Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) 9783787323371, 9783787312368

Der Versuch einer allgemeinen Auslegekunst ist einer der entwicklungsgeschichtlich bedeutendsten Texte der deutschen Auf

141 99 10MB

German Pages 113 [215] Year 1996

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757)
 9783787323371, 9783787312368

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

•• 1•

GEORG FRIEDRICH MEIER

Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna

FE LIX ME INE R VE RLA G HAM BURG

PH IL O SO PH I SC HE BI BL IOT H E K B AN D 4 8 2

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN: 978-3-7873-1236-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2337-1

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1996. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. www.meiner.de

INHALT

Einleitung .................................................................... .

VII VII

I. Leben und Werk Georg Friedrich Meiers ........ . II. Zur Geschichte der Hermeneutik im 17. und 18. XXI Jahrhundert bis zu Meiers Auslegungskunst .... . III. Meiers Auslegungskunst ..................................... . UV IV. Hermeneutische Billigkeit .................................. . LXXVII V. Grundsätze der Textwiedergabe ........................ . LXXXIX Ausgewählte Literatur .................................................. . Sachregister zur Einleitung ......................................... . Personenregister zur Einleitung .................................. .

XCI XCVII IC

Georg Friedrich Meier Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst Vorrede

§§

3

1- 6 Einleitung in die allgemeine Auslegungskunst ........................................................

5

Die allgemeine Auslegungskunst

Der erste Teil: Die theoretische Auslegungskunst. ......................................................

7

Das erste Kapitel von der Auslegung aller Zeichen ...........

7

7- 34 Der erste Abschnitt von der Auslegung überhaupt ................

7

§§ 35- 83 Der zweite Abschnitt von der Auslegung der natürlichen Zeichen

65

§§

VI

Inhalt

§§ 84-102 Der dritte Abschnitt von der Auslegung der willkürlichen Zeichen .........................................................

79

Das zweite Kapitel von der Auslegung der Rede .. . .. ... ... .... ...

85

§§ 103-130 Der erste Abschnitt vom Sinn der Rede ...... ...... ... .... ... ... .... ... .

85

§§ 131-208 Der zweite Abschnitt von der Erfindung des unmittelbaren Sinnes ......................................................

87

§§ 209-217 Der dritte Abschnitt von der Erfindung des mittelbaren Sinnes

89

§§ 218-248 Der vierte Abschnitt vom Kommentieren ................................

91

§§ 249-271 Der zweite Teil: Die praktische Auslegungskunst ........................................................

93

Anmerkungen der Herausgeber ..................................

98

Sachregister ....................................... ...................... ......

109

EINLEITUNG

!. Leben und Werk Georg Friedrich Meiers 1. Halle und seine Universität im 18. Jahrhundert

Georg Friedrich Meier lebte von 1718 bis 1777 in Halle und Umgebung. Halle an der Saale war im Jahre 1680 an das Haus Hohenzollern gekommen und bildete einen Teil des Staates des Kurfürsten von Brandenburg, des späteren preußischen Königs. Aus der kurz zuvor eingerichteten Ritterakademie ging die Universität Halle hervor. Sie wurde 1694 vom Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg (seit 1701 König in Preussen) gegründet. Die Universität entwickelte sich zu einem Mittelpunkt der deutschen Früh- und Hochaufklärung, wurde zum Zentrum des damals in der Blüte stehenden Pietismus 1 • Die Studentenzahl an der Universität war für Über die Geschichte der Universität Halle und das dortige Geistesleben insbesondere im 18. Jahrhundert informieren folgende Schriften: Förster, Johann Christian: Übersicht der Geschichte der Universität Halle in ihrem ersten Jahrhundert, Halle 1799; Hoffbauer, Johann Christian: Geschichte der Universität Halle bis zum Jahre 1805, Halle 1805; Schrader, Wilhelm: Ge· schichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. 1, Berlin 1894; Schneider, Ferdinand Josef: „Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus", Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für An· halt, Bd. 14, 1938, S. 137-166; Mende, Georg: „Die Universität Halle als Zentrum der deutschen Aufklärung", in Vierhundertfünfzig Jahre Martin· Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle a. d. Saale 1952, S. 1-9; Hinske, Norbert (Hrsg.): Halle. Aufklärung und Pietismus, Heidelberg 1989. Das Hallenser Universitäts- und Geistesleben wird auch behandelt in einzelnen Kapiteln von Justi, Carl: Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen. Ed. 1: Winckelmann in Deutschland, Leipzig 1866 (S. 46-91}, sowie von Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, ( 1. Aufl. 1

VIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

unsere Vorstellungen gering; imJahre 1730 studierten in Halle zwischen 1400 und 1600 Studenten. Die Zahl der Professoren belief sich im Jahre 1740 auf 38, und zwar einschließlich der außerordentlichen Professoren. Aus der Universität rekrutierte sich ein großer Teil der preußischen Beamtenschaft. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Halle innerhalb der deutschsprachigen Kultur besonders einflußreich. Ab etwa 1740 gewannen andere Geisteszentren an Bedeutung, so Göttingen durch seine neugegründete Universität und Berlin durch seine Akademie. Halle verlor allmählich seine herausragende Stellung. In Halle lehrten in den ersten Jahrzehnten als Vertreter der Aufklärung Christian Thomasius (1655-1728) und Christian Wolff (1679-1754). Thomasius, Jurist und Philosoph, trat für religiöse Toleranz und für die Humanisierung der Strafprozeßordnung ein; in der Erkenntnistheorie betonte er die Rolle der sinnlichen Erfahrung. Wolff, in der Tradition Leibniz', versuchte eine an der Mathematik orientierte strenge Methodik auf alle Gebiete der Philosophie auszudehnen. „Die zweite Phase der deutschen Hochaufklärung, die[ ... ] an den inhaltlichen Grundpositionen Wolffs im großen ganzen unverwandt festhält[ ... ] hat in dieser Stadt mit Georg Friedrich Meier[ ... ] einen ihrer eindrucksvollsten Vertreter" 2 • Halle war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Zentrum des Pietismus. Der Pietismus - in Preußen eine stark von Laien geprägte religiöse Bewegung von Dissidenten vom offiziellen lutheranischen Protestantismus - entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er betonte die persönliche religiöse Erfahrung. Man praktizierte Bibellesen in kleinen Kreisen; man bemühte sich um die religiöse Erziehung des Kleinbürgertums 3 • Philipp Jacob 1885) 3. erweiterte Auflage hrsg. und in einem Anhang fortgesetzt von Lehmann, Rudolf, Bd. 1, Leipzig 1919, S. 524-576. 2 Hinske: „Vorbemerkung" zu ders. (Hrsg.): Halle, a.a.O., S. 9-10. 3 Die Literatur über den Pietismus ist sehr reichhaltig. Deswegen können wir hier nur eine kurze Auswahl geben: Wallmann, Johannes: Der Pie· tismus (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. von Bernd Moeller; Bd. 4, Lief. 01), Göttingen 1990, gibt eine knappe Einführung mit einem Literaturüberblick. Hinrichs, Karl: Preußentum und Pietismus, Göttingen 1971, ist eine Darstellung des Pietismus in Preussen, die auch be-

Einleitung

IX

Spener (1635-1705) war der wohl wichtigste Initiator der Bewegung. In Preussen erhielt der Pietismus, wie ihn vor allem August Hermann Francke (1663-1727) vertrat, unter dem König Friedrich Wilhelm die offizielle Anerkennung. In dieser Zeit entstanden in Halle unter der Leitung von Francke die sogenannten Franckeschen Stiftungen: ein Waisenhaus mit dazugehörigen Schulen, sowie einer Apotheke und einer Druckerei. Halle war zudem das Zentrum de_r neuen pietistischen Theologie, insbesondere mit August Herman~ Francke, der auch Theologieprofessor war, nicht nur energischer und phantasievoller Unternehmer und Politiker, und mit Joachim Lange (1670-1744), der mit seinen Schriften wesentlich zur Vertreibung von Christian W olff aus Halle beitrug. Von Halle aus verbreitete sich der Pietisµrns auf die anderen Universitäten. „Freilich wurden zu Halle sofort die Gefahren der neuen Richtung handgreiflich, die Kollegien erhielten den Charakter von Erbauungsstunden, die Erweckung wurde zur Hauptsache, das emsige, geduldige Arbeiten in menschlicher Wissenschaft erschien fast überflüssig.[ ... ] Die massenhaften Gebete und geistlichen Übungen führten zur Überspanntheit, statt der zügellosen Burschen, welche die Hieber an den Steinen gewetzt und ungeheure Gläser Bier florikos oder haustikos - in einem Guß oder in Schlückchen - getrunken hatten, schlichen oder hüpften jetzt bleiche Gesellen durch

züglich der Aktivitäten von August Hermann Francke und der Entwicklungen in Halle sehr informativ ist. Speziell zum Hallenser Pietismus siehe Brecht, Martin: "August Hermann Francke und der Hallische Pietismus", in ders. (Hrsg.): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), Göttingen 1993, S. 439-539. Fulbrook, Mary: Piety and Politics. Religion and the Rise of Absolutism in England, Württemberg and Prussia, Cambridge etc. 1983, ist eine vergleichende Analyse des Pietismus mit Ausleuchtung des sozialgeschichtlichen und politischen Hintergrunds. Weiter unten zitieren wir aus Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 2, (1. Aufl. 1866) Berlin 51888, wo sich gute Beschreibungen der pietistischen Mentalität finden. Das wichtige Thema der Beziehungen zwischen Aufklärung und Pietismus ist Gegenstand des einführenden Aufsatzes von Poser, Hans: "Pietismus und Aufklärung. Glaubensgewißheit und Vernunfterkenntnis im Widerstreit", in Bachtage, Berlin 1985.

X

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

die Straßen der Stadt, in sich gekehrt, mit heftigen Handbewegungen, mit lauten Ausrufen" 4 • Bedeutsam an der theologischen Fakultät waren neben dem Pietismus auch Bemühungen um unparteiische historische Erkenntnis, insbesondere in der Religions- und Kirchengeschichte. Hier ist zunächst Johann Franz Budde (1667-1729) zu nennen, der neben philosophischen Schriften Arbeiten zur Kirchengeschichte verfaßte und bis 1705 in Halle lehrte. In den 30er Jahren wurde Siegmund Jakob Baumgarten (1706-1757), der ältere Bruder von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), Professor der Theologie 5 • Er war Anhänger der Philosophie W olffs und förderte den mit ihr verbundenen systematischen Denkstil. Außerdem war er stark an der Geschichtswissenschaft interessiert, die - wie er meinte - für die Verteidigung des christlichen Glaubens geeignet war. Siegmund Jacob Baumgarten leitete die Abwendung der Hallenser Theologie vom Pietismus ein. Die eigentliche theologische Aufklärung vertrat dann sein Schüler Johann Salomo Semler (1725-1791). In der Abhandlung von der freien Untersuchung des Ca· non betrachtete Semler die Bibel als eine Quelle wie jede Quelle geschichtlicher Erkenntnis und begründete damit das historischkritische Verständnis der Heiligen Schrift6 • In der Geschichte der Universität Halle im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts ist die Auseinandersetzung zwischen dem Pietismus und Vertretern der Hochaufklärung, insbesondere mit Christian Wolff, von besonderer Bedeutung. Wolff, der seit 1709 eine Pro4

Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, a.a.O„ S. 551.

s Über Siegmund Jacob Baumgarten siehe Schloemann, Martin: Sieg· mund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Über· gangs zum Neuprotestantismus, Göttingen 1974. 6 Über Johann Salomo Semler siehe Hornig, Gottfried: Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther. Göttingen 1961. Speziell zu seiner Hermeneutik siehe Hornig: "Hermeneutik und Bibelkritik bei Johann Salomo Semler", in Graf von Reventlow, H. (Hrsg.): Historische Kritik und biblischer Ka· non in der Aufklärung (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 41), Wiesbaden 1988, S. 219-236; und Hornig: "Über Semlers theologische Hermeneutik", in Bühler, Axel (Hrsg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Inter· pretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 192-222.

