einer Sinnfinalität in die Geschehnisse überwinden zu müssen, bemerkt aber nicht, daß man ebendamit auch das vermeintlich Sinnlose finalisiert und es dadurch erst zum Sinnwidrigen und Bösartigen umstempelt. Man schafft also erst künstlich mit der eigenen Deutung die Sinnwidrigkeit der allgemeinen Lebenssituation, die man als dunkel empfundene bekämpfen wollte. Und das ganze Verhältnis erweist sich als das Umgekehrte: nicht die Flucht vor dem Sinnlosen treibt zur Teleologie, sondern erst die stillschweigend eingeschmuggelte Teleologisierung des Zwecklosen (Zweckindifferenten) läßt uns das an sich bloß Sinnindifferente als unerträglich sinnwidrig erscheinen, und die Flucht vor diesem mißverstandenen, aber nunmehr leidenschaftlich abgelehnten „Sinnlosen" ist schon die Folge der angerichteten Verwirrung. Wie groß die Verwirrung ist, macht man sich am besten klar, wenn man dazu bedenkt, daß die wirkliche Neutralität des Sinnindifferenten in den Ereignissen des Lebens für den gereiften Menschen eher noch etwas Beruhigendes und Wohltuendes hat. Dem nüchternen Blick erscheint es eben als das, was es ist, als das Sinnfreie und gleichsam nicht Zweckbelastete. „Es will uns nichts", deshalb kann man sich sehr wohl mit ihm stellen und befreunden. Auf seiner sittlichen Höhe kommt der Mensch dazu, das Umgebensein vom Indifferenten sogar als etwas Erhebendes und Befreiendes zu empfinden, — in derselben Weise etwa, wie Kant „den gestirnten Himmel über mir" als erhebend empfand. Es war derselbe Himmel, dessen Erscheinungen jahrhundertelang als schicksalbestimmend für den Menschen gegolten und ihn in dieser Deutung zu tausend Irrtümern verleitet haben. — Ähnlich steht es mit der „Flucht vor dem Zufall" aus dem Gefühl der Ohnmacht gegen ihn heraus. Ist der Zufall eigentlich bedrückend, spielt er uns nicht ebenso oft Chancen in die Hand wie Hindernisse in den Weg ? Ist die Ohnmacht gegen ihn nicht meist bloß der Reflex der hochgespannten Erwartungen und Illusionen? Was aber treibt die Illusionen so hoch ? Ist es nicht eo etwas wie ein vermeintliches Anrecht des Menschen auf Berücksichtigung seiner Wünsche und Sehnsüchte durch den Weltlauf? Wenn dieses Anrecht sich dann als eitel erweist, 9 Hartmann, Teleologie
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13. Kapitel. Vordergründe und Hintergründe
nennt man den Zufall „tückisch" : er hat sich gleichsam hinter die scheinbare „Gunst" der Verhältnisse versteckt, um uns dann hinterrücks unverhofft zu treffen. So schiebt der Mensch dem Zufalligen Absichten unter, und erst gegen die Hinterlist der Absicht fühlt er sich erdrückend ohnmächtig. Er hat den Zufall finalisiert, darum zeigt der Zufall ihm ein erschreckendes Gesicht. Das wirklich Zufallige ist das bloß nicht vorgesehene Realnotwendige. Ein solches hat mit Hinterlist und Tücke nichts zu tun. Der finalisierte Zufall ist eben gar nicht mehr Zufall ; er ist gerade das Gegenteil, das von irgendeiner Instanz Gewollte. Welche Instanz es sein mag, bleibt bei diesem dunklen Zufallsbegriff völlig unbestimmt. Und gerade diese Unbestimmtheit wirkt irritierend. Der wirkliche Zufall ist dagegen harmlos. Er kann wohl hart sein, aber weder erschreckend noch bedrückend. Denn er steht indifferent da. Anders ist es mit den gelegentlichen Dankgefühlen des Menschen, wenn ihm Günstiges begegnet. Wohl ist es auch hier dieselbe Finalisierung, denn „dankbar" im strengen Sinne kann man wohl nur gegen eine zwecktätige Macht sein. Aber dahinter birgt sich doch noch etwas anderes, und zwar etwas Reelleres. Die reale Welt ist eben doch tatsächlich auch voll des Wertvollen, und die Wertantwort des unverbildeten Bewußtseins darauf muß eine bejahende sein. Das Dankgefühl als naive Form der Wertantwort