Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung: Versuch einer Analyse seiner Theologie 9783666558016, 5525558015, 9783525558010


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German Pages [324] Year 1979

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Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung: Versuch einer Analyse seiner Theologie
 9783666558016, 5525558015, 9783525558010

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Sigrid Großmann Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM A U F T R A G

DER

HISTORISCHEN ROMMISSION ZUR E R F O R S C H U N G D E S P I E T I S M U S

HERAUSGEGEBEN

VON

K. A L A N D , E. P E S C H K E UND M. S C H M I D T

BAND 18

VANDENHOECR & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

FRIEDRICH CHRISTOPH OETINGERS GOTTESVORSTELLUNG V E R S U C H E I N E R ANALYSE SEINER THEOLOGIE

VON

S I G R I D GROSSMANN

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

CIP-Kurztitelaufnahme Großmann,

der Deutschen

Bibliothek

Sigrid:

Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung: Versuch e. Analyse seiner Theologie / von Sigrid Großmann. — Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 18) ISBN 5-525-55801-5

Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Baden-Württemberg © Vandenhoeck & Ruprecht, Güttingen 1979. — Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Ruch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem W e g e zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen.

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 1977 abgeschlossen und im Sommersemester 1977 unter dem Titel „Gott als Leben spendendes Leben. Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung" von der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie angenommen. Sie hat zur Drucklegung an einigen wenigen Stellen stilistische Änderungen erfahren und wurde um das Schlußkapitel „Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse" erweitert; die seither erschienene Literatur konnte jedoch nicht nachgetragen werden. Mit der Veröffentlichung verbinde ich den Dank an meine akademischen Lehrer in Saarbrücken. Mein Dank gilt in besonderer Weise Herrn Prof. Dr. Ulrich Mann, der meine Arbeit mit Ermunterung und Rat begleitete. Der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus danke ich für die freundliche Aufnahme in die Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus". Für Druckzuschüsse gilt mein herzlicher Dank dem Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart und der Evangelischen Kirche im Rheinland. Mein Dank gilt auch der Zentralen Kommission für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Universität des Saarlandes, durch welche mir der Abschluß der Arbeit ermöglicht wurde.

5

INHALT Vorwort

5

Zur Einführung 1. Kapitel:

Oetingers

11 Werk als Problem

seiner Ausleger

1. Erste Versuche der Deutung und Einordnung 2. Oetinger als Vorläufer von Theosophie und Anthroposophie 3. Oetinger-Rezeption in der NS-Zeit 4. Oetinger zwischen Philosophie und Theologie 5. Oetingers Wirkung auf unsere Zeit 6. Präzisierung des eigenen Ansatzes und der Aufgabenstellung 2. Kapitel:

Genese der Philosophie

und Theologie

Oetingers

1. Das Problem 2 Prägungen der Kindheit 3. Bildungsquellen aus Philosophie und Theologie a) Erste Einflüsse b) Israel Gottlieb Canz c) Georg Bernhard Bilfinger d) Gottfried Wilhelm Leibniz e) Nicolas Malebranche f) Jakob Böhme g) Johann Albrecht Bengel h) Zusammenfassung 3. Kapitel: Die Basis Oetingers philosophisch-theologischen Denkens — seine Erkenntnistheorie 1. Grundlegung 2. Bibelverständnis und Bibelbetrachtung a) Wesen und Funktion der Bibel b) Methode der Bibelbetrachtung 3. Naturverständnis und Naturbetrachtung a) Wesen und Funktion der Natur b) Methode der Naturbetrachtung 4. Zusammenschau

14 14 18 22 24 29 37 39 39 41 45 45 46 48 52 57 59 66 72

73 73 76 76 81 88 88 93 95 7

5. Erkenntnistheorie a) Erkenntnis aa) natürliche und göttliche Erkenntnis ab) Zentralerkenntnis b) Erfahrung ba) Empfindung bb) sensus communis c) Methoden 6. Rückgriff und Ausblick 4. Kapitel:

Oetingers Gottesvorstellung

1. Gott - das Leben a) Leben — die Vielfalt von Kräften b) Gott in seinem Wesen ba) in seiner Tiefe als unbewegliche Ruhe bb) als actus purissimus bc) als Herrlichkeit und Weisheit 2. Gott — der Schöpfer und Erhalter a) Gottes Leben als Bewegung und Entfaltung aa) Jakob Böhmes Qualitäten und deren Rezeption durch Oetinger ab) Die Sefirothlehre der Kabbala und deren Deutung durch Oetinger ac) Die Funktionen von Sefiroth und Qualitäten. Oetingers sieben Geister b) Gottes Freiheit. Seine Selbstbewegungskräfte. Oetingers Position in der Auseinandersetzung ba) Malebranches Occasionalismus bb) Leibnizens Panlogismus bc) Böhmes klare Gottheit als freie Lust c) Gott der Schöpfer ca) Die Schöpfung aus dem Nichts cb) Schöpfung als Geschehen in Zeit und Raum cc) Die Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung cd) Die Erschaffung von Welt und Mensch ce) Das Verhältnis Gottes zu seiner Welt d) Gott der Erhalter 3. Gott — der Liebende und Zürnende a) Gottes Liebe — Gottes Zorn. Vom Ursprung des Bösen. b) Prädestination und Gnade c) Gottes Eigenschaften 8

98 98 98 100 105 105 106 114 115 117 119 122 130 130 132 138 151 152 152 167 179 185 188 190 196 203 203 209 214 219 248 255 262 262 269 274

4. Gott — der Eine und Dreieine a) Trinität in der Sprache kirchlicher Orthodoxie b) Trinität in der Ausdrucksweise der Kabbala c) Zusammenfassung und Beurteilung d) Das Weibliche in der Gottheit 5. Kapitel:

Zusammenfassung

der Arbeitsergebnisse

277 278 281 290 292 298

Anhang: Anlagen

309

Verzeichnis der Literatur

313

9

ZUR

EINFÜHRUNG

Die Forschung spricht Friedrich Christoph Oetinger (1702—1782) — Pfarrer in Hirsau, Schnaitheim und Walddorf, Dekan in Weinsberg und Herrenberg, Prälat in Murrhardt — eine besondere Stellung innerhalb seiner Zeit zu, sei es zustimmend die eines echten Polyhistors, der in Theologie und Naturwissenschaft sich auskannte, Alchemie, Psychologie und Geheimwissenschaften betrieb und die — manchmal entlegenste — Literatur des 18. Jahrhunderts verarbeitete, sei es weniger positiv die eines rastlosen und sich eklektisch verzettelnden Wissensdurstigen. Aber immer wird ihm Originalität eingeräumt, die nichts mit Absonderlichkeit und Spintisiererei zu tun hat, sondern die immer wieder — auch gerade wegen Oetingers Einfluß auf Persönlichkeiten aus Philosophie und Literatur — zu neuen Untersuchungen Anlaß gibt. Seine Schriften sind — mit wenigen Ausnahmen — bereits während seines Lebens im Druck, zum Teil mehrfach, erschienen, auch wenn ihr Erscheinen nicht immer selbstverständlich und problemlos geschah. 1 Auch nach seinem Tod am 10. Februar 1782 rissen die Veröffentlichungen nicht ab. Doch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah man sich als Herausgeber genötigt, eine Rechtfertigung für den Wiederabdruck von Oetinger-Schriften zu geben. Bei C.G. Barth 2 , der Oetinger den Ehrennamen „Magus im Süden" 3 gegeben hat, liest man darum: „Ein Ree. in der J e n . Lit. Zeit, (wenn ich nicht irre) hat sich darüber gewundert, daß man Brosamen aufhebe von solchen Männern, die so schlechte Stylisten' gewesen. Ich habe nichts dagegen, wenn man sie so nennt, wollte auch keine Probe deutscher Wohlredenheit liefern; aber ich bedaure den Geschmack des Ree. wegen dieser Bemerkung, und bleibe auf meinem

1 Vgl. K. Ch. E. Ehmann, Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen Schriften, Stuttgart 1859, 2 9 1 . 2 9 2 . 2 9 6 . 3 0 2 . 2 Süddeutsche Originalien, 3 H e f t e , Stuttgart 1828, 1829 und 1832. 3 Barth, H e f t 1,4; der oben genannte Titel wird häufig in der Sekundärliteratur — auch in Abänderungen — verwendet, ohne daß j e d o c h der Urheber genannt würde (vgl. J . A . Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 2. Bd, 2. Α., Berlin 1853, 1022 Anm. 3: „Magus aus Süden"; Wilhelm-Albert Hauck, Das Geheimnis des Lebens. Naturanschauung und Gottesauffassung Friedrich Christoph Oetingers, Heidelberg 1947, 11: ,,Magus des Südens"; Heinrich Hermelink, Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis zur Gegenwart, Stuttgart und Tübingen 1949, 231: ,.Magus des Südens".

11

G l a u b e n , d a ß a u c h s c h l e c h t e S t y l i s t e n στύλοι, της εκκλησίας sein k ö n n e n " . 4 A u c h die N a c h f o l g e r r e a g i e r e n ä h n l i c h : es ist n i c h t selbstverständlich, Oetinger „unter den N a m e n der großen, bedeutenden T h e o l o g e n ö f f e n t l i c h " 5 e i n z u r e i h e n . D a s I n t e r e s s e an s e i n e m Werk verl ö s c h t j e d o c h eigentlich nie g a n z 6 , o b w o h l es w e g e n der Fülle seiner A r b e i t e n 7 u n d d e r Vielzahl der E r s c h e i n u n g s - u n d F u n d o r t e schwierig ist, ihn u n d sein Werk z u m , F o r s c h u n g s p r o j e k t ' z u m a c h e n . D a s gilt a u c h n o c h h e u t e . O e t i n g e r s E i n z e l s c h r i f t e n sind nur m ü h s a m z u s a m m e n z u t r a g e n ; die v o n E h m a n n b e s o r g t e A u s g a b e seiner „ S ä m t l i c h e n S c h r i f t e n " , d e r e n erster B a n d 1 8 5 5 e r s c h i e n e n ist, ist i m P r i n z i p u n v o l l s t ä n d i g u n d , d a n i c h t m e h r a u f g e l e g t , sehr s c h w e r z u g ä n g l i c h ; d i e s p ä t e r h i n u n d w i e d e r a u f g e l e g t e n E i n z e l s c h r i f t e n 8 sind z w a r n o c h erhältlich, a b e r in d e r A n z a h l s o gering, d a ß v o n e i n e m r e p r ä s e n t a t i v e n Q u e r s c h n i t t n i c h t g e s p r o c h e n w e r d e n k a n n . U m s o e r f r e u l i c h e r ist es, d a ß eine historischk r i t i s c h e A u s g a b e seiner Werke in A n g r i f f g e n o m m e n w u r d e . 9 D a a b e r 4 Barth, Vorrede zu Heft 3, o. S. 00. 5 Julius Hamberger, Des württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetingers Selbstbiographie mit einem Vorwort von C. H. von Schubert, Stuttgart 1845, XI. 6 Vgl. dazu das Verzeichnis der Literatur über Oetinger. 7 Den ersten Versuch, Oetingers Schriften zusammenzusuchen und aufzulisten, um einen Überblick über sein Gesamtschaffen zu gewinnen, unternimmt Julius Hamberger. In der von ihm 1845 herausgegebenen Selbstbiographie Oetingers findet sich ein Anhang mit 70 Titeln. Eine umfassendere Sammelarbeit gelingt danach Karl Christian Eberhard Ehmann; in seinem 1859 herausgebrachten Werk „Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe" (Stuttgart 1859) umfaßt das chronologische Verzeichnis (Ehmann 837—847) 110 Titel, worunter auch Schriften fallen, die Ehmann vom Inhalt her unbekannt geblieben sind. An eine systematische Zusammenstellung der Arbeiten Oetingers macht sich dann erst wieder Gottfried Mälzer mit dem Band „Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts" (Berlin 1972; Friedrich Christoph Oetinger 2 3 1 - 2 7 9 ) . Die Arbeit weist für Oetinger die Bibliographien und Sammlungen von Briefen, Gebeten, Gedichten, Liedern und Predigten nach und führt darüber hinaus die einzeln erschienenen Schriften in allen Auflagen bis 1968 an. Trotz der insgesamt ausgezeichneten Information sind leider die angegebenen Fundstellen bei einigen Ziffern bereits überholt. Aber auch ihm sind Texte Oetingers unbekannt geblieben, worauf Reinhard Breymayer aufmerksam macht (vgl. den Artikel: „Gott-geheiligte Poesie". Vergessene Gedichte Friedrich Christoph Oetingers aus den Jahren 1722—1737, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 75. J g . 1975, 32—50, und eine Vorankündigung zur historisch-kritischen Ausgabe von Oetingers „Lehrtafel der Prinzessin Antonia", wo von 30 bisher nicht erfaßten Oetinger-Titeln gesprochen wird, wobei es sich um nicht bekannte Ausgaben und um völlig unbekannte Texte der Frühzeit Oetingers handelt. Die Ausgabe ist bereits erschienen, vgl. Anm. 10). Vgl. dazu das Verzeichnis der Schriften Oetingers. Texte zur Geschichte des Pietismus, im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von Kurt Aland, Erhard Peschke, Martin Schmidt; Abteilung VII: Friedrich Christoph Oetinger, hg. von Gerhard Schäfer und Martin Schmidt. 8

9

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bei Abschluß dieser Arbeit noch kein Band erschienen war, bestand auch nicht die Möglichkeit, das wissenschaftlich erarbeitete Material in diese Arbeit einzubringen. Dagegen ist nunmehr bei Zitierungen der bisher erschienene Band der „Lehrtafel der Prinzessin Antonia" 10 herangezogen worden; für alle übrigen steht als Grundlage die Ausgabe von Ehmann; die Zitate aus ihr werden wie folgt vorgenommen: die erste Ziffer entspricht der Abteilung, die zweite dem Band und die dritte der Seitenzahl. Beim Zitieren ist — ausgenommen die historisch-kritische Ausgabe der Lehrtafel — die Orthographie weitgehend den heutigen Schreibgewohnheiten angepaßt und die Zeichensetzung den gängigen Regeln angeglichen, um ein einigermaßen einheitliches Schriftbild zu erreichen. Die in den Anmerkungen verwendeten Kurztitel sind im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt. 10

Band 1: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia, hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häussermann, Teil 1 Text, Teil 2 Anmerkungen, Berlin 1978; in Vorbereitung: Theologia ex idea vitae deducta, hg. von Konrad Ohly; Biblisch-Emblematisches Wörterbuch, hg. von Ursula Hardmeier; Inquisitio in sensum c o m m u n e m , hg. von Konrad Ohly.

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1. KAPITEL: O E T I N G E R S WERK ALS P R O B L E M S E I N E R A U S L E G E R

1. Erste Versuche der Deutung und Einordnung Die Auseinandersetzung mit dem theologischen Denken Oetingers setzt mit Carl August Auberlen ein. Das von Richard Rothe verfaßte Vorwort zu Auberlens Arbeit „Die Theosophie Friedrich Christoph Oetingers nach ihren Grundzügen" 1 gibt die Grundstimmung an, in der Auberlen Oetinger und dessen Werk würdigt: „Oetinger steht in seiner Zeit als eine ahnungsreiche, prophetische Erscheinung da, beschienen von den ersten Strahlen der eben erst am Horizont auftauchenden Sonne eines neuen Tages". 2 Rothe sieht in Oetinger den Verkünder einer neuen Theologie, die dieser allerdings „erst weissagen, noch nicht selbst bringen (kann). Er kann nur erst mit der prophetischen Zuversicht des Entdeckers die Theologie auf die Himmelsgegend hinweisen, in der für sie ein neues Land liegt, die ersehnte Küste desselben erreicht er selbst noch nicht auf seiner Fahrt". 3 Oetingers Grundrichtung, den Kampf gegen jeden Idealismus, um zu einem Realismus zu kommen, der nur mit der Natur von einem realen göttlichen Sein reden kann, bejaht auch Rothe, muß aber die Einschränkung machen, daß Oetingers Größe in seinem Wollen liegt, nicht aber im Erreichten und Geleisteten. 4 Zu sehr sei Oetingers Begrifflichkeit noch „bildlich verpuppt" 5 , als daß mit ihr bereits ein strenges, doch einfaches und übersichtlich gegliedertes System erreicht werden könnte. 6 Sieht Rothe das ,Unvermögen' Oetingers zu einem System doch weitgehend im Formalen begründet, so argumentiert Auberlen: „Oetinger nämlich hat ein System; . . . und es wird aus der folgenden Darstellung unzweideutig hervortreten. Aber es hängt eben mit seinem innersten Wesen zusammen, daß er es . . . nie wirklich als System dargestellt hat: auch nicht in der theologia ex idea vitae deducía". 7 Auberlen sieht als 1

Tübingen 1847. Auberlen V. 3 Auberlen V. 4 Vgl. Auberlen XIV. 5 Auberlen XIV. 6 Vgl. Auberlen XIV. 7 Auberlen 41. 2

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Mittelpunkt der Arbeit Oetingers die „lebensvolle Zusammenschau der Natur und des G e i s t e s " 8 ; die Vermittlung von Natur und Geist wird darum auch das Kriterium für Auberlens Arbeit, die das ,System' Oetingers darlegen will. Entsprechend ist sein Buch gegliedert: Es gibt den ersten, formalen Teil, der die Naturerkenntnis und die Geisteserkenntnis beschreibt, die zur Philosophia sacra hinführen, „welche die höhere Einheit, der Inbegriff der Natur- und Geisteserkenntnis i s t " . 9 Es gibt den zweiten, materialen Teil, in dem sich nun jenes Prinzip an den dogmatischen Loci G o t t , Welt, Christus und Weltvollendung zu bewahrheiten hat. Daß Auberlen in der Versöhnung von Natur und Geist Oetingers Hauptanliegen sieht, verdeutlicht darüber hinaus der „ A n h a n g " seines Buches, wo er nochmals — diesmal weniger referierend, mehr interpretierend — von Oetingers Naturanschauung und seinem theosophischen Gottesbegriff handelt. Aufgrund dieses Prinzips wird Oetingers auch bei Auberlen nie bestrittene Vielfalt der Ansätze und Ausformungen — ganz zwangsläufig — in einer bestimmten Weise eingegrenzt. Auch Julius Hamberger unterscheidet sich im methodischen Vorgehen nicht von Auberlen. Zwar ist er zunächst mehr als der Herausgeber von Oetingers Schriften anzusehen 1 0 , doch geht sein Interesse j a auch damit auf die Darlegung des Gehaltes jener Schriften. So pflegt er in seinen Vorbemerkungen zur Übersetzung der „Theologia ex idea vitae d e d u c í a " mit dem Titel „Über Oetingers Idee des Lebens in Bezug auf die Philosophie und Theologie seiner sowie der gegenwärtigen Z e i t " 1 1 ebenfalls die additive Methode, die einen ausgesprochenen Gedanken durch weitere Zitate anderer Schriften erhärtet, ohne auf den jeweils spezifischen Ductus einer Schrift und ihren geschichtlichen Hintergrund zu achten. Während Oetinger von Auberlen jedoch — trotz des angelegten Prinzips — noch als ein Theologe vorgestellt wird, der sein Denken in Weite und Umfassenheit anlegt, wird er von Hamberger in der theologischen Zielrichtung eingeengt und festgelegt: „Oetinger bietet Alles auf, die große Idee des Lebens zur allgemeinen Anerkennung auf dem Gebiet der Wissenschaft zu b r i n g e n " 1 2 ; sie bedarf — so Hamberger — allerdings noch der „Anerkennung einer wirklichen Materie und Leiblichkeit" 1 3 , um zur Vollendung zu gelangen. S o wird bei Hamberger das die AusAuberlen 20. Auberlen 106. 1 0 Hamberger ist der Herausgeber der Selbstbiographie, des Biblisch-emblematischen Wörterbuchs und der Übersetzung der lateinischen „ T h e o l o g i e " . 8

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1 1 Vgl. J u l i u s Hamberger, F. Ch. Oetinger: Theologia ex idea vitae dedueta (deutsch), Stuttgart 1852, 9 - 2 9 . 1 2 Hamberger, Theologie 17 (Sperrung aufgehoben). 1 3 Hamberger, Theologie 21.

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sagen Oetingers tragende und leitende Prinzip die „Idee des Lebens, welche in und mit dem Begriff der höheren Leiblichkeit ihre Vollendung findet". 1 4 Auch J . A. Dorner 1 5 erkennt Oetinger als einen Theologen, dem „das Leben . . . das Erkennenswerteste" 1 6 ist, der aber auch eine „Geistesphilosophie erstrebt". 1 7 Dorner legt daher in seiner „Geschichte der protestantischen Theologie" 1 8 Oetingers Anschauungen unter den beiden Stichwörtern Naturphilosophie und Geistes-/Geschichtsphilosophie dar. Doch wegen der in einer Dogmengeschichte gebotenen Kürze können Feinheiten und Einzelzüge des Oetingerschen Denkens nicht voll zum Tragen kommen. Anders dagegen in der „Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi". 1 9 Hier wird in Ausführlichkeit Oetingers Vorstellung von Leben und Leiblichkeit, von Materie und Geist entfaltet, seine Anschauungen von Gott und Christus dargelegt; dennoch darf nicht übersehen werden, daß sie getan werden auf dem Hintergrund der Ansicht, Oetinger schreibe eine „Philosophia sacra, mit Christus als Mittelp u n k t " . 2 0 Aber auch für Dorner gilt wie für die übrigen vorher Genannten: Aus Oetingers Ausführungen wird ein System geformt, dem keine Betonungen, Eingrenzungen oder Nebeneinwürfe Oetingers entnommen werden können, die er — aufgrund der historischen Situation — gesetzt hat. Neben einer beinahe enthusiastischen Charakterisierung Oetingers 21 findet sich jedoch auch Widerspruch, zwar nicht im inhaltlichen, aber doch im formalen Bereich. 2 2 Besondere Bedeutung ist Dorner aber deswegen zu1 4 Hamberger, Theologie 28 (Sperrung aufgehoben); sicherlich ließe sich in diesem speziellen Fall mit dem Hinweis argumentieren, Hamberger habe ein Vorwort zu einer Schrift verfaßt, deren Ductus eben die ,Idee des L e b e n s ' ist; j e d o c h : die Ausführungen in den übrigen Schriften bestätigen die vorgetragene These. 1 5 Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 2. Bd, 2. Α., Berlin 1853; Geschichte der protestantischen Theologie, besonders in Deutschland, 2. Α., München 1867. 1 6 Dorner, Geschichte 6 5 9 . 1 7 Dorner, Geschichte 6 6 0 (Sperrung aufgehoben). 1 8 2. Α., München 1867. 1 9 2. Bd, 2. Α., Berlin 1853. 2 0 Dorner, Entwicklungsgeschichte 1023. 2 1 Vgl. Dorner, Geschichte 6 5 8 : „Eine kindlich einfältige Frömmigkeit vereinigt sich in seinem gewaltigen Geist mit einem unauslöschlichen Wissensdurst, mit ausgebreiteter Gelehrsamkeit und einem hellen, philosophisch gebildeten V e r s t a n d " ; vgl. Dorner, Entwicklungsgeschichte 1 0 2 2 : „ Ü b e r ihm [Hamann] steht an Gelehrsamkeit und philosophischer Bildung Oetinger, ein ebenso f r o m m e r als geistvoller M a n n " (Sperrung aufgehoben). 2 2 Vgl. Dorner, Geschichte 6 6 1 : „ A b e r er hat . . . gewöhnlich nur fragmentarische Sätze, o f t einzelne Geistesblitze enthaltend, mitgeteilt. Nur die Theologia ex idea

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zumessen, weil er „zuerst die historische Pflicht an seinem Landsmann zu erfüllen begann. Die Dogmengeschichte hatte vordem gar keine Notiz von dem schlichten Prälaten . . . genommen". 2 3 Albrecht Ritsehl spricht als erster in seiner „Geschichte des Pietismus" 2 4 recht scharf von Schwächen Oetingers. 2 5 Darunter zählt er den zu gewinnenden Eindruck der Heterodoxie 2 6 , die Unklarheit des Ausdrucks 2 7 und die Verwendung der chemischen Begriffe 2 8 ; neben diese Schwächen zur Form treten — so Ritsehl — auch inhaltliche. Oetinger habe an die Stelle der Kombination Philosophie und Religion eine andere gesetzt, „welche freilich nicht minder fehlerhaft ist" 2 9 : die von Naturwissenschaft und Theologie. Abgesehen von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit dieser Kombination sieht Ritsehl auch die Begründung hierfür als bedenklich an, nämlich die Hypothese zur Erklärung der Welt in der Bibel bezeugt zu sehen. Indem Oetinger die Bibel „als Dokument einer objektiv metaphysischen Weltanschauung gebraucht" 3 0 , begeht er einen gravierenden Fehler. Weiterhin sieht Ritsehl den Offenbarungsbegriff gefährdet. Da Oetinger mit Böhme die ewige Geburt Gottes ,vor' der Offenbarung festhält, anerkenne er nicht mehr den Wert der Offenbarung; meinte er es mit der Offenbarung Gottes ernst, so müßte er das Wesen Gottes in dem Willen Gottes erkennen. 3 1 Und als letzter Einwand gilt: Die Leiblichkeit sei bei Oetinger nur negativ bestimmt, wodurch absolut keine Klarheit darüber erreicht werde, worin die Bestimmung des Geistes bestehe. 3 2

vitae dedueta ist mehr systematisch gehalten . . . Seine Darstellungsweise steht durch altertümlichen derb popularen T o n in seltsamem Kontrast zu der Sprache und Methode der Aufklärungszeit"; Dorner, Entwicklungsgeschichte 1023: „Oetinger fehlt zwar in der Theologie der geschichtliche Blick, daher auch der kirchliche Ton." 23

Auberlen 36. M 3. Bd, Bonn 1886. 25 In seinem Buch „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung", 3 Bde, Bonn 1 8 2 2 f f , äußert sich Ritsehl nicht so hart; er formuliert: „Wie fremdartig nun auch vieles Einzelne in der theosophischen Sprache und Gedankenbildung des tiefsinnigen Mannes für mich ist und bleibt, so will ich gern gestehen, daß die großartige Unabhängigkeit seiner biblischen Kombination auch für denjenigen etwas Erhebendes hat, der weder mit ihnen durchaus übereinstimmen kann, noch die Nachahmung jenes Vorbilds für empfehlenswert achtet" (608). 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Ritsehl, Geschichte Vgl. Ritsehl, Geschichte Vgl. Ritsehl, Geschichte Ritsehl, Geschichte 128. Ritsehl, Geschichte 129. Vgl. Ritsehl, Geschichte Vgl. Ritsehl, Geschichte

2 G r o ß m a n n , Oetinger

126. 126. 143.

141. 143.

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Trotz dieser harten Kritik gerade an jenen Ansätzen Oetingers, die ihm von besonderer Bedeutung sind, sieht Ritsehl in Oetinger dennoch den genialsten Theologen Württembergs 3 3 — Oetinger fällt das Verdienst zu, „dem aus Melanchthon's Saat entsprossenen Lehrgefüge, welches bis dahin die evangelische Theologie ausmachte, durch die Verwendung der teleologischen Kosmologie des Paulus ein wirkliches System gegenüber gestellt zu h a b e n " 3 4 ; ihm erwächst Größe wegen der Korrelierung von Gemeinde Christi und Hohempriestertum Christi, denn in Christus und dessen Gemeinde verwirkliche sich der Vorsatz Gottes, die Tiefen des göttlichen Lebens zu offenbaren. 3 5 „Hätte Oetinger anstatt der physischen Grundbegriffe zur Deutung der Realität Gottes und seiner Offenbarung ethische angewendet, so würde er diese Kombination noch deutlicher gemacht haben". 3 6 Wohl bei keinem der Vorgenannten wird so deutlich wie bei Ritsehl sichtbar, wie stark der Darstellende von seiner eigenen Position aus Oetinger angeht.

2. Oetinger als Vorläufer von Theosophie und Anthroposophie Emil Bock erklärt in seinem Buch „Vorboten des Geistes. Schwäbische Geistesgeschichte und christliche Z u k u n f t " 3 7 Oetinger unumwunden zum „Vater einer schwäbischen Theosophie" 3 8 , muß im Anschluß jedoch eingestehen, daß „eine schwäbische Theosophie . . . sich über Oetinger hinaus eigentlich nicht zu entwickeln vermocht (hat)". 3 9 Im Verlauf legt er dar: Oetingers Beitrag zum Aufbau einer „christlich-theosophischen Weltanschauung" bestehe darin, „in die Fülle der Mysterien . . . , die in der Raumeswelt schlummern" 4 0 , eingedrungen zu sein. Oetinger gewänne deswegen so große Bedeutung, weil nicht mehr nur Gott als der alles Menschliche Überschattende dargelegt werde, sondern die menschliche Persönlichkeit den Ton angebe 4 1 , insofern nämlich, als nur sie mit 33

Vgl. Ritsehl, Geschichte 126. Ritsehl, Geschichte 146. 35 Vgl. Ritsehl, Geschichte 143. 36 Ritsehl, Geschichte 143. 37 Stuttgart 1929; zitiert wird nach dem Sonderdruck „Christliche Theosophie. J. A. Bengel und Fr. Chr. Oetinger", Stuttgart o.J. 38 Bock, Theosophie 1. 39 Bock, Theosophie 1. 40 Bock, Theosophie 2. 41 Vgl. Bock, Theosophie 11. 34

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ihrer Seele und mit ihrem Schicksal die „übersinnliche" Welt zu erfahren vermag; diese Erfahrungen aber führten Oetinger — so Bock — zum Studium der irdischen Elemente. 4 2 „Er wurde Alchymist und begann das zu entwickeln, wo sein eigentlicher Beitrag zum A u f b a u einer theosophischen Weltanschauung sein sollte: eine christliche Naturwissenschaft, eine sakramentale C h e m i e " . 4 3 Bock sieht damit das Hauptanliegen Oetingers in einer neuen Naturwissenschaft, die einen Blick entwickelt für die „höheren Daseinsschichten", in die „alles Irdisch-Stoffliche . . . e i n g e b e t t e t " 4 4 ist; anders gesagt: in einer Naturwissenschaft, die die „übersinnliche Kräftewelt r e a l " 4 5 einbezieht. Insofern die Anthroposophie „eine neue umfassende Weltanschauung und eine eindringliche Seelenschulung (gibt), ist darin eine wahre Fortentwicklung dessen lebendig, was Oetinger erstrebt h a t " . 4 6 Wilhelm August Schulze nennt in seinem Aufsatz „Sind Bengel und Oetinger Vorläufer der A n t h r o p o s o p h i e ? " 4 7 Bocks Abhandlung einen „Anbiederungsversuch bei den Machthabern des Dritten R e i c h s " 4 8 , der mißlungen sei. Es läßt sich sicherlich nicht übersehen, daß Bock im Vorwort zur zweiten Auflage seines B u c h s 4 9 im Sprachlichen der nationalsozialistischen Ideologie nahekommt; damit lassen sich aber inhaltliche Nähen zwischen Oetinger und der Anthroposophie nicht aus der Welt schaffen. Schulze versucht nur sehr oberflächlich, Bocks Interpretationen zurückzuweisen, argumentiert dabei kategorisch und absolut und ist dennoch ungenau 5 0 ; im ganzen läßt der Aufsatz in seinem Ergebnis Wünsche offen. Otto Herpel stellt in seiner Arbeit „ F . C. Oetinger. Die heilige Philosop h i e " 5 1 die Frage: „Meldet sich in Oetinger so etwas wie die Anthroposophie an? " 5 2 und beantwortet sie eindeutig: „Unseres Erachtens wird Vgl. Bock, Theosophie 17. B o c k , Theosophie 16. 4 4 B o c k , Theosophie 19. 4 5 Bock, Theosophie 19. « Bock, Theosophie 2 3 f . *> In: Deutsches Pfarrerblatt 5 7 / 1 9 5 7 , 3 4 - 3 5 . 4 8 Schulze, Anthroposophie 34. 4 9 Schulze ist schon in den bibliographischen Angaben ungenau: B o c k s Buch hat nicht den Titel „ B o t e n des G e i s t e s " , sondern heißt „ V o r b o t e n des G e i s t e s " ; die 1. Auflage erschien nicht 1930, sondern 1 9 2 9 . 5 0 Vgl. Schulze, Anthroposophie 34. 5 1 München 1 9 2 3 ; in dem ersten Teil finden sich bis dahin nicht veröffentlichte Briefe Oetingers, der zweite ( 2 8 I f f ) , von Herpel als „Nachwort des H e r a u s g e b e r s " betitelt, stellt die Würdigung Oetingers dar. 5 2 Herpel 291 (Sperrung aufgehoben). 42 43

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diese Frage, wenn überhaupt noch ein Zweifel ist, mit einem entschiedenen J a beantwortet". 5 3 Zu dieser Antwort gelangt Herpel durch die Beobachtung von „Stufen" innerhalb jenes Prozesses, den Oetinger in seinem Buch, „Ordnung zur Wiedergeburt" darstellt. Jener Stufenbau der Erkenntnis bei Oetinger, der mit der Zentralerkenntnis ende, sei inhaltlich nichts anderes als Rudolf Steiners vier Stufen seines „Pfades". 5 4 Diese Ubereinstimmung im Formalen lasse sich auch für den Inhalt feststellen. Denn bei beiden ist für jenen Weg die Person und das Werk Christi ausschlaggebend; Oetinger und die Anthroposophie treffen sich in der „Art, wie hier und dort Christus dem ,Prozesse', d. i. dem ,Pfade' dienstbar gemacht wird". 5 5 Darum kann Herpel auch ein weiteres Mal eine deutliche Parallele zwischen Oetinger und Rudolf Steiner ziehen: „Die Betonung der ,Schau' als des höchsten religiösen Wertes, die Darbietung eines über die verschiedenen, bereits wiederholt genannten Stufen zu dieser Schau führenden ,Weges', dies alles in engster Verbindung mit dem anderen, daß als bestes Hilfsmittel zur Bewältigung des Weges das Erlöserwerk Christi anschauend zu benutzen sei, — das ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gnosis oder das, was sich heute Anthroposophie nennt und . . . oft derart mit Rudolf Steiners Denken übereinkommt, daß man tatsächlich versucht sein könnte, Oetinger in die Ahnenreihe dieses Denkens zu stellen". 56 Trotz alledem kommt Herpel schließlich zu dem Schluß, daß bei Oetinger die Abkehr von der ,anthroposophischen' Haltung und die Hinwendung zur ,christlichen' erfolge, „die Wendung vom Schauen zum Glauben". 5 7 Die Parallelität zwischen Oetinger und Steiner liege daher in deren Denken, das um Erkenntnis kreist, um den Pfad zur Erkenntnis höherer Welten 58 ; sie liege ebenfalls noch vor, wenn die intuitive Vernunft unter das Urteil der diskursiven Vernunft gestellt wird 59 ; sie löse sich aber in dem Moment auf, wo Oetinger deutlich werde, „daß auch der Schauende in der Zentralerkenntnis die Wahrheit nicht hat, die Gott selber ist". 6 0 Diesen Einschnitt, den Herpel in der Gedankenentwicklung Oetingers sieht, möchte er aber nicht als eine „senkrechte Linie" 61 ansehen, von der her zu sagen wäre, „daß vor ihr die Haltung des Schauens und hinter ihr die Haltung des Glaubens He-

ss Herpel 291. Vgl. Herpel 291. 55 Herpel 291 (Sperrung aufgehoben). 56 Herpel 292 (Sperrung aufgehoben). 57 Herpel 296 (Sperrung aufgehoben), s» Vgl. Herpel 290. s» Vgl. Herpel 293. 60 Herpel 295. «1 Herpel 296. 54

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g e " 6 2 , sie ist als ein „logischer Q u e r s c h n i t t " 6 3 anzusehen. S o zieht Herpel das Fazit, daß Oetingers theologische Bemühungen sich eigentlich als Erkenntnistheorie darstellen. 6 4 Auch Kurt Leese ordnet Oetinger in „Die Krisis und Wende des christlichen G e i s t e s " 6 5 den Theosophen z u . 6 6 Er sieht Oetingers geistesgeschichtliche Bedeutung darin, daß er B ö h m e an Schelling vermittelt habe und auch „direkt eine starke Wirkung auf diesen ausgeübt h a t " . 6 7 Darum spitzt Leese die Problemstellung dann auch zur Frage zu: „Ob und wieweit Oetinger für die Probleme der Lebensphilosophie und Lebenstheologie in Betracht k o m m t " . 6 8 Sieht Leese Oetinger auf dem Hintergrund der Gedankenwelt Böhmes, so fällt sein Urteil über Oetinger zwar zurückhaltend aus 6 9 , er versucht aber nicht, Oetinger in eine Richtung zu pressen. 7 0 Er sieht jedoch in Oetinger eine Übergangsgestalt, in ihr aber zugleich — in der Betrachtung für das theologische Problem der Lebensphilosophie — das Zeichen dafür, daß „sensualistisches Lebenspathos, das sich an die Welt hält mit klammernden Organen, wohl vereinbar ist mit geistiger Würde, sittlichem Ernst und religiöser Tiefe".71 Die Mittlerfunktion Oetingers zwischen B ö h m e und Schelling hebt Leese ebenfalls in seinem Buch „ V o n J a k o b B ö h m e zu Schelling. Zur Metaphysik des G o t t e s p r o b l e m s " 7 2 hervor. 7 3 Ausgehend von dieser Festlegung wird der Mittelpunkt des Oetingerschen Bemühens „in dem lebensvollen Zusammenschauen der Natur und des G e i s t e s " 7 4 gesehen. Gemessen aber wird Oetinger auch hier an B ö h m e . Ihrer beider Ubereinstimmung erstrecke sich auf die Vorstellungen des Lebens und der Leibl i c h k e i t 7 5 , aber „in dem vielleicht wichtigsten S t ü c k " 7 6 habe Oetinger « 63 64 65

Herpel 2 9 6 . Herpel 2 9 6 . Vgl. Herpel 3 3 2 . Berlin 1 9 3 2 .

Vgl. Leese, Krisis 5 2 . Leese, Krisis 5 2 . 68 Leese, Krisis 5 3 . 6 9 Vgl. Leese, Krisis 5 3 : „ E r hat ihnen . . . ihre gefährliche Sprengkraft, d.h. ihre Beziehung zur Krisis und Wende des christlichen Geistes e n t z o g e n " . 7 0 Vgl. Leese, Krisis 6 1 : „Verhält sich nun Oetinger als Biblizist im wesentlichen reproduktiv? Oder bricht bei ihm eine Renaissance des Lebensgefühls auf . . . ? Diese Fragen werden sich kaum mit B e s t i m m t h e i t so oder so entscheiden lassen". 7· Leese, Krisis 6 2 . 66

67

« 73 74

Erfurt 1 9 2 7 . Vgl. Leese, B ö h m e / S c h e l l i n g 5 . 3 9 . Leese, B ö h m e / S c h e l l i n g 2 6 .

Vgl. Leese, B ö h m e / S c h e l l i n g 3 8 . « Leese, B ö h m e / S c h e l l i n g 3 8 .

75 7

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Böhme nicht verstanden: dem Aspekt des Dämonischen in G o t t — das dürfe bei aller Achtung Oetingers nicht übersehen werden. Theosophie als Ziel Oetingerschen Denkens formuliert ebenfalls Ernst Müller. In seinem Band „Stiftsköpfe. Schwäbische Ahnen des deutschen Geistes aus dem Tübinger S t i f t " 7 7 stellt er Oetinger als den originalsten Schüler Bengels vor, der gleichermaßen dessen Gegentyp bilde. 7 8 Er gehöre seinem Denken und Empfinden nach in die „faustisch-romantische Linie" 7 9 , der gleichzeitig die „spekulativ-gnostische" 8 0 zuzuordnen sei. „Beide Linien laufen nicht streng parallel; sie berühren sich oft, überschneiden sich und behalten doch ihre Eigenfunktion bei". 8 1 So wird Oetingers Absicht als „Theosophie gegen Idealismus" 8 2 definiert, als „Antiphilosophie, das ist . . . ,philosophia sacra' " , 8 3 Oetingers Ziel sei Theosophie: „nicht Gott aus der Welt, sondern die Welt aus Gott, dem Sitz alles Lebens, zu erklären". 8 4 Das Unternehmen aber gehe — so Müller — über Oetingers Kräfte: „Er kam über Andeutungen nicht hinaus . . . sein System ist darum voller Intuition und Scheinlösungen, die geeignet sind, für viele ernsthafte Leser die sicher edle Grundabsicht zu verdunkeln". 8 S

3. Oetinger-Rezeption in der NS-Zeit Klingt in einigen, zuvor vorgestellten Arbeiten die landsmannschaftliche Einbettung Oetingers an, so verstärkt sich dieser Zug bei Robert Schneider in seinem Buch „Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen". 8 6 Zur vorsichtigen Betrachtung gemahnt aber sein Einführungskapitel, in dem er deutlich der nationalsozialistischen Ideologie huldigt. 8 7 Es soll anerkannt werden, daß er als erster die Einwirkungen 77 Heilbronn 1938. 78 « 80 81 82

Vgl. Müller 168. Müller 168. Müller 168. Müller 168. Müller 176. 83 Müller 177; im Text: philisophia. 84 Müller 178. 85 Müller 177. 86 Würzburg-Aumühle 1 9 3 8 . 87 Vgl. Schneider 3: „ . . . so daß nunmehr die Philosophie Schellings u n d Hegels als ein Lehrbeispiel gelten kann für die Verwurzelung genialer Leistungen im Volkstum — eine Fragestellung, die durch den nationalsozialistischen Umbruch inzwischen Allgemeingut geworden ist".

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Oetingers auf Schelling und Hegel nachgewiesen hat; diese Anerkennung soll jedoch nicht darüber hinwegsehen, daß das ideologische Vorverständnis zu einer Engfassung und Vereinseitigung Oetingers führt. So stellt Schneider dar, Oetingers Bedeutung liege lediglich in der Erneuerung und Verteidigung der Philosophie der Alten, nicht in selbständigen geistigen Produktionen. 8 8 Aus dieser Beurteilung resultiert dann auch die Zuordnung zum Vitalismus 8 9 , ist Oetinger nurmehr — indem er „um die Substanz der Heimat k ä m p f t " 9 0 — für die Ergänzung und Erneuerung des Naturbegriffs „und damit für die kommende Lebensphilosophie" 9 1 zuständig. Deutlicher noch als bei Schneider wird Oetinger bei Wilhelm-Albert Hauck ein Zeuge für nationalsozialistische Ideologie. Hauck schreibt 1943 eine Phil. Diss, über „Friedrich Christoph Oetingers Naturphilosophie". 9 2 Darin erarbeitet er — im Gegensatz etwa zu Elisabeth Zinn — Oetingers Verhaftetsein im biblischen Schöpfungsglauben. 9 3 Gleichzeitig erklärt er aber, daß Oetingers Gottesbegriff in das Lebensprinzip einmünde. 9 4 Mit der Herausstellung des Lebensprinzips ist für Hauck Oetingers Gegenwartsbedeutung festgeschrieben. Sie wird nur noch exemplifiziert an der All-Leben-Lehre von Ernst Krieck. 9 5 Oetingers Naturphilosophie wird der Ideologie vom Zusammenhang allen Lebens mit dem Mutter-Boden 9 6 nutzbar gemacht; er wird als Vorfahr für die Ideologie des Dritten Reichs in Anspruch genommen; er wird zur Figur in „Abwehr gegen den leibverflüchtigenden, spiritualistischen, die Bindungen an Blut und Erde ignorierenden, zersetzenden oder gar leugnenden Idealismus und Doketismus" 9 7 , und er wird zum Vorahner „dessen, was noch immer auf seine letzte Erfüllung wartet und sich heute erst anbahnt, nämlich der endgültige 98 Sieg des Lebensprinzips". 9 9 Daß sich diese Arbeit dem Zeitgeist anzupassen versucht, liegt auf der Hand; daß Oetinger dabei in seinem Anspruch zu kurz kommt, beweist diese Arbeit ebenfalls. Denn 1947 wird von Wilhelm-Albert Hauck veröffent88 Vgl. Schneider 43; dieser Satz letzter Zeit. 89 Vgl. Schneider 73. so Schneider 43. 91 Schneider 43. 92 Heidelberg 1943. 93 Vgl. Hauck, Naturphilosophie 94 Vgl. Hauck, Naturphilosophie 95 Vgl. Hauck, Naturphilosophie 96 Vgl. Hauck, Naturphilosophie 97 Hauck, Naturphilosophie 2 2 9 . 98 Im Text: entgültige. 99 Hauck, Naturphilosophie 2 6 9 .

hat viele Nachsprecher gefunden, auch noch in

214. 129. 214. 215. 225.

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licht „Das Geheimnis des Lebens. Naturanschauung und Gottesauffassung Friedrich Christoph Oetingers". 100 Dieses Buch ist der Wiederabdruck der Dissertation von 1943, nun jedoch ihrer Ideologie und des dafür spezifischen Sprachgebrauchs entkleidet 101 , der Verhältnisbestimmung zwischen der Naturphilosophie Oetingers und der Krieckschen Lehre vom All-Leben entledigt. 102

4. Oetinger zwischen Philosophie und Theologie Von Heinz Otto Burger erschien 1933 das Buch „Schwabentum in der Geistesgeschichte" 103 , das 1951 mit neuem Titel und kleinen Textänderungen wieder aufgelegt wurde. 104 Burger bietet einen Überblick über Oetingers Gedankenwelt ohne große Vertiefungen; er versucht Einordnungen 10s , die er schließlich vom Formalen her zu Ende führt: Oetinger erscheint in dem Kapitel „Biblizisten". 106 Darin führt er aus: Oetingers Interesse gehöre mehr der Natur als der Geschichte. 107 Die Grundidee, „die den Männern Gottes mehr oder weniger unbewußt κ » Heidelberg 1947. ιοί Zur Veranschaulichung der sprachlichen Ä n d e r u n g e n einige Beispiele: 1 9 4 3 / 2 3 9 : „Eine Art Vorspiel zu der großen Auseinandersetzung zwischen d e m Lebensprinzip germanisch deutscher Natur- und Weltanschauung und dem romanisch westlerischen Mechanismus f i n d e t bereits zu G o e t h e s Zeiten s t a t t " . 1 9 4 7 / 1 9 4 : Eine Art Vorspiel zu der großen Auseinandersetzung zwischen d e m Lebensprinzip germanischer und deutscher Naturanschauung und dem romanisch rationalistischen Mechanismus". 1 9 4 3 / 1 8 : „Als einer der b e d e u t e n d s t e n Vertreter des Lebensprinzips ist er bereits ein Markstein am Wege der deutschen Tradition artgemäßer Naturanschauung und wird vielleicht erst in der Z u k u n f t . . . " . 1 9 4 7 / 2 6 : ,,Als einer der b e d e u t e n d s t e n Vertreter des Lebensprinzips ist er gleichsam ein Meilenstein am Wege der deutschen Denker-Tradition u n d wird vielleicht gerade in Bezug auf seine lebendige Naturanschauung erst in der Z u k u n f t . . . " . ι 0 2 Die Kapitel über Ernst Krieck sind h e r a u s g e n o m m e n , der N a m e im folgenden getilgt; vgl. 1 9 4 3 / 2 3 7 . 1 9 4 7 / 1 9 3 ; 1 9 4 3 / 2 3 7 . 1 9 4 7 / 1 9 4 ; 1 9 4 3 / 2 4 1 . 1 9 4 7 / 1 9 6 . 103 Stuttgart u n d Berlin 1933. 104 Die G e d a n k e n w e l t der großen Schwaben, Tübingen u n d S t u t t g a r t 1951. 105 Vgl Burger, S c h w a b e n t u m 127: „Der Begriffsrealismus des Mittelalters lebt in ihm wieder auf, doch geht er darüber hinaus, indem er die Realität des I n t e n s u m s empirisch nachzuweisen sucht. Hierin ist er der echte N a c h f a h r e von Paracelsus u n d Kepler"; 131: „Oetinger hypostasiert die ,sieben Geister', desgleichen aber auch die I d e n t i t ä t oder Einsheit jedes Wesens: er d e n k t somit noch immer in der Weise des Ostens". 10« Vgl. Burger, G e d a n k e n w e l t 148ff. 107 Vgl. Burger, G e d a n k e n w e l t 152.

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vorgeschwebt" 1 0 8 habe, sei nach Oetinger die „idea vitae". 1 0 9 Auch sei gerade Oetingers Theosophie „zwischen Paracelsus und Hegel . . . eine deutliche Etappe. Auch das Christentum dieses Biblizisten ist ja in erster Linie Kosmologie". 1 1 0 Oetingers eigentliche Leistung liege daher in seinem Bemühen, „sich das Wesen des Logos oder ,Actus purissimus', das göttliche ,Leben' begreiflich zu machen". 1 1 1 Elisabeth Zinn richtet das Hauptaugenmerk in ihrer Diss, theol. „Die Theologie des Friedrich Christoph Oetinger" 1 1 2 auf den Lebensbegriff und untersucht die Verwertung durch Oetinger in dessen theologischen Schriften. Das Verdienst Oetingers bestehe darin, „so kraftvoll die Idee des Lebens geltend gemacht und die objektiven universalen Lehren des Christentums zu neuem Leben erweckt" 1 1 3 zu haben. Sie findet das Zentrum seiner schriftstellerischen Tätigkeit in der „Idee des Lebens" 1 1 4 , die sie in einem doppelten Sinn faßt. Zunächst bilde diese Idee das Mittel zu der Auseinandersetzung mit der Leibnizschen Philosophie, auf deren Bekämpfung sich Oetingers ganze Arbeit richte115; „Sodann" und „ a u c h " bestimme sie Oetingers theologische Arbeit. 1 1 6 Durch diese Doppelung aber erfährt die Abhandlung von Zinn eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Begründung und im Ergebnis. Sofern die ,Idee des Lebens' der Polemik gegen die Leibniz-Wolffsche Philosophie dient, ist sie Ursache jener geistesgeschichtlichen Frontstellung; bestimmt sie „sodann" die theologische Arbeit, so ist sie Folge der geistesgeschichtlichen Frontstellung. Zinn muß somit nochmals die ,Idee des Lebens' als Zentrum befragen, um schließlich als entscheidendes Motiv und als Impuls für Oetingers Arbeit die Inkarnation und das Christusbekenntnis herauszufinden; die Idea vitae selbst und ihre Betonung würden so eigentlich erst verstanden. 1 1 7 Zinn versucht darüber hinaus, Oetinger als reformatorisch-lutherischen Theologen zu qualifizieren 1 1 8 , kann dann aber doch nicht umhin festzustellen, daß Oetinger von Luther abweiche. 1 1 9 Sie sieht Oetinger zu wenig in seiner Eigen-

108

Burger, Gedankenwelt Burger, Gedankenwelt 110 Burger, Gedankenwelt 111 Burger, Gedankenwelt 112 Diss, theol. Heidelberg 113 Zinn 153. 114 Zinn 9. US Vgl. Zinn 10. "6 Vgl. Zinn 9. » 7 Vgl. Zinn 108. 118 Vgl. Zinn 88. 122 u.ö. Vgl. Zinn 185. 109

152. 152. 152. 153. 1932; Gütersloh 1932.

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ständigkeit, sondern legt Luthers Theologie als Maßstab an Oetingers Denken an. So schwankt sie zwischen Zustimmung und Ablehnung, die mehr an Luther ausgerichtet ist, weniger aber an Oetingers „Idee des Lebens"; so schimmert in ihrer Arbeit die Ansicht hindurch, daß Oetingers Ausgangspunkt zwar „in der neueren Philosophie und Theologie ein lebendiges Verständnis" 120 finden müßte, daß sein Weg jedoch nicht gehbar war und nicht mehr gehbar ist. 121 Helga Rusche beschränkt sich in ihrer Diss, theol. „Die Eschatologie in der Verkündigung des schwäbischen und niederrheinischen Biblizismus des 18. Jahrhunderts" 1 2 2 auf die Untersuchung des Begriffs „Eschatologie" und seiner Verwendung bei den Biblizisten Schwabens und des Niederrheins. Oetinger erfährt eine eigene ausführliche Untersuchung. Seine Größe beruhe darauf, daß in ihm mittelalterliche und mystische Spekulation in ihren lebendigsten Kräften auftrete, sich aber zugleich Neues Bahn breche. In erster Linie aber müsse er als Biblizist emstgenommen werden. „Er bleibt Theologe der Schrift, auch wenn seine naturphilosophischen Betrachtungen diesen Rahmen zu sprengen drohen. Oetingers Biblizismus bekommt dadurch eine kosmische Weite. Besonders deutlich wird das an seiner Eschatologie". 123 Eschatologie sei kein Lehrstück mehr, sondern ein existentielles Anliegen. 124 Trotzdem müsse Kritik geübt werden, nämlich an den „Gemälden des Tausendjährigen Reiches" 125 , weil sie nicht mehr biblische Lehre seien, sondern das „Bilderbuch einer fremden Welt". 126 Die Bedeutung des Reiches Gottes für Lehre und Verkündigung habe Oetinger zwar erkannt und das sei positiv anzusehen, trotzdem habe er — wie auch die anderen Württemberger Eschatologen — es nicht vermocht, diese Erkenntnis aus dem Rahmen zu lösen, „der jeder Eschatologie von antiker Zeit her mitgegeben war, und der eigentlich viel zu starr war, um die neue lebendige Eschatologie . . . zu fassen". 127 Rusche schließt mit der Aussage, daß die „Eschatologen in kühner Einseitigkeit das unum necessarium des Reichs Gottes der Schrift entnommen und wiederentdeckt (haben) und es nun leidenschaftlich dem gesamten Lehrgebäude der Kirche gegenüber vertreten". 128 «o 121 i» IM 124 125 126

Zinn 9. Vgl. Zinn 187. Heidelberg 1943. Rusche 15. Vgl. Rusche 153. Rusche 153. Rusche 153.

127 R u s c h e

154.

128 Rusche 247.

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Es ist nicht zu übersehen, daß Rusche zwischen den von ihr behandelten Biblizisten und der Theologie ihrer Zeit einen Zusammenhang herstellen will 129 ; sie zielt mit ihrer Untersuchung auf praktische Anwendung: sie möchte mit ihrer Arbeit einen „Aufriß geben von der gesamten Eschatologie der beiden Kreise und darin diejenigen Züge als ,aktuell' aufweisen, die den Menschen vor die Entscheidung angesichts der lebendigen Wirklichkeit des ,Letzten' stellen". 1 3 0 Denn heilsgeschichtliches Denken — so Rusches These — bedeute für die Biblizisten des 18. Jahrhunderts eschatologisches Denken: mitten im zeitlichen Leben um das ewige Leben wissen. 131 Die rechte Würdigung dieser Einstellung scheint ihr gerade in ihrer Zeit möglich zu sein 132 , denn der Entscheidungscharakter und die Dringlichkeit der Verkündigung jener Männer stehe in Parallelität zu der Dringlichkeit, wie sie durch die Betrachtung der ,letzten Dinge' in ihrer Zeit offenbar werde. 1 3 3 Wilhelm August Schulze — von einem seiner Aufsätze ist bereits gesprochen worden — stellt Oetinger in mehreren Abhandlungen vor. Seine Dissertation ,,Das androgyne Ideal und der christliche Glaube" 1 3 4 ist jedoch überwiegend der Abdruck des Lebenslaufs Oetingers nach Ehmanns „Oetingers Leben und Briefe". Erst im Nachwort wird ersichtlich, worum es dem Verfasser eigentlich geht: nachzuweisen, daß sich der Gedankenkreis um das androgyne Ideili mit dem christlichen Glauben nicht vereinbaren lasse. 135 Der Beweisgang läßt aber zu wünschen übrig: Schulze reiht Zitat an Zitat, ohne erkennbar werden zu lassen, welchen Stellenwert das Motiv des androgynen Menschen bei Oetinger einnimmt; auch formal entspricht die Arbeit nicht den Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens. 1 3 6 »29 Vgl. Rusche 237. Rusche VI. » ι Vgl. Rusche 263. 132 Vgl. Rusche 237. 133 Vgl. Rusche VI. 134 Diss, theol. Heidelberg, in Auszügen gedruckt Lahr-Dinglingen 1940. 135 Schulze, Ideal 38. 136 Seite 15 wird über die 127. Frage gesprochen, im Oetinger-Text handelt es sich jedoch um die 27. Frage; Seite 16: das Zitat „hieraus erhellt . . . " findet sich nicht 2,5. 385, sondern 2,5. 383; Seite 16: das Zitat „Das Weib war des Mannes Herrlichkeit in seinem Leib" ist falsch wiedergegeben. Oetinger (2,1. 337) schreibt: „in einem Leib" u.a.; weiter verwechselt Schulze auf Seite 13 Jakob Friedrich Klemm, der Oetinger am 21. Juli 1763 zum Verfassen der Schrift „öffentliches Denkmal der Lehrtafel einer weil. Wirttembergischen Prinzessin Antonia" veranlaßte, mit Oetingers Schwiegersohn Johann Christoph Klemm, der 1761 Oetingers älteste Tochter Benigna heiratete und „Helfer" in Tuttlingen war. Da Schulze hier die Schrift Oetingers zitiert, hätte diese Verwechslung nicht geschehen dürfen, denn Jakob Friedrich Klemm unterzeichnet den Brief an Oetinger mit vollem

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Wenig einträglich sind auch die Aufsätze „Oetinger und Marx" 1 3 7 und „Friedrich Christoph Oetinger und die Kabbala". 1 3 8 Im ersten Artikel nimmt Schulze Ernst Benz zum Kronzeugen, der darauf hingewiesen habe, daß Beziehungen zwischen Oetinger und Marx bestanden, doch denke Benz nicht an eine direkte Beeinflussung 1 3 9 ; Schulze schließt daraus: „Die Einwirkung muß also eine indirekte sein". 1 4 0 Als die fehlenden Zwischenglieder von Oetinger zu Marx erkennt Schulze J o h a n n Georg Rapp, Robert Owen und Friedrich Engels. Nach Darlegung ihrer Lebensgeschichte hält Schulze fest: „So ist Oetingers Wunschbild in der ,Güldenen Zeit' auf dem Umweg über Rapp und Owen zu weltgeschichtlicher Auswirkung gelangt. Die schon häufig gemachte Beobachtung, daß es sich beim marxistischen Sozialismus um einen säkularisierten Chiliasmus handelt, wird in einer weiteren Hinsicht durch diese Zusammenhänge bestätigt". 1 4 1 Die Herstellung der Verbindung wirkt gewollt, die Beweise können nur als unzureichend angesehen werden, wenn argumentiert wird: „Er [Rapp] muß sich auch eifrig in die Werke J a c o b Böhmes, Bengels, ötingers und anderer Theosophen vertieft haben" 1 4 2 ; die Verbindung der drei Persönlichkeiten untereinander erscheint konstruiert: „Das Gemeineigentum der Rappisten hat ihn [Owen] irgendwie angezogen. So wie Gleichgesinnte in der ganzen Welt sich finden, müssen der mystische Separatist und der sozialistische Atheist sich gefunden haben. Friedrich Engels lernt Owen während seiner Jahre in Manchester kennen". 1 4 3 Im zweiten Artikel mit dem vielversprechenden Titel „Friedrich Christoph Oetinger und die Kabbala" wird kaum mehr geboten, als durch Oetingers Selbstbiographie bereits bekannt ist. 1 4 4 Neu hinzugekommen sind lediglich die biographischen Angaben zu verschiedenen Kabbalisten. Schulze zeigt nicht auf — was vom Titel her nahe läge —, welche Bestandteile Namen und Titel: „des Tübingischen Stipéndii Repetent und ältester Vicarius zu Stuttgardt" (LT 89). 137 in: Deutsches Pfarrerblatt 5 5 / 1 9 5 5 , 5 3 1 - 5 3 2 . 138 In: Judaica, 1 9 4 8 , 2 6 8 - 2 7 4 . 139 Schulze, Marx 5 3 1 ; Benz wird dabei falsch zitiert — vgl. Ernst Benz, Schelling. Werden und Wirken seines Denkens, Zürich 1 9 5 5 , 51: „In einem gewissen Sinn ist das Bild der .güldenen Zeit', das Oetinger entwirft, das sämtlicher endzeitlicher Entwürfe des idealen Staates oder der idealen Gesellschaft, das wir bei Hegel, bei Schelling, bei Baader, aber auch bei Karl Marx finden". Schulze, Marx 5 3 1 . i n Schulze, Marx 5 3 2 . i « Schulze, Marx 5 3 1 . i « Schulze, Marx 5 3 2 . 144 Die bei der Besprechung der Dissertation aufgezeigte Verwechslung der beiden Klemm wiederholt sich hier auf Seite 2 7 1 .

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der Kabbala Oetinger für sein eigenes Denkmuster benutzt und worin deren Funktion innerhalb seines Systems besteht. Auch in dem Aufsatz „Oetinger contra L e i b n i z " 1 4 5 vermißt man die Abgrenzung und systematisierende Bearbeitung der Stellen, die Schulze zusammenträgt.

5. Oetingers Wirkung auf unsere Zeit Nach dem Kriege verringert sich — wie schon bei Schulze angeklungen — die Deutungsbreite Oetingers keineswegs. Während Martin S c h m i d t 1 4 6 in Oetinger den eigenartigsten und eigenwilligsten, zugleich den konsequenten Denker des Pietismus erkennt, der „der theologische Testamentsvollstrecker Philipp J a k o b S p e n e r s " 1 4 7 wurde, ist für Emanuel Hirsch 1 4 8 Oetinger „eigentlich nur der, welcher B ö h m e die Zunge gelöst h a t " . 1 4 9 Dies gelte vor allem für alle dogmatischen Einzelaussagen seines Systems. Mit Albrecht Ritsehl erkennt Hirsch nur einen dogmatischen Locus als erwähnenswert an: die Lehre vom Werk Christi, weil von ihr starke Wirkungen ausgegangen seien. Gegen Ritsehl wendet sich Hirsch aber mit der Verneinung dessen, daß Oetinger der genialste deutsche Theologe des 18. Jahrhunderts gewesen sei. „So kann nur der urteilen, der B ö h m e und die Böhmisten nicht oder nicht hinreichend gelesen hat. Daß er aber zu den am meisten eigentümlichen und fesselnden Köpfen seines Zeitalters gehört, das kann schwerlich bestritten werd e n " . 1 5 0 Hirsch hält fest, daß Oetinger und seine Arbeit zu einer anderen Zeit als der Aufklärung nicht denkbar sind; zunächst deshalb, weil Toleranz ein wesentliches Merkmal dieser Zeit gewesen sei, zum andern, weil Oetinger selbst mit der Aufklärung ein gemeinsames Ziel habe: ein System christlicher Erkenntnisse zu schaffen, das den allgemeinen Wahr-

i « In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd 1 1 / 1 9 5 7 , 146

607-617.

Pietismus, Stuttgart 1 9 7 2 .

1 4 7 Schmidt, Pietismus 1 1 3 ; so schon in „Das Zeitalter des Pietismus", hg. von Martin Schmidt und Wilhelm J a n n a s c h , Bremen 1 9 6 5 , 2 0 5 . Gefolgert wird diese Bezeichnung aus der Selbstprädikation Oetingers: „Spener hat in den teutschen theologischen Bedenken . . . G o t t gebeten, Leute zu erwecken, die eine deutliche Entscheidung geben, wünscht auch, daß es publice ventiliert würde, oder daß jemand die Theologie dieses Mannes [ J a c o b B ö h m e ] ins Reine brächte. Das werde ich, so G o t t will, tun ohne F u r c h t " (Ehmann 3 8 ; vgl. auch E h m a n n 6 5 3 . 6 5 4 ) . 1 4 8 Geschichte der neuern evangelischen Theologie, IV. Band, Gütersloh 1960.

1 4 9 Hirsch IV, 1 7 3 . iso Hirsch IV, 1 7 4 .

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heitssinn anspricht und auf allgemeingültigen wissenschaftlichen Grundlagen beruht. 1 5 1 Daß er auf den Gang der Aufklärungsphilosophie und -theologie keinen Einfluß nehmen konnte, lag — so Hirsch — an der Mehrdeutigkeit seines Ansatzes. Mehrdeutigkeit kennzeichne auch die Ausführung seines Systems; obwohl wieder „ein geistreicher allgemeiner Gedanke voran(steht), den es sich wohl lohnt gedacht zu haben, . . . sind die Näherbestimmungen und Folgegedanken so beschaffen, daß außer wenigen persönlichen Anhängern und Gesinnungsverwandten nur noch der Geschichtsschreiber unter dem Befehl seiner Berufspflicht davon Kenntnis n i m m t " 1 5 2 ; trotz der Anregungen — Hirsch findet sie in den Gedankenkreisen Leben, Leiblichkeit und Gotteslehre — empfindet Hirsch Oetinger als auf einem „Nebenwege sich verschwendend". 1 5 3 In verschiedenen Einzeluntersuchungen hat Ernst Benz Oetingers Vielfalt und Gedankenreichtum ausgebreitet; die wichtigsten Schriften seien hier genannt. In dem Buch „Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs" 154 wird Oetinger als ein Gelehrter vorgestellt, der die „Beurteilung Swedenborgs durch Kant, die faktisch ein Todesurteil darstellte" 1 5 5 , zu korrigieren in der Lage war; denn „Kant war nicht der einzige deutsche Zeitgenosse Swedenborgs von Rang und philosophischem Ansehen, der sich kritisch mit der Lehre des nordischen Gelehrten befaßt h a t " . 1 5 6 Oetinger veröffentlicht 1765 — im gleichen J a h r , in dem Kant seine „Träume eines Geistersehers" gegen Swedenborg schrieb — eine kritische Darstellung der Lehre Swedenborgs. 1 5 7 Er wird damit — so Benz — der eigentliche Fürsprecher und Vorkämpfer Swedenborgs in Deutschland. 1 5 8 Eine Darstellung der Auseinandersetzung Oetingers mit Swedenborg sei jedoch nicht nur aus diesem Grund bedeutsam, sondern sie sei es auch zur Erkenntnis der Entwicklung Oetingers und seines theosophischen Systems. Denn: „Sein Biblizismus, sein theologisches System, vor allem seine Idee von der Leiblichkeit des Geistes ist ohne das jahrelange Ringen mit Swedenborg unverständlich". 1 5 9

151

Vgl. Hirsch IV, 167. i ' 2 Hirsch IV, 170. »53 Hirsch IV, 174. 154 Frankfurt am Main 1947. 155 Benz, Swedenborg VII. ls6 Benz, Swedenborg VII. 157 Vg] „Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie" ( 2 , 2 . I f f ) . 158 Vgl. Benz, Swedenborg VIII. iss Benz, Swedenborg IX.

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Den in der vorgenannten Arbeit angeschnittenen Gedanken, daß Oetinger durch seine Schriften auf die „Führer des deutschen Idealismus eingew i r k t " 1 6 0 habe, vertieft Benz in „Schelling. Werden und Wirken seines D e n k e n s " 1 6 1 , „Schellings theologische G e i s t e s a h n e n " 1 6 2 und „Theogonie und Wandlung des Menschen bei Friedrich Wilhelm J o s e p h Schelling". 1 6 3 Hier wird Oetinger als der große Anreger herausgestellt, der zwar von Schelling „nirgends mit Namen g e n a n n t " 1 6 4 werde, dessen Einfluß aber „bereits jener auffälligen Wandlung der Naturphilosophie Schellings ins Mystisch-Theosophische zugrunde (liege), die sich vom J a h r 1803 ab feststellen l ä ß t " . 1 6 5 Das aber bedeute, daß Schelling an Oetingers „Theologie des L e b e n s " partizipiert — sowohl im Formalen, ohne es deutlich zu kennzeichnen, als auch im Inhaltlichen. „Oetinger und Schelling erscheinen so durch ein geheimnisvolles System von Verheißung und Erfüllung aufeinander bezogen. Oetinger selber hatte die deutliche Empfindung, daß seine Theologie des Lebens in seiner Zeit eine Erkenntnis war, mit der er einsam unter seinen Zeitgenossen dastand und der zukünftigen geistigen Entwicklung Vorgriff und erst in der Zukunft zu einer allgemeineren Erkenntnis erhoben werden könnte . . . Solche Verheißungen von einem kommenden Triumph der Idee des Lebens mögen Schelling inspiriert haben, sich selbst und das System des Real-Idealismus als die Erfüllung jenes von Oetinger verheißenen, kommenden Durchbruchs und Triumphes der Idee des Lebens zu erblicken". 1 6 6 In zwei weiteren Abhandlungen — , J o h a n n Albrecht Bengel und die Philosophie des deutschen I d e a l i s m u s " 1 6 7 und „Der Prophet J a k o b B o e h m e " 1 6 8 — stellt Benz Oetinger im Verhältnis zu Bengel dar; dies wird in zwei Richtungen untersucht. Einmal wird die Übereinstimmung Oetingers mit Bengel festgehalten insofern, als Oetinger von Bengel dessen Geschichtsberechnung und den Glauben an das nahe bevorstehende Ende übernähme 1 6 9 ; zum andern wird der Unterschied zu Bengel auf-

160 Benz, Swedenborg VIII. 161 Zürich/Stuttgart 1955. • 6 2 Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse, J g . 1955, Nr. 3. l « In: Eranos-Jahrbuch 2 3 / 1 9 5 4 , 3 0 5 - 3 6 5 . 164 Benz, Geistesahnen 2 7 4 . 1 6 5 Benz, Geistesahnen 2 7 4 f . 1 6 6 - Benz, Geistesahnen 275. 1 6 7 In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27/1953, 5 2 8 - 5 5 4 . 1 6 8 Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, J g . 1959, Nr. 3. 169 Vgl Benz, B ö h m e 165.

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gezeigt: Oetinger verstehe „in einem viel stärkeren Maße als Bengel" 1 7 0 den Gesamtverlauf der Heilsgeschichte in „Form einer fortschreitenden Selbsterschließung und Selbstoffenbarung Gottes". 1 7 1 Die Konsequenz daraus sei die dynamischere Auslegung des starren kirchlichen Dogmas von der Offenbarung. „Die christliche Kabbala" 1 7 2 von Benz verdeutlicht einen weiteren Traditionsbereich Oetingers: den der Mystik in der Ausprägung der christlichen Kabbala. Anlaß zu dieser Schrift ist für Benz allerdings nicht Oetinger selbst, sondern „die heutige Besinnung auf die Ansatzpunkte einer neuen Begegnung des Christentums mit dem J u d e n t u m " . 1 7 3 Als „den geeignetsten Ausgangspunkt", um sich mit dem „Stiefkind der Theologie wieder einmal näher zu befassen" 1 7 4 , sieht Benz Friedrich Christoph Oetinger, der seine Quellen und Gewährsmänner nennt und an dessen Ausbildung seiner christlichen Theosophie die jüdische Kabbala einen bedeutsamen Anteil habe. 1 7 5 Zum Schluß sei noch auf die Arbeit von Benz „Theologie der Elektrizit ä t " 176 verwiesen, in der er die drei „eigentlichen Meister der elektrischen Theologie" 1 7 7 vorstellt: Friedrich Christoph Oetinger, J o h a n n Ludwig Fricker und Prokop Divisch. 178 Benz geht es um jenen Bereich der Theologie, den die moderne Theologie vernachlässige, weil sie das Problem der Religion auf die Frage nach der persönlichen Beziehung zwischen Mensch und Gott, auf die Frage nach der Funktion des Glaubens reduziere 1 7 9 , nämlich: den „theologischen Aspekt der Kosmologie, der Naturtheologie, der Stellung des Menschen im Universum und in der Kette der anderen Lebensformen unserer Welt". 1 8 0 Von der Tatsache, daß das religiöse Bewußtsein des Menschen und sein wissenschaftliches Bewußtsein von der Erfahrung der gleichen letzten Wirklichkeit bestimmt sei, davon künden die Theologen der Elektrizität. Kein Widersinn werde von ihnen verfochten; vielmehr vertreten sie jene geistige Einstellung, die „beide Formen der Erfahrung und Deutung dieser letzten Benz, Böhme 165. Benz, Böhme 165; vgl. Benz, Bengel 535 u . ö . Zürich/Stuttgart 1 9 5 8 . Benz, Kabbala 8. Benz, Kabbala 8. Vgl. Benz, Kabbala 8. 176 Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1 9 7 0 , Nr. 12. i™ Benz, Elektrizität 27. "β Vgl. Benz, Elektrizität 5. "1 1 72 ι™ "4 "S

179

Vgl. Benz, Elektrizität 5. 180 Benz, Elektrizität 5S

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Wirklichkeit . . . aufs engste miteinander verbunden" 1 8 1 anerkennt, verwirklicht und darstellt. Bei Ulrich Mann — in dessen Dissertation „Spiritualismus und Realismus im christlichen Offenbarungsverständnis" 1 8 2 — wird Oetinger als ein Theologe des biblischen Realismus gesehen, der schon zu seiner Zeit „der falschen Diastase im modernen Denken b e w u ß t " 1 8 3 gegenüber gestanden habe. Oetinger wird von Mann zu jenem Kreis von Theologen gezählt, bei denen „das Wirken Gottes — nicht als einzelnes Lehrstück, sondern als lebendiges Movens" 1 8 4 im Gesamtaufriß ihrer Theologie die entscheidende Rolle spiele. Zwar habe Oetinger „sein geistiges Heim o f t verändert" 1 8 5 , aber gleichgeblieben sei die Grundhaltung: „Ein frommes Bibelchristentum lutherischer Prägung. Zum andern die Vorliebe für theosophische Spekulation, ungeachtet aller Schwankungen in Ton und Farbe". 1 8 6 Dabei sei festzuhalten, daß Oetinger diese beiden Bereiche auf verschiedene Weise werte: primär sei das biblische Luthertum, sekundär die Theosophie. So bestehe ein klares unumkehrbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen Offenbarung und Theosophie, gleichzeitig auch ein unauflöslicher Zusammenhang. 1 8 7 Oetingers Bemühen bewege sich darum, die Nähe Gottes darzustellen, die Nähe des wirkenden Gottes 1 8 8 — Gottes unaussprechliches Nahesein erscheine als das eigentliche Motiv Oetingers 1 8 9 ; es läßt sich vorstellen als das Nahesein des Offenbarers, des Schöpfers und des Erlösers. So zieht Mann das Fazit: Oetinger „kann uns Modernen ein großer Lehrer sein: Wir lernen von ihm, Gottes Offenbarung in all ihrer Fülle auszuschöpfen und damit erst unsere Wirklichkeit in der ihr eigenen Fülle zu erkennen; und wir dürfen, wie er, nicht müde werden, das Geheimnis dieser Fülle zu bezeugen: Des dreieinigen Gottes unaussprechliches Nahesein". 1 9 0 Adolf Köberle hat in seinem Bändchen „Das Glaubensvermächtnis der Schwäbischen Väter" 1 9 1 keinen Anspruch auf eigene Forschungen erhoben. Er möchte aber Hinweise geben: darauf, daß Oetinger die streng dualistische Unterscheidung von Natur und Geist fragwürdig wird 1 9 2 ; 181 182

·« 184

«s 186 ι»'' i« 8 189 190 191 192

Benz, Elektrizität 6. Diss, theol. Tübingen 1953. Mann 141. Mann 17. Mann 222. Mann 2 2 2 . Vgl. Mann 2 2 2 . Vgl. Mann 2 3 5 . 2 3 6 . Vgl. Mann 2 3 6 . Mann 252f (Sperrung aufgehoben). Hamburg 1959. Vgl. Köberle 17.