Einleitung

XI

fessur in Halle innehatte, wurde zur Zielscheibe der pietistischen Kritik. Vor allem Joachim Lange versuchte zu zeigen, daß Wolffs Philosophie mit dem Christentum unvereinbar sei, vornehmlich wegen ihres Determinismus und der Lehre von der prästabilisierten Harmonie. Die Pietisten scheuten sich nicht, den preussischen König gegen Wolff zu Hilfe zu rufen, und so kam es im Jahre 1723 zur Ausweisung Wolffs aus Preussen (mit der Androhung des Stranges für den Fall seines Verbleibs) wie auch zum Verbot der Wolfsehen Philosophie für die Lehre 7 • Die Zeit, zu welcher Meier aufwächst und an der Universität Halle studiert, ist bereits die Zeit des Niedergangs des Pietismus in Waisenhaus und Universität. 1727 war August Hermann Francke verstorben: „Die Bewegung hatte durch das Altern und den Tod ihrer führenden Männer immer mehr an werbender Kraft verloren; schwache Epigonen hatten auch hier ein großes Erbe angetreten"8. In den 30er und 40er Jahren kommt es zu einem allmählichen Wiedererstarken des W olffianismus und schließlich zu einem Ausgleich zwischen den Pietisten und den Wolffianern. Obzwar die Wolffsche Philosophie an der Universität Halle bis zum Jahre 1736 verboten blieb, gab es doch einige, die für deren Fortpflanzung in der Lehre und in ihren Schriften sorgten. Neben Martin Heinrich Otto (1706-1738), einem der Lehrer Meiers, waren auch andere Lehrkräfte für Philosophie dem W olffianismus zugeneigt9 . Insbesondere dürfen wir aber nicht vergessen, daß sich Siegmund Jacob Baumgarten, mit dem Meier eng verbunden war, für die Philosophie Wolffs interessierte, und daß seine Lehrweise unter dem methodischen Einfluß der Schule W olffs stand. Machen wir uns auch kurz die politischen und sozialen Verhältnisse zu Lebzeiten Meiers klar. Er lebte zur Zeit des Aufstiegs PreusZur Vertreibung von Wolff aus Halle vgl. etwa Hinrichs, a.a.O„ S. 388-441. Zu Joachim Langes Polemik gegen Wolff vor der Vertreibung siehe Bianco, Bruno: „Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff", in Hinske (Hrsg.): Halle, a.a.O„ 157-176. Zu Joachim Lange siehe auch Anm. 91. 8 Schneider: „Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus", a.a.O„ S. 139. 9 Ebenda, S. 148-52. 7

XII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

sens, zu dessen Herrschaftsgebiet Halle gehörte. Von 1713 bis 1740 herrschte Friedrich Wilhelm 1. (geb. 1688), der Soldatenkönig. Er schuf die preussische Armee und das preussische Beamtentum. Friedrich Wilhelm 1. fühlte sich zu dem in Halle vorherrschenden Pietismus hingezogen und unterstützte ihn. Auf ihn folgte von 1740 bis 1786 Friedrich II., der ,Große' (geb. 1712). Die aggressive Außenpolitik Friedrichs II. verwickelte Preussen in Kriege: den 1. Schlesischen Krieg von 1740-1742, den 2. Schlesischen Krieg von 1744 bis 1745 und schließlich den siebenjährigen Krieg von 1756-1763. Obwohl die politische Geschichte zwischen 1740 und 1763 von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt war, scheint das tägliche Leben in Halle und in seiner Universität nur wenig beeinträchtigt worden zu sein: „Zwar mußten einigemahl auf mehrere Wochen, wenn die Feinde in der Stadt waren, alle akademischen Arbeiten eingestellt, und vieles dem Privat-Fleiße der Studierenden überlassen werden; doch erhielt die Universität jederzeit von den feindlichen Generalen die Versicherung, daß kein Unfall derselben und ihren Studentenwiederfahren solle, daher auch während der Anwesenheit der feindlichen Truppen die Lectiones wider vorgenommen und oftemahls von den feindlichen Officiers besucht wurden" 10 • - Friedrich II. vertrat eine tolerante Religionspolitik. Dem Pietismus war er nicht gewogen; 1744, einige Jahre nach Antritt seiner Regierung, schrieb er: „Die Halischen Pfaffen müssen kurz gehalten werden; es seindt evangelische Jesuiter, und mus Man sie bey alle Gelegenheiten nicht die Mindeste Autorität einräumen" 11 • - In die Regierungszeit Friedrich II. fällt die Gründung der Berliner Akademie, deren Mitglied Meier war. Der aufgeklärte Minister Zedlitz machte sich um die Förderung der Gymnasien und eine Reform der Volksschulen verdient. In dieser Zeit beginnt auch Preussens Entwicklung zum Rechtsstaat.

Förster: Übersicht der Geschichte der Universität Halle in ihrem ersten Jahrhundert, a.a.O., S. 175-76. 11 Zitiert auf S. 187 bei Martens, Wolfgang: „Officina Diaboli. Das Theater im Visier des Halleschen Pietismus", in Hinske, Norbert (Hrsg.): Ha/. le, a.a.O., S. 183-208. 10

Einleitung

XIII

2. Leben und Werk Georg Friedrich Meiers* Die einzige Quelle für Meiers Leben - und von ihr hängen auch die biographischen Lexika ab - ist das Buch von Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers aus dem Jahre 1778 12 • Lange verwendet in dieser Schrift auch einige autobiographische Bemerkungen Meiers. Samuel Gotthold Lange (1711-1781) war ein Sohn von Joachim Lange, dem Manne, "der hauptsächlich die Feder gegen die Wolfische Philosophie geführt" (S. 8). Er und Meier waren eng befreundet. Diese Freundschaft belegt, daß der Hallenser Pietismus an Schlagkraft verloren hatte und eine gegenseitige Duldung von Pietismus und Aufklärung in Gestalt der W olffschen Philosophie möglich geworden war. Samuel Gotthold Lange war Pfarrer und tat sich auch als Dichter hervor. Wie Meier war er ein Freund der Philosophie von Alexander Baumgarten, und wie Meier unterhielt er gute Beziehungen zu Siegmund Jacob Baumgarten. Zusammen mit Meier gab er von 1748 bis 1768 eine moralische Wochenschrift nach englischem Vorbild heraus, die unter verschiedenen Titeln erschien 13 • - Meier und Lange kannten ein" Die Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers, Halle 1778. 12 Über Meiers Leben: Lange, Samuel Gotthold: Leben Georg Friedrich Meiers, Halle 1778; Baur, Gallerie historischer Gemälde aus dem 18. ]ahrhun· dert, Hof 1806, über Meier: S. 307-313; "Meier, Georg Friedrich", inAllge· meine Deutsche Biographie, Bd. 21, Nachdruck der 1. Aufl. von 1885, Berlin 1970, S. 193-197; Meusel, Johann Georg: Lexicon der vom fahre 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. IX, Nachdruck der Ausg. von 1809, Hildesheim 1967, mit Vollständigkeit anstrebendem Verzeichnis von Meiers Schriften auf S. 22-29. Die ausführlichsten neueren Würdigungen von Leben und Werk von Georg Friedrich Meier sind: Bergmann, Ernst:

Die Begründung der deutschen Asthetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe, Leipzig 1911, und Schaffrath, Josef: Die Philosophie des Georg Friedrich Meier. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsphilosophie, Diss. Freiburg/Brsg. 1939, Eschweiler 1940. 13 "Der Gesellige": 1748-1750; .Der Mensch": 1751-1756; .Das Reich der Natur und der Sitten": 1757-1762; und .Der Glückselige": 1763-1768 .•Der Gesellige" ist nunmehr auch als Nachdruck erschienen: Der Gesellige. Eine

XIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

ander seit 1739. Ihre Freundschaft dauerte bis zum Tode Meiers, also bis 1777. Meier schlug Lange vor, eine Abmachung zu schließen, „daß, wer von uns beyden den andern überlebt, dem abgegangenen ein Gedächtnis stiften, und sein Leben beschreiben soll" (S. 11). Da Lange Meier überlebte, war er es, der gemäß dieser Abmachung die Biographie des Freundes verfaßte. Georg Friedrich Meier wurde am 29. März 1718 in Ammendorf bei Halle geboren, damals Vorort, heute Stadtteil von Halle. In Ammendorf war Meiers Vater Dorfprediger. Die Kränklichkeit zeit seines Lebens (S. 19) wird darauf zurückgeführt, daß er kaum in den „Genuß der Muttermilch" (S. 18) gekommen sei. Sein Körper sei deswegen mager und schmächtig geblieben. Zunächst erfolgen Erziehung und Unterricht durch die Eltern. Meiers Vater ermunterte den Sohn zum Fleiß, „damit ich auch einmal ein Professor werden könte. Da er mir nun bey allen Gelegenheiten diesen Bewegungsgrund einflößte; so ist dieses natürlicher Weise die Ursache, warum ich von Kindesbeinen an, diese Absicht gehabt" (S. 22). Dies veranlaßt Lange zu folgender Bemerkung: „Der Dorfpriester Meier erzog seinen Sohn zum Professor! Viele Professoren erzogen ihre Söhne zu - nicht einmal Dorfpredigern" (S. 22). Wir erfahren, daß die Eltern ihren Sohn vom Umgang mit Bauernkindern abhielten. Meier war seinen Eltern hierfür offenbar dankbar: „Ich schätze dieses für eine der größten W ohlthaten, die ich meinen Eltern schuldig bin" (S. 19). Und auch Lange billigt diese Erziehungsmaßnahme: „Hätten wir nicht mehr große und tugendhafte Männer, wenn sorgfältige Eltern, zumal auf dem Lande, durch Verwehrung des Umgangs mit ungezogenen Kindern, die ihrigen, vor den Eindrücken der Niederträchtigkeit, des frechen Mutwillens, und des ungesitteten Lebens verwahreten" (S. 19). Der Knabe wuchs so ohne Spielkameraden auf: „Weil ich niemanden meines gleichen Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, Teil 1 und 2 (1748), neu herausgegeben von Wolfgang Martens, Hildesheim-Zürich-New York 1987. Zur publizistischen Tätigkeit von Lange und Meier vgl. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tu· gend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 17, 120, 128, wie auch insbesondere Martens: „Nachwort des Herausgebers", in Der Gesellige, a.a.O., S. 40F-431".

Einleitung

XV

hatte, mit dem ich in der Kindheit spielen konnte, so vertrieb ich mir die Zeit auf eine andere Art" (S. 23). Und das muß ihm leicht gefallen sein. Denn "ich habe beständig einen Eckei an den gewöhnlichen Kinderspielen gehabt" (S. 24). - Von 1730 bis 1735 besuchte Meier die Schule von Christoph Semler in Halle und wohnte in dessen Hause. Semler (1669-1740) war auch Mathematiker und war an Physik und Technik interessiert. Aus Draht verfertigte er Modelle des Sonnensystems nach Tycho Brahe und Kopernikus 14 • Bereits im Alter von 13 konnte Meier in W olffs Auszug aus den mathematischen Wissenschaften alle Sätze aus Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie beweisen. Im Alter von 15 begann er sich mit Physik, Logik und Theologie zu befassen. „Meier war mehr Seele, als Leib, von seiner Jugend an, und sobald er denken konnte, wollte er denken lernen" (S. 32). Im Jahre 1735, also im Alter von 17, nahm Meier das akademische Studium auf. Bei Otto hörte er Logik; bei Alexander Gottlieb Baumgarten Logik, Metaphysik, Naturrecht und ein Collegium philologicum über Jesaias. Siegmund Jacob Baumgarten war Meiers einziger Lehrer in Theologie. Oft hat der junge Meier bei ihm "Exegetica" gehört. „Ohne Anleitung" aber soll er Wolffs Werke gelesen haben. Neben dem Kollegien-Besuch betätigte sich Meier mit Predigtausarbeitungen, Predigen, Unterricht an der Schule des Waisenhauses und dem Erteilen von Nachhilfeunterricht. - Häufigen Umgang pflegte er mit beiden Baumgartens. Von Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung Meiers war nicht nur seine Freundschaft mit Alexander Baumgarten, die die Literatur immer betont, sondern auch seine Beziehung zu dessen sechs Jahre älterem Bruder Siegmund Jacob. Dieser hat Meier für die Universitätslaufbahn wohl starke Unterstützung zukommen lassen. Meier schrieb über ihn im Jahre 1748: "Ich bin dem Herrn D. [Doktor] Baumgarten bey nahe die Pflichten eines Sohns schuldig." 15 • Mehrfach hat Meier die Gelegenheit wahrgenommen, Siegmund Jacob 14

Zur "Realschule" von Christoph Semler vgl. Paulsen: Geschichte des

gelehrten Unterrichts, Bd. 2, S. 64-64. 15 Meier: .Ungedruckte Briefe", in Bergmann: Die Begründung der deutschen Asthetik, a.a.O.; hier der Brief an Bodmer, S. 260.

XVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Baumgarten in Streitschriften gegen Kritiker zu verteidigen. Er stand auch an Siegmund Jacobs Sterbebett und zusammen mit Samuel Gotthold Lange verfaßte er einen Nachruf auf ihn 16 • 1739 wurde Meier Magister der Philosophie. Im selben Jahr habilitierte er sich mit der Schrift De nonnullis abstractis mathematicis. Zunächst las er über reine Mathematik und hebräische Grammatik. Ab Ostern 1740 trat er in den ad plausum Alexander G. Baumgartens, der nach Frankfurt (Oder) ging. In seiner letzten Vorlesung empfahl Alexander Baumgarten den Privatdozenten Meier aufs beste 17 • Neben Lehrveranstaltungen über viele andere Themen hielt Meier "dann und wann" Vorlesungen über die Hermeneutica universalis. - Zu der Zeit, als die Schriften an der "deutschen Gesellschaft in Leipzig, und diejenigen, die zu den gottschedischen Streitigkeiten gehören großes Aufsehen erregten" (S. 40), empfand Meier, daß es ihm an Kenntnis der "schönen Wissenschaften" fehlte, also der Dichtkunst, Malerkunst und der Regeln von Dichtkunst und Malerkunst 18 • Er las daraufhin relevantes Schrifttum aus der Antike wie auch neuere französische Literatur zur selben Problematik. Meier schlägt sich im Streit zwischen Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger auf die Seite der Schweizer. 1746 erhält Meier auf Betreiben S.J. Baumgartens das Patent zum Professore Philosophiae extraordinario, 1748 das Patent zum Professore Philosophiae ordinario mit erstmals festem Gehalt. Vorher hat er durch eigenen Fleiß (wohl gegen Hörgelder) seinen Lebensunterhalt bestritten. - Später erhielt Meier mehrere Rufe nach außerhalb; er zog es aber vor, in Halle zu bleiben. Zweimal war er Prorektor der Universität. 1751 wurde er Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften. - Bei den Studenten scheint Mei16 Diese und andere Details über die Beziehung zwischen Meier Siegmund Jacob Baumgarten berichtet Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, a.a.O. auf S. 183-185; vgl. auch Meier: „Ungedruckte Briefe", dort den 18., 19. und 20. Brief. 17 Siehe Förster: Übersicht der Geschichte der Universität Halle, a.a.O.,

s.

117.