ist eine durchaus adäquate Gefühlsreaktion. Aber eben als bloße Wertantwort sagt es nichts über eine teleologische Weltordnung aus. Denn Wertrealisation ist in der Welt gemeinhin eine zufällige, d. h. eine unter Kausalzusammenhängen statistisch notwendige und keineswegs an Zwecktätigkeit gebundene. c. Anthropozentrismus und Anthropomorphismus Daß der Mensch ursprünglich alles, was ihm begegnet, von seiner kleinen Menschenwelt aus sieht, es in das Zweckgefüge des eigenen Lebens einzuordnen sucht und es so letzten Endes auf sich selbst wie auf einen vorgegebenen Bezugspunkt aller Dinge bezieht, ist nicht bloße Willkür der Subjektivität, sondern eine praktisch notwendige Tendenz. Denn was daran den Menschen direkt angeht, ist natürlich nur das in seine engere Lebenssphäre Hineinreichende und sie Mitbestimmende. Das kann man bis auf die Priorität des „Zuhandenseins" vor dem „Vorhandensein" herab verfolgen, wie Heidegger sie als gültig für die Gebrauchsgegenstände nachgewiesen hat. So wenigstens ist es, wenn man beide nur als Gegebenheitsweisen (gnoseologisch), nicht als Seinsweisen (ontologisch) versteht. Aber die Beziehung auf die eigene Person und ihre Lebenssphäre hat die Neigung an sich, ihren praktischen Kompetenzbereich zu überschreiten und auf die Weltansicht überhaupt überzuspringen, die subjektbedingte Umwelt als „die Welt" zu verstehen und so beim Anthropozentrismus anzulangen.
Anthropozentrismus und Anthropomorphismus
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Es läßt sich zeigen, daß diese Tendenz in der Grundhaltung des „geistlosen Bewußtseins" wurzelt, welches eben darin besteht, nicht sich au die Welt, sondern die Welt auf sich zu orientieren. Dieses Bewußtsein ist zentralistisch eingestellt; das geistige Bewußtsein gibt umgekehrt sich selbst eine exzentrische Stellung in der Welt. Der Mensch führt mit zunehmender Reife das erstere in das letztere über. Dadurch gewinnt er Distanz, Objektivität und Wissen um die Welt. Praktisch aber haftet ihm dauernd etwas vom geistlosen Bewußtsein an, wie er ja auch lebenslänglich, bei aller menschlichen Überlegenheit, nicht aufhört, Tier zu sein. Dieses Bewußtsein aber bringt seine Kategorien mit, und unter ihnen dominiert die Zweckkategorie. Das ist es, was den Anthropozentrismen allen unerkannt zugrundeliegt. Es ist ein Wunschbild des menschlichen Weltbewußtseins aus den Anfängen des metaphysischen Denkens her, die Welt auch objektiv auf die Lebensbelange und Interessen des Menschen orientiert zu sehen. Das gilt für die alten Schöpfungsmythen genau so gut wie für die idealistische Vernunftmetaphysik: ob im Menschen der Geist bloß zum Bewußtsein kommt, nachdem er in Tausenden von Gestalten sich bewußtlos objektiviert hat, oder ob einfach Himmel und Erde, Pflanze und Tier um des Menschen willen geschaffen sind, — das macht für die teleologischzentralistische Stellung des Menschen in der Welt nur wenig Unterschied aus. Zu lernen aber ist hieraus für die Beurteilung aller auf den Menschen orientierten Teleologismen, daß man an ihre Wurzel greifen muß, d. h. an die Einstellung des geistlosen Bewußtseins. Und hierbei darf man sich nicht dadurch einschüchtern lassen, daß es altheilige oder spekulativ imponierende Weltbilder sind, die man vor sich hat, unzweifelhaft also geistige und geistvolle Gebäude. Denn der Geist selbst läßt sich täuschen durch das, was unbemerkt in ihn hineinspielt, und die Motive dessen, was er errichtet, sind nicht immer seiner Leistungen würdig. Auch hier haben wir es mit Hintergründen zu tun, die man dem Ausgesprochenen und Vordergründigen nicht so leicht ansieht. An ihnen aber hängt die Triebfeder des teleologischen Denkens. Etwas Ähnliches gilt auch vom Anthropomorphismus, d. h. der