S Grofiniann, Oetinger

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daß der Begriff der Geistleiblichkeit „beherrschende und umfaßende Bedeutung" 1 9 3 gewinnt; daß Oetinger um die Begegnung von Natur und Gnade, von natürlicher Theologie und Theologie der Offenbarung ringt. 194 So stehe Oetinger ein Rang zu, der eigentlich erst heute recht gewürdigt werde und dessen Lebenswerk heute bestätigt werde, „etwa durch die Untersuchungen des Züricher Seelenforschers Carl Gustav J u n g in seinem Buch über .Psychologie und Alchemie', wo der Nachweis bis ins Einzelne erbracht wird, in was für einer wunderbaren Entsprechung naturgesetzliche und seelische Abläufe zueinander stehen können". 1 9 5 Ebenfalls auf C. G. J u n g verweist häufig Friedrich Häussermann in dem ausführlichen, Kabbala und Alchemie sehr eingehend darstellenden und verarbeitenden Aufsatz „Theologia Emblematica". 1 9 6 Oetinger wird vorgestellt als „der letzte, der die Spur der christlichen Kabbalisten aufnahm . . . , allerdings mit einer vom Ziel seiner Vorgänger merklich abweichenden Wendung". 1 9 7 Oetinger studierte — so Häussermann — die Kabbala in der Absicht, die Sprache der Bibel und ihrer ,Grundbegriffe' wiederzufinden, die ihm von der zeitgenössischen Philosophie verdunkelt und entleert wurden. 1 9 8 So werde ihm die Lehre von den Sefiroth zum Kernstück der kabbalistischen Tradition, weil sie für ihn die Grundbegriffe der Grundweisheit bedeuten. 1 9 9 Gleich wichtig wie die Kabbala werde Oetinger aber auch die Alchemie 2 0 0 , die er in Böhmes Kabbala angetroffen habe. Mit ihrer Hilfe betreibe und beschreibe er Naturwissenschaft. Ziel aller Alchemie aber sei eine emblematische Theologie, „die mit Symbolen . . . auf ,die Sache selbst' . . . hinzeigt". 2 0 1 Darum sei „Oetingers Denken . . . auf gutem Wege, wenn er über den Zusammenhang Gott, Mensch, Natur, Geist und Stoff als über einen Organismus in Symbolen d e n k t " . 2 0 2 Seine Symbole aber seien nicht Bilder, Zeichen und Allegorien, sondern „Urideen, Urbilder, Archetypen von allgemeinster Gültigkeit, wenn sie auch nach Zeiten und Räumen variieren, wofür die alchemistischen und kabbalistischen Symbole ein besonders

193 Köberle 18. 194 Vgl. Köberle 20. 195 Köberle 18. 1 9 6 Kabbalistische und alchemistische Symbolik bei Fr. Chr. Oetinger und deren Analogien bei Jakob Boehme, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 6 8 . / 6 9 . Jg. 1 9 6 8 / 6 9 , 2 0 7 - 3 4 6 und 72. Jg. 1972, 7 1 - 1 1 2 . 1 9 7 Häussermann 2 0 8 . 198 Vgl. Häussermann 208. 199 Vgl. Häussermann 208. 200 Vgl. Häussermann 2 1 2 . 201 Häussermann 2 1 9 . 202 Häussermann 2 2 1 .

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anschauliches Beispiel b i e t e n " . 2 0 3 Vorrang in Häussermanns Untersuchung hat nicht die Frage, ob Oetingers Denken in archetypischen Vorstellungen ein brauchbares Instrument der Schriftauslegung ist; sie versucht vielmehr, „mit der Hervorhebung seiner Symbolik einer anderen Seite seines Denkens nachzugehen" 2 0 4 : dem Zusammenhang von Mensch und Ding als dem Ganzen einer faßbaren Wirklichkeit. 2 0 5 „Wer heute nach den Urbildern sucht, um auf dem Weg ihrer Integration ins Bewußtsein die menschliche Ganzheit zu erfassen, der wird bei Oetinger reichlich auf seine Rechnung k o m m e n " 2 0 6 — die Bedeutung der Symbolik Oetingers für unsere Zeit liege also auf ihrer Aussage über die Wirklichkeit des Menschen. 2 0 7 So kann Häussermann schließen: „So war seine Theologie auch vom Menschen aus gesehen eine Theologie aus der Idee des Lebens und wirkt lebendig, wenn und solange uns in ihr ,das archetypische Bild der Wahrheit' anspricht". 2 0 8 Reiner Heinze versteht seine Arbeit „Bengel und Oetinger als Vorläufer des deutschen Idealismus" 2 0 9 als eine Untersuchung darüber, „inwieweit Schelling und Hegel vom Gedankengut ihrer schwäbischen Heimat beeinflußt s i n d " . 2 1 0 Bei dieser Voraussetzung werden Bengel und Oetinger als die Vorläufer „der großen Philosophie" 2 1 1 angesprochen, ohne daß sich ihre Bedeutung darin erschöpfen sollte — „sie sind auch Denker von eigenem R a n g " . 2 1 2 Dies gibt für Heinze den Grund ab, sich mit ihnen selbst zu befassen, bevor in dem dritten Teil der Arbeit ihre Wirkung auf Schelling und Hegel untersucht wird. Oetinger, dessen Gedankenwelt unter dem Stichwort „Theosophie" zusammengefaßt wird, gilt Heinze als der bedeutendste der Schwäbischen Väter. 2 1 3 Seine Bedeutung ruhe darin, daß er das „spekulativ-mystische Denken mit dem heilsgeschichtlichen . . . verbinden" 2 1 4 will. Obwohl Heinze anerkennt, daß bei Oetinger die ,Idee des Lebens' eine Rolle spielt, wie ein Teil der Oetinger-Literatur herausgearbeitet habe 2 1 5 , hält er „ein anderes Motiv" als „vielleicht

Häussermann 2 2 2 . Häussermann 1 0 3 . 205 Vgl. Häussermann 1 0 6 . 203

204

Häussermann 1 0 7 . 207 Vg] Häussermann 1 0 7 . 2 0 8 Häussermann 110. Phil. Diss. Münster (Westf.) 1 9 6 9 . 2 "> Heinze 5 . 211 Heinze 9 . 206

»2 « zw 2 >s 2 2

Heinze 9 . Vgl. Heinze 7. Heinze 8 . Vgl. Heinze 8. 7 2 . 8 3 .

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noch wichtiger . . . : der spekulative Gottes- und Geschichtsbegriff". 2 1 6 Heinzes Folgerung führt daher zu einer Verkürzung: Oetingers Einsichten belaufen sich auf das Handeln und Werden Gottes in der Geschichte — die Theosophie wird zur Geschichtsmetaphysik. 2 1 7 Heinze baut in der Einleitung vor, daß das „reiche System" Oetingers „nur in Grundzügen skizziert w e r d e n " 2 1 8 könne; das muß jedoch auch als Schwäche der Arbeit angesehen werden. Neben Ungenauigkeiten in der Sprache 2 1 9 stehen Unscharfen in den Aussagen 2 2 0 und MißVerständnisse, ja sogar Widersprüche. 2 2 1 Oetinger erscheint bei Heinze als ein sehr interessanter Mann, der wichtige Dinge sagt; aber warum er sie sagt und warum er sie so sagt, bleibt im Dunkeln. Ihm wird nicht volle Würdigung zuteil, weil er letztendlich nur gesehen wird im Rückgang von Schelling und Hegel. Der dritte Teil macht dies durch die Bezüge, die zu Oetinger hergestellt werden, deutlich: Oetinger gewinnt Bedeutung nur durch seine Wirkung auf Schelling und Hegel. Da die beiden abschließend genannten Dissertationen von Ursula Hardmeier „F. Chr. Oetingers Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Einleitung und mit Anmerkungen versehen" 2 2 2 und Konrad Ohly „Friedrich Christoph Oetinger ,Theologia ex idea vitae deducta' 1765. Neuedition 1 9 7 3 " 2 2 3 sich als Erarbeitung einer historisch-kritischen Ausgabe der genannten Oetinger-Schriften verstehen, erscheint auch nicht die systematisch-theologische Bearbeitung im Vordergrund. Ursula Hardmeier behandelt in der Einleitung zum „Wörterbuch" die Emblematik, die Alchemie und die Kabbala. Sie vertritt die Ansicht, daß für Oetinger „offensichtlich die Emblematik als besonders geeignetes Mittel im Kampf gegen die Rationalisten (galt)". 2 2 4 Dazu komme die Chemie, die eine „völlig neue Komponente . . . in die emblematische Denkweise" 2 2 5 bringe. So schaffe sich Oetinger zwei ,Beweis'mögHeinze 8. 217 Vgl. Heinze 10. 133. 218 Heinze 10. 219 Vgl. Heinze 5: Bengel und Oetinger „haben eine eigenartige Theologie entwickelt"; vgl. 51: Oetinger befaßt sich „mit den verschiedensten Themen und Problemen"; vgl. 85: „Als Theosoph denkt Oetinger sehr viel über das rechte Erkennen nach". 220 So besonders Oetingers Verhältnis zu Böhme und die Anklänge an die Kabbala (vgl. 56ff); man sollte sich nicht mit der Feststellung zu retten versuchen: „Es ist schwierig, die vielen Hypostasen, die Oetinger nennt, zu unterscheiden" (Heinze 70). 221 Vgl di e Darlegungen zur Erkenntnislehre 85ff. 222 Diss, theol. Heidelberg 1973. 223 Diss, theol. Heidelberg 1974. 224 Hardmeier Einleitung 3 I. 22s Hardmeier Einleitung 11.

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lichkeiten: Die Lebendigkeit Gottes werde durch die Chemie offenbart, die Leiblichkeit und Sinnlichkeit durch die emblematische Theologie. 226 Die Kabbala schließlich stelle die Frage: „Wie kann aus dem Geist Stoff hervorgehen?" 2 2 7 Mit der Einführung in die drei Denktraditionen, denen Oetinger verpflichtet ist, möchte Hardmeier zu erkennen geben, „daß Oetinger ein universaler Denker war. Er wollte mit seinem Bemühen die damals beginnende Spezialisierung auf Einzelfragen in der Theologie, aber auch in den anderen Wissenschaften kritisieren". 2 2 8 Darum ordne Oetinger die Einzelwissenschaften — Emblematik, chemische, physikalische und philosophische Erkenntnisse seiner Zeit — hin zu einem Ziel: der wahren Gotteserkenntnis. 2 2 9 Konrad Ohly befaßt sich in der Einleitung mit der literarischen Gestalt der „Theologie" und den dazu gehörenden Fragen der Entstehung, Bearbeitung und Fertigstellung. Zur Bedeutung der „Theologie" hält er fest: Oetinger habe sicher einiges unternommen, um einer Verwendung seiner Schrift als öffentliches Lehrbuch nichts in den Weg zu legen. 230 Sie sei auch darum nicht als ein Gelegenheitsprodukt anzusehen; man habe den Eindruck, daß Oetinger selbst sie als in sich geschlossene Darstellung seines theologischen Systems ansieht. 2 3 1 „Sie ist der Höhepunkt und Abschluß einer theologischen Arbeit". 2 3 2

6. Präzisierung des eigenen Ansatzes und der Aufgabenstellung Der Gang durch die Auslegungsepochen gibt zu erkennen, daß Oetinger manches Mal unter Aspekten betrachtet wird, die zwar seinem eigenen Werk inneliegen, die aber — da sie dem theologischen Lieblingsgedanken eines Forschers entgegenkommen, und er ihn darum betont — leicht zu Einseitigkeiten und Verkürzungen führen können. Diese Tendenz erfährt Unterstützung, sobald die Interpretatoren Oetingers Gedanken aus einem Werk mit Zitaten aus anderen Schriften untermauern, ohne Zusammenhang und Hintergrund der jeweiligen Schrift streng zu beachten. 226

Vgl. Hardmeier Einleitung 12. Hardmeier Einleitung 22. 228 Hardmeier Einleitung 37. 229 Vgl. Hardmeier Einleitung 37. 2 3° Vgl. Ohly Einleitung 21. Vgl. Ohly Einleitung 23. 232 Ohly Einleitung 22. 227

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Dadurch verliert eine Abhandlung den Charakter ihrer Selbständigkeit — sie wird vorschnell in ein System eingebracht. Es geht aber auch die Transparenz verloren. Die auftretenden Unterschiede, durch den jeweiligen situationsbezogenen Hintergrund gegeben, werden verwischt und kommen weniger zur Geltung. Aus den genannten Gründen soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, ein Spezialgebiet Oetingers zu untersuchen, ohne es von vornherein als zentral anzusetzen, um nicht dem Irrtum zu unterliegen, die gesamte Philosophie und Theologie Oetingers aus der Problematik dieses Gebietes her zu deuten. Das hat zur Folge, daß zunächst Oetingers Entwicklungsgang nachzuzeichnen ist, damit sich klären läßt, mit welchen Gedanken und Vorstellungen er zum ersten Mal an die Öffentlichkeit tritt, ob und in welcher Weise sein Denken Veränderungen erfährt. Zum andern wird erforderlich, die Einzelschriften — soweit es irgend möglich ist — auf die zur Untersuchung anstehenden Fragen abzuhorchen, um auch hier Unterschiede und Veränderungen wahrnehmen zu können, um der Vielschichtigkeit Oetingerschen Denkens gerecht zu werden. Damit soll nicht der Vorstellung von einem System entgegengetreten werden, aber einer Systematisierung, die vorschnell Einheitlichkeit herstellt. Abschließend sei noch angefügt, daß Oetinger selbst ausführlich zu Wort kommen wird. Dieses Vorgehen soll mit dem noch immer schwierigen Unterfangen, die Schriften Oetingers einzusehen, begründet werden.

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2. K A P I T E L : GENESE DER PHILOSOPHIE THEOLOGIE OETINGERS

UND

1. Das Problem Friedrich Christoph Oetinger hat Aufzeichnungen hinterlassen, die üblicherweise „Selbstbiographie" 1 genannt werden. Sie enthalten zwar eine Anzahl biographischer Notizen, die Oetingers äußere Lebensgeschichte markieren; betrachtet man jedoch den von ihm gewählten Titel „Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten" 2 , so müssen sie eher als die Auskunft über die Entwicklung und Ausgestaltung seiner Theologie verstanden werden. S o schreibt er: „Man hat mich gebeten, einen Aufsatz zu machen, wie meine Gedanken in der Theologie zum Bestand gebracht und nach ihrer Entstehungsgeschichte mit Hilfe dieser drei mittelbar zusammengenommenen Werkzeuge [das sind: die Stimme der Weisheit auf der Gasse, die Philosophie; Sinn und Geist der Heiligen Schrift; die äußeren Schickungen G o t t e s 3 ] auseinander gebildet worden sind, womit der Geist Gottes bald natürlich, bald übernatürlich, j a auf beide Arten zugleich wirkt. Ich will es tun, obwohl es schwer zu beschreiben i s t " . 4 Es erscheint daher gerechtfertigt, diese Selbstbiographie heranzuziehen, um an ihr die Entstehung und Entwicklung der Philosophie und Theologie Oetingers abzulesen. 5 Allerdings ergeben sich bei diesem Vorgehen zwei Probleme. Zum ersten ist zu beachten, daß Oetinger seine GeneaDiese Bezeichnung findet sich zum ersten Mal bei J u l i u s Hamberger 1845 bei der Herausgabe dieser Schrift. 2 Vgl. E h m a n n 1; sie erfuhr 1815 und 1818 auszugsweise und 1824 durch Gotthilf Heinrich Schubert erste vollständige Drucklegung. Ich halte mich im folgenden an den üblichen Sprachgebrauch und benenne die „ G e n e a l o g i e " Selbstbiographie; zitiert wird vorwiegend nach J u l i u s Roessle, Friedrich Christoph Oetinger, Selbstbiographie. Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten, Metzingen 1961. 1

Vgl. Roessle, Selbstbiographie 11. Roessle, Selbstbiographie 17. 5 Soweit ich sehe, sind diesen Weg — allerdings ohne die K o n s e q u e n z der systematischen Auswertung — nur J o h a n n e s Herzog, Friedrich Christoph ötinger. Ein Lebensund Charakterbild aus seinen Selbstbekenntnissen und Schriften, 2. Α., Stuttgart 1935, und Ehmann, Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe, gegangen. 3

4

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logie in den Jahren 1762 oder 1764 6 , vielleicht sogar erst 1 7 7 3 7 verfaßt hat, sie also zu den späten Arbeiten zu zählen ist. Bei dieser späten Datierung muß als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß in der Selbstbiographie als einem Rückblick das Ergebnis der Entwicklung auch den — dargestellten — Gang der Entwicklung beeinflußt hat und in ihn eingeflossen ist. Zum zweiten muß man sich, um die einzelnen Stadien im Bildungsgang Oetingers darlegen und deren Problemstellungen begründen zu können, auf Schriften berufen, die zum Teil wesentlich später verfaßt worden sind und den Zeitraum, den sie begründen, nur indirekt betreffen. Es wird sich also nicht umgehen lassen, zeitlich frühere Erkenntnisse durch zeitlich spätere Literaturhinweise zu erhärten. Trotzdem erscheint der vorgeschlagene Weg am ehesten geeignet, einen Schlüssel zum Verständnis des Werks von Oetinger zu finden. Zunächst ist jedoch noch ein kritischer Punkt zu klären. In der Lebensgeschichte Oetingers zeigen sich auf den ersten Blick zwei Abschnitte: einmal der Zeitraum der Kindheit, der Ausbildung und der Reisen (1702—1737), zum andern die Periode, die mit der Übernahme einer Pfarrstelle einsetzt (ab 1738). Oetinger selbst läßt diese Gliederung seines Lebens zu — obwohl er eine Unterteilung in der Selbstbiographie vermeidet —, denn er bemerkt: „Auf meinen Reisen hatte ich wenig Einigkeit unter den Frommen und Gelehrten gefunden und dachte endlich, daß ich auf einer kleinen Pfarrei mehr Freiheit hätte, der Wahrheit nachzuspüren, als wenn ich mich in Gesellschaft mit andern begäbe. Ich heiratete daher im sechsunddreißigsten Lebensjahr und zeugte Kinder; ich nahm mir aber auch die Zeit, erst recht von Grund aus der Wahrheit nachzugehen". 8 Die Zäsur in seinem Lebenslauf könnte also im Jahr 1738, der Anstellung in Hirsau, liegen; aber damit stellt sich die Schwierigkeit, daß Oetingers Suche nach Wahrheit nicht erst seit der Amtsübernahme ihren schriftstellerischen Niederschlag fand, sondern schon Jahre zuvor. Die Gliederung seines Lebenslaufs in zwei deutlich abgrenzbare Abschnitte muß also korrigiert werden. In der Selbstbiographie berichtet Oetinger, daß er während seiner ersten Reise in Herrnhut „Aufmunternde Gründe zur Lesung J a c o b Böhmes" verfaßte. Dieses Werk ist die älteste, uns von Oetinger angegebene und auch bekannt gewordene Schrift; es wird sich zeigen, daß in ihr alle Strukturen seines Denkens angelegt sind, die dann später zum Teil weiter entfaltet, aber nicht grundsätzlich verändert werden. So ergibt sich als Einschnitt in Oetingers Leben, der der Haltepunkt sein wird 6 7 8

So Roessle, Selbstbiographie 5; Herzog (178) zieht 1764 vor. So Benz, Swedenborg 21. Roessle, Selbstbiographie 73f.

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bei der Entstehungsgeschichte seines philosophischen und theologischen Denkens, das Ende der ersten Reise, eben das Jahr 1730. Bevor jedoch die „Aufmunternden Gründe" untersucht werden sollen, ist zunächst der Bildungsgang Oetingers nachzuzeichnen.

2. Prägungen der Kindheit Oetinger ist am 6. Mai 1702 in der Regierungszeit des Herzogs Eberhard Ludwig (1693—1733) geboren. Seine von ihm beschriebenen Umwelterfahrungen in der Kindheit beschränken sich auf Kontakte mit Eltern und Lehrern. Die ersten Prägungen, die von ihnen ausgehen, lassen sich beschreiben durch die Begriffe Strenge, Zwang und Drill. Strenge ist das Erziehungsmerkmal seines Onkels, der sein erster Lehrer wird, seines Vaters, seines späteren Hauslehrers und seines Präzeptors. 9 Neben die Strenge tritt in Oetingers Erinnerung die Härte, durch die sich die ihn leitenden und betreuenden Personen ausweisen. 10 Selbst Oetingers Mutter, die er als „ein edles kluges Gemüt, aber des inwendigen Weges unerf a h r e n " 1 1 beschreibt, folgt diesem „männlichen" Prinzip: eines Sonntags befiehlt sie ihrem Sohn, nicht eher vom Stuhl aufzustehen, bis er einige Kapitel der Bibel gelesen habe, während die Eltern zu einem Spaziergang aufbrechen. 1 2 Religiöse Erziehung wird demzufolge verstanden als Auswendiglernen von Liedern und deren Heruntersagen, als Nachschreiben der gehörten Predigten, als befohlenes Bibellesen und häufiges sonntägliches Beten auf den Knien. 1 3 Mögen diese skizzierten Erziehungsmethoden auch in Oetingers Zeit selbstverständlich gewesen sein, so brachten sie bei ihm doch große Ängste, Haßgefühle und Abwehrreaktionen hervor. Seine Ängste schlagen sich nieder in „eindrückliche(n) Träume(n) von den Gefängnissen der Unseligen nach dem T o d " 1 4 , er fürchtet sich „so schrecklich vor Gewittern". 15 Haß und Abwehr gegenüber seinen Lehrern machen sich Luft in Zornesausbrüchen, Giftmordwünschen und Fluchtvorsätzen. Neben diese nach außen gerichteten Proteste tritt die Wendung nach Innen. Mehr und mehr wird Oetinger in seiner Entwicklung auf sich 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Roessle, Selbstbiographie Vgl. Roessle, Selbstbiographie Roessle, Selbstbiographie 19. Vgl. Roessle, Selbstbiographie Vgl. Roessle, Selbstbiographie Roessle, Selbstbiographie 18. Roessle, Selbstbiographie 20.

19. 25. 19. 18.

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selbst zurückgeworfen: seine Ängste verliert er, weil er weiß, „wie man zu Gott betet" 1 6 ; Geborgenheit findet er „inwendig", weil er sich „aufgeschwungen in Gott" 1 7 erfährt; Befehle von außen bewirken innere Bereitschaft: „Weil ich muß, darum will ich!" 1 8 — Oetinger kompensiert also in erheblichem Maß durch Verinnerlichung. Diese Betonung der Innerlichkeit läßt den Schritt zur Vereinzelung des Menschen zu, ja begünstigt ihn. Von daher nimmt es nicht wunder, daß für Oetinger der Einzelne immer mehr in den Vordergrund tritt. Wie stark die Betonung auf dem Einzelnen liegt, auf dessen innerer Erlöstheit, soll in diesem Zusammenhang 19 nur mit einer einzigen Stelle belegt werden. In

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Roessle, Selbstbiographie 18. Roessle, Selbstbiographie 18. 18 Roessle, Selbstbiographie 20. 19 Die Betonung des Einzelnen wird relevant bei Oetingers Geschichtsverständnis (darüber handeln vor allem Benz, Bengel; Benz, Geistesahnen und Heinze). Dazu einige Hinweise: Die Geschichte ist für Oetinger das Spiegelbild der Vorsehung Gottes (vgl. 2,4. 13); die gesamte Menschheitsgeschichte versteht er — in Ubereinstimmung mit Bengel — als Heilsgeschichte, als den Prozeß der sukzessiven Offenbarung Gottes, als Enthüllung des Heilsplans Gottes. Dies zeigt er auf in seiner Schrift „Das Wichtigste von der Kirchen-Historie, nämlich das, woraus das öffentliche Recht Gottes hervorleuchtet" (in 2,6. 71—91), in der er den von Bengel gesetzten weltgeschichtlichen Zäsuren folgt. Unter „öffentliches Recht Gottes" versteht Oetinger die Handlungsweise Gottes innerhalb der verschiedenen Zeitalter. Die Reiche dieser Welt sind vergängliche Durchgangsstationen, deren Wert darin liegt, Offenbarung Gottes anschaubar zu machen (vgl. 2,6. 86). Die Aufgabe des religiösen Menschen besteht also darin, die Offenbarungen Gottes in Geschichte und Weltgeschehen zu erkennen und deutlich zu machen, daß sich hier die Macht Gottes zeigt und erweist. Die Betrachtung der Geschichte geschieht mithin unter heilsgeschichtlichem Aspekt um des einzelnen Menschen willen. Geschichtsbezogenheit meint bei Oetinger: Aufspüren der Eröffnungen Gottes und Vorbereitung auf die Dinge, „die uns bevorstehen" (2,6. 9; so auch Rusche 111: Oetinger „möchte vor allem die bedeutenden und führenden Leute seiner Zeit im Staat oder an der Universität darauf aufmerksam machen, daß es Zeit ist, sich mit der letzten Zeit auf Erden zu befassen.") Die Betonung der letzten 17

Zeit wird provoziert durch die Kenntnis der Bengelschen Zeitrechnung; Oetinger übernimmt die Endzeitberechnung Bengels, wohl aus Faszination, jedoch nicht als Interpretation der Zeitgeschehnisse. (So auch Heinze 53: „Gab Bengel seine Deutung noch sozusagen mit Furcht und Zittern, so spürt man bei Oetinger diese Nähe zur Geschichte, zu den konkreten Ereignissen nicht mehr, — er möchte wie ein Philosoph über den Dingen stehen".) Oetinger weiß zwar d a r u m , daß es Benachteiligung, Unterdrückung gibt; er sieht seine Aufgabe aber nicht im Abstellen dieser Härten durch Einflußnahme auf die sie bewirkenden Kräfte, sondern darin, den Blick auf das nahe bevorstehende Reich zu lenken, wo jeder das erhalten wird, was ihm zusteht (vgl. 2,4. 28). Sein Interesse ,beschränkt' sich darauf, G o t t zu erkennen, die Wirkungsmacht Gottes, die die Geschichte lenkt und die zunehmend verständlich wird. Geht es um Erkenntnis und Vorbereitung und damit letztlich um Erlösung, so ist betontermaßen der Einzelmensch im Blick. Aus dieser Konzeption kann Oetinger keine sozial-revolutio-

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Fortsetzung Fußnote 19:

nären Konsequenzen ziehen (gegen Günther Rohrmoser, Zur Vorgeschichte der Jugendschriften Hegels, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 14/1960, 203). Die Vorbereitung des Einzelnen geschieht auf ein Ende hin, auf das die Geschichtsentwicklung hingelenkt wird; die Menschheit kann jedoch nicht eingreifen, weil die Geschichte Heilsgeschichte als Offenbarung Gottes ist. Oetinger kennt keine sozial-revolutionären und politischen Veränderungen im Sinne von Reformen, die das Werk von Menschen sind. Diese Welt wird nicht von Menschen verändert; allein Gott wird den Umsturz vollziehen am Ende der Zeiten. Die verbleibende Zeit wird von Oetinger nicht für die Erarbeitung eines ganz konkreten ethischen, sozialen, politischen und pädagogischen Reformprogramms, das Benz in Oetingers „Güldener Zeit" (vgl. 2,6. I f f ) entwickelt sehen will (vgl. Benz, Bengel 550), genützt; im Vordergrund steht bei Oetinger vielmehr die Sorge um den andern, dem später Heil oder Unheil widerfahren wird. Mit seinen Schriften will er darum zur Erkenntnis beitragen, daß jeder Einzelne zur Vorbereitung auf die letzte Zeit Sinnvolles für sich tun kann. Bei Oetinger kann von einem ,.aktiven Moment sozialen und politischen Handelns" (Benz, Bengel 550) allerhöchstens im Sinn seines Briefs an den Grafen von Castell die Rede sein: „Ich lese, schreibe, rede für mich und Andere" (Ehmann 620). — Im übrigen ergibt auch die Betrachtung des Wortmaterials, daß Oetinger nicht ein konkretes Programm mit seiner Schrift „Güldene Zeit" niederlegen will, sondern vielmehr philosophische Betrachtungen über einen in Kürze eintretenden Zeitabschnitt anstellt. Er schreib nämlich: „II. Wollen wir eine moralische Betrachtung anstellen von der allgemeinen Glückseligkeit in der güldenen Zeit, und warum diese Glückseligkeit so groß ist?" (2,6. 27). Das Wort .moralisch' hat zur Zeit Oetingers nicht allein die Bedeutung von: der Sittenlehre bzw. der Sittlichkeit gemäß oder sie betreffend, sondern ebenso — im Gegensatz zu physisch — die Bedeutung von .gedanklich' (vgl. J a c o b und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 6. Bd, Sp. 2527) —. Wie die Vorbereitung des Einzelnen aussehen könnte, legt Oetinger in dem 1. Kapitel seiner „Güldenen Zeit" dar; sie gelingt, wenn man sich die Frage vorlegt, wie sich Jesus verhalten würde, müßte er in dieser Zeit leben: „Es ist also hochnöthig, Jesum anzusehen, wie er gedacht, wie er geredet, wie er gezürnt, was er hoch gehalten, was er verachtet, worüber er ungeduldig worden, worüber er sich gefreut, worüber er traurig gewesen, absonderlich wie er alle Affecte, und alles, was nur irgend ohne Sünde menschlich war, habe an sich kommen lassen; wie polit, wie geziemend, wie gesellschaftlich, wie gerad er gewandelt, wie er immerdar gebetet und sich in die Einfalt gesammelt, wie er alle Arten der Weisheit und alle Arten der Gerechtigkeit erfüllt, nach Augen, Ohren, Lippen, Händen und Füßen, wie es die Weisheit in den Sprüchen Salomo angezeigt; wie er uns in allem ein Vorbild gewesen, damit wir, wenn er in uns, seinen Gliedern, leidet, es machen mögen, wie er. Siehe mein Leser, das ist der Weg, daß du in dieser betrübten Zeit leben kannst so freudig, so aufgeräumt, so vergnügt, als wenn du schon in der güldenen Zeit mit deinen Kindern, unter deinem Weinstock und Feigenbaum säßest" (2,6. l l l f ; Sperrung aufgehoben). Was die Geschichte auch bringt, es ist als von Gott gegeben zu ertragen: „Ein wohlgeprüfter Christ läßt sich alles gefallen, wie es der große Gott schickt, wie Jesus alles, was geschah, vom himmlischen Vater annahm. Alsdann kann der Mensch im Frieden und Ruhe bleiben" (1,3. 110). Denn Friede ist für Oetinger nicht ein Geschehen, das der Mensch gestaltend mitzuverantworten hat, sondern eschatologische Verheißung: „Friede ist ein status, nicht actus" (Wörterbuch 219). Bei der Fragestellung nach dem Tun des Menschen in seiner Welt wird also der Verlust des Gemeinschaftsbezugs sichtbar. Oetingers Antwort ist schwerpunktmäßig auf den Einzelnen in seinem Verhältnis zu G o t t ausgerichtet. Menschenleben bekommt

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der „Güldenen Zeit" schreibt Oetinger: „Kurz, der Untertanen Zustand würde alsdann der güldenen Zeit am ähnlichsten sein, wenn ein jeder das Muster des Reichs des Messias in sich selbst hätte, andern damit vorleuchte". 2 0 Zwar liegt hier die Begründung der Makrokosmik, die mit Oetinger einen Durchbruch erlebt, aber es muß für Oetingers Entwicklungsgang festgehalten werden: frühzeitig schon wird in ihm der Weg zu Verinnerlichung und Individualisierung bereitet: dadurch, daß er seine Umwelt vorwiegend als asozial insofern erfährt, als sie ihn immer wieder auf ihn selbst zurückwirft. 21 Oetinger erfährt Hilfe aus beklemmenden und ängstigenden Situationen nur durch sich selbst und sein Ringen mit Gott. 2 2

seinen Sinn durch das Gespanntsein auf die Verheißungen Gottes (vgl. Herpel 306f); Tun heißt dann: Warten, Harren. Oetinger wäre dennoch mißverstanden, sähe man in diesem Warten ein Nichts-Tun; Warten ist vielmehr die angespannte Haltung eines Menschen im Horizont der eschatologischen Erwartung, Warten heißt damit paradoxerweise: Tätigsein. Dieses Tätigsein findet nun allerdings sein Feld nicht in der Gemeinschaft und nicht in der Verantwortung für Welt und ihre Geschichte, sondern im Gebet: „So heißt beten die Macht üben, mit G o t t , aus dem alle Vaterschaft im Himmel und Erden fließt, zu wirken. Beten heißt mit G o t t wirken. Denn Jesus sagt: ,Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch.' Und weil Gott im Wirken ist, so sollen wir nach der Verwandtschaft mit dem Vater, mit ihm wirken durch J e s u m Christum, der alle seine Macht und Kraft mit seinen Glaubigen gemeinschaftlich haben will" ( l , 3 . 2 2 9 f . Sperrung aufgehoben; vgl. aüch 1,1. 225; 1,1. 497 u.ö.). Oetinger setzt aber dieses Mit-Gott-Wirken nicht ins soziale Umfeld um — vgl. die Predigt zum Sonntag Rogate (1,3. 227—233), wo aufgeführt wird, worum der Mensch beten soll. Dabei handelt es sich ausschließlich um Dinge des privaten Bereichs und der subjektiven Frömmigkeit —. Die Umwelt wird für ihn nur wichtig auf dem Hintergrund, Kinder Gottes zum Reich Gottes vorzubereiten. 20

2,6. 39 (Kursivdruck nicht im Original). Vgl. die unbeantworteten bzw. ungenügend beantworteten Fragen, den Versuch des Schulausbruchs, die Drohung an den Vater (Roessle, Selbstbiographie 18ff). 22 Vgl. dazu das Erlebnis aus Oetingers 13. Lebensjahr. Oetinger schreibt: „Es befiehl sie [die Mutter] ein außerordentlicher Blutsturz, und sie lag wie tot auf dem Bett. Ich sah es mit Schrecken, ging sogleich wieder in mein oberes Zimmer, warf mich vor Gott auf mein Angesicht und bat mit voller Zuversicht um ihr Leben. Meine Mutter erzählte mir nachher, sie habe mich vor allen schreien und beten hören. Nachdem es aber schien, als sei sie wirklich erkaltet, trotzte ich mit G o t t und sagte: ,Bist du nicht ein grausamer G o t t ? Ich habe so stark geglaubt, ich hätte sie erbeten, und nun stirbt sie doch!' Sie kam aber durch die Essentia dulcís wieder auf, und ich erquickte mich hernach, daß Gott mein Gebet erhört h a t t e " (Roessle, Selbstbiographie 21f). 21

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3. Bildungsquellen aus Philosophie und Theologie a) Erste Einflüsse Der Hang zur Innerlichkeit und Selbstprüfung wird verstärkt während Oetingers Schulzeit in Blaubeuren. 23 Zur Untermauerung dieser These können zwei Beobachtungen angeführt werden. Für die erste steht Oetingers Lehrer Philipp Heinrich Weißensee24, den er in der Selbstbiographie nennt und dort als einen „tief mystischen Theologen" beschreibt, der ihm „ganz neue Ideen von der Mystik" 25 nahegebracht habe. Die zweite Beobachtung betrifft einen alten Klosterbrauch, den Weißensee beibehalten hatte, nämlich jeden einzelnen Schüler nach dem öffentlichen Abendgebet zu fragen, „wie er seinen Tag zugebracht habe, was für Züge Gottes an sein Herz gekommen seien und was für Gedanken und Entschlüsse nach der guten Seite hin er hege". 26 Daß Oetinger diesen Brauch schätzte, gibt er mit der Umschreibung als einer „löblichen Gewohnheit" 2 7 zu erkennen. Neben dieser Verstärkung früherer Prägungen finden sich jedoch auch neue Einflüsse: Weißensee war — nach Oetingers Worten — nicht nur Theologe, sondern auch „in der Naturgeschichte daheim". 2 8 Es kann angenommen werden, daß Oetingers Vorliebe für die Naturwissenschaften von Weißensee initiiert worden ist, oder anders gesagt: Durch ihn lernt Oetinger, daß sich Theologie und Naturwissenschaften nicht auszuschließen brauchen. Dies beinhaltet noch einen weiteren Aspekt, der für sein Denksystem ebenso tragend werden wird. Von Weißensee wird ihm nahegebracht, daß neben das biblische Wort Weisheiten und Einsichten aus anderen Gebieten — eben der Naturwissenschaft oder auch der Philosophie — treten können. Dazu berichtet Oetinger eine Begebenheit aus einer der üblichen Fragestunden: „Endlich wußte ich einmal nichts zu sagen. Er [Weißensee] sprach: was hat er denn heute gelesen? Antwort: Boileau Despréaux. Was darin? Antwort: von der Scham des Guten, daß diese der Grund alles Elends sei . . . Das gefiel ihm sehr wohl, und er sagte, es sei so gut, als ein biblisch applicierter Spruch". 2 9 Oetinger gibt in der 23

Oetinger wurde in Blaubeuren im Oktober 1717 aufgenommen und besuchte die Klosterschule bis zum Herbst 1720. 24 1 6 7 3 — 17 6 7; er war Präzeptor an den Klosterschulen in Maulbronn und Blaubeuren, dann Prälat in Denkendorf. 25 Roessle, Selbstbiographie 22. 26 Roessle, Selbstbiographie 23. 27 Roessle, Selbstbiographie 23. i8 Roessle, Selbstbiographie 22. 29 Ehmann 17.

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Selbstbiographie keine weiteren Erläuterungen. Doch ist mit diesem Erlebnis der Grundstein seines Denkens gelegt: nicht die Bibel allein dient der Wahrheitsfindung; auch andere Erkenntnisgebiete können ihren Teil daran haben. 3 0 Ob für sich allein oder im Zusammenhang mit der Theologie und mit welcher Bewertung — dies wird an anderer Stelle zu erörtern sein.

b) Israel Gottlieb Canz Mit der Philosophie seiner Zeit, mit der an die Namen Leibniz und Wolff gebundenen philosophischen Denkrichtung, kommt Oetinger während seines Aufenthaltes in der Klosterschule Bebenhausen — zumindest andeutungsweise — in Kontakt. Einer seiner Lehrer an dieser Schule, die Oetinger von Herbst 1720 bis zur Aufnahme ins Tübinger Stift 1722 besuchte, war Israel Gottlieb Canz. 31 Er gehörte zu der Generation jener Anhänger Wölfischer Philosophie, die versuchte, den „Wolffianismus" in die Theologie zu übertragen. Dogmatik wird nach Wolffs mathematischer Methode betrieben, ohne jedoch dabei der kirchlichen Lehre zugunsten der Aufklärung Zugeständnisse abzunötigen. Das demonstrative Verfahren Wolffs wird zum Beweis der kirchlichen Lehre herangezogen mit dem Ziel, die geoffenbarten Wahrheiten umso überzeugender zu machen. Eine These von Canz lautet: Gott legt durch das Mittel Vernunft Wahrheiten vor, die nicht der unmittelbar geoffenbarten Lehre unterzuordnen sind. „Unsere tägliche Nahrung soll uns nicht geringer scheinen als das unmittelbar vom Himmel gefallene Manna". 3 2 Canz betont die Harmonie von Vernunft und Offenbarung innerhalb der Dogmatik auch für die einzelnen Lehrstücke, nicht nur allgemein für die Prinzipienlehre. Damit gerät er allerdings in Gefahr, sog. natürlich-vernünftige Beweisgründe mit biblischen Aussagen zu vermengen. Dazu neigt auch Oetinger in seiner — später einsetzenden — wissenschaftlichen Arbeitsmethode: er 30

Herzog, Oetinger 18, begeht den Irrtum, an dieser Stelle sensus communis und Philosophie gleichzusetzen. Er beobachtet zwar, daß Oetingers Erkenntnis dahingehend wächst, Gott wolle die Menschen nicht nur durch die Bibel unterrichten, interpretiert Oetingers sensus communis an dieser Stelle jedoch einseitig. — Zum Komplex sensus communis vgl. Kapitel 3.5 dieser Arbeit. 31 1 6 9 0 - 1 7 5 3 ; er war von 1 7 2 1 - 2 3 in Bebenhausen, wurde 1 7 3 4 Professor in Tübingen; 1728 erscheint „Usus philosophiae Leibnitianae et Wolfianae in Theologiae" im Druck; vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 2. Bd, 2. Α., Gütersloh 1960, 387f; Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, 2 2 3 f . 32 Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd 1 7, 2. Α., Leipzig 1886, 2 8 3 .

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bevorzugt, unter Zugrundelegung seiner Einsicht, daß beispielsweise Naturwissenschaft und Theologie in ein Verhältnis zueinander zu setzen sind, naturwissenschaftliche Systeme mit ihrer Begrifflichkeit und überträgt sie auf biblische Ausdrücke und Verstehenszusammenhänge. 3 3 Nun darf man diese Annäherung beider Methoden sicherlich nicht als einen direkt greifbaren Einfluß von Canz auf Oetinger ansehen — Oetinger gibt in der Selbstbiographie auch keinen zu; doch darf gleichwohl von einer Einwirkung gesprochen werden insofern, als Oetinger sog. vernünftige, vernunftgemäße, der Vernunft einsichtige und durch sie nachprüfbare Gedankengänge auch im Bereich theologischen Arbeitens nicht ausklammern kann und will. Oetinger führt selbst zwei Beispiele aus seiner Zeit in Bebenhausen an, wo sich diese Einstellung entwickelt haben mag: Er beschreibt einmal seine Begegnung mit den Inspirierten 3 4 , zum andern das Ringen um die Gewißheit des eigenen Betroffenseins vom Bibeltext. 35 Beim Beschreiben dieser beiden Vorgänge benutzt Oetinger in beiden Fällen Begriffspaare, in denen die Vokabel „logice" vorkommt und sogar an erster Position rangiert. Aber dennoch gilt für Oetinger im besonderen: Vernunftgemäße Gewißheit bedarf der Ubereinstimmung mit dem „Geist", mit dem „inwendigen Wahrheitsgefühl". Diese Auffassung wird für Oetinger in seiner künftigen Arbeit bestimmend sein; Vernunft und Geist: nicht als zwei Denkebenen, die in Harmonie gebracht werden müssen, sondern als zwei Denkweisen, die ihren Wert nicht in ihrer Unabhängigkeit voneinander haben, sondern im Miteinander Gewißheit vermitteln. Gleichzeitig läßt sich anhand dieser Wortverbindung aber auch erhellen, warum Oetinger sich als Gegner von Canz versteht und nicht als dessen 33 Vgl. vor allem als Beispiel 2, 2. 2 0 9 f : „ N e w t o n hat gezeigt, daß die Fixsterne in einem leeren Raum durch die inneren Zentralkräfte ohne Wirbel zusammen gehalten werden. Es fragt sich aber, w o die Ursach der Attraction zu suchen? Antwort: Gott ist nicht ungeziemend, daß sein Wesen in den sieben Geistern Gottes sich offenbare. Die sieben Geister Gottes haben zum Grund die Zentral-Kräfte, also sind auch die Zentral-Kräfte selbst in Gott." 34 Vgl. Ehmann 28f: „Ich brachte . . . drei Vierteljahr zu, und schrieb die Gründe auf, die für und wider die Inspirationssache wären; . . . Also ging ich endlich auf meine obere Bühne, fiel auf mein Angesicht und sagte: Mein Jesu, w e n n du jetzt auf der Welt mit deinen Jüngern gewandelt hättest, so wollte ich dich in drei, vier Tagen geprüft haben, aber diese Leute kann ich nicht prüfen. . . . Doch da ich sie nicht verdammen und auch nicht annehmen kann, so bin ich los von ihnen. Und auf diese Art bin ich auch sowohl logice als nach dem sensu interno von ihnen losgesprochen worden" (Kursivdruck nicht im Original). 35

Vgl. Ehmann 29: „Aber die von Weißensee mir gegebene unzulängliche Antwort wurde mir unter diesen Übungen folgendermaßen ergänzt, und zwar so, daß es logice und spiritualiter zureichend war, mich gewiß zu machen" (Kursivdruck nicht im Original).

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Schüler und Anhänger. Schon relativ früh — in einem Brief an Bengel vom 27. Januar 1728 — tritt Oetinger in Opposition zu Canz. Oetinger schreibt: „In der Mezler'schen Buchhandlung ist ein Buch von meinem ehemaligen Lehrer, Canz, erschienen, unter dem Titel: Anwendung der Leibniz-Wolfischen Philosophie auf die Theologie. Er sucht darin die Philosophie unserer orthodoxen Lehre anzubequemen, es mag nun gehen oder nicht. So gründet er z.B. auf die Allgegenwart des Fleisches Christi die Möglichkeit, und auf diese den unendlichen Wert des Leidens Christi. Ein neuer Zankapfel! eine neue Verkehrung der heiligen Begriffe der Schrift!" 3 6 Dieser angeführten Briefstelle läßt sich entnehmen, daß beider Ausgangspunkt im theologischen Denken nicht übereinstimmt. Für Canz geht es vorwiegend darum, das philosophische System mit seiner Methode an die Theologie heranzutragen; für Oetinger bedeutet dieses Vorgehen ein Hintansetzen der Schrift und ein Negieren ihrer ureigensten Methode. 3 7 Dem widerspricht allerdings Oetingers Erkenntnis nicht, daß Vernunft — punktueller Einklang mit Canz — ihr Recht auch in bezug auf theologisch-erkenntnismäßige Vorgänge hat; aber „logice" bedeutet bei Oetinger nicht das Überstülpen eines philosophischen Systems über die Schrift, sondern ist — gemeinsam — mit dem „spiritualiter" die Möglichkeit, Schrift auszulegen, Gottesgeschehen zu deuten.

c) Georg Bernhard Bilfinger Nach der von Canz gegebenen Einführung kommt es zu einem intensiveren Kontakt mit der Philosophie der Zeit durch Georg Bernhard Bilfinger. 38 Oetinger erfährt von ihm schon in Blaubeuren durch dessen 36 Ehmann 432f. 37 Dieser Gegensatz gerät dann später, in Oetingers Walddorfer Zeit, zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen beiden im Anschluß an die Anthropomorphismusschrift von Canz (Anthropomorphismus in permultis theologiae articulis detectus, occasione oraculi Ps 50,51; 1752) — vgl. Ehmann 220—235 —, die Oetingers exegetischen Grundsatz zu widerlegen sucht. Oetingers Antwort findet sich in zwei Schriften: in der „Untersuchung über den allgemeinen Wahrheitssinn" und in der „Sylloge" im letzten Abschnitt — vgl. Roessle, Selbstbiographie 90. Oetinger verteidigt darin seinen Ausgangspunkt, die Bibel zur Grundlage allen Wissens zu machen und philosophische Begrifflichkeit nicht über den sensu s communis zu stellen, den die Bibel voraussetze. 38 1 69 3—17 5 0; Bilfinger war von 1721 bis 1725 unbezahlter a.o. Professor der Philosophie in Tübingen, geriet mit den Tübinger Theologen wegen Leibniz in Kontroverse, kam als Professor in Petersburg (1725—1730) zu internationalem Ansehen und wurde 1731 als Professor der Theologie nach Tübingen zurückberufen; bis 1735 lehrte er in Tübingen. Ab 1735 war er Mitglied des Geheimen Rates in Stuttgart.

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Mutter, der Gattin des Prälaten von Blaubeuren, J o h a n n Wendel Bilfingen Er besucht, als er dann in Bebenhausen ist, ,,den außerordentlichen Professor Bilfinger" 3 9 in Tübingen, der dort seit 1721 als Schüler von Christian Wolff die Philosophie der Aufklärung lehrte 4 0 , und entwickelt sich zu dessen eifrigem Hörer nach seiner Übersiedlung ins Tübinger Stift. 4 1 Oetinger bekennt: „Bilfinger hatte eine Zeitlang großen Einfluß auf die Bildung meiner Gedanken; diese Gestaltung mußte hernach wieder zergehen, und Gott gab mir eine ganz andere. Doch was gut war, behielt ich unter allem". 4 2 Dieser letzte Satz ist als bedeutsam zu erachten. Jedoch: Oetinger definiert in seiner Selbstbiographie an keiner Stelle, was an Bilfingers System „gut" war, das zu bewahren und dem System der eigenen Überlegungen nutzbar zu machen galt. Auch in seinen übrigen Schriften ist nur indirekt zu erkennen gegeben, welche Aussagen unter Einfluß Bilfingers gewachsen sind. Tritt dessen Name in Oetingers Schriften in Erscheinung, so geschieht es unter positivem Vorzeichen dort, wo er ihn allein erwähnt 4 3 ; bei Nennung im Zusammenhang mit Wolff und Leibniz 4 4 wird er im gleichen Atemzug mit ihnen abgelehnt. Nun stellt sich Oetinger mit dieser pauschalen Verdammung in die Reihe jener Zeitgenossen, die den vereinfachenden Ausdruck „LeibnizWolffsche Philosophie" mit abwertendem Unterton prägten 4 5 , verschweigt dann auch durch diese Verallgemeinerung, daß Bilfinger keineswegs in allen seinen Lehraussagen Wolff bzw. Leibniz sklavisch folgt. 39

Roessle, Selbstbiographie 24. Vgl. Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg v o m 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1969, 68. 41 Vgl. Roessle, Selbstbiographie 30: „Dort hielt ich mich vor allem mehr an Bilfinger als an alle anderen Professoren." 42 Roessle, Selbstbiographie 31. 43 Vgl. Theologie 124 (die von Hamberger besorgte Übersetzung der „Theologia ex idea vitae deducta" wird zitiert als Theologie, w e n n es sich um den OetingerText handelt; als Hamberger, Theologie, wenn Anmerkungen Hambergers angeführt werden); Roessle, Selbstbiographie 24. 30; Ehmann 2 1 6 . 2 1 9 . 44 Vgl. etwa den Brief Oetingers an Zinzendorf vom 2 . 8 . 1 7 3 2 , abgedruckt bei Herpel 82. 45 Wolff akzeptierte diesen Ausdruck für sich selbst nicht und schrieb ihn Bilfinger zu. Dieser Unterstellung folgen noch Werner Ziegenfuß/Gertrud Jung, Philosophen-Lexikon, 1. Bd, Berlin 1949, 119 und Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 3. Teil, Tübingen 1953, 4 5 7 . Daß bei Wolff eine Gedächtnistäuschung vorliegen muß, weist Wundt 150 Anm. 1 nach: „Tatsächlich findet sich dieser Ausdruck bei diesem [Bilfinger] nicht . . . In der D o m m e n t a t i o nennt er die Systeme von Leibniz und Wolff mehrfach nebeneinander . . . identifiziert sie also gerade nicht . . . Dagegen k o m m t der Ausdruck in den Reihen von Wolffs Gegnern auf." 40

4 G r o ß m a n n , Oetinger

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Das soll — allerdings nur andeutungsweise — an Bilfingers InauguralDissertation 4 6 von 1721 erhellt werden. Hier stellt Bilfinger die Vorzüge des Systems von der prästabliierten Harmonie heraus und grenzt sich dadurch gegen seinen Lehrer Wolff ab. 4 7 An diesem System ist Bilfinger primär interessiert. Deswegen hält er — wiederum im Gegensatz zu Wolff — an der Monadenlehre fest, weil sie das System der prästabilierten Harmonie ermöglicht. Allerdings interpretiert er sie an einigen Punkten von Leibniz verschieden und modifiziert sie so. 4 8 Da aber Oetinger die prästabilierte Harmonie als „hochgetriebene Spitzfindigkeit" ablehnt 4 9 und die Monadenlehre verwirft 5 0 , so brauchen ihn auch die Modifikationen durch Bilfinger nicht zu kümmern; insofern kann er in seiner Ablehnung Bilfinger mit Leibniz und Wolff gleichsetzen. Doch bleibt ja noch immer sein Ausspruch, daß es „Gutes" zu behalten gab. Interpretiere ich Oetinger recht, so sieht er seine eigenen Empfehlungen zur Methode theologischen Arbeitens in Ubereinstimmung mit der Methode Bilfingers. Diese Aussage muß genauer betrachtet werden. Bilfinger 51 kennt für die Theologie den Ausdruck der Wissenschaftlichkeit, derem Anspruch sowohl die natürliche als auch die geoffenbarte genügen muß. Gegen böswillig falsch interpretierte Aussagen der Schrift und zum Schutz des einfältig Glaubenden kann die Kirche den Schriftsinn in Begriffen proklamieren, muß aber ihre Lehren, sofern Irrtümer festgestellt werden, korrigieren. Eine wissenschaftliche Behandlung der Theologie ist somit möglich, unbeschadet des Glaubens und der kirchlichen Autorität. Eine natürliche Theologie, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, muß nach Bilfinger neun Regeln erfüllen. Die beiden ersten betreffen den Anspruch im allgemeinen: Es muß eine Nominaldefinition von Gott entworfen werden, die so deutlich und charakteristisch ist, daß aus ihr Eigenschaften und Wirkungen der Reihe nach hergeleitet werden können. Nur solche Begriffe dürfen verwendet werden, die deutlich erklärt worden sind. Eine wissenschaftliche natürliche Theologie ist also nur möglich mit Begriffserklärungen, die vorausgehen. Die weiteren Regeln beinhalten den Übergang von Definitionen zum Beweisverfahren und legen fest, wie Beweise geschehen können; 46

De harmonía animi et corporis humani maxime praestabilita ex mente illustris Leibnitii, dissertatio inauguralis. Vgl. Wundt 2 1 4 . 48 Vgl. Heinz Liebing, Zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Das philosophische und theologische Denken Georg Bernhard Bilfingers, Tübingen 1961, 6 7 f f , bes. 76; vgl. Überweg 4 5 7 . 49 Roessle, Selbstbiographie 38. 50 Vgl. Roessle, Selbstbiographie 45. 51 Vgl. zum folgenden Liebing 9 4 f f .

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die letzte Regel stellt die ganze Abfolge der natürlichen Gotteserkenntnis in ihren moralischen Kontext. Die von Bilfinger vorgestellte Arbeitsweise bei der geoffenbarten Theologie in ihrer thetischen Disziplin sieht folgende Schritte vor: Ausgangspunkt ist die Grundlagenarbeit an der Schrift, sie sammelt und verbindet, was aus der Schrift erhoben worden ist. Theologisch-dogmatische Thesen sind allein aus ihr zu entnehmen, vorhandene Theorien sind an der Schrift zu prüfen, wodurch Irrtümer erkannt, vermieden oder widerlegt werden können; neben die aus der Schrift erhobenen Thesen treten erst dann die historisch vorgegebenen dogmatischen Loci. Den Lehrstücken ist endlich der „usus morales" hinzuzufügen. Soweit Bilfinger. Um Oetingers Behauptung ,,was gut war, behielt ich unter allem" untersuchen zu können, sind jetzt Oetingers Aussagen zur Methode theologischen Arbeitens — vor allem diejenigen aus der Vorrede zur „Theologie aus der Idee des Lebens", weil sich Oetinger hier ausdrücklich auf Bilfinger beruft — denjenigen Bilfingers gegenüberzustellen. Oetinger schreibt: „So mögen denn die Studierenden zuvörderst den Sensus communis zu Rat ziehen . . . hierauf mögen sie von dem durchaus reinen Quell der heiligen Schrift trinken; endlich mögen sie zur Wahrheit der Schrift noch die Formeln der Theologen hinzutreten lassen. Auf diese Art, anders nicht, werden sie ihre Thesen mit der aus der Wurzel selbst hervortretenden Frucht besitzen. Diese Methode ist sehr einfach, sehr nützlich und für das Gewissen heilsam; und alle diejenigen, welche die Theologie in gründlicher Art studieren oder lehren, können nur auf diesem Wege hierzu gelangt sein". 5 2 Vergleicht man Bilfingers und Oetingers Aussagen miteinander, so ist zunächst einmal festzuhalten: Oetinger hebt sich mit Bilfinger von der üblichen Auslegung ab; nicht mehr die Sammlung biblischer Beweisstellen zu dogmatischen Loci wird praktiziert, sondern die Arbeit an der Schrift, die Schrift selbst ist höchster und letzter Maßstab, nicht Lehre und Dogmatik. Zum andern steht fest: Für Oetinger sind aus Bilfingers Methodenüberlegungen nur diejenigen akzeptabel, die die geoffenbarte Theologie betreffen; die Übereinstimmung innerhalb der einzelnen Schritte ist dann aber fast absolut — es gibt nur eine Einschränkung: Oetingers Angabe, „den Sensus communis zu Rat (zu) ziehen". 5 3 Mit diesem von Oetinger erhobenen Ausgangspunkt läßt sich nun allerdings auch seine Ablehnung der Methode Bilfingers in bezug auf die natürliche Theologie erschließen. 52 Theologie 36f. 53 Theologie 36.

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Er muß sie zurückweisen, weil sie mit Begriffsdefinitionen und Ableitungen umgeht — Oetingers Interesse gilt nicht dieser Art rational-wissenschaftlicher Erkenntnis. Für Bilfinger steht die natürliche Theologie und ihre Methode an erster Stelle; er will aufzeigen, daß die neue Philosophie der Theologie nicht schadet, sondern — ganz im Gegenteil — ihr nützt. Oetinger hingegen lehnt es — mit dem Methodenschritt der Benutzung des sensus communis — ab, sich der Theologie abstrakt-begrifflich zu nähern. Eine seiner Begründungen lautet: „Die heil. Schrift bedient sich einer Methode, welche mehr mit der Entstehung der Dinge übereinkommt und nicht so gar sehr auf die Concinnität der Begriffe ausgeht". 5 4 Oetinger lehnt also — anders als Bilfinger — die Vorordnung der natürlichen Theologie und ihrer Methode vor die geoffenbarte ab. Hingegen erweist sich als ,,gut" aus der Begegnung mit Bilfinger die Methode theologischen Arbeitens in bezug auf die geoffenbarte Theologie. Daß es zu diesem Gleichklang kommen konnte, dürfte auch daran liegen, daß es sich bei Bilfinger um Methodenschritte handelt, die Oetinger mit dem Begriff „auf praktische Weise" umschreiben und umgreifen kann. Zwar anerkennt Oetinger die Theologie auch als einen „theoretischen Gegenstand" 5 5 , doch wichtiger ist für ihn, sie „in praktischer Weise ab(zu)handeln" 5 6 ; bei dieser Absicht fühlt er sich eins mit dem ,,trefflichen" S 7 Bilfinger.

d) Gottfried Wilhelm Leibniz Wie aus Oetingers Selbstbiographie zu ersehen 5 8 , ist Bilfinger während der Tübinger Universitätszeit die Vermittlungsperson für die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz. Aus dieser Vermittlung erwächst allerdings ein Problem: Oetinger bezeichnet sonst sehr genau die Literatur, die er während seiner Studienzeit bearbeitet h a t . 5 9 Über Leibniz — und auch über Wolff — fehlen jedoch derlei Angaben. Der Selbstbiographie ist lediglich zu entnehmen, daß Oetinger bei Bilfinger eine Vorlesung über die Monadenlehre gehört und 1725 unter Hagmajer 6 0 den Satz vom 54

Theologie 35 (Kursivdruck nicht im Original), Theologie 33. Theologie 33. Theologie 37. Vgl. Roessle, Selbstbiographie 32. Vgl. Roessle, Selbstbiographie 31. 4 6 - 4 9 . 50. 57. 60 Christian Hagmajer (1680—1746) war seit 1716 Professor der Philosophie und dann später der Theologie.

ss 56 57 58 59

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zureichenden Grund verteidigt h a t . 6 1 Es läßt sich also nicht schlüssig nachweisen, ob Oetinger Leibniz und auch Wolff nur aus zweiter Hand oder aus dem Studium ihrer Schriften gekannt hat. Gegen letzteres spräche, daß Oetinger Leibniz nicht mit genauen Stellenangaben zitiert, wie er das beispielsweise bei Böhme t u t 6 2 — dabei sollte allerdings in Rechnung gestellt werden, daß Oetinger vielleicht auf eine genaue Zitierung verzichtet, weil er Leibniz als bekannt voraussetzt. Oetinger zieht aber auch keine spezielle Schrift von Leibniz heran, um sich mit ihr ausdrücklich auseinanderzusetzen, wie er es bei Malebranche getan hat 6 3 ; er druckt auch keine Passagen aus Abhandlungen von Leibniz in seinen eigenen Schriften ab, wie er es etwa mit Newton, Maupertuis u.a. handhabt. 6 4 Es bleibt daher festzuhalten: Oetinger beschäftigt sich in seinen Schriften mit Leibniz in formaler Hinsicht außerhalb seiner Gewohnheit. Und er tut es auch im materialen Bereich. Treten etwa die zuvor genannten Personen mehr oder weniger kurzfristig und sporadisch in seinem Leben und seinen Schriften auf, so beschäftigen ihn Leibniz und dessen Theorien weitestgehend während seines ganzen Lebens. 6 5 Oetinger ist zunächst gefesselt von dem Gedankengut von Leibniz. 6 6 In seiner Selbstbiographie berichtet er von einer Vorlesung Bilfingers über die Grundlagen der monadologischen Philosophie von Leibniz, die ihn faszinierte. Er lernt weiter, „daß die Materie nur eine geordnete Erscheinung der angehäuften ersten Einheiten sei" 6 7 , daß „bewegende K r a f t " keinem „einfachen Ding", auch nicht der Seele zukomme 6 8 ; er hält „die Einwirkung der Seele auf den Leib" für „irreführend" 6 9 und „Leib und Seele hinsichtlich ihrer Bewegungen und Ge61

Vgl. Roessie, Selbstbiographie 32. 39; Oetingers Magisterarbeit „Materiam De Principio et principiato, causa & causato in genere Christiano Hagmajero . . . Pro Gradu Magisterii legitime obtinendo dent ad Dies [Lücke] Mart. MDCCXXV. Fridericus Christopherus « Vgl. 2,2. 199 u.ö. «3 Vgl. 2,2. 1 7 8 f f .

trägt den Titel . . . Praeside publice défenOetinger . ..".

64

Vgl. Inquisitio in sensum c o m m u n e m et rationem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 6 4 (Faksimile-Neudruck der Ausgabe Tübingen 1753). 65 Der Meinung Zinns, „die ganze Gedankenarbeit Oetingers ist bestimmt von d e m Gegensatz gegen die zeitgenössische Philosophie" (10) kann ich nur soweit folgen, als sie den zeitlichen Raum umgreifen will. Bei ihrer — etwas absolut geratenen — Beurteilung liegt der Aspekt zu sehr auf der Gegenposition, die Oetinger einnimmt; sie läßt der eigenen, selbständigen, urwüchsigen Arbeit zu einem System zu wenig Raum. 66

Vgl. Roessle, Selbstbiographie 32: „Da wurde ich in die Leibniz'sche Monadenlehre ganz eingetaucht." 67 Roessle, Selbstbiographie 32; vgl. auch 4 2 . 68 Roessle, Selbstbiographie 32. 69 Roessle, Selbstbiographie 32.

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danken wie zwei Uhren (von Gott) vorher nebeneinander zusammengestimmt". 7 0 Aber er erklärt in der Selbstbiographie dann weiter: „Gott hat mich hernach durch viele Schmerzen so lange in meinem Innersten mit seinem Wort gepeinigt, bis ich diese Grundbildung meiner Gedanken habe fahren und anders gestalten lassen, nämlich nach den Grundgedanken der Propheten und Apostel". 71 An diesem Zitat wird deutlich, daß sich eine bereits gegenüber Bilfinger aufgetretene Abwehrhaltung verfestigt. Zwar verwirft Oetinger keineswegs die gesamte Philosophie seiner Zeit 7 2 , aber den philosophischen Erörterungen, die unter den Namen Leibniz und Wolff einhergehen, tritt er ablehnend, manchmal mit schroff-abweisenden Worten entgegen. 73 Um die Gegensätze zwischen Oetinger und Leibnizscher Philosophie in ihren Ausprägungen aufzuspüren, die Oetinger ja auf den Nenner der Ablehnung oder Anlehnung an die „Grundgedanken der Propheten und Apostel" zu bringen versucht, beschränke ich mich im Augenblick auf jene Schriften, in denen Oetinger nachdrücklich und direkt auf Leibniz Bezug nimmt. Es ergibt sich folgendes Bild: In der „Irdischen und himmlischen Philosophie" 7 4 wendet sich Oetinger gegen das von Leibniz entwickelte Gesetz von der Erhaltung der Kraft, aus dem Oetinger den Schluß zieht, die Welt könne bis ins Unendliche dauern „gleichsam als eine einmal aufgezogenen U h r " . 7 5 Leibniz widersetze sich der Einsicht, daß Gott unzählige Dinge tue, „bloß seinen Willen und seine Souveränität zu offenbaren". 7 6 Hinter dieser Weigerung stünde der Satz vom zureichenden Grund. Aus diesem Satz folge dann konsequent die Verneinung eines Zufalls, alles sei determiniert aus dem 70

Roessle, Selbstbiographie 32. > Roessle, Selbstbiographie 32. 72 Vgl. z.B. Roessle, Selbstbiographie 89: „Suche wie Sokrates das Nützlichste und Einfältigste aus der Gelehrsamkeit der gegenwärtigen Zeit heraus"; vgl. auch Theologie 37: „Wir können der Philosophie in unserer Zeit nicht wohl entbehren" und weiter 2,4. 446: „Ich verwerfe keine Philosophie". 73 Vgl. 1,1. 3 7 6 u.ö. 74 Der vollständige Titel lautet: „Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie zur Prüfung des Besten ans Licht gestellt" (jetzt: 2,2. I f f ) ; zu der komplizierten Entstehungsgeschichte und Redaktion des 1765 gedruckt vorliegenden Werkes vgl. Benz, Swedenborg 2 I f f ; zu den von Oetinger gegebenen, allerdings voneinander abweichenden Darstellungen von der Entwicklung vgl. Ehmann 6 8 3 f f und Roessle, Selbstbiographie 9 7 f . Oetinger verfaßt diese Schrift während seiner schweren Krankheit im Jahr 1762; da er selbst mit dem T o d rechnet (vgl. Ehmann 653; Roessle, Selbstbiographie 9 7 f ) , kann man diese Schrift auch als sein letztes Vermächtnis ansehen (vgl. Ehmann 653—655. 6 7 1 ) . 7

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5 2,2. 199; vgl. 2,2. 250 u.ö. 2,2. 2 0 6 .

7

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Vorhergehenden, es „wäre keine Direktion oder Ausführung der Unordnung in die Ordnung, sondern lauter Determination in allem". 7 7 Ein anderer Einwand gilt der Ablehnung der „von Gott in die Kreatur gelegten drei unerschöpflichen Freiheits- und Selbstbewegungsquellen". 78 Der Widerspruch zu biblischen Glaubenssätzen ist ebenfalls Grund der Ablehnung: „Nun muß man entweder mit Wolff und Leibniz einen saltum machen, und sagen, aus einfachen Dingen entstehen Körper, oder es gebe nur Erscheinungen der Körper. Das erste können sie nicht erhärten, und das letzte ist wider den Spruch: Das Wort ward Fleisch". 7 9 In dem Kapitel „Die Wolffische Philosophie mit der Philosophie J a k o b Böhmes verglichen" erhärtet Oetinger nochmals seinen Einwand in bezug auf das Verhältnis Gottes zur Welt 8 0 und gegenüber der Monadenlehre. 8 1 In der „Theologie" zielt Oetingers Haupteinwand auf den Ausgangspunkt philosophischen Denkens: „Die Dürftigkeit des philosophischen Denkens, da man nämlich nicht wußte, von wo die Prinzipien des Denkens ihren Ausgang nehmen sollten, hat die Philosophen genötigt, den Faden ihrer Gedanken an die Wesenheit, Essentia, und an das Dasein, Existentia, anzuknüpfen". 8 2 Ein zweiter Einwand betrifft die Erschließung der Eigenschaften Gottes: Geschlossen werde von dem zufälligen auf ein schlechthin notwendiges Wesen, das den Grund seiner Existenz in sich selbst habe, Aseität genannt. „Aus der Aseität ergibt sich sowohl die Unveränderlichkeit und Ewigkeit, als auch die Unabhängigkeit und Unendlichkeit" 8 3 — diese entsprächen aber nicht den Schriftbegriffen. In die Schrift „Inquisitio in sensum communem et r a t i o n e m " 8 4 werden die Auseinandersetzungen um den Satz vom zureichenden Grund aufgenommen, dem die Anziehungskraft gegenübergestellt wird; die Monadenlehre, die ihr Gegenstück in der Lehre von der „vis supramechanica" 8 5 findet; und der Vorwurf des Pantheismus, dem die Omnipräsenz entgegengesetzt wird. Versucht man eine systematische Zusammenschau der verschiedenen Angriffspunkte, so ergibt sich, daß die Einzelaussagen im wesentlichen um 77

2,2. 2 0 9 . 2,2. 156. 79 2,2. 174. 80 Vgl. 2,2. 2 4 2 . 81 Vgl. 2,2. 2 5 9 . 2 6 2 f . 82 Theologie 47. m Theologie 128. 84 Gadamer nennt in seiner Vorrede zum Neudruck von 1 9 6 4 die Zeit der Entstehung „die Höhe seines [Oetingers] Lebens" (Hans-Georg Gadamer, Vorrede zu Fr. Chr. Oetinger: Inquisitio in sensum c o m m u n e m et rationem, V). 85 Auch „principium supramechanicum" bezeichnet. 78

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zwei Probleme kreisen: die Vorstellung von Gott und dessen Verhältnis zur Welt. Mit dieser Feststellung in bezug auf den materialen Teil müssen wir uns im Augenblick begnügen. Da aber in dem angeführten Zitat aus der „Theologie" Aspekte der Erkenntnistheorie angeklungen sind, gilt ihnen im gegenwärtigen Stand der Untersuchung besondere Aufmerksamkeit. Dabei hilft ein Ausspruch Oetingers weiter. An einer Stelle der Selbstbiographie, an der er sich von Leibniz distanziert, erklärt er: „Es handelt sich . . . um künstliche, aber nicht um wahre Schlüsse". 86 Weiter schreibt er: „ . . . so muß der, welcher wissen will, ob die Apostel die gleichen Grundbegriffe wie die Philosophen gehabt haben, sich über das, was er sagt, auch klar sein: Er muß . . . deutliche Begriffe haben". 8 7 Oetinger geht es in diesem Zusammenhang vorwiegend um zwei Dinge: einmal um Übereinstimmung mit der Begrifflichkeit der „Apostel und Propheten", zum andern um „deutliche" Begriffe und „wahre" Schlußfolgerungen innerhalb eines Systems. Oder anders gesagt: Er stellt im Verlauf seiner schriftstellerischen Arbeit die Begrifflichkeit von Leibniz als gekünstelt, formalistisch, abstrakt, mechanisch und unreal 88 seiner eigenen, die — wie er selber festhält — derjenigen der Apostel entspricht, gegenüber, die er als real, plastisch, konkret, buchstäblich, lebensvoll 89 ansieht. Den Hintergrund, den diese grundsätzliche Gegenüberstellung hat, erhellt ein Bekenntnis Oetingers aus einem Brief an den Grafen von Castell. Oetinger schreibt: „Ich will die Leibnizsche Philosophie passieren lassen, wenn ich ihr den Kopf abgehauen, und die Idee vom Leben aufgesetzt". 90 Welchen Stellenwert diese Aussage innerhalb der Erkenntnistheorie hat, wird sich noch erweisen müssen. 91 Im Verlauf der Betrachtung — auf Leibniz wird noch häufiger eingegangen werden müssen — ist deutlich geworden, daß der systematischen Darstellung des Verhältnisses Oetingers zu Leibniz Grenzen gesetzt sind: Da Oetinger immer dann auf Leibniz Bezug nimmt, wenn es am Ort seiner systematischen Erörterung notwendig ist, läßt sich ein entsprechender Überblick auch nur bei der entsprechenden Themenstellung innerhalb dieser Arbeit vornehmen. Ohne also den speziellen Untersuchungen vorgreifen zu wollen, kann hier jedoch schon eindeutig festgehalten werden: Im Gegenüber zu Leibniz verfestigt sich bei Oetinger die — schon in der 86

Roessle, Selbstbiographie 42; vgl. 2,2. 2 0 1 u.ö. Roessle, Selbstbiographie 4 3 . 88 So auch Auberlen 4 9 . 54; Leese, Krisis 55 u.a. 89 So auch Auberlen 9 8 ; Julius Hamberger, Stimmen aus d e m Heiligthum der christlichen Mystik und Theosophie, Bd 2, Stuttgart 1 8 5 7 , 25; Müller 1 7 6 u.a. 90 Ehmann 5 8 8 ; vgl. 5 9 8 . 91 Vgl. dazu Kapitel 3.5 dieser Arbeit. 87

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Abgrenzung zu Bilfinger zu erkennende — Auffassung, daß Definitionen und Schlußfolgerungen in bezug auf Heilswahrheiten einem anderen Bereich als dem der Mathematik und Mechanik entstammen müssen. Zum zweiten klärt sich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung: Oetinger sieht bei Leibniz ein Vorherrschen der Vernunftserkenntnis 92 , in Oetingers Sprache: der natürlichen Erkenntnis, denn ohne Vernunftschlüsse kommt ja auch Oetinger nicht mehr aus 9 3 ; doch liegt das Schwergewicht bei ihm eben auf derjenigen Erkenntnis, die ihre Fülle und Erfüllung durch ihr Zentrum, das Wort Gottes, erhält.

e) Nicolas Malebranche Oetinger beschäftigt sich während seiner Studienjahre in Tübingen auch mit der Philosophie des Nicolas Malebranche. 9 4 Angeregt zu diesem Studium wird er ebenfalls durch Bilfinger, der „unaufhörlich die Philosophie des gottseligen Malebranche zum Vergleich heranzog". 9 5 Oetinger las „daher viel des Malebranche ,Gespräche über die Metaphysik', seine .Christlichen Betrachtungen', die .Abhandlung über die Natur und die Gnade', seine Briefe und die Untersuchungen über die Wahrheit'". 9 6 Eine Zeitlang fühlt er sich als dessen Anhänger; aus seinen Schriften liest er ein System eines vorweltlichen Schemas in der Gottheit heraus, das ihm die Beunruhigung durch den Arianismus nimmt. 9 7 Er nennt ihn einen „der tiefsinnigsten und der frömmsten Männer". 9 8 Daneben steht aber auch das andere Urteil: Malebranche ist zwar ein „heiliger Mann", aber er philosophiert „nicht nach der heiligen Schrift". 9 9 An diesen Äußerungen gemessen ist Oetingers Verhältnis zu Malebranche als ein gebrochenes anzusehen: auf der einen Seite die positive BewerVgl. 1,1. 3 7 0 f . Vgl. Brief vom 2. August 1732: „Denn solche tief inkorporierten mit uns selbst eins gewordene systematisierten Gründe der falschberühmten Wolffischen Philosophie können nicht nur wegkommandiert werden, sondern wie man durchs Gesetz dem Gesetz sterben muß, so muß man j a auch durch Vernunft der Vernunft absterben. Ich meine also, der Heilige Geist wirkt im Anfang der Erleuchtung noch nach Art der Vernunftschlüsse, weil der zerstreute seelische Mensch der Aufschließung und unmittelbaren Weisheit durch Eingießung des Heiligen Geistes nicht fähig i s t " (Herpel 82). 92

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1638—1715, studierte Philosophie im Collège de la Marche und Theologie an der S o r b o n n e , trat 1660 in das Oratorium J e s u ein und erhielt 1664 die Priesterweihe. Seit 1 6 6 4 beschäftigte er sich eingehend mit der cartesischen Philosophie. 9 5 Roessle, Selbstbiographie 31 (Kursivdruck aufgehoben). 9 6 Roessle, Selbstbiographie 31. 9 7 Vgl. Roessle, Selbstbiographie 3 3 f . 35. 36. 9 8 2,6. 41. 9 9 2,2. 3 8 3 . 94

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tung, die in das Urteil mündet: „Dieses System, wenn es sonst auch nicht überall richtig ist, hat doch diesen Vorzug vor andern, daß es gleichsam ein Kommentar über den Spruch Ephes. 5,20 ist" 1 0 0 ; auf der andern Seite die Reduzierung seiner Philosophie auf „gemeine Wahrheiten, die jeder Mensch von der Weisheit auf der Gasse lernt, und ohne Malebranche lernen kann. Es sind in Malebranche viel Worte, aber wenig Begriff ins Ganze der Schrift". 1 0 1 Woraus ergibt sich diese Spannung? Zur Beantwortung dieser Frage greift man am besten auf die Schrift zurück, in der sich Oetinger am auffälligsten mit der Philosophie des Malebranche auseinandersetzt, in: „Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie". Hier legt Oetinger seinem Aufriß von Malebranches Philosophie dessen „Traité de la nature et de la grâce" 1 0 2 zugrunde. Dabei bemerkt er mit Genugtuung, daß Malebranche sich theologischer Argumente nicht verschließt und Glaubensaussagen seiner Philosophie zugrundelegt — dies zeichne ihn aus vor den „kaltsinnigen Philosophen, die sich des Namens Jesu in der Philosophie schämen". 1 0 3 Oetingers Zustimmung findet also der Ansatzpunkt bei Malebranche, Philosophie zu treiben: „Es ist schön, daß Malebranche seine Philosophie von Gott und von Jesus Christus anfängt und endigt". 1 0 4 Gleichzeitig aber begibt sich Malebranche — so Oetinger — in die Abhängigkeit der „Mode der Philosophen und Obersten dieser Welt" 10s , weil er eine Philosophie „aus dem Begriff des allervollkommensten Wesens" 106 betreibe. Mit Hilfe dieser Fundierung läge die Absicht Malebranches in der Darstellung Gottes als der einen wahren allgemeinen Ursache; es könne für ihn nicht wahres Eigensein und wahre Ursächlichkeit des Geschaffenen selbst geben — dagegen muß sich Oetinger verwahren; so kommt er zu dem endgültigen Schluß: „Überhaupt, wenn man betrachtet, aus was für Gründen er das ganze System erdacht, so ist man wohl dispensiert, es anzunehmen". 1 0 7 Wie schon bei Leibniz wird auch hier deutlich: alles Philosophieren steht und fällt bei Oetinger mit der Frage, ob es der Schrift gemäß geschieht und ist. Dieser Grundsatz wird auch als kritischer und ausschlaggebender Maßstab an Malebranche und dessen System angelegt. Es geht Oetinger auch hier um den rechten Weg zur Erkenntnis

loo 2,2. 193 A n m . r); Eph 5,20: „Und sagt Dank allezeit für alles Gott und dem Vater in dem N a m e n unsres Herrn Jesu Christi." io· 2,2. 178 Anm. a). ι«« geschrieben 1680; vgl. 2,2. 1 7 8 - 1 9 4 . 103 2,2. 178 Anm. a); vgl. 2,2. 3 7 7 . 104 2,2. 178 Anm. a). 105 2,2. 178 Anm. a). io« 2,2. 178 Anm. a). 107 2,2. 185 Anm. i).