Zu Verwendungen des Ausdrucks „Schöne Wissenschaften" bei Meier siehe Strube, Werner: „Die Geschichte des Begriffs ,Schöne Wissenschaften"', Archiv für Begriffsgeschichte XXXIII, 1990, S. 136-216, dort: S. 158-165. 18

Einleitung

XVII

er beliebt gewesen zu sein. Gewöhnlich besuchten über 100 Studenten seine Veranstaltungen. Zu Meiers Schülern zählten Thomas Abbt (1738-1766) und der Kant-Kritiker Johann August Eberhard (1739-1809). Für die Nachfolge von Meier auf seinen Lehrstuhl bemühte sich der Minister Zedlitz, auch einer seiner Schüler, darum, Kant zu gewinnen. Als Kant absagte, wurde Johann August Eberhard berufen. Dadurch wurde Halle zum Zentrum der KantKritik. Im Jahre 1750 heiratete Meier eine Pastorentochter. „Seit der Zeit führe ich mit ihr das glücklichste und vergnügteste Leben" (S. 61). Die Ehe blieb kinderlos. Er verbrachte häufig Landaufenthalte in Giebichenstein (heute ein Teil Halles). Seine Gesundheit verschlechtert sich, er leidet an beständiger Schwäche, Husten, gelegentlichen Blutstürzen. Im Jahre 1776 erkrankt er an Engbrüstigkeit und „prostratio virium", er verliert also immer mehr an Kräften. Er stirbt im Jahre 1777. Meier war ein ausgesprochen produktiver Schriftsteller. Er verfaßte beinahe alle seine Werke in Deutsch, in einem Stil, der sowohl Eleganz wie Präzision aufweist. Meier schrieb über die verschiedensten Gebiete, über Metaphysik, Ethik, Ästhetik, Vernunftlehre, Religionsphilosophie 19 . Der Philosophiehistoriker Johann Gottlieb Buhle unterteilt Meiers Schriften in drei Gruppen: „erstlich sofern sie bloß compendiarische Wiederholungen oder weitläufige Erläuterungen der Leibniz-Wolffschen Philosophie und insbesondere der Baumgartensehen sind; zweytens sofern sie Abhandlungen über einzelne philosophische Materien enthalten, die bis dahin noch nicht genauer erörtert waren; drittens sofern sie Resultate originaler und eigener Untersuchungen Meiers liefern" 20 • Meiers Bücher über die Metaphysik und über die Sittenlehre gehören in die erste von Buhle erwähnte Kategorie. In sie gehört auch

Einige seiner Veröffentlichungen führen wir weiter unten auf. Ein Vollständigkeit anstrebendes Verzeichnis seiner Buchveröffentlichungen enthält Meusel, Lexicon (wie Anm. 12). Erscheinungsort der nunmehr aufgeführten Bücher Meiers ist durchweg Halle. 20 Buhle, Johann Gottlieb: Geschichte der Philosophie, Bd. 5, Göttingen 19

1803,

s.

18.

XVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

seine Vernunft/ehre (1752), deren Auszug Kant in seinen Lehrveranstaltungen verwendete. Hierzu zählen des weiteren seine Schriften zur Ästhetik in der Nachfolge von Alexander Baumgarten, mit denen Meier die größte Bekanntheit und Wirksamkeit gewonnen hat. Teils beschränken sich diese Schriften weitgehend auf die Darstellung der Ästhetik von A. Baumgarten, zum anderen Teil verteidigen sie diesen Standpunkt gegen Gottsched. Meiers frühe ästhetischen Schriften machten die Ästhetik Baumgartens überhaupt erst bekannt; denn er veröffentlichte seine Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748-50) einige Jahre vor der Publikation von Alexander Baumgartens Aesthetica (1750/58), die darüber hinaus in schwierigem Latein verfaßt war. „Umgang mit der ,anmutigen Gelehrsamkeit', mit den schönen Wissenschaften und Künsten, Bildung des Geschmacks, wird ein Hauptpunkt aufklärerischer Forderungen im 18. Jahrhundert für den Menschen" 21 . An dieser Entwicklung waren Alexander Baumgarten und Meier maßgeblich beteiligt. Zur zweiten von Buhle hervorgehobenen Gruppe von Werken Meiers zählen die Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit (1768-1771; 4 Teile) und der Versuch von der Nothwendigkeit einer näheren Offenbarung ( 1747). Besonders erwähnenswert ist die Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen (1759), in der Meier in gründlicher Weise psychische Fähigkeiten und Tätigkeiten beschreibt und klassifiziert. In die dritte Klasse von Werken gehört - wie Buhle meint - die Abhandlung Gedanken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (1746) und weitere Arbeiten zum selben Thema. Zunächst hatte Meier dargelegt, die Unsterblichkeit der Seele ließe sich nicht mit theoretischer Gewißheit demonstrieren. Er hatte aber zugegeben, sie sei praktisch gewiß („moralisch gewiß"), da keine Gründe gegen sie sprächen. In späteren Schriften revidierte Meier seine Position und er selbst versuchte einen Beweis zu geben, daß die Seele unsterblich sei. An erster Stelle unter den Werken Meiers, die originale Untersuchungen liefern, erwähnt Buhle den Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Hier werde zum ersten Mal die „Idee einer für 21 Martens, Wolfgang, „Officina Diaboli. Das Theater im Visier des Halleschen Pietismus", a.a.O., S. 199.

Einleitung

XIX

sich bestehenden systematischen Hermeneutik" zum Ausdruck gebracht 22 • Über Meiers philosophische Leistungen äußert Lange sich folgendermaßen: „sage ich, Nach Leibniz und Wolfen sey Meier der größte Philosoph, den Deutschland gehabt. Meier hat die von Leibniz gemachte Grundlage, und von W olfen weiter ausgemauerte Errichtung des Systems der neuen Philosophie, weiter in die Höhe geführt, und neue Gebäude hinzugefüget" (S. 8). Dagegen hat ein gewisser Uhl, ein Anhänger Gottscheds, Meier im Jahre 1747 „Baumgartens Affe" genannt23 • Wolff hat Meier wohl nicht hochgeschätzt, er scheint in ihm einen „Schöndenker" gesehen zu haben24 • In seinen politischen Einstellungen war Meier obrigkeitshörig und hat wohl weitgehend die preußische Politik gebilligt. Er wendete sich nicht gegen die Zensur25 • Auch scheint er die Außenpolitik Friedrichs II. positiv beurteilt zu haben: „Sie können leicht denken, wie sehr wir uns über den glorreichen Sieg des Königs über die Russen an unserem Ort gefreuet haben" schreibt er 1758 an Gleim in einem Brief, der durchgängig von seiner Anhängerschaft zu der Politik des Königs zeugt26 • Lange betont die Moralität Meiers: „Sein ganzes Leben war Moral, und christliche Moral, und er ein vortrefliches Muster seiner liebsten Verrichtung, die[ ... ] die Sittenlehre war" (S. 104). So schreibt Meier auch über sich selbst: „Gott hat mich vor großen Ausschweifungen so bewahrt, daß ich die meisten Laster nur den Namen nach kenne" (S. 35). Lange bestätigt dies, indem er weiter ausführt: „So munter er war, so unerträglich war ihm doch alle Zweydeutigkeit, und jedes Wort, das dem sittsamen Frauenzimmer eine Röthe abjagen konnte" (S. 84). Buhle: Geschichte der Philosophie, a.a.O., S. 14. 23 Danzel, Th. W.: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Brief wechsel, (Leipzig 1848) Nachdruck: Hildesheim/New York 1970, S. 215. 24 So überliefert Johann Christian Schwab in der Preisschrift: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf Jens Zeiten in Deutschland gemacht hat?, 1791 (in der Sammlung der Preisschriften über diese Frage, Berlin 1796), Neudr. Darmstadt 1971, S. 23f. 25 Siehe Gawlick, Günter: „Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung", in Hinske (Hrsg.): Halle, a.a.O., S. 157-176, dort etwa S. 163. 26 Meier: .Ungedruckte Briefe", a.a.O., S. 272. 22

XX

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Solche Äußerungen erscheinen uns heute leicht als lächerlich, weil das Empfinden der Menschen der damaligen Zeit uns etwas fremd ist. Einern Verständnis bringt uns die Charakteristik näher, die Gustav Freytag von dem gebildeten Stadtbürger in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts gibt: „Ein solches Leben des Stadtbürgers in mäßigen Verhältnissen entwickelte einiges Besondere in Charakter und Bildung. Zunächst ein weiches und gefühlvolles Wesen, das man um 1750 zärtlich und empfindlich nannte. Die Anlage zu dieser Weichheit hatten der große Krieg und seine politischen Folgen in die Seele gelegt, die Pietät hatte diese Anlage auffällig entwickelt[ ... ] Schnell wurde ein Gefühl, eine Handlung, ein Mann als groß gepriesen, glänzende Beiwörter wurden bereitwillig gehäuft, einen Freund zu kennzeichnen". „Und gewöhnliche Bilder aus den Bürgerhäusern jener Zeit sind weiche, reizbare, empfindliche Naturen, unbehilflich und ratlos dem Ungewohnten gegenüber. [... ] Man war weich und empfindlich, es gehörte zum Anstand, Artigkeiten zu sagen, die Rücksicht auf die Wahrheit war geringer als jetzt, der Zwang der Höflichkeit größer" 27 • - Meier scheint dem geselligen Leben zugetan gewesen zu sein. Er hat auch den Kontakt mit Dichtern gesucht, so mit der anakreontischen Gleimer Dichterschule. Und trotz seiner Abscheu vor aller Lasterhaftigkeit hat Meier sich positiv über die Zärtlichkeit und insbesondere über das Küssen geäußert: „Ein brünstiger, feuriger und sanfter Kuß erweckt in dem ganzen Bezirke des Mundes eine Empfindung, die ungemein angenehm ist, und er ist daher der allergewöhnlichste und natürlichste Ausdruck der Zärtlichkeit. [... ]Ich rathe demnach allen Eheleuten, die sich zärtlich lieben wollen, den öfteren Gebrauch dieses Hülfsmittels nicht zu versäumen" 28 • - Die Beurteilung, die Bergmann 29 von Meier gibt, scheint insgesamt durchaus zutreffend zu sein und ihm gerecht zu werden: „Meier war[ ... ] von Haus aus nichts weniger als ein ,starker Geist', vielmehr ein Mann Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, a.a.0., S. 608, 613. 28 Zitiert nach Verweyen, Theodor: „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Erkenntnis", in Hinske (Hrsg.): Halle, a.a.O., S. 209-238, dort S. 227-8. 29 Bergmann: Die Begründung der deutschen Asthetik, a.a.O., S. 32. 27

Einleitung

XXI

von aufrichtiger Frömmigkeit, der den öffentlichen Gottesdienst stets ,mit Anstand und Würde' besucht haben soll, als friedlicher Mitbürger und Lehrer der Jugend gleich hochgeachtet, in jungen Jahren anakreontisch angehaucht, später ein kleiner Geliert, der in seinen beliebten moralischen Wochenschriften Jahrzehnte hindurch als Tugendlehrer und Volksbildner wirkte, dabei frei von aller finstern Askese, katonischer Sittenrichterei und Religionsspötterei in gleicher Weise abhold, einer heitern, fast liberalen Weltund Lebensauffassung huldigend."

II. Zur Geschichte der Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert bis zu Meiers Auslegungskunst 1. Allgemeine Hermeneutik und geometrische Methode

Hermeneutik als Methodologie des Interpretierens von Rede und Text ist ein Unternehmen, dessen historische Ursprünge innerhalb der europäischen Kultur wohl bei den Alexandrinischen Literaturforschern und Grammatikern liegen. Methodologische Reflektionen über die Interpretation von Text und Rede treffen wir im Verlauf der Jahrhunderte in den verschiedenen Einzeldisziplinen an, vor allem in der Theologie, in der Jurisprudenz und in der Philologie. In diesen Gebieten gemachte methodologische Überlegungen zur Interpretation führten zur Entwicklung fachspezifischer Methodenlehren, also zu Einzelhermeneutiken wie der theologischen Hermeneutik oder der juristischen Hermeneutik. Von fachspezifischen Hermeneutiken ist die allgemeine Hermeneutik zu unterscheiden, die sich mit der Interpretation von Text und Rede, oder gar von Zeichen im allgemeinen, befaßt, in Absehung von Problemen, die sich in je besonderer Weise in den Einzeldisziplinen stellen. Während die fachspezifische hermeneutische Reflektion eine lange Geschichte aufweist, wird die Allgemeine Hermeneutik wohl erst im 17. Jahrhundert als eigenes Untersuchungsgebiet konzipiert. Im 17. Jahrhundert wurde hervorgehoben, wie wünschenswert es sei, eine allgemeine Hermeneutik zu entwickeln; man benötige ein geordnetes System der Prinzipien und der all-