eigentlichen „Vermenschlichung" der Dinge und der Welt. Mit dem Anthropozentrismus hat er das Gefangensein des Bewußtseins in der Sehweise des Menschen gemeinsam. Auch er geht nicht auf das Sinnbedürfnis zurück, sondern auf den Mißbrauch spezifisch menschlicher Kategorien. Den Dingen wird Wille, Gesinnung, Güte und Bosheit zugeschrieben — ganz wie dem „Zufall" —, und zwar einfach weil sie „wirken", der Mensch aber aus seiner Wirkungsweise heraus die Neigung mitbringt, alles Wirken als ein „Tun" (ποιεϊν) zu verstehen. Man könnte hier mit Recht von der Kategorie des Tuns als einer hybriden Bewußtseinskategorie sprechen. Und dasselbe würde von ihrem Gegenstück, dem „Leiden" gelten, — so wie diese beiden ja in der Tat in der Kategorientafel des Aristoteles sich finden und seither alle Vorstellung von Aktivi8*
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13. Kapitel. Vordergründe und Hintergründe
tat und Passivität bestimmt haben. Wobei nicht zu vergessen ist, daß sie auch dort schon nicht frei erdacht, sondern dem bekannten Gegensatz der verbalen Aussageformen entnommen waren. Die Sprache eben geht von dem aus, was im menschlichen Verhalten dominant ist; sie ist von Anbeginn anthropomorph angelegt, in der Aussage genau so wie in der Verteilung von „Geschlechtern" an die geschlechtslosen Dinge. Dieser dem sprachgeformten Denken innewohnende Anthropomorphismus ist urtümlich und deswegen schwer zu bekämpfen. Er hängt an den eingefahrenen Geleisen des Denkens und verläßt es auch dort nicht, wo es sich kritisch bewußt gegen ihn richtet. Die philosophische Aufgabe aber ist gerade, auch hier bis an die Wurzel durchzustoßen und so der vielleicht nie ganz aufhebbaren Täuschung, wie eines transzendentalen Scheines, Herr zu werden. Die äußerlich greifbaren Formen der Vermenschlichung, wie sie im Götterglauben und gemildert in deistischer und pantheistischer Weltansicht vorliegen, sind um vieles leichter anzupacken, und zwar eben weil sie das aussprechen, was in der urtümlichen Denkform nur implicite enthalten ist. Gegen sie genügt das, was oben gegen die üblichen spekulativ-metaphysischen Argumente vorgebracht worden ist. Auch in diesem Punkte zeigt es sich wieder, wie viel leichter es ist, mit Vordergründen des metaphysischen Denkens fertig zu werden als mit seinen versteckten Hintergründen. Denn daß diese höchst primitiv sind, macht sie, solange sie im Verborgenen verharren, um nichts weniger gefährlich. Ja, die Gefahr, die hier im Hinterhalt lauert, wächst ins Biesenhafte, wo sich die primitiv-kategoriale Verführung zum Teleologismus mit den Motiven des Sinnbedürfnisses verbindet und dann unmittelbar bis in das wissenschaftliche Denken hineinreicht — wie das im Typenargument und in der Metaphysik des Sinnverstehens der Fall ist (vgl. Kap. 10c und d). Nimmt man hierzu noch das eigentliche „Vorurteil der Sinnmetaphysik" (Kap. IIb), so scheint sich der Ring zu schließen, und man begreift, welchen Grad das Gefangensein des Denkens im eigenen Gespinnst erreicht. Denn alle Sinnargumente dürften ihre Schlagkraft einbüßen, wenn man ihnen den Boden der primitiv-kategorialen Vorentscheidung unter den Füßen wegzöge. Das aber ist nicht mit einem Schlage zu schaffen, sondern nur mit geduldiger, immer neuer und wachsamer Denkgewöhnung. Daß aber wenigstens die Philosophie es dahin bringen muß, die kategoriale Umstellung in sich zu vollziehen, ist leicht einzusehen, wenn man erwägt, welche ungeheure Selbsttäuschung des Menschen an dem Vorurteil der Sinnmetaphysik hängt. Mit dem Verzicht auf eigene, autonome Sinngebung vernichtet der Mensch sich selbst moralisch und gibt sich preis. Dem darf das weltanschauliche Denken durch seine kategoriale Rückständigkeit nicht Vorschub leisten.