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Gottes. Oetinger schätzt Malebranche dann, wenn bei ihm die Theologie nicht von der Philosophie verschlungen wird; er muß ihn dort ablehnen, wo seine Begrifflichkeit und deren Ausdeutung sich nicht mehr auf dem Boden der Schrift befinden. Zum Ende der Untersuchung über die Oetinger bekanntgewordenen philosophischen Systeme zeigt sich, daß er mit bestimmten, genau definierbaren Kriterien messend seine eigene Position festlegt. Dabei geht es ihm nicht darum, Philosophie grundsätzlich abzulehnen oder gar zu verbieten, auch wenn er sagen kann: Philosophie hält die Leute von der Schrift ab. 1 0 8 Hinter diesem Satz steht vielmehr die Gewißheit, daß Philosophie nur dann geglückt ist, wenn sie mit der Schrift in Übereinstimmung steht. Und diese Voraussetzung erfüllen für Oetinger die vorgestellten Systeme nicht. Sie sind einem „Idealismus" 109 verhaftet, der seine Begriffe außerhalb der von Oetinger angegebenen Ordnung findet und bildet. Sein Urteil mündet in einen Satz: „Die heilige Schrift gibt sehr massive, determinierte, höchst bestimmte Begriffe; aber die heutigen Philosophen entkörpern solche schändlich". 1 1 0 Fragen wir nun, auf welchem Weg Oetinger zu seinen — bis zu diesem Stand der Untersuchung gekommenen — Kriterien gefunden hat.

f) Jakob Böhme Oetinger nennt in der Selbstbiographie das Ereignis, in dessen Folge er mit den Schriften Jakob Böhme s 1 1 1 bekannt werden sollte, „Gottes Schickung". 1 1 2 Oetinger charakterisiert jene Periode als unruhig. 1 1 3 Sein Denken ist weitgehend fixiert im Präformationsschema, das er sich ja aus der Malebranchischen Philosophie angeeignet hat; gleichzeitig aber erwachsen ihm Bedenken aufgrund der Lektüre des Neuen Testaments. κ» Vgl. 2,2. 2 5 1 . 1 09 Vgl. LT 169; 2,2. 2 9 6 u.ö. 110 2,6. 181 (Kursivdruck nicht im Original). 111 1575—1624; zu seiner Biographie vgl. vor allem die Monographie von Hans Grunsky, Jacob Böhme, Stuttgart 1956; dazu wurden hier verwendet: Gerhard Wehr, Der ,Philosophus teutonicus' — Jakob Böhmes Leben und Wirken, in: Zeitwende, 4 7 . Jg. 1976, 65—78; Hans Grunsky, Jakob Böhmes Schau des Menschen, in: Zeitwende, 47. Jg. 1976, 7 9 - 1 0 0 ; Roland Pietsch, J a k o b Böhmes Gottesbegriff, in: Zeitwende, 4 7 . Jg. 1976, 1 0 0 - 1 1 2 . 112 Roessle, Selbstbiographie 36; Oetinger wurde während seiner Universitätsjahre in Tübingen durch Johann Kaspar Obenberger, den „Pulvermüller" (vgl. Ehmann 35, A n m . ) , auf B ö h m e aufmerksam gemacht; dieser vermittelte ihm die Schriften Böhmes und nannte sie „die rechte Theologie" (Roessle, Selbstbiographie 36). 113 Roessle, Selbstbiographie 35.

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Aus diesem Zwiespalt wird er herausgerissen durch das Studium der Schriften J a k o b Böhmes. Gilt die Philosophie der Aufklärung stets als die Strömung, der sich Oetinger zeit seines Lebens widersetzte, so steht auf der anderen Seite J a k o b Böhme, mit dem sich Oetinger ebenfalls während seines ganzen Lebens bis ins hohe Alter immer wieder intensiv beschäftigt. 1 1 4 Es ist für Oetinger zunächst keineswegs selbstverständlich, Böhme als Autorität anzuerkennen. 1 1 5 Ihn halten aber die „überaus bildhaften und anschaulichen Ausdrücke" 1 1 6 gefangen, und in der Auseinandersetzung mit ihnen lernt er die Gedankenfülle Böhmes schätzen — und noch mehr: „Hätte ich nicht zur contrebalance der Philosophie, die nach den allerschönsten Elementen der Welt in der zierlichsten Ordnung gebaut und in mir abgemalt war, Jakob Böhm erkannt, ich würde noch immer, bei aller Verleugnung der Philosophie, gegen die Schrift, gleichwohl die Grundirrtümer in den Hauptvorstellungen der geistlichen Dinge, als da sind Geist, Seele, Leib, Schöpfung, Signatur, Einflüssen und Ausflüssen etc. beibehalten haben, welcher Dinge Mangel der Erkenntnis mich immer traversiert hätten wegen der konträren Irrtümer". 1 1 7 Böhme wird ihm zum Maßstab für die ihm bekannten Philosophen. Dennoch sieht er sich weder in sklavischer Abhängigkeit von ihm 1 1 8 , noch als „Nachäffer des Jacob Böhm" 1 1 9 ; wohl überwiegt in der Jugend die begeisterte Zustimmung, in späteren Jahren sieht er sich jedoch zur Abgrenzung an verschiedenen Sachpunkten genötigt. 1 2 0 Er versteht sich daher vielmehr

114 Dies wird schon bei der Abfolge von Oetingers Schriften deutlich (bei der hier angeführten Aufreihung ist nicht an Vollständigkeit gedacht): 1731 „Aufmunternde Gründe zur Lesung der Schriften Jakob Böhmens"; in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" erscheint Böhme als Korrektiv zu anderen philosophischen Systemen; 1774 „Wie man Jacob Böhm mit Vorsicht lesen solle"; ebenfalls 1774 „Inbegriff der Grundweisheit"; 1777 — eine der letzten Arbeiten — „Versuch einer Auflösung der 177 Fragen aus Jakob Böhm". 115 Vgl. Roessle, Selbstbiographie 36: „Ich las das erste Mal in diesem Buch und fürchtete mich vor den bildhaft anschaulichen Worten Sal, Sulphur und Merkurius . . . Ich machte mich darüber lustig und ging davon." 116 Roessle, Selbstbiographie 36. i " Brief Oetingers vom 2. August 1732 (vgl. Herpel 82). Iis v g i_ Wörterbuch 345. 503; 1,1. 461; 2,1. 395. 277 u.ö. 1,9 Ehmann 38; vgl. 2,1. 314 u.ö. Im Gegensatz zu dieser Selbsteinschätzung sieht Hirsch IV, 173 in Oetinger nur den, „welcher Böhme die Zunge gelöst hat", d.h. wir haben „überall es weniger mit Oetinger als mit Böhme selber zu tun". 120 Vgl. 2,6. 302 (Tätigkeit Gottes); 2,5. 389 (Vorstellungen in der Apokalypse); Wörterbuch 19 (Erkenntnis am Ende der Zeiten); Wörterbuch 497 (Raumvorstellung); Ehmann 298 (Vorsatz der Ewigkeiten); Wörterbuch 535 (Apokalypse) u.a.

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als derjenige, der „die Theologie dieses Mannes ins R e i n e " 1 2 1 bringen will. Um ermessen zu können, wieweit Oetinger sich an Böhme anlehnt bzw. worin er sich von ihm unterscheidet, ist zunächst eine kurze Darlegung der Struktur, die Böhmes Gedankenwelt zugrundeliegt, vonnöten. 1 2 2 „Sucht man nach dem erregenden Grunde eines großen geistigen Entwurfs, so ist es bei jedem echten Philosophen, erst recht aber bei einem so eruptiven Denker wie J a k o b Böhme nicht eine einzelne Einsicht, nicht dieser oder jener Zweifel oder Gedanke, sondern eine ursprüngliche Intuition, die alles t r ä g t " . 1 2 3 In der Tat spielt das unmittelbare Gewahrwerden bei Böhme eine entscheidende Rolle. Aber hier muß sogleich differenziert werden: Böhme erlebt in seiner ersten Vision mit großer Gewalt ein Verbundensein mit einer göttlichen Macht, mit göttlichen Lichtkräften, die in der Welt walten; er erlebt Harmonie. 1 2 4 Aber bald muß ein Gegenstoß erfolgt sein, der das zuvor als gut und göttlich Erfahrene korrigiert: nun drängt sich ihm die fragwürdige und furchtbare Seite des Daseins auf, das Grauen vor Widersinn und Widergöttlichem, das ihn in die Verzweiflung treibt. 1 2 5 Aber Böhme gelingt es, diese Widersprüche zu ertragen; sie nicht zu überwinden, sondern „beide Pole in der ganzen Rätselhaftigkeit ihrer unlöslichen Spannung mutig auszuhalt e n " . 1 2 6 Was sich Böhme — schmerzhaft — erschließt ist der Zusammenhang von positiven und negativen Seiten des Daseins, ist die Identität der Widersprüche. Dieser Gedanke bedarf jedoch noch der Vertiefung: Der wesentliche Anstoß des metaphysischen Sinnens Böhmes ist „die Erfahrung elementarer außermenschlicher Natur — wie sie in Gestein, Gebirge, Gestirn, in .harter', ,strenger' Eigenrealität, ,davon die Kälte urkundet', entgegentritt". 1 2 7 Böhme muß erfahren, daß es eine Dimension des Elementaren gibt, die sich feindlich, kalt, schweigend 1 2 8 zeigt und der gegenüber die KategoEhmann 38; vgl. 2,2. 149. Ich folge in meiner Darstellung der Monographie von Grunsky und dessen Aufsatz , J a k o b B ö h m e s Schau des Menschen"; außerdem ziehe ich den A u f s a t z von Erwin Metzke, V o n Steinen und Erde und vom Grimm der Natur in der Philosophie J a c o b Böhmes, heran (in: ders., Coincidentia O p p o s i t o r u m , Witten 1961, 129—157). 1 2 3 Heinrich B o r n k a m m , J a k o b Böhme. Der Denker, in: Das J a h r h u n d e r t der Ref o r m a t i o n , Göttingen 1961, 3 0 7 - 3 2 1 ; 3 0 7 f . 1 2 4 Vgl. Grunsky 16. 1 2 5 Vgl. Grunsky 18. ' 2 « Grunsky 18. » 2 7 Metzke 135; vgl. Böhme, Drei Prinzipien 6 , 8 . 128 Vg] Böhme, Morgenröte 15, 26.: „ O b aber Lucifer Recht habe, daß er die Grimmigkeit im Salitter G o t t e s erwecket hat, davon diese Welt also stachlicht, 122

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rien des Geistig-Seelischen wie die des Lebens versagen. 129 Seine Wirklichkeitslehre muß daher dieser Erfahrung Rechnung tragen: daß es Härte, Kälte, Verschlossenheit als allgemeines Wesen des Wirklichen gibt; daß gleichzeitig der Mensch auf diese harte Abgeschlossenheit stoßen kann und dabei wahrnehmen muß, daß es die Unerweichlichkeit des Steins wie die Unerweichlichkeit eines Gemütes gibt. 1 3 0 Erfahrung ist also seine eigentliche Erkenntnisquelle, eine Erfahrung aber, die nicht auf den Bereich der exakten Naturwissenschaft eingeschränkt wird: die Erfahrung also, „die das menschliche Gemüt . . . in seiner unendlichen Bewegtheit konkret und sinnennah ununterbrochen macht" 1 3 1 , die den Bruch und den Zwiespalt kennt sowohl im menschlichen Wesen als auch in der außermenschlichen Natur; Erfahrung der Natur in ihrer elementaren Wirklichkeit und innerseelische Erfahrungen, die sich gegenseitig ergänzen, ja vertiefen. Neben Intuition und Erfahrung tritt bei Böhme als ebenso heftiges existentielles Ringen das theoretische Verstehen. 1 3 2 Das, was in der Schau als Totalität ergriffen worden ist, bedarf der entfalteten, ausgegliederten Form, um rechte Erkenntnis zu werden; auf die „kritische und sichtende Funktion des bewußten Denkens" 1 3 3 kann also nicht verzichtet werden. Dabei ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß bei Böhme die Vernunft das niedrige Erkenntnisorgan umschreibt, Verstand das höhere bedeutet. Erkenntnis ist daher dann möglich, wenn die „tote Vernunft" 1 3 4 — sie ist verdunkelter Verstand, behindert das theoretische Verstehen und verkörpert alles Streben der Selbstsucht — durch den Verstand „angezündet" ist und dessen Helfer wird. Und da der Mensch für Böhme ein forschendes Wesen ist 1 3 5 , kann er von der Tätigkeit der Vernunft, die vom Verstand mitgerissen wird, nicht abstehen. Und noch ein dritter Aspekt. Wir sahen schon: Den Ausgangspunkt seines Philosophierens findet Böhme in der Erfahrung; die Phänomene dieser Welt — der Natur und des Menschen — bilden die zentrale Erkenntnisquelle. Aber es wird nötig, „daß aus dem empirischen ein metadornicht, felsicht, neidig und falsch? sollen die Advocaten und Vertreter Lucifers alhie auch verantworten . . . " . 129 Vgl. Metzke 140. 130 Vgl. Metzke 142. 131 Grunsky, Schau 82. 132 Zum folgenden vgl. Grunsky 30f. 133 Grunsky 31; vgl. Böhme, Menschwerdung II 4,1: „Wir wollen nicht stumm schreiben, sondern beweislich". 134 Vgl. Böhme, Morgenröte 2 5 , 7 . 135 Vgl. Böhme, Dreifaches Leben 4 , 6 0 : „Denn das Gemute läßt nicht nach zu forschen, bis es auf den innersten Grund k o m m t . . .".

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physischer Augenschein werde". 1 3 6 Das jedoch ist für Böhme nur möglich, wenn die Erfahrungsgrundlage des Menschen in Ubereinstimmung steht mit dem, was er im Eigentlichen und Letzten erfahren will; wenn er durch die Dinge bis auf ihren letzten Grund hindurchzusehen vermag 1 3 7 — was aber auf keinen Fall bedeutet, daß die naturhafte Wirklichkeit die seinsärmere ist, aus der man sich herausstehlen müßte in jenseitige Regionen. Böhme macht Ernst mit dem Satz von der Gottebenbildlichkeit des Menschen: „Wie du bist, also ist auch die ewige Geburt in G o t t " . 1 3 8 Mithin geschieht bei Böhme Identität von Erfahrendem und Erfahrenem nicht durch die spekulative Aufhebung in einer höheren Einheit; vielmehr ist „aus einem neuen Blick in die Tiefensphären des eigenen Selbst auch eine neue Einsicht in die ,Tiefen der Gottheit' zu gewinnen, die zu ergründen nach dem von ihm mit Vorliebe herangezogenen Pauluswort (l.Kor. 2,10) dem Menschengeiste gegeben ist". 1 3 9 Wenden wir uns nun der Schrift Oetingers zu, mit der er zum ersten Mal seiner Bezogenheit auf Böhme literarischen Ausdruck verleiht: der Abhandlung „Halatophili Irenäi Vorstellung, wie viel Jakob Böhme's Schriften zur lebendigen Erkenntnis beitragen". 1 4 0 Schon der Titel läßt also die Intention des Büchleins erkennen: darzulegen, in welchem Maß die Schriften Jakob ßöhmes zur „lebendigen Erkenntnis" 1 4 1 beizutragen vermögen. Diese Zielsetzung erläutert Oetinger nochmals am Ende 136 Grunsky 110. 137 Vgl. Böhme, Drei Prinzipien 10,26: „Bist du aber aus Gott geboren, so ist dirs wohl begreiflich; aber kein unerleuchtet Gemüte begreift den Zweck. Denn das Gemüte muß im selben Haus sein, wills sehen, was im Haus ist: denn von Hören-sagen, und nicht selber sehen, ist immer Zweifel, ob die Dinge wahr sind, so man höret sagen: was aber das Auge siehet, und das Gemüte erkennet, das glaubts vollkommen, denn es hats ergriffen." 138 Böhme, Dreifaches Leben 4,75: „Also mein liebes, suchendes und begehrendes Gemüt, betrachte dich selber, suche dich, und finde dich selber, du bist Gottes Gleichnis, Bild, Wesen, und Eigentum: wie du bist, also ist auch die ewige Geburt in G o t t . " 139 Grunsky 72. 1 40 Dies ist der Kurztitel, unter dem die Schrift in 2,1. 247—328 abgedruckt ist. Der vollständige Titel lautet: Aufmunternde Gründe zur Lesung der Schriften J a k o b Böhme's, bestehend in J o h . Theod. von Tschesch Schreiben an Henr. Brunnium, und ejusdem kurzer Entwerfung der Tage Adams im Paradiese, wie auch Halatophili Irenäi Vorstellung, wie viel J a k o b Böhme's Schriften zur lebendigen Erkenntnis beitragen, wider die scheinbaren Einwendungen aus gründlich herausgesuchter Schriftund Natur-Ahnlichkeit verteidigt und mit vielen Anmerkungen erläutert, nebst J o h . Theodori von Tschesch Leben, Frankfurt und Leipzig 1731, im folgenden zitiert als „ A u f m u n t e r n d e Gründe". 141 2,1. 247. 248; ich gebe im folgenden die Seitenzahlen im Text an.

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des 1. Kapitels: Die Schriften Böhmes sind von Bedeutung, weil mit ihnen ein Gegengewicht zu den „niedrigen Auslegungen der hohen Schulen von des heiligen Geistes Wirkungen" (260) gefunden und weil mit ihrer Hilfe bewiesen werden kann, „wie unbegreiflich mal weiter und tiefer der göttliche eingegossene, oder vielmehr aufgeschlossene Verstand über alle stückweis der Natur nachrechnende Vernunft gehe" (260). Zum ersten Aspekt: Mit der Gegenüberstellung zweier .Schulen' wird auch hier angezeigt, daß Oetinger menschliche Wissenschaften nicht verachtet, sie aber „recht" einordnen will (257); daß er Erkenntnis grundsätzlich nicht verwirft, sie sich für ihn aber zweifach darstellt (251. 255): als „tiefe Erkenntnis" und als „historische Erkenntnis" (251). Dabei wird Oetinger im Laufe der Abhandlung die Attribute variieren 142 , aber es bleibt die grundsätzliche Unterscheidung: tiefe Erkenntnis geschieht aus der Erfahrung, historische Erkenntnis erfolgt außerhalb der Erfahrung (251). Was bedeutet an dieser Stelle aber „Erfahrung"? Nicht einfach Bekehrung, auch nicht das Wissen, daß man etwas weiß (251), sondern „die verheißenen innerlichen Offenbarungen" (257), mit denen man „auf einmal mehr, im Lichte Gottes erlangt, als die Welt in sechstausend Jahren mit allen zufälligen Erfindungen nicht zusammengebracht h a t " (258). Tiefe Erkenntnis hat man also nicht, sondern sie geschieht-, für dieses Geschehnis bedarf es jedoch der Voraussetzungen: einmal, daß Gott die Menschen „allemal mit einem gewissen Licht zuerst anblickt, daran die Erkenntnis ihrer selbst und Gottes aufzugehen möglich ist" (250); zum andern die Bereitschaft des Menschen — und diese erweist sich im „Lesen, Nachdenken und Beten" (292). Im 2. Kapitel verteidigt Oetinger die intuitive Erkenntnisweise Böhmes gegenüber den Forschungen und Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Er tut es mit dem Hinweis, daß es eben einen Unterschied gibt zwischen einer Theorie, die als Anweisung für eine Menge Leute über mechanische oder chemische Vorgänge gesehen werden kann, und einem Bekenntnis, einem ,Gedächtnisbericht' für einen selbst (271), der als Hilfe auf dem Weg zur göttlichen Wahrheit vernommen werden kann (271). Damit sind wir beim 2. Aspekt jener Absicht, die hinter der zu betrachtenden Schrift steht. Oetinger unterscheidet „nachrechnende V e r n u n f t " und „göttlich . . . aufgeschlossenen Verstand" (260), „wahren Verstand" (293) Die .nachrechnende Vernunft' führt zur ,Vernunfterkenntnis'; sie wird aus eigener Kraft erworben und führt zu Ergebnissen, die zwar an sich beachtenswert sind, die aber ihre Absicht, zur Wahrheit zu führen, nicht 142 Vgl.: klare unterscheidende Erkenntnis ( 2 4 9 ) ; aufgeklärte Erkenntnis (250); lebendig machende Erkenntnis (250); ausführliche Erkenntnis (255); nachgerechnete Erkenntnis (274); anschauende Erkenntnis ( 3 1 4 ) .

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verwirklichen können, denn sie bleiben im Vordergründigen und führen nicht in die Tiefe der Dinge (291. 307). Freilich, sie zu leugnen oder zu negieren, wäre falsch, denn Gott selbst hat den Auftrag zur eigenen Forschung und Untersuchung gegeben (256), aber der von Oetinger vorgeschlagene Weg in Übereinstimmung mit Böhme ist ein anderer: Verstand ist nur dort, wo die Vernunft sich erst einmal selbst verläßt und sich in ihr Zentrum versenkt, aus dem sie hervorgegangen ist (293. 297). Indem Oetinger der Vernunft ihren Platz zuweist, enthebt er sich zugleich der Gefahr der Schwärmerei und Träumerei. Denn die Vernunft behält bei ihm weiterhin die Aufgabe des diskursiven Erkenntnisvermögens (262. 278) — und nur insofern kann sie auch selbsttätig sein (279). Sie führt jedoch nur zum „Vernunft-Forschen", das „nur bis ins Astrum der äußeren Welt" geht (279), während die „anschauende, im Augenblick alles übersehende Erkenntnis" (270) den Grund aller Dinge ausleuchtet. Ziehen wir das Fazit aus der Gegenüberstellung: Da Oetinger bei aller Hochschätzung Böhmes sich ja nicht als dessen Abklatsch versteht, wird verständlich, daß er nicht allen Bereichen den gleichen Wert zumißt, wie Böhme es tut — ein Beispiel: daß Erfahrung mit Hilfe des bewußten Denkens rechte Erkenntnis werde, für Böhme ein existentielles Problem, ist für Oetinger selbstverständlich; aber aufgrund der Beschäftigung mit Böhmes Schriften gewinnt er ein neues Verhältnis zur stofflichen Wirklichkeit, „eine neue Haltung der Natur gegenüber in physischer und metaphysischer Hinsicht" 143 , wird ihm Natur als eine Weise der Gotteserkenntnis — bereits vorbereitet in Blaubeuren — nun erst eigentlich und völlig erschlossen — ,naturlose' Gotteserkenntnis ist von nun an als Irrtum anzusehen. 1 4 4 Oetinger sieht weiter mit Böhme in der Erfahrung die Grundlage für jene Erkenntnis, die zur Wahrheit führt. Für ihn wird jedoch die Erfahrbarkeit von Widersinn, Härte und Verschlossenheit nicht zum wesentlichen Kriterium. Dieser Tatbestand verwundert, weil Oetinger in seiner Kindheit ja jener Unerweichlichkeit des Gemütes 1 4 5 begegnet ist. Man wird schon hier sagen können, daß die Hinwendung zu Böhme nicht wegen der — reflektierten oder unbewußten — Übereinstimmung ihrer beider Erfahrungsbereiche geschieht, sondern die intellektuelle Aneignung eines Systems ist 146 , das Oetinger zwar neue Verstehensmöglichkeiten eröffnet, ihm aber vor allem das Vokabular an die Hand gibt, um sich auch i « Rusche 26. »«" Vgl. 2,1. 2 7 1 . 145 Vgl. Metzke 142. l4é Dafür spricht auch die Darstellung in der Selbstbiographie (vgl. Ehmann 35—38 und Roessle, Selbstbiographie 3 6 ) . 5 G r o ß m a n n , Oetinger

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in der Ausdrucksweise von der .gängigen' Philosophie zu lösen. Denn Böhmes Ausdrücke und Bilder bezeugen das, „was er gesehen hatte", während die übrigen Philosophen das schreiben, „was ihre aus der Naturvergleichung gemachten Schlüsse ihnen zu raten gaben". 1 4 7 Um es anders auszudrücken: die für Oetinger neuartige Form des Erkennens von Natur und ihrer Wirklichkeit begründet Oetingers Faszination. Doch muß gleich hier auf ein Bedenken Oetingers eingegangen werden: Erfahrung darf nicht zum „Höhenflug" werden, der „die Hochachtung der Schrift hintangesetzt" 148 hat. Damit aber sind wir bei einem Gedanken, der Oetinger in die Nähe eines Mannes bringt, den er sehr schätzte und dem er manche Anregung verdankte: nämlich Johann Albrecht Bengel.

g) Johann Albrecht Bengel Oetinger wird in das theologische Denken Johann Albrecht Bengeh149 eingeführt durch dessen Briefe an Jeremias Friedrich Reuß, einem Studienkollegen Oetingers, dem späteren Kanzler der Tübinger Universität. In seiner Selbstbiographie bezeichnet ihn Oetinger als „des großen Bengel liebster unter seinen ehemaligen Schülern; daher war er sein Berichterstatter über akademische Angelegenheiten". 1 5 0 Nachdem Reuß die Stelle eines Hofmeisters angenommen hatte, wird dann Oetinger selber „der Berichterstatter des Herrn Bengel". 151 Seit 1727 steht er mit ihm in persönlichem Briefverkehr 152 , der auch während Oetingers Reisen nicht abreißt; Bengel wird ihm zum väterlichen Freund. Aber das nicht allein. Welche Bedeutung Oetinger der Begegnung mit Bengel beimißt, wird aus einem Brief ersichtlich: Seine Studien nach Bengels „verehrten Wink einrichten zu können" empfindet Oetinger als „eine besondere göttliche Fügung". 1 S 3 Betrachten wir nun, was an theologischen Problemen aus den Briefen Oetingers an Bengel erhoben werden kann. Die bis zum Jahr 1734 an Bengel adressierten Briefe 154 haben zwei Aspekte zum Inhalt: die Überw 2,1. 2 7 3 . M8 2,1. 2 9 2 . 149 1 6 8 7 - 1 7 5 2 ; Bengel ist ab 1 7 1 3 Klosterpräzeptor in Denkendorf, von 1 7 4 1 - 4 9 Probst in Herbrechtingen, fürstlicher Rat und Mitglied des Landtags, 1 7 4 7 Mitglied des Großen Ausschusses und 1748 Mitglied des Engeren Ausschusses, 1749 Prälat in Alpirsbach und Konsistorialrat mit Sitz in Stuttgart. 150 Roessle, Selbstbiographie 38. isi Roessle, Selbstbiographie 40. 152 Vgl. Ehmann 4 2 9 = Brief an Bengel v o m 16. April 1727. 153 Ehmann 4 2 9 . 154 Vgl. Ehmann 4 3 3 . 4 3 7 . 4 3 8 . 4 4 1 . 4 4 5 . 4 4 6 . 4 5 3 .

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legungen und Anschauungen, die Bengel in bezug auf die Johannesapokalypse äußert und die Anfragen und Beiträge Oetingers zu Bengels exegetischer Methode. Wenden wir uns zunächst dem zweiten Problemkreis zu. Bengel gibt Hinweise über seine Methode der Exegese in dem Aufsatz „Von der rechten Weise, mit göttlichen Dingen umzugehen". 1 5 5 Darin führt er aus I 5 6 : Die menschliche Disposition zur exegetischen Arbeit sollte weniger der Drang nach wissenschaftlicher Erkenntnis sein, als eher die Bereitschaft, „sich in den heiligen, seligen Willen Gottes in Christo Jesu zu finden, und hierdurch das ewige Leben" zu erlangen (231). Die Grundlage jeder exegetischen Bemühung bilde die Überzeugung, daß es außerhalb der Schrift keinen Beweis ihrer Gültigkeit und ihres Wahrheitsgehaltes gibt (232). Die Schrift selbst sei „als eine unvergleichliche Nachricht von der göttlichen Oekonomie bei dem menschlichen Geschlechte vom Anfang bis zum Ende aller Dinge durch alle Welt-Zeiten hindurch, als ein schönes und herrlich zusammenhängendes System. Denn obgleich jedes biblische Buch ein Ganzes für sich ist, und jeder Schriftsteller seine eigene Manier hat, so weht doch Ein Geist durch alle, eine Idee durchdringt alle" (233f). Bei der eigentlichen Exegese sei dann zu beachten, daß die Einzelaussagen auch immer das Ganze in den Blick nehmen; daß die Vernunft nur als Organon einzubringen, nicht aber das Principium selbst sei (236); daß geistige Wahrheiten nicht isoliert zu erheben seien, sondern dazu auch die „massiven Wunder und Erweisungen Gottes in dem Ganzen an der Welt und Kirche" genommen werden müssen (241). Stellen wir die wenigen, für den Augenblick jedoch ausreichenden Briefstellen Oetingers dagegen. Er rügt an einem Bekannten, daß er von eigenen Gedanken zu sehr eingenommen sei, „nicht von dem unvermischten Verstand der heiligen Schrift, ohne beigemischte Hypothese". 1 5 7 In einem anderen Brief beklagt Oetinger die Vielfalt der Methoden zur Gotteserkenntnis in der Herrnhutischen Brüdergemeine; in einem weiteren Brief äußert sich Oetinger kritisch zur Einbringung der Vernunft, um die Geschehnisse der Zeit zu deuten. 1 5 8 An den genannten Punkten ist also Verwandtschaft bzw. Übereinstimmung zwischen Oetinger und Bengel feststellbar. Trotzdem läßt sich nicht be-

1 5 5 J o h a n n Christian Friedrich Burk, Dr. J o h a n n Albrecht Bengels L e b e n und Wirken meist nach handschriftlichen Materialien, Stuttgart 1 8 3 1 , 2 3 1 . 1 5 6 Ich schließe mich im folgenden Burks Ausführungen an; die Seitenzahlen werden im T e x t angegeben.

1 " Ehmann 4 3 7 . 158 Vgl. E h m a n n 4 4 6 .

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haupten, daß „Bengel ihm Führer zur Bibel wurde" 1 5 9 ; dagegen stehen Oetingers eigene Bekenntnisse in der Selbstbiographie, die ihn als einen frühzeitig mit dem Bibeltext Bekanntgewordenen und mit den Vorstellungen der Bibel Ringenden ausweisen. Die Auffassung, daß Bengel den „biblizistischen Einfluß" 1 6 0 bewirkt habe, übersieht die Anstrengungen und Konflikte seiner Jugend; daß der ,Biblizismus' durch Bengel verstärkt bzw. bestärkt wurde, steht dagegen nicht in Abrede. 1 6 1 Kommen wir nun zu dem erstgenannten Problemkreis. Oetinger schreibt in seiner Selbstbiographie: „Bengel schrieb ihm [Reuß] immer auch einiges von seinen apokalyptischen Entdeckungen oder Gnadengeschenken, was ich dann auch zu lesen bekam, und zwar von der ersten Zeit an, als er schrieb: ,Ich habe mit des Herrn Hilfe die Zahl des Tieres g e f u n d e n . ' " 1 6 2 Oetinger bezieht sich bei dieser Zitation auf einen Brief Bengels an Reuß vom 22. Dezember 1724, wo es heißt: „Unter dem Beistand des Herrn habe ich die Zahl des Tieres gefunden: es sind 666 Jahre von 1142 bis 1809. Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit". 1 6 3 Diese Entdeckung, an der Oetinger teilhat, war für Bengel von großer Tragweite; er empfand sie selbst als eine Gnade Gottes, die es ihm ermöglichte, den Zeitpunkt des Beginns des ersten tausendjährigen Reiches zu errechnen. 1 6 4 Wie aus dem Brief ersichtlich, hielt er zunächst als Datum 1809 fest, aufgrund weiterer Berechnungen gab er dann in der Zeittafel der „Erklärten Offenbarung Johannis, vielmehr Jesu Christi" als den endgültigen Termin das Jahr 1836 an. 1 6 5 Daß Bengel sich auf derartige Zeitberechnungen einließ, hat mehrere Gründe. Einer liegt in der Anschauung Bengels über die Schrift. Wenn die Bibel ein System ist, das den gesamten Heilsplan Gottes vom Anfang bis zum Ende beinhaltet, dann gehört auch die Johannesapokalypse in dieses System und es gilt nicht die Meinung, „daß das Lesen der Offenbarung Johannis für das werkthätige Christentum eher hinderlich als förderlich sei" 1 6 6 ; dann sind andererseits auch die Zeitangaben von Wichtigkeit, weil sie darstellen, wie weit die Heilsgeschichte gediehen ist und was noch erwartet werden kann. — Der zweite Grund: Die Zahlenangaben der Bibel dürfen nicht übergangen werden, „weil sie Teile der 159 Leese, Krisis 53; vgl. Zinn 85: „ihm [Bengel] verdankt Oetinger die außerordentliche Verehrung der Bibel"; vgl. Rusche 16: „Oetinger wird ein unbedingter Anhänger dieses Systems [des apokalyptisch-chronologischen]. Und vielleicht deshalb Biblizist." i«o Zinn 84. 161 Vgl. Ehmann 511. 162 Roessle, Selbstbiographie 38. 163 Burk 265. Vgl. Burk 264. 165 Vgl. Burk 278; Ehmann 450. Die „Erscheinung des Herrn" wird von Bengel auf den 18. Juni 1836 genau datiert - vgl. Burk 278. »6« Burk 307.

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göttlichen Offenbarung" sind, „außerdem aber auch darum, weil sie so miteinander zusammenhängen, daß sie ohne Unterbrechung zu einem ungemein wichtigen Ziele, dem Tage der zukünftigen Erscheinung Christi, hinführen". 1 6 1 Da die Johannes-Apokalypse die „Zukunft Christi" beschreibt, wird sie für Bengel von solch großer Bedeutung, daß er mit Hilfe ihres Zahlenmaterials den Zeitpunkt genau zu errechnen vermag. 1 6 8 Oetinger nimmt lebhaften Anteil an der Entwicklung der Exegese zur Johannesapokalypse 169 , auch schon — wie wir gesehen haben — zu jener Zeit, in der er die an Reuß gerichteten Briefe lesen darf; während seiner ersten Reise stellt er manche Rückfragen, die Apokalypse betreffend, an Bengel 170 , muß dann aber auch häufiger ermahnt werden, in Diskussionen nicht unter Berufung auf Bengel zu argumentieren. 1 7 1 Seine Begeisterung geht sogar so weit, daß sie das auslösende Moment für das von Oetinger arrangierte Zusammentreffen zwischen Bengel und Zinzendorf wird, bei dem Zinzendorf „Belehrung . . . über Ihr (Bengels) apokalyptisches System" 172 erhalten sollte. 1 7 3 Oetingers überschwenglicher Brief an Bengel nach dieser Begegnung 174 läßt sehr deutlich erkennen, daß Oetinger zu diesem Zeitpunkt der Theologie Bengels keine Zweifel entgegenbringt. Es gilt nun hier die Frage zu klären, welchen Wert Oetinger der Apokalypse für seine eigene theologische Arbeit beimißt. Beispielhaft läßt sich das darstellen an Oetingers Gegnerschaft zu Johann Salomo Semler. 175 Die i Vgl. 2,3. 565 u.ö. 71 2,3. 5 1 9 . 72 Theologie 46; auch 45. 73 2,6. 4 0 7 (Sperrung aufgehoben). 74 Wörterbuch 4 7 0 . 7 * Herpel 3 1 4 . 76 Vgl. 2,4. 4 6 0 : „Ein einziges ist, das die Klarheit und Leichtigkeit der Schrift zu verdunkeln und schwer zu machen scheint, nämlich, daß die damaligen Umstände nicht sind, wie die unsrigen, und die Schrift ist d o c h nach dem Geschmack und Umständen derer geschrieben, die damals gelebt"; vgl. 2,6. 4 1 0 ; 2,6. 4 4 2 . 4 4 3 . 77 Herpel 3 1 4 (Sperrung aufgehoben); daß Oetinger die Grundbegriffe nicht „übersetzt" habe, sieht Herpel als einen verhängnisvollen Schritt, „der das spätere Schrifttum Oetingers unheilvoll beeinflußt hat. Die Tyrannei des unübersetzten biblischen Begriffs wird hier o f t geradezu unerträglich." (Herpel 316.) 78 Vgl. 2,6. 138: „Es ist nicht genug, daß man sich auf das Innerste der Dinge . . . lege ohne Hilfsmittel des Äußern w o m i t Gott das Innere abbildet." 69

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Mit w e l c h e r V e h e m e n z O e t i n g e r s e i n e n A n s a t z p u n k t v e r t e i d i g t , w i r d aus seiner K a m p f a n s a g e an Semler

deutlich; Oetinger formuliert: „Es m u ß n u n

h e r a u s , die K ö r p e r l i c h k e i t . . . der S c h r i f t z u v e r s t e h e n " . 7 9 O e t i n g e r h a t b e i d i e s e r P r o b l e m s t e l l u n g n e b e n S e m l e r n o c h a n d e r e G e g n e r . Er n e n n t die A u f k l ä r u n g s t h e o l o g e n Spalding, Sack, Teller und Michaelis.80 Sein P r o t e s t r i c h t e t sich g e g e n d e r e n . . B e f l i s s e n h e i t ' , „ d a s T ö r i c h t e G o t t e s n a c h d e n B e g r i f f e n j e t z i g e r r e i n g l e i ß e n d e r D e n k u n g s a r t w e i s e r z u m a c h e n , als es der w ö r t l i c h e , e i g e n t l i c h e V e r s t a n d m i t sich b r i n g t " . 8 1 Er w i r f t i h n e n v o r , d a ß sie d i e b e s t i m m t e n m a s s i v e n B e g r i f f e der S c h r i f t „ s c h ä n d l i c h entk ö r p e r n " . 8 2 O e t i n g e r hält d a g e g e n : „ D i e g a n z e S c h r i f t ist v o l l s i n n l i c h e r V o r s t e l l u n g e n " 8 3 ; e s f i n d e n sich in ihr „ m a s s i v e k ö r p e r l i c h e A u s d r ü c k e " 8 4 ; G o t t r e d e t in ihr „ m a t e r i a l i s c h u n d sehr m a s s i v " 8 5 ; „In h e i l i g e r O f f e n b a r u n g ist alles s i n n l i c h , massiv, h a n d t a s t l i c h " . 8 6 E s fällt a u f , d a ß O e t i n g e r i m m e r w i e d e r d i e g l e i c h e n A u s d r ü c k e v e r w e n d e t : k ö r p e r l i c h , massiv, sinnlich. W e l c h e B e d e u t u n g sie b e i O e t i n g e r h a b e n , l ä ß t sich a m e h e s t e n der K o n t r o v e r s e z u E m a n u e l Swedenborg 79

e n t n e h m e n . 8 7 E i n s a t z p u n k t dieser

Ehmann 759. so J o h a n n J o a c h i m Spalding ( 1 7 1 4 - 1 8 0 4 ) , seit 1764 in Berlin als Pfarrer, Probst und Oberkonsistorialrat; August Friedrich Wilhelm Sack (1703—1786), Hofprediger in Berlin; Wilhelm Abraham Teller ( 1 7 3 4 - 1 8 0 4 ) , seit 1767 als Probst und Oberkirchenrat in Berlin, 1772 erscheint sein „Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre", dem Oetinger sein eigenes „Biblisch-emblematisches" entgegensetzt; J o h a n n David Michaelis (1717—1791), seit 1746 als Professor für orientalische Sprachen in Göttingen. « 2,6. 420. 82 2,6. 181. 83 Wörterbuch Vorrede. 84 2,6. 197; vgl. Ehmann 820. «s 2,6. 439. 8« Wörterbuch 166f. 87 1688—1772; Oetingers Verhältnis zu Swedenborg durchlief alle Gefühlsstadien, die von überschwenglicher Hinwendung bis zu enttäuschter Ablehnung reichen. Er verteidigt uneingeschränkt die Gabe Swedenborgs zu Visionen, weil durch sie die durch Bengels Schrifterklärung undeutlich gebliebenen biblischen Stellen ihre Erklärung finden (vgl. Rechtfertigungsschrift, in: Benz, Swedenborg 300); seine Schrifterklärung wird jedoch schon frühzeitig kritisiert (vgl. Ehmann 676. 679 u.ö.). — Oetinger hatte Swedenborgs naturwissenschaftliche und philosophische Schriften gekannt, ihn trotz seines „mechanischen Systems" geschätzt und ihm den Vorzug vor anderen gegeben (vgl. Ehmann 683), aber erst dessen visionäre Schriften lassen ihn in Begeisterung geraten (vgl. Ehmann 676. 689). Diese Begeisterung rührt daher, daß Swedenborg, weil er die wissenschaftliche Methode als nicht ausreichend erkannt hat, um die ganze Realität zu erschließen, zum Garanten dafür wird, daß der philosophisch und mechanisch begründete „Unglaube der Welt" durch einen „Verkündiger himmlischer Nachrichten" überwunden werden kann (vgl. 2,2. VIII). Swedenborg wirkt deswegen so^anziehend, weil er der Schriftsteller sein kann, der naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse zusammen mit religiösen Erfahrungen

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K o n t r o v e r s e ist a u c h hier — w i e s c h o n b e i S e m l e r — die Erklärung der A p o k a l y p s e 8 8 : S w e d e n b o r g will sie „ g e i s t l i c h " v e r s t e h e n , O e t i n g e r „leibl i c h " . 8 9 S w e d e n b o r g s Mißgriff liege darin, „ d a ß er d e n w ö r t l i c h e n S i n n e i n e b l o ß e S c h a l e h e i ß t " . 9 0 O e t i n g e r sieht a u f e r s c h r e c k e n d e Weise d i e K o n s e q u e n z d i e s e s M i ß g r i f f s b e s t ä t i g t : Für S w e d e n b o r g v o l l z i e h t sich d i e z w e i t e W i e d e r k u n f t Christi allein in der E r s c h l i e ß u n g d e s i n n e r e n S i n n e s des W o r t e s G o t t e s , u n d z w a r d u r c h ihn, S w e d e n b o r g , selbst. D i e s e geistl i c h e , „ h i e r o g l y p h i s c h e " 9 1 S c h r i f t a u s l e g u n g e r k e n n t d e n A n s p r u c h der S c h r i f t n i c h t ; ihr A n s p r u c h aber ist — w i e g e s e h e n —, G o t t e s Fülle in Christus d a r z u s t e l l e n ; d i e I n k a r n a t i o n ist u n d b l e i b t das F u n d a m e n t j e d e r S c h r i f t e r k l ä r u n g : „ G o t t w i l l , d a ß , w e i l in C h r i s t o d i e G o t t h e i t l e i b h a f t w o h n t , alles G e i s t l i c h e i m L e i b l i c h e n seine S u b s i s t e n z h a b e ; daraus m ü s s e n die m a s s i v e n I d e e n d e s a l t e n u n d n e u e n T e s t a m e n t s erklärt w e r d e n " . 9 2 einbringt. Trotzdem tut Oetinger sich aber auch schwer mit ihm: aus dem Briefwechsel mit Hartmann vom J a h r 1771 sind die Nöte herauszulesen, die Oetinger in bezug auf die Person, das Selbstverständnis und das Sendungsbewußtsein Swedenborgs hat (vgl. Ehmann 766ff); gleichwohl bleibt bestehen, „daß man Swedenborgs Fehler in der Offenbarung lernte entschuldigen, aber ohne solche anzunehmen." (2,6. 217). 88 Die Apokalypse „sinnbildlich" verstehen zu wollen bedeutet, den Vergleich mit Semler zu provozieren. Während Oetinger mit Semler aber hart ins Gericht geht, versucht er, Swedenborg zu entschuldigen: für Oetinger ist er ein Prophet; weil er ein Seher ist, kann er kein Schrifterklärer sein (vgl. 2,6. 212. 216). Da Semlers Schrifterklärung lediglich vernünftig-wissenschaftlicher Art ist, kann er dem Vergleich mit Swedenborg nicht standhalten, da dieser eben Erfahrungsbereiche aufschließt (vgl. 2,6. 197. 212). 89 Ehmann 689 (Brief an Swedenborg vom 7.10.1766). — Die Diskrepanz beider Deutungen spricht Oetinger in einigen Schriften an; in der Rechtfertigungsschrift aus dem J a h r 1767 (vgl. Benz, Swedenborg 291—308) zeigt Oetinger sie auf, macht sie aber noch zu keinem Streitobjekt (vgl. 295: „Aber da Swedenborg so ein gutes Herz hat, da gleichwohl sein Beruf vom Herrn sich mit wahren zutreffenden Factis legitimiert hat, so sollte man nicht so streng über ihn herfahren."); in den „Reflexionen über Swedenborgs Buch von den Erdkörpern der Planeten", 1770 (vgl. 2,6. 226ff), erkennt er das Unvermögen Swedenborgs zur „leiblichen" Auslegung und begründet es damit, daß Swedenborg „weniger Chemist als Mechanicus gewesen" sei (2, 6.229); er stellt nunmehr aber auch fest, daß dadurch „der klare Verstand der Worte Gottes sehr verwirrt" werde (2,6. 229). In seinen „Beurteilungen der wichtigen Lehre vom Zustand nach dem Tod und der damit verbundenen Lehren des berühmten Emanuel Swedenborg", 1771 (vgl. 2,6. 194ff) schließlich erhebt Oetinger deutlich einen Irrtum Swedenborgs: „Er meinte, der Herr habe ihn berufen, eine neue Gemeinde zu stiften und die Schrift hieroglyphisch ex signatura rerum oder ex scientia correspondentiarum zu erklären: das war sein Unsinn." (2,6. 197). 90 2,6. 211; vgl. 2,6. 197. 91 2,6. 211; 2,6. 197 u.ö. 92 2,1. 391; vgl. Wörterbuch 306: „Diese Ähnlichkeit will, daß in Christo alles, was in Gott ist, körperlich w o h n e " u.ö.

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Und umgekehrt gilt: Weil die gesamte Schrift — Altes und Neues Testament — die Offenbarung Gottes im Fleisch darstellt, benutzt sie leibliche, massive, sinnliche Ausdrücke; jeder Theologe ist deshalb gehalten, diese Ausdrücke in ihrer Sinnlichkeit zu verstehen, denn die Leiblichkeit ist nichts „Gott Unanständiges". 9 3 Darum kann auf die „Schale" auch nicht verzichtet werden, wird sie gar nicht „endlich vergehen und verfaulen, wenn der innere Sinn gefunden ist" 9 4 ; denn die Schale, die äußere Form, die Leiblichkeit ist die Abbildung des Wesens. „Form und Materie lassen sich nicht im aristotelischen Sinne trennen, sondern das Geistige verbirgt sich im Leiblichen und durchdringt und gestaltet es so, daß die äußere Form das Geheimnis der inneren Form offenbart und real darstellt". 9 5 Swedenborgs grundsätzlicher Irrtum ist — so Oetinger — die „abominable" 9 6 Auslegung der Apokalypse. Weil Swedenborg diese „verblümt" 9 7 versteht, mißversteht er die gesamte Schrift. Soll also die Bibel recht ausgelegt werden, dann bleibt allein die Methode nach dem „Literalsinn" 9 8 , die Methode des „eigentlichen Wortverstands" 9 9 ; Wir sind verpflichtet, alles nach dem Wort zu verstehen und „dem klaren Buchstaben der h. Schrift ohne viele schwere und mystische Auslegungen Raum [zu] geben". 1 0 0 Angewendet heißt dieses Prinzip bei Oetinger: das weiße Pferd der Apokalypse wird als weißes Pferd auftreten; die Stadt Gottes wird die Stadt Gottes sein so „wie die Gläubigen sie einmal sehen werden", sie ist nicht mit einer Gemeinde gleichzusetzen; das neue Jerusalem ist Jerusalem selbst und nicht in ein Sinnbild zu verwandeln. 1 0 1 „Sinnbildlich" auslegen vermag jemand erst dann, wenn dem Wort „Sinnbild" sein rechter Platz zugewiesen worden ist, wenn es auf beiden Ebenen — der „oberen" wie der „unteren" — eingesetzt werden kann. Die „sinnbildliche" Methode krankt also an dem Unvermögen des Menschen, an allen Stellen das Eigentliche zu erheben. „Und deswegen ist nicht alles sinnbildlich zu erklären, weil hier und da Sinnbilder gebraucht werden". 1 0 2 Bei Oetinger gilt also nicht die Entsprechung: hier leiblich, dort geistlich; für *> 2,6. 269. 94 2,6. 2 1 1 . 95 Benz, Swedenborg 109; vgl. 2,6. 253: „Also muß buchstäblicher und innerer Sinn einander so gleich sein als mein Melissen-Öl der Pflanze." Zum MelissenExperiment vgl. Kapitel 3.3a dieser Arbeit. » 2,1. 3 9 1 . ν 2,6. 4 1 6 . «8 2,3. IX; Ehmann 2 4 5 . 99 2,6. 4 1 8 ; vgl. auch 2,3. IX, w o die Punkte aufgeführt werden, die den Vorzug des wörtlichen Sinns vor dem „figurierten" ausmachen. 100 2,6. 2. ιοί Vgl. 2,6. 2 1 1 . 4 1 6 u.ö. ι 0 2 2,6. 2 1 1 .

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ihn erweisen die Bilder und Begriffe der Bibel vielmehr den Tatbestand: hier leiblich — dort leiblich. Oetinger sieht Swedenborg die „gleiche allegorisch, typologische Art der Schriftauslegung entwickeln", die nach seiner Überzeugung dahin führen muß, , j e d e wirkliche Anschauung von der Leibhaftigkeit der geistigen Welt zu zerstören und sie in eine civitas platonica, eine rein abstrakte Ideen- und Gedankenwelt zu verwandeln". 1 0 3 Mit seiner Bibelerklärung ist Swedenborg für Oetinger infolgedessen nicht akzeptabel 1 0 4 , aber trotz der Mißgriffe und Verirrungen kann Oetinger sich nicht völlig von ihm distanzieren; die ihm zustehende Beachtung 1 0 5 verdient er wegen der Gabe der Visionen 1 0 6 — denn durch sie wird die Realität und Leibhaftigkeit der geistigen Welt betont, wird bewiesen, daß Leiblichkeit auch den Bereich der transzendenten Welt füllt. 1 0 7 Wir haben gesehen: Organische Ganzheit, Klarheit und Körperlichkeit sind die Schlüsselbegriffe zu Oetingers Schriftverständnis und der Auslegungsmethode. 1 0 8 Alle drei Begriffe finden ihre volle Anwendung eigentlich nur im Miteinander; aber in der Abgrenzung zu allen denjenigen, die die Begriffe der Bibel „metaphorisch, physisch, . . . bloß moralisch" 1 0 9 interpretieren, gewinnt der Aspekt der Körperlichkeit seine Betonung: ,,Cörperlichkeit ist die höchste E i g e n s c h a f t " . 1 1 0 Eigenschaft bedeutet hier nicht hinzukommendes Attribut, sondern heißt: Körperlichkeit als Prinzip, unter dem die beiden Aspekte Ganzheit und Klarheit mitzusehen sind: die Schrift gewinnt als organische Ganzheit Gestalt, weil ihr inneres Wesen unter der „Körperlichkeit" abgebildet und dargestellt wird; als körperlich gebundene Einheit kann sie aus sich selbst erklärt und verstanden werden, denn sie erhellt ihren Gesamtsinn aus sich selbst, weil sich die „ganze Fülle der G o t t h e i t " 1 1 1 in ihr niederschlägt. Sie umfaßt Anfang, Mitte und Benz, Swedenborg 61. Vgl. Benz, Swedenborg 2 1 7 . ios Vgl Rechtfertigungsschrift (Benz, Swedenborg 2 9 0 ) : „ S w e d e n b o r g ist das größte Phänomen an dem geistlichen Himmel; seine Fehler in Erklärung der Offenbarung schrecken mich sogar nicht, daß ich vielmehr daraus sehe, wie er aus besonderer Zulassung G o t t e s etliches falsch interpretiert, damit man nicht zuviel aus ihm mache und doch wozu er gesandt ist, zu Herzen z i e h e . " 106 Vgl. 2,6. 2 5 0 : „Ich gestehe es, in seinen Visis et Auditus, aber nicht in heiliger Schrift Erklärungen ist er zu b e w u n d e r n . " 1 0 7 Vgl. Rechtfertigungsschrift (Benz, Swedenborg 3 0 0 ) ; 2,6. 1 6 6 f ; 2,6. 194; Wörterbuch 107 u.ö. 1 0 8 Beim Gedanken des Organismus geht es Oetinger vor allem um die Anlage des Ganzen, weniger um die Vorstellung der Lebendigkeit; vgl. dazu E h m a n 7 2 7 : Die Bibel hat nicht „die geometrische L e h r a r t " , sondern die „architektonische". ι » Auberlen 108. no L T 2 3 9 . " i 2,6. 2 6 9 . 103

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Ziel; jede spekulative Neugier kommt deshalb nicht weit, weil sie das Ziel nicht im Auge hat: denn „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes" 112 ; ohne den Blick auf dieses Ziel — Gottes leibhaftes Sein in Christus und das leibhafte Ende der Geschichte, präsentiert in der Apokalypse des Johannes — bleibt alles anscheinend Wesentliche isoliert und unfertig, bleibt es im Dunkel — nur der Zielpunkt erhellt das Ganze. Oetingers Aussagen sind damit an einen Punkt gelangt, wo er das Gedankengut Bengels erweitert, somit auch dessen Bibelverständnis modifiziert und zu einem eigenen gelangt. Ist es Bengel von der Apokalypse her um die Geschichte als Ganzheit gegangen, so liegt die Betonung bei Oetinger auf der Vorstellung der Leiblichkeit, die ihm durch Böhme und dessen Naturverständnis vertraut ist. Darum muß im folgenden Kapitel untersucht werden, wie sich Oetingers Naturverständnis darstellt.

3. Naturverständnis und Naturbetrachtung a) Wesen und Funktion der Natur 113 In der theologischen Diskussion setzt die Problemdarstellung der Offenbarung Gottes in der Natur bei Rö l,19f ein. Von Oetinger ist uns eine Interpretation jener Stelle überkommen, sie steht jedoch unter hermeneutischem Gesichtspunkt. 114 Es geht Oetinger also vorrangig darum, bibli112 Wörterbuch 407; Benz, Theogonie 346, Anra. 55 bemerkt, daß schon von Oetingers Zeitgenossen das Zitat abgewandelt werde in „Wege Gottes"; vgl. auch W. A. Schulze, Der Einfluß Böhmes und Oetingers auf Schelling, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 56. Jg. 1956, 179, Anm. 47a: „Schelling . . . und Chr. Herrn. Weisse . . . haben die Lesart ,Wege' Gottes. Sie ist die heute am häufigsten, wenn nicht ausschließlich, zitierte." Hier wird übersehen, daß Oetinger selbst die Variante „Wege G o t t e s " in PhilAlt II 149 verwendet. 113 Ich benutze in diesem Kapitel vorwiegend diejenigen Arbeiten, in denen Oetinger intensiver, d.h. in größeren Komplexen das anstehende Problem angegangen ist: „Beihilfe zum reinem Schriftverstand. In kurzen Grundrissen und Erklärungen"; „Die Wahrheit des sensus communis oder des allgemeinen Sinns"; „Die Philosophie der Alten wiederkommend in der güldenen Zeit"; „Theologia ex idea vitae deducta"; „Die Metaphysik in Connexion mit der Chemie". 1 14 Vgl. Ehmann 823 (Brief Oetingers vom April 1776): „Ich habe vor 30 Jahren meiner Frau eine kurze, aber zulängliche Erklärung der Epistel an die Römer . . . aufgesetzt . . . Meine Frau hat es vor dreißig Jahren inne gehabt." (Diese in diesem Brief genannte Römerbrieferklärung ist 1777 als „Erklärende Zergliederung der Epistel an die R ö m e r " mit weiteren exegetischen Schriften in einem Sammelband mit dem Titel „Beihilfe zum reinem Schriftverstand" gedruckt worden; jetzt: 2,4. 464ff.)

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sehen Stoff leicht und eingängig zu vermitteln mit dem Ziel, die „Grundwahrheiten" christlichen Glaubens bereitzustellen und erkennbar zu machen. Bei der Interpretation von Rö 1,19f zieht er darum folgende Schlüsse: die Offenbarung Gottes durch die Natur dient „einigen Menschen unter den Heiden" dazu, zur Kraft Gottes zu kommen — sie reicht jedoch nicht hin, der Gesamtheit der Menschen dazu zu verhelfen; Gott hat seine „natürliche Offenbarung" nicht umsonst gegeben, sondern er beabsichtigt damit Heil 1 1 5 — aber die Menschheit nimmt dieses Angebot nicht wahr; wegen des „nachlässigen Gebrauchs" wird diese „erschrecklich gestraft" 1 1 6 — die Strafe aber hat einen heilvollen Effekt: sie bewirkt, „das Evangelium zu verlangen und anzunehmen". 1 1 7 Damit hat sich der Kreis geschlossen: Mit Hilfe der Natur geschieht Anrede an den Menschen, um ihm heilvoll begegnen zu können, denn die Ursache für die Strafe durch Gott liegt nicht in der Sache der Natur begründet, sondern in der Struktur des Menschen als eines Sünders. 1 1 8 Läßt die Römerbriefstelle noch den vorsichtigen Schluß zu, Oetinger wolle der Natur eine Heilsfunktion-an-sich zubilligen, so ist diese Folgerung in seinen Predigten und vor allem in „Die Wahrheit des sensus communis" 1 1 9 ausgeräumt. Relevanz erhält die Heilsfunktion in der Natur letztlich nur beim Glaubenden. 1 2 0 Gerade in der letztgenannten Abhandlung betont Oetinger immer wieder, „daß unsere Vernunft für sich und ohne Anweisung schlechterdings unvermögend ist, sich über die sinnlichen Dinge zu den Wahrheiten der Religion zu erheben". 1 2 1 Natur als Schöpfung Gottes vermag Anschaulichkeit zu vermitteln, ohne jedoch in die tiefsten Geheimnisse sowohl von Natur als auch von Religion eindringen zu können. Darum ist es Oetinger auch nicht einsehbar, daß natürliche Religion ohne die geoffenbarte auskommen will 1 2 2 , daß Durchdrungensein von natürlicher Religion nicht gleichzeitige Annahme christlicher Glaubenssätze provoziert. 1 2 3 115

Vgl. 2,4. 4 6 5 . 2,4. 4 6 5 . 117 2,4. 4 6 5 . ne v g l . 2,6. 4 6 6 . 119 gedruckt 1753, jetzt: 2,4. Iff. 120 Vg] 1 4 313; „Ganz anders sind die, welche geschickt sind, den heiligen Geist zu empfangen . . . Die Geschöpfe sehen sie an als Spiegel der Herrlichkeit Gottes; sie brauchen sie als eine Leiter und als Stufen, ins Himmlische aufzusteigen"; vgl. auch die Vorrede zur exegetischen und homiletischen Erklärung der Psalmen, Heilbronn 1756, u.ö. i 2 · Sensus communis o j . 73. 122 Vgl Sensus communis o j . 71: „Es gibt noch Leute, welche die Vortrefflichkeit der natürlichen Religion und Sittenlehre als einen Grund ansehen, die Liebenswürdigkeit und Wahrheit des christlichen Glaubens zu bestreiten." 123 Vgl. Sensus communis o j . 72: „Lebendig von der natürlichen Religion durchdrungen sein, und d o c h eine Glaubenslehre nicht hoch achten, die eben das sagt, 116

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Die Natur und ihre Betrachtung erfährt hier also eine Einschränkung. Oetinger steht nicht in derjenigen Tradition, die mit Hilfe der Naturerkenntnis gültige Erkenntnisse über Gott gewinnen will; denn Gott will sich gar nicht durch die Natur „beweisen" lassen; wollte er es, „so würde sie nicht aus bös und gut scheinenden Dingen vermischt sein". 1 2 4 Die Natur hat bei Oetinger dagegen die Funktion, durch Anrede heilvolle Begegnung zu vermitteln. Wie aber vollzieht sich diese? Zur Beantwortung dieser Frage muß zunächst nach dem Wesen der Natur gefragt werden. Oetinger definiert Natur unter verschiedenen Gesichtspunkten. Sie ist zunächst das Schöpfungswerk Gottes 1 2 5 — daß Gott der Schöpfer ist, wird vorausgesetzt und muß nicht erst bewiesen werden. Als Gottes Schöpfung ist sie „unendlich von Gott unterschieden". 1 2 6 Ihr Unterschiedensein von Gott zeigt sich darin, daß sie begrenzt ist — sie hat Anfang und Ende 1 2 7 —, und daß sie unvollkommen ist 1 2 8 — sie soll von Jesus „vollkommen" gemacht werden. 1 2 9 Eine wichtige Perspektive, unter der Natur betrachtet wird, ist also auch hier — wie bei der Betrachtung der Schrift — der künftige Tag Christi. Damit wird eines deutlich: eine zeitlose Rationalität der Natur ist für Oetinger undenkbar, weil die Natur auf den Tag Christi hin bestimmt ist. Auch Bengel suchte ja die Kunde vom Handeln Gottes in der Natur. Naturgesetze sollten darum bei der Erforschung der göttlichen Ökonomie zu Rate gezogen werden. Dies ist ein Punkt, an dem Oetinger und Bengel übereinstimmen 1 3 0 : die Beobachtung außer acht zu lassen, hat nach Oetinger die mangelhafte Auslegung der Schrift zur Folge. 1 3 1 Aber die Natur ist bei Oetinger mehr als lediglich Beobachtungsobjekt: Mit ihr sind die „unsichtbaren Dinge Gottes" 1 3 2 verständlich zu machen; in ihr selbst sind die „Unsichtbarkeiten Gottes" 133 dargestellt; sie ist — prägnant gesagt — als „sichtbare Welt eine Abbildung des Unsichtbaren". 1 3 4 was die natürliche Religion, und die es so deutlich, so vollständig, so rührend sagt, ich gestehe es, das ist mir unbegreiflich." — Der Glaube ist also bei Oetinger — wie auch bei Bengel — ausschließlich an die Offenbarung in der Schrift gebunden (w;is aber keineswegs eine Minderbewertung der Natur zur Folge hat). 2,6. 3 2 7 . i " 2,1. 2 5 2 . IM 2,2. 3 4 2 . i " Vgl. LT 175. IM Vgl. 2,5. 3 9 9 ; 2,4. 16; PhilAlt II 161. 129 PhilAlt II 158. 130 Vgl. 2,5. 279; Oscar Wächter, Bengel und Oetinger. Leben und Aussprüche zweier altwürttembergischer Theologen, Gütersloh 1886, VII. « ι Vgl. LT 83. ι » 2,1. 2 7 9 . 133 2,2. 2 6 4 . 134 2,6. 149; 2,6. 229.

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Dieser Wesensbestimmung von Natur liegen zwei Voraussetzungen zugrunde: Die Natur weist Kräfte auf, im Widerstreit stehende Kräfte, „weil . . . in dem Leben GOttes verschiedene Kräften seyn, welche sich in die Creatur deriviren". 1 3 5 Oetinger versteht das Spiel dieser Kräfte als Leben; der Natur liegt, als Schöpfung Gottes, Leben zugrunde, und sie selbst birgt Leben 1 3 6 — dies ist die erste Voraussetzung. Als zweite gilt: Natur hat und ist gleichermaßen Gestalt, sie ist „Configuration", sie ist „Bild", ist anschaubar. 1 3 7 Beide Aspekte gehören bei Oetinger zusammen, sie lassen Natur als vergestaltetes Leben erscheinen. 1 3 8 Als vergestaltetes Leben ist sie in der Lage, die Abbildung der unsichtbaren Welt zu leisten: „die unsichtbaren Dinge Gottes werden seit der Schöpfung der Welt aus den gemachten äußerlichen Werken verständlich ersehen". 1 3 9 Stellen wir neben diesen Befund den der Überlegungen zu Rö l , 1 9 f , so zeigt sich: das Wesen der Natur ist Abbild und daraus folgend Anrede — mit beiden und durch beide vollzieht sich heilvolle Begegnung. Oetinger formuliert: „Daß die Welt von Gott geschaffen sei, damit sie sein Leben, sein Bewegen, Wesen, Sinnlichkeit, Güte, Weisheit, Macht und Freude abbilde und dadurch alle Menschen ohne Wort anrede". 1 4 0 Abbild darf hier allerdings nicht mißverstanden werden als der getreue Abklatsch oder als das naturalistische Abzeichnen eines Vorgegebenen. Bild definiert bei Oetinger nicht die habbare und greifbare Darstellung dessen, „was oben ist"; Bild ist aber auch nicht Metapher, Allegorie oder Symbol im gemeinverständlichen Sinn. Was Oetinger mit dem Begriff Bild ausdrücken will, macht sein

iss LT 175; Wörterbuch 685. 136 Für den Augenblick muß dieser Hinweis genügen; detaillierte Aussagen finden sich in Kapitel 4.1a dieser Arbeit. ™ 2,1. 279 u.ö. 138 An dieser Stelle bedarf es eines Blicks in die Literatur: Oetingers Auffassung von Natur wird verkürzt, sieht man bei ihm Natur nur als den Ort, an dem die „Absichten Gottes" zu entdecken sind (Lehmann, Pietismus 127); sie wird auch dann zu kurz gegriffen, läßt man seinen Naturbegriff nur unter geschichtstheologischen Voraussetzungen erklärbar sein (Rohrmoser 199); sie wird vereinfacht, w e n n sie nur als Gottes „Medium" stehen soll (Carl Dyrssen, Hamann und Oetinger. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Protestantismus, in: Zeitwende, 1. Jg. 1 9 2 5 , 3 9 5 ) . Aber auch die Schlußfolgerung, „daß Oetinger an der Offenbarung in der Natur nicht, wie es dem biblischen Glauben entspricht, die Schöpfung ableitet und daß seine Gotteserkenntnis aus der Natur nicht wirklich die des Schöpfers ist" (Zinn 173), zielt an Oetingers Intention vorbei. Sieht man jedoch in allen Äußerungen Oetingers nur den Begriff des Lebens, wird Leben zum „Materialprinzip" seiner Naturphilosophie (Hauck, Naturphilosophie 198), ist Leben nur noch „Bewegtes und Werdendes" (Hauck, Geheimnis 107), so ist Oetingers zweites Prinzip, das der Gestaltung, außer acht gelassen worden. 1 39 2,1. 2 7 9 ; vgl. 2,6. 4 0 8 u.ö. 1«° HistmoralVorrat 1762, 3 8 6 .

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Melissenexperiment deutlich. 141 Dieses Experiment hat zum Ergebnis: „Daß es . . . einen spiritus plasticus gebe". 1 4 2 Das besagt: Unter Abbild, Bild versteht Oetinger die Struktur der Gestaltwerdung: „Im wachstumlichen Oel der Pflanzen" liegt „das Bild mit allen Zeichnungen . . . , ehe die Blume ihre Gestalt offenbart" 143 ; im ö l ist die Gestalt der Blume noch nicht ausgebildet, aber deren Struktur vorgebildet. Dieses Ergebnis auf die gesamte Natur übertragen bedeutet, daß der Mensch in der Natur mit ihrer Hilfe Strukturen der „oberen Welt" aufzufinden vermag. Natur ist zwar gestalthafte Anrede und ,,Urbild"-vermittelndes Abbild 144 ; sie 141 Auf dieses Experiment bezieht sich Oetinger in 2,5. 458; 2,6. 253; 2,1. 335; PhilAlt II 2f u.ö.; er beschreibt es wie folgt: „Ich legte eine Büschel, fast wie eine Strohbüschel von Melissen in der Mitte des Septembers unter das Dach, das immer noch bei Tag von der Sonne warm blieb. Der Geist wurde nicht von einer allzu großen Hitze verjagt, und den darauf folgenden Winter coagulierte die Kälte die in den Melissen befindliche Feuchte. Den Sommer darauf im J u n i u s nahm ich die Melissen zusammen in eine große Retorte, goß Regenwasser zu, destillierte, so kam erst das Regenwasser, hernach gelbgrüne ölige Tropfen, welche tausend Melissenblätter mit ihrer völligen Signatur präsentierten." 2,5. 458. — Dieses chemische Experiment und andere chemische Untersuchungen betrieb Oetinger ausschließlich der Theologie wegen, mit Hardmeier, Einleitung 3 „um der Theologia emblematica" willen. Seine Stellung zur Chemie macht ein Brief vom J a h r 1748 an den Grafen von Castell deutlich: „Eins wundert mich doch, daß E. Exc. die Chemie nicht primario deswegen zu lieben vorgeben, weil die Erde voll der "Jon der Quintessenz von Gott ist, sondern zum Zeitvertreib und zum notdürftigen A u s k o m m e n " (Ehmann 568). Oetinger beschäftigt sich mit der Chemie, weil sie die Wissenschaft ist, mit der die verborgenen Zusammenhänge eröffnet werden können, weil sie das verborgene Spiel der Kräfte aufdecken kann. Wie sehr Oetinger in seiner Darstellung auch dem alchemistischen Sprachgebrauch verhaftet ist, wird sich näher in dem Kapitel 4.2 dieser Arbeit zeigen, i « 2,5. 458. i « Wörterbuch 75f. 144 Vg] Ehmann 190. Zur Verdeutlichung setzt Oetinger auch das Wort „ E m b l e m " ein, so daß er zu folgender Aussage k o m m e n kann: „Nämlich es ist wahr, daß alle leiblichen Figuren der Dinge etwas in jener Welt ähnliches ausdrücken . . . So sind alle Dinge der Welt Embleme der gereinigten Vorwürfe in jener Welt, da das Obere sein wird wie das Untere" (2,6. 210); zur Emblematik vgl. Hardmeier, Einleitung; sie steht den Ausführungen Häussermanns kritisch gegenüber und b e t o n t die eigenständige Rolle Oetingers, „d.h. die Tatsache, daß Oetinger auch Emblematiker im eigentlichen Sinne war, der Emblemtheorien kannte und sich mit ihnen auseinandersetzte". Häussermann hingegen sieht den Begriff der Emblematik bei Oetinger als Überbegriff für Alchemie und Kabbala. — Hardmeier weist weiter Einleitung 9 darauf hin, daß Oetinger drei verschiedene Arten von Emblemen nennt: „Emblema ist ein aus den sichtbaren Geschöpfen genommenes Bild, welches teils unsichtbare, teils andere sichtbare Dinge bezeichnet." Embleme bezeichnen „eine zusammenhängende Geschichte oder Umfang von langen J a h r e n " , „Emblemata moralia oder moralische Signaturen seyn Bilder, da Handlungen der Menschen oder der Intelligenzen höhere Handlungen in folgenden Zeiten bezeichnen." Bezeichnenderweise treffen die drei Definitionen den Sinn des o.a. Zitats.

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ist aber nicht heile Welt 14S , mit der sich Gottes Darstellbarkeit verbinden ließe 1 4 6 ; ihr Zustand ist vielmehr so, „daß zwar die Gottheit überall hervorleuchtet . . . aber auf eine Art, daß die Zweifler sich stoßen". 1 4 7

b) Methode der Naturbetrachtung Kann bei der Bemühung um Erkenntnis der Natur selbst und aus ihr die Naturwissenschaft mit ihrer Methode eine Hilfe sein? Oetinger beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Nein, wenn sich die Betrachtungsweise als bloß mathematisch-geometrisch bzw. mechanisch herausstellt. Mit der Methode der abgeleiteten Gesetze und des kausalen Nach- und Nebeneinander kann man — so Oetinger — nicht in das „Innere der N a t u r " vorstoßen 148 ; diese Methode genügt nicht zur Erklärung der Natur als eines vom Leben durchpulsten Organismus. Oetinger beantwortet hingegen die Frage mit einem klaren J a , wenn die Methode der Naturbetrachtung darin besteht: herauszufinden, daß in den geschaffenen Dingen Leben pulsiert — „wachstumliches Leben". 1 4 9 Von geringerer Bedeutung ist es, die einzelnen Naturphänomene erklären zu wollen; was jetzt nicht deutbar und erklärbar ist, wird später durch Gott verdeutlicht werden. 1 5 0 Oetinger legt darum auch den Naturforschern ans Herz, nicht zu vergessen, daß Gott ihnen „zum Teil verborgen, zum Teil offenbar sein will". 1 5 1 Oetinger bezeichnet die Methode, die von dem Sinnlich-Vorfindlichen ausgeht, die Leben erspürt und es als den Zusammenhalt des vielfältigen 145 Vgl 2,5. 10: „Den Anfang und das Ende der Wege Gottes [kann man nach dem Fall in der Natur] nicht mehr erreichen." Vgl. PhilAlt II 149: Natur Iäßt nur ihr Äußeres, nicht ihr Inneres sehen. 146 Zu diesem Fehlschluß könnten die Ausführungen von Hardmeier, Einleitung 5 verleiten. Vgl. dagegen Oetinger 2,6. 327: „ . . . so sieht man wohl, daß sich Gott . . . d o c h als ein verborgener Gott in der Natur aufführt." 147 2,6. 129; vgl. dazu auch Dyrssen 392: „Gewiß ist das sinnliche Sein die Ausdrucksform Gottes, das Medium seiner Verwirklichung . . . Aber diese Verleiblichung ist im gegenwärtigen Stadium der Unvollkommenheit eben n o c h nicht die Erfüllung des Göttlichen." 148 Vgl. PhilAlt II 153 u.ö. 149 PhilAlt II 150. Man macht es sich zu leicht, erklärt man Oetinger einfach nur im Widerspruch zum Mechanismus; Oetinger ist es nicht durchgängig, denn er bedient sich hin und wieder jener Methode. Sie ist jedoch für ihn nur dann akzeptabel, wenn sie von der „phänomenologischen" regiert wird — vgl. PhilAlt II 113: „Man muß die Mechanik auch nicht zu weit wegwerfen" und 2,4.34: „Die mathematische Lehrart ist auch ein Stück der göttlichen Weisheit in physikalischen Materien", iso Vgl. PhilAlt II 82. ist PhilAlt II 82; vgl. auch PhilAlt II 84. 112 u.ö.