XXII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

gemeinen Regeln, die Einzelhermeneutiken zugrundeliegen bzw. in ihnen formuliert sind. Die Ausarbeitung einer solchen allgemeinen Hermeneutik fand aber wohl erst im 18. Jahrhundert statt, und zwar vor allem innerhalb der deutschsprachigen Kultur30 • Ein Höhepunkt in dieser Entwicklung der Allgemeinen Hermeneutik ist Meiers Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst. Dieses Werk kommt der Zielsetzung des deutschen Aufklärungsrationalismus einer auf Grundsätzen basierenden hermeneutischen Wissenschaft am nächsten 31 • In der Geschichtsschreibung über die Entwicklung der Hermeneutik wird oft - unter dem Einfluß Diltheys - behauptet, eine „allgemeine Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung" 32 sei erst mit Schleiermacher entstanden. Schleiermacher erst sei hinter die speziellen Regeln von Einzelhermeneutiken „auf die Analysis des Verstehens, also auf die Erkenntnis dieser Zweckhandlung selber" zurückgegangen. Aus dieser Erkenntnis habe er „die Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung, deren Hilfsmittel, Grenzen und Regeln" abgeleitet 33 • Diese Sichtweise wird den historischen Tatsachen offenbar nicht gerecht. Außerdem läßt sie die Frage eigentlich offen, warum sich mit Schleiermacher eine echte allgemeine Hermeneutik konstituiert habe 34 • Nun läßt sich aber erklären, warum es im 17. und im 18. Jahrhundert zum Programm einer allgemeinen Hermeneutik kam. Das 17. und das 18. Jahrhundert waren die Zeit, in der - vor allem in Kontinentaleuropa - das Ideal der „geometrischen Methode" Zur Allgemeinen Hermeneutik und ihrer Entwicklung siehe Alexander, Werner: Hermeneutica Ceneralis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehens/ehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. 31 Wilhelm Dilthey schreibt dieses Verdienst bereits Wolff zu, siehe sein Leben Sehfeiermachers, Bd. II, Sehfeiermachers System als Philosophie und Theologie, in Dilthey: Ces. Schriften, Bd. XIV, Göttingen 1985, S. 620. 32 Dilthey: „Die Entstehung der Hermeneutik" (1900), Neudruck in Dilthey: Ces. Schriften, Bd. V, a.a.O., S. 329. 33 Ebenda, S. 327. 34 Zur Historiographie der deutschen Aufklärungshermeneutik siehe Cataldi Madonna, Luigi: „L'ermeneutica filosofica dell'Illuminismo tedesco: due prospettive a confronto", Rivista di filosofza, 85 (1994), S. 185-212. 30

Einleitung

XXIII

verbreitet war. „Zwar galten Geometrie und Arithmetik seit dem Altertum als diejenigen Wissenschaften, deren Aussagen der höchste Grad an Gewißheit zukam. Doch erst im 17. Jahrhundert kam der Gedanke voll zur Ausgestaltung, daß sich diese Gewißheit auch in anderen Bereichen menschlicher Erkenntnis mittels einer Anwendung der vom Gegenstande der Mathematik zu lösenden Darstellungsform mathematischer Erkenntnis verwirklichen lasse" 35 . Die paradigmatische Bedeutung der „mathematischen" oder „geometrischen" Methode für die Methodologie aller Wissenschaften und Disziplinen war auch für die Entwicklung der Hermeneutik in Richtung auf Allgemeinheit und Wissenschaftlichkeit ausschlaggebend. Die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts wollte die Präzision und die Gewißheit der Mathematik - näherungsweise - erreichen. Um diesen Zweck zu erfüllen, abstrahierte die Hermeneutik von den speziellen Inhalten, auf die sie gewöhnlich angewendet wird. Die Hermeneutik, die den mos geometricus übernehmen wollte, mußte allgemeinen und formalen Charakter erhalten. - Während auf der einen Seite die Einheitlichkeit des Wissens angestrebt wurde, wollte man auf der anderen Seite die konkreten Inhalte der verschiedenen Gebiete der Forschung durchaus berücksichtigen. Ehrenfried Walter von Tschirnhaus' (16511708) Version der alten Metapher des arbor scientiarum scheint diese doppelte Zielvorstellung recht gut auszudrücken. Die Wurzeln sind in diesem Modell die allgemeinen Vorschriften der ars inveniendi, der Stamm ihre spezielleren Vorschriften, die mathematische, physische und wahrnehmbare Gegenstände betreffen; und die Äste sind die speziellsten Vorschriften der Ethik, der Medizin und der Mechanik 36 . Dieses Bild soll begreifen helfen, in welcher Weise 35

Arndt, Hans Werner: Methodo Scientifica pertractatum. Mos geometri·

cus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin-New York 1971, S. 3. Die Bedeutung der mathemati-

schen und geometrischen Methode im damaligen Denken ist Gegenstand dieses Buches. Zur selben Problematik siehe außerdem: De Angelis, Enrico: ll metodo geometrico nella Filosofia del Seicento, Torino 1964; Schüling, Hermann: Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Hildesheim 1969. 36 Von Tschirnhaus, Ehrenfried Walter: „Praefatio" zur Medicina Men-

XXIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

eine systematisch-deduktive Organisation allgemeine mit speziellen Regeln zu verbinden sucht. Auch wenn die Hermeneutik in der Metapher nicht explizit vorkommt, gibt sie Hinweise darauf, wie die Rede von der Hermeneutik als einer "Wissenschaft der Regeln" - die uns weiter unten begegnen wird - zu verstehen ist.

2. Johann Conrad Dannhauer und Johann Clauberg Der Theologe und Philosoph Johann Conrad Dannhauer (16031666) hat wohl als erster in klarer Weise die Wichtigkeit einer allgemeinen Hermeneutik hervorgehoben: "Wie es nicht hier eine juristische Grammatik gibt, dort eine davon verschiedene theologische und noch eine andere medizinische Grammatik, sondern eine allgemeine, allen gemeinsame, so gibt es eine allgemeine Hermeneutik, auch wenn in den einzelnen Gegenständen Verschiedenheit vorliegt" 37 • Dannhauer präzisierte auch das Ziel der Hermeneutik, nämlich "den wahren Sinn der Rede darlegen und vom fal· sehen abgrenzen" 38 • Der wahre Sinn des Textes oder der Rede kann nach Dannhauer nur dadurch festgestellt werden, daß der vom Autor beabsichtigte Sinn aufgedeckt wird: "der Sinn einer von einem weisen und guten Autor vorgebrachten Rede kann nur ein wahrer tis, siveartis inveniendi precepta generalia, (l. Aufl., Amsterdam 1687) Editio nova, Lipsiae 1695; Nachdruck: Hildesheim 1964.

„Sicut enim non est alia grammatica Juridica, alia Theologica, alia Medica, sed una generalis omnibus scientiis communis. lta Una generalis est hermeneutica, quamvis in objectis particularibus sit diversitas"; Johann Conrad Dannhauer: Idea boni interpretis et malitiosi calumniatoris, quae obscuri· 37

tate dispulsa, verum sensum a /also discernere in omnibus auctorum scriptis ac orationibus docet, & plene respondet ad quaestionem unde scis hunc est sen· sum, non alium?, Argentorati, Josiae Staedelii, 51670 (1. Aufl. 1630), S. 10.

Auf die bahnbrechende Bedeutung von Dannhauer hat insbesondere H.E. Hasso Jaeger hingewiesen, vgl. seine „Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik", Archiv für Begriffigeschichte Bd. 18, 1974, S. 35-84. Zu Dannhauer und Clauberg siehe jetzt auch Alexander: Hermeneutica Generalis, a. a. 0., S. 46-122. 38 „verum orationis sensum exponere atque a /also vindicare"; Dannhauer, a.a.O., S. 11.

Einleitung

XXV

und vom Autor beabsichtigter sein" 39 . Damit verbunden ist, daß Dannhauer, wie bereits auch frühere Autoren, die traditionelle Theorie des mehrfachen Schriftsinns 40 umformt und nur noch dem wörtlichen Sinn, d.h. dem vom Autor gemeinten Sinn eine grundlegende Rolle zugesteht: „Aus der Situation und aus der Laune der Menschen heraus kann es viele Sinne einer Rede geben, die dennoch nicht der wörtliche, der vom Autor gemeinte Sinn sind" 41 . Vom wörtlichen Sinne solle man sich nur dann lösen, wenn es notwendig wird, etwa wenn er absurd ist 42 • Andere Sinnstufen als die des wörtlichen Sinnes werden erst dann relevant, wenn sie es erlauben, eventuelle Widersprüche im Text aufzulösen. Dannhauer präzisiert auch die Situationen, wann hermeneutische Deutung erforderlich wird: nicht jede Dunkelheit fordere zur hermeneneutischen Deutung auf, sondern allein Dunkelheiten von Zeichen in Doktrinen und in Reden 43. Die Idee einer allgemeinen Hermeneutik fand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Anklang. Klar formulierte sie Johann Clauberg (1622-1665), der einen wichtigen Einfluß auf Entstehung und Entwicklung der deutschen Aufklärung ausüben sollte. In seiner Logica vetus et nova lesen wir: „Aber auch wenn Theologen bei der Thematik der Heiligen Schrift ihre Auslegung zu behandeln „U nius orationis a sapiente ac bono auctore prolatae non posse nisi unum verum atque auctore intentum sensum esse" ebenda, S. 51. 40 Zur Theorie des mehrfachen Schriftsinnes vgl. von Dobschütz, Ernst: „Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie", in Hamack· Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte, Leipzig 1921, S. 1-13. Diese Theorie wurde von der frühen protestantischen Hermeneutik kritisiert, so von Luther, der nach anfänglicher Verwendung der allegorischen Auslegung und gelegentlichem Rückgriff auf sie nur noch einen Sinn als maßgeblich anerkennt, den Wortsinn. Siehe hierzu von Loewenich, Walter: Luther als Ausleger der Synoptiker, München 1954, S. 16. 41 „Ex eventu et hominum vitio unius orationis multos esse sensus passe, qui tarnen omnes non sint sensus literalis ab auctore intentus"; Dannhauer, a.a.O., S. 50. 39

„Nunquam veniendum est ad sensum orationis tropicum nisi cogat ne· cessitas"; „ Causa cogens tropicam explicationem est sensus manifesta ac certa absurditas"; ebenda, S. 97. 43 Ebenda, S. 24. 42

XXVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

pflegen, auch wenn ebenso Juristen sich mit der Auslegung der Gesetze beschäftigen, so darf man daraus dennoch nicht schließen, daß die richtige Methode der Auslegung eher zu den einzelnen Disziplinen gehöre als zur Logik. Denn die Regeln der Untersuchung des wahren Sinns sind viele; sie sind sehr nützlich und den Theologen, den Juristen und allen anderen gemeinsam. Deswegen sind sie auf allgemeine Weise weiterzugeben, aus demselben Grund, aus dem die Rhetoriker die den Rednern und den Dichtern gemeinsamen genaueren Vorschriften einer gemeinsamen Rhetorik zuordnen und nicht auf eine Redekunst oder auf eine Poetik beschränken "44. Clauberg ist auch wichtig, weil er der Hermeneutik eine Rolle innerhalb der Philosophie zugewiesen hat. Entsprechend seiner Unterteilung der Logik in die genetische (die die eigenen Gedanken betrifft) und die analytische (die die Gedanken der anderen betrifft) 45 unterschied er zwischen einer genetischen Hermeneutik, die anderen die eigenen Gedanken zu erklären hatte 46 , und einer analytischen Hermeneutik, die den Sinn der Rede der anderen untersuchen sol!te 47 . „Quamvis autem Theologi in loco de Scriptura sacra de ejus interpretatione soleant agere, quamvis etiam J urisperti de Legum interpretatione tractent, non tarnen inde licet concludere, rectam interpretandi methodum ad singulas potius disciplinas, quam ad Logicam spectare. Nam verum sensum investigandi regulae multae sunt, eademque utilissimae, Theologo, Jureconsulto et aliis omnibus communes. Ergo generaliter sunt tradendae, eadem ratione, qua Rhetores accuratiores praccepta elequentiae Oratoribus et Poetis communia ad Rhetoricam communem referunt, non ad Oratoriam vel Poeticam restringunt"; Johann Clauberg: Logica vetus & nova (1. Aufl., 1658) in Opera Omnia Philosophica, Bd. I, (Amsterdam 1691) Nachdruck: Hildesheim 1968, S. 781-82. Über die enge Verbindung zwischen der Hermeneutik Dannhauers und der Claubergs siehe H.-E. Hasso Jaeger, „Studien", a.a.O. (wie Anm. 37), S. 75. 45 Clauberg, a.a.O., S. 780. 46 Ebenda, S. 817. 47 Ebenda, S. 843. Zwischen Clauberg und Schleiermacher besteht hier eine gewisse Ähnlichkeit. Beide scheinen die gegenseitige Entsprechung von Bezeichnungskunst und Auslegungskunst zu behaupten. Schleiermacher sagt, daß die „Kunst zu reden und zu verstehen (korrespondierend} einander gegen· überstehen", und daß „jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist"; Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt 44

Einleitung

XXVII

3. Christian Thomasius Christian Thomasius war einer der Pioniere der deutschen Aufklärung. Die Hermeneutik thematisiert er knapp in seiner ,lateinischen Logik' und dann viel detaillierter im zweiten Teil seiner ,deutschen Logik'. In seiner lntroductio ad philosophiam aulicam ( = ,lateinische Logik') betont er, die Hermeneutik sei mit der Logik zu verbinden 48 . Thomasius hat wohl als erster die Thematik einer allgemeinen Hermeneutik in der deutschen Sprache behandelt, und zwar in seiner Ausübung der Vernunft/ehre ( = ,deutsche Logik'). Er hob den wahrscheinlichen Charakter des größten Teils unserer Erkenntnis hervor. Aus diesem allgemeinen Grund und auch wegen der speziellen Schwierigkeit, meist nicht auf Auslegungen der Autoren durch diese selbst zurückgreifen zu können, könne die Interpretation nur wahrscheinliche Resultate liefern, keine absoluten Gewißheiten 49 • Neben Thomasius' Betonung des wahrscheinlichen Charakters der hermeneutischen Erkenntnis wollen wir zwei weitere Aspekte seiner Hermeneutik hervorheben: (a) seine Beschreibung der Aufgaben und der Bedeutung der Hermeneu-

1977, S. 77. Siehe hierzu auch Hübener, Wolfgang: „Schleiermacher und die hermeneutische Tradition", in Seige, Kurt-Victor (Hrsg.): Internationaler Sehfeiermacher-Kongreß Berlin 1984, Berlin/New York 1985, S. 561-574. Hübener bemerkt unter Bezug auf Schleiermacher auf S. 573: „Daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Akts des Redens ist, hätte auch Clauberg sagen können". 48 Thomasius, Christian: lntroductio ad Philosophiam aulicam, Halae Magdeburgicae 1702 (1. Aufl. 1688), S. 213-214. 49 Hugo Grotius - eine wichtige Quelle für Thomasius - hatte bereits eine probabilistische Konzeption der Interpretation vertreten. In seinen De Jure Belli et Pacis Libri Tres, Francoforti ad Moenum 1696 (1. Aufl. 1625), Buch II, Kap. XVI,§ 1, wies er etwa darauf hin, daß Zeichen ihre Anzeigefunktion nur mit Wahrscheinlichkeit erfüllen: „rectae interpretationis mensura est collectio mentis ex signis maxime probabilibus". Zur Rolle von Grotius für die Herausbildung einer probabilistischen Konzeption der Interpretation siehe Danneberg, Lutz: „Probabilitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der Interpretationsmethodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts", in Bühler, Axel und Cataldi Madonna, Luigi (Hrsg.): Hermeneutik der Aufklärung, Hamburg 1994 ( = Aufklärung 8/2, 1993), S. 27-48.

XXVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

tik; (b) seinen Versuch, die hermeneutischen Regeln in ihrer Vielfalt auf wenige zu reduzieren. Ad (a): Thomasius charakterisiert das Ziel der Auslegung folgendermaßen: „Die Auslegung (interpretatio) ist hier nicht anders als eine deutliche und in wahrscheinlichen Muthmassungen gegründete Erklärung desjenigen, was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen, und welches zu verstehen etwas schwer oder dunkel ist" 50 • Die Hermeneutik ist im Gegensatz zur Logik nicht an der Wahrheit einer Überzeugung interessiert, sondern nur an der Erkliirung einer „Meinung an und vor sich selbst [„.] sie mag nun wahr seyn oder nicht" 51 . Für Thomasius gehört die Auslegung der eigenen Gedanken nicht zu den Aufgaben der Hermeneutik. Eine Hermeneutik mit einer solchen Zielsetzung sei überflüssig; denn „Jeder ist seiner Worte bester Ausleger" 52 . Ad (b}: Thomasius wendet sich auch in der Hermeneutik gegen den Formalismus der spätmittelalterlichen Philosophie und der Kartesianischen Scholastik und meint dementsprechend, die Hermeneutik solle nur die grundlegenden Regeln behandeln; für alles weitere genügten der „gute Verstand"53 und die Kenntnis der Disziplin, mit der man es jeweils zu tun hat 54 . Fünf Regeln stellt er auf: man solle sich erstens mit den persönlichen Umständen des Autors vertraut machen, etwa mit seiner Ausbildung und mit seinen Vorlieben 55 . Zweitens sei die Absicht des Autors in Betracht zu ziehen 56 . Drittens sei zu berücksichtigen, was ein Autor zuvor, hernach und an anderer Stelle geschrieben habe: „denn man muthmasset nicht unbillig, daß ein Autor dasjenige, von dem er einmahl zu reden angefangen, allezeit in seinen folgenden Reden für Augen habe, und selbiges also stillschweigend auch in denen folgenden Reden darunter müsse begriffen werden. So muthmasset man auch nicht leichte, daß ein Autor Ausübung der Kap. III, § 31. 51 Ebenda, Kap. 52 Ebenda, Kap. 53 Ebenda, Kap. 54 Ebenda, Kap. 55 Ebenda, Kap. 56 Ebenda, Kap. 50

Vemunftlehre, (Halle 1691) Nachdruck: Hildesheim,

III, III, III, III, III, III,

§ 28. § 25. § 64. §§ 63 und 85. §§ 65 und 66. § 67.

Einleitung

XXIX

seiner vorigen Meinung werde widersprechen und sich contradiciren"57. Viertens sei immer die vernünftige der unvernünftigen Auslegung vorzuziehen 58 • Und fünftens sei diejenige Interpretation zu wählen, die das Handeln des Autors begründet erscheinen lasse: „denn die gesunde Vernunft erfordert, daß die conclusiones mit denen Grundregeln verknüpft seyn, und wer in seinem Thun und Lassen die Mittel nicht erkieset, die sich zu seinem Vorhaben schicken, der wird nicht für klug gehalten" 59 • Auf verschiedene Weisen fordern die dritte, vierte und fünfte Regel dazu auf, beim interpretierten Autor Rationalität zu unterstellen. Implizit liegt hier bereits das „Billigkeitsprinzip" vor, das Meier seiner Auslegungskunst zugrunde legen wird60 • 4. Christian Wolff Christian Wolff behandelte die Hermeneutik ausführlich in einem Kapitel seiner Philosophia rationalis sive Logica ( = ,Lateinische Logik') mit der Überschrift De legendis libris historicis et dogmaticis, in einem Kapitel seiner Grundsätze des Natur- und Völkerrechts mit der Überschrift „Von der Auslegung" und in einem vornehmlich die juristische Auslegung betreffenden Kapitel seines Jus naturae 61 • Wir kommentieren vier Aspekte der Wolffschen Hermeneutik: (a) Ebenda, Kap. III, § 70. Ebenda, Kap. III, § 76. 59 Ebenda, Kap. III, § 81. 60 Thomasius selbst verwendet die Ausdrücke „billig" und .unbillig" im Zusammenhang mit Interpretationshypothesen; vgl. ebenda, Kap. III,§§ 70 und 71. 6 1 Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur, (1. Aufl. 1720) Halae Magdeburgicae 1728; Nachdruck in: Ges. Werke, hrsg. von J. Ecole, H. W. Arndt, Ch. Corr und J. E. Hoffmann, Abt. II, Bde. I/2-3, Hildesheim-New York 1983; Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhang hergeleitet werden, in Wolff: Ges. Werke, a.a.O., Abt. I, Bd 19, Hildesheim 1980, Teil II, Kap. XIX; Wolff:Jus naturae methodo scientifica pertractatum pars sexta, in Wolff: Ges. Werke, a.a.O., Abt. II, Bd. 22, Hildesheim 1970, Kap. III. 57

58

XXX

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

die investigatio mentis autoris als Zielsetzung von V erstehen und Interpretation; (b) die Universalität von Verstehensprozessen; (c) Rationalität beim zu verstehenden Autor; (d) das bessere Verstehen des Autors durch den Interpreten als durch den Autor selbst. Das Verstehen von Büchern ist mit der investigatio mentis autoris verbunden. Um Bücher jedes beliebigen Genres zu verstehen, müssen wir mit den Wörtern dieselben Begriffe verbinden, die der Autor mit ihnen verbunden hat: „ Wenn man sei es ein historisches, sei es ein dogmatisches Buch verstehen muß, dann ist man gehalten, mit den einzelnen Wörtern dieselben Begriffe zu verbinden, die der Autor mit ihnen verbindet" 62 . Dies ist das Ziel der Interpretation nicht nur weltlicher Texte, sondern auch der Heiligen Schrift 63 • Eine Interpretation ist richtig, wenn sie den Sinn des Textes trifft, und der Sinn des Textes ist der, den der Autor gemeint hat. Ziel des Interpretierens ist nicht festzustellen, ob der Text logische oder metaphysische Wahrheit ausdrückt, sondern nur die Feststellung des vom Autor gemeinten Sinnes. Diese Zielvorgabe bringt es mit sich, daß - wie auch bei Thomasius - die authentische Auslegung, also die Auslegung eines Autors durch sich selbst, eine unumstrittene Vorrangstellung einnimmt. Die beste Interpretation ist diejenige, die der Autor geben würde. Diese Sonderstellung der authentischen Auslegung stützt sich offenbar auf die sich inzwischen als problematisch erwiesene Annahme, daß wir einen privilegierten Zugang zu unserem eigenen Geist haben, und daß wir deswegen Aussagen über unsere Gedanken erhalten können, die gewiß sind64 . - Wolff konzipiert die hermeneutische Erkenntnis in Ana„Si quis librum sive historicum, sive dogmaticum intelligere debet, easdem cum verbis singulis notiones conjungere tenetur, quas cum iisdem jungit autor"; Wolff: Philosophia Rationalisive Logica, a.a.0., § 903. 62

Bemerkenswert ist, daß im Gegensatz zu vielen seiner Schüler und Nachfolger, Meier eingeschlossen, Wolff den bei der Interpretation der Heiligen Schriften oft herangezogenen mystischen Sinn nicht einmal erwähnt. 64 Etwa Thomasius hat sich hierüber folgendermaßen geäußert: „ferner, ob er schon nicht weiß, was seine Seele sey, die in ihm gedencket, so weiß er doch gewiß, was die Gedancken seyn, die in ihm von der Seele gewürckt werden, massen er davon eine klare und deutliche Erkänntnüß hat[ ... ] wodurch er vergewissert wird, daß er mehr Erkänntnüß von der Menschlichen 63

Einleitung

XXXI

logie zur Erkenntnis der Natur. Der Text läßt sich so verstehen wie ein Naturphänomen, für dessen Kenntnis keine manipulierenden Eingriffe seitens des Forschers nötig sind. So wie der Naturforscher sich der Vorurteile entledigen soll, die seine Forschung negativ beeinflussen können, soll auch der Interpret seine eigene Subjektivität, seine Affekte, seine Gefühle hintanstellen. W olff verlangt, der Interpret solle sich von seiner eigenen historischen Bedingtheit so weit frei machen, daß er den Autor in dessen historischer Bedingtheit deuten und uns seine Absichten vermitteln kann. Nach Wolff hat die Interpretation zwar mit historischen Gegenständen zu tun, ist selbst aber nur in der Weise historisch, in der auch jede Erkenntnis von Naturereignissen oder Naturgegenständen in den Naturwissenschaften historisch ist, insofern sie zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet. Diese Art von Geschichtlichkeit läßt die Verbesserung der Erkenntnis zu und damit den Fortschritt des Wissens. W olff unterscheidet deutlich zwischen Verstehen und Interpretieren, also zwischen intelligere und interpretari. Der Begriff des Verstehens (intelligere) ist der allgemeine Begriff der Wolffschen Hermeneutik und steht für eine der Aktivitäten, die den Menschen als Symbol-verwendendes Wesen, eingebettet in eine sprachliche Gemeinschaft und eine Welt von Zeichen, charakterisieren. lnterpre· tari dagegen bezieht sich wohl allein auf die Deutung dunkler Stellen in einem Text. lnterpretari ist eine Verstandestätigkeit, die klar und deutlich machen soll, was dunkel und nicht deutlich ist. Wenn die von einem Autor verwendeten Ausdrücke eine „gewisse und bestimmte" Bedeutung haben, und wenn der Autor seine Gedanken hinreichend verständlich ausdrückt, dann brauchen wir keine lnterpretation65, sondern Verstehen allein, also intelligere, genügt. Die Kunst der Interpretation oder Auslegung betrifft nur einen Spezialfall der Kunst des Verstehens, nämlich die Deutung unverständlicher Textstellen. Natur habe, als von allen andern substanzen, weil er von keiner (auch von der bestien) ihrem innerlichen Wesen so viel erkennet, als von dem seini· gen"; Einleitung zur Vernunft/ehre, (Halle 1691) Nachdruck Hildesheim 1968, Kap. XI, §§ 81-82. 65 Wolff: Grundsätze, a.a.O., § 795.

XXXII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

In Wolffs Hermeneutik spielt die Vernunft eine zentrale Rolle, und zwar vor allem die Vernunft des zu verstehenden Autors. Wolff ist sich zwar der Grenzen des menschlichen Verstandes bewußt und weiß, daß die Vernunft teilweise oder vollständig abwesend sein kann - bedingt durch die geistigen Eigenarten eines Autors. Ein Autor kann „compilator judicio carens" 66 sein, also eine Schrift ohne Urteil verfaßt haben. Eine ohne Urteil verfaßte Schrift mag sprachliche Verbindungen enthalten, denen keine gültigen Folgerungsbeziehungen zugrundeliegen; oder sie stellt Wörter zusammen, die logisch nicht zusammenpassen oder sogar Gegenteile voneinander ausdrücken. Wolff weiß natürlich, daß es viele Texte gibt, die nicht mit hinreichender Urteilskraft verfaßt worden sind, daß Autoren bei logischen Herleitungen Fehler machen, daß sie die Konsistenz ihrer Aussagen untereinander nicht immer zu kontrollieren vermögen. Wenn er behauptet, daß das Urteilsvermögen für das Verfassen von Büchern notwendig sei 67 , dann meint er, daß ein Text immer Urteilsvermögen anzeigen muß, wenn auch möglicherweise in sehr geringem Ausmaß. Im Text muß irgendein logischer Faden vorliegen, den der Interpret aufnehmen kann, um verstehen und einen interpretatorischen Zusammenhang aufbauen zu können. Mit Urteil geschrieben zu sein ist für Wolff das Unterscheidungsmerkmal zwischen Büchern (bzw. Texten) und dem, was auch gegen andersartigen Anschein - kein Buch ist. Mit Urteil geschrieben zu sein ist - in Kantischer Terminologie - die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens eines Buches. Der Interpret unterstellt, daß das Buch mit Urteil geschrieben ist, und legt diese Unterstellung der weiteren Interpretation zugrunde. Diese Unterstellung wird uns bei Meier in der Form der Grundsätze der hermeneutischen Billigkeit wiederbegegnen 68 • „si compilator verbis connectit, quorum unum ex altero non infertur, vel cumulat, quae sibi mutuo repugnant, sine judicio scriptum suum compila· vit"; Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., § 892. 66

Ebenda. 68 Wolff verwendet bereits im Zusammenhang der Hermeneutik das Wort „aequus" („billig"). Wenn bei einer Interpretation alle hermeneutischen Regeln angewendet worden sind, dann ist die Interpretation billig; Jus Naturae, a.a.O., § 465. 67