Schicksalsidee und Vorsehungsglaube
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d. Schicksalsidee und Vorsehungsglaube Wie das „Wozu"-Fragen und das Suchen nach „Bestimmung", wie die Flucht vor dem Sinnlosen und Zufälligen, wie das Beziehen neutralen Geschehens auf die eigene Person und die Vermenschlichung der Weltordnung, so ist auch der Vorsehungsglaube mitsamt der Schicksalsidee, die ihn leitet, ein Rudiment primitiven Bewußtseins im Denken des Gereiften. Er besteht nicht nur im kindlichen, mythischen und religiösen Denken, er bricht auch im philosophischen Denken immer wieder durch. Der erschütternde Schicksalsschlag oder besondere Glücksfall läßt ihn immer wieder aus der Versenkung aufstehen, in die ihn das kritisch gewordene Denken verbannt hat. Und noch der Gealterte, wenn er sein Leben entlang sieht, glaubt mit weisem Lächeln geheimnisvolle „Fügungen", wenn nicht gar einen überlegen durchgeführten Plan, darin zu erkennen. Wie sehr er damit dem sich wichtig nehmenden Selbstbewußtsein schmeichelt, wie lächerlich er die vermeintliche Vorsehung mit der Sorge um die kleinmenschlichen Dinge belästigt, kommt ihm nicht in den Sinn. Noch viel weniger bedenkt er den Widerspruch, in den er sich als längst zur sittlichen Freiheit erwachtes Bewußtsein eben damit begibt: wie ér sich freiwillig wieder entrechtet und entmündigt und gerade das, was menschlich groß und heroisch war in seinem Leben, inkonsequent und unweise verleugnet. Nach der Diskussion der Sinn- und Freiheitsproblematik (Kap. 11 und 12) ist dieser Widerspruch ein offenkundiger, und kein Kompromiß der Anschauungen kann ihn mildern. Der Vorsehungsgedanke gerade ist es, mit dem die sittliche Freiheit in eine unheilbare Antinomie gerät, in die einzige grundsätzlich nicht lösbare Antinomie im Problemfelde der Freiheit. So kam es schon in der alten Stoa zutage, und so ist es in allem Formwechsel des Providenzgedankens geblieben. Aber es ist eine künstliche Antinomie, keine in Tatsachen und Phänomenen gegebene. Es ist also gar nicht nötig, sie zu lösen: man kann das Gegenglied zur Freiheit — eben die Vorsehung — einfach streichen. Die Antithese dieser Antinomie ist Menschenwerk, ist wenn schon nicht vom philosophisch-spekulativen, so doch vom naivspekulativen Bewußtsein erfunden. Nach dem Worte Demokrits: „die Menschen haben sich ein Idol des Schicksals gebildet zur Beschönigung ihrer eigenen Ratlosigkeit". Alles was klein und schwach und ratlos ist im Menschen, flüchtet sich hinter die Schicksalsidee. Und hat der Mensch sich hinter sie geflüchtet, so macht er sich mit ihr selbst noch erst recht klein und schwach; er sanktioniert die Idee und macht sich unglücklich. Vorsehung ist zu allen Zeiten von denen verfochten worden, denen es mit dem Ethos und der Verantwortung nicht letzter Emst des Lebens war; oder aber von denen, die einer strikten Konsequenz im eigenen Denken nicht mächtig waren. Der ethisch selbstbewußte Mensch in ihnen hatte den Konflikt
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13. Kapitel. Vordergründe und Hintergründe
dann auszufechten, oder er mußte das Rudiment des Schicksalsglaubens im eigenen Bewußtsein praktisch ignorieren. Der Mensch, einmal zum vollen Freiheitsbewußtsein erwacht, kann sich die Selbstbestimmung nicht rauben lassen, hängt aber noch rückgebunden fest an der Vorstellung der Vorsehung im Weltgeschehen. Diese ist ihm in sein Weltgefühl übergegangen, und so hängt er im Widerstreit fest. So nichtig die objektive Antinomie der Vorsehung sein mag, als subjektive Antinomie im menschlichen Welt- und Selbstbewußtsein ist sie doch sehr real und gewichtig und ist imstande, den Menschen zu lahmen. Nur ein entschlossenes Abschütteln kann ihn befreien. Der Vorsehungsgedanke ist so recht das Argument der menschlichen Schwäche, Passivität und des Sichtreibenlassens. Er ist charakteristisch für die unausgesprochene