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Gestaltenreichtums begreift, als „phänomenologisch". 152 Phänomenologisch betrachten und erklären heißt bei Oetinger nicht, die Ursachen von Leben und Entstehen in kausaler Abfolge mit Hilfe mathematischer und mechanischer Regeln einzusehen; es heißt auch nicht, sie mit „Telescopia und Microscopia" 153 ergründen zu wollen — beide Arten vermögen nicht, den letzten Grund aufzuspüren und zu erspüren. Phänomenologisch vorgehen heißt — positiv gewendet —: mit dem, „was dem Menschen sogleich in die Augen fällt" 154 , das Wesen der Natur zu finden 1 5 5 ; heißt „bei der unerschwinglichen Menge der Observationen mit den extantesten, leichtesten und nützlichsten" 156 sich begnügen. Zu diesem Ziel führen am angemessensten — so Oetinger — chemische Untersuchungen. Die Chemie ist darum für ihn die Wissenschaft, mit der bewiesen werden kann, daß überall in der Natur die treibenden und belebenden Kräfte vorhanden sind, was eben mit Mathematik und Mechanik nicht erreicht werden kann. Phänomenologische Betrachtungsweise beinhaltet für Oetinger jedoch nicht aus152

Oetinger b e r u f t sich dabei auf die „Philosophie der A l t e n " und deren Theorie vom „Leben der Dinge" (vgl. PhilAlt II 34f); Schneider 58 und Hauck, Geheimnis 64 weisen darauf hin, daß Oetingers Begriffsbestimmung abweicht von der seines Zeitgenossen J o h a n n Heinrich Lambert, der darunter eine „Lehre vom Schein" verstand. Hauck, Geheimnis 66 definiert phänomenologische Erkenntnis bei Oetinger als „naturgemäßes und lebensmäßiges Erkennen", Schneider 58 schreibt: „Phänomenologisch philosophieren bedeutet bei Oetinger zunächst Anschluß an den Empirismus im allgemeinsten Sinne." 153 Zitiert nach Auberlen 50, Anm. 154 Zitiert nach Auberlen 50. iss Vgl. (zitiert nach Auberlen 56. 57f): „So finden wir durch Vergrößerungsgläser unzählige Faserhäute, Blutadern, Pulsadern, Nerven, welche verschiedene Säfte abund zurückführen. Man muß erstaunen, daß auch in dem Kleinsten etwas Unendliches seie, welches so große Weisheit in sich faßt, als die größte Weltkörper; und wenn wir weiter gehen, die Kleinigkeiten der Geschöpfe also besehen in den Würmern, Ungeziefern, Spinnen, Wespen, Bienen, Mücken, Schnecken, Vögeln, Tieren, Blumen, Kräutern, so erschrecken und erstaunen wir vor der Majestät Gottes. Endlich werden wir über diesen Betrachtungen müde und bekümmert: warum? wir verlieren über diesen Betrachtungen das Notwendigste, das Nützlichste, das Leichteste, kurz das Leben und das Heil der Natur." . . . „Hingegen wolle er auch auf eine andere und leichtere Art dem Leben, dem Nahrungssaft, dem Samen, dem Ackerbau, der Fortpflanzung der Geschlechte, denen obern und untern Wassern, der Vereinigung des Feurigen mit dem Wässrigen, des Warmen mit dem Kalten, des Trockenen mit dem Nassen nicht mit Hilfe der Vergrößerungsgläser, sondern nach der gemeinen Bauernphysik Abels, Adams, Noahs, Abrahams, J a k o b s , Hiobs, Davids, Salomos nur mit Hilfe dessen, was er mit bloßen Augen siehet, nachdenken: so wird ihn Gott lehren, was das Notwendigste und Nützlichste, und was das Einfältigste und Leichteste in aller Wissenschaft seie. Und wann er durch dieses den Grund gelegt hat, so wird er jenes auf der wahren Wurzel habèn, da hingegen jenes ohne dieses ihn müde machen und wieder in die sinnliche Lust zu geraten veranlassen wird, weil es ohne Leben ist." 156 Zitiert nach Auberlen 50.

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schließlich empirisches Vorgehen. Seine ihm zwar sehr wichtigen chemischen Experimente sind lediglich nötig zur Bestätigung, daß in dem mit den Sinnen Wahrnehmbaren Leben pulsiert, und dieses Leben „handtastlich" geworden ist. Oetinger beabsichtigt, mit dieser Methode der Naturbetrachtung die Betonung von Meßbarkeit, Wägbarkeit und dergleichen, womit Quantität zur Darstellung gebracht werden kann und will, abzuschwächen und ihnen Erfahrbarkeit überzuordnen, womit Qualität gewahr gemacht werden kann. Die Vernunft vermag „teils durch Betrachtung der Kreaturen, teils durch Abstraktion von den Kreaturen" 157 Leben zu erkennen, Iäßt Leben in der Natur zur Gewißheit werden, läßt es jedoch lediglich als Ergebnis der Schöpfung einsehen. Den Akt der Schöpfung hingegen ergreift nach Oetinger der Glaubende und begreift somit das Leben als von Gott herrührend. So kann bei dieser Betrachtungsart die Natur zur „hellen Vorschrift" 1 5 8 , „zum Mittel der Gnade" 1 5 9 , zu einem „Spiegel" werden, „in welchem [Gott] . . . die Geheimnisse der Gnade vorbilde [t]". 1 6 0

4. Versuch einer Zusammenschau Das Naturverständnis Oetingers mit einem beschreibenden Attribut zu versehen, stößt auf Schwierigkeiten. Charakterisiert man es als dynamisch 1 6 1 , so mangelt ihm die Telosbestimmtheit; nennt man es organisch 162 , so wird das dialektische Widerspiel der Kräfte, in dem sich Natur ja entfaltet, zu wenig in den Blick genommen; sieht man Natur nur als in der Geschichte und als Geschichte ihre Wirklichkeit habend 163 , so nimmt man ihr die Selbständigkeit und den Eigenwert, die ihr als Schöpfungswerk Gottes zukommen. Alle Charakterisierungen lassen sich zweifellos vertreten und sind nicht prinzipiell falsch — es kommt auch hier auf die Akzentsetzung an. Ruft man sich in Erinnerung, daß die erste und letzte Schrift Oetingers sich mit Böhme beschäftigen, und daß er in ihm den rechten Mittelweg eri " Theologie 111. i 5 8 2,5. 165. ' S 9 2,5. 117; 2,1. 2 7 5 ; 2,5. 24; 2,6. 6 u.ö. 160 2,6. 5; vgl. 2,5. 24: Man bedient sich der Naturbeispiele „nicht als purer Gleichnisse, sondern als eines wirklichen ABC, als eines Grundrisses, wie man es angreifen soll in der Ordnung der Gnade". Vgl. Zinn 21 u.ö. 162 Vgl. Zinn 34 u.ö. 1 « Vgl. Rohrmoser 199.

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kannte, um zwischen dem Idealismus der Leibniz-Wolffschen Schule und dem sich anbahnenden naturwissenschaftlichen Materialismus hindurch zu einer Zusammenschau von Naturwissenschaft und Theologie zu gelangen, so läßt sich festhalten: Oetinger legt das Hauptaugenmerk in seiner Naturphilosophie auf das folgende Prinzip: „Alles Himmlische, alles Unsichtbare, hat seine Gestalt, Form und Figur, wie das Irdische. Das ist die Summe von J . B ö h m " . 1 6 4 Oetinger bekennt sich dazu, Schüler Böhmes zu sein; dennoch sind Unterschiede zwischen beiden unverkennbar. Natur erscheint Oetinger nicht — wie bei Böhme 1 6 5 — in ihrer „Grimmigkeit"; zwar ist sie ein Gemisch aus gut und böse 1 6 6 , aber einen feindlichen, tödlichen Charakter legt er ihr nicht unter. Oetingers Einstellung ist aufklärerisch gewendet: er sieht „die Schönheiten der Natur als Kopien der ursprünglichen Gerechtigkeit" 1 6 7 , aus der Recht abgeleitet werden kann 1 6 8 ; Oetingers Naturverständnis im ganzen verliert gegenüber Böhme an Abgründigkeit, es ist zuversichtlich, harmonisch: „Nimmt man Musik, Farben, schöne Tiere, schöne Menschen, Blumen und schmackhafte Früchte vor sich, was für Vergnügen erregen sie; wie gut muß es in der Gemeinschaft desjenigen sein, der alles, was schön, was reizend, was gut, was vollkommen ist, in einem Centro im allerheiligsten beisammen hat".169 Geklärt werden muß noch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bibel und Natur. Die Verhältnisbestimmung legt Oetinger — wie gesehen — bereits in den „Aufmunternden Gründen" fest. Dort schreibt er: „Wessen Werk und besonderer Beruf es ist, der tut wohl, wenn er die Zentralkräfte der Natur, wie auch das Systema mundi noetici, von den intelligentiis formatrieibus universi mit allen mechanischen Regeln und ursprünglichen Ursachen des Lichts und der Luft, als den bewährten Mitteln der Magie, zur Verherrlichung Gottes unter Gebet und Danksagung einsehen lernt; wer aber nicht besonders dazu berufen ist, der hat nicht in seiner Macht, sich in die Schönheiten der Natur zu verlieben und zu vertiefen, so lang er noch nicht eine der würdigen Hochachtung göttlicher Offenbarung gemäße Bemühung zum Verstand der Schrift angewandt und was er erkennt, nicht nach der Richtschnur derselben verglichen oder erläutert findet". 1 7 0 Das heißt einmal: Naturbetrachtung hat weniger um ihrer selbst willen zu geschehen, sie steht vielmehr im Dienst Gottes; das heißt zum andern: 2,1. 3 7 0 . Vgl. Kapitel 2.3f dieser Arbeit. 166 Vgl. 2,5. 26; 2,6. 3 2 7 u.ö. w 2,6. 52; vgl. 2,4. 16; 2,6. 3 2 7 ; 2,5. 3 3 7 u.ö. 168 Vgl. 2,6. 52. PhilAlt II 111. i·» 2,1. 2 7 4 . 165

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B i b e l b e t r a c h t u n g g e h t v o r N a t u r b e t r a c h t u n g , allerdings: sie ist n i c h t o h n e N a t u r b e t r a c h t u n g 1 7 1 ; u n d das h e i ß t d r i t t e n s : die B i b e l gibt die p u n c t a n o r m a t i v a für die N a t u r e r k e n n t n i s an die H a n d . Will O e t i n g e r d e r G e f a h r e n t g e h e n , die Bibel n u r in i h r e m „ g e i s t l i c h e n " I n h a l t z u v e r s t e h e n , so b e n ö t i g t er die N a t u r in ihrer K ö r p e r l i c h k e i t u n d F i g ü r l i c h k e i t als A b bild; will er a u f z e i g e n , d a ß die B i b e l als G a n z h e i t e i n s i c h t i g g e m a c h t w e r d e n m u ß , so b i e t e t i h m die N a t u r a u c h dafür A n s c h a u l i c h k e i t : „ E s ist kein G r ä s l e i n u n d B l ü m l e i n , w e l c h e s u n s n i c h t i m m e r einerlei, n ä m l i c h die E i n f ö r m i g k e i t o d e r E i n h e i t in d e r V i e l h e i t als eine V o r s c h r i f t u n d F o r m v o r h ä l t u n d als v o n d e r H a n d des heiligen G e i s t e s g e b i l d e t , vors t e l l t " . 1 7 2 N a t u r ist i h m also e i g e n t l i c h L e h r m e i s t e r i n . Diese A u s s a g e n v e r d e u t l i c h e n , d a ß Bibel u n d N a t u r n i c h t in e i n e m V e r hältnis gegenseitiger E r g ä n z u n g s t e h e n

173;

die Bibel b l e i b t i m m e r d e r

N a t u r in i h r e m E r k e n n t n i s w e r t v o r g e o r d n e t , w a s j a im W e s e n d e r N a t u r begründet i s t . 1 7 4 A b e r entscheidend bleibt, daß Oetinger Theologie nicht o h n e N a t u r b e t r a c h t u n g z u t r e i b e n v e r m a g : „ G e w i ß ist, d a ß die N a t u r lehre z u r T h e o l o g i e h ö c h s t n ö t i g i s t " . 1 7 5 Vgl. 2,5. 38f. 2,5. 165. 1 7 3 Gegen Zinn 168 und Auberlen 108; Zinn fügt als Beleg an: ,,Oetinger traut ,bei der fermentierenden Zeit niemand, als welcher Schrift und Natur zusammennimmt' (Ehm. 5 6 9 ) " . — Es müssen hier einige Anmerkungen zu Zinns Arbeitsweise gemacht werden: Sie zieht als Belege nur einige Schriften aus dem Gesamtwerk Oetingers heran und stellt häufig mit ihnen neue Zusammenhänge her, die zwar nicht gravierende, aber doch leichte Sinnänderungen bewirken. Ähnlich auch hier. Oetinger schreibt in dem von Zinn oben angeführten Brief an den Grafen von Castell: „Ich glaube, daß niemand so eigentümlich wissen kann, wie Ihnen zu Mute ist, als ich. Denn ich bin auch so desperat an allen Menschenlehren, Kontroversen u.dgl. als Sie. Ich nehme meine einzige Zuflucht zu der heiligen Schrift und Natur, und ich getraue mir, mich zu legitimieren an Aller Gewissen. Aber ich traue bei dieser fermentierenden Zeit niemand, als welcher Schrift, Natur, Christum und seinen Geist zusammennimmt." (Ehmann 5 6 9 , Kursivdruck jeweils nicht im Original). — Es kann höchstens von einer gegenseitigen Bezugnahme im Sinne des folgenden Zitats gesprochen werden: ,, . . . die Natur und heilige Schrift reden dieselbe, von der Philosophie nicht in ihrem vollen Sinn verstandene Sprache. ,Die Natur weiset uns auf die heil. Schrift und die heil. Schrift auf die N a t u r ' " (Auberlen 8 7 ) . 171

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174 Vgl. jetzt besonders 2,4. 7 und 16: „Die Natur sucht ihren Ursprung, aber durch sich selbst findet sie ihn nicht; Gott muß ihr helfen. . . . Die Natur erlernt, was Tugend und Laster sei, mehr aus den Folgen, als aus innerlichem Licht . . . Die Natur gebraucht die Weisheit nur zu ihrem eigenen Vorteil, und nicht zum Fortgang in der Verherrlichung G o t t e s . " . . . „Die Natur weiß 1. nicht, worin das Leben besteht; die Offenbarung gibt die sichern Anzeigen, daß ohne das ewige Wort kein Leben in sich selbst bestehe. Die Natur weiß 2. nicht, was Licht ist; die Offenbarung sagt, daß Gott der Vater der Lichter sei." " 5 2,6. 219; vgl. 1,2. 68. 7 G r o ß m a n n , Oetinger

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In der Vorordnung der Bibel wird zweifellos der Einfluß des heilsgeschichtlichen Bibelverständnisses sichtbar, insofern wird Böhmes Einfluß abgeschwächt, aber keineswegs aufgehoben. 1 7 6 Denn im Rückgriff auf das Leben, das G o t t selbst ist und das sich in der Natur abbildet, fühlbar und erfahrbar wird, geht Oetinger über Bengels Ansatz der Beobachtung von Naturgesetzen hinaus. Mit Hilfe der Natur und ihrer Körperlichkeit vermag Oetinger, die fließende, keineswegs griffige Vorstellung „ L e b e n " zu konkretisieren, enthebt er sich spekulativer Gedankengebilde und gewinnt Realitätsbezug; mit der Betonung des Gestalthaften als „Untergestell" 177 bewahrt er sich vor der unüberbrückbaren Trennung von Leib und Geist. Wir k o n n t e n beobachten, daß Schrift und Natur zu den Stützen der Theologie Oetingers gehören. Er bestätigt in seiner Selbstbiographie: „Ich mußte drei Säulen haben, auf welchen mein Gebäude ruhen konnte, nämlich erstens die Grundweisheit, welche ich aus der menschlichen Gesellschaft und aus der Natur vernahm, zweitens den Sinn und Geist der Heiligen Schrift und drittens die Führung Gottes mit mir auf dieser Grundlage". 1 7 8 Bisher ist jedoch nur wenig darüber gesagt w o r d e n , auf welche Weise Schrift und Natur sich einsichtig machen lassen, um wiederum zur Einsicht zu führen, was also für Oetinger Erkenntnis heißt, auf welche Weise sie sich vollzieht und welche Methode ihr eignet. Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel untersucht und beantwortet werden.

5. Erkenntnistheorie a) Erkenntnis aa) Natürliche und göttliche

Erkenntnis

Oetinger hat in sein Biblisches und Emblematisches Wörterbuch das Stich wort „ E r k e n n t n i s " a u f g e n o m m e n . 1 7 9 Findet man diese Vokabel in einem „Wörterbuch über die Heilige S c h r i f t " 18 °, so wird mit diesem Schritt bereits angezeigt, wo Oetinger eine Gewichtung sieht: Erkenntnis nicht den 176 Welche Bedeutung Oetinger Böhme zumißt, macht folgendes Zitat deutlich: „Gott hat endlich die Zeit kommen lassen, daß der Engel mit dem ewigen Evangelium um das Jahr 1600 entweder an Jakob Böhme oder an Arnd oder kollektiv an beiden zugleich erschienen" (2,6. 146). 177

Metaphysik 5. Roessle, Selbstbiographie 71. iw Vgl. Wörterbuch 169f. 180 Wörterbuch Vorrede. 178

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„Popularphilsophen" zu überlassen, sondern sie in gleichem Maße für den „Gottesgelehrten" verbindlich zu machen. 1 8 1 Oetinger strukturiert Erkenntnis nach zwei Richtungen: als „natürliche und göttliche". 1 8 2 Nach Oetingers Definition verfährt die natürliche „nach den Regeln der Schlüsse, da zwei Begriffe vermittelst eines dritten ineinander" sind und sie erfolgt „stückweis", deswegen, weil „wir im Stückwerk stehen". 1 8 3 Sie hat ihr Recht zur Gotteserkenntnis nur, solange sie offen ist auf Veränderung hin: sie kann als rationale, auf logischen Schlußfolgerungen aufgebaute Erkenntnis zur „göttlichen" werden, wenn die „göttliche K r a f t " 1 8 4 ihr innewohnt. Das bedeutet umgekehrt: Nicht jedes Denkergebnis auf dem Weg zur Gotteserkenntnis muß verworfen werden, weil es auf Schlußfolgerungen beruht, sondern die Schlüsse, die in der Kraft Gottes gezogen werden, gelten als solche, die Wahrheit vermitteln. Oetinger verweist hierbei auf Paulus, der das Wort λογίζομαι sehr häufig gebrauche 1 8 S ; dessen Schlüsse könnten nicht der „abfälligen V e r n u n f t " 1 8 6 zugeschrieben werden, da sie „doch vom heiligen Geist für Sermocinatione interna vermittelst der Muttersprache notwendig gebraucht" 1 8 7 werden. Oetinger kann und will also keineswegs auf Schlußziehungen verzichten, weil diese Sachverhalte und Urteile miteinander verknüpfen; wollte Oetinger dies, so müßte er sich ausschließlich im Raum des Fühlens bewegen 1 8 8 — das aber lehnt er ab. 1 8 9 Die natürliche Erkenntnis birgt jedoch eine große Gefahr: daß sie sich dem sie verändernden Vorgang verschließt, weil sie sich bei Definitionen aufhält, die sich als Leerformeln herausstellen, da sie nicht im Menschen erlebt sind und darum als Begriffe nur „entlehnt" wurden. 190 Denn: Natürliches Erkennen — so Oetinger — als eine „äußere Vorstellung der Sache nach ihren deutlichen Kennzeichen" 1 9 1 beschreibt nur einen Vorgang, der an außerhalb des Menschen liegenden Voraussetzungen sein Wesen gewinnt; er nimmt das auf, was dem Menschen als Gegenüber im Sichtbaren entgegentritt und an äußerlich greifbaren Merkmalen erkennbar ist; natürliches Erkennen nimmt seinen Ausl81 l« 183 im 1S5 18« 187 188 189 190 l'i

Vgl. Roessle, Selbstbiographie 11. Wörterbuch 169. Wörterbuch 169; vgl. Wörterbuch 150. Wörterbuch 169. Vgl. Ehmann 118. Wörterbuch 237. Wörterbuch 237. Vgl. Wörterbuch 237. Vgl. z.B. Ehmann 118f. Vgl. Wörterbuch 150f. Wörterbuch 149.

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gangspunkt an Definitionen und deren Entfaltungen und kann darum das eigentliche Wesen des Gegenüber nicht erkennen. 1 9 2 Oetingers Einwand gegen die natürliche Erkenntnis als einer sich in Definitionen erschöpfenden ist darum ein dreifacher: sie verfehlt das Ziel, denn sie dient nicht „der Vorbereitung auf die güldene Zeit nach Christo" 1 9 3 ; sie verfehlt den Grund, denn „ihre V e r n u n f t geht nicht aus dem LebensLicht, sondern aus der Ähnlichkeit der geschaffenen Dinge" 1 9 4 : sie verfehlt den Sinn, weil sie „eins nach dem andern e r k e n n t " und nicht „auf einmal das G a n z e " . 1 9 5 ab)

Zentralerkenntnis

Mit diesem letztgenannten Gedanken sind wir bei einer weiteren Unterscheidung der Erkenntnis. In dem oben genannten Artikel des Wörterbuchs schreibt Oetinger: „Aber viel etwas anderes ist die Erkenntnis ohne Bilder, da man transformiert wird in das, was man erkennt durch göttliche Berührung. Diese ist wiederum natürlich und g ö t t l i c h " . 1 9 6 Es ist auffällig, daß Oetinger keine weiteren Erklärungen gibt, obwohl dieses Thema der bilderlosen Erkenntnis — wie dem Zitat zu entnehmen — von großer Bedeutung für ihn sein m u ß . Zur Klärung dieser Zurückhaltung ist ein Rückgriff hilfreich. Oetinger soll eine Beschreibung geben u n d eine Wesensdefinition finden von einem Vorgang, der ihm selbst nie widerfahren ist: der Zentralschau. Was sie im eigentlichen ist, wie sie sich darstellt und auswirkt — dies kann Oetinger nur im Ergebnis den Schriften Anderer e n t n e h m e n . 1 9 7 Dennoch schreibt er von ihr mit Begeisterung schon in den ,,Aufmunternden G r ü n d e n " und im „Abriß" 1 9 8 , ausführlicher dann in dem Kapitel „Anmerkungen . . . von der ZentralSchau oder Erkenntnis, wie die Engel e r k e n n e n " . 1 9 9 In ihm wird sie dargestellt als die Erkenntnisweise schlechthin, „womit man nicht eins nach dem andern erkennt, wie die blöde V e r n u n f t durch Schlüsse, son192 Vgl 2,6. 352 und Gedanken 6: „Erkennen . . . , als eine Sache außer sich betrachten, als stünde sie uns gegenüber". 193 2,6. 114; vgl. 2,4. 41 u.ö. i « Wörterbuch 660. 195 2,5. 266. 196 Wörterbuch 169. 197 Oetinger nennt Böhme, Marie d. S Thérèse (= Theresea von Brodeaux), Marie d'Incarnation. Helmont, Swedenborg, Hans Engelbrecht, Bromley (vgl. 2,2. 140; 2,2. 141; 2,2. 127; 2,5. 291). 198 Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit; 2,1. 250. 252. 260; 2,5. 261ff; Ehmann 504: „Ich verzweifle an Allem, was nicht zentralisch, und nach der Schrift und nach sinnlicher Zergliederung erkannt wird." 199 2,5. 285ff; es handelt sich dabei um ein Kapitel aus dem Buch „Die Verklärung Jesu in seiner Braut", erschienen 1734.

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dem wo man nach der Weise der englischen Welt erkennt, wie man von Gott erkannt ist". 2 0 0 Aber es bereitet ihm die Tatsache Schwierigkeiten, daß er übernehmen muß, daß er nicht aus dem Selbsterlebten berichten kann 2 0 1 ; dann ist von Verwirrung die Rede 2 0 2 und schließlich von Bescheidung: „Diese hohe Erleuchtung mag doch nur denen zukommen, welche Xóyov σοφίας durch den heiligen Geist empfangen (l.Cor. 12, v.8). Andere, welche \oyov γ ^ ώ σ β ω ς nach dem Geist empfangen, sehen wohl so weit n i c h t " 2 0 3 — zu den letzteren zählt sich Oetinger. 2 0 4 Das SichGeniigen an der Erkenntnis nach dem Geist und nicht durch den Geist läßt Oetingers Einsilbigkeit im Wörterbuch verständlich werden. Allerdings kann noch ein weiterer Grund gesehen werden, der ursächlich mit Oetingers Biographie zusammenhängt, aber eine Erweiterung und Ausweitung erfährt. Zum Verständnis des Sachverhalts bedarf es darum einer eingehenderen Untersuchung der Vorstellungen Oetingers von der Zentralschau. Oetinger definiert Zentralschau 2 0 5 als Erkenntnisweise „ohne Bild" 2 0 6 , „ohne Einbildungskraft" 2 0 7 , „ohne die von außen hineingemalten Bilder" 2 0 8 , also ohne Vorstellungen, die man sich macht, über die man reflektiert, und die die Erkenntnis beeinflussen. Die Zentralschau begnügt sich darum nicht mit einem Teil des Menschen, einem ausgegrenzten Bezirk — der ratio —, sondern sie beansprucht ihn in seiner Ganzheit: Sehen, Schmecken, Empfinden und Erkennen sind beteiligt. 2 0 9 Sie funktioniert auch nicht, indem der Mensch sie in Gang 2

2,5. 2 8 7 . 201 Vgl. Ehmann 4 5 9 = Brief vom 1 5 . 1 0 . 1 7 3 4 , also dem Erscheinungsjahr der „Anmerkungen". 202 Vgl. Ehmann 5 0 2 = Brief vom Jahr 1736: „Selbst das Wort Zentral-Erkenntnis ist mir beinahe ekelhaft geworden, obgleich ich sehe, daß dasselbe von dem allertrockensten und von der Selbsterhebung gereinigten Bengel angenommen ist, wenigstens im Diskurs." 203 LT 135. 204 Aus dieser Tatsache zieht Herpel 2 9 4 den Schluß, daß Oetinger „trotz aller Bereitwilligkeit, den zeitgenössischen Schauenden zu glauben, d o c h ein letztes persönliches Ressentiment gegen sie hatte". Ich halte diese Folgerung für unangebracht — vgl. dazu 2,2. 140: „Höret sie, denn meine Gabe ist nicht λογος οοφιας δια του πνεύματος, sondern λόγος -γνωοεως κατα το πνεύμα l K o r 12,8. Höret demnach die, deren Gabe es ist." 205 Die beiden Ausdrücke Zentralerkenntnis und Zentralschau finden sich bei Oetinger unterschiedslos nebeneinander. — Vgl. auch Rolf Christian Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe, München 1969, 149, der meint, Oetinger habe diesen seinen „Lieblingsgedanken" wohl „beim älteren Helmont kennengelernt". 2 Wörterbuch 456. 191 Vgl. auch Hauck 125: „Leiblichkeit ist für Gott sogar Voraussetzung und Medium seiner Offenbarung, gleichsam die Ebene, auf der Gott und Mensch einander allein begegnen können." Wollte Heinze den gleichen Gedanken ausdrücken, so ist dies etwas unglücklich geraten, wenn er formuliert: „Schon der überweltliche Gott hat menschliche Züge angenommen" (67). 192 Vgl. Theologie 77 u.ö.

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Leib ein reelles Bild der Gottheit sei, . . . daß Gott sich in Menschengestalt auf dem Throne sitzend präsentiere, nicht nur in menschlicher Weise, sondern höchst wahrhaftig und Gott geziemend". 1 9 3 Es geht Oetinger also beileibe nicht bloß um Korrekturen in der Offenbarungsweise Gottes, oder um Eigenschaften, die ihm beizugeben seien; sondern es geht ihm um die Verankerung der Leiblichkeit im Wesen Gottes. Dabei muß er zwei Vorurteile beseitigen: daß Leiblichkeit Unvollkommenheit innewohne und daß Geist nichts mit Leib zu tun haben könne. 1 9 4 Für Oetinger steht fest: „Man kann keinen Geist jemals sehen, er muß etwas Leibliches mit sich führen" 1 9 5 ; die „himmlische Leiblichkeit ist nichts Unvollkommenes, Gott Unanständiges" 1 9 6 ; sie ist keine „Platonische oder Leibnizsche Unvollkommenheit, sondern eine wahre Vollkommenheit" 1 9 7 — sie ist Realität. 1 9 8 Mit dieser Feststellung setzt sich Oetinger in krassen Widerspruch zu Leibniz. Denn bei Leibniz besteht die Vervollkommnung in der fortschreitenden Entkörperlichung. Gott sei deswegen als vollkommen anzusehen, weil ihm als einzigem absolute Körperlosigkeit eignet: „Gott allein ist vom Körper gänzlich losgelöst" 1 9 9 — Oetingers grundsätzliche Position aber setzt Leiblichkeit als wesenskonstitutiv bei Gott voraus. Gottes Leiblichkeit wird von Oetinger jedoch als „innerliche" 2 0 0 und „himmlische" 2 0 1 beschrieben, denn sie unterscheidet sich prinzipiell von der kreatürlichen Leiblichkeit: sie ist ohne Undurchdringlichkeit, Widerstand und grobe Vermischung. 202 Diese ihre Unterschiedenheit gründet sich in zwei Bedingungen: Gott ist unauflösliches Leben; Gott in und mit seiner Herrlichkeit ist die Offenbarung dieses Lebens. Damit treten Gott und seine Herrlichkeit in unlösliche Einheit und gegenseitige Abhängigkeit, die dann auch die Merkmale der Leiblichkeit Gottes bestimmen. Es sind Merkmale, die sich in der übrigen geschaffenen Kreatur nicht finden lassen: die Herrlichkeit in und als Leiblichkeit ist unendlich, unermeßlich und über allen menschlichen Verstand. 2 0 3 1 9 3 2,1. 3 9 2 ; vgl. L T 193: „Herrlichkeit ist die Cörperliche oder leibliche Manifestation dessen, was im Geist verborgen i s t " . 1 9 4 Umgekehrt läßt sich auch mit Trautwein 2 2 2 sagen: Oetinger kennt „keinen fundamentalen Gegensatz zwischen Geist und L e i b " . 1 9 5 1,1. 141; vgl. L T 102. 2 1 0 . 2 4 1 ; 2,1. 3 7 0 . 3 9 3 ; 2,6. 2 6 8 ; 1,3. 2 3 5 u.ö. 1 9 6 2,6. 2 6 9 ; vgl. L T 166; 2,5. 3 8 9 u.ö. 1 9 7 2,6. 2 9 6 ; vgl. 2,6. 2 9 7 . 3 0 6 ; L T 166. 2 0 4 . 2 3 8 ; 2,1. 3 9 1 ; 2 , 2 . 136 u.ö. 1 9 8 Vgl. 2,2. 3 5 0 . 1 9 9 Leibniz, Monadologie = Phil. Werke, Leipzig 1906, Bd. II 4 5 2 ; zitiert nach Hauck, Geheimnis 124f. 200 Theologie 71 u.ö. Wörterbuch 4 1 8 ; 2,1. 3 7 4 ; 2,6. 2 6 9 u . ö . 2 0 2 Vgl. 2,2. 3 5 0 . 203 Vgl Theologie 77; Dorner, Entwicklungsgeschichte 1 0 2 6 , nennt dies eine „Leiblichkeit höherer Art . . . Das ist die Geistigkeit als substantielle R e a l i t ä t " ;

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Oetinger verwischt nun keineswegs den Widerspruch, der in seiner Wesensbeschreibung von Gott auftritt: „Wenn jemand den Einwand erhebt, daß ich . . . Widersprechendes von Gott behaupte, Körperliches und Geistiges zugleich, so möge er wissen, daß hier ein Widerspruch stattfinden müsse". 204 Denn Gott ist in seinem Wesen widersprüchlich: er ist der Unsichtbare, aber auch der Offenbare 2 0 5 ; er ist der ohne Bild, ohne Zeit, ohne Raum, ohne Bewegung 206 , aber auch der, der „von Morgen [daherkommt] wie ein Wasserbrausen" 2 0 7 ; ihm sind Eigenschaften fremd und gleichzeitig legt er sich welche bei 2 0 8 ; er ist reines Licht 2 0 9 und ebenso Gestalt 2 1 0 ; er ist reiner Geist und abgeleitete Herrlichkeit. 2 1 1 Diese Widersprüchlichkeit in Gott ist nicht aufhebbar, aber sie verliert ihren Schrecken, weil in der Leiblichkeit der Gottes Wesen inneliegende Drang zur Offenbarung als Beziehungsaufnahme zur Anschauung kommt, weil „die Liebe Gottes in der Materie, in der Leiblichmachung der Gottheit zu bewundern" 2 1 2 ist. Der Herrlichkeit Gottes kommen mehrere Funktionen zu. Sie vermittelt in ihrer Erscheinungsweise als Leiblichkeit — wie gesehen — Gottes Anschaubarkeit, die sich dann in Christus vollgültig zeigt 2 1 3 — insofern ist Herrlichkeit „das große Wort, worauf das ganze Neue Testament hinaus l ä u f t " . 2 1 4 Der Herrlichkeit eignet zum andern ,Vorbild'-,Urbild'-Charakter, denn sie hat „in sich . . . alle Ordnung und Lage der Dinge, die Entwicklung und Auswicklung aller Atomen, alle Ideen, alle Farben, alle Gestaltung und Figuren". 2 1 5 In der Herrlichkeit Gottes liegt der Grund jeglicher vgl. auch Zinn 175, die in Oetingers Äußerungen „etwas merkwürdig Unbestimmtes" sieht. Diese Beurteilung trifft nicht ganz; nicht so sehr das Unbestimmte, als mehr die Negation kennzeichnet die Definition Oetingers. Aber dies ist verständlich: denn ein Unterschied zwischen irdischer und himmlischer Leiblichkeit läflt sich leichter, vielleicht auch ausschließlich, in der Negation verdeutlichen. 104 Theologie 72. 205 Vgl. Theologie 72. 206 Vgl. Theologie 73. ™ Theologie 73. 208 Vgl. Theologie 73. 209

Vgl. Theologie 69. Vgl. Theologie 72. 2 'i Vgl. LT 193. 212 2,2. 287. 213 Vgl. Theologie 113; LT 204 u.ö. 214 Wörterbuch 318; vgl. weiter: ,,Im alten Testament kommt viel von der Herrlichkeit Gottes vor, doch wenn man es recht bedenkt, nur in Absicht auf Christus Matth. 5,18". 215 Theologie 77; vgl. 2,2. 342; Zinns Feststellung, es handele sich um „Traumbilder" (176), läßt zumindest Mißverständnisse zu, wenn sie nicht sogar grundsätzlich — sofern Träume nicht als das Aufsteigen des Archetypischen angesehen werden — Oetingers Intention zuwiderläuft; im übrigen wird dieses Wort in den bei Zinn angegebenen Verweisstellen von Oetinger nicht verwendet. 210

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Schöpfung, liegt alles gegründet, was uns in der Schöpfung entgegentritt und begegnet. 2 1 6 Sie ist als drittes ,jener Raum, welchen Newton das göttliche Sensorium n e n n t " . 2 1 7 Oetinger beruft sich hierbei auf Newton. Bei Newton selbst 2 1 8 ist Sensorium die Wahrnehmung, die unmittelbar geschieht. Beim Menschen wird dieser Vorgang durch Sinnesorgane vermittelt; Gott aber hat Sinnesorgane nicht nötig, weil er allgegenwärtig ist, was räumlich vorzustellen ist. Gott nimmt als der im Raum überall Gegenwärtige die Dinge wahr — in seinem Sensorium. Damit läßt sich der absolute Raum selbst für Gottes Sensorium halten. Oetinger stellt diese Argumente Newtons in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" 2 1 9 dar und schließt sich ihnen an: Der Raum — hier genannt das Spatium — ist auch für Oetinger die Sinnlichkeit Gottes, „wodurch und worin Gott als ein allgegenwärtiges Wesen alles aufs genaueste empfindet, siehet und erkennet". 2 2 0 Oetinger fügt nun aber hinzu: „Newton hat nicht bekannt gemacht, was er für Begriffe noch dabei gehabt. Ohne Zweifel waren es diese: daß Gott lauter Gesicht, Gehör, Gefühl in allen Kreaturen, welche in ihm als in einem unendlichen Raum, leben, sich bewegen und sind, seie" 2 2 1 — Oetinger betont also hier in gesteigertem Maße die Sinnenhaftigkeit, die Gott zukommt, und stellt mit ihr und durch sie die Verbindung zwischen Gott und Kreatur her: also auch hier die schon mehrfach angetroffene gegenseitige Durchdringung. Auch in der „Lehrtafel" weicht er nicht ab: „Dieser Raum ist die wahre Substanz, worinn alle Intelligenzen und Geister ihr Bestehen haben, sie ist die etendue intelligible, durch welche wir sehen, dencken, leben, uns bewegen und seyn . . . Sie ist ungeschaffen, nimmt aber creatürliche Art an sich, um sich innigst vereinigen zu können mit der Creatur . . . Sie hat alle Sensoria der Augen, Ohren, Nase, Geschmacks eminenter in sich". 2 2 2 216

Vgl. 2,2. 155. 237. 342. - Es muß an dieser Stelle noch auf die „Metaphysik" verwiesen werden, wo der gleiche Gedanke unter einer anderen Vokabel — von Böhme stammend — vorgetragen wird, nämlich der ewigen Natur (vgl. Metaphysik 540—546). Oetinger erläutert: Die ewige Natur ist die Quelle und Wurzel aller Kreatur. Sie ist — als Quelle — gleichsam dadurch eine „zweite Natur Gottes" (540). Da absolut Nichts, auch kein Geist, ohne Raum gedacht werden kann, so ist auch die ewige Natur ein Raum, und zwar ein Raum voll göttlicher Kräfte, weil Gott selbst jenes unendliche Kraftzentrum ist. Und auch hier gilt: „Diese seine zweite Natur ist der Weg, dadurch Er aus seiner der Kreatur sich präsentierenden höchsten Dunkelheit ins Offenbare in gewisse an der Kreatur leuchtende göttliche Eigenschaften heraustritt" (543). 218 Theologie 78 = 2,2. 342. Vgl. zum folgenden Buchholtz 72. 220 Vgl. 2,2. 200ff. 2,2. 200. 221 2,2. 200; hier trifft die Kritik Zimmermanns (vgl. 153), Newton sei für Oetinger bloß die vornehmste Autorität eines rein eklektisch vorgehenden Philosophierens, in besonderem Maß zu. 222 L x 194; in der Benutzung des Begriffs étendue intelligible läßt sich die Beschäftigung Oetingers mit Malebranche nachweisen. Malebranches Idee der intelligiblen

219

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In seiner e i g e n t l i c h e n R a u m l e h r e u n d i m b e s o n d e r e n als E i n s c h l u ß d e s S e n s o r i u m D e i g r e i f t O e t i n g e r L e i b n i z an: „ G o t t sieht n a c h d i e s e m k e i n e F a r b e n , s o n d e r n er sieht nur das I n n e r s t e der M o n a d e n u n d d e r v i e l e n W e l t e n " . 2 2 3 Für L e i b n i z 2 2 4 e n t s u b s t a n z i a l i s i e r t sich der R a u m , er w i r d zur O r d n u n g s f o r m des K o e x i s t e n t e n ; damit wird auch die Gleichsetzung v o n K ö r p e r l i c h k e i t u n d A u s d e h n u n g a u f g e h o b e n . A l s O r d n u n g s f o r m der p h ä n o m e n a l e n K ö r p e r stellt d e r R a u m e i n e A b s t r a k t i o n dar, ist er selbst k e i n P h ä n o m e n mehr, sondern ein ideales Gebilde. — Oetingers Verhältnis zu B ö h m e h i n g e g e n ist in d i e s e r Frage g e s p a l t e n . Er w e n d e t sich in g r o ß e r Eind e u t i g k e i t v o n i h m ab, s o f e r n er n i c h t R a u m als R ä u m l i c h k e i t a n s i e h t , in der o b e n u n d u n t e n z u u n t e r s c h e i d e n i s t 2 2 5 ; er s t e h t i h m p o s i t i v g e g e n ü b e r , i n s o f e r n für B ö h m e e b e n R a u m — u n d a u c h Z e i t — als n o t w e n d i g e B e z ü g e j e d e r M e t a p h y s i k z u d e n k e n sind. Hier darf j e d o c h n i c h t ü b e r s e h e n w e r d e n , daß Oetinger unter R a u m e b e n ganz gezielt Räumlichkeit versteht226, die B ö h m e für d i e i n n e r e W e s e n h e i t j e d o c h n i c h t b e s t i m m t — für i h n ist erst d i e ä u ß e r e W e s e n h e i t , „ d i e kreatürliche N a c h m o d e l u n g " 2 2 7 , e i n e r ä u m l i c h e i m eigentlichen Sinne. —

Anschauung (vgl. zum folgenden Monika Eickhoff, Ontologismus und Realismus. Nicolas Malebranche — Thomas von Aquin. Ein Vergleich, Phil. Diss. Freiburg i.Br. 1969, 135ff; vgl. auch Ohly 18f) ist ein notwendiger Begriff der Erkenntnistheorie. Die Einführung des Begriffs war für Malebranche nötwendig geworden, um einsichtig zu machen, daß die Seele, obwohl sie höher steht als alles körperlich Materielle, nicht die Körper in sich selbst schauen kann. Körperliche Dinge sind nur „in G o t t " zu sehen, da er alles Körperliche auf intelligible Weise in sich birgt. Die intelligible Ausdehnung stellt die Urdidee alles Körperlichen dar, sie enthält alle möglichen Formen, Figuren, Gestalten potentiell in sich. Sie vermittelt Erkenntnis des MateriellAusgedehnten, von dem nicht beweisbar ist, daß es existiert. Bei Malebranche erweisen nicht die Dinge, daß Gott sie gebildet hat, sondern allein Gottes Selbstoffenbarung an den Menschen; diese aber ist nicht beweisbar oder erkennbar, sondern nur zu glauben. Die étendue intelligible ist das Mittel zur Erkenntnismöglichkeit der Dinge „in G o t t " . Sie stellt die Archetypen der Dinge dar, denen gemäß alles geschaffen ist. „Die Idee ist . . . Ur- und Korbild im Sinne eines .exemplar', eine ungeschaffene, den Menschen übersteigende Realität in Gott" (Eickhoff 123). — Daß Oetinger den Begriff verwendet, widerspricht seiner sonstigen Abneigung dem Idealismus gegenüber, denn der Begriff ist bei Malebranche eindeutig .idealistisch' konzipiert. Aber auch hier zeigt sich Oetingers Eigenheit: Begriffe aufzunehmen und zu verwenden, sofern sie wenigstens mit Teilen ihres Bedeutungsinhalts sich als für seine Vorstellungen brauchbar erweisen. Wörterbuch 495. 224 Vgl. zum folgenden Gurwitsch 370ff; Ohly 62ff, wo die Kontroverse — ausführlicher als bei Zinn 59 — zwischen Leibniz und Clarke aufgezeigt wird. 225 V g l - Wörterbuch 497. 465; 2,6. 173. 226

Ich erinnere an die Erklärungen zur Apokalypse; besonders eindrucksvoll sind die Ausführungen im Wörterbuch 569—575 zur „Stadt Gottes". 227 Grunsky 244. 10 Grofimann, Oetinger

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Recht eigenartig muß es anmuten, daß Oetinger im vorgegebenen Rahmen ausgerechnet mit Kant sympathisiert. 2 2 8 Er beruft sich dabei auf Kants Inaugural-Dissertation „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", entstanden 1770, und die darin ausgesprochene Auffassung vom ewigen Raum und der ewigen Zeit. 2 2 9 Oetinger kommt ihr ausgesprochen positiv entgegen 2 3 0 und erhebt: „Kant . . . ist geneigt mit Malebranche überall eine Extensionem intelligibilem zu concipieren. Das ist sein Raum und Zeit, womit er die ganze neue Philosophie zu Boden wirft". 2 3 1 Geschätzt wird also Kants Definition des Raums als unendlichem Umfang der göttlichen Allgegenwart und der Zeit als unendlichem Feld der Allmacht. 2 3 2 Erst der spätere, .kritische' Kant läßt Raum und Zeit nur mehr als Anschauungsformen des endlichen Geistes zu. Oetingers Gleichklang ist nur belegt und belegbar für diese eine vorgenannte Stelle. 2 3 3 Hier kann Oetinger Kant darum auch noch „das tiefdenkende Originalgenie" 2 3 4 nennen, bezeichnet ihn in anderen Zusammenhängen dann aber wieder als einen „Weltgeist" 2 3 5 : „der sieht etwas, aber nicht genug". 2 3 6 Es trägt nun keineswegs zur Verdeutlichung bei, wenn Oetinger die einzelnen Vorstellungsbereiche für Raum nebeneinanderordnet, um sie zur Deckung zu bringen. In der „Irdischen und himmlischen Philosophie" ist zu lesen: „Was nun Newton das sinnliche Teil, das mit dem unendlichen Raum Gottes eins ist, genennet, das nennet die Heil. Schrift die Ausbreitung seiner Stärke, Ps. 150,1 . . . Und eben das nennet J a k . Böhm das Element Gottes, den Ternarium Sanctum . . . Es ist die reine Leiblichkeit Gottes, womit Gott notwendig alles in den Kreaturen siehet, höret und empfindet". 2 3 7 Unter Hauck, Geheimnis 146 nennt diese S y m p a t h i e „eine Ironie der Philosophiegeschichte". 229 Vgl. E h m a n n 7 6 5 . 230 Vgi_ E h m a n n 766: „Wenn doch Ploucquet diese Sache des Kant in Bewegung brächte . . . E s ist eine andere Sprache von R a u m und Zeit, schlägt in B ö h m e s Sache e i n " ; vgl. Wörterbuch 4 9 6 . 231 Wörterbuch 7 8 5 . 228

Vgl. Leese, Krisis 59. Damit ist keineswegs der Hinweis von Hirsch IV 170 abgetan, daß K a n t s Begriff v o m Organismus der gleichen Intuition entspringt wie Oetingers Vorstellung der Einheit der K r ä f t e ; nur kann hier nicht von einer bewußtgewordenen und bewußtgemachten Übereinstimmung gesprochen werden. 234 Wörterbuch 785. 2 3 s Ehmann 773. 236 E h m a n n 8 0 0 . 2 3 7 2,2. 2 0 0 f ; vgl. Wörterbuch 4 9 6 : „ R a u m seiner S t ä r k e " ; Wörterbuch 4 9 5 : „Raum seiner Stärke oder seiner K r ä f t e n " — in allen Fällen b e r u f t sich Oetinger auf Ps 150,1; vgl. auch die Ubersetzung im Wörterbuch 3 7 6 : „ L o b e t den Herren in dem Centro seiner R a k i a , Birkia Usso. In dem U m f a n g seiner K r a f t : L o b e t ihn in seinen Uberwindungskräften: L o b e t ihn in der Vielheit seiner Ausbreitung . . . in der Menge seiner G r ö ß e " (sinnentstellender Druckfehler ist korrigiert). — Oetinger moniert im 232

233

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s u c h t m a n j e d o c h d i e B e g r i f f e auf ihren G e h a l t , s o ergibt sich f o l g e n d e s Bild: Es geht Oetinger u m die räumliche und leibliche A u s d e h n u n g G o t t e s 2 3 8 , u m d i e E r f ü l l u n g d e s U n i v e r s u m s m i t seiner K r a f t ; d i e s ges c h i e h t als r e i n e , aber reale V e r l e i b l i c h u n g , w o m i t i h m V e r b i n d u n g m i t G o t t e s K r e a t u r g e l i n g t 2 3 9 , als M a n i f e s t a t i o n d e s s e n , w a s in G o t t ist. R a u m ist d a m i t aber das M e d i u m , in d e m G o t t w i r k t , a u s d e m d i e Kreatur ihre E n t f a l t u n g e r f ä h r t 2 4 0 u n d ihre K r a f t b e z i e h t . 2 4 1 J e n e W i r k u n g aber, in der das W i r k e n d e , d i e Wirkung u n d das G e w i r k t e l i e g e n 2 4 2 , ist G o t t n u n w i e d e r u m selbst, „ m i t a n d e r n W o r t e n " aber „ N e w t o n s R a u m o d e r V a c u u m " . 2 4 3 O h n e R a u m ist G o t t für O e t i n g e r m i t h i n ü b e r h a u p t n i c h t m e h r d e n k b a r : „ G O T T m u ß e t w a s e r f ü l l e n " 2 4 4 , j a „Er [ist] selbst der R a u m aller D i n g e " . 2 4 5 O e t i n g e r i n t e r p r e t i e r t u n d v e r s t e h t also d i e H e r r l i c h k e i t G o t t e s v o r w i e g e n d in n i c h t k a b b a l i s t i s c h r a b b i n i s c h e m S i n n der S c h e c h i n a 2 4 6 als E i n w o h n u n g G o t t e s in der Welt; G o t t e s P r ä s e n z , seine A l l g e g e n w a r t u n d A k t i v i t ä t in der Welt, ist s e i n e S c h e c h i n a . 2 4 7 Bei dieser B e t r a c h t u n g s w e i s e g e w i n n t übrigen in diesem Zusammenhang die — seiner Meinung nach — falsche Ubersetzung Bengels; er habe Kraft durch den Ausdruck Macht ersetzt: „Es war ein Fürhang vor seinen Augen" (Wörterbuch 376). — Vgl. auch die Nebeneinanderordnung in LT 178f: „GOtt kan also niemahl ohne Ausbreitung seiner Stärcke (Ps. 150,1), ohne Element, ohne geistliches Bewegungs-Centrum in dem Element betrachtet werden"; Oetinger erklärt 2,2. 205 die Vorstellungen Böhmes: Es zeigt sich, „daß zwar G o t t außer Natur könne concipiert werden, daß er aber seine ewige Freiheit allezeit in einer Art des Raums, d.i. in einer Natur erzeige, worin er wirkt. Und das heißt J a k . Böhm Ternarium sanctum, oder das göttliche Element, worin er w i r k t " . Sieht es hier so aus, als ob Oetinger lediglich auf das Bewegungsmoment abzielt, so darf doch vermutet werden, daß er die Vorstellungen Böhmes als „heiliges Dreiergehäuse", also als Verleiblichung voraussetzt (vgl. Grunsky 210), nicht jedoch als „Räumlichkeit". 238 Vgl. 2,2. 198: „Eigentlich ist G o t t weder in Raum noch Ort, aber weil er notwendig allenthalben ist, so macht er den Raum und die Bleibstätte aller Geschöpfe aus." — Mann, der ja in seiner Dissertation Oetinger unter dem Aspekt des „Naheseins G o t t e s " betrachtet, betont darum an dieser Stelle Oetingers Metaphysik des Raumes: „Gottes Nähe ist räumliche N ä h e " (239). 239

Vgl. 2,2. 201 u.ö. Vgl. 2,1. 331 u.ö. M > Vgl. LT 193 u.ö. 242 Vgl. 2,1. 331 u.ö. 243 2,1. 331. 244 M L T 213. 5 LT 102 = öffDenk 51. 246 Hebr. sch.kina, von schakan = wohnen; in Talmud und Targum ein Ausdruck für das Wohnen Gottes an einem von ihm erwählten Ort, unter den Menschen, im Zion; übertragen auch die Wohnung Jahwes (vgl. Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, 17. Α., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1962, 828). 247 Vgl. Scholem, Kabbala 140; anders Zinn 179 und Häussermann 238. Beide legen das Gewicht ausschließlich auf die „kabbalistische" Auslegung, beachten dabei aber 240

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und verliert Oetingers Gotteslehre gleichermaßen. Sie verliert den abgründigen Sinn des Böhmeschen Gedankens vom Kampf und Sieg innerhalb des theogonischen Prozesses. Gibt sich die ewige Natur im Sinne Böhmes vorerst als Finsterwelt kund, „gegenüber der unendlichen Weite der Freiheit zunächst als die Enge einer Selbstverfinsterung des Willens" 248 , so hat sie also nicht ausschließlich die Funktion der Verleiblichung; sondern sie ist — gekennzeichnet durch feindliches Gegeneinander, durch Spaltung, durch Aufeinanderprallen, durch gegenseitigen Kampf 2 4 9 — als finstere Natur die notwendige Phase der Gott-Offenbarwerdung — deshalb liegt auch „nicht der Schatten einer Abwertung" 250 auf ihr. Tritt nun bei Oetinger die Verleiblichung in den Vordergrund 251 , so verliert seine Gotteslehre zwar jenen Charakter eines theogonischen Prozesses, gewinnt damit aber jene Sinnlichkeit und Faßlichkeit, der sich Oetinger eben auch in bezug auf seine Gottesvorstellung verpflichtet weiß, um damit jeder moralischen und vergeistigten Übersinnlichkeit zu begegnen. 252 Insofern gilt auch hier Oetingers Wort von der Leiblichkeit als dem Ende der Wege Gottes, wenn die Herrlichkeit „das Innerste der Gottheit herauskehren wird und die Tiefen der Gottheit offenbar werden". 253 Nun ist die Herrlichkeit Gottes im letzten Grunde passiv 254 ; zur Offenbarung Gottes in und mit seiner Herrlichkeit führt eigentlich ein anderer nicht, daß in der Kabbala — anders als in der älteren talmudischen Literatur — die Schechina „als ein weibliches Element . . . aufgefaßt und quasi verselbständigt wird" (Scholem, Kabbala 141). Abgesehen davon, daß bei Oetinger die Herrlichkeit nie verselbständigt wird, vgl. dazu z.B. L T 204, spielt auch der weibliche Zug an dieser Stelle keine Rolle. Er wird in anderen Bezügen relevant (vgl. Kapitel 4.4d dieser Arbeit). Als „kabbalistisch" läßt sich eher die Raumvorstellung bei Oetinger ansehen, insofern auch die Kabbalisten geneigt waren, den Raum mit G o t t zu identifizieren. M» Grunsky 68. 249 Vgl. Leese, Böhme/Schelling 19: „Aber der Begriff der Natur in G o t t hat bei Böhme noch einen ganz andern Sinn als den der Leiblichkeit . . . Er [Böhme] hat die Natur in G o t t als den Inbegriff aller dunklen, dämonischen, zerstörend-schöpferischen Gewalten gefaßt, die, in G o t t zwar ständig überwunden, doch die unerläßIiche Voraussetzung seines Licht-, Liebe- und Freudenreiches sind, zu dem hin der Urgrund sich als seinem Endziel offenbarend gestaltet" (Sperrung getilgt). Vgl. Zinn 178, die sich allem Anschein nach auf Leese stützt, ihn jedoch als Quelle nicht angibt: „Bei Böhme hat die ,Natur' in G o t t nicht nur den Sinn der Leiblichkeit, sondern bedeutet zugleich den Inbegriff aller dunklen, dämonischen Gewalten, die in G o t t ständig überwunden und ,aufgehoben' bleiben und die doch die unerläßliche Voraussetzung seines Licht-, Liebe- und Freudenreiches sind". 250 Grunsky 139. 251 Vgl. 2,2. 235: „Gott will . . . daß alles Geistliche im Leiblichen seine Subsistenz h a b e " . 1,2. 648: „Es ist alles leiblich im R a u m " . 252 So auch Häussermann 247: „Es geht Oetinger also um das Konstitutive, Substantielle, das durch die Spiritualisierung der Schriftbegriffe entleert wird". a » Zinn 177; vgl. LT 203. 227 u.ö. 254 Vgl. LT 93.

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Wesenszug Gottes: „Wir würden nichts von Gott gedenken können, ohne die Weisheit, welche ist die Offenbarung der verborgenen Gottheit". 2 5 5 Für Oetinger ist Weisheit also nicht eine Eigenschaft, die Gott zugeschrieben werden müßte. In der Auseinandersetzung mit Malebranche versucht er, seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Nach Malebranche habe Gott zwei Haupteigenschaften nötig; die Weisheit sei die erste, nach ihr richte sich die Allmacht Gottes. 2 5 6 Für Oetinger ist dies ein unmögliches Unterfangen. Er unterscheidet sich von Malebranche dahingehend, daß Gott nicht Weisheit als Eigenschaft hat, sondern Weisheit als schöpferische Kraft ist257 — das wird von Oetinger differenziert, aber sehr zurückhaltend dargelegt. Oetinger entwickelt aus den Stellen des Alten Testaments das Verständnis, daß Weisheit als eine „ausgegossene" zu verstehen ist 2 5 8 ; er spricht darum von einer „creatürlich ergossenen Weißheit" 2 5 9 und einer „ausgegossenen Weißheit" 2 6 0 , die „lauter Licht", „lauter flüßiger, nachgebender und durchdringlicher R a u m " 2 6 1 ist. Diese „innergöttliche" 2 6 2 Weisheit erfährt durch das System Böhmes weitere Füllung. Gott — als in der Wirkung der Kräfte stehend — „macht sich . . . ein objectivum passivum, welches ist die Weisheit". 2 6 3 Die Weisheit ist also keineswegs ein verselbständigtes Etwas, sondern gleichwohl als objectivum passivum „doch . . . eins mit ihm" 2 6 4 ; Gott wird „ergossene Weißheit" 2 6 5 , damit er sich darzustellen vermag; er ist Weisheit, damit er anschaubar werde. Die Weisheit „ist das Ebenbild des unsichtbaren Wesens" 2 6 6 , nicht abtrennbar und nicht gelöst von Gott. Es läßt sich schon hier feststellen, daß der Weisheit im innergöttlichen Prozeß bei Oetinger nicht die Bedeutung zukommt, wie sie Böhme einräumt. Bei Böhme bildet sich Gott in der Weisheit ab, um zur Erkenntnis seines eigenen Wollens zu kommen, seiner Potenzen bewußt zu werden,

255

1,3. 26; vgl. Wörterbuch 132: „Gott ist als Geist unsichtbar. Die Weisheit aber ist sichtbar oder sichtlich"; KatUnterw 383. 384; Wörterbuch 681.215; 2,5. 287 u.ö. 256 Vgl. 2,2. 179. 2 " Vgl. 2,2. 196; so auch Schneider 138. "8 Vgl. LT 221. 259 LT 221. 260 LT 221. 2 «i LT 22 l f . 262 Häussermann 246. 2 3 « 2,2. 213. 264 Wörterbuch 536. 2 « LT 221. 266 Wörterbuch 535; vgl. auch Wörterbuch 215. 681; 2,5. 287; das Zusammenfallen von Weisheit und Logos in Oetingers Trinitätsvorstellung wird später behandelt — vgl. Kapitel 4.4b dieser Arbeit.

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seine inneren Möglichkeiten nach außen zu verwirklichen. 267 Oetinger hingegen geht es zunächst mehr um die Gegenwart Gottes: „Die Weißheit ist der Raum GOttes" 268 ; Gott ist vermöge der Weisheit „bei jedem Atom gegenwärtig". 269 In entscheidendem Maße aber steht die Weisheit als das tätige Moment im Vordergrund, sie gewinnt „eine geradezu dominierende aktive Stellung" 270 im Hinblick auf die zu schaffende Kreatur. Oetinger betont: „Darum wird auch in der Schrift gesagt, daß Gott nicht nur durch die Weisheit, sondern auch in der Weisheit Alles geschaffen habe". 271 Zwei Aspekte stehen also an: Schöpfung geschieht als gründend in der Weisheit und mit Hilfe der Weisheit. Es war schon aufgezeigt worden: die Weisheit ist das objectivum passivum Gottes; sie wird damit der „nexus infiniti cum finito, aus welchem das privativum creaturae wird, worin Figuren, Eigenschaften, modi essendi und numeri sind" 272 ; die Weisheit wird also zum Ort der angelegten Mannigfaltigkeit zur kreatürlichen Entfaltung 273 ; sie wird aber auch zur „Werkmeisterin aller Dinge" 274 , nämlich dadurch, daß Gott mit ihr als „der ursprünglichen Quelle aller Kräfte, Bildungen, Figuren" nach ihrem

267

Vgl. Grunsky 196; Trautwein 164; Pältz 86f. 268 LT 103. 269 Theologie 129 — Oetinger b e r u f t sich hier auf Newton. 270 Trautwein 281. 271 Theologie 129. 272 2,2. 213; vgl. Wörterbuch 536; 2,4. 88 u.ö. 273 Diese Phase kann Oetinger auch belegen mit der Begriffsbestimmung: „Weisheit vor G o t t " (vgl. Wörterbuch 680—682); im Unterschied hierzu gibt es dann auch noch die „Weisheit aus G o t t im Menschen" (vgl. Wörterbuch 682). Die letztere fällt zusammen mit der „creatürlich ergossenen Weißheit" (LT 221) im Unterschied zur innergöttlichen. Ihre Unterscheidungsmerkmale liegen darin, daß sie „Arten und Unterschiede" annimmt (LT 222), daher „voller Stäubgen, Schechakim" (LT 221) ist; also derartig .verfinstert' bildet sie den wesensmäßigen Unterschied zwischen G o t t u n d seiner Kreatur. Mit Sicherheit richtet sich dieser Gedankengang „wieder gegen die .Philosophen', die die Endlichkeit der Kreatur nur in ihrer Abhängigkeit und Beschränkung sehen" (Häussermann 247) — Oetingers Anthropologie ist vielschichtiger: In der Erschaffung des Menschen, im Einblasungsakt, vollzieht sich die sukzessive Entfaltung u n d Ausbreitung der Kräfte, die von G o t t herkommen und von ihm abhängig sind, der in G o t t verdichteten, nicht trennbaren, unauflöslichen Lebenskräfte. Im Augenblick der Einblasung wird die Einheit der Kräfte in G o t t zur Ermöglichung der Kräfte-Vielfalt im Menschen; im Akt der Schöpfung ist die Ermöglichung der Trennung mitgegeben. Menschliches Wesen im Gegenüber zu G o t t läßt sich kennzeichnen als das Auseinander der Prinzipien Licht und Finsternis: Finsternis ist die Begrenzung der in den Menschen eingegebenen Entfaltungs- und Verwirklichungsmöglichkeiten. .Verfinsterte' Weisheit ist darum nicht mehr Abbild der „Fülle des Himmels" (Wörterbuch 680), sondern die Zertrennung. 27 " 2,5. 286.

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„vorgespielten Muster" 2 7 5 schafft. Die Weisheit „spielt" 2 7 6 also, sie „spielt GOtt vor". 2 7 7 Nun hat Spiel für Oetinger nichts zu tun mit einem kindlichen Vergnügen, sondern ist der Ausdruck für freies und ungebundenes Verhalten und T u n 2 7 8 — auf den Menschen bezogen kann er sagen: eine Lehrweise als Spiel bedeutet, „alles was ich weiß, muß ich nicht nur abstrakt und idealisch wissen, sondern ich muß es im Griff und Bereitschaft haben". 2 7 9 Bringt er diesen Vorstellungsbereich in Verbindung mit der Weisheit, so heißt dies für Oetinger: nicht die Notwendigkeit treibt Gott zur Schöpfung 2 8 0 , sondern die Indifferenz 2 8 1 , die Gleichgültigkeit der Kräfte 2 8 2 , die sich verändernden Gestaltungen 2 8 3 verschaffen ihm die Souveränität zur Schöpfung. Die Weisheit ist also nicht selbst der Schöpfer, sondern sie stellt durch ihr Spiel das bereit, was in der Schöpfung durch Gott dann Bewegung und gültige Form erhält. 2 8 4 Damit sind die Untersuchungen jedoch an einen Punkt gelangt, der ein neues Kapitel nötig werden läßt. Doch zunächst ein Blick zurück: Für Oetinger erweist sich die Weisheit als ein Wesenszug Gottes, womit seine Gegenwart kundgetan werden kann und kundgetan wird; sie ist gleichzeitig aber auch seine Entfaltung als „das vorbildliche Spiel der ursprünglichen Wesenheiten". 2 8 5 Weisheit aber steht nicht unvermittelt neben Herrlichkeit; Oetinger bringt sie in ein Verhältnis, sofern er beide als den ,Raum Gottes' ansieht: Herrlichkeit ist dann — vorwiegend — die leibhaft-räumliche Wohnung Gottes, Weisheit — pointiert — die substanzielle Gegenwart und Wirkungs Gottes. 2 8 6

2. Gott — der Schöpfer und Erhalter Wie schon in den vorhergehenden Kapiteln soll auch hier Oetingers „Theologie" den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Oetinger be275

2,4. 88; vgl. Wörterbuch 498. 215. Wörterbuch 457. 277 LT 93. 278 Vgl. Schrei 71f. 279 2,6. 352f. 280 Vgl. Schneider 140f: „Das Spiel aber ist nicht dem Satz vom zureichenden Grund unterworfen". 281 Vgl. Auberlen 199f: „eine indifferente Kraft, ein wallendes Wesen sine principio rationis sufficientis". 282 Wörterbuch 498. 283 Vgl. Wörterbuch 457; hier ist auch Oetingers Einwand gegen jede Theorie der Präformation angesiedelt (vgl. Wörterbuch 457. 215 u.ö.). 284 Somit ist „Werkmeisterin" nicht als die selbständig Handelnde zu verstehen; trotz der weiblichen Form wird die Weisheit in eindeutiger Weise als weiblich von Oetinger nicht charakterisiert. 2 85 Theologie 119. M6 Vgl. Metaphysik 595. 276

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ginnt die Lehre von der Schöpfung in der „Theologie" mit den Worten: „Die Schöpfung ist jener Akt der Allmacht, vermöge dessen Gott nicht aus der Notwendigkeit der Natur, sondern aus dem Überfluß seiner Güte und Freiheit dem, das nicht ist, rufet, daß es sei". 2 8 7 Oetinger handelt also zu Beginn der Schöpfungslehre nicht gleich von dem Akt der Schöpfung selbst, sondern zunächst von einem Wesenszug Gottes — der Schöpfungstat geht eine weitere Selbstbestimmung Gottes voraus: sein Wesen ist angelegt auf Güte und Freiheit. Gottes ,Sehnen' geht dahin, mit seiner Kreatur in Verbindung zu kommen — das gibt ihm die Güte auf; gleichermaßen aber erfolgt dies nicht aus einem zwanghaften Handeln — er setzt sich in Freiheit zu seiner geschaffenen Kreatur. Gottes Freiheit bestimmt sein Wesen und damit auch sein Handeln. Worin aber ist sie begründet? Es war gezeigt worden, daß Oetinger Gottes Wesen als lebendig dahingehend kennzeichnet, daß ihm Kräfte eignen; Kräfte, die G o t t als actus purissimus in Entfaltung zeigen. Für Oetinger hängt Gottes Freiheit mit dieser seiner „Beweglichkeit" und damit „Entfaltbarkeit" zusammen: „Daher tritt er durch einen Anfang aus sich selbst heraus . . . Darum muß er Ausgänge haben in einer willkürlichen Bestimmung der sieben Geister; sonst wäre er nicht frei". 2 8 8 Oetingers Sprache ist hier geprägt von Ausdrücken Böhmes, an anderer Stelle treten auch solche der Kabbala hinzu. Um klären zu können, in welchem Maße Oetinger von seinen sprachlichen Vorlagen auch inhaltlich abhängig ist, in welchem Maße er rezipiert oder uminterpretiert, sollen die einzelnen Begriffe zunächst mit ihren je eigenen Vorstellungsinhalten des jeweiligen Systems dargestellt werden.

a) Gottes Leben als Bewegung und Entfaltung aa) Jakob Böhmes Qualitäten und. deren Rezeption

durch

Oetinger

289

Für Böhme sind die Qualitäten die ,,,Existenzialien' der sich entfaltenden Gottheit" 2 9 0 ; wie aber stellt sich diese Entfaltung Gottes dar? 2 9 1 287 Theologie 136. « s 2,6. 160. 289 Zur ,Etymologie' dieses Begriffs: Die „Qualität" ist „die einem Ding eigentümliche Eigenschaft, erst durch einen nach außen zur ,Selbstfassung' drängenden ,Quali' hervorgebracht, und dies nicht ohne Beteiligung eines ,Qual' und Pein verursachenden Gegenwillens" (Grunsky 63f); vgl. Pietsch 107. 290 Arie Sborowitz, Individuation und Glaube, Darmstadt 1975, 49. 291 Vgl. zum folgenden Grunsky 212ff; Grunsky, Schau 79ff; Sborowitz 48ff und Pietsch lOOff.

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Der Weg der Selbstoffenbarung Gottes ist bei Böhme ein dramatisches Mysterium, das in verschiedene Abschnitte zerfällt. Böhme beschreibt es, indem er seine Vision berichtet: „Dann ich sähe und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und Ungrund: Item, die Geburt der H. Dreyfaltigkeit, das Herkommen und den Urständ dieser Welt, und aller Kreaturen, durch die Göttliche Weisheit: Ich erkannte, und sähe in mir selber alle drey Welte, als (1.) die Göttliche Englische oder Paradeisische; Und dann (2.) die finstere Welt, als den Urständ der Natur zum Feuer; Und zum (3.) diese äußere, sichtbare Welt, als ein Geschöpf und Ausgeburt, oder als ein ausgesprochen Wesen aus den bey den inneren geistlichen Welten". 2 9 2 In der Sprache der Reflexion und des Systems heißt das dann: Vor dem Sichtbarwerden Gottes liegt eine Phase der innersten Geburt Gottes. Sie vollzieht sich, indem Gott als Ungrund und Gott als Wille sich selbst faßt, sich einen Grund gibt. Diese erste Gebärung ist die Phase der klaren Gottheit; sie ist „licht jenseits von Licht und Finsternis", sie ist „Wonne (Lust) jenseits von Freude und Pein", sie ist „jenseits aller Gegensätzlichkeit ein spannungsloses J a " . 2 9 3 Dieses spannungslose J a aber bleibt nicht erhalten, weil der Wille des Ungrundes weiterdrängt. Es kommt zu neuen Fassungen in neuen Abschnitten: Der erste steigert sich in seiner „Pein und Q u a l " bis zur Krise; der zweite erfährt Steigerung durch die wachsende Anfüllung mit Freude; Scheidepunkt, in dem es zur gewaltigen Entladung und gleichzeitiger Neugebärung k o m m t , ist die vierte Qualität, der Feuer-Schrack. Im einzelnen geschieht folgendes: Soll aus der Fülle des Ungrundes etwas hervorgehen — der Wille des Ungrundes drängt j a weiter, er will j a nicht Ruhe —, so muß die „ B e g i e r d e " sich einsetzen; anders gesagt: der Wille des Ungrundes „ b e g e h r t " mehr und mehr bis er von seinem eigenen Begehren gefangengesetzt wird. So wird die erste Qualität, finstere Begierde, Herbigkeit genannt. Mitbedacht aber werden muß: Diese erste Gestalt enthält alle anderen Gestalten in sich: „ E s hat nicht den Verstand, als wären die sieben Eigenschaften geteilet, und wäre eine neben der anderen, oder eher als die anderen; Sie sind alle sieben nur als Eine, und ist keine die erste, andere oder letzte, denn die letzte ist wieder die erste: Gleichwie sich die erste in ein geistlich Wesen einführet, also die letzte in ein leiblich Wesen, die letzte ist der ersten Leib . . . sie sind allesamt nur die Offenbarung Gottes, nach Liebe und Zorn, nach Ewigkeit und Z e i t " . 2 9 4 Auf die Herbigkeit folgt die Bitterkeit, der Bitterstachel, weil die finstere Begierde sich immer mehr ihr eigenes Gefängnis s c h a f f t 2 9 5 , weil sie sich Böhme, Theosophische Send-Briefe 12,8. 293 Pietsch 105. 2 9 4 B ö h m e , Mysterium Magnum 6 , 2 2 . 295 Vgl. Böhme, Mysterium Magnum 3,9. 292

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„im festhaltenden Begehren verkrampft". 2 9 6 Damit aber wird sie zum Angriffspunkt des Gegentriebes, der in ihr liegt, der sich gegen das Festhalten wehrt, der auszubrechen versucht, eben der „Stachel" ist. Mit der gleichen Stärke, mit der die finstere Begierde sich zusammenzieht, treibt sie jetzt aus dieser Verfestigung hinaus. Ein Konflikt ist heraufbeschworen, der sich immer wieder vollzieht und nie zum Ende kommt. Die dritte Qualität ist geboren: die Angst. Hier muß ein Hinweis eingefügt werden, um Mißverständnissen vorzubeugen. Mit den drei ersten Qualitäten, die die Finsterwelt ausmachen, sind wir im Bereich der „ewigen Natur" Gottes; mit Böhmes Worten: „Leser, merk es recht: Ich verstehe allerhier mit Beschreibung der Natur die ewige, nicht die zeitliche. Ich weise dir nur die zeitliche darunter, denn sie ist aus der ewigen ausgesprochen". 297 Diese ewige Natur muß von der zeitlichen abgehoben werden, darf jedoch nicht abgetrennt werden; die Angst ist damit zwar nicht als die psychische Angst zu verstehen, aber als deren Urbild; sie verflüchtigt sich nicht, sondern besitzt Realität. In dieser Finsterwelt verstärkt sich die „Pein" immer mehr, bis sie schließlich unerträglich wird. Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, führt Böhme das Bild des sich „drehenden Rades" ein, das „Angstrad". Es entsteht, weil die Herbigkeit sich zusammenzieht, dagegen steht der Stachel auf, der dagegen strebt; dagegen wendet sich wieder die Herbigkeit; im Kampf miteinander stehen also gleichstarke Kräfte, die sich nicht mehr voneinander lösen können: „Die Angst-Qual wird also verstanden: . . . Eins will in sich, und das Ander will aus sich: So es aber nicht voneinander weichen oder sich trennen kann, so wirds ineinander gleich einem drehenden Rade". 2 9 8 „Aber um die Größe der ,Wirrung' . . . zu ermessen, müssen wir es dynamisch nehmen, müssen wir nun alles in eine Drehung versetzt denken, bei der die unendlich vielen ,Räder', die das eine Angstrad . . . hervorbringt, nicht etwa in rhythmisch abgestimmten, sondern in völlig irrationalen Rotationen durcheinanderbrausen". 299 Diese zur Hochspannung treibende Krise erfährt ihre Entladung im „Feuerblitz", im „Feuerschrack". Dieser Blitz führt als neue, vierte Qualität die Finsterwelt zu Ende. Aber indem er sie zu Ende bringt und es aussieht, als ob alles im Tod, im verzehrenden Feuer versinkt, offenbart sich im verzehrenden Feuerblitz das Leben. „Die Vorstellung, die hier zugrundeliegt, ist die, daß alles Leben ein verzehrendes Feuer ist, das sich unablässig seine Nahrung sucht". 3 0 0 29

« Grunsky, Schau 86. Böhme, Mysterium Magnum 3,20. 298 Böhme, Mysterium Magnum 3,15. 299 Grunsky 146. 300 Grunsky 153. 297

154

Infolge des Schrecks wandeln sich die Essentien in ein Wasser. „Die Essenz, die durch die Wirksamkeit der drei Qualitäten aus dem Ungrund herausgeholt wurde, erstirbt also im Feuerschrack, wird als ein scharfer Wassergeist wiedergeboren und . . . erst dadurch recht ,materialisch'. Das heißt: sie erhält erst jetzt wirklich einen L e i b " . 3 0 1 Der scharfe Wassergeist verwandelt sich durch die Umstellung des Willens in einen sanften Wassergeist. Damit aber ist die Finsterwelt zu Ende gegangen, und dem Freudenreich wird ein Anfang gesetzt. Der Feuergeist aber ist nicht einfach verloren gegangen. Nach Böhme geht er in den sanften Wassergeist ein, nimmt etwas von den sanften Prinzipien an und wird zum Lichtfeuer. Der Lichtgeist, der das treibende Prinzip im sanften Wassergeist ist, nimmt etwas von der Substanz des Feuergeistes an und wird zur Liebesbegierde. Beide werden als gewandelte Prinzipien die folgenden Phasen des göttlichen Prozesses bestimmen. Die fünfte Qualität wird „Liebe-Essenz" genannt. Sie tritt hervor durch einen Blick des Lichtprinzips in das göttliche Liebeszentrum. Ihr Merkmal ist nicht das Sich-Bekämpfen der beiden gegensätzlichen Tendenzen, sondern deren Miteinander. Deshalb herrschen nicht Bitterkeit und Angst, sondern Freude. Die Liebe-Essenz wird belebt von den Kreisläufen, die durch den Luftgeist und das wässrige Element und ihr Heraustreten und Zurückkehren bewirkt werden. Während die fünfte Qualität als LiebeEssenz ihr Anliegen in der Selbstverwirklichung der einzelnen Essentien sieht, geht es der sechsten, dem „Schall", um die Begegnung der Essentien: „Dieser Schall des Hörens, Sehens, Fühlens, Schmeckens und Riechens, ist das wahre verständliche Leben: denn so eine Kraft in die andere eingeht, so empfähet sie die andere im Schalle; wenn sie in einander dringen, so erwecket eine die andere und erkennt eine die andere". 3 0 2 In der Vereinigung im Schall bilden alle Essentien „nur eine ganz liebliche, ineinander inqualierende Kraft . . . zur Offenbarung der unendlichen Göttlichen Weisheit". 3 0 3 Damit aber ist der Prozeß bei der siebten und letzten Qualität angekommen. Hier kommt die Bewegung zur Ruhe — was aber nicht einem Stillstand gleichkommt —, die Essentien gehen in das „Gehäuse" ein. Aus dem Feuerschrack gebiert sich aber nicht nur die Lichtwelt als Freudenreich, sondern auch ein höllisches Reich. „Dieses höllische Reich hat einen ausgesprochen negativen Charakter. Es ist reiner Bereich mißratener Bewältigung, unfruchtbarer Möglichkeiten, jene Welt der Lüge und 3 0 1 Sborowitz 51; vgl. auch Pietsch 109: „Dieses Wasser ist für Böhme im Sinn der Alchemie ölig und wird vom Feuer als Speise angenommen". 3 0 2 Böhme, Mysterium Magnum 5,14. 3 0 3 Böhme, Von der Gnadenwahl 2,35.