Einleitung

XXXIII

Wolff läßt die Möglichkeit zu, daß ein Text undeutliche Begriffe enthält und der Interpret sie besser erklärt, als der Autor es tut. Der Interpret macht die undeutlichen Ausdrücke des Textesdeutlich: „ Wenn der Autor mit bestimmten Ausdrücken eine undeutliche Vorstellung verbindet, der Leser aber eine bestimmte, und durch beides dieselbe Sache vorgestellt wird, dann versteht der Leser den Geist des Autors und erklärt ihn besser" 69 • In einem Fall dieser Art können wir zwischen einer ,richtigen' Interpretation und der authentischen Auslegung trennen. Die doktrinale Interpretation, d.h. die Auslegung des Autors durch einen von ihm verschiedenen Interpreten, ist in solchen Fällen der authentischen Auslegung überlegen70. Die - mögliche - Überlegenheit der doktrinalen Interpretation besteht dabei in ihrer größeren Deutlichkeit. - In der Aufklärung des frühen 18. Jahrhunderts liegt hiermit eine Formulierung des berühmten Spruchs vor, ein Interpret könne einen Autor besser verstehen, als dieser sich selbst verstanden habe. Lange Zeit hat man geglaubt, die Behauptung eines derartigen Besserver· stehens sei eine originelle Frucht der romantischen Hermeneutik 71 . 69 „Quodsi Autor cum quibusdam terminis con;ungit notionem confusam, lector autem distinctam, & utraque eadem res repraesentatur; lector mentem autoris intelligit & melius explicat". Und kurz darauf fährt Wolff wie folgt

fort: „Enimvero cum is, qui notionem distintam habet, modo notarum eandem ingredientium terminos noverit, singulas alteri enumerare valeat, idem autem ab eo, cui tantum confusa notio est, expectari nequeat; patet utique, quod lector in interpretanda propositione autoris notionem distinctam confusae substituens mentem ejusdem melius explicet, quam ab ipsomet fieri poterat"; Philosophia rationalis sive Logica, § 929. 70 Insbesondere in der Jurisprudenz stellte man die authentische der doktrinalen Auslegung gegenüber. Unter authentischer Auslegung verstand man die Auslegung des Gesetzes durch den Gesetzgeber; die doktrinale Auslegung dagegen ist "die Lehr-Auslegung, welche die Juristen, Consulenten und Rechtserfahrene aus des Gesetzes Meynung, und glaubwürdigen dessen Verstand heraus ziehen [... )"; Johann Heinrich Zedl er: Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschaften und Künste, Leipzig und Halle, (fortan zitiert als „Zedler: Universallexicon"); Bd. 14, 1735, (Nachdruck Graz 1961), Sp. 781. 71 Vgl. hierzu Bollnow, Otto F.: „Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat?" (1940); jetzt in Bollnow: Studien zur Hermeneutik, Bd. 1: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften,

XXXIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

In neuerer Zeit wurde jedoch mehrfach bemerkt, daß bereits Johann Martin Chladenius (1710-1759) die Möglichkeit des Besserverstehens ins Auge gefaßt hat 72 • Aber ohne Mühe lassen sich dementsprechende Behauptungen bei anderen Autoren, so etwa bei Meier (siehe weiter unten III, 5.), nachweisen. Diese Idee war also für die Aufklärung keine Novität, und vermutlich handelt es sich sogar um einen alten Gemeinplatz der hermeneutischen Tradition.

5. August Hermann Francke und Johann Jacob Rambach Uns geht es in dieser Einleitung vor allem um die Allgemeine Hermeneutik und ihre Entwicklung. Dennoch können wir von der henneneutica sacra, also der Hermeneutik der Heiligen Schrift und der theologischen Hermeneutik im Allgemeinen, nicht ganz absehen. Die allgemeine Hermeneutik in der Philosophie und die theologische Auslegungslehre waren damals eng verknüpft. Wir wollen zuerst auf die Hermeneutik der Pietisten eingehen, sodann auf eine wichtige hermeneutische Abhandlung von Johann Georg Zur Linden, und schließlich auf Siegmund Jacob Baumgartens theologische Hermeneutik. Meiers Auslegungskunst ist nämlich in ihrer theoretischen Ausrichtung und ihrer Begrifflichkeit vor allem durch die Hermeneutik Siegmund Jacob Baumgartens geprägt, der sei-

Freiburg-München 1982, S. 48-72. Bereits Bollnow, der das erste Dokument des ,Besserverstehens' in einem berühmten Passus der „Transzendentalen Dialektik" Kants findet, vermutet einen früheren Ursprung; ebenda S. 51. 72 Chladenius, Johann Martin: Einleitung zur richtigen Auslegung ver· nünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742; Nachdruck mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1979, §§ 165, 365. Vgl. Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, in: Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 5, Frankfurt a.M. 31988 (1. Aufl. 1975), S. 45-46; Beetz, Manfred: „Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung", in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 55 (1981), S. 615-616. Auch HansGeorg Gadamer hat in diesem Zusammenhang Chladenius genannt: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986 (1. Aufl. 1960), S. 187 und 200.

Einleitung

XXXV

nerseits von der theologischen Hermeneutik der Pietisten wie auch von der Abhandlung Zur Lindens beeinflußt war. In der pietistischen Hermeneutik ist zunächst August Hermann Francke wegen seiner herausragenden Stellung im Hallenser Pietismus von großer Bedeutung, sodann Johann Jacob Rambach, weil er eine maßgebliche Darstellung der pietistischen Hermeneutik gab. Die Hermeneutik August Hermann Franckes 73 ist von den Konzeptionen der orthodoxen Lutheraner Wolfgang Franz (1564-1628) und Salomon Glassius (1593-1656) beeinflußt, von der Sichtweise des Pietisten Philipp Jakob Speners, wie auch von Johann Konrad Dannhauer. Nicht nur innerhalb des Pietismus, sondern insgesamt innerhalb der deutschen Aufklärung nimmt sie eine zentrale Stellung ein, vor allem auch deswegen, weil Rambachs weiter unten skizzierte Hermeneutik, die im 18. Jahrhundert zu einem kanonischen Text wurde, stark von Francke abhängt. - Die erste dem Problem der Interpretation gewidmete Schrift Franckes erscheint 1693 mit dem Titel Manuductio ad lectionem Scripturae. Hier wendet Francke das „Schale-Kern"-Schema an. Die Heilige Schrift wird mit einer Frucht verglichen, deren Schale aufgelöst werden muß, um zum Kern zu gelangen. Zum Studium der Schale gehören drei Arten von Untersuchung: die historische, die grammatische und die philologische. Das Studium des Kerns erfolgt in vier Arten von Untersuchung: in der exegetischen, der dogmatischen, der poris-

Zur Hermeneutik von August Hermann Francke siehe ausführlich Peschke, Erhard: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. II, Berlin 1966; und ganz knapp vom selben: „August Hermann Francke und die Bibel. Studien zur Entwicklung seiner Hermeneutik", in Aland, K. (Hrsg.): Pietismus und Bibel, Witten 1970, S. 59-88, sowie Brecht: „August Hermann Francke und der Hallische Pietismus", a.a.O. (vgl. Anm. 3), S. 467-470. Zur Hermeneutik von Francke im besonderen und zur Hermeneutik des Pietismus im allgemeinen siehe auch Peterson, E.: „Das Problem der Bibelauslegung im Pietismus des 18. Jahrhunderts", Zeitschrift für systematische Theologie, 1 (1923), S. 468-81, und Stroh, Hans: „Hermeneutik im Pietismus", Zeitschrift für Theologie und Kirche 74 (1977), S. 38-57. Deutschsprachige Schriften von Francke finden sich in dem von Peschke herausgegebenen Band August Hermann Francke. Werke in Auswahl, Berlin 1969. 73

XXXVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

matischen und der praktischen 74 . Die lectio porismatica wie auch die lectio practica dienen der Herleitung theoretischer und praktischer Konsequenzen aus der Heiligen Schrift „per legitimam consequentiam " 75 . Die lectio exegetica wendet die Aussagen der Heiligen Schrift auf Glauben und Leben des Christen an 76 • Der U nterscheidung von Schale und Kern entspricht die zwischen sensus litterae und sensus litteralis, d.h. zwischen dem sprachlichgrammatischen Sinn und dem wörtlichen Sinn, der die Absicht des Heiligen Geistes ist 77 • Wenn die Wörter in ihrem konventionell sprachlich-grammatischen Sinn genommen werden, dann haben wir mit ihrem sensus litterae zu tun. Dieser - wir nennen ihn auch „IDEA GENERALIS, Qui legunt Scripturas non uno modo, nec eadem intentione illas legunt. Adeoque nec idem agunt omnes, nec eundem ferunt fructum. Omnis autem lectio vel in cortice haeret, vel ipsum Scripturam nucleum appetit. Illa sine hac vana & insana: cum hac autem conjuncta solidum reddit Theologiae studium. Illa triplex: 1. Historica. 2. Grammatica seu Philologica. 3. Logica. Haec quadruplex: (a) Exegetica. (b) Dogmatica. (c) Porismatica. (d) Practica seu usualis", Francke: Manuductio ad lectionem Scripturae Sacrae, Halle o. ]. [1693], S. 1-2. Zur vielfältigen Metaphorik hinsichtlich des geistlichen Schriftsinns gehörte schon früher die Gegenüberstellung von Schale und Kern, siehe u.a. Spitz, Hans Jörg: „Metaphern für die spirituelle Schriftauslegung", in Wilpert, Paul (Hrsg.): Lex et sacramentum im Mittelalter, Berlin 1969 (=Miscellanea Medievalia 6), S. 99-112; sowie vom selben: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegori· sehen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München 1972 ( = Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 12). 75 Francke: Manuductio, a.a.O., S. 105-106. Die porismatische Untersuchung betrifft wohl im engeren Sinne allein die Stärkung des Glaubens; die praktische allgemein ethische oder moralische Probleme. 76 Francke: Manuductio, a.a.O., S. 132. 77 „LECTIO EXEGETICA Scripturae S. est, quae circa sensum literalem ab ipso Spiritu S. intentum & indagandum & ennarandum versatur. Diximus (I) sensum literalem. Ut distinguamus a sensu literae, quem verba saltem in propria & nativa sua significatione gignunt, circa quem potissimum Lectio Grammatica versatur", Francke: Manuductio, a.a.O., S. 66-67. Zur Unterscheidung zwischen sensus litterae und sensus litteralis vgl. auch die Artikel „Verstand der Heiligen Schrift" und "Verstand der Rede" in Zedler: Universallexicon, Bd. 47, Nachdruck Graz 1962, Sp. 1973-1980 bzw. Sp. 1024-2026. 74

Einleitung

XXXVII

den „buchstäblichen Sinn" - kann mittels Grammatik und Philologie aufgefunden werden. Davon unterschieden ist der sensus litteralis „ab ipso Spiritu S. intentus" 78 , die Absicht also, die mit Äußerungen in der Heiligen Schrift verbunden ist. Er ist der mit den Worten gemeinte Sinn. Erst später, in den Praelectiones hermeneuticae von 1717, unterscheidet Francke drei Arten von sensus: sensus litterae, sensus litteralis und sensus mysticus79 • Diese dreifache Unterscheidung, die auf Salomon Glassius zurückgeht, wird dann in der Aufklärungshermeneutik kanonisch, und wir finden sie auch bei Meier. Der sensus mysticus „wird nicht unmittelbar durch die Wörter selbst bezeichnet, sondern durch die Sachen, die mit den Wörtern bezeichnet werden" 80 . So steht etwa das Wort „Jerusalem" mit seinem sensus litterae (und normalerweise dem sensus litteralis) für die Stadt in Palästina, die Stadt selbst steht für das Reich Gottes. Oder: die Rede vom Durchzug der Hebräer durchs Rote Meer (Genesis 14, 5) hat als sensus litterae (und litteralis) eben diesen Durchzug durchs Rote Meer; ihre mystische Bedeutung ist dagegen die christliche Taufe, auf die der Durchzug durchs Rote Meer verweist 81 . Sowohl der sensus litteralis wie auch der mystische Sinn sind der Absicht des Heiligen Geistes konform. In den Mittelpunkt von Franckes Hermeneutik rückt zwischen 1693 bis 1717 der Begriff des scopus, des Zwecks, der den biblischen Schriften inneren Zusammenhalt und Einheitlichkeit verleihen soll. In seinen deutschen Schriften ist der „Hauptzweck" der Bibel unsere „Seligkeit", die man „allein durch den Glauben an JEsum CHristum" erreichen kann 82 • Siehe Zitat in Fußnote 77. „Id vero notandum est (IV) recte sie quidem & ex vero sensum Scripturae S. distingui in Sensum Litterae, Litteralem & Mysticum s. Spiritualem"; Francke: Praelectiones hermeneuticae, Halle 1717, S. 22. 80 „non significatur proxime per ipsa verba, sed per rem ipsis verbis significatam"; Francke: Praelectiones hermeneticae, a.a.O., S.19. 81 So etwa der spanische Jesuit Bento Pereira (1535-1610) in Commentariorum et disputationum in Genesim (Lugduni 1607-14, Bd. 1, S. 3b). Dieser Hinweis findet sich in Lombardi, Paolo: La Bibbia contesa. Tra umanesimo e razionalismo, Firenze 1992, S.179. 82 Francke: Oejfentliches Zeugniß vom Werck/Wort und Dienst GOttes, Teil II, Halle 1702, S. 17. 78 79

XXXVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Zunächst ist Christus der „Kern" der Heiligen Schrift 83 , während er später zu ihrem allgemeinen Zweck wird. Diese Lehre ist mit einem Christozentrismus der Interpretation des Alten Testaments verbunden. Das Neue Testament ist die Erfüllung des Alten Testaments und damit sein eigentlicher interpretatorischer Schlüssel. Diese Perspektive wird später von Reimarus einer scharfen Kritik unterzogen 84 . In Franckes Hermeneutik sind objektivistische Züge klar erkenntlich; d.h. er gesteht durchaus zu, daß die Interpretation einen objektiv gegebenen Sinn herauszubekommen hat. Denken wir nur an seine Auffassung von Christus als „Kern" der Heiligen Schrift. Doch findet sich bereits in der Manuductio auch eine stark subjektivistische Tendenz. Nach Francke ist das Haben echter religiöser Empfindung nämlich für das Verständnis der Schrift notwendig: „es genügt nicht, theoretisch zu wissen, daß Christus der Kern der Schrift sei. Man muß diesen Kern auch suchen, essen und schmekken"85. Charakteristisch für die subjektivistische Tendenz von Franckes Hermeneutik ist auch die oft wiederholte Warnung, die wissenschaftliche Methode dürfe beim Zugang zur Heiligen Schrift nicht überbewertet werden. So seien die hermeneutischen Regeln zwar nützlich, dürften aber nur mit Vorsicht angewendet werden86. Für eine richtige Interpretation der Heiligen Schrift sei deswegen neben der wissenschaftlichen Perspektive das bloße Lesen des Gläubigen ohne Betrachtung der Quellen unerläßlich 87 . Kennzeichnend für den Subjektivismus von Franckes Hermeneu83 Francke veröffentlichte sogar eine Schrift mit dem Titel: CHRISTUS. Der Kern heiliger Sehriffe, Halle 1702. Sie ist wiederabgedruckt in Peschke (Hrsg.): Francke. Werke, a.a.O., 232-248. 84 Siehe hierzu Stemmer, Peter: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983. 85 Unter Rückgriff auf die etwas ,kulinarisch' anmutende Metaphorik der Pietisten sagt dies Peschke: Studien, a.a.O., S. 120. 86 Francke: Manuductio, a.a.O., S. 105-106. 87 „Unde praesupponitur etiam 2) Simplex illo Scripturae lectio, cuivis Christiano etiam fontium ignaro competens, ad exemplum veterum Christianorum, qui scriptas ad se epistolas primi legerunt, instituenda [... ] simplici & perspicuo verborum sensu contenti, & de commentatorum prolixa & erudita enarratione minime solliciti"; ebenda, S. 71.

Einleitung

XXXIX

tik ist auch seine Anwendung der Lehre von den Affekten, also den Gemütsbewegungen 88 • Diese Lehre, die er unter dem Einfluß von Flacius Illyricus (1520-1575) und Spener ausgearbeitet hat, nimmt einen engen Zusammenhang zwischen den Affekten (etwa Liebe, Haß, Freude, Trauer) und den Reden der Menschen an. Die Autoren im allgemeinen, und im besonderen die biblischen Autoren, wollen bestimmte Affekte ausdrücken. Deswegen ist die Kenntnis dieser Affekte für die Kenntnis ihrer wirklicl;en Absicht notwendig. Die Entdeckung des Sinnes eines Textes hängt also davon ab, ob wir die Affekte erkannt haben, die den Sinn festgelegt haben 89 • Francke unterscheidet vor allem zwei Arten von Affekten. Einerseits gibt es die geistlichen Affekte, die im Heiligen Geist begründet sind und heilige Ziele verfolgen; andererseits gibt es natürliche Affekte, die sich unabhängig von der göttlichen Gnade äussern und sich auf körperliche, zeitliche Dinge richten. Auf diese Lehre von den Affekten wendet Francke nun seine zentrale theologische Idee an, den Kontrast zwischen den „Kindern Gottes" und den „Kindern der Welt", der auf der pietistischen Lehre der Wiedergeburt durch das Bekehrungserlebnis beruht 90 • Die Kinder der Welt können nur die natürlichen Affekte kennen; für die Kenntnis der geistlichen Affekte durch die Kinder Gottes ist dagegen eine praktische, auf Bibellektüre gegründete Erfahrung nötig, die ihre Vollendung in der subjektiven Anwendung der geistlichen Affekte und damit der biblischen Wahrheit findet. ss Vgl. Peschke: Studien, a.a.O„ 5. 97-110. 5. J. Baumgarten übersetzte „affectus" mit „Gemütsbewegung", Unterricht von Auslegung der Heiligen Schrift, für seine Zuhörer ausgefertigt, Halle 3 1751 (1. Aufl. 1742), 5. 55. Zur Rolle der Affektenlehre in der Allgemeinen Hermeneutik siehe Alexander: Hermeneutica Generalis, a.a.O„ 5. 172-185. 89 „Quum ex diversis affectibus diversus nascatur sensus, adeo, ut ex iisdem verbis, diverso modo secundum diversos affectus pronuntiatis, diversissimum animo sensum concipiamus: explorandus omnino est & exactius cognoscendus 5criptoris cuiusque omni in oratione adfectus, ne contrarium illi forte adfingamus, sicque illi, eliciendo e verbis sensum ab animo eius alienum, faciamus iniuriam. Fieri certe potest, ut quis sinistra accipiat manu, quae Auctor dextra porrexit, nisi probe dispiciatur, ex quo affectu verba promanarint"; Francke: Praelectiones, a.a.O„ 5. 89. 90 Peschke: Studien, a.a.O„ 5. 89.

XL

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Abschließend drei Bemerkungen zu den Wirkungen von Franckes Hermeneutik: (1) Die hohe Bewertung der praktischen Dimension des Interpretationsprozesses ist zum Teil für den Erfolg von Franckes Hermeneutik im 18. Jahrhundert verantwortlich. Sie verbindet jedenfalls Pietismus und Aufklärung, weil ja beide Strömungen die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis enger knüpfen wollten. (2) Das Mißtrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Herangehen und die Art der Verwendung der Affektenlehre mußten zum Konflikt mit der Hermeneutik der Wolffschen Tradition führen. Diese hielt einen methodischen Zugriff für unerläßlich und stand einem besonderen, über Affekte vermittelten Zugang zur Heiligen Schrift skeptisch gegenüber. (3) Die subjektivistische Tendenz von Franckes Hermeneutik mit ihrer Insistenz auf religiöser Erfahrung und Empfindung, die in keiner Weise auf Vernunft reduzierbar sind, mußte in der Romantik wieder auf großes Interesse stoßen. Johann Jacob Rambach (1693-1735), ein Schüler von Francke und ein Schwiegersohn von ] oachim Lange 91 , hatte in Halle Theologie studiert und war Professor an der Universität von Gießen. Rambach verfaßte eine „hermeneutica sacra" 92 . Dieses Buch wurde zu einer der einflußreichsten Hermeneutiken des 18. Jahrhunderts; obzwar es die theologische Interpretation in den Mittelpunkt stellt, ist es auch für die allgemeine Hermeneutik nicht bedeutungslos geblieben. - Rambach betont wie Francke die Untersuchung des Zwecks der Schrift und übernimmt die von Francke entwickelte

91 Auch Joachim Lange machte sich über die Auslegung der Heiligen Schrift Gedanken, insbesondere in seiner Hermeneutica sacra, exhibens pri·

mum genuinae interpretationes Leges de sensu litterali et emphatico investigando, Halae 1733. Sie hierzu Bühler und Cataldi Madonna: „Von Thomasius

bis Semler. Entwicklungslinien der Hermeneutik in Halle", in Bühler und Cataldi Madonna (Hrsg.): Hermeneutik der Aufklärung, a.a.o. (wie Anm. 49), S. 49-70. 92 Rambach, Johann Jakob: Institutiones hermeneuticae sacrae, variis ob· servationibus copiosissimisque exemplis biblicis illustratae, Jenae 21725 (1. Aufl. 1723), S. 1. Wichtig ist auch vom selben: Erläuterung über seine eige· ne Institutiones Hermeneuticae Sacrae, hrsg. von Neubauer, Ernst Friedrich, 2 Teile, Giessen 1738. Die Hermeneutik Rambachs ist Gegenstand der aus-

führlichen und extrem gut dokumentierten (leider nur maschinenschrift-

Einleitung

XLI

Affektenlehre. Rambach unterschied zwischen dem Sinn (sensus) der Rede und dem Sinn des Rezipienten der Rede: Den Sinn einer Rede bestimmte Rambach als eine Kraft der Rede zu bedeuten, den Sinn des Rezipienten als den Begriff, den die Rede beim Rezipienten hervorruft 93 . In Anwendung auf die hermeneutica sacra, also auf die „facu!tas divinas scripturas interpretandi" 94 erläutert Rambach Ausdrücke wie sensus scripturae, sensus orationis, sensus grammaticus oder litterae und sensus litteralis. Von all diesen Arten von Sinn ist der sensus mysticus zu unterscheiden: „jener Begriff, der nicht unmittelbar durch Wörter, sondern durch Dinge oder Personen, die mit den Wörtern bezeichnet werden, vom Heiligen Geist gemeint wird" 95 . Obzwar Rambach dem sensus litteralis den Vorrang einräumt, so meint er doch, der mystische Sinn müsse zugelassen werden und sei keine accomodatio, also keine Anwendung einer Textstelle in einer konkreten Situation96 : „In der Tat wird klar, wenn man die Sache gut überlegt, daß der mystische Begriff nicht nur der wahre Sinn ist, sondern auch, wo lieh vorhandenen) Dissertation von Herbers, Paul: Die hermeneutische Lehre Johann Jakob Rambachs, Heidelberg 1952. 93 Rambach: Institutiones hermeneuticae sacrae, a.a.O„ cap. 3, § 2. Ebenda, S. 54. 95 „ille conceptus, qui non proxime per verba, sed per res, vel personas, verbis designatas, a spiritu sancto intenditur"; ebenda, S. 69. 96 Zum Begriff der Akkommodation siehe etwa Köster, Heinrich Martin und Roos, Johann Friedrich (Hrsg.): Deutsche Encyclopädie oder All94

gemeines Real- Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, 23 Bde„ Frankfurt 1778-1804 Bd. 1, S. 168-69: ,,Accomodationen heißen in der Auslegungs-Kunst Anwendungen gewisser Aus-

sprüche, oder Schriftstellen auf ganz andere Dinge, an welche der Urheber derselbigen bey seinen Wort nicht gedacht hat, nicht denken konnte, oder doch nicht die Absicht hatte". Siehe auch Bühler, Axel: „Begriffe des sensus bezogen auf Rede und Text im 18. Jahrhundert", Kongreßakten des 8. Colloquio Internazionale de! Lessico lntellettuale Europeo Sensus-Sensatio, im Ersch. Von der Akkommodation im erläuterten Sinne ist jene Art von Akkommodation zu unterscheiden, die die Deutsche Encyclopädie wie folgt erläutert: ,,Accomodation, heißt bei den Gottesgelehrten oft so viel, als Herablassung zu dem gemeinen Begriff der Menschen", a.a.O„ S. 168. Diesen Begriff der Akkommodation betrachtet Hornig, Gottfried: „Akkommodation", in Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1.

XLII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

er vom Heiligen Geist gemeint wird, viel würdiger ist als der wörtliche Sinn "97 . Rambach meint, der wahre Sinn der Heiligen Schrift müsse dem Zweck und der Intention der Autoren entsprechen. Der Ausleger der Heiligen Schrift habe mittels einer „demonstratio" Zweck und Intention aufzudecken. Dabei sei die analogia fidei, die Glaubensanalogie, behilflich, derentsprechend ein Text dem christlichen Glauben gemäß auszulegen ist. Die analogia fidei, die auch in der Hermeneutik Franckes eine sehr bedeutende Rolle spielt, ist die legitimierende Grundlage der Interpretation der Heiligen Schrift und der allgemeine Grundsatz, dem einzelne Interpretationen zu entsprechen haben: „Die Autorität, die die Glaubensanalogie bei der Exegese besitzt, besteht darin, daß sie die Grundlage und der allgemeine Grundsatz ist, deren Norm sich alle Erklärungen der Schrift wie an den lydischen Stein anzupassen haben" 98 • Die Quelle, aus welcher die Glaubensanalogie entnommen wird, ist die Heilige Schrift selbst, und zwar mit ihren deutlichsten Prophezeiungen, denen keine Dunkelheit anhaftet. Rambach genügt in dieser Weise der lutherischen Forderung, die Schrift müsse sich selbst interpretieren. Die Glaubensanalogie kann als Weiterentwicklung dieses lutherischen Prinzips aufgefaßt werden. Die Zirkularität, die mit der analogia fidei verbunden zu sein scheint, versucht Rambach abzuschwächen, indem er auf die deutlichen und klaren Stellen in der Heiligen Schrift abhebt, die der Interpretation der dunklen und undeutlichen Stellen zugrundegelegt werden muß: „So wie die Prämissen bekannter sein müssen als die Konklusion, so müssen die Stellen, von denen die Interpretation der anderen abhängt, ganz klar sein. Denn das Dunkle durch das gleichermaßen Dunkle zu 97 „Verum, si aequa iudicii lance res ponderetur, adparebit, conceptum illum mysticum non modo verum esse sensum, scd etiam, ubi a spiritu sancto intentus est, litterali multo digniorem"; ebenda, S. 91-92. 98 „Auctoritas, quam haec analogia fidei in re exegetica habet, in eo constitit, ut sit fundamentum ac principium generale, ad cuius normam omnes scripturae expositiones, tamquam ad lapidem lydium, exigendae sunt"; ebenda, S. 54. Zu diesem Punkt vgl. auch Longo, Mario: „Ermeneurica generalc ed ermeneutiche nel prima Settecento", in Ermeneutica logica (verschiedene Autoren), Padua 1977, S. 53.