Axiomatik fast der ganzen spekulativen Metaphysik. Und es muß ausgesprochen werden, daß diese ehrwürdige Metaphysik im wesentlichen das Weltbild der Schwachen und Rückgebundenen gewesen ist, fast eine einzige Reihe von Teleologismen. Ihre Schöpfer kamen von jeher vorwiegend aus der Theologie her. Es gibt wenig aufrechte und heroische Metaphysik. Die alte, immer wiederkehrende, scheinbar unvermeidliche Teleologie des Weltgeschehens ist das exemplum crucis einer menschenwürdigen Philosophie. Hier ist die Krisis wirklich auf reine Entscheidung des Menschen gestellt. e. Anpassung und Formenteleologie Zieht man zu diesen Überlegungen auch noch das Phänomen des physikoteleologischen Scheines in die Betrachtung (Kap. 4d), so tritt neben die praktische Desorientierung auch noch eine theoretische. Daß alle niederen Wesen um der höheren willen da sind und so letztlich alles für den Menschen eingerichtet sei, diese Ansicht wurzelt in der Amphibolie des „Angepaßtseins", sofern dieses nicht sagt, was eigentlich wem angepaßt ist. Indem man die Welt dem Menschen statt ihn der Welt angepaßt sein läßt, kehrt man nicht nur das natürliche Verhältnis um, sondern gibt auch einer methodologischen Denkbequemlichkeit Raum, die fast schon Denkfaulheit zu nennen ist. Es kostet eben weit ausholende Arbeit des Begreif ens, der Vertiefung und Hingebung, das Eingepaßtsein des Menschen in die naturgegebenen Verhältnisse auf Grund von Anpassungsprozessen zu verstehen, die solche des Menschen sind. Erst spät ist die Wissenschaft vom Menschen dazu gekommen. Und immer noch widerstreben viele ihrer Vertreter der „Anstrengung des Begriffs", die dieser Weg erfordert. Der umgekehrte erscheint so viel einfacher. Und doch ergibt sich ein weit großartigeres und menschenwürdigeres Bild, wenn der Blick der naturgegebenen Dependenz in der Stufenordnung des Seienden folgt. Der Mensch ist dann nicht der umhegte und von der Natur versorgte, sondern der kämpfende und im Kampf mit
Anpassung und Formenteleologie
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überlegenen Mächten sich in ihr Hochringende. Auch in diesem Punkte gibt er mit dem Vorziehen des teleologischen Aspektes sich selbst preis. Man bedenke nun aber, daß auch die „Teleologie der Formen" (Einleitung 4), die so viele Systeme beherrscht hat, einen ganz ähnlichen Fehler begeht. Sie ist die charakteristische „Metaphysik von oben": da „hängt" alles Niedere am Höheren, „strebt" auf dieses hin, findet in ihm seine „Vollendung". Ob man sich die Art der Durchführung mehr nach Aristotelischer oder Plotinischer oder nach Schellingscher und Hegelscher Form denkt, ändert am Wesen der Sache nur wenig. Es ist und bleibt dieselbe Umkehrung der kategorialen Dependenz wie beim Anthropozentrismus, nur ohne das Abzielen auf den Menschen: die höchsten Formen beherrschen schon die Entfaltung der niedersten, darum entwickeln sich diese zu ihnen hinauf. Der Fehler ist hier zwar weniger verführerisch als dort, dafür aber um so gewichtiger der Sache nach. Denn hier geht es um ausgesprochene Inversion des kategorialen Grundgesetzes: die höheren Kategorien sind zu den stärkeren gemacht, und die höchsten sind die Grundlagen der Welt überhaupt. Über diesen ontologischen Fehler selbst ist hier kein Wort weiter zu verlieren; das kategoriale Grundgesetz aus aufzeigbaren Phänomenen nachzuweisen, ist Sache einer besonderen Disziplin, der allgemeinen Kategorienlehre, auf die hier nur verwiesen werden kann (vgl. „Aufbau der realen Welt", Kap. 56). Darüber hinaus aber ist es jetzt nicht schwer einzusehen, wo die Täuschungsquellen dieser Theorie liegen. Warum eigentlich muß es denn überhaupt eine „Vollkommenheit" der niederen Seinsform geben, die über diese hinausliegt ? Und warum, selbst wenn dem so sein sollte, muß sie auf diese „hinstreben" ? Wenn es schon zu jeder Form eine Vollkommenheit gibt und diese erstrebt