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des Gaukelspiels". 3 0 4 Dieses höllische Reich und das Reich der Lichtwelt bilden die „äußere Welt", werden zusammen zu unserer zeitlichen Welt. Betrachtet man die Qualitäten im Zusammenhang, so ist festzustellen, daß die drei ersten Qualitäten eine relative Einheit durch Gegensatz bilden, ebenso auch die drei letzten. Gleichzeitig stehen sich diese sechs Qualitäten als Dreiergruppe polar entgegen: die erste bis dritte Qualität als Finsterwelt, die fünfte bis siebte als verwandelter Komplex der Lichtwelt. J e d e Einzelqualität aber hat auch ihre Polarentsprechung 305 : die erste und siebte Qualität bilden eine Gegensatzsymmetrie infolge ihrer herben und wässrigen Matrix; die zweite Qualität, der Bitterstachel, der sich gegen die Einschließung wehrt, bekommt als polares Gegenüber die sechste Qualität, den Schall; der aber ist nichts anderes als der Heilige Geist, der sich „lautbarlich aus der ingefaßten Kraft ausführet" 3 0 6 ; die fünfte Qualität als Liebesbegierde steht polar zur dritten Qualität: „was in der Angst veruneinigt ist, findet in der Tinctur seine Einheit". 3 0 7 Grunsky 3 0 8 stellt ausdrücklich fest, daß dieser Aufbau nicht etwa in Böhme nachträglich hineingelegt worden ist, sondern von ihm selbst mit allem Nachdruck formuliert worden ist. Die gleichen Strukturen aber finden sich allesamt in der vierten Qualität als dem Scheideziel. Sie entfaltet sich in der Dreiheit 3 0 9 : negativ als grimmiger Feuerblitz, positiv als mildes Lichtfeuer und zwischendrin als sich wandelndes Feuer. 3 1 0 Dadurch jedoch steht die vierte Qualität in der Mitte eines vollkommenen Bogens 3 1 1 ; wir haben, „da sich in der Mitte die drei Momente des Feuers zu einer eigenen ewigen Einheit zusammenschließen, eine potenzierte Dreiteiligkeit vor uns, in welcher die drei Eckqualitäten einander polar entsprechen". 3 1 2 Die Perspektive 304 Pietsch 109. 305 Vgl. zum folgenden Grunsky 212ff. 306 Grunsky 194. 307 Grunsky 213. 308 Vgl. Grunsky 214. 309 Vgl. Böhme, Mysterium Magnum 4,12: Im „Feuerschrack" tritt der „Ungrund" selber in Erscheinung, aber indem er in Erscheinung tritt, entfaltet er eine Dreiheit, ebenso wie das Feuer selbst in drei verschiedenen Momenten anzutreffen ist. 310 Vgl. Grunsky 213. 3Π Vgl. Grunsky 213. 312 Grunsky 214. — Es soll an dieser Stelle auf die analoge Interpretation der Sefirothfolge bei Scholem verwiesen werden. Die drei oberen Sefiroth sind „Kräfte aus der Welt der Intelligenz, die hier bestimmend sind" (Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Zürich 1962, 35); die drei weiteren Sefiroth sind „moralische Symbole, die diese Sphäre bestimmen" (Scholem, Gestalt 35). In der nächsten Trias „vollendet sich das Bild der schöpferischen Gewalten" (Scholem, Gestalt 35); die zehnte Sefira bildet die Zusammenfassung aller Kräfte. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Ähnlichkeit rein formal in den Triaden besteht;

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aber, unter denen die Dreiheiten und Polaritäten stehen, ist die des unauflöslichen Bandes. Es entfaltet sich bei Böhme Dialektik in der Weise, daß keine Qualität für sich allein steht oder wirkt, sondern alle unlösbar zusammen. J e d e Qualität ist ein Teil einer S u m m e von Prinzipien, die jeweils den Grundcharakter von Wirklichkeit angeben. 3 1 3 Oetinger stellt Böhmes Qualitätenlehre in den , A u f m u n t e r n d e n Gründ e n " 3 1 4 und im „Inbegriff der Grundweisheit" 3 1 5 vor, nimmt sie in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" 3 1 6 zum Vergleichspunkt für andere Philosophien und beruft sich vielfach auf ihren Inhalt, ohne sich jedoch expressis verbis auf Böhme zu b e r u f e n . 3 1 7 Als Ausgangshaltung gilt bei Oetinger: „ V o n den bildenden Gestalten der Intelligenzen schreibt niemand so vollständig als J a k . B ö h m ; aber die Wörter, Gestalten, Quellgeister, Qualitäten, muß man sich nicht irren l a s s e n " 3 1 8 ; ebenso wenig sollte man verstört sein wegen seiner Erklärungsweise nach dem „ G e s i c h t " , nach dem „ G e h ö r " oder nach dem „Ges c h m a c k " . 3 1 9 Wichtig allein bleibe, daß Böhmes Wissen auf eine Gottesoffenbarung zurückgehe und in Übereinstimmung mit den biblischen Aussagen stehe. 3 2 0 Oetingers Beschreibungen der Qualitätenlehre erscheinen in folgenden Ausführungen 3 2 1 : In der „Irdischen und himmlischen Philosophie"; bei der Vergleichung der Thesen Cluvers mit den Gedanken Böhmes geht Oetinger auf Böhmes Darstellung nach dem „ G e s c h m a c k " ein: Böhme nenne die erste Qualität darum herb, die zweite bitter, die dritte Feuer, die vierte Blitz, die fünfte himmlisch Geist-Wasser, die sechste Verstand und die siebte den R a u m . 3 2 2 Abgesehen davon, daß nach unserer Sprachregelung die Erläuterungen ab der dritten Qualität nicht mehr dem Geschmackssinn folgen, gibt Oetinger in dem gerafften Überblick die Qualitätenfolge korrekt wieder. An anderer Stelle 3 2 3 , allerdings noch immer innerhalb des Kapitels über Cluver, ordnet Oetinger sowohl nach denn die Triaden in der Sefirothtafel finden ihren Höhepunkt in der zehnten Sefira, die Triaden der Qualitäten spitzen sich hingegen in der vierten zu. 313 Vgl. Metzke 142. 31t 2,1. 247ff.

315 2,1. 370ff.

316 317 318 319 320 321 322 323

2,2. Vgl. 2,2. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

233.244 u.ö. z.B. die „Philosophie der Alten" und das „Wörterbuch". 233 (Sperrung aufgehoben). 2,2. 233. 2,2. 232; 2,1. 277. 374 u.ö. auch Anlage 2 am Ende der Arbeit. 2,2. 233. 2,2. 236.

157

dem „Geschmack", als auch nach dem „Gesicht". Es läßt sich dabei folgendes Übersichtsschema aufstellen: nach dem

Gesicht

centrípetas centrifugas ígneas decussativas aqueas coelestes sensoriatas

nach dem

Geschmack

herb = zusammenziehend bitter = zerteilend circulares, feurig höchst-blitzend Liebe tönend, schallend propter repercuassionem

Vergleicht man die beiden Aufstellungen, so findet sich, daß Oetinger bei der „nach dem Geschmack" nur auf die Zahl sechs, bei der „nach dem Gesicht" jedoch zur Zahl sieben kommt. Darüber hinaus gibt er dieser siebten Qualität, sensoriatas, die Beschreibung „tönend, schallend". Innerhalb des Qualitätenschemas Böhmes eignet dieses Attribut aber der sechsten Qualität. Oetinger selbst spricht im Vorspann auch nur von sechs Gestalten. Bei Beachtung aller dieser Indizien ist wohl davon auszugehen, daß es sich bei dem Komma zwischen aqueas und coelestes um einen Druckfehler handelt und Oetinger von einer Gestalt, der fünften, als „aqueas coelestes" sprechen wollte. Dieser entspräche in der Reihe „nach dem Geschmack" die Qualität Liebe, in Böhmes Sprache: Liebe-Begierde, Liebe-Einfassung, die eingefaßte Kraft; beide Reihen sind dann aber inhaltlich und formal gleich strukturiert. Von sechs Qualitäten spricht Oetinger auch in der Gegenüberstellung zur Philosophie Wolffs. 3 2 4 Hier verwendet er — ohne auf sie näher einzugehen — die Termini „Extension, Intension, Schönheit, Überwindung, Triumpf, Pracht" 3 2 5 , also eine Terminologie, die nicht in allen Punkten der Böhmes entspricht. Zusammengefaßt: Es überrascht zunächst, daß Oetinger an den drei genannten Stellen nur ein Mal von sieben Qualitäten spricht, er dagegen bei den Gegenüberstellungen jeweils sechs Qualitäten nennt. Die siebte Qualität läßt sich ein Mal erschließen als „Natur", die „in sechserlei Gestalt stehet". 3 2 6 Damit gibt Oetinger aber Böhmes Qualitäten ein anderes BinnenZiel: Sind bei Böhme alle sieben Qualitäten eine Einheit, eigentlich jede Qualität als siebenfache Entfaltung und Darstellung zu begreifen, so geht bei Oetinger der Trend dahin, die sechs Qualitäten gezielt zu führen auf 3M Vgl. 2,2. 241ff. 325 2,2. 244. 326 2,2. 236.

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eine letzte, die siebte Qualität, die dann den ,Höhepunkt' der sechs Entfaltungen darstellt; allerdings darf nicht an eine kausale Abfolgereihe gedacht werden, diese ist lediglich ein Hilfsmittel zum Verständnis. Anders gesagt: die sechs Qualitäten bilden die „Essentien", die siebte die „Substanz" aus diesen sechs Essentien. 3 2 7 Als zweites läßt sich festhalten: Oetinger wählt im überwiegenden Ausmaß die Terminologie Böhmes, ohne die Qualitäten jedoch in Ausführlichkeit zu erklären. Dabei gerät er in die Gefahr, die weitgehenden Differenzierungen Böhmes zu verwischen. Deutlich geschieht dies bei der fünften Qualität: Oetingers Beschreibung als ,Liebe' läßt nicht von vornherein die dialektische Spannung innerhalb der Böhmeschen Qualität der LiebeBegierde erkennbar werden; es wird nicht deutlich, daß diese Qualität etwas mit Herbe, Strenge, Tod zu tun hat, mit Neugebärung, neuem Leben; daß sie Struktur als verwandelte Herbigkeit und Stachel gewinnt. Oetinger vereinfacht' im Formalen — was ja seine Absicht ist —, aber auf Kosten des Inhalts. 328 Ob jedoch beide Abweichungen als Negativum zu werten sind, muß sich im folgenden erweisen. Denn aufschlußreicher für Oetingers eigene Auffassung und Stellung werden jene Arbeiten, in denen er als Böhmes Apologet auftritt, also in der Jugendschrift „Aufmunternde Gründe" und in der späteren „Inbegriff der Grundweisheit". Oetinger schreibt in den „Aufmunternden Gründen": „Inzwischen bleibt wahr, daß die sieben Gestalten J . Böhmes nicht leere Worte, sondern die aus der vi centripeta und centrifuga zusammengesetzten Wirbelbewegungen der unbegreiflichen kleinen Naturteilchen seien, dazu, daß ein gewisser Endzweck der Natur erhalten werde, also, daß die erste Gestalt der Anfang einer jeden Natur ist, bestehend in einem magisch magnetischen Anziehen und Einfassen der geistlichen, alles durchdringenden und überall zugegen seienden Materie, und folglich ist sie eine Ursache der Leiber und der Zusammengerinnung; es ist zugleich die vis centripeta oder die Bewegung zum Mittelpunkt. Wenn nun eine widrige Bewegung vom Mittelpunkt zur Peripherie, d.i. eine vis centrifuga dieser ersten Bewegung zum Mittelpunkt etwas stärker widersteht, so entsteht die Flüssigkeit, eine Ursache der Luft, die andere Gestalt der Natur. Wenn nun diese zwei Bewegungen mit einander ringen, so entsteht der Antrieb zur Circularbewegung, die dritte Gestalt. Wenn nun diese Bewegung die besondern scharfen Teilchen dieser Materie an sich reißt, und die Bewegung sich vergrößert, so entsteht dadurch das Feuer, das Scheideziel zwischen 327

Vgl. 2,2. 236. 261. Formalisiert hat dies Hardmeier 294, wo sie die starken Verkürzungen Oetingers in bezug auf seine Quelle erhebt und zur Veranschaulichung Böhme, Mysterium Magnum 7,3 zitiert. 328

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Finster und Licht. Sobald aber die Schärfe sich im Blitz auseinander gegeben, so ermüden sich diese schweflichten Teilchen in dem widerstehenden wässerigen Teil dieser flüssigen Materie: so entsteht das Licht und geistliche Wasser und ö l , und also die fünfte Eigenschaft und Gestalt. Die sechste Gestalt besteht in einer wirklichen Specification dieser lichtwässerigen Substanz zu einer neuen Form des Wachstums und Grünens, oder der Farben, oder des Schalls, nachdem sie in eine empfängliche Geburtsstätte gefallen. Die siebente Gestalt besteht in der wirklichen Contemperatur aller dieser verschiedenen Gestalten in einem Wesen, nach einem gewissen Zweck, den die Natur gesucht und zu ihrer Vollkommenheit gebracht. Dieses ist der Sinn der sieben Gestalten J . Böhmes". 3 2 9 Die Darstellung Oetingers läßt drei Dinge deutlich werden. Er folgt der Reihung Böhmes und bewegt sich auch in dessen Sprache. Gleichzeitig und trotzdem gibt er den Qualitäten eine neue Grundlegung und damit auch eine neue Zielrichtung. Er schreibt, „daß die sieben Gestalten J . Böhmes . . . die aus der vi centripeta und centrifuga zusammengesetzten Wirbelbewegungen . . . seien". 3 3 0 Newtons Zentralkräfte sind also die ,Voraussetzung' für die sieben Gestalten als bewegte Qualitäten. Dies widerspricht nicht grundsätzlich der Intention Böhmes, gibt aber der Bewegung einen anderen Charakter. Sind Böhmes Qualitäten durchdrungen von der Wirrung der sich zur Vernichtung treibenden Kräfte, so bekommen Oetingers Bewegungen — auch wenn er es eigentlich nicht wahrhaben will und glaubt, gerade das Gegenteil damit auszudrücken — den Charakter eines gewissen Mechanismus. Dieser läßt sich ganz eindeutig an der Satzfolge ablesen. Oetinger läßt vier von sieben Sätzen beginnen mit „Wenn n u n " bzw. „Sobald dabei" und enden mit „so entsteht"; anders gesagt: die Entstehung, das Werden von Qualitäten — hier der zweiten bis fünften Qualität — wird in ,kausal-mechanischer' Weise vorgenommen, die erste, sechste und siebte Qualität wird in Form einer Setzung beschrieben. Schon vom Formalen her muß konstatiert werden, daß Oetinger von der komplizierten und paradoxen Bewegtheit Böhmes in jeder einzelnen Qualität und in der Gesamtheit der Qualitäten abkommt zu einer — sicherlich leichter durchschaubaren — Bewegung, die ihren Charakter in der Kraftaufteilung in Zentripetal- und Zentrifugalkraft hat. 3 3 1 329

2,1. 2 7 2 (Kursivdruck nicht im Original). 33° 2,1. 272. 331 Hambergers Anmerkung in der „Theologie", Oetinger finde „mit Recht in der Newton'schen Lehre von den Centraikräften eine gewisse Übereinstimmung mit Jakob Böhmes Lehre von den sieben Geistern und den sieben Naturgestalten" (41), ist daher nur mit äußerster Vorsicht zu betrachten. — Müller, Stiftsköpfe, nennt Oetingers Aufnahme der Newtonschen Kräfte einen Punkt, „an dem die schwächsten Seiten seiner Spekulation aufgezeigt werden können". Denn „zeugenden Charakter

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U n d der letzte Aspekt: Oetinger m a c h t nicht deutlich, daß die Qualitätenl e h r e B ö h m e s s i c h a u f d i e „ e w i g e N a t u r " in G o t t b e z i e h t . O e t i n g e r sagt sehr u n b e k ü m m e r t , d a ß „ d i e s i e b e n G e s t a l t e n . . . d i e . . . W i r b e l b e w e g u n gen der unbegreiflich kleinen N a t u r t e i l c h e n seien, dazu, daß ein gewisser E n d z w e c k der N a t u r erhalten w e r d e , also, daß die erste Gestalt der A n f a n g e i n e r j e d e n N a t u r i s t " . 3 3 2 E n t s p r e c h e n d ist d a n n d i e s i e b t e Q u a l i t ä t d i e „ C o n t e m p e r a t u r aller . . . v e r s c h i e d e n e n G e s t a l t e n in e i n e m W e s e n , n a c h e i n e m g e w i s s e n Z w e c k , d e n d i e N a t u r g e s u c h t u n d z u ihrer V o l l kommenheit gebracht".

333

D a ß Oetinger nicht die „ e w i g e N a t u r " in G o t t ,

sondern tatsächlich die sichtbare Natur meint, wird aus d e m

Kapitelein-

g a n g d e u t l i c h . H i e r s p r i c h t er v o n d e r „ N a t u r e r k l ä r u n g " , b e i d e r B ö h m e seine sieben Gestalten zu Hilfe n e h m e , andere Wissenschaftler eben „eine mechanische oder chemische oder besondere Ausführung einer Theorie", die mit E x p e r i m e n t e n zu rechtfertigen sei.334 N i c h t ganz so e i n d e u t i g läßt sich der A b s c h n i t t im „Inbegriff der Grundweisheit" interpretieren. Läßt die Darstellung der Einzelgestalten335 n o c h die V e r m u t u n g zu, Oetinger b e h a n d l e w i e B ö h m e die „ e w i g e N a t u r " , weil haben gerade die N e w t o n ' s c h e n K r ä f t e nicht, sie sind Ausdruck einer reinen Mechan i k " (178). 332 2,1. 272. 333 2,1. 2 7 3. 2,1. 2 7 1 . 335 2,1. 3 74 (Kursivdruck nicht im Original): „Die erste Gestalt des Geistes u n t e r den sieben zielt auf Einheit, auf Zusammenziehen, auf A t t r a c t i o n , aufs C e n t r u m ; die andere auf A u s d e h n u n g der Einheit, auf C i r c u m f e r e n z , auf immateriales Geistwesen. Die erste heißt G e b u r a h , die andere G e d u l a h . Die dritte heißt Rad, Circulark r a f t , Tiphäret, Τβοχος γ β Ρ ε σ ε ω ς , welches aus N e w t o n s Orbitis deutlich zu verstehen. Die vierte heißt Blitz, Zerteilung in alle vier Gegenden, Kreuzfigur, Aleph der Ebräer, das m a n nicht lesen k a n n , Näzach, weil es alles überwindet; nämlich die erste ist leiblich, die andere geistlich, die dritte beides zugleich, die vierte ganz leiblich u n t e n , ganz geistlich o b e n , die Ursach der f i x e t é , der Gravitation u n d der Volatilisation. Die fünfte, wenn der Umlauf der l ä d e r h a f t e n K r ä f t e die vorher geschiedenen Dinge wieder in ein neues Leben e r h ö h e t : d a r u m heißt es H o d vehadar; da werden körperliche u n d unkörperliche Wesen in Wasser des Lebens ein neues heiliges Wesen; das verzehrende Feuer wird ein erhaltendes. Die sechste f a ß t alles z u s a m m e n in eine Repercussion, Perception, A p p e r c e p t i o n , Distinction, Organisation, Sensum; die siebente aus d e m sensu in eine lebendige geist-leibliche Substanz: da b e k o m m t alles einen Bestand, es ist die himmlische Leiblichkeit, die höchste Schönheit, die alle Farben in sich u n d aus sich gibt." — Hier n o c h m a l s ein Hinweis, m i t welcher Souveränität u n d U n b e k ü m m e r t h e i t Oetinger m i t den ü b e r k o m m e n e n Systemen u m g e h t . In der S e f i r o t h t a f e l trägt die 4. Sefira d e n N a m e n Gedullah, die 5. heißt G e b h u r a — Oetinger vertauscht die Reihenfolge; d a m i t e r k e n n t er der Gedullah wieder Ausbreitung zu, der G e b h u r a Z u s a m m e n z i e h u n g (wie er es ja vorwiegend t u t — vgl. Anlage 1 am E n d e dieser Arbeit); er m u ß die Reihenfolge ändern, weil er von Böhme her erst das z u s a m m e n z i e h e n d e , d a n n das auseinanderstrebende E l e m e n t vorfindet. 11 Grofimann, Oetinger

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er der siebten Gestalt die „himmlische Leiblichkeit" 3 3 6 zuspricht, so werden in der Folge die sieben Gestalten mehr und mehr die .Mittel', mit denen Gott Schöpfung werden läßt. Ob dies noch der Intention Böhmes entspricht, muß später untersucht werden. 3 3 7 Daneben fällt im Rahmen des Formalen auf, daß Oetinger nicht allein bei den Ausdrücken Böhmes bleibt, sondern gleichzeitig die Vokabeln aus der Sefirothlehre 3 3 8 einbringt. Wenn er also rein formal die Qualitäten Böhmes mit den Sefiroth der Kabbala in Einklang bringt, so wird das auch inhaltliche Folgen haben. Auffällig wird dies in der dritten Gestalt. Oetinger formuliert: „Die dritte heißt Rad, Circularkraft, Tiphäret, τροχος γενεαεως, welches aus Newtons Orbitis deutlich zu verstehen" 3 3 9 ; er bringt damit in einer Definition Böhme, Newton, die Kabbala und das Neue Testament zusammen. Die Frage ist, wie sich die einzelnen Vorstellungen dabei verändern. Bei Böhme erscheint in der dritten Qualität das Rad als „Angstrad", als verwirrende und wirre Drehung, die unendlich viele Räder hervorbringt, die in „irrationalen Rotationen durcheinanderbrausen". 3 4 0 Bei Oetinger wird die Qualität nurmehr als „ R a d " definiert, losgelöst ist der ganze Komplex der Angst als „paradoxe Einheit der auseinanderstrebenden beiden ersten" 3 4 1 Qualitäten. Oetinger setzt Rad jetzt mit Circularkraft gleich, damit wird aus dem Angstrad das Drehmoment, das aus dem sich in Balance haltenden Kräftespiel der Zentripetal- und Zentrifugalkraft zustandekommt. 3 4 2 Mit dem Begriff Tif'ereth 3 4 3 wird diese Funktion weiter unterstrichen, denn er steht für die „Uberwindung" zur gleichförmigen Drehbewegung. Bleibt noch die Klärung des Begriffs τροχός της γενέσεως, darüber soll ausführlicher gesprochen werden. In J a k 3,6 findet sich die griechische Wortfolge τροχός της γενέσεως, von Oetinger mit „Rad der G e b u r t " übersetzt. 3 4 4 Oetinger beruft sich ausdrücklich auf den griechischen Urtext, denn die Lutherübersetzung dieser Stelle mit „Wandel" bleibe undeutlich. 3 4 5 336 2 , 1 . 3 7 4 . 337 V g l . K a p i t e l 4 , 2 b c d i e s e r A r b e i t .

338 339 340 341

Vgl. Kapitel 4.2ab dieser Arbeit. 2,1. 374. Grunsky 146. Grunsky, Schau 87. 342 Vgl. Metaphysik 455: „Alles Leben hat eine pulsartige Bewegung, da zwei conträre Kräften miteinander balancieren oder abwechseln"; vgl. Theologie 63. 343 Vgl. die näheren Ausführungen in Kapitel 4.2ab dieser Arbeit. 344 Vgl. auch Theologie 62. 345 Es ist von Interesse, daß Oetinger den Jakobusbrief ganz im Gegensatz zu Luther, der ihn eine „stroherne" Epistel nennt, positiv beurteilt und dabei Luther

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Die Mehrzahl der theologischen K o m m e n t a r e zur Jakobusbrief stelle 3 4 6 sind sich einig darin, daß J a k o b u s den Begriff τροχός της ηβνέσεως ohne den orphischen Charakter verwendet habe als Ausdruck für das Auf und Ab des Lebens. 3 4 7 Stehe in der Orphik der Kreislauf des Werdens und Vergehens im Vordergrund, „eine Theorie von der Endlichkeit als Wiederkehr von Geburt und Tod und dem, was beide umschließen" 3 4 8 , so benütze J a k o b u s diese Formel in ganz abgeblaßtem Sinn. Nur Windisch 3 4 9 spricht J a k o b u s Originalität zu insofern, als „er das Rad des Daseins durch die Gehenna und durch ihr Organ . . . in Brand setzen läßt". Für J a k o b u s spielt dann das Feuer der Gehenna eine Rolle, während der orphische kosmische τροχός mit dem Feuer nichts zu tun hat. 3 S 0 Da aber im Augenblick die Ursprungsfrage zu J a k 3,6 nicht im Vordergrund steht, gilt hier nur zu beachten, was Oetingers Interpretation von J a k 3,6 beinhaltet. Sie geht in zwei Richtungen: einmal geschieht die Deutung anthropologisch, zum andern theogonisch-kosmogonisch. Oetinger verwahrt sich dagegen, daß in der anthropologischen Wendung das Rad „als verblümte oder metaphorische R e d e " 3 5 1 angesehen werde, was die deutsche Übersetzung Luthers t u e . 3 5 2 Auch hier müsse das Bild in seiner vollen Schärfe durchgehalten werden. Da die Zunge das Rad entzündet 3 5 3 , heißt die Folgerung, daß der Mensch selbst etwas in Gang setzt. Diese Vorstellung Oetingers wird an anderer Stelle noch deutlicher, wenn er Zunge durch „irdische Imagination der W o r t e " 3 5 4 und Rad durch „Rad des Entstehens" 3 5 5 erunterstellt, er habe den Brief nicht verstanden (vgl. Wörterbuch 122. 147. 488); Oetingers anerkennende Bewertung entspringt dem Erachten, der Jakobusbrief rede „aus den tiefsten Grundanfängen" (Wörterbuch 488); vgl. auch Benz, Geistesahnen 254: die zentrale Wertung der Jakobusbriefstelle habe Oetinger von Jakob Böhme übernommen. Die Formel τροχός της yeuéaecoç kommt im Neuen Testament nur bei Jakobus vor und spielt in der orthodoxen Theologie „so gut wie gar keine Rolle" (Benz, Geistesahnen 254); die alttestamentlichen „Rad"-Stellen kennen die Verbindung mit yéveoK nicht, auch nicht die von Oetinger in Verbindung gesetzten EzechielKapitel; vgl. A Concordance to the Septuagint, Bde 1 und 2, Graz 1954. 347 Vgl. M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, 10. Α., Göttingen 1959, 182f; J. Schneider, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Judas und Johannes, Göttingen 1961, 25; F. Hauck, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Judas und Johannes, 7. Α., Göttingen 1954, 23. 348 Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von G. Kittel, Bd. 1, 682 (Artikel ó τροχός της -γενέσεως das Rad des Lebens Jk 3,6). 3*9 Η. Windisch, Die katholischen Briefe, 3. A. Tübingen 1951, 23. 350 Vgl. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, 682. 351 2,1. 28 6. 352 Vgl. 2,1. 286. 353 Vgl. 2,1. 286. 35S 354 Wörterbuch 5 5 2 . Wörterbuch 488. 346

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setzt. Damit ist für Oetinger — wohl in Nachfolge alchemistischer Vorstellungen 356 — die verinnerlich te Interpretation des τροχός της yevéoeojç als Lebenswandel abgelehnt; das Ergebnis des in Bewegung gesetzten Rades ist für Oetinger nicht etwas ,Moralisches', sondern etwas höchst ,Leibhaftes'. Oetinger geht noch einen Schritt weiter, insofern er das Rad der Geburt aus Jak 3,6 als „von der Hölle . .. entzündet" 3 5 7 sieht und diesen Vorgang nicht auf Einzelmenschen beschränkt, „denn die Hölle ist in jedem Menschen". 3 5 8 Hölle als einer der drei Anfänge der Natur 3 5 9 wird als eine Kette der Finsternis beschrieben. 3 6 0 Um auch hier Finsternis nicht nur als moralische Größe erscheinen zu lassen, läßt Oetinger sie dem Menschen anerschaffen sein 361 , damit aber wird sie leibhafte Realität. Finsternis ist als Schöpfungstat eine Wirklichkeit und nicht nur ein „Mangel des Wesens" 362 ; da sie weiter „ein nach dem Fall irreguläres Ding [ist], das nicht maschinenmäßig kann geordnet werden" 3 6 3 , wird im Menschen das Rad der Geburt „verfinstert": es entsteht „eine unordentliche Phantasie falscher Bilder". 3 6 4 In der theogonisch-kosmogonischen Ausdeutung beruft sich Oetinger auf die Interpretation durch die Kapitel 1 und 10 des Ezechielbuches. 365 Dort findet er die Beschreibung eines ringförmigen Feuers. 3 6 6 Oetinger interpretiert diese Vision: „Dies ist die allgemeine Beschreibung einer geistlichen Substanz, welche aus dem Feuer durch Circular-Bewegung entsteht, welches Jacobus 3,6. das Rad der Natur nennt, welches ordentlich bewegt im Zirkel in sich selbst lauft". 367 Aus der Mitte dieses „ordent356

Im alchemistischen opus ist der Begriff ,imaginado' von besonderer Bedeutung. Imaginatio wird definiert als „das Gestirn im Menschen, der himmlische oder überhimmlische Leib" (vgl. C . G . J u n g , Psychologie und Alchemie (Gesammelte Werke, 12. Bd), Ölten 1972, 322, wo das aus dem Jahr 1612 stammende Rulandsche „Lexicon Alchemiae" zitiert wird). 357 Ehmann 566f; vgl. 2,1. 286 und auch die Exegese von Windisch. sse 2,1. 286. 359 v g l . Wörterbuch 488. 360 v g l . Wörterbuch 552f. 361 Vgl. LT 232. 227; öffDenk 336 u.ö. 362 ÖffDenk 336; vgl. LT 222. 225. 226 u.ö. 3 « 2,1. 385. 364 Wörterbuch 552. 365 Vgl. Ehmann 775: „Was Rad der Geburt (Jac. 3.) sei, lernt man nicht aus den Schriften der Juden, sondern aus Ezechiel, aus der Analogie. Wohl lernt man die sieben Sephirot, aber nicht durch das Rad der Geburt". Das Inbeziehungsetzen des Rades mit der Ezechielvision tritt schon bei Laurentius Ventura auf, dessen Werk 1571 gedruckt worden ist; vgl. dazu C. G. Jung 441, der darauf hinweist, daß der Ezechielbezug bei Ventura ein Zitat sei einer Quelle, „die auf alle Fälle ins 14. Jahrhundert zurückgeht, wenn sie nicht noch älter ist". 3« Vgl. 2,2. 342; 2,6. 428; Wörterbuch 147. 367 2,2. 343; Metaphysik 489; Theologie 79.

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lieh bewegten Feuers" sind — so die Ezechielvision weiter — die vier lebendigen Wesen in Gestalt von Tieren hervorgegangen 368 ; an ihrer Seite sieht Ezechiel ein Rad, das sich jeweils mit den Tieren in Bewegung setzt. 3 6 9 Aber: „Das Rad schien zwar Ein Rad, aber es waren vier Räder ineinander" 3 7 0 und: „Er sähe, daß wohin auch der Tiere Geist gehen würde, eben dahin seie auch der Geist der Räder gegangen". 3 7 1 Oetingers Interpretation sieht bei dieser Vision ein doppeltes Ineinander: das der vier Räder in einem Rad und das der Tiere und Räder; seine Interpretation nimmt das stilistische Nebeneinander nur als Hilfsmittel für ein „simultanes" Geschehen an 3 7 2 , das nacheinander explizieren muß, was eigentlich nicht auseinandergerissen werden darf. Auch an anderer Stelle 373 spricht Oetinger von diesem „Ineinander": „In der Offenbarung waren keine Räder, sondern nur Tier-Gestalten, deren inwendige Circular-Bewegung die Räder ausgemacht". 3 7 4 Oetinger verquickt hier, um seinen Gedanken besonders deutlich werden zu lassen, eine Stelle aus der Johannes-Apokalypse 3 7 5 mit der Ezechielvision. Da in der Vision der Johannesapokalypse keine Räder auftauchen, von den vier Wesen aber geschrieben wird, daß sie „keine Ruhe kennen" 3 7 6 , liegt der Schluß nahe: die Räder als das innere Leben geben die Gewißheit einer ewigen Bewegung, vermitteln die Vorstellung von lebendigen Wesen mit einer ewigen Bewegung in sich. 3 7 7 Die vier Wesen stellen also die äußere lebendige Gestalt dar, die Räder das inwendige Leben jener Gestalt; in Oetingers Worten: „Die Tiere bedeuten das auswendige Leben, die Räder das inwendige. Doch beide Tiere und Räder waren nur ein Ding". 3 7 8 Das Ineinander der vier Räder beweist dann noch, daß die vorhandenen lebendigen Kräfte nicht auseinanderfallen, sondern ineinander als eine einzige Kraft fungieren. 3 7 9 Nun eignet dieser Interpretation die Vorstellung von Zyklik. 3 8 0 Zyklisches Denken widerspricht jedoch Oetingers Geschichtsauffassung, die einen 368

Vgl. 2,2. 343; Theologie 79. Vgl. 2,2. 344; Theologie 80. 370 2,2. 344; Theologie 80; vgl. 2,2. 359. 360; Wörterbuch 275. 371 2,2. 344. 372 Vgl. 2,2. 345; anders dagegen die neueren Interpretationen. 373 Vgl. Wörterbuch 275. 374 Wörterbuch 275. 375 „Offenbarung" meint an dieser Stelle nicht die Vision des Ezechiel, sondern Apk 4,6. 376 Apk 4,8. 377 Vgl. LT 171; 2,6. 429; Theologie 63. 378 Wörterbuch 275; vgl. auch LT 171; 2,2. 345. 379 Vgl. 2,2. 260; 2,1. 373. 380 In der Alchemie ist Rad terminus technicus für den Prozeß des Kreislaufs im opus, der wiederum den rotierenden Himmel zum Vorbild hat (vgl. C. G. Jung 369

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linearen Geschichtsablauf kennt. Für Oetinger gilt also zunächst: Zyklik beim Werden und Erhalten von Leben; Linearität bei Geschichte. Bei Oetinger ergibt sich daraus keineswegs ein Widerspruch. Denn der Ezechielvision läßt sich entnehmen, „daß die Tiere und Räder in die vier Teile der Welt gehen; daß sie eine blitzende Zerteilung der inneren Bewegung in vier Seiten an sich haben bei aller Circular-Bewegung". 381 Es wird also zu sagen sein: Oetinger kennt zwei Interpretationsweisen eines Bildes: das Rad beinhaltet Zyklik als immerwährendes Gebären 3 8 2 , als unablässiges Leben, und schafft zugleich Linearität durch die „blitzende Zerteilung" 3 8 3 als Gegenwarts- und Weltgewinnung. 3 8 4 Es gilt zusammenfassend festzuhalten: V o m Formalen her gesehen, unterscheidet Oetinger nicht konsequent zwischen dem Ausdruck Rad der Geburt aus Jak 3,6 und dem Rad der Natur. 3 8 5 Das leistet einer Interpretation Vorschub, die überwiegend das Werden der geschaffenen Natur im Auge hat. Die Bezugnahme auf das Ineinander der Kräfte aus der Ezechielvision betont dagegen wieder die Unauflöslichkeit des Bandes der Kräfte, die lediglich in Gott vorherrscht. Der Begriff τροχός της yei'éaecoç ist dann in Bindung in die dritte Qualität zur „wirklichen Entstehung der Dinge" 3 8 6 Voraussetzung; er steht weiter für das Rad A b b . 80 u n d Seite 337; vgl. auch Häussermann 328); der terminus „rota naturae" scheint dagegen in der alchemistischen Literatur nicht vorzukommen (diesen Hinweis verdanke ich H. Schipperges, Professor für Geschichte der Medizin in Heidelberg), ist aber in Böhmes Schriften anzutreffen und gehört jenem dritten Prinzip, der eigentlichen Weltschöpfung, zu. Böhme kennt im übrigen den Begriff Rad in vielfältiger Anwendung: drehendes Rad, Angstrad der Essentien, stillstehendes Rad, triumphierendes Rad, freudenreiches Rad, ringendes Rad, ängstliches Rad, planetarisches Rad, sulphurisches Rad (vgl. Grunsky 326). Oetinger hat — nach seinen eigenen Worten — zunächst viel Mühe, mit dem Ausdruck ,Rad der Natur' (vgl. 2,1. 277), bedient sich aber seiner, nachdem er die Ausführungen Böhmes als in Übereinstimmung stehend mit den biblischen Vorstellungen, im besonderen mit denen des Ezechielbuches (vgl. 2,1. 277; Metaphysik 469; 2,2. 245. 358. 360. 361 u.ö.), erkannt hat. 381 2,2. 347; vgl. auch 2,6. 429. 382 Vgl 2,2. 346: „in welchen die Räder oder die innerliche Circular-Bewegung in einem G o t t ähnlichen actu purissimo fortdauern, und also kein Stillestehen Tag u n d Nacht leiden". 383 Dies ist die Vorstellung aus Böhmes vierter Qualität, die j a die drei ersten zu Ende führt u n d den „ A u f t a k t für den Durchstoß der Enge in die Weite gibt" (Grunsky 152), auf die Oetinger ausdrücklich Bezug nimmt: es „zeigt an, . . . daß sie in der vierten Zahl unter den Sieben ihre Puncta exitus und reditus virium per decussationem besitzen" (2,2. 347). 384 Es darf unterstellt werden, daß Oetinger bei den o.a. vier Weltrichtungen das Schöpfungsbild aus Gen 2,4 b ff vor sich hat. 385 vgl. z.B. 2,1. 375 und PhilAlt II 41, wo Rad der Natur als aus J a k 3 stammend dargestellt wird, besonders aber Theologie 134. 386 2,1. 375.

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der geordneten Circular-Bewegung, die Leben gibt 3 8 7 und Leben als Kräfte zusammenhält; und schließlich entsteht das Rad durch „zwei widerwärtige Zentralkräfte" 3 8 8 , wie die Berufung auf Newton verdeutlicht. 389 Das Rad der Natur aber als die eine kompakte Umschreibung für die sieben Qualitäten 3 9 0 ist „ein Circuì, der in perpetuo fieri seine endelechien oder progressionen m a c h t " 3 9 1 , um sich „in ein unzerstörlich leibliches Wesen [zu] endigen". 3 9 2 Damit ist das Rad zweifellos das „Symbol aller statikfeindlichen Lebensdynamik" 3 9 3 , und die Spekulationen über es der „Mittelpunkt der Theologie des Lebens bei Oetinger". 3 9 4 Aber diese Aspekte sind nur der eine Teil; der andere liegt in der .Fassung' des Lebens. Daß „etwas zum Wesen wird, da es vorher flüchtige Dinge waren" 3 9 5 , „das ist die eigentlichste Beschreibung des L e b e n s " 3 9 6 — Oetinger geht es auch an diesem Punkt nicht nur um Leben schlechthin, um Vitalismus und Vitalität, sondern um das Leben als vergestaltetes Leben, um Vergestaltung des Inneren im Außen und dies bezogen sowohl auf Theogonie als auch auf Kosmogonie. ab) Die Sefirothlehre

der Kabbala und deren Deutung durch

Oetinger

Da die Ausgestaltung der Sefirothmystik eine „lange und verwickelte Geschichte h a t " 3 9 7 , sollen hier zunächst ein paar Anhaltspunkte gegeben werden. Der Terminus „Sefiroth" stammt aus dem „Buch der Schöpfung". Dort bedeutet er die zehn archetypischen Zahlen — der Begriff leitet sich von safar = zählen her — als die „Grundmächte allen Seins, ohne daß aber in jenem alten Buch jeder Sefira eine Fülle von Symbolen zugeordnet wäre, in denen andere Urbilder mit ihr zu einer besonderen Struktur verbunden würden. Diesen Schritt hat erst die mittelalterliche Theosophie der Kabbala gemacht, gnostische Exegesen über die Äonenwelt wieder aufnehmend und weit über sie hinausführend". 3 9 8 387 Vgl. Wörterbuch 4 8 8 . 5 5 2 ; 2,1. 3 7 5 . 388 Wörterbuch 4 8 9 . 8 5 2 . 2 7 5 ; 2,2. 3 4 5 . 389 Vgl Wörterbuch 4 8 9 : „Der einzige gottselige Neu ton hat unter den Weltweisen eingesehen, daß zwei widerwärtige Central-Kräften der Anfang des Rades der Geburt seien". 390 Vgl. 2,1. 2 7 1 . 2 7 2 . 3 7 3 . ' Metaphysik 4 8 9 . 3 » 2,1. 3 7 3 . 3 9 3 Hauck, Naturphilosophie 198. 3 9 4 Benz, Geistesahnen 2 5 4 . 395 Wörterbuch 4 8 8 . 396 Wörterbuch 4 8 8 . 3 9 7 Häussermann 2 5 2 . 398 Scholem, Kabbala 135. 39

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Die großen klassischen Dokumente der Kabbala sind das Buch Bahir, das Buch Sohar 3 9 9 und die lurianischen Schriften. 4 0 0 Das Buch Bahir, um 1180 in Südfrankreich erschienen, zweifellos aber Stücke enthaltend, die älter sind als aus dem 12. Jahrhundert 4 0 1 , erwähnt den Ausdruck Sefira bzw. Sefiroth kaum; er wird hier auch nicht von safar abgeleitet, sondern von saphir = Saphirstein. 4 0 2 Gemäß dieser Etymologie sind die Sefiroth „Abglänze" Gottes, ein Ausdruck, den Oetinger ebenfalls verwendet. 4 0 3 Im Buch Bahir haben wir die älteste Gestalt jener kabbalistischen Symbolik, „in der kosmologische, moralische und andere biblische Vorstellungen benutzt werden, um die zehn ,Schöpfungsworte' oder logoi Gottes zu beschreiben, welche die Äonen und mystischen Attribute Gottes sind". 4 0 4 Gleichzeitig handelt es sich hier um die erste Liste dieser zehn göttlichen Kräfte, damit also um die älteste Sefirothtafel. Allerdings ist das Schema noch im Fluß, was dadurch ausgewiesen wird, daß die im Buch Bahir vorliegenden Texte noch nicht von Nezach und Hod sprechen, sondern von den zwei Nezachim 4 0 5 ; es findet sich aber schon die Einteilung in obere und untere Sefiroth, die auch Oetinger kennt und verarbeitet. — Im Buch Sohar erscheint der Ausdruck Sefiroth nicht 4 0 6 , dagegen ist die Symbolik voll entwickelt. Die Sefiroth werden als göttliche Potenzen und Emanationen verstanden, sie sind Stufen, „in denen das Leben Gottes als eine Bewegung aus ihm selbst und zu ihm selbst hin- und herströmt". 4 0 7 Die Bezeichnungen der Sefiroth zeigen auf, wie weit sich diese mystischen Manifestationen Gottes von der sozusagen theologischen Konzeption der Attribute Gottes entfernt haben. Sie bilden im Ganzen sowohl seine Namen — sie sind jene zehn Namen, mit denen Gott vornehmlich genannt wird —, als auch seine Gesichter — sie sind jene Aspekte, unter denen er erscheint —, als auch die zehn Stufen des Alls, in denen Gott von der tiefsten Verborgenheit zur Offenbarung hinabsteigt. 4 0 8 — In den 3 " Eine von Karl Friedrich Harttmann (vgl. L T Teil 2, 116f) gefertigte „Übersetzung der Stellen aus dem Sohar von der Philosophie der Ebräer, nach Hrn. M. Sommers Auszügen, Lat. Specimen Theol. Soharicae" liefert Oetinger in der Lehrtafel (LT 104ff). 4 0 0 Vgl. Scholem, Kabbala 130. 4 0 1 Vgl. Scholem, Gestalt 88. 4 0 2 Vgl. Häussermann 254. 4 0 3 Häussermann 254 spricht davon, daß Oetinger mit „Vorliebe" diesen Ausdruck verwendet habe; in etwa gleich großem Ausmaß treten allerdings auch die Vokabeln Ausgang und Ausfluß im Zusammenhang mit kabbalistischen Vorstellungen auf. 4 0 4 Scholem, Gestalt 88. 4 0 5 Vgl. Scholem, Gestalt 281. 4 0 6 Vgl. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1957, 233 u.ö. w Scholem, Mystik 228. 4 0 8 Vgl. Scholem, Mystik 233.

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Schriften des Isaak Luria schließlich „erscheinen die Sephirot in neuen Konfigurationen, angeordnet nach einer eschatologischen Schau von der Störung und Wiederherstellung des Emanationsprozesses in einer unendlichen Folge von Weltzeitaltern". 4 0 9 Allen Schriften ist der Versuch gemeinsam, das Geheimnis der Welt als eine Widerspiegelung der Geheimnisse des göttlichen Lebens zu beschreiben. Die Form dieser Beschreibung sind Bilder, die zu einer Gesamtschau geordnet werden, für die sich folgendes — das am meisten verbreitete — Sefirothschema aufstellen läßt 4 1 0 : Kether Bina

Chochma

Din

Chessed Tif'ereth

Hod

Nezach Jessod Malchuth

Dieses Schema und seine Terminologie versuchen, den Gehalt einer mystischen Lehre mit der Vielfalt seiner Aspekte in einer Reihenfolge fester Bezeichnungen aufzuzeigen. Ausgangspunkt ist dabei der En-Sof, das Verborgenste, das keiner sieht und erkennt außer Gott selbst, der sich ja in ihm verbirgt. In der Wendung dieses En-Sof zur Schöpfung verwandelt er sich zum ,Nichts', „aus dem alle anderen Stufen der Selbstentfaltung Gottes in den Sefiroth hervortreten. Dieses geheimnisvolle Nichts" bezeichnen „die Kabbalisten als erste Sefira, auch als die ,höchste Krone' der Gottheit". 4 1 1 Die zweite Manifestation Gottes ist seine Chochma, seine Weisheit. In ihr ist Gott als weise erkennbar; in ihr weiß er um sich selbst; in ihr aber ist zugleich die Uridee aller Schöpfung beschlossen, das „ideale Sein aller Dinge . . . wenn auch noch unentwickelt und undifferenziert". 4 1 2 In der dritten Sefira, Bina, „die sich entfaltende ,Intelligenz' Gottes" 4 1 3 , findet also die Differentiation statt: was unentwickelt und undifferenziert in der Chochma Gottes lag, existiert jetzt in differenzierten Formen, „aber immer noch in der Einheit des

409 410 411 412 4 3

'

Häussermann 268. Vgl. Scholem, Mystik 233 und Scholem, Gestalt 36. Scholem, Mystik 237. Scholem, Mystik 239. Scholem, Mystik 232.

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göttlichen Intellekts, der sie in sich selbst a n s c h a u t " . 4 1 4 Diese drei Sefiroth Kether, Chochma und Bina bilden die drei oberen S e f i r o t h . 4 1 5 Die vierte Sefira, Chessed, ist die Liebe oder Gnade Gottes, „das sich frei schenkende und verströmende Element des G u t e n " 4 1 6 , deren Gegensatz die Din, die Macht Gottes, vorwiegend als strafende und richtende Strenge. Tif'ereth, die sechste Sefira, ist die Sefira des göttlichen Erbarmens, auch Pracht oder Schönheit genannt 4 1 7 ; sie ist die zwischen den Gegensätzen der beiden vorigen Sefiroth ausgleichende Barmherzigkeit Gottes. Nezach und Hod erscheinen wiederum als Paar: Nezach als die beständige, bestandhaltende Dauer Gottes, Hod als die Majestät, der Sieg Gottes. Die neunte Sefira, J e s s o d , wird definiert als der Grund aller wirkenden und zeugenden K r ä f t e Gottes, sie wird „als zeugende Schöpfungskraft a u f g e f a ß t " 4 1 8 , sie ist „das geheime ,Leben der Welten' " , 4 1 9 Die letzte Sefira schließlich, Malchuth, ist das Reich Gottes, die Königsherrschaft Gottes, „im Sohar meistens als Kenesseth Jisrael, das mystische Urbild der Gemeinde Israels, oder als Schechina b e z e i c h n e t " . 4 2 0 Oetingers Beschäftigung mit der Kabbala kann als gründlich bezeichnet werden 4 2 1 ; sein Wissen schlägt sich nieder in der Beschreibung der „Lehrtafel der Prinzessin A n t o n i a " . 4 2 2 In dieser Schrift hat das Sefirothschema folgendes Aussehen: Scholem, Mystik 239; vgl. Scholem, Gestalt 55: „In Bina ist der Mutterschoß aller Schöpfung, welcher nichts ist als die Harmonie in der Unterscheidung, der Einklang alles Differenzierten, die Einheit der Gegensätze, die nun aufbrechen". 4 1 5 Vgl. Scholem, Gestalt 35. 55 u.ö. 4 1 6 Scholem, Gestalt 54. 41 7 Vgl. Scholem, Gestalt 35. « 8 Scholem, Mystik 248. 4 1 9 Scholem, Mystik 248; vgl. Scholem, Kabbala 140. 4 2 0 Scholem, Mystik 232. 421 Vgl. dazu die ausführliche Abhandlung von Benz, Kabbala. 4 2 2 Antonia (1613—1679) war die Tochter des Herzogs von Württemberg Johann Friedrich und eine der Schwestern Eberhards III. Die Idee zu einer kabbalistischen Lehrtafel und deren Ausgestaltung stamme „nach dem ausdrücklichen Zeugnis von Professor Raith" (Friedrich Häussermann, Pictura Docens. Ein Vorspiel zu Fr. Chr. Oetingers Lehrtafel der Prinzessin Antonia von Württemberg, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 66./67. J g . 1966/67, 76) von dessen Schüler Johann Strölin (Benz, Geistesahnen 278 und Benz, Kabbala 42: Strelin); anders als Häussermann kann Benz den „unterirdischen Strom der kabbalistischen Uberlieferung", aus dem die Prinzessin „schöpfte" (Benz, Kabbala 42), nicht mehr ermitteln. Für ihn steht nur fest, daß sie von Strölin in der hebräischen Sprache unterrichtet wurde, weiter mit J . L. Schmidlin — „mütterlicherseits der Großvater von Johann Albrecht Bengel" (Häussermann, Pictura 65) —, „einem anderen Kenner des Hebräischen" (Benz, Kabbala 42) und Professor Raith von der Universität Tübingen in Verbindung stand. Anlaß zur Stiftung des Tafelbildes war die Einweihung der Dreifaltigkeitskirche in Bad Teinach; Antonia gab die .Lehrtafel' dem „Hofmaler Gruber"

414

170

Kether Bina

Chochma

Gebhura

Gedullah Tif'ereth

Hod

Nezach Jessod Malchuth

Beim Vergleich mit dem oben dargestellten Schema fällt auf, daß das Paar der vierten und fünften Sefira abweicht: das „häufigste und ein(Häussermann, Pictura 66) in Auftrag — das Bild wurde 1658—1662/63 gemalt — und brachte sie 1673 in der Kirche zur Aufstellung. Ihrer Verbundenheit mit dieser Stiftung gab sie dadurch Ausdruck, daß sie ihr Herz unter dieser Tafel begraben ließ. — Oetinger hat — wie bereits gesehen — dieser JLehrtafel' ein ganzes Buch gewidmet — im übrigen war er selbst erstaunt, daß es die Zensur passierte (vgl. Ehmann 657) — mit dem vollständigen Titel: „öffentliches Denkmal der Lehrtafel einer weil. Wirttembergischen Prinzessin Antonia in Kupfer gestochen, dessen Original sie von den zehn Abglänzen Gottes in den Deinachischen Brunnen in einem prächtigen Gemälde gestiftet, wobei von der Kraft der Brunnquellen, von der Philosophie der Ebräer, und überhaupt von dem Geiste Gottes nach allen Stellen neuen Testaments eine Erklärung gegeben wird von M. Friedrich Christoph Oetinger, Special-Superintendent in Herrenberg". Benz, Kabbala 39, weist darauf hin, daß Oetingers Predigten aus dem J a h r 1759 bekunden, daß Oetinger das Teinacher Tafelwerk schon damals kannte (im übrigen kann es sich bei Benz mit der Jahreszahlangabe von 1659 nur um einen Druckfehler handeln). Das Buch selbst geht dann aber wohl auf einen Brief des Tübinger Stiftsrepetenten J a k o b Friedrich Klemm zurück vom 21. J u l i 1763, in dem er „ein Verlangen" ausdrückt, „in einer Sache gründliche Einsicht zu erlangen, die mir niemand so leicht wie Euer Hochehrwürden geben k a n " (LT 84). Oetinger fühlte sich zu einer Deutung der .Lehrtafel' — die ihm „zu einem universalen theosophischen System auswuchs" (Hermelink 239) — nicht nur im Stande, weil er selbst die kabbalistischen Quellen studiert hatte (vgl. besonders 2,6. 256: „Es hat schwerlich jemand so viel Mühe und Geld kosten lassen, diese Sachen aus den Quellen der J u d e n selbst zu lernen, als ich"), sondern gerade auch, weil er h o f f t e , mit Hilfe der Kabbala die „Theologie der H . Schrift . . . und dem Portrait des H. Geistes" wieder „ähnlich" machen zu können (LT 97). Nach Oetingers eigenen Angaben in der Selbstbiographie kannte er den Sohar und das Buch Jezirach (= „Buch der S c h ö p f u n g " ; vgl. Roessle, Selbstbiographie 49), suchte aber weiter „nach einer Gelegenheit, die kabbalistischen Quellen selbst zu lesen" (49). Während seiner ersten Reise traf er mit dem Kabbalisten Coppel Hecht zusammen (vgl. Roessle, Selbstbiographie 50; 2,6. 4), „dem bedeutendsten Kabbalisten der Frankfurter jüdischen Gemeinde" (Benz, Kabbala 26), und wurde mit Knorr von Rosenroths Kabbala denudata vertraut (vgl. Roessle, Selbstbiographie 50; 2,6. 173); in Halle dann „übte" er sich „mit einem Kabbalisten . . . in dem Buch Ez chajim" (Roessle, Selbstbiographie 5 7), einer Schrift von Isaak Lurias wichtigstem Schüler, Chajim Vital. 171

fachste Schema" 4 2 3 benutzt das Gegensatzpaar Chessed-Din (GnadeStrenge), die „klassisch gewordene Ordnung" 4 2 4 verwendet die Reihe Gedullah-Gebhura (Größe-Stärke). Oetinger gibt Erklärungen zu dieser ,Lehrtafel'. 4 2 5 Ausgangspunkt ist ihm der En-Sof, Gott in seiner unergründlichen Tiefe, der in sich selbst wohnt und sich mitteilen will 4 2 6 ; jeder Abglanz entspringt aus ihm (95). Durch die erste Sefira tritt Gott als eine Krone in Erscheinung; das Bild der Krone steht für die „unermeßliche Peripherie der Ausbreitung seines innersten Puncts (Ps. 150,1)", für die „Concentration zu seiner Selbs-Offenbarung" (93). Als die zweite, die Weisheit, „beschauet Er sich in sich selbst" (93). Sie wird dargestellt mit Meßkanne und Becher, weil „die Weißheit alles mit Maaß, und Zahl und Gewicht t h u t " (95); ihr Haupt ist umkränzt von sieben Sternen, „weil die Beschauer an der zweyten Sephira die Zahl sieben, als aller Creatur Band der Kräften, in ihrem Urstoff erhöhet sehen werden" (95). Die dritte Sefira, die Bina, erreicht die Unterscheidung der vorgespielten Ideen: „Die Weißheit spielt GOtt vor und GOtt bestätiget seinen Vorsatz" (93). In ihr und mit ihr findet jedoch auch noch die weitere Unterteilung statt „in sieben und noch weiter ins unendliche" (93). Oetinger gibt Hiob 11,6 an — Bina ist die eröffnete verborgene Weisheit, die sich zunächst in den sieben Urpotenzen darstellt, dann noch in unendlich viele Gestaltungen führt. Damit ist die Erklärung der drei oberen Sefiroth abgeschlossen. Nicht nur die inhaltliche Füllung, auch die bildhafte Darstellung vermittelt die Zusammengehörigkeit dieser drei Sefiroth: im Tafelbild umgeben die beiden Gestalten der Chochma und Bina die Gestalt der Krone so eng, daß auf eine größere Einheit dieser drei Sefiroth geschlossen werden muß, als es bei den unteren sieben der Fall zu sein scheint. Dem ersten Paar der unteren Sefiroth, der vierten und fünften Sefira, schreibt Oetinger als Gedullah die Ausbreitung (93.96) und als Gebhura die Zusammenziehung der Kräfte Gottes zu (93.96). Während diese beiden Sefiroth im Aufbau des Bildes die Nähe zu den drei oberen Sefiroth dadurch dokumentieren, daß sie noch zu dem Kuppelaufbau des Tempels gehören, erfährt die sechste Sefira eine herausragende Stellung; auch dadurch drückt sie die Überwindung des Streits der Kräfte aus, es vollzieht sich „die Extension und Intension aus dem Streit in die lieblichste Schönheit" (93), sie ist zugleich „in der Herrlichkeit GOttes 423

Häussermann 252; Scholem, Gestalt 36. Häussermann 297. « s Vgl. LT 9 3 - 9 4 und 9 5 - 9 7 . 426 LT 93; im folgenden wird die Seitenzahl direkt im Text angegeben. 424

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die erste Kraft des Lebens" (96). Ebenso ist durch die siebte, Nezach, der „Streit der verzehrenden Kräften mit den erhaltenden in den Sieg" (93) übergegangen. Es ist die Überwindung, die zur Ruhe hinführt, den „Bestand" erahnen Iäßt, aber selbst noch nicht ist (96). Die achte, Hod-Herrlichkeit, wird von Oetinger dahingehend gekennzeichnet, daß „es näher zur Ruhe [gehe]" (93). Durch die neunte Sefira, die eine hervorgehobene Stellung vor den beiden Eingangssäulen einnimmt 4 2 7 , „bek o m m t alles seinem Verstand"; „alles, was daurend und bestand-haltend ist, hat da seine Wurtzel" (93), „da ist manifestatio sui aus der Cabbala genommen" (96). In der zehnten Sefira schließlich kommt die Gottheit „aus dem Actu purissimo endelechico, d.i. würkend fortschreitenden Ubergang, zur Ruhe, zur ewigen Fassung, zum Sabbat, zum Königreich" (93). Oetinger stellt die Sefiroth noch an anderen Stellen vor: in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" als Anhang 4 2 8 und nochmals in der „Lehrtafel". 4 2 9 In der „Irdischen und himmlischen Philosophie" ist die Zählung unvollständig insofern, als Oetinger nur die sieben unteren Sefiroth anspricht und deren Zählung mit 1 beginnen Iäßt; die Namensreihe ist die gleiche wie in der „Lehrtafel", die Interpretation zeigt jedoch andersartige Betonungen. Auffällig ist besonders das Sefirothpaar Gedullah und Gebhura. Im Widerspruch zur Darstellung in der „Lehrtafel" ist die Gedullah nicht mehr charakterisiert als „Ausbreitung", sondern als „eine Ursache aller Neigung zum Centro, wodurch eine Attraktion entsteht" 4 3 0 ; daraus folgend ist die Gebhura dann nicht mehr die „Zusammenziehung", sondern „eine Ursache aller entgegen stehenden Neigung vom Centro weg" (351). Diese Interpretation mit Hilfe der Vorstellung von Zentralkräften gilt dann auch für die dritte der unteren Sefiroth: „Wenn diese zwei Centrai-Kräfte gleich stark einander widerstehen, so entsteht die dritte, vis gyratoria, circularis, ignea, consumens" (351). Gleichzeitig aber ist sie „mehr ein salziger Dampf als ein Feuer" (352). In der vierten Sefira, im Gesamtschema der siebten, wird das Feuer mit dem Licht vereinigt — Oetinger beruft sich hier auf das Ezechielkapitel, wo in dem „Windwirbel das Feuer Chasmal erst geboren" (352) werde. Die fünfte in der Zählung der unteren Sefiroth, Hod, ist auch feurig, aber „ein erhaltendes nicht brennendes verzehrendes Feuer, ein unzerstörliches sich selbst ernährendes Feuer" (352). Der sechsten bzw. neunten 427 LT 258: „Hier wird der Fürhang zerrissen. Das Innere kehrt sich herauß zur Manifestatione sui". 428 Vgl. 2,2. 3 4 9 - 3 5 5 . 429 Vgl LT 253—255; hierbei handelt es sich um einen von Oetinger gebrachten Auszug aus den Manuskripten der Prinzessin (vgl. Benz, Kabbala 44). 430 2,2. 351; im folgenden erfolgt der Seitenhinweis im Text. 173

Sefira kommt schon mehr „Vollkommenheit" zu; als Jessod ist sie das Fundament des „Sinnes, Denkens und Reflektierens", „welches Ezechiel mit den Augen in den Rädern sagen will" (352). Die letzte Sefira schließlich „macht, daß alle in einer unzerstörlichen Leiblichkeit beisammen bestehen und dies heißt eigentlich Substanz, wenn ein geistlich Wesen seinen unzerstörlichen Leib durch die vollkommene Ordnung und Zusammenwirkung der sechs vorhergehenden Sephiren bekommt". 4 3 1 In der Erklärung der „zehen Sephirot mit ihren verwandten Dingen" 4 3 2 schließlich finden sich die bekannten Deutungen: Kether als Krone (253), Chochma als Weisheit (253) und Bina als Verstand (253); hier ist Gedullah auch wieder Ausbreitung, Grund der Repulsion (253), ebenso Geb hura die zusammengezogene Stärke, der Grund der Attraktion (253); weiter finden sich Tif'ereth als Schönheit, Grund des Glanzes (254), Nezach als Überwindung zum Ewigbleiben (254); Hod ist Herrlichkeit, Jessod der Bestand, Unverzehrlichkeit, Unauflöslichkeit und Malchuth das Königsreich (254). Der Vergleich der Sefirothlehre der Kabbala 4 3 3 mit der von Oetinger gegebenen Darstellung und Interpretation zeigt einige wesentliche Unterschiede. 4 3 4 Oetinger trennt auffällig und gezielt die drei oberen Sefiroth von den sieben unteren. 4 3 5 In der „Lehrtafel" findet sich: „Es ist wohl zu bedencken, daß es in der heiligen Offenbahrung nicht heißt, der Dreyeinige GOtt grüßt euch, sondern daß da Drey und Sieben sind, von welchen zwey Grüsse ausgehen, . . . daß die sieben . . . die Zahl der zehen Ausgänge oder Sephirot erfüllen und folglich die dritte Person uns unter der 2,2. 352; vgl. weiter: „Wenn sie [die 7 Sefiroth] in continuo nisu et renisu sind, wenn sie so lang ihren Trieb fortsetzen, bis aus der Wurzel die Frucht kommt, alsdann wird aus Essentiis eine Substanz". 4 3 2 Vgl. L T 2 5 3 - 2 5 5 . 4 3 3 Im folgenden wird dieser verallgemeinernde Ausdruck benutzt, auch wenn Scholem feststellt, daß es die ,JLehre der Kabbalisten" eigentlich nicht gibt (vgl. Scholem, Kabbala 120), sondern es sich um verschiedene Richtungen und Schulen der jüdischen Mystik handelt, um einen Prozeß „in der Vielfalt und Widerspruchsfülle seiner Motive" (Scholem, Kabbala 120). Das Vorgehen rechtfertigt sich jedoch: zunächst durch den Sprachgebrauch Oetingers, zum andern aber auch durch Scholem selbst, der — trotz aller Differenzierungen — dennoch von der Kabbala und den Kabbalisten sprechen kann (vgl. Scholem, Mystik 232 u.ö.). 4 3 4 Eine Darstellung der einzelnen Sefiroth in der Beschreibung Oetingers geben Benz, Kabbala 46ff, der jedoch nicht auf die unterschiedliche Interpretation von Gebhura und Gedullah hinweist; Häussermann 297ff und Hardmeier 29ff, die aber vorwiegend Benz und Häussermann zitiert. 4 3 5 Vgl. L T 93. 95. 431

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Gestalt der sieben besonders grüßt". 4 3 6 Oetingers Interpretation impliziert also wenigstens die unteren Sefiroth mehr als die .Entfaltungen' einer Wesenheit, die durch die oberen Sefiroth sich ausdrückt. 437 Oetinger nimmt die Berechtigung zu dieser Interpretation aus dem Sohar 438 , wo es zweifellos Tendenzen gibt, die die sieben unteren Sefiroth verselbständigen' insofern, als sie — beispielsweise — die Manifestationen Gottes sind, die der Reihe nach als gestaltende Kräfte einer bestimmten Zeit des Weltverlaufs angesehen werden 439 ; damit aber werden die oberen Sefiroth in einer Einheit gesehen, die dann zum ,Grund' der sieben weiteren Entfaltungen werden. 440 Im einzelnen ergeben sich nun folgende Unterschiede: Oetinger definiert Kether: „durch die erste [Sefira] tritt GOtt als eine Crone oder unermeßliche Peripherie der Ausbreitung seines innersten Puncts (Ps. 150,1) oder Concentration zu seiner Selbs-Offenbarung heraus". 4 4 1 Das Bild vom Punkt findet sich im Sohar; an verschiedenen Stellen wird „der Durchbruch vom Nichts zum Sein unter dem Symbol des Urpunktes dargestellt, . . . durch dessen Bewegung dann Linie und Fläche entstehen. Dazu tritt . . . die Symbolik des Punktes als Zentrum des Kreises". 442 Aber: Dieser Punkt wird vom Sohar wie auch von der Mehrzahl der anderen kabbalistischen Autoren mit der Weisheit Gottes identifiziert 443 , nicht aber mit der Krone. Für Oetinger aber ist die o.a. Psalmstelle — wie bereits gesehen 444 — immer der Anknüpfungspunkt für Ausbreitung", für Raum. Für Oetinger wird also die Krone in viel stärkerem Maße als Peripherie der Ausdruck für Umfang und Umkreis, für ,Begrenzung', aus der sich der göttliche Raum ergibt, der aber allen Raum umgreift; in der Kabbala hingegen verbleibt Kether mehr im Unverbindlichen' des En-Sof, der sich zum Nichts wandelt. Oetinger bringt noch ein zweites Stichwort ein: die Konzentration — eine Entsprechung zum lurianischen Zimzum. 445 Zimzum heißt zwar Konzentration, auch Kontraktion, ist aber „besser wohl « « LT 131. 437 Zur Trinität vgl. Kapitel 4.4 dieser Arbeit. 438 Vgl, L x 112: „Die Dreyheit der Personen in der Einigkeit des göttlichen Wesens wird abgehandelt in »Sohars« 2. Th. Bl. 18, S. 3". 439 Vgl Scholem, Mystik 196; daß diese Einstellung dem Geschichtsverständnis Oetingers sehr entgegenkommt, braucht nicht mehr betont zu werden. 440 Vgl. dazu auch das Bild des Baumes: die drei oberen Sefiroth bilden den Wurzelbereich dieses Baumes (vgl. Scholem, Gestalt 35). 441 LT 93. 442 Vgl. Scholem, Mystik 238. 443 Vgl. Scholem, Mystik 239. 444 Vgl. Kapitel 4.1bc dieser Arbeit. 445 Vgl. Häussermann 298, der ebenfalls diesen Tatbestand festhält, aber keinerlei Bemerkung zu den Folgen dieser Verbindung macht. 175

mit ,Zurückziehen' oder ,Rückzug' zu übersetzen". 4 4 6 Isaak Luria setzt den Grundgedanken, daß Gott in seinem Wesen einen Bezirk freigibt, aus dem er sich zurückzieht. 4 4 7 Der erste Akt im lurianischen System ist also keineswegs ein Ort der Offenbarung, sondern ein Akt der Verhüllung und Einschränkung. 4 4 8 Seine Folge ist das Freisetzen eines Urraums, ein für die Schöpfung frei gewordener Bereich, als ein ,Nichts'. Im Prinzip lassen sich diese beiden Raumvorstellungen — Raum als Freiraum ohne göttliche Kräfte und Raum als Ausbreitung der Stärke Gottes — nicht in Einklang bringen. Bringt Oetinger sie dennoch miteinander in Verbindung, so muß er eine der beiden frei von den Vorstellungen seiner Vorlage einsetzen. Die ,Räumlichkeit' Gottes in Verbindung mit seinem ,Rückzug' kann dann nur bedeuten: Gott schafft den Raum in sich selbst 4 4 9 ; Einschränkung und Ausbreitung stehen für Erbringen von Räumlichkeit; umgekehrt gilt — nun aber keineswegs mehr lurianisch, denn Luria geht es ja um noch tiefere Abgeschiedenheit Gottes: Gott ist ,räumlich'; er ist ,räumlich' als Ausbreitung; und er ist ,räumlich' dadurch, daß in ihm eine Spannung entsteht — Gott ist Raum voll seiner Kräfte. Bei der Betrachtung der unteren Sefiroth springen die unterschiedlichen Ausdrücke der Kabbala und Oetinger s Beschreibung ins Auge. Lassen sich bei der Sefirothtafel der Kabbalisten noch immer die Attribute Gottes des Alten Testaments herauskristallisieren (Liebe, Gnade, Macht, Gewalt), auch wenn sie nicht mehr als Attribute verstanden werden, so bevorzugt Oetinger Termini, die sich ausschließlich an dem Kräftespiel in Gott ausrichten (Ausbreitung, Neigung zum Centro, Attraktion). Dazu fallen dann noch unterschiedliche Einzelheiten auf. Oetinger schreibt in der „Lehrtafel" an den beiden angegebenen Stellen der vierten Sefira, Gedullah, die Ausbreitung der Kräfte zu, der fünften Sefira, Gebhura, die Zusammenziehung, Konzentration. Diese Interpretation läßt sich auch mit den Aussagen der Kabbala in Verbindung bringen. 450 *·« Scholem, Mystik 285. 4 4 7 Vgl. Scholem, Mystik 286. 4 4 8 Vgl. Scholem, Mystik 287; Hardmeier 27 spricht bei ihren Ausführungen zum Oetingerschen Zimzum von dessen Aufnahme dieses Begriffs in offensichtlich abgeschwächter Form der Lehre des Chajim Vital. Die Abschwächung bei Vital bezieht sich aber lediglich auf die „Rede von einem fortschreitenden Selektionsprozeß des Bösen aus G o t t " (Scholem, Kabbala 149); nur diese Rede erschien Vital wohl besonders anstößig und problematisch, nicht aber der Rückzug Gottes in sich selbst (vgl. Scholem, Kabbala 149). 4 4 9 Raum ist, in Aufnahme der Anmerkung von Hamberger, Theologie 263, nicht so zu verstehen, als ob Gott von ihm umschlossen wäre; vielmehr gestaltet er ihn und „steht" somit „über ihm". 450 Vg[, dj e Zusammenstellung auf Anlage 1 am Ende dieser Arbeit.

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Ein Widerspruch liegt aber vor, wenn Oetinger Gedullah in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" mit Zentripetalkraft und Gebhura mit Zentrifugalkraft umschreibt. Es dürfte sich hierbei wohl kaum um ein „Versehen" 4 5 1 handeln, sondern eher um eine bewußte Interpretation mit Vorstellungen anderer Systeme: hier ganz eindeutig mit den Vorstellungen von Newtons Zentralkräften. 4 5 2 Eine andere Ausrichtung erfährt bei Oetinger auch die sechste Sefira. Ist Tif'ereth in der Kabbala die ausgleichende Barmherzigkeit, so ist sie bei Oetinger die Überwindende, die dadurch noch an dem Streit der Kräfte beteiligt ist, was dem Wesen von Tif'ereth als liebendes rbarmen eigentlich nicht entspricht; auch hier wohl mehr der Einfluß Newtons. 4 5 3 Die achte Sefira, Hod, versucht Oetinger „zu akzentuieren, die bei den Kabbalisten eigentümlich blaß bleibt". 4 5 4 Oetinger umschreibt sie mit dem Ausdruck „Herrlichkeit". Nun deutet er die Herrlichkeit ja überwiegend mit der Schechina. Dieser Interpretation kann er hier jedoch nicht folgen; darum begnügt er sich mit dem Hinweis, daß es in ihr „näher zur R u h e " gehe. 4 5 5 Auch die neunte Sefira kennzeichnet eine leichte Uminterpretation. Ist Jessod in der Kabbala der Grund aller wirkenden und zeugenden Kräfte, die zeugende Schöpfungskraft, ja die „in oft unverstellt phallischer Symbolik beschriebene Potenz der Zeugung" 4 5 6 , so tritt dieser Gesichtspunkt bei Oetinger weit in den Hintergrund; Jessod ,verblaßt' in seiner Interpretation zum ,Bestand', zur Manifestation, um die „Sinnlichkeit" wenigstens in Form des Fundaments für Sinnenhaftigkeit zurückzuholen. 4 5 7 Der Fortgang „zur Ruhe", den Oetinger in seiner Interpretation der Sefiroth häufig anführt, findet schließlich sein Ende in der zehnten Sefira. 451

Häussermann 299. Anders Häussermann 299, der für die Gebhura den Einfluß von Böhmes „Stachel" (2. Qualität) geltend macht; dabei übersieht er aber, daß Oetinger ausdrücklich die vierte, fünfte und sechste Sefira in 2,2. 351 in der Interpretation aufeinander bezieht (vgl. Anlage 1 am Ende dieser Arbeit). 453 Anders dagegen Hardmeier 32. Sie sieht „die dritte Gestalt . . . noch mit widrigen Kräften erfüllt", weil diese von Böhmes Angstrad her interpretiert sei. Als Einwand gilt auch hier das zu Häussermanns Interpretation (vgl. Anm. 452) Gesagte. 454 Häussermann 300. 455 LT 93; diesen Gedanken versucht auch seine Interpretation in 2,2. 352 zu unterstreichen mit der Vorstellung des unzerstörlichen, sich selbst ernährenden Feuers; aber Oetinger vergißt dennoch nicht anzufügen, daß Hod „eigentlich Herrlichkeit, Majestät und Klarheit heißt" (2,2. 352). Scholem, Kabbala 140. 4S7 Vgl. 2,2. 352. 452

12 Grofimann, Oetinger

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Für die Kabbala ist Malchuth das Reich Gottes, in dem das göttliche Gericht waltet 4 5 8 , die Herrschaft Gottes in der Welt, die in der Gemeinde Israel sich symbolisch vorstellt 4 5 9 , aber auch der weibliche Aspekt in Gott, der mit dem männlichen Tif'ereth den hieros gamos vollzog. 4 6 0 In Oetingers Interpretation fehlt diese sexuelle Komponente völlig, Malchuth wird zur Manifestation der ,ewigen Ruhe'. Nun geschieht diese Fassung der Gottheit in der .Lehrtafel' des Tafelbildes und damit dann ebenso in der Interpretation Oetingers in christologischer Abänderung des einen — vorgegebenen — Aspekts: die Fassung der Gottheit in ,Fülle', Subsistenz, ereignet sich in der Gestalt des Christus, sie geschieht „in . . . Christo, da begibt sich die Gottheit in einen neuen von ewigen Zeiten verschwiegenen Stand für die Menschen und Engel. Da wird das Geheimniß GOttes auch das Geheimniß Christi". 4 6 1 Es bleibt jedoch nicht im geheimnisvollen Dunkel: Christus steht im Bild der Lehrtafel auf einem Felsen, der in hebräischen Schriftzeichen die Aufschrift „ I c h " trägt. Das hebräische Wort für Ich 'ani aber hat dieselben Konsonanten wie das Wort für Nichts 'ajin. Im Sohar aber ist das Ich Gottes diejenige letzte Stufe unter den Sefiroth, „in der sich Gottes Persönlichkeit, alle anderen Stufen in sich zusammenfassend, seiner Schöpfung offenbart. Indem also das 'ajin zum 'ani wird, schlägt das Nichts im Akt der fortschreitenden Manifestation seines Gehaltes in den Sefiroth um; es wird schließlich zum Ich, . . . dessen Thesis und Antithesis also in Gott selbst verlaufen". 4 6 2 In Oetingers System: Gott wird Ich, indem er in Christus zu sich selbst Ich sagt; sein Zur-Ruhe-Kommen geschieht durch sein Person-Werden in Christus 4 6 3 , in dem er Ganzheit bildet in Leib und Vgl. S c h o l e m , K a b b a l a 70. Vgl. Scholem, Gestalt 170. « o Vgl. S c h o l e m , K a b b a l a 184. « ι L T 93. 4 6 2 Scholem, Mystik 2 3 7 (Kursivdruck aufgehoben). 4 6 3 Vgl. auch L T 9 4 . 9 6 ; insofern stimmt Ritschis Schelte nicht, Oetinger meine es mit der O f f e n b a r u n g G o t t e s nicht ernst (vgl. Ritsehl, Geschichte 141). Hinter Ritschis Worten steht die Sorge davor, G o t t außerhalb der Christusoffenbarung erkennen zu wollen. Wird die Christusoffenbarung als die allein legitime Offenbarungsweise G o t t e s angesehen, dann sind konsequenterweise alle anderen Offenbarungsweisen „der Anerkennung des Wertes der O f f e n b a r u n g z u w i d e r " ( 1 4 1 ) . Ritschis eigener theologischer Ansatz läßt die Kritik an Oetinger verstehbar werden ebenso wie das L o b , das er ihm wegen der Stellung der Gemeinde Christi ausspricht; aber Gespür 458

459

für das Anliegen Oetingers, das Ungenügen der ethisch/philosophischen Starrheit aufzuzeigen, der Physis G o t t e s und seiner Kreatur wieder einen Platz zu verschaffen, läßt Ritsehl nicht erkennen. Auch sein Urteil, daß „gewaltsame, paradoxe, in ungenauer R e d e vorgetragene Combinationen, in welchen die Wörter nicht bestimmte und sich gleich bleibende Begriffe bezeichnen" ( 1 4 1 ) , muß revidiert werden, wenn die Begriffe auf ihren ursprünglichen Gehalt befragt werden, u m dann Oetingers

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Geist, in dem Harmonie des Oberen und Unteren, des Innen und Außen herrscht, in dem aber auch alle Aspekte des Werdens Gottes anwesend sind. ac) Die Funktionen deben Geister

von Sefiroth

und Qualitäten.

Oetingers

Für die Kabbalisten ist ausschlaggebend, daß sich in den Sefiroth die schöpferische Kraft Gottes entfaltet 4 6 4 , die verborgene Dynamik der schöpferischen Kraft, die sie durch Vermittlung und durch Entfaltung der Sefiroth in der Schöpfung widergespiegelt finden. 4 6 5 Gott ist nicht nur der „gestaltlose Abgrund, in den alles versinkt" 4 6 6 ; in seiner Wendung nach außen enthält er „die Garantie der G e s t a l t " . 4 6 7 Dieser Entfaltungsvorgang aber muß gedacht werden als eine dialektisch-dynamische Einheit: obwohl Gott im Innern verbleibt, ,strömt' sein Leben „nach a u ß e n " . 4 6 8 Medium dieses Strömens ist die zehnte Sefira; was jedoch aus ihr ausströmt, ist nicht mehr Gott selbst, sondern Kreatur, weil sich göttliches Leben und Licht im ,dunklen Spiegel' bricht. 4 6 9 Diese Brechung aber wird Schöpfung. Im Grunde kennt die Kabbala keinen prinzipiell neuen Schöpfungsakt 4 7 0 ; die Welt innergöttlichen Seins „strömt . . . ohne Bruch und ohne Neuanfang in die geheimen und sichtbaren Welten der S c h ö p f u n g " 4 7 1 — die Schöpfung, die Schaffung der Welt, ist der äußere Aspekt eines inneren Prozesses. 4 7 2 Zwar hat das Schöpfungswerk etwa im Sohar einen doppelten Charakter 4 7 3 , aber es sind nicht zwei verschiedene Akte der Schöpfung, „sondern es sind letzten Endes nur zwei Gesichter desselben Vorgangs". 4 7 4 Für den Mystiker ist klar: Gott füllt alles und Gott ist alles. In der Kabbala ist die Schöpfung die exoterische Seite eines Prozesses,

eigene Interpretation zu erheben; er verwendet zwar viele „Wörter", aber deren Inhalt schwankt nicht. Vgl. Scholem, Kabbala 53 u.ö. « s Vgl. Scholem, Kabbala 53. « 6 Scholem, Gestalt 34. ««7 Scholem, Gestalt 3 4 . Scholem, Gestalt 34. 4 6 9 Vgl. Scholem, Gestalt 34. 4 7 0 Vgl. Scholem, Mystik 2 3 6 ; Scholem, Kabbala 135. 4 7 1 Scholem, Kabbala 135; vgl. Scholem, Gestalt 3 2 . 4 7 2 Vgl. Scholem, Mystik 2 3 6 . 2 4 0 ; Scholem, Kabbala 136. 473 Vgl Scholem, Mystik 2 4 2 : Es ist Theogonie, indem es die Geschichte der göttlichen Selbstoffenbarung und die Entfaltung der Welt der Gottheit in den Sefiroth beschreibt; es ist Kosmogonie, indem es die untere Welt hervorbringt. 4 7 4 Scholem, Mystik 2 4 3 .

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der in Gott selbst verläuft tät.

475

— nirgends gibt es Sprung oder Diskontinui-

Böhme hingegen läßt nicht Emanation, sondern wirklich „Geburt" sein. Diese Vorstellung setzt schon damit ein, daß Gott als sich „gebärender" gedacht wird. 4 7 6 Sie setzt sich fort in der vierten Qualität mit deren Möglichkeit, „vorwärts" oder „rückwärts" zu blicken, also eine Richtungsänderung freiwillig vorzunehmen, eine Entscheidung zu tätigen. Wäre der Durchbruch ins Lichtreich etwas Selbstverständliches, so käme er einem mechanischen, notwendigen Vorgang gleich 4 7 7 ; so aber ereignet sich „Geb u r t " , weil Gott in Freiheit „ins Licht- und Freudenreich durchzubrechen vermag" 4 7 8 , ohne das höllische Reich dabei aber zu vernichten oder gar aufzuheben. Die Qualitäten sind für Böhme demnach die Stadien der Selbstgebärung Gottes, in denen finstere und lichte Kräfte miteinander ringen und toben, in denen Böses und Grauenhaftes versucht, die Oberhand zu gewinnen. Zur Selbstgebärung Gottes gehört bei Böhme „Unsinnigkeit" 4 7 9 als „ein unabdingbares M o m e n t " . 4 8 0 Muß sich Gott selbst aber von einer Eigenschaft' zur anderen durchringen, so kann auch unsere Welt nicht einfach eine Emanation Gottes sein. Nun ist die Schöpfung im biblischen Sinn erst das dritte Stadium der Schöpfung bei Böhme 4 8 1 : die Engelwelt ist das erste, deren Vergiftung durch Lucifer das zweite, die eigentliche Weltentstehung das dritte. Böhme versteht sie als „Ausgeburt": In der Selbstgebärung wird Gott in sich offenbar, in der kreatürlichen Schöpfung offenbart er sich aus sich. Diese Ausgeburt realisiert sich durch den „Gegenschlag" des göttlichen Fiat, das den Zornwillen Lucifers überspielt. 4 8 2 Oetinger sieht in den Qualitäten Böhmes eine Symbolparallele zu den kabbalistischen Sefiroth. Vom Grundgedanken her, nämlich des „Hervortretens Gottes aus der Verschlossenheit seiner Gottheit zu . . . geheimem Leben" 4 8 3 , sicher nicht zu Unrecht 4 8 4 ; aber die Unterschiede in den 475

Vgl. Scholem, Mystik 243; Scholem, Kabbala 136. 476 Vgl. Grunsky, Schau 81: „Ein Gott, der sich erst suchen muß, um sich zu finden". 477 Vgl. Grunsky, Schau 96. 478 Grunsky, Schau 88. 479 Böhme, Dreifaches Leben 3,1. 480 Grunsky, Schau 81. « ι Vgl. Grunsky 239. 482 Vgl. Grunsky 247. 4 « Scholem, Mystik 225. 484 Vgl Scholem, Kabbala 133, der festhält: „Die theosophische Kontemplation . . . hat . . . eine neue Mythenwelt aufgerichtet — eine Dialektik, die außerhalb der Kabbala in der Geschichte der Mystik wohl wenige bedeutendere und charakteristische Beispiele aufzuweisen hat als die Religion Jacob Böhmes, deren Affinität zur

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einzelnen Gliedern der beiden Ordnungen sind, wie bereits dargelegt, nicht zu übersehen. Oetinger jedoch kann sie aufheben dadurch, daß er die beiden voneinander unabhängigen Reihen unter einem einheitlichen Bewegungsprinzip betrachtet. Über die daraus resultierenden inhaltlichen Veränderungen ist bereits gesprochen worden. Soll Oetinger nicht Unrecht getan werden, indem man entweder die Qualitäten oder die Sefiroth zum Ausgangspunkt und Maß der Kritik nimmt, so muß nochmals versucht werden, Oetinger an seiner ureigenen Konzeption zu fassen, unabhängig von den Erläuterungen zur Sefirothtafel und unabhängig von der Apologie Böhmes, auch wenn in beide Eigenständiges schon eingegangen ist. Es soll darum hier eine kurze Untersuchung angeschlossen werden, bei der weder die „Lehrtafel" noch die „Irdische und himmlische Philosophie" herangezogen werden. Außerhalb dieser genannten Schriften ergibt sich dann folgendes Bild: Oetinger benutzt neben den Ausdrücken Sefiroth und Qualitäten auch den Terminus „sieben Geister". 4 8 5 Damit führt er nicht einen neuen Ausdruck ein, denn auch Böhme nennt schon die sieben Qualitäten sieben Geister 4 8 6 ; er gibt jedoch seine neben Böhme vorhandene Vorlage an: Er beruft sich auf die Bibelstelle Apk 4 , 5 4 8 7 : „vor dem Thron brennen Welt der Kabbala nicht mit Unrecht schon seinen ältesten Gegnern aufgefallen ist und die in Vergessenheit zu bringen der neueren Böhme-Literatur groteskerweise gelungen ist" (vgl. auch Scholem, Mystik 259). Auch Häussermann 216 sieht „was die Grundidee anbelangt" die Rechtmäßigkeit der Parallelsetzung von Qualitäten und Sefiroth. Allerdings ist es ihm eine „nicht allzu wichtige Frage", „wie weit die Glieder der beiden Reihen im einzelnen einander entsprechen". Dennoch unterzieht er sich der Aufgabe, in einem Exkurs ( 2 8 I f f ) den Entsprechungen zwischen der Symbolik Böhmes und derjenigen der Kabbala nachzugehen. Dabei k o m m t er zu dem Schluß, daß sie „sich von den mehr formalen Zügen bis in die letzten Aussagen hinein" (281) erstrecken. „Nahezu identisch" sei „der Rahmen und die Reihenfolge der Bilder". Seine Gegenüberstellung der einzelnen Glieder (vgl. 284f) wirkt jedoch — auch als Sachparallelen — gezwungen. Zuzustimmen ist ihm uneingeschränkt bei seiner Feststellung, daß man bei der Untersuchung solcher Ordnungen „zuletzt zu archetypischen Strukturen des menschlichen Bewußtseins überhaupt [gelangt], die dadurch entstehen, daß dieses sich gegen das Chaos der andringenden Bilder durch Unterscheidung und Ordnung wehren m u ß " (28 l f ) — so kann die von Scholem festgestellte Affinität und die von Benz (Kabbala 31) erhobene Verwandtschaft von Kabbala und J a k o b Böhme gesehen werden, nicht aber in der Identifizierung beider Ordnungen. In seinem Aufsatz „Pictura Docens" spricht Häussermann dann auch nur noch von der inneren Verwandtschaft der Theosophie Böhmes mit den Grundkonzeptionen der Kabbala (vgl. 68). 485

Die Begriffe müssen nicht an allen Stellen in Eigenständigkeit umlaufen; Oetinger kann sie auch als miteinander identisch ansehen (vgl. 2,2. 351; LT 95f; 2,2. 233; Wörterbuch 809 u.ö.). Wie weit das rechtens ist, wird sich noch erweisen. 486 Vgl. Böhme, Mysterium Magnum 6,21. 487 Vgl. LT 94 u.ö.

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sieben Feuerfackeln, die die sieben Geister Gottes bedeuten." Daneben nennt Oetinger in der Selbstbiographie einen weiteren Bezug: „Ich konnte aber nichts finden als die sieben Geister Gottes, die als etwas Besonderes vor Gottes Thron und als brennende Fackeln dargestellt werden, und die ,Gestalt Gottes' in Philipper 2,6". 4 8 8 Damit sind bereits zwei Charakteristika der sieben Geister aufgezeigt, die durch andere Stellen bestätigt werden: das Gestalthafte und das Bewegtsein. Im einzelnen wird von Oetinger festgehalten: Die sieben Geister sind die Ausdrucksform für die Einheit und gleichzeitige Vielfältigkeit der Kräfte, die das Leben ausmachen 489 , für die Einheit in der Vielheit als Unzer teilbar keit 490 ; in dieser Wesensform eignet jedem der sieben Geister Einzelheit als „Übergewalt" über die anderen 491 , insoweit sie sich durchdringen, ohne sich dabei allerdings zu vermischen. 492 Jeder Geist hat also Selbständigkeit, um sein Wesen innerhalb der Einheit zum Tragen zu bringen, er verliert sie, um einer anderen ,Eigenschaft' Raum zu geben, jedoch nicht als kausales Nacheinander, sondern als sich gegenseitig durchdringendes Ineinander, als „Inexistenz". 493 Als Funktion weist Oetinger den sieben Geistern zu, die „Augen, Ohren, Hände, Arme, Finger" Gottes zu sein 494 , womit Gott zum Wirken kommt. 4 9 5 Sie sind also keineswegs bloß ein Leben als bewegendes Moment, sondern sie bilden die ,Leiblichkeit' Gottes. 496 Und weil Gott Leiblichkeit eignet, nur darum kann die Schöpfung, die geschaffene Kreatur, leiblich sein, nur weil es die Augen, die Ohren, die Hände, die Arme, die Finger Gottes gibt, kann auch von Augen, Ohren, Händen, Armen, Fingern des Menschen gesprochen werden. „Demnach glaube ich, daß diese Lehr von den sieben 488

Roessle, Selbstbiographie 35. 489 v g l Wörterbuch 636; Metaphysik 419 u.ö. 490 Vgl. Theologie 56 u.ö. 491 Vgl. Theologie 56. 492 Vgl. Theologie 56. 493 2,2. 261; zur Abwehr idealistischer als auch materialistischer Philosophie mit ihrer Auflösung und Zersplitterung der Einheit benutzt Oetinger für den oben angeführten Vorstellungsbereich den Ausdruck Intensum (zum Begriff vgl. Auberlen 136ff; Benz, Geistesahnen 287; Burger, Gedankenwelt 154ff; Burger, Schwabentum 127; Hardmeier 28; Häussermann 329ff; Hauck, Geheimnis 88ff = Hauck, Naturphilosophie 97ff; Ohly 24; Zinn 29ff); seine Definition: ,,Είη Intensum ist kein zusammen gesetztes Wesen, sondern ein durch das ewige Wort aus Kräften essentiiertes und simplificiertes Wesen. Essentiare heißt ad Intensitatem et inexistentiam potentiae in potentia redigere" (2,2. 346). 494 Metaphysik 523. 495 Vgl Theologie 134, wo Oetinger für diese Beschreibung den Ausdruck „übermechanische Kräfte" verwendet. 496 Auberlen 663 sieht in seiner Erklärung zur Stelle nur diesen Aspekt: Sie sind „nichts Anderes . . . als die besonderen Momente der geistlichen Leiblichkeit"; das Bewegungsmoment wird von ihm nicht in den Blick genommen.

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Geistern und von den Original-Kräften mehr gedenklicher ist, als die Lehre von unendlichen Monaden, welche keine Bewegung, Figur, Zeit, Raum und Ort haben, und doch Bewegung, Zeit, Raum und Figuren hervor bringen sollen". 4 9 7 Für Oetinger ist also unvorstellbar, von jemandem Wesen und Wesentlichkeit zu bekommen, der selbst nicht Wesen und Wesentlichkeit ist. Darum ist Gott in seiner Leiblichkeit auch tätiges Wesen mit einem Ziel: „Gott schuf, Gott sprach, Gott sah" sind die Wirkungen der sieben Geister, es sind jene Wirkungen, durch die und mit denen Schöpfung wird 4 9 8 ; die sieben Geister sind sowohl .Eigenschaft* Gottes als auch seine Wirkungen — im Innen und Außen. Dabei aber ist zu beachten, daß die sieben Geister nicht die bewegende Macht sind, die mit Gott umgeht, sondern sie „werden von Gott regiert". 4 9 9 In den sieben Geistern zeigt sich Gott als „ein freies, bewegliches, lebendiges Wesen" 5 0 0 ; seine Freiheit erlaubt ihm, „Wirkungen von sich [zu] geben, daß die Welt keine Emanation, kein notwendiger Ausfluß von ihm ist". 5 0 1 Es wurde deutlich: Oetinger geht auch hier aus von dem biblischen Bef u n d ; die sieben Geister sind ihm das Bild für die Wirklichkeit Gottes als bewegendes Leben, das sich zur Gestalt drängt. Zum zweiten: Gott wird und ereignet sich nicht außerhalb der Wirklichkeitsabläufe der Natur: Newtons Zentralkräfte lassen — rückschauend — erkennen, wie sich Gott ereignet bzw. warum die Kräfte der Natur als Zentralkräfte wirken. Ohne Gott als ,Zentralkräfte' können Zentralkräfte der Natur nicht sein; anders ausgedrückt: aus den Abläufen der Natur läßt sich Gott als der auch gestalthaft sich Ereignende, der Werdende erschließen. 5 0 2 So gilt auch für Oetinger, was Leese von J a k o b Böhme sagt: Er „verwirft den naturlosen Gott, der ,allein über dem blauen Himmel oder den Sternen wohnt', ohne der Erde .gegenwärtig' zu sein". 5 0 3 Soll aber dieses Wissen nicht zu allgemeiner Plattheit abgeschwächt werden, so muß die ,Eigenwertigkeit' der einzelnen Glieder im Gesamt des unauflöslichen Bandes zur Darstellung kommen — dies geschieht bei Oetinger eben mit den Bildern der sieben Geister, der Sefiroth und der Qualitäten, die beiden letzteren jedoch nicht in der ihnen eigenen, sondern der von Oetinger ihnen gegebenen Deutung 5 0 4 : 497

Metaphysik 539 u.ö. Vgl. 2,4. 84; Wörterbuch 457; Theologie 134. 499 Wörterbuch 45 7. 500 2,6. 160. so· 2,6. 160. 502 Es dürfen allerdings die im Kapitel 4.1a zum Verhältnis Oetingers zu Newton gemachten Einwände nicht übersehen werden. 503 Kurt Leese, Die Religionskrisis des Abendlandes und die religiöse Lage der Gegenwart, Hamburg 1948, 332. 504 Im Gegensatz hierzu konstatiert Auberlen 668 zwischen Böhmes Naturgeistern, 498

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sie werden unter einem bestimmten Bewegungsprinzip gesehen — dem der Newtonschen Zentralkräfte. Zweifellos geht damit die Böhmes Qualitäten inneliegende Verwirrung, das Knäuel widersprüchlicher und ängstigender Kraftzentren, der Kampf der Finsternis mit dem Licht verloren, aber Oetinger gewinnt daraus den Wesenszug Gottes als eines nicht-Statischen, eines lebend-Bewegten, eines werdend-Sichverändernden. Dennoch gilt auch, daß Oetinger nicht mehr in dem Maß wie Böhme an der Geburt Gottes interessiert ist. Die Qualitäten und noch mehr die Sefiroth werden in größerem, fast sich verselbständigendem Ausmaß zu Mittelgliedern, zum „Übergang von Gott zur Welt" 5 0 5 ; die Sefiroth sind „bei Oetinger doch eindeutig in den Dienst der Kosmologie getreten". 5 0 6 Unter dem Aspekt der Kosmogonie dominiert die Sefirothlehre über die Qualitäten Böhmes 5 0 7 ; gleichzeitig gewinnt Oetinger damit aber wiederum „die unmittelbare Nähe der göttlichen Wirksamkeit in dieser Welt". 5 0 8 Mit Zinn 5 0 9 ist bei Oetinger im Gegenüber zu Böhme der Verlust an Abgründigkeit zu konstatieren, weil nicht mehr Liebe und Zorn, Tod und Leben, Licht und Finsternis in seinen Qualitäten vorherrschen; im Verhältnis zu denen aber, die er als seine Gegner bezeichnet, gewinnt er Bewegung in Gott, Leben in Gott und damit Leben und Bewegung in der Kreatur. Gott als Leben konzentriert sich aber auf seine Leiblichwerdung; das läßt Oetinger „das Verhältnis Gottes zur Kreatur als die einer substantiellen Kontinuität bestimmen". 5 1 0 Zinn spricht diesen Satz mit Bedauern aus, weil Oetinger dadurch am eigentlichen Schöpfungsglauben gehindert würde.

den kabbalistischen Sefiroth und Oetingers sieben Geistern keinerlei inhaltlichen Unterschied. Daß verschiedene Namen verwendet werden, „tut Nichts zur Sache"; daß bei Oetinger das Moment der Ausbreitung dem der Zusammenziehung vorausgeht, während bei Böhme der Vorgang umgekehrt abläuft, ist nur ein „unwesentlicher Unterschied". So sehr Auberlens Arbeit auch noch heute ihren unschätzbaren Wert besitzt, so muß doch auch gesagt werden, daß sein Urteil anders ausgefallen wäre, hätte er den Abweichungen innerhalb der einzelnen Ordnungen Rechnung getragen; denn auf diese Weise hätte er die „harte, bittere Schale" (23) der Schriften Oetingers aufgebrochen, denn sie beinhaltet ja doch mehr als „alchemistisch-kabbalistische Sonderbarkeiten" (14). 5 °5 Leese, Böhme/Schelling 38 (Sperrung getilgt). 506 Trautwein 141. 507 So auch Zinn 179, die Oetinger eine außerordentliche Vorliebe für die Kabbala bescheinigt; auch Trautwein 150; seine Folgerung, „das Ganze trägt den Stempel der Kabbala" (151), ist jedoch zu einseitig und übersieht, daß die Erklärung der Lehrtafel, von der Trautwein ausgeht, den Überhang von der Sache her haben muß, die übrigen von ihm genannten Stellen sich jedoch an den Sprachgebrauch und die inhaltliche Füllung Böhmes halten. sos Mann 223. 509 Vgl. Zinn 178. 510 Zinn 178.

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Doch das Gegenteil trifft zu. Oetinger setzt Schöpfung nur nicht im Bereich des Wunderhaften an, sondern ihn lehren seine chemischen Experimente, ganz besonders sein Melissenexperiment, daß nur Leib und Form da auftreten können, wo Leib und Form .vorgebildet' sind. Soll der Satz „Leiblichkeit ist das Ende der Werke G o t t e s " 5 1 1 wahr werden und sein, so muß diesem Ende eben auch der Anfang als Leiblichkeit vorgeordnet sein. Wie zu Gottes Gottsein Leiblichkeit als wesentliche Dimension gehört, so auch zur menschlichen Wirheit und zur kreatiirlichen Weitheit 512 — darin besteht die Kontinuität 5 1 3 ; daß er damit nicht den Glaubensakt in bezug auf die Schöpfung aufgibt, wird ein nächstes Kapitel verdeutlichen. 5 1 4 Diese Kontinuität beinhaltet aber noch einen weiteren Aspekt, den es ebenfalls in einem nächsten Kapitel 5 1 5 zu untersuchen gilt: Stellt das .Äußere' das ,Innere' dar, so ist die göttliche Leiblichkeit nicht irgendeine Schale, sondern Bild für Gott selbst; dann aber hat die kreatürliche Leiblichkeit etwas mit Gott zu tun, dann sind ihr Wesensmerkmale eigen, die Gott zukommen, dann trägt sie Wesenszüge göttlicher Leiblichkeit.

b) Gottes Freiheit. Seine Selbstbewegungskräfte. Oetingers Position in der Auseinandersetzung Zu Beginn dieses Abschnitts nochmals zurück zu den sieben Geistern. Sie vermitteln — wie gesehen — den Freiheitsdrang in Gott; sie sind der Erweis für die Freiheit Gottes dadurch, daß er sich mit ihnen „Ausgänge" schafft. Für Oetinger sind die sieben Geister also auch jene Kräfte, mit denen sich Gott selbst ein Kommunikationsmittel gibt. 5 1 6 Eigentlich anfanglos setzt er sich selbst einen Anfang, um so seine Freiheit zu postulieren: seine Freiheit als einen ihn konstituierenden Wesenszug und die Freiheit der Schöpfung im Gegenüber zur kausalen Notwendigkeit als Ausfluß aus seinem Wesen. Oetinger sieht die Freiheit in Gott grundsätzlich uneingeschränkt und unbeschränkt. Es ist allerdings für ihn ohne großes Ergebnis, von Gottes Freiheit an sich zu reden, denn darüber läßt sich eigentlich eben so viel S1

· Wörterbuch 407. Hier bestätigt sich wieder, daß aus der Naturbetrachtung nicht Gott erkannt werden kann, daß aber der wesentliche Zug Gottes durch den wesentlichen Zug der Natur sich bestätigt, dem Menschen anschaubar wird. 513 Kontinuität bedeutet nicht Kreislauf, wie bereits bei der Rad-Vorstellung erörtert. 514 Vgl. Kapitel 4.2c dieser Arbeit. 515 Vgl. Kapitel 4.2cb dieser Arbeit. 516 Vgl. LT 93. 512

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oder wenig sagen wie über Gott in seinen Tiefen. 5 1 7 Oetinger definiert daher die ewige Freiheit Gottes in Übernahme Böhmes als „das einige ewige Gute", „eine in sich selbst wirkliche wesentliche geistliche Kraft", „die allerhöchste einfältigste Demut im Wohltun". 518 Freiheit aber wird relevant, indem und wenn sie sich in bezug setzt und in bezug gesetzt wird; sie setzt sich in bezug zu Gottes ,Begehren': „Freiheit beschattet sich mit der Begierde Wesen: daher sind zwei Contraria" 519 : „eine nach der ewigen Freiheit, die da frei ist von aller Resistenz, Einschränkung und treibenden Wesen, und die andere nach der Begierde, welche ein vegetabilisch Leben gibt". 5 2 0 Für Oetinger steht fest: Gott ist notwendig. „Es ist unmöglich, daß er nicht sei". 521 Aber Gottes Notwendigkeit liegt in seinen Tiefen als Leben und als ewige Freiheit. Aus dieser in Gott einbeschlossenen Notwendigkeit folgt jedoch nicht die Notwendigkeit der Schöpfung. 522 Wegen seiner Freiheit ist Gott nicht auf die Hervorbringung einer Welt gewiesen und nicht angewiesen. 523 So wird Schöpfung weder aus dem inliegenden notwendigen Impuls der Natur, noch aus der inliegenden Notwendigkeit Gottes, sondern allein aufgrund seiner Güte aus souveräner Freiheit. 524 Gott ist zwar „ein notwendiges, aber zugleich allerfreiestes unumschränk517

Vgl. 2,2. 202. si» 2,2. 202. si» 2,2. 241. 520 2,2. 202. s2» 2,2. 201; vgl. 2,6. 160 u.ö. 522 Vgl 2,6. 160: „Seine Notwendigkeit zu sein bringt keine Notwendigkeit zu wirken mit sich." 523 Vgl dazu A n m . 2 von Hamberger in Theologie 267. 524 Vgl. 2,2. 12. 88 u.ö. und W.A. Schulze, Oetingers Beitrag zur Schellingschen Freiheitslehre, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 54. Jg. 1957, 216: „Gut augustinisch lehrt er [Oetinger], daß der Entschluß zur Weltschöpfung nicht ex necessitate, sondern ex beneplacito Dei erfolgt sei". Hauck, Naturphilosophie 213 = Hauck, Geheimnis 178 sieht das Wesen Gottes verengt, wenn er Freiheit als „eine der Haupteigenschaften Gottes" ansieht und sie lediglich als „Willensfreiheit" deklariert. Dieser Begriff ist in der Philosophiegeschichte viel zu sehr durch Erörterungen in der Anthropologie (so auch bei Oetinger, vgl. 2,3. 505; 1,2. 488 u.ö.) besetzt, als daß durch diesen Ausdruck das sich in G o t t abspielende Werden, das Freiheit setzt, ausgedrückt werden könnte. Oetinger spricht zwar auch vom „freien Willen Gottes" (2,2. 345), tut es jedoch sehr selten und dann in bezug auf die Schöpfung (vgl. auch Zinn 42). — Schon Auberlen fragt nach dem Verhältnis von Wille und Wesen (vgl. 184) und bietet als Lösung die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit im Begriff der manifestatio sui an; „darin gleichen sich Wille und Wesen Gottes mit einander aus, denn das Wesen Gottes ist die ewige Selbstbewegung und die ewige Selbstbewegung ist der Wille" (184). Damit hat er Oetinger zutreffend interpretiert, denn Oetinger schreibt: „So heißt man diesen Trieb sich zu offenbaren, den Willen" (PhilAlt II 40) — das Wesen Gottes aber ist auf Offenbarung angelegt.

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tes Wesen, an nichts gebunden". 525 Die Notwendigkeit liegt also ausschließlich in den Tiefen Gottes beschlossen und hat keine Kausalität zur Folge. Ginge Gott kausalnotwendig aus sich heraus, so wäre die Welt eine ewige Emanation aus ihm, oder anders gesagt: Gott sähe sich gezwungen, die Welt zu schaffen, „er könnte niemals sprechen: ich will eine Welt schaffen". 526 Um dem zu wehren, muß der Notwendigkeit die kausale Bedingung genommen werden. Das Mittel dazu sind aber eben die Qualitäten/Sefiroth/sieben Geister. Denn mit ihnen kann Gott — obwohl das unauflösliche Band nicht gesprengt wird — „nach Willkür Wirkungen von sich geben, daß die Welt keine Emanation, kein notwendiger Ausfluß von ihm sei". 527 Diesen Wirkungen nach außen liegt aber eine innere Spannung von Kräften zugrunde, die Oetinger Selbstbewegungskräfte nennt. 5 2 8 „Gott, indem er sich selbst offenbart, hat sich freiwillig zu einer solchen ewigen Bewegung bewegt". 5 2 9 So sind Leben und Selbstbewegung „die erste und höchste Ideen von GOtt als einem Geist". 530 Wegen dieser Gott innewohnenden Selbstbewegung ist Gott kein „necessirtes Wesen, das keine Freyheit hat" 531 — für Oetinger ist Freiheit Gottes ohne Selbstbewegungskräfte nicht denkbar. Gott kommt diese Freiheit aber nicht lediglich als Attribut zu, sondern sein Wesen lebt von » s 2,6. 160; vgl. Wörterbuch 345. 452 u.ö. 526 2,6. 160. s " 2,6. 160. 528 Oetinger verwendet den Begriff nicht immer eindeutig. In Verbindung mit der Kabbala nennt er sie Selbständigkeit (oder ύπόστασις), Selbsterkenntnis und Liebe (vgl. LT 170) — auch für diese drei gilt das Bild vom unauflöslichen Band (vgl. LT 170); dann werden sie sowohl mit den Qualitäten Böhmes und den sieben Geistern in eins gesetzt (vgl. 2,2. 235. 244 u.ö.), als auch mit Böhmes drei Prinzipien (vgl. LT 149 u.ö.), dagegen aber nicht mit den Sefiroth (darauf verweist auch Auberlen 670) — womit wiederum bestätigt ist, daß die Selbstbewegungskräfte den Vorgang nach innen bezeichnen, die Sefiroth den nach außen. — Eine Gleichsetzung als Selbstbewegungskräfte von Prinzipien und Qualitäten bedeutet für Oetinger, daß man „die sieben Gestalten in einen Concept bringen [muß] mit den drei Principiis" (2,2. 235). Dieses Konzept sieht in den drei ersten Qualitäten das erste Prinzip Böhmes enthalten, in der vierten und fünften Qualität das zweite und in der sechsten und siebten das dritte. Nun versteht Böhme unter dem ersten Prinzip die ganze Finsterwelt mitsamt dem Grimmfeuer, unter dem zweiten die ganze Lichtwelt und unter dem dritten unsere Welt nach gut und böse (vgl. Grunsky, Ausziehtafel). Der von Auberlen festgestellten Identität von Böhmes Prinzipien mit Oetingers Prinzipien gemäß der Kabbala kann ich darum nicht folgen, zumal Auberlen in seinem Beweis sich eindeutig nicht an Oetingers Konzept hält (vgl. 670). s29 1,2. 48. 530 LT 170; damit ist auch Hambergers Vermutung bestätigt, Oetinger bekenne sich offenbar zur Annahme, daß das Leben selbst das erste in Gott sei. Andernfalls „würde . . . Gott des eigentlichen Inhaltes und ebenso auch der höchsten Freiheit ermangeln" (Hamberger, Theologie 267; Sperrung getilgt). 531 LT 173. 187

der Freiheit: Gott ist Freiheit, aber er ist sie auch nicht bloß, sondern er will sie gleichermaßen — für sich und für seine Schöpfung. Dieser Grundgedanke durchzieht alle Schriften Oetingers; er gerät ihm zum Streitpunkt mit Malebranche, als auch mit Leibniz und selbst mit Böhme. 5 3 2 Oetinger läßt sich dabei wiederum die Schriftaussagen von Newton bestätigen 5 3 3 : „Ohne Newtons Philosophie wird man aus dem Anschauen der Natur leicht . . . einer der Gott in die Notwendigkeit der Naturkette einschließt". 5 3 4 Da Newton aber die „libertatem Dei in creando auf schärfste dargetan" 5 3 5 hat, lassen sich mit seinen Erkenntnissen am ehesten die Fehler anderer Systeme aufzeigen, obwohl auch von ihm zu sagen ist: „Wir hätten weder Leibniz noch Newton nötig, wenn wir bei der heiligen Schrift blieben". 5 3 6 Die widersprüchlichen Standpunkte sollen nunmehr untersucht werden. ba) Male branches

Occasionalismus

Im System von Malebranche steht für Oetinger als Angriffspunkt die Lehre von den Bewegungskräften. 5 3 7 Malebranche argumentiert, daß es dem Menschen an einer klaren Vorstellung darüber fehle, was eine — von Malebranche vorausgesetzte — Kraft in den Körpern wirkt. Darum könne auch nicht bestimmt werden, unter welchen Umständen ein Körper sich bewegt oder in welcher Art er andere Körper bewegt. Obwohl es Beobachtungen über die Gleichförmigkeit von Bewegung bei Körpern gäbe, könne daraus nicht eine notwendige Verbindung zwischen ihnen erschlossen werden. Das Fehlen einer intrinsischen Kraft könne darum als Beweis für die Abhängigkeit der Bewegung von Gott angesehen werden. Alles Geschehen geschieht also allein kraft göttlichen Willens. Grundlage dieser Lehre bildet die Gleichsetzung von Körperlichkeit und Ausgedehntheit. Für Malebranche stellt die Ausdehnung das Wesen eines Körpers dar. Körper sind zwar beweglich, aber sie besitzen von sich aus keine bewegende Kraft. Kein Körper kann sich selbst in Bewegung setzen, und, da er selbst keine bewegende Kraft besitzt, kann er auch keinem anderen Körper bewegende Kraft übertragen. Malebranche argumentiert weiter: Da ein Körper abhängig von Gott ist, muß Gott ihn nicht allein schaffen, sondern auch erhalten. Wenn Gott Vgl. 2,6. 256; Wörterbuch 345 u.ö. 533 Vgl. 2,6. 256; Metaphysik 599; 2,2. 201 u.ö. 534 PhilAlt II 167. 2,6. 256. «β 2,6.257. 537 Oetinger bezieht sich auf Malebranches „Traité de la nature et de la grâce", vgl. 2,2. 1 7 8 - 1 9 4 .

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bestimmt, daß ein Körper erhalten bleiben soll, so muß er wollen, daß er entweder in Ruhe oder in Bewegung erhalten werden muß. Gott will also — so oder so — eine Wirkung bewirken und hervorbringen; damit ist er die vera causa, die véritable cause, einer jeden Bewegung in Körpern. Gott selbst ist also der einzig Handelnde — das ist seine Allmacht —, er ist der, dem alle Wirksamkeit vorbehalten ist; der Kreatur geht jede Fähigkeit zum Handeln und Wirken ab. Darin aber erweist sich für Malebranche Gottes Souveränität; denn die Annahme wirkender Kräfte in der Kreatur oder auch nur mitwirkender Kräfte wäre — theologisch gesehen — eine Vergottung der Kreatur. Gott handelt also als der einzig Handelnde; sein Handeln geschieht jedoch in Übereinstimmung mit bestimmten, allgemeingültigen Gesetzen. Auch wenn die Bewegungsgesetze aufgrund eines Aktes der Willkür Gottes gesetzt sind, so sind sie dennoch endgültig und — vor allem — unabänderlich. Es sind zwar Bewegungsgesetze538, aber als allgemeingültige, unabänderliche Gesetze, als Gesetze in „Formulas algebraicas" 5 3 9 , tragen sie für Oetinger den Charakter von Gesetzlichkeit und vorgeschriebenem Ablauf 5 4 0 , denen sich Gott anzupassen hat — ihnen fehlt Leben, denn trotz „aller Régularité" sind — so Oetinger — „Bewegungsgesetze voller Widerspiel" 5 4 1 — das steht bei Malebranche jedoch in Abrede. Keine Kombination von Bewegungskräften kann für Oetinger „Gottes Bild ausdrücken ohne die ursprünglichen Lebenskräfte". 5 4 2 Wenn Gott aufgrund der ein für alle Mal aufgestellten allgemeinen Gesetze wirkt und handelt, dann mangelt ihm Leben und damit Freiheit. Für Oetinger erschöpft sich Freiheit Gottes nicht im ersten, freien Akt der Setzung, ebenso auch nicht im Eingreifen Gottes gemäß den allgemeinen Gesetzen 5 4 3 , sondern sie ist „Willkür" derart, daß sie eingreift, wie und wo es ihr paßt aufgrund der ihr zugeordneten Güte 544 ; Gottes Souveränität zeigt sich nicht darin, daß er der notwendig Bewegende ist 5 4 5 , sondern daß er der ist, der sich in seinen Gestalten als Qualitäten/ 538 Vgl dazu 2,1. 271, wo Oetinger Malebranche als „gottselig" beschreibt, weil er die „Theorie von den Gesetzen der Naturbewegung" anerkennt, ihn aber dann dahin belehren muß, daß „man doch nicht mathematisch überwiesen werden könne" (2,1. 272; Kursivdruck nicht im Original). 539

2,2. 251. Vgl. 2,2. 180 Anm. d. 542 s « PhilAlt II 161. 2,2. 181 Anm. d. 543 Malebranche unterscheidet den ersten Beginn der Welt, den Gott mit einem freien Willen als gänzlich freien, an keinerlei Gesetz gebundenen Akt gewollt hat, und das spätere Weltgeschehen, in das Gott nach den allgemeinen Gesetzen eingreift, indem er als cause générale alle Ereignisse bewirkt. 544 Vgl. 2,2. 182 Anm. e; 2,2. 181 Anm. e; 2,4. 7; 2,2. 12 u.ö. 545 Vgl_ 2,2. 181 Anm. e: „Gott ... wendet seine Macht gegen die Kreaturen nicht anders an, als wie es sich aus der Kombination der allereinfachsten und kürzesten Bewegungs-Gesetze ergibt". s40

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Sefiroth/Geister „alle Moment anders gestalten" kann 5 4 6 — Newtons Bewegungsgesetze, das Bewegungsprinzip, was Qualitäten/Sefiroth/Geistern innewohnt, garantieren diese Freiheit Gottes. Gottes Freiheit erweist sich — so Oetinger — gleichermaßen auch an der Freiheit seiner Schöpfung; seine Freiheit erschöpft sich nicht in sich selbst, sie profiliert sich auch nicht an der Unfreiheit der Kreatur, sondern sie braucht geradezu die Freiheit der Kreatur als von ihm gegebene Selbstbewegungskraft. Sind die Körper bei Malebranche ohne bewegende Kraft zu denken, so ist für Oetinger phänomenologisch erhärtet: „Wir sehen . . . tausendfach aus den Geschöpfen, daß Gott eine Selbstbewegung in sie gelegt und das ist genug, wenn ich schon nicht weiß, wie sie ist". 5 4 7 Geht bei Malebranche den Körpern die Fähigkeit zum Wirken und zum Handeln ab, so hat bei Oetinger Gott die Natur versehen mit einer „tätigen Kraft" s 4 8 , wodurch „ein Ding seinen Zustand aus sich selbst ohne Bewegung von einem andern" 5 4 9 verändert. Abschließend läßt sich sagen: Die Ablehnung durch Oetinger läßt sich prinzipiell nur zurückführen auf einen grundsätzlichen Unterschied: Gott ist bei Malebranche bewegungslos, bei Oetinger sich ständig in seinen „Gestalten" bewegend und damit verändernd; bei Malebranche ist daher dann auch Freiheit gekoppelt mit der Allmacht Gottes, bei Oetinger liegt Freiheit gegründet in den göttlichen Selbstbewegungskräften. Oetinger kann von Freiheit unmöglich sprechen, wenn Gott selbst ohne Bewegung ist: Freiheit ist nicht „ohne die ursprünglichen Lebens-Kräfte, ohne die sieben Geister Gottes". 5 5 0 Der Mangel an Selbstbewegungskräften bewirkt also den Mangel an Freiheit, den Oetinger bei Malebranche konstatiert. bb) Leibnizens

Panlogismus

Wie bereits gesehen 551 wirft Oetinger Leibniz vor, er widersetze sich der Einsicht, daß Gott Dinge tue, um seinen Willen und seine Souveränität zu betonen. 5 5 2 Leibniz hält fest 5 5 3 : Aus den Gegebenheiten dieser Welt läßt sich kein zureichender Grund ersehen, der einsichtig macht, warum eine Welt bes4« 2,2. 14. 547 2,2. 185 Anm. i. 548 Wörterbuch 686. s4« Wörterbuch 68 5f. s » 2,2. 181 Anm. d. 551 Vgl. Kapitel 2.3d dieser Arbeit. 552 Vgl. 2,2. 206. 553 Vgl. zum folgenden E. Cassirer, Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902; Aron Gurwitsch, Leibniz, Berlin/New York 1974; Christian D. Zangger, Welt und Konversation, Zürich 1973.

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steht und warum gerade diese. Die Realität der Wesenheiten und der Wirklichkeiten verlangt einen letzten Grund, der früher als die Welt ist, da durch diesen nicht nur das Wirkliche, sondern auch das Mögliche seine Existenz hat. In diesem letzten Grund, in G o t t , fallen Essenz und Existenz zusammen; Gottes „Ideen enthalten das Konstitutivprinzip des Denkens, seine Wirklichkeit das des S e i n s " . 5 5 4 Gott ist auf Beziehung nach außen bereits angelegt, noch bevor sie zur Verwirklichung k o m m t , jedoch nicht automatisch, sondern durch Verwirklichungsbeschluß Gottes 5 5 5 : Gott ist Urheber und Erhalter des Universums. Leibniz postuliert also die freie Wahl Gottes bei der Erschaffung der Welt; zu fragen ist, wie sich diese freie Wahl darstellt. Leibniz nennt Gottes Verstand die „Region der ewigen Wahrheiten". Ewig heißen diese Wahrheiten, weil sie nicht für eine bestimmte Welt, sondern für alle möglichen Welten gültig sind, also unabhängig von R a u m und Zeit, auch unabhängig vom Willen Gottes. Diese ewigen Wahrheiten bilden den Bereich des Möglichen, aus dessen Umfang — der größer ist als der des Wirklichen — später das Wirkliche ausgeschieden wird. Möglich ist nur, was nicht in sich selbst widersprüchlich ist; das In-sich-selbstWidersprüchliche ist von der Wahl Gottes von vornherein ausgeschlossen. Gottes Wahl bezieht sich auf eindeutig bestimmte Möglichkeiten; damit ist im Begriff einer möglichen Substanz sowohl ihre ganze spätere Geschichte, ihre Verbindung mit den Begriffen aller anderen Substanzen, als auch das Dekret Gottes, die Substanz ins Leben zu rufen, gegeben. Innerhalb der Begriffe möglicher Welten besteht ein Ordnungsgefüge, das der Wahl Gottes zugrundeliegt und ihr voraus ist. Die Wahl Gottes findet statt zwischen den in seinem Verstand vorfindlichen möglichen Welten und ihren innewohnenden Ordnungen. Gott wird nicht unmotiviert wählen, aber er wird die Welt wählen, die sich als die beste und vollkommenste darstellt. Von den unendlichen Kombinationen des Möglichen muß diejenige existieren, durch die „ m e i s t e " Wesenheit zur Existenz kommt. Die meiste Wesenheit muß, um nicht den Charakter des Chaotischen zu bekommen, sich qualifizieren: ästhetisch und ethisch. Nun wird von Oetinger der Bedeutungsgehalt der Einschränkung der unendlichen Möglichkeiten auf bestimmte Wirklichkeiten — und zwar durch das Dekret Gottes, das sich dadurch ausweist, daß G o t t seine Willensbeschlüsse nicht wie der Mensch von Fall zu Fall den jeweiligen Umständen entsprechend trifft — nicht akzeptiert. Oetinger sieht den 5 » Zangger 8. 5 5 5 Zangger 10 weist darauf hin, daß die freie Wahl Gottes hier den Charakter eines retardierenden Moments bekommt.

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Gottesbegriff von Leibniz eingeengt auf eine „Vorstellungskraft der möglichen Welten" 556 , von denen eine ausgewählte dann auch zur Existenz zugelassen wird; dies nennt Oetinger einen „Schwindelgeist" 557 ; diejenigen, die ihm anhängen, sind darum „entfremdet von der Idee des unauflöslichen Lebens Gottes" 558 ; doch nur diese Idee verwirklicht — so Oetinger — echte Freiheit Gottes. 5 5 9 Für Leibniz gilt: „Bevor also Gott die Erschaffung einer Welt beschließt, ist er bereits auf die Idee möglicher Welten bezogen, sie liegen wohl nicht seinem Sein, aber doch seinem Wollen und Handeln voraus" 560 ; Oetinger sieht in diesem Ansatz „Konzepte . . . vor Gott, wenigst Gott gleich ewig" 561 — so aber wird Gottes Freiheit beschnitten, denn Gott ist „an nichts gebunden, auch nicht von den möglichen Welten voraus bewegt". 562 Leibniz selbst versteht Gottes Bestimmtsein durch seine Ideenwelt nicht als Freiheitsbeschneidung; solange Freiheit definiert wird 563 im Gegensatz zur Fremdbestimmtheit und zur absoluten Notwendigkeit, ist das von Gott vollzogene Dekret zwar ein in seinem Wesen begründetes, aber doch freies Dekret; Oetinger sieht darin Determinismus 564 , Leibniz will dem Zufall und der 556

1.1. 376; vgl. Wörterbuch 345 u.ö. 1,1. 3 76. 558 1,1. 3 7 6. 559 Vgl. Wörterbuch 274 u.ö. 560 Zangger 14. 561 2,2. 208. 562 2,6. 160; vgl. Wörterbuch 345; 2,2. 245 (,Beweis'verquickung von Böhme und Ezechiel): „Jac. Böhme weiß so wenig etwas von den möglichen Welten als Ezechiel"; Auberlen 498: die Freiheit Gottes ist „mit ihrem Vorsatz keineswegs an ... die Rücksicht auf die Harmonie der Dinge . . . gebunden". 563 Vgl. Z U r Definition Zangger 51 Anm. 125. 564 Vgl 2,2. 209 u.ö.; vor diesem Hintergrund wird von Oetinger häufig der Satz vom zureichenden Grund angegriffen. Daß dieser Satz eine dominierende Stellung im Denken von Leibniz einnimmt, ist nicht zu übersehen; daß er mehrdeutig ist, erweist die wechselnde Verwendung: Er wird mit dem Identitätssatz zusammengesehen, als Gottesbeweis benutzt und mit dem principium indiscemibilitatis verbunden (vgl. Gurwitsch 87ff und Zangger 50 Anm. 122; dort finden sich auch Deutungsvarianten: als logisches bzw. formalontologisches Prinzip, als realontologisch-vortheologisches, als theologisch-teleologisches und als empiriologisches Prinzip). Doch Leibniz löst auch diesen Satz nicht in lauter Rationalität auf, vielmehr läßt sich aus dem Vorhandensein der ,,aeterna ratio" entnehmen, daß es „keinen (für uns ablesbaren) Hintergrund des Satzes vom Grunde" gibt, „weil wir die Vielzahl der Argumente Gottes nicht übersehen können" (Zangger 61). Oetinger läßt diesem Gesichtspunkt keinen Entfaltungsraum, er zielt in eine andere Richtung; Gott wird durch den Satz vom zureichenden Grund die Möglichkeit genommen, eine „Direktion oder Ausführung der Unordnung in die Ordnung" (2,2. 209) vorzunehmen — Oetinger sieht die Auswirkungen der These, Leibniz fragt nach der Grundlegung alles Seins und Werdens, mit Oetinger gesagt: „GOtt macht den zureichenden Grund, er setzt ihn nicht voraus" 557

(LT 146).

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Indifferenz wehren. Bloße Zufälligkeit oder grundlose Wahl oder außerplanmäßiges Eingreifen Gottes sind ausgeschlossen. Denn Gottes Verstand geht allem voraus und ist zuständig für die kunstvolle Zweckmäßigkeit des Plans, der Einrichtung und Erhaltung der Welt — die Welt isi im Verstand Gottes als Möglichkeitsmodell durchstrukturiert. Da Leibniz alle Einzeldekrete im Gesamtdekret Gottes einbegriffen sein läßt, sind die primären Wesenszüge Gottes daher seine Weisheit und seine Güte 5 6 5 ; dem widerspricht Oetinger: „Die Weisheit ist nicht das erste in GOtt, sondern die Freyheit" 5 6 6 ; die ,primären' Wesenszüge Gottes sind seine Freiheit und Güte. 5 6 7 Gottes Freiheit gründet sich in der inneren Spannung seiner Lebenskräfte, die zur Offenbarung drängen, doch seinem ,Verstand' weit voraus sind. 5 6 8 Daraus resultiert dann auch der Zufall, der die Freiheit Gottes — so Oetinger — bestätigt 5 6 9 , allerdings nicht als konstitutiv zu seinem Wesen gehört. Der Zufall bestätigt die Freiheit Gottes in zwei Richtungen: Es gibt „Begebenheiten, die sich selbst überlassen sind" 5 7 0 , wo „keine Bestimmung von Gott intendiert wird" 5 7 1 ; Gott läßt vieles geschehen, „bloß, weil er das Wohlgefallen seines Willens zu seinem Endzweck ausführen will" 5 7 2 — bei Oetinger also ein Gott, der gerade wegen des Zufalls — der durch die Freiheit Gottes, der Natur Selbstbewegungskräfte mitgegeben zu haben, gesetzt ist — als der Herr dieser Welt sich erzeigt und „ohne Schaden der Ordnung im Ganzen einen Zufall leiden und dirigieren" 5 7 3 kann. Es fällt schwer, Oetingers Streit mit Leibniz 5 7 4 , seine oft harte Abwehr zu verstehen, wenn der Versuch von Leibniz, alles Wirkliche in Gott seine ses Vgl a u c h Zinn 56f: „Während Leibniz die Freiheit Gottes durch die göttliche Weisheit modifiziert, die wiederum durch die moralische Notwendigkeit bestimmt wird, stellt Oetinger die .Freiheit göttlichen Willens über den Satz zureichenden Grundes' (Lt 157f)"; das verändert benutzte Zitat = LT 146. LT 146. 567 Vgl. LT 146; 2,2. 12; 2,6. 40: „damit man seine . . . Freiheit und Güte . . . bewundere und nicht denke, er habe mit seiner Weisheit sich nur wollen sehen lassen" u.ö. 568 Vgl. LT 146: „GOtt verbirgt seine Weisheit und offenbahrt seine Freyheit". 569 Vgl. 2,2. 208; Schneider 75ff legt den Streit zwischen Leibniz und Clarke dar und k o m m t zu dem Schluß, daß Oetinger „in dieser Diskussion auf seiten Clarkes" stehe (76); Oetingers Darstellung der Positionen von Leibniz und Clarke findet sich in 2,2. 206; vgl. dazu auch Ohly 5 c f f . 570 2,2. 2 0 8 . 5"" 2,2. 2 0 9 . 572 2,2. 208; vgl. LT 146: „GOTT läßt einen Zufall zu, damit er weislich handle und dirigiré". 573 2,2. 2 0 9 . 574 Hauck, Naturphilosophie 184, sieht den Hauptunterschied zwischen Leibniz und Oetinger in der verschiedenartigen Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft 13 G r o ß m a n n , Oetinger

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Begründung finden zu lassen, ernst genommen wird. Oetingers Haltung läßt sich auch nicht nur als bloße Abwehr jeglicher Rationalität verstehen, denn er selbst will und kann j a nicht vollständig auf sie verzichten. 5 7 5 Seine Einstellung erklärt sich eher, wenn alle Spannungen auf den prinzipiellen Streit um das Wesen Gottes zurückgeführt werden. Oetinger verkennt gewiß bei seiner Beschäftigung mit der Philosophie von Leibniz manche der Ansätze. A u f einen soll noch etwas näher eingegangen werd e n . 5 7 6 So wenig Oetinger die ,Lebendigkeit' der Monaden bei Leibniz beachtet hat, so wenig vermerkt er die Betonung des antimechanistischen Prinzips. Antimechanisch ist bei Leibniz die Beziehung G o t t e s zur Welt, indem G o t t die beste der Welten wählen und zur Existenz bringen kann. Mechanisch erklärt werden müssen dagegen die Naturvorgänge. „Das besagt, daß alle körperlichen Phänomene auf Druck und S t o ß , damit auf unmittelbare Berührung zurückgeführt werden, und nichts anderes zugelassen wird, als was sich aus direktem K o n t a k t ergibt . . . Während Leibniz jede gegenseitige Einwirkung der Substanzen aufeinander bestreitet, läßt er im Bereich des Phänomenalen eine solche Einwirkung nicht nur zu, sondern macht sie zum einzig legitimen Prinzip der E r k l ä r u n g " . 5 7 7 Oetingers Mißverständnis liegt darin, daß er Leibniz einen „mechanischen" G o t t 5 7 8 unterstellt, weil Leibniz mechanische Gesetze in der Natur ane r k e n n t 5 7 9 , ohne daß Oetinger sich Rechenschaft darüber gibt, daß auch der seine dahingehend interpretiert werden könnte, zumindest dann, wenn er die Erkenntnisse Newtons einbringt; denn auch bei Newton „steht hinter jeder Naturerscheinung das sich ständig gleich bleibende, weil bestimmten Gesetzen folgende Handeln G o t t e s " . 5 8 0 Gewiß sieht Leibniz die mechanische Naturerklärung als autonom an, ebenso eine in sich geschlossene Naturwissenschaft, die auf keinen Eingriff von außen angewiesen i s t . 5 8 1 Dennoch geht es ihm nicht um Trennung von Physik und Erfahrung. Dem ist — im groben — zuzustimmen, nicht aber der These, bei Leibniz dominierten .Vernunfterkenntnisse' über .Tatsachenwahrheiten'. Es geht nicht um Überordnung, sondern um Nebenordnung: Tatsachenwahrheiten sind — nach Leibniz — uns nur in vernünftiger Durchdringung der Wahrnehmung sicher erkennbar. 5 7 5 Vgl. Kapitel 2.3b und 3.5a dieser Arbeit. 576 Verwiesen wird auf Ähnlichkeiten, wenn nicht sogar Übereinstimmungen zwischen Leibniz und Oetinger: das Problem von Ordnung und Unordnung; die Repräsentation des Universums in jedem seiner Glieder und Teile als Ganzes; die Welt als Prozeß, in den der Mensch — allerdings bei Leibniz der erkennende Mensch — als geschichtliches Wesen mit einbezogen ist; u.a. s ? 7 Gurwitsch 3 5 6 . 578 vgl. Wörterbuch 2 2 0 . sg o Gurwitsch 3 5 6 . 5W Vgl. 1,1. 3 7 6 . 581 Bei Newton bedarf es besonderer Eingriffe Gottes, um die Ordnung des Universums periodisch wieder herzustellen, „so daß Leibniz den Gott Newtons mit

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und Metaphysik, sondern um Zuordnung dergestalt, daß die Physik die Metaphysik tiefer begründet. 5 8 2 Und hier liegt auch die Unversöhnlichkeit der Standpunkte von Leibniz und Oetinger begründet: bei Leibniz ,anorganische' Physik, bei Oetinger .organische' Chemie — auf die sich ihm j a alle Naturwissenschaft reduziert 5 8 3 —, woraus die übrigen Unversöhnlichkeiten folgen: bei Leibniz ein G o t t , dessen Wesensmerkmal Logik ist 5 8 4 , bei Oetinger ein G o t t , dessen Wesen der „Streit der K r ä f t e " ausmacht; bei Leibniz ein Gott, bei dem nichts zusammenhanglos und sprunghaft geschieht, bei Oetinger ein G o t t , der „diese oder jene K r a f t hier und da prädominierend haben w i l l " . 5 8 5 Leibniz läßt sich von der widersinnigen Wirklichkeit, an der er leidet, reizen, ihr denkend standzuhalten; darum spitzt sich alles zu auf die eine ratio Gottes, oder, um es mit Gurwitsch zu sagen: Im Universum als ganzem wie in allen seinen Teilen ist eine Logik niedergeschlagen und realisiert; das Universum ist durch und durch als Inkarnation von Logik verstanden. 5 8 6 Dieser Panlogismus, daß „die Logik dem Universum immanent, in ihm verkörpert i s t " 5 8 7 , erfordert auch ein Subjekt der Logik — dieser Ansatz ist Oetinger suspekt; er kennt zwar auch Ordnung und Regel bei Gott, aber dieser handelt „doch sehr frei und nach seinem B e l i e b e n " 5 8 8 ; ein Gott der Logik widerspricht nach Oetinger nicht nur den Erkenntnissen der Naturwissenschaft und den in der Bibel berichteten Erfahrungen von der Inkarnation Gottes in Christus, sondern auch der glaubenden Zuversicht: „ K o m m t es auf die Konzepte an, oder kommt es darauf an, daß ich eine Fähigkeit habe, Gott zu glauben?"589

einem Uhrmacher vergleichen kann, der von Zeit zu Zeit sein Werk wieder in Stand setzen m u ß " (Gurwitsch 356). 5 8 2 Vgl. Gurwitsch 3 6 l f . 5 8 3 S o auch Zinn 35. 584 D a es Leibniz auch u m die „heimliche Rationalität jeglicher Wirklichkeit im göttlichen A p r i o r i " (Zangger 4 2 ) geht, stimmt insofern Gadamers Schluß: „ A b e r gerade das Kunstvolle . . . , die Kühnheit, j a Tollheit des Leibnizschen S y s t e m s . . . ist es, was Oetinger a b s t ö ß t " (Gadamer, V o r w o r t XI). — Wie schwierig es ist, Oetinger und Leibniz unter einem einzigen Gesichtspunkt in ihrer Gegensätzlichkeit aufzuzeigen, macht u.a. auch die These Manns deutlich. Er schreibt ( 2 4 7 ) : „ U n d hier finden wir auch tatsächlich den Angelpunkt, der das Grundmotiv mit allen seinen weitreichenden Auswirkungen trägt und hält! Denn seine ganze Polemik gegen Leibniz und Wolff, gegen Idealismus und Spiritualismus ist getragen von d e m G r u n d d o g m a , daß Christus ins Fleisch k a m " . s « 2,1. 3 7 4 . 58« Vgl. Gurwitsch 3f. 58? Gurwitsch 4 . s 8 8 2,2. 199. se» 2,2. 2 4 5 .

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be) Böhmes klare Gottheit als freie Lust Wegen der prinzipiellen Wertschätzung Böhmes gerät Oetingers Abgrenzung zu ihm nicht in der schroffen und krassen Abwehr wie etwa gegenüber Leibniz. Zinn konstatiert, Oetinger übe Kritik an seinem Meister 590 , Hauck stellt fest, Oetinger erhebe im Zusammenhang mit der Nicht-Nötigung zum Schöpfertum einen Vorwurf 5 9 1 gegenüber Böhme. Beide — Hauck in Nachfolge Zinns — stützen sich bei ihrer Untersuchung fast ausschließlich auf das „Biblisch-emblematische Wörterbuch", wodurch Einseitigkeit bewirkt wird. Es ergibt sich bei ihnen folgender Befund: Jakob Böhme habe — so Oetinger in der Ausführung Zinns 592 — nicht erkannt, daß alle Dinge aus dem Wohlgefallen Gottes folgen; er konnte dies auch nicht „aus dem Naturlicht einsehen". Er habe weiterhin nicht das Willkürliche in Gott verstanden. Oetinger sähe Jakob Böhme und Leibniz auf gleicher Ebene, insofern beide „ziemlich spinozistisch" seien. — Hauck, der sich an alle oben aufgezählten Argumente Zinns hält 593 , fügt als erstes noch die Nicht-Nötigung zum Schöpfertum Gottes bei. Beide stellen das Problem sehr knapp und auch recht kurzschlüssig dar und erheben lediglich den Unterschied, ohne ihn an den Ausführungen Böhmes zu messen oder in dem System Oetingers näher zu lokalisieren. Versuchen wir eine chronologische Ordnung für die beim anstehenden Problembereich aufzuführenden Stellen. Dabei beziehe ich mich auf das „Biblisch-emblematische Wörterbuch", auf die „Irdische und himmlische Philosophie", auf eine weitere Schrift und auf eine Predigt. In der „Irdischen und himmlischen Philosophie", der älteren der beiden angeführten Großschriften, erklärt Oetinger: „Daß die Welt, welche keineswegs nach Cartesio und Leibniz unendlich ist, in diesen und nicht in einem 590

Vgl. Zinn 63. Vgl. Hauck, Geheimnis 178 = Naturphilosophie 213; es muß — weil es an dieser Stelle ganz besonders deutlich wird — wenigstens einmal angemerkt werden, daß Hauck über weite Strecken sowohl dem Aufriß als auch dem Inhalt nach Zinn folgt, ohne es allerdings kenntlich zu machen. Deutlich zeigt sich sein Vorgehen bei seinen Stellenverweisen. Dabei benutzt er fast ausschließlich die von Zinn zitierten Texte. Da Zinn etliche Male die Zitation frei vornimmt, treten solche .Fehler' dann auch bei Hauck auf (vgl. z.B. die Angabe II 1,395 in Hauck, Geheimnis 178 Anm. 2 und Zinn 63). Sollte Hauck auch einmal eine Verweisstelle über die von Zinn vorgegebenen hinaus anzugeben haben, dann handelt es sich um eine bereits unter anderen Vorzeichen zitierte (vgl. Hauck, Geheimnis 178 Anm. 2: „vgl. bes. Oetingers Predd. hrsg. von Ehmann, Reutlingen 1852, S. 461" — diese Predigtstelle ist aber keine neue, sondern die bereits unter I 1, 461 angegebene). 592 Vgl. für das folgende Zinn 63. 593 Vgl. Hauck, Geheimnis 178. 591

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andern Teil des Raums ist, kommt von dem bloßen Willen Gottes. Jak. Böhm ob er wohl die Sache nicht mit solchen Exempeln klar machen konnte, hat doch sehr erhabene Gedanken von der Freiheit Gottes". 5 9 4 Im Anschluß an diese Feststellung differenziert er weiter: Während in Böhmes Schrift „Aurora" doch eher noch der Eindruck von Spinozismus vorherrsche, sei dieser Eindruck in den folgenden Schriften aufgehoben. 595 Böhme nenne nunmehr Gott immer „die ewige Freiheit, nämlich Gott erst außer Natur, hernach außer Kreatur". 5 9 6 Die Freiheit begebe sich aber auch „in die Kreaturen" 5 9 7 und freiwillig „in den Hunger der Natur". 5 9 8 Oetinger rezipiert hier die Vorstellungen Böhmes. Dazu Böhme selbst noch etwas ausführlicher. Wie bereits gesehen erkennt Böhme in seiner Vision Gott als einen Gott ohne Grund; zugleich bestimmt er ihn als Wille. 599 Damit ist jener Tiefenbereich Gottes aufgezeigt, wo es um die Verhältnisbestimmung von Ungrund und Grund geht. Böhme findet sie als drängenden Ungrund, der sich in den Grund faßt. Dieser erste Selbstgebärungsprozeß ist die Phase der klaren Gottheit als freie Lust. 600 „Lust ist in diesem Zusammenhang die Ein- und Auswärtsbewegung des ungründlichen Willens. Was bedeutet aber Lust als freie Lust? Mit diesem Adjektiv möchte Böhme unmißverständlich zum Ausdruck bringen, daß trotz Einund Auswärtsbewegung des Willens keine Gegensätzlichkeit in dieser Phase des Selbstgebärungsprozesses Gottes waltet". 6 0 1 Der Grund Gottes ist für Böhme das Stadium der göttlichen spannungslosen Freiheit. Böhme kennt eine weitere Freiheitsvorstellung: die Freiheit im Scheideziel des Feuers. Sie ist jene Freiheit der Wahl, die aus der absoluten Freiheit der klaren Gottheit entsteht im Augenblick des Eintritts in die ewige Natur. 602 Die absolute Freiheit war Freiheit ohne Wahl, weil ja nur der eine Wille in Erscheinung tritt; die Wahlfreiheit trägt den Charakter echter Wahl, denn es gibt kein selbstverständliches Fortschreiten zur harmonischen Vereinigung der Gegenpole. Ohne die Möglichkeit der Rückwärtswendung würde der letzte Ernst dem „Streit der Überwindung" fehlen. 6 0 3 Schließlich hat Freiheit für Böhme auch etwas mit Schöpfung zu tun. Wäre in der klaren Gottheit als freier Lust bereits alles offenbar, so gäbe 594

2,2. 201. Vgl. 2,2. 202. 596 2,2. 202. 597 2,2. 202. 598 2,2 . 20 2. 599 Vgl. Böhme, Mysterium Magnum 1,2: „Er ist der Wille des Ungrundes". 600 v g l _ Pietsch 104. 601 Pietsch 104. «rc Vgl. Grunsky 236. Vgl. Grunsky 23 7. 595

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es „keine Schöpfung, keine Welt in unserem Sinne" 6 0 4 , denn auch sie ist ein Teil der ganzen ,Weisheit', die zur Offenbarung kommen will. So versteht Böhme die Schöpfung als „Ausgeburt Gottes"; Schöpfung soll Ausgeburt sein, „in der sich die Selbstoffenbarung der inneren Gebärung, auch aus sich offenbart" 6 0 5 , oder wie Böhme sagt: „Diese äußere Welt mit ihren Heeren, und alle dem was drinnen lebet und webet . . . das ist zu dem Ende also offenbar worden, auf daß das ewige Wort in seiner wirklichen Kraft kreatürlich und bildlich sei, daß gleichwie sichs von Ewigkeit in der Weisheit geformiert und gebildet hat, also auch in einem Particular-Leben gebildet sei, zur Herrlichkeit und Freude des H. Geistes, im Worte des Lebens in ihme selber". 6 0 6 Durch die Ausgeburt Gottes wird der Schöpfung Freiheit mitgegeben, so daß Böhme sagen kann, daß jeder Mensch sein eigener Gott und sein eigener Teufel werden kann: „Ein jeder Mensch ist frei, und ist wie ein eigener Gott, er mag sich in diesem Leben in Zorn oder ins Licht verwandeln: Was einer für ein Kleid anzeucht, das verklärt ihn; und was der Mensch für einen Corpus in die Erde säet, ein solcher wird auch aufwachsen". 6 0 7 Es muß festgehalten werden, daß Oetinger in der „Irdischen und himmlischen Philosophie" Böhmes Anliegen korrekt vorträgt. Es geht um die Freiheit der klaren Gottheit, um die Freiheit in der Natur Gottes und um die Freiheit in der Kreatur. Gleichzeitig aber muß gesagt werden, daß Oetinger den ,Ansiedlungen' der Freiheitsvorstellungen Böhmes unterschiedliches Interesse entgegenbringt. Dabei gerät die freie Lust in der klaren Gottheit entscheidend zu kurz, was aber wiederum von Oetinger her verständlich ist: denn jene Tiefen Gottes sind ja jener Bereich, von dem wir prinzipiell nichts auszusagen wissen. Wichtiger wird ihm hingegen die Freiheit Gottes in seiner Natur 6 0 8 , denn sie ist als Wesens-Freiheit die Voraussetzung für den letzten Aspekt, die „tätige" Freiheit 6 0 9 — diese tritt bei Oetinger stärker in den Vordergrund. Sie wird — nunmehr in den Ausführungen Oetingers — strukturiert nach zwei Richtungen: einmal als Freiheit Gottes im Werden der Qualitäten 6 1 0 und als Freiheit Gottes in bezug auf seine Schöpfung, auf seine Welt. 6 1 1 Dabei gibt die Tat-Freiheit auch gleichzeitig die Klammer ab: Sie gehört zur WesensFreiheit als Qualifikation der Qualitäten und sie gehört zur Tat-Freiheit 604

Grunsky 68. «°s Grunsky 249. 606 Böhme, Gnadenwahl 4, 19. 607 Böhme, Morgenröte 18, 39. 608 Hier von Oetinger zitiert mit „Hunger der Natur". 609 2,2. 202. 61° Vgl. 2,2. 205. «H Vgl. 2,2. 206. 208. 198

als Bewegung der Qualitäten. Die Aspekte aber müssen immer zusammen gesehen werden, „denn außer Natur konnte er [Gott] sich nicht mitteilen, . . . aber in Ternario Sancto beweist er seine Güte, seine Freiheit und alle seine Eigenschaften, und steht in Verbindung mit der Kreatur, daß sie sagen kann: Mein Gott! sie kann nicht sagen: Mein Unendlicher, mein Unermeßlicher, sondern als ein Vater ist er freitätig gut gegen allen seinen Werken". 6 1 2 Oetingers Einwand, Spinozistisches sei bei Böhme — wenigstens in der „Aurora" — anzutreffen 6 1 3 , ist darum auch nur an einem Punkt zu lokalisieren: dem Übergang von Gott zur Welt, von der Wesens-Freiheit zur Tat-Freiheit nach außen. Oetinger sieht also diesen Punkt in der „Aurora" nicht deutlich genug herausgehoben und herausgearbeitet, während er zugesteht, daß in den übrigen Schriften Böhmes die Gefahr des Mißverständnisses nicht mehr so groß sei. Darum bleibt abschließend zu sagen: In der „Irdischen und himmlischen Philosophie" stellt Oetinger Böhme zunächst dar und überläßt sich in den eigenen Ausführungen dann den Argumenten Böhmes. Zwar ist die Schrift eine Apologie, aber würde Oetinger als Apologet Böhmes auftreten, wenn er sich nicht weitestgehend mit dessen Aussagen identifizierte? Im Verlauf entfaltet Oetinger die Freiheit Gottes nach zwei Richtungen: nach innen als Wesensfreiheit in Gottes Gottheit und Natur, nochmals nach innen als Tat-Freiheit in Gottes Natur und schließlich nach außen in Gottes geschaffener Kreatur, ohne allerdings zu sagen, auf welche Weise sie sich verwirklicht. In Oetingers eigenen Ausführungen läßt sich aber schon ein Unterschied zu Böhme herauskristallisieren. Während Böhme die .qualvolle' Wahl-Freiheit als notwendig ansieht, damit Gott zu sich selbst kommt, entweder in der positiven Annahme des Vorwärtsblickens oder in der negativen des Rückwärtsschreitens, verebbt sie bei Oetinger zur ,tätigen' Freiheit, die den Impuls der Bewegung vermittelt — wie schon bei der Aufnahme der Qualitäten deren Spannungsverhältnis aufgelöst wird zu einem bloßen Bewegungsmoment. In den einschlägigen Stellen des „Biblisch-emblematischen Wörterbuchs" fällt auf, daß Oetinger in seinen Abhandlungen immer wieder das Wort „willkürlich" einfließen läßt. Im Artikel „Rechte der Gerechtigkeit" 6 1 4 wird der Vorwurf massiv an Böhme herangetragen, er habe „das Willkürliche in G o t t " 6 1 5 nicht verstanden. Oetinger beruft sich dabei auf das Sendschreiben Böhmes an Paul Kaym 6 1 6 , Zolleinnehmer aus Liegnitz. 612

2,2. 205f. «13 2,2. 201f. «"» Wörterbuch 5 0 I f f . eis Wörterbuch 503. 616 Er nennt ihn nochmals in dem Artikel „Schöpfung" (Wörterbuch 534ff) — vgl. später.

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Dieser hatte Böhme eine selbstverfaßte Schrift übersandt, die Böhme mit eigenen Briefen erwiderte. 6 1 7 Kaym hatte Böhme Berechnungen darüber geschickt, wie lange die Welt noch stehen werde; Böhme wies sie zurück mit dem Hinweis, daß der Welt an der Offenbarung des tausendjährigen Sabbats nicht viel gelegen sei 618 , „daß der tausendjährige Sabbath in der Offenbarung fast wider das Licht der Natur zu laufen scheine". 6 1 9 Diese — aus Böhme erhobene — Ansicht muß Oetinger schwer treffen. Und nur von Oetingers eigener Vorstellung und Betonung der Apokalypse ist seine Kritik an Böhme verständlich. Im Verlauf des Artikels wird Oetingers Anliegen deutlich: Es geht ihm hier u m die Verbindung der Lebenskräfte in Gott mit den Selbstbewegungskräften in der Natur: Gottes Lebenskräfte treten nach außen 6 2 0 , aber sie tun es „nach einer willkürlichen Ordre Gottes als eines Oberherrns" 6 2 1 ; darum gilt auch: „Die Offenbarung enthält lauter willkürliche Dinge, da sich Gott von seiner ewigen und unumschrenkten Art herab gibt ins Menschliche". 6 2 2 Die Offenbarung Gottes nach außen geschieht in anderer Weise als die Selbstwerdung Gottes im Innen. Dieser Aspekt scheint Oetinger bei Böhme zu kurz zu kommen: Nicht die Selbstverständlichkeit im Ablauf und in der Übertragung der Selbstbewegungskräfte mit ihren inliegenden Vollkommenheiten steht zur Debatte — was durch Böhmes Strukturgleichheit bei Gott und Mensch provoziert wird —, sondern die „willkürliche Ordre Gottes". — Zu diesem hier angesprochenen Komplex gehört eine weitere Ausführung. Es geht nach Oetinger nicht an, aus der Unendlichkeit Gottes Schlüsse zu ziehen, „denn so müßten alle Werke Gottes unendlich sein, nicht aus der Willkür Gottes, sondern aus der Not der Natur Gottes" 6 2 3 ; auch wenn hier der Name Böhmes nicht ausdrücklich genannt wird, so kann doch die Vorstellung Böhmes von der ,Natur in Gott' angesprochen sein. Vom Wesen Gottes ist — so Oetinger — nicht ohne weiteres auf Gottes Werk und noch weniger auf das menschliche Wesen zu schließen. — Im Artikel „Schöpfung" 6 2 4 weist Oetinger wieder auf Böhme hin, diesmal aber nicht in Form eines Vorwurfs, sondern in der einer Feststellung: „Man muß aber voraus wissen, daß J a c . Böhm das Willküre n Vgl. Grunsky 43. 618 Vgl. Böhme, Sendbrief an Kaym I 69 (Informatorium Novissimorum). 2,5. 389. 620 Vgl. Wörterbuch 502: sie „äußern" sich. 621 Wörterbuch 502; Oetinger verweist an dieser Stelle auf seine Schrift „Philosophie der Alten" (II 161 f); in dieser seiner ,Vorlage' für das „Wörterbuch" fehlt das Wort „willkürlich" zur Stelle; mit Hardmeier 502 ist anzunehmen, daß Oetinger es im Wörterbuch einflickte, um seine Position gegenüber Böhme zu verdeutlichen. Wörterbuch 503. « 3 Wörterbuch 623. 624 Wörterbuch 534ff.