wird, warum muß sie da gerade in der höheren Form liegen ? Diese hat doch vielmehr ihre eigene Artung und folglich auch ihre eigene Vollkommenheit, und zwar eine inhaltlich ganz andere, die unmöglich die der niederen Form sein kann. Es ist doch nicht einzusehen, warum das Ding, wenn es sich zum Organismus hinaufformen kann, dadurch „vollkommener" werden sollte; oder ebenso das Tier, wenn es zum Menschen wird. Hier überall ist die Höhe der Seinsform mit Vollkommenheit verwechselt. Das ist aber zweierlei sehr Verschiedenes. Jede Seinsstufe hat vielmehr ihre eigene Vollkommenheit; und es ist leicht zu sehen, daß die höheren Stufen die ihrige schwerer erreichen als die niederen. Es gehört eben bei ihnen unverhältnismäßig viel mehr dazu. Das Tier ist in seiner Weise unzweifelhaft vollkommener als der Mensch, schon darum, weil es unter seinen Artgesetzen unverbrüchlich steht und nicht von ihnen abweichen kann; der Mensch aber hat Freiheit, zu sein, wie er soll, oder nicht zu sein. Freiheit kann nur ein unvollkommenes Wesen haben. Das eben ist die Kehrseite seiner Seinshöhe: die Fähigkeit des Entgleitens und Abirrens.
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13. Kapitel. Vordergründe und Hintergründe
Vollends aber die eigentliche Teleologie in dieser Vollkommenheitsvorstellung ist reine Phantasie. „Hinstreben" zum höheren Formtypus könnte der niedere nur, wenn er ihn sich zum Ziel setzen könnte. Dazu aber fehlen ihm die kategorialen Bedingungen, das Bewußtsein als Träger der ersten beidenAkte des Finalnexus : der Zwecksetzung und der Auswahl der Mittel vom gesetzten Zweck aus. Nur solange konnte sich die Vorstellungsweise der Formenteleologie halten, als es an geeigneter Kategorialanalyse ihrer Voraussetzungen fehlte. Mit dem Einsetzen des Verständnisses für die Struktur des Finalnexus ist ihr jeder Boden unter den Füßen weggezogen.
NICOLAI
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Frankfurter Allgemeine Zeitung
„. . . So ist nun eine Übersicht möglich, wie sie auf andere Weise wohl kaum gegeben werden konnte, und der Leser erfährt von den Sdiidcsalen einer ganzen Anzahl deutscher Philosophen, die ihr Vaterland verlassen mußten. Audi die Philosophie des Auslandes hat starke Berüdtsiditigung erfahren."
Professor Menzer in der Theologisdien Literaturzeitung, Leipzig
,,. . .Signalons que l'attention de l'auteur s'est portée surtout sur les philosophes de la seconde moitè du XIXième et du XXième siècle pour lesquels un répertoire aussi complet n'existait pas encore."
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ein kostbares
Geschenk für jeden, der sich dem
geistigen Menschen und seiner Welt verbunden fühlt. Das Bild eines deutschen Gelehrten, der auf Grund seiner Lebensleistung höchste akademische und staatliche Ehren empfing, ersteht von neuem mit seinen inneren und äußeren Kämpfen und Erfolgen. Der viel umstrittene, zu neuen Betrachtungen und Einsichten weisende Theologe und Kirchenhistoriker, direktor zialen
der
Preußischen
Kongresses
Bibliothek,
der
und der hochverdiente
derung der Wissenschaften jedenfalls
kluge
und
Präsident
warmherzige der
der gelehrte
Leiter
des
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
ist eine Erscheinung jener Zeit gewesen,
General-
Evangelisch-Sozur
deren
För-
Spuren
auch in unseren Tagen nicht vergangen sind. Aus dem ungemein farbigen Bild mit seinem Stüde Zeitgeschichte heben sich zahlreiche Details heraus, die den Menschen und Gelehrten Adolf von Harnack,
seine
großen und kleinen Zeitgenossen,
seine berühmten
Freunde
und seine
hoch-
gebildete Familie lebendig erstehen lassen. Besonders ernst und liebevoll schildert die Tochter den großen religiösen Kampf ihres Vaters, der sich um der Wahrheit willen aus überkommenen dogmatischen Vorstellungen lösen mußte und trotzdem ein gläubiger Ghrist und treuer Sohn der evangelischen Kirche blieb."