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liehe in Gott nicht so wohl eingesehen, als das, was aus dem Wesen der Dingen notwendig folgt". 6 2 5 Oetinger bezieht sich dabei inhaltlich wieder auf den Kaym-Brief — ohne ihn allerdings zu nennen — und argumentiert: „Die 1000 Jahre folgen nicht aus dem Wesen der Dinge, sie sind willkürlich, daher sie Böhme nicht zu setzen weiß. Wie die ganze Offenbarung". 6 2 6 Hier ist also der Angriffspunkt: daß Böhme die in der Apokalypse beschriebene Materialität und Körperlichkeit nicht ernst nimmt, daß er „sich in diese Herablassung Gottes nicht f i n d e n " 6 2 7 kann, ist Anlaß zum Anstoß und zur Kritik an der bei Böhme fehlenden ,Willkür' Gottes. Damit zeigt sich hier ein zweiter Aspekt; nicht alle Gegebenheiten und Ereignisse folgen notwendig aus dem Wesen (als Selbstbewegungskraft); diese nicht ableitbaren und abgeleiteten Ereignisse und Vorfälle werden als willkürliche erkannt. — Unter dem Stichwort , J e h o v a " 6 2 8 schließlich findet sich der schon bei Zinn und Hauck zitierte Satz: „Es ist einerlei Schwierigkeit bei Leibniz und J . Böhm". 6 2 9 Zinn und Hauck stellen hier die Verbindung zum Spinozismus her, sehen dabei aber nur die notwendige emanative Abhängigkeit der Natur von Gott; Oetinger tut das an anderer Stelle auch. 6 3 0 Hier aber gibt er die Bestimmung in zweierlei Weise. Es geht ihm um die Erläuterung dessen, daß Gott kein notwendiges Wesen ist und zwar „sowohl, wenn er in sich selbst angesehen wird, als in seiner Offenbarung gegen der Kreatur". 6 3 1 Die Schwierigkeit', die er mit Leibniz hat, liegt darin, daß Leibniz einen Gott denkt, der von sich aus nichts in Gang setzen kann; denn was ihn bewegt, sind die möglichen Welten, die er sich vorstellt. 6 3 2 Böhme nun — so Oetinger — sagt Ähnliches in der „Gnadenwahl". 6 3 3 Die Parallelität zwischen Böhme und Leibniz liegt in dem Unvermögen, Gott als den sich vorzustellen, der sich selbst bewegt, um einen Anfang zu geben. Erst nachdem Böhme „nach vielen Versuchen sich auszudrücken endlich auf die Attraction geraten" 6 3 4 , ist die Parallelität mit Leibniz aufgehoben und der Vorwurf gegen Böhme aus dem Weg geräumt; denn nun besitzt Gott ja die Selbstbewegungskräfte, mit denen er einen Anfang setzt.

625

Wörterbuch 534f. Wörterbuch 535. 627 2,5. 389. « 8 Wörterbuch 340ff. 629 Wörterbuch 345. 630 Vgl. LT 173. 175; 2,6. 256; Wörterbuch 452 u.ö. « ι Wörterbuch 345. 632 Vgl. Wörterbuch 345. 633 Oetinger zitiert aus Böhmes „Gnadenwahl" 1,26: ,,Es ist nichts vor Gott, so mag ihn auch nichts bewegen" (vgl. Wörterbuch 345). 634 Wörterbuch 346. 626

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In der Schrift „Betrachtung über das Geheimnis Gottes, und des Vaters und Christi" 6 3 5 , die zeitlich vor dem „Wörterbuch" liegt — es wird das Jahr 1772 angegeben —, nennt Oetinger J a k o b Böhme im Zusammenhang mit der Entstehung von Welt und Geschichte. Welt und Geschichte entstehen zweifelsfrei „durch G o t t " ; aber Dinge und Zeit „fließen nicht aus dessen Wesen, sondern lediglich aus dessen Willkür und Wohlgefallen". Was „wenige Heilige, auch selbst J a k o b Böhme nicht e r k a n n t " 6 3 6 haben, ist die Unrichtigkeit der Schlußfolgerung: Wenn Welt und Geschichte aus dem Wesen Gottes als einem Unendlichen fließen würden, dann käme ein „ewig einförmiger Effect ohne E n d e " 6 3 7 heraus — damit aber wäre Gottes Herrsein über Welt und Geschichte, denen er ja Anfang und Ende gibt, wäre seine „Haushaltung" 6 3 8 in Abrede gestellt. Oetingers Kommentar: „Indessen kann es genug sein, daß Gott der König der Ewigkeiten ist. 1 Tim 1,17" 6 3 9 ; Ewigkeit aber bedeutet, wie gesehen 6 4 0 , nicht Unendlichkeit, sondern Zeit mit Anfang und Ende. Indem sich Oetinger auf jene genannte Bibelstelle bezieht, wird schon angedeutet, was er — beispielhaft — in einer Predigt dann ausführt: Böhmes Erkenntnisse „stammen aus dem Naturlicht" 6 4 1 ; diese Erkenntnisweise ist von ungeheurem Wert, weil damit der „Grund aller Wesen offenbart" 6 4 2 ist; „aber das Willkürliche Gottes [ist] ihm nicht einzusehen gegeben, damit man die heilige Schrift allen Offenbarungen und Gesichten solle vorziehen". 6 4 3 Es geht Oetinger hier wohl nicht so sehr darum zu betonen, daß die Bibel über allen anderen Bereichen steht, aus denen Erkenntnis in bezug auf Gott sich gewinnen läßt — obwohl es dem Rahmen einer Predigt angemessen scheint —, sondern im Vordergrund steht die Vorsicht vor dem Erkenntnisweg von ,unten nach oben' 6 4 4 : aus dem Wesen der Geschöpfe läßt sich nur auf ein ,Vorletztes' schließen 6 4 5 , .Letztes' folgt allein „aus dem Wohlgefallen Gottes". 6 4 6 Zusammenfassend ist zu sagen: Oetingers Verhältnis zu Böhme läßt sich — im Problemfeld der Freiheit Gottes — auf zwei Sachbereiche zurück«5 «3« «37 «38 «39 «4° «1

2,6. 2 9 2 - 3 0 3 . 2,6. 3 0 2 . 2,6. 3 0 2 . 2,6. 3 0 2 . 2,6. 3 0 2 . Vgl. Kapitel 4 . 1 b b dieser Arbeit. 1,1. 4 6 1 . 642 1,1. 4 6 1 . «43 1,1. 4 6 1 . 644 Hier ist auf einen weiteren Unterschied zu Leibniz hinzuweisen: Leibniz denkt von oben nach unten, Oetinger von unten nach oben und von oben nach unten. έθεμέλίωσας ... Wörterbuch 853. 476; 2,2. 172. 214 u.ö. Wörterbuch 476. 857 Vgl. Wörterbuch 853. 34 u.ö. 8J 8 2,2. 214 u.ö. 859 Vgl. Wörterbuch 34. 269. 543; 2,6. 436 u.ö. 860 Wörterbuch 543f. 269; LT 225 u.ö. 861 Vgl. Wörterbuch 543. 544; Metaphysik 409. 862 Wörterbuch 544. 863 Vgl. Kapitel 4.2cc dieser Arbeit. 864 Vgl. Theologie 66. 67. 865 Vgl. Kapitel 4.2cc dieser Arbeit; vgl. hier auch 2,6. 436: „Das habe ich geschaffen (in seinem ersten Stoff der dissolvierenden Selbstbewegung)".

230

Der nächste Akt, das „ F o r m i e r e n " , gilt dem L i c h t 8 6 6 : das Licht wird aus der Finsternis gerufen 8 6 7 , es wird aus der Finsternis formiert. 8 6 8 Das Licht, von dem in diesem Zusammenhang gesprochen wird, ist jedoch nicht das Licht als Lichtquelle Sonne, sondern es ist — wie Oetinger in der „ T h e o l o g i e " sagt — jenes „Morgenlicht", „welches vor Entstehung der Sonne und der Sterne existierte, und das, durch eine andere der zusammenziehenden gegenüberstehende übermechanische Kraft, die Befehle Gottes empfängt. Es ist ein reineres und feineres Licht, welches ohne Gegenwirkung der zusammenziehenden Kraft b e s t e h t " . 8 6 9 Es ist damit jenes Licht, das von Oetinger als das elektrische Feuer bezeichnet worden ist. Wird es aus der Finsternis „ f o r m i e r t " , so heißt dies: Gott „ o r d n e t " die aufgelösten, getrennten Kräfte, er koordiniert sie wieder 8 7 0 ; „ f o r m i e r e n " wird als ein in-Regularität-Bringen verstanden. 8 7 1 „Die ursprüngliche Irregularität ist also beabsichtigt, um dem schöpferischen Akt Gottes die Möglichkeit zu eröffnen, das Irreguläre zur Regularität zu b r i n g e n " 8 7 2 : Denn Gott hat „ a u s einem irregulären chaotischen Klumpen . . . nach und nach die höchste Regularität hervor gebracht, und es durch den Fall wieder in eine Irregularität geraten lassen, damit man seine souveräne und an nichts gebundene Freiheit und Güte . . . bewundere". 8 7 3 Bei diesem Vorgang bricht sich eine neue Quelle aus der Finsternis heraus: das Licht des Lebens. 8 7 4 J e d e r Kreatur werden somit zwei Quellen vermittelt: Finsternis und Licht; mit dem Licht aber partizipiert die Kreatur — allerdings eingeschränkt durch die Finsternis — am Wesen G o t t e s . 8 7 5 Licht als elektrisches Feuer ist damit zuständig für die „Geburten der Dinge, alle Samen entstehen, indem Gott das Licht aus der β « Vgl. Wörterbuch 544. 854. «¡7 Vgl. Wörterbuch 411; PhilAlt II 14 u.ö. 8 6 8 Vgl. Metaphysik 409; Wörterbuch 543. 269: „Formieren in eine Lichtsgestalt". s« 9 Theologie 139. 870 Vgl Wörterbuch 411 und die Definition von „ F o r m " : die Koordination der Dinge in diesem ewigen Raum und Zeit (Wörterbuch 786). 8 7 1 Vgl. 2,2. 152; 2,6. 436: „Das habe ich formiert (zu dem andern Stoff der vereinigenden Selbstbewegung)". 8 7 2 E m s t Benz, Der Philosoph von Sans-Souci im Urteil der Theologie und Philosophie seiner Zeit (Oetinger, Tersteegen, Mendelssohn), Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 1971, 29; es ist interessant, daß Oetinger diese Gedanken als in Ubereinstimmung mit denen des ,.Philosophe de Sans-Souci" sieht; Benz, Philosoph 26, muß jedoch konstatieren, daß Oetinger mit seiner Auslegung den Gedanken des Philosophe de Sans-Souci Gewalt antut, insofern er ein „politisch verstandenes Prinzip . . . auf das Grundprinzip göttlichen Wirkens" (29) zurückführt. ra GülZeit 1.73 = 2,6. 40. 8 7 4 Vgl. 2,2. 249; PhilAlt II 14. 8 7 5 Vgl. 2,2. 342 u.ö.

231

Finsternis hervor ruft"8,76; Licht setzt also auch hier den „Selbstbewegungsgrund" der Kreatur. 877 Letzter Akt der Schöpfung ist das „Machen". 878 Es betrifft die „meßbaren und mechanischen Dinge" 879 , auch die „sichtbaren Dinge", die „in Arten und Geschlechter geteilt sind" 880 ; es bedeutet, „mit mechanischer Ordnung zu Stand bringen" 881 , „in werkzeugliche mechanische Einrichtung [vollziehen], welche in den zwei übermechanischen ihre Wurzel haben". 882 Damit wird deutlich, daß es keineswegs bloß um Mechanik — in Oetingers negativ besetztem Sinn — geht, sondern um „Organisation . . . , daß es so und nicht anders sei" 883 , um jene Organisation, die sowohl die organische, als auch die anorganische Welt betrifft. „Was nun die Schöpfung selbst betrifft", führt Oetinger in der „Metaphysik" aus, „so hat sie Gott durch sechs Geburten in die siebente zur Ruhe geführt" 884 — Oetinger verbindet hier in eigentümlicher Weise den 876

2,2. 152; diese Finsternis n e n n t Oetinger in der „Philosophie der Alten" die ,.Materia prima der Alten": „Sie ist actu noch nichts, aber potestate alles, wenn sie durch den Geist Gottes bewirkt wird" (PhilAlt II 14). Materia prima ist darum nicht zu verwechseln mit der groben Materie, auch nicht mit der passiven Materie; sie ist hier die Potentialität, aus der die „Generation der Dinge" (PhilAlt II 14) ergeht. Gleichzeitig wird sie als „irregulär" bezeichnet, weil sie damit die Möglichkeit zum „ O r d n e n " in sich birgt — Entstehung der Dinge ist Aktualisierung durch Ordnung (Irregularität also auch hier nicht als Kennzeichen für ethisch Minderwertiges). An dieser Stelle ist Oetingers Definition eindeutig, und die materia prima wird als Finsternis charakterisiert, die „an und für sich ein Universal u n d in Ansehung der ganzen Natur die materia prima [ist]. Sie ist der Grund aller Fruchtbarkeit, Tinktur und Edelsteine . . . Sie specifiziert in Engeln und Menschen und allen Kreaturen" (Theologie 78 u.ö.). Dennoch gilt Häussermanns Feststellung: „Die Charakterisierung der Materia Prima durch Oetinger ist . . . unbestimmt und dunkel genug" (Häussermann 3 2 4 f ) . Es darf wohl auch bei Oetinger jene „Fülle der sich widerstreitenden Gegensätze" (Häussermann 324) eingebracht werden, die den Inhalt der Materia prima in der Alchemie ausmachen (vgl. die Darlegungen Häussermanns 324 aufgrund der Zusammenstellung C . G . J u n g s , Psychologie 435ff). Für Oetinger ist sie — wie in der Alchemie — Objekt und Ausgangspunkt der Schöpfung, deren Wirkungsmacht die sieben Geister sind (vgl. 2,2. 251. 171 u.ö.); sie erscheint sogar „zuletzt in heilsgeschichtlicher Perspektive" (Häussermann 325), weil sie auch Ausgangspunkt am Ende der Zeiten für die Schaffung des neuen Himmels und der neuen Erde sein wird. 877 Vgl. 2,2. 155. 273. 280. 282. 878 Wörterbuch 34. 269. 544; 2,6. 436. 879 Wörterbuch 544. 880 Wörterbuch 544. 881 Wörterbuch 269. 882 2,6. 436. 883 Metaphysik 4 0 9 . 884 Metaphysik 522; an dieser Stelle darf Schöpfung keineswegs im Sinn der Kabbala interpretiert werden, so, als habe jenes Schöpfungswerk einen doppelten

232

Schöpfungsbericht aus Gen 1 mit den Qualitäten/Sefiroth/sieben Geistern. Deutlicher noch als in der „Metaphysik" wird dieser Tatbestand in der „Theologie" beschrieben. Oetinger erläutert: Es „Iäßt sich schließen, daß Gott bei jeder Scheidung des Lichts und der Finsternis nach seinem Wohlgefallen eine der übermechanischen Kräfte habe eintreten lassen . . . Jede dieser Kräfte umfaßt zugleich alle übrigen, doch macht sich die eine an diesem Tage mehr geltend als am andern . . . Mit diesen Kräften, welche am siebenten Tage in die geordnetste Bewegung und in relative Ruhe zurückgeführt worden . . . wirkt Gott . . . Alles". 885 Die Qualitäten/ Sefiroth/sieben Geister als die „Uniprincipialität" 8 8 6 sind hier als die Wirkungsmacht der materia prima für die Vielfalt der Schöpfung zuständig 887 , bei der Spezifikation der möglichen Vielfalt setzt sich dann je eine der übermechanischen Kräfte durch — wobei allerdings nicht zu übersehen ist, daß Oetinger die einzelnen Qualitäten vergewaltigt'. 8 8 8 Doch wichtig ist an dieser Stelle nicht die Übereinstimmung der Inhalte der Einzelqualitäten mit den jeweiligen Schöpfungs-,,Tagewerken", sondern das ,Daß' der Wirkung Gottes mit jenen Kräften. Gott veranlaßt durch die erste Kraft das Licht, durch die zweite die „Veste seiner Macht", durch die dritte die „Spezifikation und Hervorbringung der Arten", durch die vierte die Lichtquellen, durch die fünfte „lebende Wesen" und durch die sechste „Sensorien". 8 8 9 Vergleicht man diese Reihung mit dem Bericht Gen 1, so fällt auf, daß Oetinger die Erschaffung des Menschen am sechsten Schöpfungstag nicht ins Auge faßt — schon hier wird ein von Oetinger festgeschriebener wesenhafter Unterschied zwischen dem Menschen und der übrigen Kreatur bemerkt werden können. 8 9 0 Oetinger will nun keineswegs die sechs Tagewerke „nach der physischen Ordnung der natürlichen Folge der Dinge drehen" 8 9 1 , sondern ihm geht es um „die Einrichtung der Werkstatt der Prinzipien". 8 9 2 Jedes Tagewerk beinhaltet neben der Wirkungsmacht der Kräfte die Akte von Schaffen, Formieren und Machen, weil „die sechs Tagewerke . . . sechs Auswicklungen des idealischen Worts" 8 9 3 sind. Damit hat jedes Charakter: als Theogonie, sofern es die göttliche Selbstoffenbarung in den sieben Sefiroth beschreibt, als Kosmogonie, sofern es die „untere" Welt hervorbringt (vgl. Scholem, Mystik 242); hier geht es lediglich um die „untere" Welt. 885 Theologie 142f. 886 Wörterbuch 522. 887 Vgl. 2,4. 24 u.ö. 888 Vgl. Theologie 142 und Anlagen 1 und 2 dieser Arbeit. 889 Vgl. Theologie 142. 890 Vgl. dazu später. 891 2,4. 416.

892 2,4. 416. 893

PhilAlt II 18.

233

Schöpfungswerk, alles Geschaffene schlechthin teil an „Finsternis", „Licht", „Ordnung" und „Leben" 894 , denn jedes Tagewerk ist eine neue „Scheidung des Lichtes und der Finsternis". 895 Auf die einzelnen Tagewerke angewendet, heißt das bei Oetinger: Das erste Tagewerk läßt das Licht, von dem ja schon gehandelt wurde, „hervorbrechen" als den „Grundstoff aller Dinge" 896 , der „einen Teil der Formation jedes Dinges" 897 ausmacht. Dieses Licht aber ist nicht gleichzusetzen mit den Lichtern des vierten Tages; Sonne, Mond und Sterne sind nicht dem Licht des ersten Schöpfungstages gleichstrukturiert 898 ; aber für sie gilt wie für alle übrige Materie, daß sie an diesem Licht partizipieren, weil Gott „das natürliche Feuer, denen Elementen und Mixten zugleich . . . eingedrückt". 899 Sonne ist kreatürliches Licht, „es hat aber doch etwas göttliches in sich". 900 Das Werk des zweiten Tages bringt die „Veste seiner Macht" 901 , wodurch die „oberen" und „unteren" Wasser entstehen. Spricht der biblische Bericht Gen 1,6 von „Scheidung" der Wasser, so fällt auf, daß Oetinger diesen Ausdruck meidet. 902 Er betont also auch hier nicht die Trennung des Oben von dem Unten, sondern er hält auch hier das Mit894

Vgl. 2,2. 234. 273 u.ö.; vgl. zur Verknüpfung von Qualitätenlehre und Vorstellungen aus der Alchemie 2,2. 283 u.ö. »'s Theologie 142. 89 « 2,2. 238. 897 2,2 . 2 7 3. 898 Ygi Theologie 139; in der „Philosophie der A l t e n " drückt sich Oetinger etwas schärfer aus; dabei ist der Eindruck zu gewinnen, als ob Licht und Sonne identisch würden (vgl. PhilAlt II 19: „Ehe es [das Licht] in die Sonne zusammengefaßt war"). Der Nachsatz hebt aber dieses Mißverständnis auf: „Das was das Herz im Ei ist, das war die Sonne am 4ten Tag" — auch hier Verbunden- und Angewiesensein ohne Identität, Lebendigkeit als Leiblichkeit (vgl. PhilAlt II 129: „Das Herz ist das erste, das da lebet, und das letzte, das da stirbet. Das Punctum saliens, oder das schon bei der Generation springende und lebende Blut-Pünktchen, dem alle Teile des Leibes angewebet sind"). Auch Divisch, auf den sich Oetinger häufig b e r u f t (vgl. später), spricht n u r von einer „Vermischung", wodurch das erste Licht „unkenntlich und unsichtbar" werde, aber nicht verschwinde (vgl. Metaphysik 428). 899 Zitiert nach Benz, Elektrizität 49; dagegen steht nicht der Ausspruch Oetingers, Feuer „ k o m m t keiner Materie z u " (Wörterbuch 204); es wird vielmehr ausgesagt, daß Feuer nicht wesensmäßig der Materie eignet, es wird aber nicht abgewehrt, daß der Materie Feuer als „Eindrückung" zukommen kann bzw. z u k o m m t . 900 Wörterbuch 411; vgl. auch 2,6. 417, wobei das besondere Verständnis Oetingers von „Bild" zugrundezulegen ist: G o t t „ist ursprünglich das wahre Licht. Die irdischen, geschaffenen Lichter sind nur Bilder desselben". «>i Theologie 142. 141. 902 Er taucht zwar 2,4. 21 bei Oetinger auf, wird jedoch sofort korrigiert d u r r h die Hereinnahme der Ausdrücke „formieren" und „schöpfen".

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einander der beiden Größen fest. Dieses Miteinander besteht darin, daß die oberen Wasser „den gemeinen untern Wassern ihre Kraft" 9 0 3 geben. Wenn allein Divisch 9 0 4 — so Oetinger 9 0 5 — recht dargelegt habe, was die obern Wasser sind, so sind auch sie jene Mächte, die — als elektrisches Feuer 9 0 6 — erhaltendes und Leben-gebendes Vehikel sind: „Sie sind aber durch alles, und dringen hinein und zeitigen, samt dem Licht alle Früchten". 9 0 7 So ist das „untere" Wasser, aus dem — wie Oetinger

*B Wörterbuch 783. 904 Prokop Divisch, am 1.8.1696 geboren (vgl. zum folgenden Benz, Elektrizität 2 7 f f ) , war in den Prämonstratenserorden eingetreten, wo er die Möglichkeit erhielt, „als Lehrer der Ordensschule seinen naturwissenschaftlichen Interessen nachzugehen" (Benz, Elektrizität 32). Um mehr Zeit für diese Studien zu b e k o m m e n , bat er um ein Pfarramt in einer kleinen Gemeinde. — Er ist der Erfinder des Blitzableiters, konnte damit aber keine Anerkennung gewinnen, weder am kaiserlichen Hof, noch in seiner Gemeinde. Ebenso wenig Erfolg waren seinen wissenschaftlichen Publikationen beschieden; im Gegenteil: mit ihnen zog er sich wissenschaftliche und theologische Angriffe zu. — Die Beziehung zwischen Oetinger und Divisch wurde von Oetingers Schüler J o h a n n Ludwig Fricker eingeleitet, der Divisch in seiner Gemeinde besuchte. Oetinger gedenkt an einigen Stellen seiner Abhandlungen, besonders im „Wörterbuch", seinem „hochverehrten theologus electricus Prokop Divisch" (Wörterbuch 204). — Einem Brief Oetingers ist zu entnehmen, daß er der Herausgabe der Schrift Divischs seine Ernennung zum Prälaten durch den Herzog Carl Eugen von Württemberg verdankte (vgl. Ehmann 679). — Vgl. auch Schneider 110, der einen kurzen Hinweis auf Divisch gibt und ihn den „Gewährsmann" Oetingers für die Erscheinungen der Elektrizität nennt. Ausführlich behandelt Schneider aber den Magnetismus, der das Prinzip des Gegensatzes fast handgreiflich manifestiere; Oetinger habe den entscheidenden Schritt von „der empirisch beschreibenden Naturwissenschaft zur ontologischen Interpretation in der Naturphilosophie" (Schneider 110) getan. Magie und Elektrizität verknüpft Benz: „Bei dem damaligen Stand der Forschung war es kaum zu erwarten, daß Oetinger imstande war, die elektrischen Phänomene von denen des Magnetismus genauer zu unterscheiden" (Benz, Elektrizität 68); so ist seine Beschäftigung mit beiden Wissenszweigen „ein beachtenswertes Zeugnis von dem hohen Stand der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und des Forschungseifers Oetingers, daß er von den kleinen württembergischen Landstädtchen aus, in denen er amtierte, die neuesten wissenschaftlichen Forschungen und Experimente der europäischen Gelehrtenwelt zur Kenntnis n a h m " (Benz, Elektrizität 69). 905 Vgl. 2,4. 22: „Was die obern Wasser seien, hat noch Niemand erklärt als D. Divisch". 906 Vgl. Wörterbuch 783; Metaphysik 428: bei dieser Stelle handelt es sich allerdings um den Abdruck von „D. Divischs Electrica nach synthetischer Art vorgetragen" (vgl. Metaphysik 427—438); es darf vom Inhalt her jedoch Ubereinstimmung angenommen werden, wenn man den Eifer bedenkt, mit dem Oetinger die Ubersetzung und Herausgabe der Bücher Divischs betrieb, und die Leidenschaft, mit der er mit Divisch korrespondierte (vgl. Benz, Elektrizität 39: Es war ihm „eine lebenswichtige Sache"). 907 Wörterbuch 783.

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darlegt — die Erde am dritten Schöpfungstag entsteht 9 0 8 , beteiligt an jenem Lebenselement, das sein besonderes Charakteristikum durch das elektrische Feuer bekommt — von Oetinger anders ausgedrückt: „Wasser und Feuer [sind] die erhaltenden Anfänge". 9 0 9 Damit ist die Natur in die Lage versetzt, „sich bis zum Samen zu treiben, hernach das Gewächs selbst wieder in Abgang zu bringen, damit ein neues aus dem Samen wachse" 9 1 0 ; so hat sie ihre Selbstbewegungsquellen 911 , die Freiheit als Selbständigkeit vermitteln und Entfaltung als Individualität: „Weil die innere Bewegung göttlicher Kräfte nach einer eigenen Freiheit der Antriebe läuft: so sind die Kreaturen in einer gewissen Indifferenz der Kräfte, aus welcher sie durch äußerliche Vorwürfe heraustreten und ihre Freiheit zu diesem oder jenem neigen, alles nach einer Ordnung, die Gott der Kreatur vorzeigt in den lOOOfachen Modellen der Freiheit, z E. daß Hühner so viel Farben an sich nehmen, und nichts bestimmtes in ihrer Entstehung haben, daß Muscheln so viel unerschöpfliche Arten haben. Also kann eine Kreatur, wo sie nicht gehindert wird durch Zufälle, entweder der Ordnung Gottes gemäß dem Lichte zu oder wider dieselbe der Finsternis zu, fortschreiten; da läuft sie in die zurückschlagenden und Gott fremden Zornwirkungen hinein und verhärtet sich selbst". 9 1 2 Darüberhinaus aber waren die Wasser „die erste Materie" 9 1 3 ; dies ist ein Grund, warum sich Erde bilden und gestalten kann. Sie „ist aus Wasser und durch Wasser zusammen bestehend durch das Wort Gottes 2 Petr. 3 " . 9 1 4 Ihr sie kennzeichnender Unterschied zu den Wassern liegt in der „Verdichtung" der „dünnen und flüchtigen" Elemente zu „dicht e n " und „feuerbeständigen" 9 1 5 ; das gibt ihr aber auch ihre große Bedeutsamkeit: „Wenn ein dünnes Wesen zur Erde wird, so ist es erst vollk o m m e n " . 9 1 6 Die Erde hat ihren wesenhaften Wert in der leibhaften 9°8 Vgl. Theologie 141; Metaphysik 533. Phil Alt II 9. 910 Wörterbuch 447; vgl. 2,4. 23; auch diese Stelle verdeutlicht die Schwierigkeit, Oetingers Anschauungen unter einen Begriff zu packen; alle Vorgänge, die bisher unter der des elektrischen Feuers subsumiert worden waren, werden hier unter dem des „tingierenden" sal naturae gesehen. 911 Oetingers Denkansatz ist zweifellos bemerkenswert und wertvoll; dennoch kann er — für unser heutiges Verständnis — seltsame Blüten treiben: „Ein Weib zeugt lange Haare aus der weiblichen Selbstbewegung, wenn ein Mann lange Haare zeugt, so ist es eine erzwungene Sache wider die Natur 1 Kor 11,14" (Wörterbuch 448). 912 Wörterbuch 453; vgl. 2,5. 401. 134 u.ö.; vgl. dazu auch Oetingers Standpunkt gegenüber Malebranche: „Daß Malebranche den Kreaturen . . . Selbstbewegungsquelle abspricht, kann ich nicht gutheißen" (GülZeit I 126). 9 " Metaphysik 423. 9 »4 Wörterbuch 167; 2,4. 21 u.ö. 915 Vgl. Wörterbuch 167. ·»« Wörterbuch 168; vgl. Metaphysik 427. 909

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Darstellung alles Geistigen: „Sie ist dazu da, daß sie die Offenbarung des geistlichen Grundes abgebe, sie gehört mit zur Herrlichkeit Gottes, denn sie ist der Bestand davon". 9 1 7 Sie vermag dies, weil sie teil hat am Wasser, das sich sowohl als feuriges, als auch als materiales Element vorstellt. 9 1 8 Damit ist der Erde aber eine Wertstellung zugefallen, wie sie kaum größer ausfallen könnte. Ihr fallen Begabungen zu, die eigentlich im Raum des Göttlichen anzusiedeln sind: „Specifizierung und Hervorbringung der Arten" 9 1 9 , „Schweben über den Wassern" 9 2 0 , so daß Oetinger endlich sagen kann: „Gott ist Feuer . . . Die Natur ist Feuer". 9 2 1 Die Natur ist also „körperlich" und „geistig" geprägt, denn ,jeder Same [hat] drei Dinge in sich . . . , 1. die Schale des Leibes, 2. den attrahierenden Saft des Oels, 3. das tincturische Lebensfeuer" 9 2 2 ; „in jedem Körper sind die allerkleinste feurige Teile eingeschlossen" 9 2 3 , die Leben in Körperlichkeit garantieren. 9 2 4 An diesem Punkt kann Oetinger den schöpfungsmäßigen Unterschied zwischen der Natur und dem Menschen aufzeigen. „Wenn Gott sagt: die Erde bringe die Pflanzen hervor, die Erde bringe hervor lebendige Tiere, das Pflanzenreich und Tierreich, so redet er die Erde und das in ihr wirkende Principium agens an . . . ; aber bei der Schöpfung des Menschen ließ es Gott auf keinen Engel oder Principium agens ankommen". 9 2 5 Obwohl Gott in der Lage gewesen wäre, ein „anderes Principium agens [zu] substituieren" 9 2 6 , unterließ er es dennoch — die Schöpfung des Menschen unterscheidet sich wesentlich von der der übrigen Kreatur. Während diese ihr Leben zugleich mit der Materie erhalten hat, bekommt der Mensch es in „sukzessiver Ordnung vermöge einer neuen Einblasung in die bereits bereitete Materie". 9 2 7 Die Erschaffung alles Lebenden mit Ausnahme des Menschen vollzieht sich in einem Gang: das sich selbst bewegende Leben wird mit der trägen Materie verbunden. 9 2 8 Die Schaffung des Menschen hingegen geschieht in zwei Phasen und unter neuen Voraussetzungen: „Was den Leib betrifft, so nahm er [Gott] eine helle Materie . . . , formierte

9,8

»ι» 920 921 922 «3 924

Wörterbuch 16 7f. Vgl. PhilAlt II 7: „Feuer bewegt alles, Wasser ernährt alles", Theologie 142; vgl. Wörterbuch 736; Metaphysik 532. 533. Wörterbuch 736. Wörterbuch 205. 2,2. 2.87. Wörterbuch 204. Vgl. Wörterbuch 395. 396.

925 2,3. 502. 926 2,3. 502. 927 Theologie 186. 928 Vgl. Theologie 188; 2,3. 502.

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sie, daß es schon ein Mensch hieß, und was den Geist betrifft, so blies Gott diesen selbst ein, den ,Othem der Leben', in seine Nase, und also war der Mensch eine lebendige Seele". 929 Im Unterschied zur übrigen Kreatur ist die Materie bei der Erschaffung des Menschen, der Staub, die Erde, der Lehm, der nach Gen 2,7 geformt wurde, ,,ein Auszug aller zuvor belebten Kräfte der sechs Tagewerke". 930 Dadurch partizipiert der Mensch von Anfang an jenen Lebensformen, die Tieren und Pflanzen zukommen; er wird herausgeholt aus vormenschlichen und außermenschlichen Lebensbereichen, ohne daß er jedoch von ihnen abgeschnitten und getrennt würde. Die sich so ergebende Vorrangstellung des Menschen vor Pflanzen und Tieren 931 wird verstärkt durch die unmittelbare Schaffung durch Gott, während für Pflanzen und Tiere ja die Erde mit ihrem Principium agens zuständig ist, auch wenn sie „angesprochen" werden muß. 9 3 2 Neben die „Formierung" 933 des Menschen tritt als zweite Phase der Einblasungsakt. Oetinger legt großen Wert sowohl auf den Vorgang selbst, als auch auf den Inhalt dieses Vorgangs: „Gott blies dem Menschen ein den Odem der Leben. Dieses Einblasen lasse dir ja nicht als eine bloße Metapher vorkommen, sondern denke, Gott sage dadurch was Großes, daß er 1. eingeblasen, 2. daß er den Odem der Leben, nicht des Lebens, eingeblasen". 934 Zwei Dinge sind also hier von Wichtigkeit: die vom Schöpfer vorgenommene „Einblasung" und das „Eingeblasene". Der Ein929

2,3. 502; vgl. Theologie 188. 189; 1,2. 160; 2,6. 265. 2,3. 503; unter dieser Voraussetzung läßt sich das Verständnis vom Menschen als einem Mikrokosmos begründen (vgl. Theologie 191). 931 Die durch den Schöpfungsvorgang sich zeigende Vorrangstellung des Menschen vor den übrigen Geschöpfen wird von Oetinger unter christologischem Aspekt bestätigt. Der Mensch „ist . . . eine bewunderungswürdige Kreatur vornehmlich wegen der großen Absichten Gottes durch den Menschen . . . , den Menschen Christum J e s u m " (2,3. 502). Weil in G o t t alles danach drängt, sich leibhaft, in „Menschenf o r m " darzustellen (vgl. Wörterbuch 430; 2,5. 387; 2,3. 149; 1,1. 192 u.ö.), darum gibt er sich mit dem ersten Menschen, A d a m , bereits jene Gestaltform, mit Hilfe derer er sich anschaubar machen will und auch anschaubar macht. 932 Vgl dazu einen weiteren Gedankengang Oetingers, der zum gleichen Ergebnis führt: „Samen und Gewächse" sind aus den vier Elementen Feuer, Wasser, L u f t und Erde entstanden (vgl. Metaphysik 414); es fragt sich, so Oetinger, „was für ein Wesen bindet sie in die Gewächse zusammen? Nicht G o t t unmittelbar, sondern durch ein mittleres . . . Man heißt es . . . Spiritum r e c t o r e m " (Metaphysik 414). Zwar besteht auch der Mensch aus Feuer und Wasser (er ist ja ebenfalls ein lebendiges Individuum — vgl. Metaphysik 423), doch seine .Zusammenbindung' geschieht nicht durch ein .Mittleres', sondern durch G o t t unmittelbar. 933 Vgl. 2,1. 385, wo Oetinger — in Anlehnung an Böhme — aufzeigt, daß der Mensch bei diesem Schöpfungsakt an allen Lebensprinzipien teilhat, auch an den negativ geprägten; Wörterbuch 429 u.ö. * * 2,3. 506. 930

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b l a s u n g s a k t w i r k t als E r w e c k u n g der in der M a t e r i e a n g e l e g t e n K r ä f t e 9 3 5 ; in s e i n e m A b l a u f w i r d der M e n s c h e i n e „ l e b e n d i g e S e e l e " . 9 3 6 D i e Einblas u n g , das E i n h a u c h e n , ist m i t h i n j e n e r V o r g a n g , d u r c h d e n aus d e m „form i e r t e n M e n s c h e n " als der , K o n z e n t r a t i o n aller K r ä f t e der g r o ß e n W e l t " 9 3 7 e i n l e b e n d i g e s I n d i v i d u u m w i r d — O e t i n g e r n e n n t für die M e n s c h w e r d u n g die F o r m i e r u n g aus der Materie m i t ihrer T e i l h a b e an n i c h t m e n s c h l i c h e n L e b e n s f o r m e n u n d das E i n h a u c h e n als E r w e c k u n g j e n e s L e b e n s . D i e s e m e n s c h l i c h e L e b e n d i g k e i t aber ist u n t e r s c h i e d e n v o n der L e b e n d i g k e i t der übrigen K r e a t u r : „ G o t t b e g a b t e d e n M e n s c h e n m i t e i n e m g a n z a n d e r e n G e i s t als alle v o r h e r a u f g e b r a c h t e n K ö r p e r , u n d das u n m i t t e l b a r " . 9 3 8 Oetinger b e t o n t die unmittelbare Beziehung zwischen G o t t und Mensch, die d e n M e n s c h e n v o n der übrigen Kreatur a b h e b t ; d a n n g e h t e s i h m u m die L e b e n d i g k e i t d u r c h d e n „ O d e m d e r L e b e n " . 9 3 9 D e r Plural in dieser 935

Anders Benz, Elektrizität 58; für ihn ist der Akt des Einblasens ein nachträglicher zweiter Akt der Beseelung, nicht identisch mit dem ersten Akt der Beseelung; gegen dieses Auseinanderreißen des Schöpfungsvorgangs beim Menschen steht aber eindeutig ein Satz Oetingers: „Beides (das Natürlich-Seelische und das Geistlich-Himmlische) hat G o t t dem Menschen eingeblasen" (2,6. 176 — Kursivdruck nicht im Original; vgl. 2,6. 265: „Lichter und Kräfte, die aus dem Munde Gottes ausgehen, sind nicht materiell, sondern sie sind das, was die Materie belebt" (Kursivdruck nicht im Original). Es ist zwar richtig, daß „schon der Materie des Lebens, aus dem G o t t den Menschen schuf, das elektrische Feuer inne w o h n t " (Benz, Elektrizität 58), aber sie ist vor dem Einblasen Gottes genauso wenig aktuell wie die der Erde innewohnenden Kräfte, bevor sie Gott nicht angesprochen hat (vgl. vorne). Der vorgetragenen Interpretation leistet Benz eigentlich im Kapitel „Elektrizität und Heilung" (74—81) Vorschub, wenn er schreibt: „Der wahre .Magier' . . . hat nun die Fähigkeit . . . das im Schwinden begriffene, ermattende elektrische Lebensfeuer zu .verstärken'." Es geht bei dem Einwand gegen Benz keineswegs darum, jenes elektrische Feuer nicht in der Materie anzusiedeln, aber es geht darum, die Einheit des Einblasungsaktes als Verlebendigung und Vergeistigung aufzuzeigen. Wenn diese Einheit im Vorgang des Einblasens durchgehalten wird, dann läßt sich auch „die Frage nach dem Verhältnis der sensitiven und der vernünftigen Seele" (Benz, Elektrizität 60) leichter beantworten. 936 Vgl. 2,3. 502; Oetinger bleibt hier im Verständnis des Alten Testaments, nach dem der Mensch nicht aus mehreren Bestandteilen, etwa aus Leib und Seele, besteht, sondern zur lebendigen Seele geschaffen wird. Oetinger übersetzt (vgl. 2,3. 503) das hebräische Wort näpäsch mit Seele — es beinhaltet die Lebensvorstellung mit dem Schwerpunkt auf dem Individuum (vgl. Wolff 43). 937 2,3. 503; vgl. Wörterbuch 401: „Der erste Mensch war aus Staub, aber ihm war gleichwohl die natürlich verborgene Seele schon eigen in dem S t a u b " ; vgl. Wörterbuch 429 u.ö. 938 2,3 . 5 0 2. 939 Oetinger bleibt auch an dieser Stelle im Vokabular des Alten Testaments. Der von G o t t eingeblasene Hauch heißt dort neschama und gilt als der Terminus der „vegetativen Physiologie" (Wolff 96); er beschreibt das Verhältnis zwischen Mensch und Gott: Atem als Lebensmerkmal zeigt die Beziehung zwischen G o t t und Mensch (vgl. Wolff 97f). 239

Wortfolge ist für Oetinger von großer Bedeutung — etwa im Gegensatz zu den heutigen gängigen Kommentaren zur Genesis, in denen die Pluralfassung neschama hajjim keine Rolle spielt —, wie Oetingers Variationen zeigen. 9 4 0 „Odem der L e b e n " macht nicht nur deutlich, daß der Mensch anders zum Leben kam als die übrige Kreatur, weil in ihn Gottes Atem einströmt — womit Oetinger ja keineswegs andeuten will, daß G o t t sich selbst dem Menschen eingeblasen habe 9 4 1 —, sondern erklärt darüber hinaus, daß auch die Lebendigkeit des Menschen eine andere ist als die von Tier und Pflanzen. Wie aber sieht sie aus? „Odem der L e b e n " wird von Oetinger beschrieben als zweifaches Leben 9 4 2 : „ein höheres und niederes Leben" 9 4 3 , wobei das höhere als ein geistiges und das niedere als das stoffliche, materielle zu sehen ist 9 4 4 ; Oetinger verwendet darüber hinaus die Ausdrücke „seelisches L e b e n " und „Leben der Leuchte Gottes" 9 4 5 , „empfindliches und verständliches" 9 4 6 , „natürliches seelisches und . . . höheres" 9 4 7 und — mit den Worten Salomos — ein „viehisches und . . . ein höheres". 9 4 8 Oetinger ordnet dem Menschen also jenes natürliche Leben zu, an dem er durch die Materie als Auszug aller lebendigen Kräfte teilhat, das ihm durch das Einblasen Gottes zur aktuellen Lebendigkeit gerät und sich dann selbständig weiterentwickelt 9 4 9 ; Oetinger ordnet ihm ein weiteres zu, das in dem natürlichen nicht aufgeht, das sich dem irdischen, sinnlichen, sensitiven Leben zugesellt. Dieses Leben, von Oetinger als geistiges apostrophiert, wird in mehreren Entfaltungen gezeigt: Es ist die Verstandeskraft 9 5 0 und das „Fühlungswerkzeug" zu G o t t 9 5 1 , ein Wissen darum, „daß des Menschen Geist aufwärts steigt und die Ewigkeit in sich hat". 952 Nicht immer wird bei Oetinger das geistige Leben in dieser Koppelung ausgeführt; auch hier wechseln die Betonun940

Vgl. 2,3. 502: „Odem der vieles Leben in sich hatte"; 2,3. 502: „Colligatio virium"; Theologie 189: „Verbindung der Kräfte, welche die Materie in Tätigkeit setzen, bis Gott sie wieder einzieht" u.a. 941 Vgl. dazu die Definitionen „Gott als Leben spendendes Leben" (Theologie 88) und „Mensch als Behältnis des Odems der Leben" (Theologie 34). 942 Auch mit dieser Definition wird die Trennung, die Benz vornimmt, in seelisches Leben durch die Materie und Denkvermögen durch das Einhauchen zurückgewiesen. «43 Ehmann 566. Vgl. Ehmann 567. 945 Ehmann 565; vgl. Wörterbuch 76. 9« Wörterbuch 400. Metaphysik 548. 9« Wörterbuch 399. 949 Vgl. Wörterbuch 399 u.ö. 950 Vgl Wörterbuch 400; hier findet die Erkenntnistheorie ihren Grund. 951 Vgl. Theologie 189. 952 Wörterbuch 399; Wörterbuch 642.

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g e n m i t d e m j e w e i l i g e n T h e m e n z u s a m m e n h a n g ; d o c h der G r u n d d u k t u s bleibt eindeutig. A n dieser Stelle m u ß n o c h ein G e d a n k e Oetingers nachgeholt w e r d e n . O e t i n g e r spricht h ä u f i g i n V e r b i n d u n g m i t d e m z w e i f a c h e n L e b e n v o n der S e e l e d e s M e n s c h e n . A u f d e m H i n t e r g r u n d seiner — u n d d e r b i b l i s c h e n — A u s s a g e , d a ß der M e n s c h e i n e l e b e n d i g e S e e l e w i r d , u n t e r s c h e i d e t er darum auch eine ,zweifache' Seele, eine Seele mit doppelter F u n k t i o n . 9 5 3 D a s b e d e u t e t d a n n aber a u c h n i c h t s a n d e r e s , als d a ß das I n d i v i d u u m n i c h t e i n e S e e l e hat,

s o n d e r n S e e l e wird

u n d ist als z w e i f a c h e s L e b e n . 9 5 4 D a b e i

aber ist die g r u n d b e f i n d l i c h e E i n h e i t v o n L e i b u n d S e e l e f e s t z u h a l t e n 9 5 5

953 Vgl. PhilAlt II 36; 2,6. 127; 2,5. 163; Oetinger beschreibt die Seele nicht - wie herkömmlich üblich — nach Verstand und Willen; er hält diese Einteilung nicht für „echt und schriftmäßig" (Ehmann 202; vgl. 2,3. 505). Zwar läßt er sich auf die philosophischen Erörterungen bezüglich des Willens ein (vgl. Wörterbuch 685—688), erklärt den Willen allerdings nicht zu einer Seelenkraft (so Domer, Entwicklungsgeschichte 1024), sondern allenfalls zu einer „Wirkung der freitätigen K r a f t " (Wörterbuch 686), hält dagegen die Einteilung in Herz und Verständnis für angemessener, also die Differenzierung nach Leben (vgl. Wörterbuch 321: ,,Aus dem Herzen gehet das Leben") und Intellekt. 954 Es muß hier allerdings unterschieden werden zwischen der Seele des ersten Menschen und der Seele der nachfolgenden. „Das zweyfache Leben ist dem ersten Menschen eingeblasen worden im Stand der Unschuld, nach dem Fall aber, da unsere Seele durch Fortpflantzung aus sündlichem Saamen erzeugt wird, wird Seele und Geist nicht mehr auf solche Art eingeblasen, wie beym ersten Menschen, sondern der Geist ist nach dem Fall einer jedweden Seele gegenwärtig, anfangs als ein von aussen assistirendes Wesen, hernach, wann er dieses annimmt, als ein von innen würckendes göttliches Wesen, welches zuletzt innwohnend wird. Diesem nach ist Geist und Seele zwar in allen Menschen, in den Gottlosen einleuchtend, in den Frommen und Wiedergebohrnen aber wohnend und gebohren" (LT 230; vgl. Theologie 196; 2,2. 256 u.ö.). 955 Oetinger muß sich — gemäß seinem Vorhaben — in der „Theologie" mit den dogmatischen Formeln von Dichotomie und Trichotomie auseinandersetzen. Er spricht sich gegen die trichotomische Auffassung aus (vgl. Theologie 194; Wörterbuch 4 3 8 f f ) . Als für den Menschen konstitutive Elemente seien lediglich Leib und Seele, nicht auch der Geist anzusehen. Als Beleg führt Oetinger sowohl das Neue Testament an (er verweist auf Mt 10,28), als auch die Diskussion über den Begriff der Substanz: „Was tauglich sein soll für vernünftige und geistliche Tätigkeiten, das darf nicht als zwei Substanzen erfaßt werden" (Theologie 194). Da die Seele diese Funktionen zu übernehmen in der Lage sei, bedürfe es keiner weiteren Substanz. Auch der biblische Befund spreche gegen den Geist als Konstitutivum des Menschen. Im Fleisch-Sein oder im Geist-Sein bedeuten Existenzweisen, die jeweils dann Leib und Seele umfassen und betreffen (vgl. Wörterbuch 439). — Für Oetinger käme nur die dichotomische Auffassung in Frage, müßte er in diesen dogmatischen Formeln reden. Die Einteilung nach Leib und Seele nennt er die „natürlichste", doch finden sich bei ihm weder die Unterscheidungen von natura animae und natura camis, noch von anima rationalis und corpore organico; für ihn steht im Vordergrund das

16 GroBmann, Oetinger

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und deren Bezogensein aufeinander darzustellen. Für Oetinger ist die Seele nicht ein Teil, das geschaffen mit dem Leib in Verbindung gebracht werden müßte 956 : „Man kann die Seele nicht abgetrennt vom Leib ansehen: durch das Einsprechen des Odems Gottes ist Leib und Seele durchdrungen worden". 9 5 7 Mit dieser Festsetzung der Leib-Seele-Einheit 958 betont Oetinger seinen Gegenstandpunkt zu Leibniz und dessen Schule in eben demselben Maß wie mit der Definition der Seele als einem „Zusammengesetzten" 959 ; sie kann wegen des „Odems der Leben" keine Monade, kein „Einfaches" sein, denn „sie besteht . . . aus verschiedenen Kräften, die aus dem Munde Gottes ausgegangen . . . Alles geschaffene Leben . . . ist nicht einfach, sondern zweifach". 960 Damit ist aber auch der Ausgangspunkt wieder erreicht. Einblasen, Einhauchen bedeutet bei Oetinger nicht Herstellen von Identität — jene Ungleichheit von Seele des Menschen und Gott trotz ihrer Charakterisierung als „Gottes Ebenbild im Kleinen" 961 gewährleistet eben jene menschliche Freiheit, die in der Freiheit Gottes gründet und die ein Verhältnis Gottes zum geschaffenen Menschen herstellt, das seiner würdig und angemessen ist 962 ; sie gewährleistet aber auch Zusammengebundensein von Leib und Seele: „Den Leib sieht man, die Seele aber . . . sieht man n i c h t " (Wörterbuch 439; vgl. Wörterbuch 557 u.ö.). 956 Vgl. 2,1. 393; 2,2. 253; 2,4. 310; LT 177: „Man stellt sich die Seele insgemein als eine Monade von den Membranis des Leibes separirt vor, aber das ist nicht zu erweisen"; Ehmann 775: „Ein alles verkehrender Irrtum ist die Vereinigung der Seele mit dem Leib, da die Seelen aus der Materie entstehen, wachsen". 2,1. 336. Das Bezogensein aufeinander zeigt sich daran, daß die Seele sich ihren Leib schaffen m u ß , um zur Vollkommenheit zu gelangen (vgl. Metaphysik 6 2 2 u.ö.); daß sie des Leibes bedarf, um wirken zu können (vgl. LT 177. 242 u.ö.), weil von ihr die „Unterhaltung des leibliches Lebens gänzlich abhängt" (2,2. 317), und weil der Leib Einfluß auf die Seele nehmen kann (vgl. Metaphysik 629f). 959 Vgl Wörterbuch 555: „Sie ist ein Complexus verschiedener Kräften und Essenden, welche im Anfang herb, feurig und flüchtig sind, und in ihrem Fortgang süß, lieblich, sanft und fix werden"; vgl. Metaphysik 407. * * 2,6. 265; vgl. 2,2. 2 5 I f f ; Wörterbuch 555; Metaphysik 623; 2,6. 4 3 0 u.ö.; Oetinger b e r u f t sich bei diesem Gedankengang auch wieder auf Aristoteles und dessen Endelechie-Begriff (vgl. LT 94): nicht in sich ruhende Vollkommenheit, sondern Endelechie als Einheit aus Vielfältigkeit macht Seele aus. 96« 2,2. 252. 962 Dieses Verhältnis scheint Oetinger bei Malebranche nicht recht geglückt, da es ursächlich mit Malebranches Freiheitsbegriff zusammenhängt. Malebranche definiert das Wesen des göttlichen Willens als Liebe, der Wille des Menschen unterscheide sich im Wesen nicht von dem Gottes, auch er sei Liebe. Beim Menschen als einem kreatiirlichen Wesen sei die Liebe aber nicht mehr selbstgenügsam, sondern verlangend, strebend nach Glück. „Das Verlangen nach formeller Glückseligkeit oder nach dem allgemeinen Glück ist der Grund und das Wesen des Willens" (Entretiens sur la métaphysique, zit. nach Christine Orth, Malebranche und Augustinus, Köln 1940, 119). Für Malebranche ist es undenkbar, daß ein Mensch unglücklich sein will 958

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jene Nähe Gottes zum Menschen, deren der Mensch bedarf. 9 6 3 Oetinger wahrt den Abstand zwischen Gott und Mensch 9 6 4 : Beide koinzidieren nicht, aber sie sind so eng wie irgend möglich miteinander in Verbindung gebracht. Für dieses Unterschieden- und dennoch Verbundensein stehen auch Oetingers Gedanken zur Erschaffung des Menschen nach „dem Bilde Gottes". 9 6 5 Oetinger beschreibt die Gottebenbildlichkeit des Menschen als das ,,Bild Gottes in ihm". 9 6 6 Ebenbildlichkeit nennt bei Oetinger also nicht eine wesensmäßige Qualität des Menschen, sondern ist Ausdruck für ein vielfältiges Geschehen: Gott setzt sich in Beziehung zum Menschen; Kräfte werden in ihn eingesenkt; Gestalt- und Gestaltungsfähigkeit werden ihm beigegeben. Dieses In-Beziehung-Setzen und Wirkung-Stiften ist durch die Erschaffung in „seinem Bild nach seiner Ähnlichkeit" 9 6 7 geschehen. Für Oetinger sind Bild und Ähnlichkeit keine synonymen Ausdrücke. Unter Bild versteht er „eine Essenz, darinnen alles in Kraft liegt und alles daraus werden kann" 9 6 8 ; nach dem Bilde Gottes geschaffen sein heißt dann, an allen Kräften Gottes teilhaben, ja an seinem Wesen teilhaben. 9 6 9 Oetinger schreibt weiter: „Ähnlichkeit bezeichnet etwas Höheres" 9 7 0 ; nach Gottes Ähnlichkeit geschaffen bedeutet darum, an jenem „höheren" Leben teiloder etwas zu tun wünscht, was er als nicht gut empfindet; der Mensch fühlt sich unweigerlich zum Guten hingezogen. In der Seele des Menschen existieren also zwei Kräfte; die eine ist der Impuls Gottes selbst (das Streben nach dem Guten), die andere die Fähigkeit, dem konkreten Guten zuzustimmen oder die Zustimmung zu versagen. Letztlich ist also die Seele vorbestimmt zum Guten, ihre Freiheit besteht darin, den Bewegungen in ihr, die der Erkenntnis erstrebenswerter Güter folgen, nachzugeben oder sich anderem zuzuwenden. Für Oetinger besteht Freiheit in der Wahlmöglichkeit, die von G o t t verliehenen Fähigkeiten „da oder d o r t h i n " zu lenken (vgl. Gedanken 12) — jene ,einlinige' Freiheit von Malebranche verdiene — so Oetinger — diesen Namen nicht. 963 Vgl. 1,2. 67 u.ö.; hier läßt sich die Nähe Gottes darstellen als das Licht in seiner Charakterisierung des Blitzfeuers, das als Blitz seinen Schrecken verloren hat und als elektrisches Feuer „mit seinem ausnehmenden Natur-Balsam den Lebenssaft ern ä h r t " (Wörterbuch 398; die Vorstellung vom „Balsam der N a t u r " findet Oetinger bei Divisch — vgl. Metaphysik 438) — Nähe Gottes also als heilende und erhaltende Kraft (vgl. dazu auch Benz, Elektrizität, Kapitel ,.Elektrizität und Heilung" 74—81). 964 Vgl. dazu auch 2,4. 310: Oetinger erklärt Hiob 10,8 dahingehend, daß „Adam ersüich geformt, hernach gemacht worden" — die Formung gibt Teil an allen .göttlichen' Kräften, das Machen schränkt das Wesen ein: G o t t hat „den Menschen anfangs aus Leib und Seele zusammengeformt und hernach ein Individuum circumscriptum daraus gemacht". » s Gen 1,27. * * Theologie 184. Theologie 196. 968 Wörterbuch 522. 969 Vgl. 2,1. 377: „Der Mensch hatte keinen groben Leib aus verderblichem Fleisch". 970 Theologie 196.

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haben, das von Ewigkeit her ist. Die schöpfungsmäßige »Gleichheit' zwischen Gott und Mensch soll also auf keinen Fall eingeschränkt oder gar ausgeräumt werden; ist der Mensch Gottes Ebenbild, so „muß manches ähnliche vorgehen, was in GOtt selber vorgeht". 9 7 1 Doch die Gottebenbildlichkeit als strukturierte Gleichheit ist im Fall verlorengegangen; Seele ist jetzt — nur noch — „abgeleitete Quelle". 9 7 2 Oetingers Vorstellung von Gottebenbildlichkeit des Menschen gibt auch eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von seelischem und geistigem Leben, von sensitiver und vernünftiger Seele. Zunächst findet sich bei Oetinger die blanke Nebeneinanderordnung: „Neben dem hohen Verstands-Licht" besitzt der Mensch „eine psychische, irdische, sinnliche oder tierische Seele". 9 7 3 Betrachtet Oetinger das Problem unter dem Aspekt der Elektrizität, so ordnet er sie zueinander. 9 7 4 Aus beiderlei Vorkommen muß geschlossen werden, daß sich beide zur Verwirklichung ihrer Aufgaben und Funktionen benötigen. Oetinger definiert die psychische Seele als „ein sustentaculum des Geistes oder der anima rationalis". 9 7 5 Übersetzt man sustentaculum nicht einfach mit Stufe, sondern mit Lebensunterhalt, Nahrung — was ebenso möglich ist —, so ergibt sich das Bild einer Verklammerung von Organismus und Denken — ein „für die damalige Zeit kühner und revolutionärer Gedanke". 9 7 6 Nicht mehr Denken ist das Statussymbol des Menschen, mit dem er sich auf- und das Tier abwertet; der Geist wirkt nicht mehr allein, sondern „materielle Hilfs-Mittel (kommen) im Denken zusammen . . . ; also ist Denken eine vermischte Operation, und es ist falsch, daß ein Geist für sich allein ein denkendes Wesen sei" 9 7 7 — Geist und Leib werden in das engste Verhältnis miteinander gebracht. 9 7 8 Zur Beschreibung verwendet Oetinger Bilder, die recht seltsam anmuten, obwohl er sich auf das Alte Testament stützt. So argumentiert er: Der einge-

971 LT 177; vgl. LT 170; Metaphysik 618 u.ö. 972

ö f f D e n k 22; LT 90. «73 Wörterbuch 398f. 974 Vgl Wörterbuch 400: „Das kann nun unmöglich ohne zween Haupt-Regenten im Leib oder ohne intellektual und ohne sinnliche Seele begriffen werden. Es ist also ein doppeltes Leben im Menschen, das empfindliche und das verständliche. Jenes ist elektrisch, dies ist weit über die Electricité". 975 ,»Anhang zu der Theorie Electricitatis" 162f; zit. nach Benz, Elektrizität 62. 97 •» Theologie 162. toso Theologie 157. 1081

2,6. I f f ; diese Schrift ist im J a h r 1759 gedruckt worden; Rusche beantwortet die Frage, was Oetinger mit dieser Schrift erreichen will: „Er möchte vor allem die bedeutenden und führenden Leute seiner Zeit im Staat oder an der Universität darauf aufmerksam machen, daß es Zeit ist, sich mit der letzten Zeit auf Erden zu befassen" (Rusche 111). Zur Ansicht von Benz, sie sei „ein ganz konkretes ethisches, soziales, politisches und pädagogisches R e f o r m p r o g r a m m " (Benz, Bengel 550) vgl. Anm. 19 Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 1082 Vgl. 2,6. 27. 23. 24; 2,6. 58. 60. 63 u.ö. 1083 2,6. 7. 1084 Als bedeutsam muß hier angesehen werden, daß Oetinger absolutistisch gesinnten Herrschern erklärt, auch sie hätten sich auf die güldene Zeit vorzubereiten; daß er ihnen deutlich sagt, daß ihre Stellung hier sie nicht für die gleiche Stellung dort prädestiniert. Vergleicht man neben der „Güldenen Zeit" auch die Predigten Oetingers (im besonderen 1,4. 5 4 3 - 5 5 0 ; 1,3. 4 2 8 - 4 3 6 ; 1,5. 3 9 9 - 4 0 5 ) , so läßt sich der Schluß von Benz nicht halten, Oetinger gehöre zu den schwäbischen pietistischen Pfarrern, „die unter Berufung auf die Freiheit des Christenmenschen die absolutistische Regierungsform in Gestalt ihrer moralisch entgleisten Herzöge energisch und mutig bek ä m p f t haben" (Benz, Bengel 551; Benz n e n n t an dieser Stelle zwar keine Namen, aber der Zusammenhang läßt erkennen, daß er auch Oetinger und seine Freunde zu dieser Gruppe zählt). Es ist vielmehr zu lesen, daß Oetinger nicht gegen die Obrigkeit aufbegehrt, auch wenn sie offensichtlich den an sie gestellten Anforderungen nicht genügt: Er nimmt sie in Schutz, weil sie unter Gottes Gericht steht; er sieht es als unerläßlich an, „ g u t " von ihr zu reden, weil durch sie G o t t „im Werke ist", und er erwartet darum ihr gegenüber absoluten Gehorsam: „Wer nicht freiwillig Gehorsam

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wie auch die Untertanen. Das tausendjährige Reich, die „besten Zeiten des Reichs Christi" 1085 , führt G o t t herbei; er verwendet alle Anstrengung darauf, die Menschen in dieses Reich zu führen 1 0 8 6 — G o t t erweist sich auf dem Weg dahin als der Erhaltende zur Vollendung, die Erhaltung durch G o t t ist teleologisch ausgerichtet. Die A n t w o r t auf die hier aufbrechende Frage: „Inwiefern ist dann die teleologische Perspektive dieses Systems als Eschatologie anzusprechen?"

1087

ist die gleiche, die für Bengel

gegeben wird. „Für Bengel ist der Bezug auf das Ende für sämtliche Aussagen konstitutiv. Das kann aber wohl nur richtig eingeschätzt werden, wenn man es im Gegenüber zu bestimmten Interessen eines zeitgenössischen Wissenschaftsentwurfs sieht. Dieser Entwurf handelt von ewiger Wahrheit, von der Wahrheit sub species aeternitatis, und von einer Erkenntnis, die sich vom Licht im Zenit der Zeit erleuchtet weiß und die darum auf die wandernden Schatten der Geschichte keine Rücksicht zu nehmen braucht". 1088 Unter der Nähe des Eschaton sieht Oetinger die Erhaltung der Welt und ihrer Geschichte trotz aller äußeren Ungereimtheiten

1089

als Weg zur Vollendung, ist jedes Leben ein Teil eines

Ganzen und nicht durch T o d abgeschlossen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Für Oetinger ist Erhaltung die gegenwärtige Allwirkung Gottes, „ w i e und wann er w i l l " ; dies jedoch nicht als willkürliche Handlung 1 0 9 0 , sondern unter dem Aspekt, so wenig übt, den kann man zwingen" (1,3. 431); Oetinger weiß sich allerdings in Opposition zu den separatistisch genannten Kräften (vgl. 1,3. 431). Wichtig jedoch ist, daß seine Ausführungen den christlich-politischen Kräften die Möglichkeit eröffnen, mit einer Obrigkeit, die ihren christlichen Pflichten nachkommt, zusammenzuarbeiten. Den Schwerpunkt seines eigenen Lebens und seiner Lehre legt Oetinger aber darauf, ein „geruhiges stilles Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit" (1,3. 434 — vgl. auch 1. T i m 2,2) zu führen und im persönlichen Bereich dem Elend, daß es „eigensinnige K ö n i g e " (1,3. 430) gibt, abzuhelfen durch „Fleiß, Gelassenheit, Barmherzigkeit, Entschließung zum Besten, Aufgeräumtheit, Betrachtung des Zukünftigen" (1,3. 431). 1085 2,6. 1. 1086 insofern stimmt Rusches Schluß, daß die Eschatologie ,JMorm und Maßstab für alle dogmatischen Aussagen" (Rusche 243) sei. 1087 Sauter 34. ">88 Sauter 34. 1089 Vgl Rusche 128: „ A b e r nur ein Christ sieht den großen Zusammenhang der Werke Gottes, der ganzen Heilsgeschichte, spürt den Geist des Lebens, w o sonst T o d ist, und den des Sieges, w o Niederlage zu sein scheint". Dazu zählen auch die Zufälle in der Natur; sie sind von G o t t gewollt, letztlich aber auch in seinem großen Heilsplan eingeordnet (vgl. 1,3. 92); hier läßt sich nochmals Leibniz und Oetinger gegeneinander stellen. Für Leibniz gibt es nicht den Zufall, aber das Wunder: Regelhaftigkeit kann von Gott in besonderen Fällen aufgehoben werden und zwar durch Seinszusammenhänge, die allein von ihm durchschaut werden. 1090 Hier könnten sich Oetinger und Leibniz treffen; denn gegen nichts hat sich Leibniz mehr verwahrt ids gegen einen despotischen Gott, in dessen Belieben es liegt, über seine Welt und seine Kreaturen zu verfügen.

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wie möglich „Übles" geschehen zu lassen. Dabei „handelt [er] im Großen gleichsam nach einem unbedingten Ratschluß, im Kleinen aber nach der Vorsehung des Gebrauchs der Freiheit". 1 0 9 1 Erhaltung ist weiter ein vom Eschaton geprägtes Geschehen, damit Vollendung erreicht werden kann in der Geschichte (unter Einschluß des Menschen) als der fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes.

3. Gott — der Liebende und Zürnende a) Gottes Liebe — Gottes Zorn. Vom Ursprung des Bösen Es war ersichtlich geworden, daß Oetingers Aussagen deutlich bestimmt waren von dem Gedanken, daß Gottes Liebe und Güte die treibenden Kräfte seines Wesens sind. Davon muß auch ausgegangen werden, wenn von Gottes Zorn die Rede ist. Wie aber ist dann das Verhältnis zu bestimmen? Eine Predigt 1 0 9 2 über den Text Mt 2 3 , 3 4 - 3 9 mit dem Thema „Daß Gott lauter Liebe ohne Zorn sei" 1 0 9 3 gibt darüber Aufschluß. Oetinger beginnt: „Heute haben wir ein erschreckliches Evangelium, welches der Liebe, die Gott getrieben, Mensch zu werden, scheint entgegen zu sein; aber wenn wir es recht ansehen, so fängt es mit dem Zorn an, und endiget sich mit der Liebe. Ich will demnach reden von der Liebe und Zorn Gottes". 1 0 9 4 Oetingers Schlußsatz ist bedeutsam. Er verkehrt die durch den Evangelientext vorgegebene Reihenfolge Zorn-Liebe und legt zur Textinterpretation sein eigenes Prinzip an, das die Liebe Gottes über alles stellt. Gott ist also „die lautere Liebe ohne Z o r n " 1 0 9 5 — mehr läßt sich nicht sagen, und Oetinger kann diesen Satz nur immer und immer wiederholen. 1 0 9 6 Es ist undenkbar, daß in Gott sich Liebe in Haß verkehren könnte, Licht "»χ 1092 1093 1 094

2,5. 352. vgl. i > 2 . 5 3 6 - 5 4 3 . 1,2. 536. 1,2. 536. 1095 1,2. 5 3 8. 1096 Vgl. HerzTheol 6: „Gott ist lauter Liebe. Lauter gute und vollkommene Gaben kommen von oben herab, von dem Vater der Lichter. Ihr könnt nichts so gütiges, so süßes, so willfähiges, so herzliches gedenken als Gott"; 1,3. 26; 1,3. 480; 2,2. 213; Wörterbuch 343f; 1,2. 537. 539; 2,5. 83 u.ö. (Nach Ehmann 840 Nr. 26 stammt aus der Schrift „Kurze und leichte Herzenstheologie" nur die Vorrede von Oetinger; Ohly 56 erklärt, daß „die Schrift selber . . . keinen Aufschluß über den Verfasser (gibt)"; Häussermann 224 zitiert sie als Oetinger-Schrift; die Verfasserschaft ist hier nicht unbedingt zu klären, weil das Zitat nur eines von vielen ist).

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in Finsternis, daß Gott „von einem Bösen erregt und in eine Bitterkeit gebracht werden" 1097 könnte — das schließt das Wesen Gottes prinzipiell aus. Dennoch gibt es „die Geschichten der heiligen Schrift", die als die „Gemälde und Abzeichnungen der Liebe und des Zorns Gottes" 1098 zu gelten haben. Gottes Zorn ist damit eine Wirklichkeit, doch bleibt die Frage, ob er als Wirklichkeit in Gottes Wesen anzusiedeln ist. Oetingers erster Hinweis: „Aber keine Gelehrsamkeit kann es genugsam beantworten, ob wirklich in Gott ein Zorn sei oder ob es nur die Wirkung und dem Vorwurf nach also sei?" 1099 Seine Antwort zu diesem Problem fällt auf der einen Seite vorsichtig aus: „Inzwischen kann ich mir auch nicht alles beantworten" 1 1 0 0 , auf der andern Seite aber auch bestimmt: „Der Zorn Gottes ist nicht etwas in Gott, sondern er ist etwas aus dem Fall des ersten Engels". 1101 Damit ist die Grundposition geschaffen: Zu Gottes Wesen gehört nicht der Zorn, sein Wesen selbst ist Liebe. Der Zorn Gottes ist erst das Ergebnis des Falls Lucifere; er wird provoziert, besser: er ist durch das „unordentliche Wesen" „der abfälligen Kreatur". 1102 Dabei ist jedoch noch immer nicht eindeutig geklärt, ob der Zorn etwa in Gottes Wesen dergestalt eingeschlossen ist, daß er mit dem Luciferfall zur Offenbarung kommt. Dahin könnte ein Zitat Oetingers zielen; er schreibt: ,,Nicht als wenn solcher Grimm in Gott offenbar wäre, sondern weil die Bosheit der Kreaturen solches selbst erweckt, und auf sich zieht". 1 1 0 3 Deutlicher noch wird Oetinger im „Wörterbuch": „Es wird öffentlich kund werden, wie Satan den Zorn Gottes, der nicht in Gott ist, herausgesetzt, da er als eine unzugängliche Schärfe in Gott verborgen war". 1 1 0 4 Im Wesen Gottes ist der Zorn also nicht als Wirklichkeit vorhanden; treibende, übermächtige Kraft in Gottes Wesen ist die Liebe, die keine Gegenmacht zuläßt, Gottes Wesen selbst ist Liebe. Aber: Weil Zorn Gottes möglich sein muß und κ » ' 1,2. 5 3 8 . 1 098 1,2. 5 3 7 . 1099 1,2. 5 3 7 ; vgl. auch 1,1. 136: „Es ist ein großer Streit unter den Gelehrten, was der Zorn Gottes sei"; Wörterbuch 6 5 1 u.ö. ι « » 1,2. 5 3 8 . noi 1,1. 136f; vgl. 1,3. 5 9 ; 1,1. 3 8 7 ; Wörterbuch 2 9 8 . 4 8 5 u.ö. 1102 1,1. 387; vgl. Wörterbuch 2 9 8 . 5 4 1 . 705 u.ö. ii° 3 2,6. 4 6 . Π04 Wörterbuch 4 8 5 f ; vgl. Wörterbuch 34; Hardmeier 256 III interpretiert aus dem Prinzip der Schärfe eine Grundposition Oetingers, die besagt, daß in Gott selbst die Wurzeln des Bösen ruhen; dies widerspricht Oetingers Intention, denn dadurch würde der Zorn in Gott offensichtlich; zudem gilt gegen Hardmeier: Schärfe mit dem Bösen gleichzusetzen, widerspricht den Erläuterungen Oetingers in Wörterbuch 710. Ihr ist dagegen nicht zu widersprochen, w e n n sie betont, daß Oetinger gegenüber der idealistischen Philosophie besonderen Wert darauf legt, das Böse als reale Macht zu betonen (Hardmeier 34). Häussermann 2 6 4 ist vorsichtiger und spricht nur von einer „andeutungsweisen" A u f n a h m e der kabbalistischen Idee v o m Ursprung des Bösen aus Gott.

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schließlich auch wirklich werden muß — durch ,,die Unordnung der Kreatur erweckt und ausgeführt . . . durch böse Engel" 1 1 0 5 —, muß Zorn im Wesen Gottes so anwesend sein, daß er nicht offenbar, jedoch vorhanden ist. So ergibt sich auch hier wie bei der Finsternis: Jene Kraft des Zorns ist ,aufgehoben' in dem Kräftespiel in Gott. „Wahr ist, daß in dem unzugänglichen Licht Gottes alle Kräfte in unauflöslichem Band sind, als der Ursprung der Finsternis, Kälte, Hitze, Wirbelbewegung, Farben; aber das ist in der Herrlichkeit Gottes lauter Licht, und da ist nichts Wechselhaftes, nichts Dunkles, nichts Zufälliges offenbar" 1 1 0 6 — Zorn Gottes verwirklicht sich nicht als Zorn in Gott, „Zorn und Liebe ist eines in Gott" 1 1 0 7 ; die Pole einer Paradoxie sind im Wesen Gottes nicht erkennbar, sie werden ,nach vorne' verlagert: erst im Prozeß der Schöpfung treten sie als Pole in Erscheinung. Ist der Zorn nicht wesenhaft zu Gott gehörig, so ergibt sich eine weitere Folgerung: „Der Zorn Gottes hat die Proportion eines Augenblicks, gegen der ewigen Gnade". 1 1 0 8 Somit steht die geschaffene Welt nicht unter dem unaufhörlichen Zorn Gottes; vielmehr besteht die Möglichkeit, daß der Zorn Gottes in Liebe sich verwandeln läßt „von den Glaubigen" 1109 — der Zorn Gottes läßt sich abwenden: „Sehet, alle Glaubigen haben Macht, den starken und unendlich großen Gott sich gleich zu machen". 1110 So ist der Zorn Gottes nicht nur eine Wirklichkeit, sondern auch ein pädagogisches Mittel, denn „der Blitz, der Donner, der Platzregen und der Hagel [sind] Embleme des göttlichen Zorns . . . , welche alle Bösen bewegen sollen, die Güte und Gerechtigkeit Gottes in Christo aufzusuchen". 1111 Wenn Zorn zwar wirklich, in Gott aber nicht wesenhaft-wirklich ist, und wenn Zorn als pädagogisches Zuchtmittel anzusehen ist, wie ernst ist er dann zu nehmen? Wirft man einen Blick in „Die güldene Zeit", so liest man von einem Gott, der Grimm und Zorn „schalenvoll ausgießt über die Nationen, die ihn nicht kennen" 1 1 1 2 , der „die große Rache" über Christen und Nichtchristen kommen läßt 1113 , der mit Unbarmherzigkeit sein Gericht halten wird. 1114 Auch wenn der Zorn in Gott nicht u°5 2,6. 103. ι « » 2,6. 103. 2,1. 3 7 3. no» Schrei 109. 1107

h 0 9 1,3. 519; die Verwandlung des Zorns in Liebe ist deswegen möglich, weil der Zorn erst aktuell wird durch den ersten Schöpfungsvorgang (vgl. 2,2. 197); unwandelbar hingegen ist G o t t als Liebe, weil Liebe seine wesenhafte Grundbefindlichkeit ist. m o 1,3. 519. i m Theologie 239. 1112 2,6. 46. H " Vgl. 2,6. 27. 1114 Vg]. 2,6. 23; vgl. auch Wörterbuch 706: der seine Macht und Rache beweise.

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aktuell ist, so ist er dennoch weltweite R e a l i t ä t . 1 1 1 5 S o werden auch jene, die nicht mit ihm rechnen, ihn „als etwas Wesentliches sehen und innen w e r d e n " . 1 1 1 6 A u c h wenn Gottes ewige Liebe „als das Ebenbild Gottes alle Menschen wie eine Henne ihre K i c h l e i n " 1 1 1 7 sucht, verharmlost sie keineswegs das Streben des Menschen, sich eigenwillig auf andere Wege zu machen. Die Liebe Gottes bagatellisiert nicht. Darum muß der Mensch damit rechnen, daß „die Weisheit mit dem R e c h t " 1 1 1 8 zwischen G o t t als ewiger Liebe und dem Menschen als Verächter dieser L i e b e 1 1 1 9 tritt. S o wird der Zorn Gottes zu einer erschreckenden und Unheil bringenden Realität, denn „es ist recht bei G o t t zu v e r g e l t e n " . 1 1 2 0 R e c h t deswegen, weil der Zorn durch Satan zur Wirklichkeit wurde; es genügt nicht mehr, „daß G o t t die Kreatur medice curiert und h e r s t e l l e " . 1 1 2 1 Die Realität des durch Satan verursachten Zorns kann nur weggeschafft werden dadurch, daß die Ursache des Zorns aufgehoben wird, eben jenes „falsche Leben der P h a n t a s i e " 1 1 2 2 , das „ganze Reich der S ü n d e " 1 1 2 3 , die „unordentliche Vermischung der Principien des Lichts und der F i n s t e r n i ß " . 1 1 2 4 Die Beendigung dieses Zustandes ist das Erlösungswerk C h r i s t i . 1 1 2 5 Dabei geht es nicht um moralische E r n e u e r u n g 1 1 2 6 , sondern um kosmische Vorg ä n g e 1 1 2 7 , die das gesamte Universum und die gesamte Menschheit be-

1115 Vgl, 2,1. 377: „Das Licht wich zurück, die Finsternis brach hervor, alles war kalt und entzündet mit unordentlichem Feuer und verderbten Elementen. Da fraß der Zorn Gottes die Erde", m « Wörterbuch 298. 1,2. 539. 1,2. 539. m 9 Vgl. 1,2. 539; 1,3. 480 u.ö. 1120 Wörterbuch 486; bei Hamberger (vgl. Anm. in 1,2. 543) wird die Eigenständigkeit des Zorns nicht deutlich. Er formuliert: „So ist auch in der äußern Welt das Licht eine Freude und Wärme für jedes gesunde Auge, dem kranken, entzündeten Auge aber ist eben dasselbe eine Pein, nicht durch seine, des Lichtes Schuld, sondern in Folge der verkehrten Beschaffenheit des dasselbe aufnehmenden, oder vielmehr seiner Aufnahme sich widersetzenden Organes". 1121 Wörterbuch 487. 1122 Wörterbuch 541; vgl. Wörterbuch 707. 1123 Wörterbuch 705. 1124 L T 228. 112s vgl Wörterbuch 651. 487. 1126 Vgl. Wörterbuch 486: „Die Moralisten [wissen] . . . wenig vom Zorn und Feuer Gottes". 1127 Vgl. Wörterbuch 487 u.ö. Dabei ist der Vorgang wichtig, den Oetinger beschreibt: „Gott wird den Gottlosen ihr Licht wegnehmen. G o t t wird das reine Morgenlicht, das Siegel seines Namens von ihnen wegrücken" (Wörterbuch 296f; vgl. auch Wörterbuch 486. 213; 2,6. 23) - Gott entzieht also die Lebenskraft, die Elektrizität, die bei der Schöpfung jeder Kreatur mitgegeben wurde; damit ist „das jüngste Gericht . . . die Antischöpfung" (Benz, Elektrizität 85), allerdings nicht das nl8

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treffen, die weder die „Heiligen" aussparen 1128 , noch am Erlöser Christus vorbeigehen 1 1 2 9 ; erst wenn jeder und alles durch dieses Gericht hindurchgegangen ist, erst dann gilt Oetingers Ausruf in seiner Polarität ohne Verniedlichung: ,,0 Gott! Deine Schrecklichkeit ist die Quelle deines allersüßesten Lichts .... Wärest du nicht schrecklich, so wärest du auch nicht lieblich und schön". 1 1 3 0 Zusammenfassend: Der Zorn Gottes verliert bei Oetinger nicht dadurch an Bedeutsamkeit, daß er nicht aktuell in Gott wird; er gewinnt seine schreckliche Macht durch die Freisetzung mit Lucifer. Somit ist der Zorn Gottes nicht ein Attribut Gottes, sondern als Verwirrung der Ordnung ein universales Geschehen als Dauerndes — ,,das Gott nicht hat vernichten wollen, sonst hätte er das Ganze der Natur müssen vernichten" 1 1 3 1 — bis ins Gericht. Daß ein besonderer Nachdruck hinter dem Wort Zorn steht, erklärt Oetinger aus dem überaus häufigen Vorkommen in der Schrift 1 1 3 2 ; schon allein hieraus wird deutlich, daß es nicht ersetzt werden darf durch das Wort Strafe 1 1 3 3 , denn Zorn drückt nicht nur ein „Mißfallen Gottes" 1 1 3 4 aus, sondern „auch ein Wesen, das Gottes Heiligkeit und Reinigkeit täglich herausfordert, daß es durch eine Gegen-Anstaltung durch das Leiden und Tod, als eine umgreifende Sache, als ein Reich solle abgetan werden". 1 1 3 5 Somit werden mit dem Begriff Zorn mehrere Inhalte gefaßt 1 1 3 6 : Es ist das „Mißfallen Gottes über die Sünde in G o t t " 1 1 3 7 ; „in der Kreatur endgültige Ende (dazu vgl. später). Doch ist der Mensch auch hier hineingenommen in jenen Vorgang, der das gesamte Universum betrifft. 1128 v g l . Wörterbuch 487. 1129 Vgl. Wörterbuch 709: „Wie . . . hat Christus die Sünde der Welt getragen, wie hat er gezittert vor dem Zorn, wie hat er Blutschweiß geschwitzt, wie hat die Finsternis müssen ein Bild des Zorns Gottes sein, da Jesus nach langem dreistündigem Schweigen ausgerufen: Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?"; vgl. dazu auch Wörterbuch 715, wo Oetinger die Meinung zurückweist, der Zorn Gottes könne nicht Jesus betreffen, weil in ihm ja keine Disharmonie anzutreffen sei. Oetingers Argument: Der Zorn Gottes entlädt sich nicht nur da, wo er „etwas Widriges antrifft" (Wörterbuch 715), sondern „absolut über alle Werke des Teufels" (Wörterbuch 715). Weil Jesus die Gesamtheit der Schuld auf sich nimmt, trifft auch ihn der ganze Zorn Gottes (vgl. auch Oetingers Gegenposition zu Dippel: Wörterbuch 708. 487). U M 1,2. 574. »si Wörterbuch 707. 1132 vgl. Wörterbuch 704. 710. 1133 Dies ist Oetingers Vorwurf an Teller; vgl. Wörterbuch 704. 1134 Wörterbuch 704. 1135 Wörterbuch 704f. 1136 Vgl. Trautwein 172, der für Böhme und in Nachfolge auch für Oetinger eine zweiteilige Definition festlegt: widergöttliches Eigenleben der Kreatur und göttliches Gericht. 1137 Wörterbuch 665.

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das eingeführte Schlangen-Wesen" 1 1 3 8 als neue Wirklichkeit und Wesenheit; und das Gericht als das Opfer Jesu 1 1 3 9 — oder — in der Gliederung aus dem Artikel „Zorn" —: eine subjektive Seite, „daß etwas Böses in die Kreatur eingedrungen" 1 1 4 0 ist, und eine objektive Seite, „ein Vorwurf des Hasses Gottes" 1 1 4 1 — der Zorn Gottes ist nicht eine Gefühlsaufwallung Gottes, sondern er ist die Grundbefindlichkeit der Welt, ihre Wirklichkeit, „ein wider Gott empörendes Wesen . . . , grundbös" 1 1 4 2 , das nur mit einem Vorgang gleichen Wesens abgetan werden kann. Bleibt also die Liebe Gottes auf der Strecke? Oetinger antwortet mit Nein. Auch das schrecklichste Geschehen ist eingebunden in die Liebe Gottes, die sich im Vollzug erweist: in der Herstellung der Ordnung 1 1 4 3 und in der Hinwendung zum Menschen 1 1 4 4 , die allerdings nichts verwischt: „Gott [läßt] jeden finden, was er selbst gesucht, und bringe jedes Menschen eigene Werke über ihn". 1 1 4 5 Nicht Gott, aber die eigene Freiheit führt den Menschen in jenen Bereich, der als Zorn Gottes definiert wird. 1 1 4 6 Der Mensch wird nicht unverschuldet dem Zorn Gottes ausgesetzt 1 1 4 7 ; Gott handelt aber auch nicht ungerecht 1 1 4 8 , nicht gewaltsam, zufällig oder parteiisch 1 1 4 9 , sondern sein Handeln geschieht aus seinem Wesen als Liebe 1 1 5 0 , das den Zorn nicht aussparen kann, weil nur durch ihn die Liebe ihren Bereich >138 Wörterbuch 665. 297. ι » 9 Vgl. Wörterbuch 665. »40 Wörterbuch 710. » « Wörterbuch 710. » « Wörterbuch 718. » 4 3 Vgl. 2,5. 187. 1144 Ygi 2,4. 483; Oetinger scheint an diesem Punkt eine Entwicklung durchgemacht zu haben, wenn einer Eintragung seines jüngeren Sohnes J o h a n n Friedrich Glauben geschenkt werden darf; es geht um eine Anmerkung in dessen ungedrucktem Tagebuch vom 18.8.1776 zu Oetingers Satz aus seiner Frühschrift „Ordnung zur Wiedergeburt": „Die Liebe, die Gott zu seiner ewigen Weisheit und Ordnung hat, geht allem vor" (2,5. 187; Sperrung aufgehoben); sie lautet: „Mein Papa sagte mir, als ich von dieser Sache mit ihm redete, daß er diesen Satz nunmehr nimmer so nehme; er glaube vielmehr, daß G o t t einer jeden Kreatur ihr besonderer G o t t sei und sich nicht bloß allem nach seiner Ordnung richte. G o t t habe neben seiner weitaussehenden Ordnung, nach welcher er die Menschen insgemein regiert, noch unendlich viel besondere Wege, die mit in die Ordnung des Ganzen hinein verwebt seien; und eben diese gehen auf einzelne Individuen hier und dort, wo es nötig sei" (2,5. 187); vgl. 2,5. 78. 345. » 4 S 2,4. 395; vgl. 1,3. 423 u.ö. 1146 Vgl. HerzTheol 6: „Er versucht niemand, aber ihr werdet von eurer eigenen Lust versucht . . . , daß ihr die Spur Gottes verliert"; vgl. Wörterbuch 212 u.ö. » 4 7 Vgl. 2,4. 395. » « Vgl. ReGer 233. 1149 ygi. 2,4. 395. uso Vgl. 2,5. 83: „Wie G o t t in sich selber Liebe ist, so wirkt er a u c h " .

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wieder aufrichten kann, denn echte Macht kann sich nur in der Liebe verwirklichen. „Majestät und Liebe reimt sich bei der Welt nicht, aber bei G o t t " . 1 1 5 1 Erst vom Eschaton her gilt Rohrmosers Feststellung: „Die Macht des Bösen wird bei Oetinger unter Berufung auf die bleibende Assistenz und das Dabeisein Gottes begrenzt". 1 1 5 2 Bis zum Gericht bleibt das Böse als Macht der Welt bestehen, das sein Eigenleben in voller Schärfe und Konsequenz führt; würde es vorher schon von Gott begrenzt, bliebe die Freiheit des Menschen auf der Strecke, würde Gottes Handeln der letzte Ernst fehlen. Nur vom Eschaton her bleibt das Böse „vorläufig" und „Mittel zum Zweck im Heilsplan Gottes". 1 1 5 3 Hier liegt im Gegenüber zu Böhme der grundlegende Unterschied 1 1 5 4 : Böhme kann sich nicht vorstellen, daß die Gegensätze in ihrer erschreckenden Art wieder in die Einheit münden könnten; für Oetinger ist das Böse letztlich „nur eine partielle Unordnung im großen, weiten Raum der Harmonie, die beseitigt werden wird" 1 1 5 5 , und sie kann beseitigt werden, weil Gott im Ungrund selbst eine Einheit, nicht aber eine Dualität ist. Der Unterschied zwischen Böhme und Oetinger klärt sich bei der Fragestellung nach dem Ursprung des Bösen. Für Böhme ist das Böse das dunkle und negative Prinzip des Zorns in Gott 1 1 5 6 , für Oetinger ist es das Ergebnis der eigenmächtigen Handlung des Satans. Oetinger sagt eindeutig: Das Böse ist nicht in Gott 1 1 5 7 , sondern „in der Unordnung der Kreatur" 1 1 5 8 , es ist die „physische Verwirrung und Aufhebung der ursprünglichen Harmonie". 1 1 5 9 Im Vergleich zu Böhme verliert zwar Oetingers Gottesvorstellung in einem wesentlichen Zug; es fehlt die Schattenseite, aber die Auffassung vom Zorn und vom Bösen verblaßt usi 1,5. 296. 1152 Rohrmoser 201, der allerdings nicht vom Eschaton her denkt. 1153 Vgl. Trautwein 176. 1154 Zinn 19f sieht in der Art, wie der Gegensatz gedacht wird, den wesentlichen Unterschied zwischen Böhme und Oetinger. Für Böhme ist das dringendste Problem die Erklärung des Bösen in der Welt. Der Gegensatz ist darum der Widerstreit von Gut und Böse. Oetinger hingegen interessiere nicht die Frage nach dem Bösen. „Den Böhmeschen Grundgedanken vom Bösen, das in allen Dingen gegen das Gute kämpft, hat er sich nicht zu eigen gemacht. Damit aber ist er von dem bedeutendsten Gut seines Meisters unberührt geblieben" (Zinn 20). Hauck, Geheimnis 177ff = Naturphilosophie 21 Iff argumentiert wie Zinn. Sein Schlußsatz: Aus der Polarität erfolge bei Oetinger nicht die Uberwindung des Bösen, sondern der Durchbruch des Lebens (Hauck, Geheimnis 178 = Naturphilosophie 213). 1155 Trautwein 178; vgl. Theologie 146. 147. use Vgl. hier die Parallele zum kabbalistischen Sohar, wo der Grund des Bösen in einer der Sefiroth Gottes selber liegt — vgl. Scholem, Mystik 258 und Hardmeier 33f, die Scholem verarbeitet. Iis? v g l . Wörterbuch 298; Theologie 147. lise Wörterbuch 298. 1159 Theologie 147.

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damit keineswegs. Beide bestimmen die Wirklichkeit des menschlichen Lebens derart, daß das gesamte Leben entweder gut oder böse wird; beide sind nicht bloß ethisch-moralische Größen, sondern das Widersacherische schlechthin. 1 1 6 0 Erweist sich derart die Sachlage, so muß die Frage nach der Prädestination und der Gnade gestellt werden.

b) Prädestination und Gnade Oetingers Prädestinationslehre schließt das Kapitel der Lehre von Gott innerhalb der „Theologie" ab. 1 1 6 1 Theologiegeschichtlich gesehen, steht Oetinger damit jenen Theologen nahe, die den Ausgangspunkt für die Prädestinationslehre beim Gottesbegriff nehmen; er steht der Tradition Luthers und Melanchthons ferner, zur Prädestinationslehre bei der Lehre von Sünde und Gnade einzusetzen. Die Zuordnung stimmt auch dann noch, wenn Oetinger — wie in der „Theologie" — sehr bald die Gnade in die Abhandlung einbringt. Fundament der Aussagen Oetingers zur Prädestination ist die Feststellung, daß sie nicht zum Unheil, sondern zum Heil geschieht; dafür stehen die Berichte des Alten Testaments und die Beobachtungen des Neuen Testaments. Bei der Darlegung beruft sich Oetinger zunächst auf das Hiobbuch. 1 1 6 2 Seine Erkenntnis: Das Schicksal Hiobs bestätigt nicht den „Absolutismus eines göttlichen Ratschlusses" 1 1 6 3 , noch liegt „das monströse Hervorbrechen von, auf üble Erfolge dahin stürzender Kräfte" 1 1 6 4 in der Absicht Gottes. Den Geschehnissen liegt vielmehr die „Aufhetzung nämlich von Seite des Satans" 1 1 6 5 zugrunde, der allerdings „mit Erlaubnis Gottes die Kräfte der Natur dazu mißbrauchen konnte, Obel und Schmerz über Hiob zu bringen". 1 1 6 6 Dennoch ist — so Oetinger — „die Zurückziehung der Hand Gottes" 1 1 6 7 nicht ein Akt der Bestimmung zum Unheil, sondern bleibt eingebettet in die „Wege Gottes". 1 1 6 8 Es hat also nicht um das Aufsuchen der „objektiven Gründe der göttlichen Prädestination in Betreff des Hiob" 1 1 6 9 zu gehen, sondern um die Er1160 liei 1162 1163 ll172 Theologie 166. 1173 v g l . Theologie 166. »74 Theologie 166. 117J Vgl. Theologie 1 7 4 - 1 8 1 . il·» Theologie 175. 1177 Theologie 175. "78 Theologie 175. il·» Theologie 176. neo vgl. Theologie 177; 2,5. 83: „Gott wirkt nicht mit besonderem Vorsatz über diesen oder jenen, sondern er wirkt auf eine gewisse Art wie die Sonne . . . Die Sonne gibt sich ohne Unterschied".

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zum Heil, das mit und durch Christus zur Vollendung k o m m t 1 1 8 1 : „ E r zieht . . . zuerst seine Brüder zu sich . . . , er zieht aber auch die übrigen Toten an s i c h " 1 1 8 2 — es ist Gottes unwürdig, ihn „eines Ansehens der Person, einer Prädestination oder Parteilichkeit zu b e s c h u l d i g e n " . 1 1 8 3 Daher gibt es für Oetinger nur Erwählung, die in einer bestimmten Ordnung sich ereignet: ,,1) Es findet bei Gott ein Voraussehen des Falls Adams statt, 2 ) ein Beschluß, alle Menschen vom Untergang zu erretten, 3 ) der Wille, den Heiland zu senden, 4 ) eine Anordnung in Betreff der allen darzubietenden Heilsmittel, 5 ) die Vorauserkenntnis derjenigen, die an Christum glauben würden, und endlich deren Prädestination zum ewigen Leben".1184 Für Oetinger ist also Prädestination, aber nicht als ein Erwählungsratschluß — sei er supralapsarisch oder infralapsarisch 1 1 8 5 —, sondern als das „absolutum decretum amoris D e i " 1 1 8 6 ; und Prädestination wird immer zum sich ereignenden F a k t u m , indem der Mensch J a zur Erwählung s a g t 1 1 8 7 , nicht nur in seiner zeitlichen' Z e i t . 1 1 8 8 So sind die an Christus Glaubenden nicht die einzig Prädestinierten, „sondern nur die Erstl i n g e " . 1 1 8 9 Die vorbestimmte, vorverordnete Erwählung für alle setzt nun usi vgl. Theologie 179ff. 1182 Theologie 181. 2,5. 101. i " * Theologie 181f. • i 85 Oetinger kommt auf beide als die „Meinung der Reformierten" (Theologie 182f) zu sprechen. Dabei bezeichnet er die Lehre Calvins, Gott habe nicht die Menschen mit gleicher Voraussetzung geschaffen, sondern die einen zum Heil, die andern zum Unheil, als eine „Träumerei" (Theologie 182), deren sich viele Reformierte „schämen", „daher gehen die meisten zur Meinung der Infralapsarier über" (Theologie 182). In dieser Lehre ist zwar das verhängnisvolle Gottesbild, als habe Gott den Fall des Menschen gewollt, abgeschwächt; in Gott aber werden dennoch zwei „Vorsätze" gedacht: der der Gnade und der des Zorns (vgl. Theologie 182). Oetinger kann auch dieser These nicht folgen, weil sie nicht zugibt, „daß eine antreibende Ursache für den beschließenden und unterscheidenden Willen in den Subjekten vorliege" (Theologie 183; Kursivdruck nicht im Original); Oetinger wendet sich an anderer Stelle bei Untersuchung dieses dogmatischen Locus auch gegen Böhme: „Aus dem absoluto decreto amoris folgt, daß es kein absolutum decretum irae supralapsariorum gebe; . . . Böhm irrt hier in seinen Schlüssen" (2,1. 384). n 8 6 2,1. 384; vgl. auch Wörterbuch 527: „Sie bedenken nicht, daß jedem Menschen, wenn er geboren ist, von der Güte Gottes sein Los zugeteilt ist" (Kursivdruck nicht im Original). 1187 Vgl. 2,5. 8; 1,2. 386. lise Vgl. 2,6. 491: „Die gegenwärtige Zeit ist nur der Anfang meiner Dauer; es ist meine erste Kindheit, worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde; Tage der Zubereitung, die mich zu einem neuen und edlern Zustande geschickt machen sollen . . . Ich will nie das Verhältnis vergessen, worin diese wenigen Tage gegen die Ewigkeit stehen, die ich durchzuleben habe". H89 Auberlen 501. 1183

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aber auch allen eine Aufgabe: sich dieser Vorbestimmung würdig zu erweisen. 1 1 9 0 Das dieser vorbestimmten und vorbestimmenden Erwählung entsprechende Tun des Menschen geschieht, weil er erwählt ist, nicht damit er erwählt werde. Prädestination ist so auf jeden Fall nicht eine Vorausbestimmung des Menschen zum Unheil 1 1 9 1 ; es steht vielmehr fest, „daß der allgütige Gott so gar keinen aus unbedingtem Vorsatz verstocke, daß vielmehr . . . einem jeden der Verdammten eine Krone und Erbteil bestimmt gewesen, deren sie sich verlustig gemacht". 1 1 9 2 Was aus der Zusage zum Heil gemacht wird, liegt also bei den Menschen, die in ihrer Freiheit sich zuwenden oder abwenden können. Gott ist auf Liebe angelegt, und er will Liebe verwirklichen, darum gibt es sein Heilsangebot; darum heißt es auch, mit diesem nicht leichtfertig umzugehen, denn es ist ernstgemeint und zeitigt deswegen Folgen: „Denn wie einer Gott schätzt, so schätzt er ihn wieder, und wie er gegen Gott ist, so ist und wird Gott ihm wieder" 1 1 9 3 — fühlt sich jemand von Gott zum Heil berufen, so ist er es; meint er es nicht, so ist er es nicht. Auch bei Oetinger verflüchtigt sich die Gnadengabe nicht zu einem billigen Geschenk: „Denn Gott belohnt einen jeden mit der wohl angewandten Gnade, womit er ihm zuvorgekommen, und beweist sich auch in demselben Maß der Gnade gegen ihm; gegen den Verkehrten aber stellt sich Gott nicht nur als verkehrt, sondern er verkehrt sich in der Tat, nicht nach Menschenweise vom Guten in's Böse, sondern nach göttlicher unbegreiflicher Weise von der Barmherzigkeit in's Gericht der Verstockung". 1 1 9 4 Zum Unheil wird der Mensch nicht prädestiniert, sondern Unheil wird, weil und indem der Mensch sich selbst aus der Vorherbestimmung ausschließt. 1 1 9 5 Unheil und Gericht gelten also: Gott vergilt jedem sein Tun. 1 1 9 6 Aber Unheil und Gericht sind zu sehen vor dem Hintergrund der Vorbestimmung zum Heil 1 1 9 7 , die nicht nur für einen neo v g l . Theologie 174. 1191 Vgl 2,6. 488: „Er, dessen Weisheit und Güte sich überall in so sichtbaren Spuren offenbart, wird nichts geschehen lassen, davon das Ende ihm nicht anständig, und seinen Geschöpfen nicht heilsam sei". 1192

2,5. 90; vgl. 2,4. 146: „3. ,Die Narrheit eines Menschen', der einmal ohne Erkenntnis sich auf etwas Eigenes gesetzt und versteuert hat, ,wird seinen Weg' von einem gewissen Zweck .abführen, daß sein Herz wider den Herrn mürrisch wird', die Schuld auf Gottes ewige Bestimmung legt und mit seinem Schöpfer hadert, warum er ihn auf diese Wege geführt, da doch seine eigene Narrheit Schuld daran ist". «>» 2,3. 65; vgl. Wörterbuch 133. 2,3. 65. 1195 vgl. Theologie 167. 1196 Vgl. 2,4. 398. 1197 Vgl. 2,6. 414; 2,6. 489: „Es muß eine Zeit sein, da ein jeder das erhält, was ihm zukommt; da alles, was hier verrückt, und an dem Unrechten Ort zu stehen scheint, sich in sein gehöriges Geschicke, und die ihm gebührende Stelle hinsenkt".

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bestimmten Zeitraum und für bestimmte, ausgesonderte Menschen gilt; Prädestination als Gottes Gnadenwirkung ist „ein innigst substantialiter durch alles und in allen gegenwärtiges Wesen". 1 1 9 8 Prädestination ist damit eigentlich der Ausdruck für die Zusage Gottes, daß das Heil für die Welt — ihre Geschichte und ihre Lebewesen — in den Aeonen Gpttes verwurzelt ist 1 1 9 9 — sie gilt von einem Aeon zum andern, durch alle Zeiten hindurch. 1 2 0 0 Mit Auberlen gesagt: „Statt des vorzeitlichen Erwählungsratschlusses . . . erhalten wir die ewig lebendige, aber auch nach Ewigkeiten sich gliedernde Allwirkung Gottes; statt der zur Seligkeit Prädestinierten die Gemeinde Christi, deren Glieder jedoch nicht die einzigen Beseligten sind, sondern nur die Erstlinge und als solche ,das Ferment zu den folgenden Erhöhungen der Geschöpfe'; statt der Verworfenen eine lange Reihe verlorener Kinder, die aber in vielen Ewigkeiten nach und nach wieder heimgeholt werden; und also statt der zwei ungleichen Teile der Menschheit eine reiche Manchfaltigkeit von Stufen und Graden der geistlichen Erhöhung". 1 2 0 1 Man wird abschließend nicht sagen können, daß Oetinger die Lehre von der Prädestination in der „Theologie" nur deswegen abhandelt, weil sie von der Tradition vorgegeben ist 1202 ; sicher dagegen ist, daß sie nicht im allerersten Vordergrund seines theologischen Denkens steht 1203 , daß sie aber konsequent in sein theologisches Konzept eingebracht ist. Der scheinbare Widerspruch von Vorherbestimmung zum Heil und Strafe und Gericht löst sich auf. Auf dem Weg zur Wiederherstellung der Ordnung Gottes werden beide zu Zwischenstationen; so bleibt bestehen: Gott bestimmt „auch den Gottlosen zum bösen Tage" 1204 , aber Gottes Interesse muß darin liegen, die Empörung des Menschen, seine Ablehnung der Heilszusage nicht unendlich sein zu lassen, damit er selbst das letzte Wort behält, damit er endlich „alles in allem" sein kann. Die Prädestination zum Heil ist damit sowohl der Ausgangspunkt allen Handelns Gottes, als auch dessen Zielpunkt: For/ieHbestimmung als Heilsbestimmung und HeilsgeΊ98 Schrei 71. Π99 vgl. Theologie 167. 170. 1200 Vgl. dazu 2,6. 413ff; vgl. auch 2,6. 467: „Gott heißt nicht nur wesentlich: Vater der Herrlichkeit, sondern auch ökonomisch: König der Äonen". 1201 Auberlen 500f. 1202 Schutzes Behauptung (vgl. Freiheitslehre 216), Oetinger habe ein Nein zum Prädestinationsdogma ausgesprochen, läßt sich nicht belegen. Wieso die Bejahung des .Willkürlichen in Gott' „auch zur Bejahung einer starren Prädestinationslehre bei Oetinger hätte führen müssen" (216), leuchtet nicht ein. 1203 Zwar unterstreicht die Aufnahme eines Artikels unter dem Stichwort „Erwählung, Erwählte, Eklecti" (vgl. Wörterbuch 184) die Bedeutung des Vorstellungskomplexes, doch Oetinger handelt ausgesprochen spröde und kurz. 1204 2,4. 133 u.ö. 18 Grofimann, Oetinger

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wißheit. 1 2 0 5 Dabei hat der Glaube die Zuversicht, „ G o t t habe denen, die ihn lieben, alles von Ewigkeit schon zum Besten eingerichtet; es könne nichts geschehen, das nicht dahin mitwirke, daß also aus den Hindernissen im Glauben lauter Mittel werden" 1 2 0 6 ; die Vernunft aber hat ihre Schwierigkeiten wegen ihres eigenen Unglaubens und ihrer „Vergessenheit der Ordnung G o t t e s " . 1 2 0 7 Denn die Ordnung Gottes sieht die άνακβφαΚαίωσις των ττάντων1208 gesetzt und vollzieht sich sukzessiv in einer Reihe von Aeonen, denen jeweils „Vorgeordnete" erwachsen, bis endlich alle Menschen — über lange Zeiträume hinweg — teilhaben an dem Leben der Herrlichkeit G o t t e s . 1 2 0 9 Daß Oetinger diese Gedanken nicht lauthals hinausposaunen kann, liegt auf der Hand. Nicht nur, weil er auf den Widerstand der Orthodoxen träfe und sich den Zorn der Amtskirche zuzöge; die Gefahr des Mißverständnisses wäre zu groß. Denn Oetinger geht es nicht um die vorschnelle Zusicherung eines ,guten Endes', das die Ernsthaftigkeit des Weges eines Glaubenden ad absurdum führen würde. Seine Aussagen sind nicht mehr das ,Vorletzte', sondern nun wirklich das ,Allerletzte', das kaum auszudrücken ist, aber dennoch angedeutet werden muß.

c) Gottes Eigenschaften Oetinger handelt — wie bisher dargelegt — von Gott als einem Wesen, das prinzipiell in sich eine Einheit ist, das aber, wenn es sich dem Menschen mitteilbar machen will, zu vernunftmäßiger Erfassung ihm in Einzelwesenszügen begegnet. In der theologischen Diskussion wird dieses so gestaltete Verhältnis Gottes zu seiner Welt in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften dargelegt. Oetinger unterwirft sich in der „Theologie" als seiner Dogmatik diesem usus und handelt von dem Ab schnitt „III. Von den Eigenschaften G o t t e s " . 1 2 1 0 1205 Vgl. Wörterbuch 184. 1206 2,4. 483. 1207 2,5. 101. 1208 v g l . Theologie 178. 1209 Vgl. Theologie 175; vgl. dazu Oetingers Verständnis von der „Wiederbringung der Dinge": Wiederherstellung in die erste Ordnung; alles wird unter ein Haupt gefaßt (vgl. Wörterbuch 683). Hier wäre auch ein Ansatzpunkt für Oetingers Predigten an die Toten zu sehen, von denen — legendenhaft — gesprochen wird (vgl. Ehmann 425). Denn der Tod beendet für Oetinger das Leben eines Menschen nicht derart, daß er nicht weiter .nachdenken' könnte über die Heilszusage Gottes, um sie schließlich anzunehmen. 1210 vgl. Theologie 1 2 6 - 1 3 1 .

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Für das menschliche, subjektive Denken zeigen sich Erscheinungsweisen Gottes, die unter dem Begriff attributa gefaßt und dargestellt werden und damit als die nähere Beschreibung des Wesens Gottes angesehen werden. Oetinger betrachtet darum die Eigenschaften zunächst unter dem Gesichtspunkt der „scholastischen Methode". 1 2 1 1 Er zählt die Attribute Gottes auf und nennt: die Einheit, die Einfachheit, die Ewigkeit, die Unermeßlichkeit, die Allwissenheit, die Gerechtigkeit und die Güte. 1 2 1 2 Beim Vergleich mit dem Neuen Testament, das ja immer seine Basis ist, muß er feststellen, daß zwischen der scholastischen Reihe der Eigenschaften und den im Neuen Testament genannten ein erheblicher Unterschied besteht. 1 2 1 3 Betrachtet man die Begriffe, die Oetinger als die göttlichen Eigenschaften aus dem Neuen Testament entnimmt — Gott wird genannt: der König der Ewigkeiten, unvergänglich, unsichtbar, allein weise, selig, der alleinige Gewalthaber, der König der Könige, der allein Unsterbliche, der im unzugänglichen Licht Wohnende 1 2 1 4 —, so wird ein Unterschied in der äußeren Begrifflichkeit als auch in der inhaltlichen Füllung deutlich. Geht es in der scholastischen Reihung darum, mit Akribie solche Eigenschaften zusammenzustellen, die als Summe in größtmöglicher Totalität das Wesen Gottes beschreiben, so findet das Neue Testament seine Begriffe unter jenem Aspekt, der Gott in seinem Wesen als völlig unvergleichbar mit dem Menschen und im Prinzip unerreichbar von dem Menschen sieht. Oetinger wählt darum als Vorbild der Ausdrucksbefähigung dessen, was ihm selbst vorschwebt, die )r Newton'ianische Methode". 1 2 1 5 Newton gibt seine Beschreibungen nicht von einem Gott, der sich als schlechthin notwendiges Wesen darstellt, von dem Begriffe gefunden werden müssen mit dem Ziel der selbstgenügsamen Fülle und Vollkommenheit, dessen Attribute schließlich mit seinem Wesen identifiziert werden. Newton findet seine Begriffe aus der Betrachtung der Welt in ihrem Verhältnis zu Gott 1 2 1 6 , das sich als lebendig herausstellt, das Gott als den Tätigen erweist, so daß er nicht unter eine Liste statischer Begriffe subsumiert werden kann. So gewinnt Oetinger mit Newton eine Reihe von zwölf Eigenschaften — Ewigkeit, freie Tätigkeit, Allwissenheit, Weisheit, Macht, Allgegenwart, Immaterialität, Güte, Unveränderlichkeit, Leben, Einheit in der Unendlichkeit, göttliche Herrschaft und Autorität —, die in ihren Ausdrücken nicht unbedingt und überall von der 1211 1212 1213 1214 1215 1216

Theologie 128. Vgl. Theologie 126f. Vgl. Theologie 128. Vgl. Theologie 128. Theologie 128. So auch Hamberger, Theologie 128, Anm. 2.

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scholastischen Reihe unterschieden ist, die aber in der Interpretation der Ausdrücke abweicht. Bei Oetinger findet jede Eigenschaft für sich ihren Gehalt in der Beziehung zum Tun Gottes mit und an seiner Welt 1217 — die Eigenschaften Gottes werden bei ihm also nicht aufgezählt zur Gewinnung göttlicher Vollkommenheit: Gott bleibt nicht bei sich, sondern tut sich kund. Darum verzichtet Oetinger auch auf die in der Dogmatik übliche Beschreibung der Wege zur Gewinnung der Eigenschaften, darum verzichtet er auch auf die übliche Einteilung der Eigenschaften in positive und negative, absolute und respektive; ihm geht es nicht um „eine logische Ordnung bei dem höchsten Wesen", denn „eine logische Ordnung findet man . . . nicht 1 Tim 1 und 6 oder 1 Chron. 29,11". 1 2 1 8 Die Reihe von Eigenschaften hat nur einen Zweck und damit ihren Sinn: „wenn sie nur mit dem Wege, Gott aus den Kreaturen zu erkennen, besser übereinkommt". 1 2 1 9 Für Oetinger geht es also nicht bei der Angabe der Eigenschaften um die nähere Beschreibung des göttlichen Wesens; Gott hat keine Eigenschaften, sondern er ist „Actus purissimus aller seiner Eigenschaften". 1 2 2 0 Unter diesem Gesichtspunkt wird auch deutlich, warum Oetinger außerhalb der „Theologie" doch ziemlich nebenbei auf die Eigenschaften Gottes eingeht 1 2 2 1 : Sie sind kein zwingendes Problem; Gottes Wesen läßt sich für Oetinger nicht beschreiben und fassen als die „Summe irgendwelcher Eigenschaften, wozu er in den scholastischen Systemen der Orthodoxen fast gemacht wurde". 1 2 2 2 Beschreibt er sie, so geschieht es immer unter dem Aspekt des Wesens Gottes als unauflöslichem Leben 1223 ; nur auf 1217 Vgl, Theologie 128—131: Ewigkeit = die Notwendigkeit seiner Existenz; freie Tätigkeit — übermechanische Kräfte; Allwissenheit — „vermöge deren Gott die Atomen gezählet hat" (Theologie 129); Weisheit = Gegenwart in jedem Atom, Ordnung als Organismus; Macht = Regelung und Bewegung der Körper; Allgegenwart = substantielle Anwesenheit Gottes; Immaterialität = Durchdringung der Körper; Güte = Regularität der Erde; Unveränderlichkeit — aus Bestand und Gleichförmigkeit der Regeln zu erschließen; Leben = beständige Aktualität; Einheit in der Unendlichkeit — „Diese ergibt sich aus der Eintracht so verschiedener Dinge und übermechanischen Kräfte, welche aus Einer Quelle hervorgehen" (Theologie 131); Herrschaft und Autorität = „indem ja Alles in ihm lebet, sich beweget und ist" (Theologie 131). " i s Theologie 131. 1219 Theologie 131. 1220 Theologie 114; vgl. Theologie 114: „Was wissen wir von den Eigenschaften, die in Gott liegen?" 1221 Eine Ausnahme bildet „Cap. I a) Von Gott und seinen Tugenden" (vgl. 2,4. 448—450): Oetinger handelt hier von den Eigenschaften Gottes, die im Hiobbuch angesprochen werden; er erörtert also ein vorgegebenes Thema. 1222 Rusche 240. 1223 Dabei wird der Weg, den er mit Newton geht, nicht rückgängig gemacht; denn die Natur führt ja zu dem Schluß, daß Gott das Leben sein muß, von dem alles Leben sein Leben erhält.

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diesem Hintergrund ist von Attributen Gottes zu reden, und nur so sind sie zu verstehen. 1224 Soll Gott mit Hilfe von Eigenschaften beschrieben werden, dann kann dies nicht mit Begriffen geschehen, die außerhalb dessen liegen, was mit Leben zu tun hat. Darum ist auch hier Leibnizens bzw. Wolffs Angabe von Eigenschaften unzutreffend, weil sie von Gottes Aseität ausgehen. 1225 Denn Gott ist „ohne Eigenschaften in sich selbst" 1226 , sein Wesen läßt sich durch Eigenschaften darum nicht beschreiben; seinem Wesen läßt sich beschreibend nur nähern, indem ich aus der Natur Eigenschaften erschließe: Gottes „Wege [müssen] den Charakter seiner Eigenschaften an sich tragen". 1 2 2 7

4. Gott — der Eine und Dreieine Der Ort der Trinitätslehre innerhalb der Dogmatik gilt noch von jeher als umstritten; es gibt keine Einheitlichkeit in der Frage, wo die Trinitätslehre anzusiedeln ist. Während in der Alten Kirche die Trinitätslehre am Anfang dogmatischen Denkens steht, verliert sie — etwa im Mittelalter — diesen Platz zu Gunsten einer vorangestellten Prinzipienlehre — die Trinitätslehre beendet das Kapitel über die Gotteslehre. Mit Schleiermacher und seither auch in neueren Darstellungen ist die Trinitätslehre sogar an das Ende der Dogmatik gerückt — die Begründungen für die Einordnung sind so vielschichtig wie die Einordnungen selbst. Oetinger nun darf aufgrund der „Theologie" zu jenen Dogmatikern gerechnet werden, die die Trinitätslehre innerhalb der Gotteslehre behandeln. 1228 Sie findet ihren Platz im ersten Abschnitt, wo Oetinger „die Lehre von Gott als dem Einigen . . . vom Leben und von der Heiligkeit, von den göttlichen Eigenschaften selbst, dann von Gott als dem Dreieinigen" 1 2 2 9 darlegt. Die der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegte Gliederung stimmt also nur bedingt mit der Oetingers innerhalb der „Theologie" überein. Der Grund dafür liegt in der Systematisierung Oetingers selbst, für die er ja weniger inhaltliche Kriterien nennt, als vielmehr das formale, 1224 v g l . 2,2. 278. 354; LT 178; 2,6. 291. 124f u.ö. 1225 v g l . 2,2. 244; Theologie 128. i22« 2,1. 331. 1227 v g l . 2,6. 70. 1228 Vgl. den Aufriß innerhalb der „Theologie": 1. Hauptstück: Die Lehre von Gott; 1. Abschnitt: Die Lehre von Gott als dem Einen . . . und Dreieinen; 2. Abschnitt: Die Lehre von der Schöpfung und Vorsehung; 3. Abschnitt: Die Lehre von der Prädestination. Theologie 104. 277

die Anzahl der dogmatischen Loci zu verringern; unter diesem Aspekt kann eine abweichende Ordnung vorgenommen werden. Darüber hinaus hängt Oetinger die Paragraphen zur Trinität übergangslos an die von den Eigenschaften Gottes an, bar jeder Begründung für diese Maßnahme; sie kann lediglich erschlossen werden als die in der altprotestantischen Dogmatik übliche Ordnung. Ist für Oetinger in der „Theologie" das bindende Kriterium für alle dogmatischen Aussagen die Tatsache, daß Gott das Leben ist, so ist die Behandlung der Trinitätslehre am Ende dieser Arbeit ebenso oder ebenso wenig gerechtfertigt wie der von Oetinger vorgegebene Ort. Die Anlage dieser Arbeit läßt sich dennoch durch einen Gesichtspunkt verantworten: Im Verlauf der Abhandlung ist das Wesen Gottes in Einzeldarstellungen' behandelt worden; die Trinitätslehre ist darum hier — am Ende — notwendig, nicht als nachträgliche Ergänzung der schon fertigen Wesensbestimmung Gottes, sondern als grundsätzliche Aussage von dem Gott, der als der Vater im Sohn durch den Geist sich erschließt, der sich in Unterscheidungen offenbart, aber unauflöslich bleibt.

a) Trinität in der Sprache kirchlicher Orthodoxie Oetinger handelt zusammenhängend von der Trinität in den §§26 und 27 der „Theologie". 1230 Bemerkenswert ist, daß er nicht den Ausdruck Trinitätslehre verwendet, sondern von „den Geheimnissen der Dreieinigkeit" 1 2 3 1 sprechen will. Er setzt sich deshalb in der „Theologie" die Aufgabe, „den allgemein anerkannten Sinn jenes Geheimnisses, wie er in gewisse Formeln gefaßt ist, hier darzulegen". 1232 Da die Trinitätslehre als Dogma das Schriftzeugnis interpretiert, geht auch Oetinger in seiner Methode von dem biblischen Zeugnis aus, denn „man darf einem . . . in dergleichen Geheimnissen nichts aufdringen wollen, was sich nicht aus den ausdrücklichen Worten des Zeugnisses ergibt" 1233 ; die Aussagen zur Trinität haben, um legitim zu sein, also ihr Maß an der Schrift. Die Inhalte der Schrift aber haben in Formeln gefaßt zu werden — weil es seit dem Konzil von Nicäa die Tradition ist 1234 —, „die nicht von der Philosophie entlehnt sind" 123S , bis sie mit dem Inhalt der Schrift übereinstimmen. 1236 Schließlich müssen — so Oetinger —

1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236

278

Vgl. Theologie 1 3 1 - 1 3 6 . Theologie 131. Theologie 133. Theologie 131f. Vgl. Theologie 132. Theologie 132. Vgl. Theologie 132.

die im Laufe der Geschichte der Kirche gewachsenen Aussagen berücksichtigt werden. 1 2 3 7 So knüpft Oetinger in seiner Darlegung an den altkirchlichen Streit an, der um die Begriffe Hypostase und Person geführt wurde. Für ihn spielt die Kontroverse in der „Theologie" jedoch keinerlei Rolle; er benutzt ohne jede Einschränkung den Begriff der Person 1238 , weil — so Oetinger — er die Gewähr dafür bietet, daß mit ihm übereinstimmende Wesenszüge gleichermaßen dargestellt werden können wie differierende. 1 2 3 9 Darum führt Oetinger aus: Der Name, die Attribute, die Werke und die Anbetung 1240 bilden die Gemeinsamkeiten der Dreiheit der Personen als Vater, Sohn und Geist. 1 2 4 1 Diese Gleichheit ist der .Beweis' für die Einheit von Vater, Sohn und Geist in Gottes Eigentlichkeit, und sie läßt sich ,beweisen' 1242 mit Stellen des Alten und Neuen Testaments, die die jeweiligen Übereinstimmungen von Sohn und Geist mit dem Vater darlegen, „womit die Gottheit der einen, auch die der andern Personen bewiesen werde". 1 2 4 3 Dadurch, daß in den Berichten der Schrift Vater, Sohn und Geist die gleichen Bezeichnungen und Tätigkeiten zugeschrieben werden — für unser Thema des trinitarischen Bereichs besonders die opera ad extra 1 2 4 4 von Schöpfung, Erlösung und Heiligung 1245 , für die die dogmatische Formel gilt: „die innerlichen Werke Gottes sind ungeteilt, die der göttlichen Personen aber geteilt" 1246 (Gottes Einheit in der Dreiheit ist nicht allein nach ,innen' Einheit, sondern auch nach .außen' in Gottes Werk an seiner Schöpfung) —, findet die Einheit Gottes in den besonderen ,Darstellungsweisen' als Vater, Sohn und Geist ihren Ausdruck. Oetinger geht es nicht um den Beweis der Trinitätslehre — er ließe sich im Prinzip auch nur durch 1237 Vgl. Theologie 132. 1238 Vgl v o r allem Theologie 135: „Daß der heilige Geist nicht ein Attribut, sondern eine Person sei, zeigt . . . " . 1239 Vgl. Theologie 133. 1240 Vgl. Theologie 133. 134f: „So läßt sich beweisen, daß der Sohn dem Vater nicht bloß όμοιοιίσιος, sondern auch όμοούσUK sei . . . aus den Namen, . . . den Attributen, . . . den Werken, . . . der Anbetung . . . Daß der Heilige Geist als die dritte Person der Dreieinigkeit mit dem Vater und dem Sohne gleiches Wesens, όμοούοίος sei, beweiset . . . der . . . Name, . . . seine Attribute, . . . seine Werke, . . . die Anbetung" (Sperrung aufgehoben). 1241 Als Schriftbeweis für die Trinität überhaupt, also „die besondere Aufzählung der drei Personen" (Theologie 134), führt Oetinger — wie auch die alten Dogmatiker — den späten, unechten Zusatz aus 1. Joh 5,7 an, den Taufvorgang Mt 3, 16—17, den Taufbefehl Mt 28,19 und die παράκλητος-Stelle Joh 14, 1 6 - 1 7 . 1242 Vgl. Theologie 134—136 „§ 27. Der dogmatische Beweis für die Dreieinigkeit". 1243 Theologie 134, 1244 Vgl. Theologie 155 § 43. 1245 Vgl. Theologie 135. IM« Theologie 155.

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einen Zirkelschluß finden: die Trinität als Interpretation der Schrift auf dem Hintergrund des Wissens um das von der Christenheit verkündigte Dogma —, sondern um den Aufweis der Einheit: „So ist es denn Ein Geheimnis der Gottseligkeit, welches 1 Tim. 3,16· in seiner Einheit, sowie Joh. 17,21. in collektiver Weise erfaßt wird". 1 2 4 7 Jenes Vorhandensein einer „kollektiven Weise" aber führt an einen weiteren Punkt. Es muß — so Oetinger — festgehalten werden, daß diese Dreiheit unterschieden ist „voneinander hinsichtlich der persönlichen Akte, der generatio nämlich und der spiratio, woraus dann die Proprietäten sich ergeben, die paternitas, die filiatio und die processio". 1248 Oetinger bewegt sich hier in der Tradition der Orthodoxie. Die Trinität erweist sich in den innertrinitarischen Werken der generatio als dem Werk des Vaters an dem Sohn, und der spiratio als dem Werk des Vaters und des Sohnes am Geist, wodurch sich wiederum eine Unterschiedenheit der einzelnen Personen ergibt: Es kommt „namentlich dem Vater das generare, dem Sohne das generari, dem Geist das procedere zu. Die aktive generatio des Vaters ist die Bewegung der Einheit mittelst des reinesten Aktes in die Zweiheit, doch ohne örtliche Veränderung und ohne Teilung. Die passive generatio des Sohnes ist der Hervorgang des Erzeugten, ebenfalls nicht in örtlicher Weise, sondern als Offenbarung der erzeugenden Wesenheit nach innen zu erfassen: Wiederum ist auch die processio des heiligen Geistes nicht ein lokaler Ausgang, sondern es bringet derselbe vermöge eines ewigen hypostatischen Aktes Licht . . . und offenbaret sich". 1249 So werden also zwei Seiten ins Auge gefaßt: die ,Wesenheit' von Vater, Sohn und Geist und die je eigene .Eigentlichkeit' als Vater, Sohn und Geist. „Es ist . . . offenbar, daß Drei seien, die da in Wahrheit existieren: gleichwohl steht es fest, daß nur ein einziger Gott ist". 1 2 5 0 Diese Paradoxie bleibt bestehen und bleibt als Geheimnis erhalten und macht das Geheimnis aus; die Theologie aber eröffnet die Möglichkeit, eine ,,pragmatische Erkenntnis der Dreiheit zu gewinnen" 1251 , weil „die Seele, welche sich nach dem mit dem Heile zunächst Verbundenen sehnet" 1252 , der Zusage und Erkenntnis bedarf, daß „der Sohn und der Vater müssen eins sein, wenn, was der Vater von sich aussagt, durch den Sohn mit gleicher Kraft vollführt wird. Der Vater, der Sohn und der heil. Geist müssen eins sein, wenn, was Jehovah in seiner Person ausspricht, im Sohne durch den heil. Geist erfüllt wird". 1 2 5 3 Gott kann nicht der sich zuwendende 1247 1248 1249 1250 1251 1252 1253

280

Theologie Theologie Theologie Theologie Theologie Theologie Theologie

135. 133. 133. 118. 121 (Kursivdruck nicht im Original). 121. 122.

Gott sein ohne die Vergebung der Sünden, ohne Rechtfertigung und Heiligung. Vergebung aber wird durch den Sohn erfahren, Heiligung durch den Geist. Da aber die Erlösung der Grund des Heils ist, die Heiligung der Grund des Lebens, darum müssen Vater, Sohn und Geist Eins sein. 1 2 5 4 Man kann zur „Theologie" abschließend sagen: Oetinger ordnet sich der Doctrina publica unter; dennoch läßt sich — zumindest für jene Stelle, in der er von dem ,,Hervortreten des Erzeugten" und vom „Ausgang" des heiligen Geistes spricht 1255 — eine andere, unabhängigere' Ausdrucksweise erahnen. Darum stellt sich die Frage, ob Oetinger in weiteren Schriften, in denen er dogmatisch nicht so gebunden ist, seine Scheu ablegt. Diese Frage führt zum nächsten Abschnitt.

b) Trinität in der Ausdrucksweise der Kabbala Will die christliche Trinitätslehre Gott in seiner Einheit, Lebendigkeit und Offenbarung zum Ausdruck bringen, so ist verständlich, daß Oetinger gerade unter dem Aspekt der Lebendigkeit sich auf die Kabbala beruft. Bei der Untersuchung seiner Ausführungen zur Trinität auf dem Hintergrund des kabbalistischen Systems 1256 darf jedoch eine Voraussetzung nicht außer Acht gelassen werden: Oetinger schreibt nicht über Trinität als dogmatischem Locus, sondern er ¿eschreibt die Tafel in der Dreifaltigkeitskirche in Teinach; ihm ist also das Thema vorgegeben — was nicht ausschließt, daß er den Inhalten voll zustimmt — und zwar insofern, als jenes Bild „von der Dreyfaltigkeit, welche die Heil. Offenbarung nach Cabalistischer Art ausdruckt" 1257 , handelt. Darum weist er in der „Erklärung der Lehrtafel" 1258 zunächst erst einmal die vielleicht auftretende Vorstellung zurück, Gott sei „ein stillstehendes ruhendes Bilderwerck 1254 V gl. Theologie 122f. 1255 Vgl. Theologie 133. 125« Vgl. besonders LT 89ff; LT 13 Iff; mit Einschränkung LT 104ff; die Einschränkung bezieht sich auf den Umstand, daß „das Manuskript von HARTTMANNs Teilübersetzung des Werks von SOMMER . . . als verloren gelten" muß (LT Teil 2, XVII); es ist deshalb nicht mit Sicherheit auszumachen, ob die redaktionellen Zutaten Oetinger oder Harttmann zuzuweisen sind (vgl. LT Teil 2, XVII). Verstehe ich Häussermann 293 recht, so stammen sie von Oetinger; sollte es dennoch nicht der Fall sein, so ist der Abdruck eine Materialbeigabe, die, da in ein für Oetinger sehr wichtiges Buch aufgenommen, als in weitestgehender Übereinstimmung mit Oetingers Ansichten stehend angesehen werden muß und damit zur Interpretation herangezogen werden kann. 1257 LT 91. 1258

Vgl. LT 8 9 - 9 7 . 281

von 10 Haupt-Figuren . . . ; Und das ist es gewiß nicht" 1 2 S 9 ; denn es gilt: „Die Gottheit in der Heil. Dreyheit ist mehr einer lebendigen Quelle als einer gemahlten Tafel ähnlich". 1 2 6 0 Unter dem Gesichtspunkt der Lebendigkeit Gottes soll das Tafelbild „eine sichtbare Predigt" 1 2 6 1 werden „Erstlich von der Dreyfaltigkeit . . . , Zweytens von den sieben Geistern GOttes, so daß drey und sieben in zehen Personlich gemahlten Bildern . . . figurirt seyn . . . , Also Drittens von Christo". 1262 Oetinger erklärt diese von dem Tafelbild vorgegebene Gliederung als legitim, denn sie steht in Übereinstimmung mit der gliedernden Aufzählung in der Apokalypse. 1263 Er interpretiert: „Alle Glaubige empfangen den holdseeligen Gruß erstlich von der Dreyheit besonders, zweytens von den sieben Geistern GOttes besonders, drittens von JEsu Christo auch besonders". 1 2 6 4 Die Gliederung verdeutlicht sich weiter, wenn — so Oetinger — die Verbindung zum Sohar hergestellt wird, denn der „schreibt eben also: die drey obern Sephirot machen etwas besonders aus, die sieben untern auch, und der König Meßias, unser JEsus und Seligmacher, steht auch besonders, und dennoch lauft in Christo alles in Eins". 1265 Damit ist der Ausgangspunkt gewonnen: die drei oberen Sefiroth bilden eine besondere Gruppe, die in einem bestimmten Verhältnis zu der Gruppe der unteren Sefiroth zu sehen ist. Es gibt eine Ordnung, doch ist keine der Gruppen bevorrechtigt — „die Ausgänge sind gleich ewig" 1 2 6 6 ; dennoch gilt — um der Erfüllung der Schrift willen — die Paradoxie: Trotz der Gleichheit und Gleichwertigkeit der Ausgänge „muß in der Offenbahrung etwas seyn, das drey Stände anzeigt, drey selbständige Wiirckungen. Sonst hieß es nicht: der ist, der 1259 LT go. 1260 Lx go. 1261 LT 91. 1262 LT 91. 1263 Oetinger bezieht sich auf Apk 1, 4—5: .Johannes an die sieben Gemeinden in Asia. Gnade sei euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind; und von Jesus Christus . . . " . Es ist keine Frage, daß — wie Auberlen festhält — die Übertragung dieser Eingangsformel auf die Trinität „höchst willkürlich, ja unmöglich ist, weil gleich darauf (v. 5) Jesus Christus noch besonders genannt wird, was doch eine gesunde Exegese nicht wird mit Oetinger so verstehen wollen, daß Christus dort nach seiner göttlich-trinitarischen und hier nach seiner menschlichen Seite gemeint sei" (Auberlen 170). 1264 LT 91; vgl. auch LT 131; Wörterbuch 131: „Der Gruß von dem . . . ist eine der wichtigsten Stellen der heiligen Schrift". 1265 LT 91; die Verknüpfung von Sohar und Johannesapokalypse wird verständlich, wenn man weiß, daß Oetinger davon ausgeht, daß in ihr „ein sehr Cabalistischer Stylus" (LT 91) zu finden sei. Oetinger beruft sich auf Rhenferd, der den kabbalistischen Stil des Johannes „nach der Länge" beweist (LT 91), nämlich in seiner Schrift „De Stylo Johannes cabalistico" (vgl. 2,2. 351; 2,3. 501; Benz, Kabbala 52). 1266 LT 93.

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war, der k o m m t " . 1267 Auf dem Hintergrund dieser Paradoxie kann von Gott — dem Ens manifestativum sui — gesprochen werden als „Vater, Sohn und Geist, in dem Wohnhauß der sieben Geister". 1268 So ergibt sich die Schlußfolgerung: Die drei oberen Sefiroth „machen . . . die Dreyheit aus" 1269 , die sieben unteren die „Wohnung der Dreyheit". 1 2 7 0 Oetinger kennzeichnet im Verlauf der Darlegung die Dreiheit als „höchst intellectual". 1 2 7 1 Heißt das nun, daß er selbst sie rechtfertigen will 1272 , oder daß er sie als gegeben .benutzt'? Er argumentiert dazu: „Die Sieben heit ist eine doppelte Wohnung der Dreyheit, vereinigt in die Einheit; aber in der siebenden Zahl gibt sich die Dreyheit in der Herrlichkeit ein gewisses Maaß der Kräfte, wann schon die Herrlichkeit GOttes ohne Maaß ist". 1 2 7 3 Für Oetinger ist also die Trinitätslehre der intellektuelle Versuch, Gottes Wesen zu erfassen; darum ,spielt' er — allerdings ebenso intellektuell — mit dem Begriff, was er — so seine Absicht — darf, weil das Wort „kein Schrift-Wort" 1274 ist. Benz 1275 erklärt den Zusammenhang der Siebenheit in sich und ihre Koppelung mit der Dreiheit in einer mathematischen Formel: 10 = 3 + 2 X 3 + 1 ; abgesehen davon, daß Oetinger selbst dieser Arithmetik wehrt 1276 , gibt die Formel Oetingers Intention nur unzulänglich wieder; wenn überhaupt die Formelsprache benutzt werden kann, dann jedenfalls nicht die einer Gleichung. Denn: Die Zehnzahl ergibt sich zwar aus 3 und 7; aber die Sieben ist die Differentiation der Drei. Der Siebenzahl liegt zwar 2 mal 3 zugrunde, aber die 7 ist nicht die Summe aus 2 X 3 + 1 , sondern, sie wird als die ,Fassung' der „Herrlichkeit GOttes ohne Maaß". 1277 Daß damit keine Übersicht und Deutlichkeit, sondern weitgehend Verwirrung erreicht wird, soll nicht ohne Erwähnung bleiben; daß aber auch Oetinger an dieser Stelle nicht weiterspekulieren will, sagt er selbst; er blockt weitere intellektuelle Spitzfindigkeiten ab: „Ach wie will unser Maulwürffer Verstand sich unterstehen, anders als durch Lücken des Verstands aus

1267 LT 93; vgl. Apk 1,4.

1268 LT 94. LT 95. 12T0 LT 94; vgl. 2,3. 501. 1271 LT 94. 1269

1272

So Benz, Kabbala 54. LT 94. 1274 Wörterbuch 129. l " s Benz, Kabbala 54. 1276 Vgl. Wörterbuch 130; 2,2. 351: „Nur dies melde ich, daß Vater, Wort und Geist eine Inexistentiam mutuam haben, oder, daß keines ohne das andere sein kann. Darum kann Drei eins sein, aber nicht arithmetisch oder Zahlenartig". 1277 LT 94. 1273

283

kurtzen Worten sich Begriffe zu machen? " 1278 Aber Oetingers Problem ist ja nicht der Beweis der Trinität; in der „Erklärung der Lehrtafel" kommt es ihm — in Anlehnung und Ausdeutung des Tafelbildes — darauf an zu zeigen: Trinität ist eine — historisch gewachsene — Ausdrucksweise für das Wesen Gottes, wie es im Alten und Neuen Testament sich zeigt 1 2 7 9 und in der Tradition in eine Form gefaßt wurde. Die Vorgabe des Sohar, in den zehn Sefiroth die drei oberen und die sieben unteren zu unterscheiden, vereinfacht' ihm die christliche Interpretation als Dreiheit und Differentiation dieser Dreiheit. 1280 Aber Oetinger vergißt nicht, daß er sich um Verdeutlichung müht, die dennoch das „Geheimnis Gottes und Christi" nicht zu entschlüsseln vermag 1281 , aber legitim ist, weil die Sefiroth Lebendigkeit und Leiblichkeit Gottes ,besser' ausdeuten. 1282 Oetinger handelt in einer weiteren Passage der „Lehrtafel" von der Trinität, wiederum unter einem besonderen Aspekt, wie aus der Titelangabe zu ersehen ist: „Versuch, durch Vergleich des Juden Systems Herrn Grafen seines zu alteriren, daß sie der heiligen Schrift ähnlich werden". 1283 Oetinger beginnt auch hier mit dem Hinweis: „Es ist wohl zu bedencken, daß es in der heiligen Offenbahrung nicht heißt, der Dreyeinige GOtt grüßt euch, sondern daß da Drey und Sieben sind, von welchen zwey Grüsse ausgehen, und daß von JEsu Christo auch der Gruß besonders ausgehet. Daraus ist klar, daß der, welcher ist, war und kommt, sich LT 94. 1279 Vgl_ L T 9 4 : „Übrigens glaube ich nicht, daß die Dreyheit im Alten Testament anders als auf Sephirotische Art bekannt gewesen . . . ; aber die hellere Erkänntniß des Geheimnisses GOttes ist dem Neuen Testament allein vorbehalten"; vgl. auch 1278

LT 132; Wörterbuch 130; Wörterbuch 129: „Inzwischen ist ohne Dreiheit die Schrift nicht zu erklären" — dies beachtet Heinze nicht, wenn er meint, daß die Trinitätslehre in einem christlich-kabbalistischen System eigentlich überflüssig sei (vgl. Heinze 69). 1280 Heinzes Bemerkung, daß die Einteilung recht äußerlich wirke (Heinze 69), übersieht die Vorgabe des Sohar, bei dem die Einteilung j a inhaltlich begründet ist (vgl. Scholem, Mystik 196); vgl. zum Komplex den Vermerk von Benz: ,.Diese Verknüpfung der christlichen Trinitätslehre mit der kabbalistischen Sefirothlehre gehört mit zu den ältesten Traditionen der christlichen Kabbala. Sie bildet gerade im Bereich der schwäbischen Tradition christlicher Kabbala ein Hauptanliegen Reuchlins in seinen beiden Schriften „De verbo mirifico", 1494, und „De arte cabbalistica", 1516 (Benz, Kabbala 51); „In diesem zweiten Buch findet sich mit Hilfe kabbalistischer Buchstabenspekulationen der Nachweis, daß bereits in dem zweiten Wort des Schöpfungsberichtes, ,bara* (,schuf'), die ganze christliche Trinitätslehre enthalten ist, da der Buchstabe b auf ben, den Sohn, der Buchstabe r auf ruach, den Heiligen Geist, und der Buchstabe a auf ,ab* (.Vater') hinweist" (Benz, Kabbala 61, A n m . 63). 'Mi Vgl. LT 95 u.ö. s o auch Benz, Kabbala 51; Mann 237. 239. 1283 LT 1 3 1 - 1 3 7 .

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unter drey Offenbahrungen, welche die Cabbalisten Sephirot (Ausgänge oder Gläntze) nennen, abbildet und daß die sieben andern die Zahl der zehen Ausgänge oder Sephirot erfüllen und folglich die dritte Person uns unter der Gestalt der sieben besonders grüßt". 1 2 8 4 Es verdeutlicht sich: Oetinger faßt das Wesen Gottes, das sich in der Offenbarung ,anschaubar' macht, als sich offenbarendes Wesen unter drei Strukturierungen, die weitere Differentiationen um der Offenbarung als Kundgabe an den Menschen willen zulassen. 1 2 8 5 Sie sind als die unteren Sefiroth nicht — wie es die mathematische Formel von Benz intendiert — etwas Hinzukommendes, damit eine Summe erreicht werde: ,Dreiheit' und ,Siebenheit' sind nicht zu verstehen als die Zusammenfügung einer Fülle von Wesenheiten, sondern: „Der Geist GOttes ist ein einiger Geist, er specifizirt sich aber durch die Zahl sieben". 1286 Daß hier Fülle nicht durch An- und Auffüllung gedacht und erreicht werden soll, machen darüber hinaus zwei Ansätze deutlich. Zum ersten: „Dieses expansum ist passiv und nimmet alle Gestalten an, die ihm das activum . . . g i b t " 1 2 8 7 ; zum zweiten: Erfüllung ist das Sich-zum-Ziel-Bringen — wie Oetinger die Sefiroth-Reihe ja interpretiert. Oetinger setzt sich in dem vorgenannten Abschnitt eine weitere Aufgabe. Er will das Verhältnis Gott und Christus klären. Oetinger schreibt: „Ferner ist klar, daß Meßias vor sich besonders als Mensch anzusehen sey und daß er in Vereinigung mit den 10 Sephirot als das α und ω ist, in der Vereinigung mit der Menschheit (Offenb. J o h . 22, v. 13), wie der ewige GOtt ausser der Menschheit das α und ω ist (Off. J o h . I, v. 8)". 1 2 8 8 Jesus als der Messias ist also eine selbständige Person 1 2 8 9 und nicht ein Ausfluß Gottes; er gehört daher nicht zur Trinität hinzu. Die Betonung der Selbständigkeit hat zunächst mit der Abwehr Zinzendorfs zu tun, der Vater und Geist in der Christologie fast aufgehen läßt; sie hat für Oetinger aber prinzipiellen Charakter, wie dem „Wörterbuch" zu entnehmen ist. Dort schreibt er unter dem Stichwort „Dreieinigkeit, Dreiheit, Trinitas, Trias" 1 2 9 0 : „Der ist, der war, der kommt, ist eine Dreiheit, sieben dazu machen 10. Jesus Christus steht besonders und gehört hier ι * " L T 131. 1285 Vgl. dazu auch Theologie 134: „Der Ausgang des heiligen Geistes, sofern er von Seite des Vaters und des Eingeborenen erfolgt, ist zu unterscheiden von dem zirkularen Ausgang der . . . übermechanischen K r ä f t e " , i m ι , τ 102 = ö f f D e n k 5 0 ; L T 9 3 . 1287 L T 205 (Kursivdruck nicht im Original); vgl. L T 91.

1288 LT" 131.

1289 Vgl L T 121: Messias, der Sohn J o s e f s , J e s u s von Nazareth; E h m a n n 74; 1,3. 2 9 5 1290 v g l . Wörterbuch 1 2 9 - 1 3 3 .

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nicht zur Dreiheit. Wer dieses nicht verstehen mag, der sei immerhin unverständig". 1291 Jesus gehört also nicht in die Trinität, aber er wird zu ihr in ein Verhältnis gesetzt. Er ist als wahrer Mensch und wahrer Gott eine einzige Person, ganz der Welt zugehörig und als „die andere Person" 1 2 9 2 ganz der Gottheit zugehörig. Diese Paradoxie läßt sich verstehen, und sie ergibt sich, ,,da die menschliche Natur des Meßias keine eigene Subsistenz hat, sondern in der Subsistenz des Wortes, des λόγος, subsistirt". 1293 Die Verwirrung, die dem Leser erwächst, sobald Oetinger das christologische Problem aufgreift, wie die Person des historischen Jesu mit der Trinität in Verbindung zu bringen ist, löst sich: Die Fassung der Gottheit in Subsistenz ereignet sich in der Gestalt des Christus; im Person-Werden in Christus kommt Gott zur Ruhe, bildet er Ganzheit und läßt alle Aspekte seines Werdens anwesend sein. So stellt Oetinger die Verbindung mit der Sefirothreihe und innerhalb der Sefirothreihe her: das Verhältnis zur zweiten Sefira ist das von geistiger Kraft und modus subsistendi. 1 2 9 4 In diesem Zusammenhang muß Oetinger noch ein weiteres Problem in Betracht ziehen, das nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Sprachregelung geklärt werden kann. Er weist darauf hin, daß die Kabbalisten die Sefiroth nicht mit dem Ausdruck Person bezeichnen 1 2 9 S , „weil es sonst 10 Personen wären". 1 2 9 6 Er fährt fort: „Wir aber nennen sie in unserem Symbolo Apostolico mit allem Recht Personen oder Namen, weil JESUS gesprochen: Tauffet sie im Namen GOttes, des Vaters, und des Sohnes und des Heil. Geistes". 1 2 9 7 Dieser exegetische Trick bringt ihn in die Übereinstimmung mit der Doctrina publica 1298 , so daß er 1291 Wörterbuch 131. 1292 Vgl. LT 117; Ehmann 74. 1293 LT 121. 1294 Vgl. LT 131; 2,2. 351; Auberlens Schluß (ebenso Benz, Kabbala 54), Oetinger habe nirgends ein Verhältnis von der zweiten zur zehnten Sefira angedeutet, stimmt also nicht. Es darf aber nicht verschwiegen werden, daß Oetinger nicht konsequent verfährt; in LT 120 wird die dritte Sefira mit der zehnten in ein Verhältnis gesetzt, zwar aufgrund eines Bildes im Sohar, auch insofern zu recht, als die sieben unteren Sefiroth ja die modi subsistendi der drei oberen sind; trotzdem ist damit die Eindeutigkeit verloren gegangen und die Schwierigkeit, Trinitätslehre und Sefirothlehre in Übereinstimmung zu bringen, offensichtlich. '295 Vgl. LT 131. 1296 LT 132. 1297 LT 1 3 2 . 1298 Vgl. dazu Oetingers Argumentation LT 132: „In einer Doctrina publica muß es also seyn: Da muß eine allgemeine Formul ein Ende an allem Streit machen. Nachdem die Griechen und Lateiner so lange gestritten, ob man sagen soll Hypostasis oder Bestand-haltende ewige Verstand-Würckung oder ob man sagen soll: Person oder verständliches Wesen, das sich selbst bewußt ist; so ist es nun nicht mehr Zeit,

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weiter von Personen in der Trinität reden kann 1299 , ohne sich in seinen eigenen Vorstellungen zu vergewaltigen, denn: „Es ist aber nicht verwehrt zu forschen, warum sich die Heil. Offenbahrung eines cabbalistischen Stili bedienet, da 3 und 7 vorkommen" 1300 — Oetingers spezielle, eigenwillige Interpretation der Apokalypse und der Tradition eröffnet ihm die Möglichkeit, Deutungen der Trinität zu versuchen, die nicht unbedingt im allgemein-kirchlichen Verständnis beheimatet sind 1301 ; sein ausdrückliches Bekenntnis zum altkirchlichen Symbol aber gibt ihm die Freiheit und das Recht, unkonventionelle Überlegungen anzustellen. 1302 Dazu gehört eben auch die Benutzung des Ausdrucks Person innerhalb der Trinitätslehre, wobei zunächst festgehalten werden kann, daß Oetinger das christliche Symbol in seiner Fassung von Personen anerkennt. Darüber hinaus lassen sich jedoch weitere Feststellungen treffen. Oetinger hatte — wie schon gezeigt worden ist 1303 — mit der ersten Sefira die Räumlichkeit Gottes, die jeden Raum umgreift, ausgedrückt; mit der zweiten Gottes Selbstbewußtsein, sein Wissen um sich selbst, dargestellt; und unter der dritten die in Gott stattfindende Differentiation verstanden. Während Oetinger in der „Erklärung der Lehrtafel" und in dem Zinzendorf betreffenden Abschnitt eine Übertragung des Vorstellungskomplexes auf die Namen Vater, Sohn und Geist nicht vornimmt 1304 , findet sie sich eindeutig in den NB-Anmerkungen der „Philosophie der Ebräer": „Die höchste Crone (ktr 'ljwn) ist die Oberste höchste Sephira, nemlich die erste Person in der Gottheit. Unter dieser stehen zwey Sephiroth, eine zur Rechten und eine zur Lincken. Die zur Rechten ist der Verstand (bjnh), die dritte Person in der Gottheit, der Heilige Geist. Die zur Lincken ist die Weisheit (hkmh), die zweyte Person in der Gottheit, der Sohn GOttes, λόγος, das Wort" 1305 - die kabbalistische Sefiroth-Vorstellung ist damit eindeutig auf die christliche .personale' Trinidariiber zu disputiren. Unser Symbolum Apostolicum ist durch die Göttliche Regierung auctorisirt"; vgl. Häussermann 296. ι 2 " Vgl. LT 184 u.ö. ist» LT 132. 1301 Es soll nicht darüber gestritten werden, ob das ein Gutes hat oder nicht. 1302 Vgl dazu LT 135: Kaspar Schwenckfeld, den Oetinger etliche Male wegen seiner Christologie tadelt (vgl. 2,5. 460; 1,1. 233; 1,1. 459 u.ö.) will Oetinger dennoch „an seinem Ort stehen lassen" mit der Begründung, weil er „sich so redlich zum Symbolo Apostolico bekannt" habe; diesen Zusammenhang beleuchtet auch der folgende Ausspruch: Ich will „die Erinnerung geben, daß zwar die Verkehrung des reinen Sinnes von der Dreyheit viel schade, aber daß gleichwohl die practische Irrthümer . . . viel schädlicher seyen" (LT 131). 1303 Vgl Kapitel 4.2ab dieser Arbeit. 1 304 Die Ausnahme LT 95 geht auf die Einweihungsrede von Raith zurück, die Oetinger hier erwähnt.

1305 LT 122. 287

tätsvorstellung übertragen worden: „Die drei obern Sephiroth ist die Trinität" 1306 und: „Die drey erste Sephiroth . . . bedeuten . . . die Dreyheit der Personen in dem Göttlichen Wesen". 1307 Hier kann also kaum von „einem gewissen Zögern" 1308 oder einer Skepsis 1309 gesprochen werden, womit Oetinger den Ausdruck Person in der Trinitätslehre behandelt. Das Gleiche läßt sich auch für den genannten Artikel im „Wörterbuch" feststellen. Hier fehlt zwar der ausdrückliche Bezug auf kabbalistisches Vorstellungsgut, aber die Verwendung des Terminus Person ist nicht zu übersehen: , Jehovah eignet sich ohne Unterscheidung der Personen, Schöpfung, Erlösung und Heiligung zu". 1 3 1 0 Gott ist Schöpfer, Erlöser und ,Heiligmacher' 1311 ; die Personhaftigkeit einer jeden ,Wesensweise' aber ist durch das Neue Testament erhellt und bestätigt. 1312 „Gott ist eine besondere Ichheit, das Wort auch, der heilige Geist auch, denn er heißt enetvos, άλλος". 1 3 1 3 Oetinger läßt Zurückhaltung bei der Verwendung des Ausdrucks Person nur dort Platz greifen, wo er auf Böhme Bezug nimmt. Böhme selbst stellt den Selbstgebärungsprozeß Gottes im Ungrund mit Hilfe der Trinitätssymbolik dar. 1314 So heißt der Wille Gottes im Ungrund bei Böhme Vater, der gefaßte Wille des Ungrunds Sohn (auch Herz des Vaters) und der Ausgang des ungründlichen Willens Geist. 1315 Die Trinitätssymbolik wird von Böhme für einen Vorgang benutzt, der im Innersten, Unfaß13

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