dpa
ADOLF
VON
HARNACK
Ausgewählte Reden und Aufsätze Anläßlidi des 100. Geburtstages des Verfassers neu herausgegeben von D. Dr. A g n e s
von Z a h n - H a r n a c k
und Dr. A x e l
von
t
Harnack
Oktav. VIII, 216 Seiten. 1951. Ganzleinen DM 12,80 Die Persönlichkeit A d o l f
von
H arracks
ersteht von neuem in dieser Auswahl seiner
Reden und Aufsätze, die die früh verstorbene Tochter,
die feinfühlende Verfasserin
der Bio-
graphie des Vaters, und der jüngste Sohn getroffen haben. Die Beiträge zeugen von dem weiten Horizont des theologischen Forschers und Organisators der Wissenschaften,
des Generaldirektors
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft,
der Preußischen
Staatsbibliothek
und
ersten
Präsidenten
den mit Recht Theodor Heuß ,,nadi und neben Leibniz den
größten Enzyklopädisten der deutschen Geisteswelt" genannt hat.
WALTER
DE G R U Y T E R
& CO., B E R L I N
W35
HANS
LUNGWITZ
Psychobiologie Erschienen
sind
bisher
die
Bände:
Die Entdeckung der Seele 5. Auflage, DM 28,—
Das Lehrbuch der Psychobiologie bisher 6 Bände, DM 188,—
1. Abt.: Die Welt ohne Rätsel Bd 1:
Das Wesen der Anschauung,
Der Mensdi als Reflexwesen,
Von den Eigenschaften
und Funktionen. 755 S. DM 30,— Bd. 2 : Die neun Sinne. 585 S. DM 28,— Bd. 3: Die Psydiobiologie der Sprache. 392 S. DM 20,—
2. Abt.: Die Psychobiologie der Entwicklung Bd. 4: Der Mensdi als Organismus, Die Kultur. 801 S. DM 40,— Bd. 5: Die Weltanschauung, Der Charakter.
676 S.
DM 30,—
3. Abt.: Die Psychobiologie der Krankheit Bd. 6: Das Wesen der Krankheit und der Genesung. 551 S. DM 40,— Jede Abteilung
Ist In sich Abgesdilossen
Weiterhin
und
verstandlidi
erschien:
Erkenntnistherapie für Nervöse 7. Aufl. DM 12,—
Psydiobiologie der Volksseuche Neurose 92 S. DM 6,40 „Lungwitz geht mit sidi äußerst streng ins Gericht. Nicht bloß in der Grundsätzlichkeit seiner Fragestellung, sondern audi in der Forderung der unbeschränkten Fundierung, des Nachweises der allgemeinen Gültigkeit, der Durchführung der Lehre bis zu den letzten Folgerungen. Und so hat er in unermüdlicher Arbeit ein Hodigebirge Von Tatsachen hingebaut, an dem jeder Zweifel verstummen muß . . Kant-Studien, 1936 H. 1—2. ,,Lungwitz weist unwiderleglich nach, daß alle sog. seelisch-geistigen Vorgänge biologische und aus der Struktur und Funktion des Nervensystems vollkommen verstehbar sind. Und hier liegt das — man darf wohl sagen: unsterbliche Verdienst Hans Lungwitzens.M Zeitschr. f. Psydiol., 1936, Bd. 138 H. 1 - 3 . ein weltanschaulicher, erkenntnistheoretischer Fortschritt, wie er ein zweites Mal nicht ausdoikbar erscheint. . . . Seltenheitsleistung ganz hohen Ranges . . ." Ztschr. f, pädagog, Psydiol., 1937, Nov.
WALTER
DE G R U Y T E R
& CO., B E R L I N
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