Einleitung

XLIII

erklären, bringt nur wenig Nutzen. Hier ist nämlich gestattet, daß wir zu einem geringen Ausmaß einen Circulus vitiosus begehen, wenn wir sagen, daß die Schrift nach der Glaubensanalogie zu interpretieren sei, und wieder sagen, daß die Glaubensanalogie aus den Schriften zu nehmen sei. Die dunkleren Stellen anhand der klareren zu interpretieren, ist nämlich am wenigsten vitiös" 99 • So wird die Glaubensanalogie auch zum Maßstab der Wahrheit des Sinnes der Heiligen Schrift: wenn der durch die Interpretation gewonnene Sinn der Glaubensanalogie zuwider ist, dann kann es sich nicht um den Sinn der Schrift handeln; er ist es dagegen, wenn er sich mit ihr in Übereinstimmung befindet.

6. Johann Georg Zur Linden Johann Georg Zur Linden, erst philosophischer Adjunkt in Jena, dann Pastor in Lüneburg, veröffentlichte im Jahre 1735 die Abhandlung Ratio meditationis hermeneuticae imprimis sacrae 100 . In dieser Schrift gibt er eine Grundlegung und Darstellung der allgemeinen wie vor allem der theologischen Hermeneutik. Er versucht, auf besonders systematische Weise die Regeln der allgemeinen Hermeneutik mit den besonderen der theologischen Hermeneutik zu verbinden 101 . Dabei erreicht er ein sehr hohes Ausmaß an begriff-

„Ubi praemissae notiores esse debent conclusione, ita loca, a quibus aliorum interpretatio pendet, debent esse clarissima. Obscurum enim per aeque obscurum interpretari parum emolumenti adfert [ ... ] Hinc enim patet, minime a nobis circulum vitiosum committi, si dicimus, scripturam esse interpretandam secundum analogiam fidei; et rursus dicimus, analogiam fidei ex scripturis esse hauriendam. Loca enim scripturae obscuriora secundum clariora interpretari, minime vitiosum est"; Rambach, lnstitutiones hermeneuticae sacrae, a.a.O„ S. 104. 100 Zur Linden, Johann Georg: Ratio Meditationis Hermeneuticae irnprirnis sacrae rnethodo systernatica proposita, Jena-Leipzig 1735. Leider haben wir die Lebensdaten Zur Lindens nicht ausfindig machen können. 101 Zur Linden, Ratio rneditationis Herrneneuticae, a.a.O., praefatio, S. 2: „ut regulas hermeneuticas, turn generales, turn sacras speciales connecterem, quantum a me effici passet, methodo quadam systematica". 99

XLIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

licher Präzision. Im folgenden wollen wir nur drei Punkte aus diesem gedanklich sehr reichen Werk hervorheben. Alle bisher betrachteten Autoren schreiben Sinn oder Verstand (sensus) unterschiedslos einzelnen Wörtern, ganzen Sätzen oder zusammenhängenden Texten („Rede") zu. Hiervon weicht Zur Linden ab. Für ihn gibt es einen großen Unterschied zwischen Begriffen und aus Begriffen gebildeten Urteilen: Urteile verbinden nämlich gegebene Begriffe in einer Behauptung oder einer Negation 102 . Begriffen und Urteilen auf der Ebene des Denkens entsprechen unterschiedliche sprachliche Zeichen: Ausdrücke (termim) bezeichnen Begriffe, Sätze (propositiones) bezeichnen Urteile. Einzelne Ausdrücke oder Wörter haben Bedeutung (significatum), Verstand (sensus, Sinn) dagegen können nur Sätze haben, die für Urteile stehen, die behaupten oder negieren 103 • Offenbar sind ganze Reden und Texte aus einzelnen Sätzen aufgebaut und sind insofern etwas Ganzes104. Zuzüglich zum jeweiligen Verstand der einzelnen Sätze gibt es deshalb den Gesamtsinn einer Rede (sensus totus orationis). Zur Linden sieht im Denken diskrete Stufungen der Komplexität und nimmt an, daß diesen verschiedenen Komplexitätsstufen unterschiedliche Bezeichnungsweisen durch sprachliche Ausdrücke entsprechen. Dem will er durch die terminologische Trennung zwischen Bedeutung, Verstand und Gesamtsinn einer Rede gerecht werden. Zur Linden hat auch eine differenzierte Einstellung zu der bisher immer vertretenen Auffassung, das, was bei der Auslegung herauszukriegen ist, sei die Absicht, die mens des Autors. Er unterscheidet zunächst zwischen dem, wovon der Autor überzeugt ist, und dem, was er ausdrücken will. Sprecher können sich ja verstellen und den anderen etwas vortäuschen 105 . Ebenso ist dazwischen zu unterscheiden, was ein Autor ausdrücken will, und dem, was Ebenda, § 232: „Iudicia distinguuntur a notionibus simplicibus, per combinationem earundem in adfirmationem, & negationem". 103 Ebenda, § 234: „Termini ergo seorsim & indefinite,ut signa universalia idearum, nullum habent sensum, Verstandt; sed tantum significatum, 102

Bedeutung". 104 105

Ebenda, § 283. Ebenda, § 245.

Einleitung

XLV

er dann tatsächlich behauptet. Denn es kann ja passieren, daß das tatsächlich Gesagte aufgrund der sprachlichen Konventionen etwas anderes bedeutet als das, was es nach Absicht des Autors bedeuten soll 106 • Dementsprechend sei eine dreifache Unterscheidung angebracht: zwischen dem Sinn des Autors, dem Sinn des Satzes oder der Rede und schließlich der Meinung des Autors 107 • Was die theologische Hermeneutik anlangt, so vertritt Zur Linden traditionelle Standpunkte, die nicht weit von Rambach - den er oft zitiert - abweichen. So schließt er sich hinsichtlich der Bedeutung der Glaubensanalogie Rambach an. Was die Resultate der Bibelauslegung anlangt, so ist hier Gewißheit häufiger möglich als bei der Auslegung weltlicher Autoren. Aufgrund der Vollkommenheit Gottes unterliegen die heiligen Autoren nicht der Beschränktheit, daß sich eine Differenz dazwischen, was sie sagen wollten, und dem, was ihre Rede aufgrund sprachlicher Konventionen bedeutet, auftut: „Daraus folgt, daß in der heiligen Schrift der wahre Sinn der Rede niemals vom Sinne des Autors verschieden sein kann, was nämlich in menschlichen Schriften passieren kann" 108 •

7. Siegmund Jacob Baumgarten Der Unterricht von Auslegung der Heiligen Schrift (1. Aufl. 1742) von Meiers Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten erschien in mehreren, sukzessive angereicherten Auflagen 109 • Baumgartens HermeEbenda. 107 Ebenda, § 244: „Illud quod auctor, in dato loco, per terminos, eorumque constructionem, adfirmare, aut negare voluit, vocamus sensum auctoris; Quod ipsis terminis, eorumque constructione, adfirmari, aut negari potest, & certo adfirmatum, aut negatum est, sensum orationis, seu propositionis adpellabimus. Id denique quod auctor de hac, vel illa re, in animo sincere adfirmat, aut negat, seu verum auctori de re quadam iudicium, vocamus auctoris sententiam". 108 Ebenda,§ 665: „Hinc sequitur, ut in sacra scriptura, sensus orationis verus numquam diversus esse possit, a sensu auctoris, quod quidem accidere potest in scriptis humanis". 109 Baumgarten, SiegmundJacob: Unterricht, a.a.O., Halle 1742, 21745, 31751, 41759; und ders.: Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermeneutik, 106

XLVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

neutik ist, wie bereits weiter oben betont, für die von Meier sehr wichtig. Eine vergleichende Lektüre ergibt zahlreiche nicht nur terminologische, sondern auch gedankliche Übereinstimmungen. Baumgarten ist von der pietistischen Hermeneutik beeinflußt und wie diese behandelt er die Affekte, die Emphase und die grundlegende Rolle der Glaubensanalogie. Baumgarten war wohl auch von Budde beeindruckt, der starke historische Interessen hatte 110 . Es gibt sehr bedeutsame Unterschiede zwischen Baumgartens Hermeneutik und der der Pietisten, und diese sind im wesentlichen durch den engen Bezug zur Wolffschen Philosophie und Hermeneutik bedingt. Baumgartens Hermeneutik kann als Versuch gesehen werden, Wolffianische Ideen in der von den Pietisten verwendeten Terminologie umzuformulieren und so in Halle akzeptabel zu machen. Von Wolff übernahm Baumgarten die methodische Art des Vorgehens, insbesondere aber die Auffassung von Wissenschaft wie auch die Sichtweise des Verhältnisses zwischen Glaube und Vernunft. Wolffs Wissenschaftsauffassung bestand nur prima facie auf einem demonstrativen Rigorismus. Er hatte ja auch betont, daß die „cognitio historica" das „fundamentum" der „cognitio rationalis" sei, und er hatte beständig versucht, das „connubium rationis et experientiae" auf die Gesamtheit des Wissens (sogar auf die reine Mathematik) auszudehnen. Sogenannte „unbezweife!te" Erfahrungen ließ er als Prämissen wissenschaftlicher Demonstrationen zu und auf diese Weise konnte er empirisches und auch historisches Wis-

hrsg. von Joachim Christoph Bertram, Halle 1769. Siehe hierzu Danneberg, Lutz: „Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik", in Bühler, Axel (Hrsg.): Unzeitgemäße Hermeneutik, a.a.O. (wie Anm. 6), S. 88-157. IIC Budde ist der Autor des Buches: Elementa philosophiae instrumentalis, seu Institutionum philosophiae eclecticae, Halle 1703. Über seine Rolle in der Geschichte der Hermeneutik in Halle siehe Bühler und Cataldi Madonna: „Von Thomasius bis Semler. Entwicklungslinien der Hermeneutik in Halle", in Bühler Cataldi Madonna, (Hrsg.): Hermeneutik der Aufklärung, a.a.O. (wie Anm. 49), S. 49-70, dort: S. 51-54. Über Verbindungen zwischen Budde und S.]. Baumgarten siehe auch Sparn, Walter: „Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jacob Baumgarten'', in Hinske (Hrsg.): Ha//e, a.a.O. (vgl. Anm. 1), S. 71-89.

Einleitung

XLVII

sen als Wissenschaft legitimieren. Wo es nicht möglich ist, absolute Gewißheit zu erreichen, sah er die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit und der wahrscheinlichen Urteile 111 • Baumgarten schloß sich dieser Sichtweise der Wissenschaft an. Des weiteren teilte Baumgarten Wolffs Auffassung vom Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft 112 • Auch für ihn konnte der Glaube nicht contra rationem sein, sondern allenfalls supra rationem. Das heißt: die Inhalte der Offenbarung können zwar über die Vernunftinhalte hinausgehen - wenn sie für einen endlichen Verstand unbegreiflich sind -, sie können der Vernunft aber nicht widersprechen. - Von dieser Perspektive aus ergibt sich der innovative Charakter von Baumgartens Hermeneutik. Obzwar als biblische Hermeneutik beabsichtigt, tendiert sie dazu, die Unterschiede zwischen hermeneutica sacra und hermeneutica profana zu verwischen. In der profanen Auslegungskunst werden verschiedene Spezialhermeneutiken unter Bezug auf den Gegenstand unterschieden: so etwa die juristische von der poetischen Hermeneutik. Die allgemeinen Regeln bleiben im wesentlichen dieselben. Die biblische Hermeneutik unterscheidet sich analogerweise in den Augen Baumgartens von den anderen nur durch ihren Gegenstand. Jede Einzelhermeneutik, auch die theologische, ist ein Spezialfall einer allgemeinen Auslegungskunst. „Die algemeine Auslegungskunst" ist „zu den besondern Auslegungsregeln der heiligen Schrift[ ...] unentbehrlich", wenn sie auch die speziellen Auslegungsregeln „nicht unnötig, oder überflüssig" macht 113 • Ziel der Auslegung ist für Baumgarten die Erkenntnis der Autorenintention, die er mit dem wahren Sinne oder Verstande einer Rede identifiziert. Das Erste Hauptstück (oder Kapitel) seines

Zu diesen Aspekten der Wolffschen Philosophie siehe Cataldi Madonna, „Wahrscheinlichkeit und Wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff", Studia Leibnitiana, XIX/1 (1987), S. 2-40. 112 Über die Beziehung zwischen Vernunft und Glauben bei Wolff vgl. Ecole, Jean: „Les rapports de la raison et de la foi selon Christian W olff" (1983), in: Etudes et documents photographiques sur Wol/fin Wolff: Gesammelte Werke, a.a.O., Abt. III, Bd. 11, 1988, S. 229-238. 113 Baumgarten: Unterricht, a.a.O., § 2. 111

XLVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Unterrichts von Auslegung der Heiligen Schrift ist der genaueren begrifflichen Bestimmung dieses Interpretationsziels gewidmet. Der wahre Sinn einer Rede ist derjenige, der „mit den Gedanken des Urhebers derselben" 114 übereinstimmt und auch mit dem Endzweck des Autors konform ist. Baumgarten differenziert wie Zur Linden zwischen der Bedeutung von Wörtern und dem Verstand von Sätzen und Reden: „Worte sind Zeichen gewisse V orstellungen bei andern zu erwecken. Die Verbindung solcher Vorstellungen mit den Worten macht derselben Bedeutung aus. Wenn dadurch Vorstellungen gantzer U rtheile oder mererer zusammenhangenden Aussprüche bey jemand erweckt werden, so wird solches ein Verstand genant; der also nur in Sätzen und Reden stattfindet" 115 • Der Verstand oder Sinn kann „unmittelbar" und „mittelbar" sein 116 • Er ist unmittelbar, wenn die Vorstellungen allein durch die Wörter einer Rede hervorgerufen werden. Mittelbar ist er, wenn die Vorstellungen durch die Dinge hervorgerufen werden, die mittels des unmittelbaren Sinnes angezeigt werden. Der unmittelbare Sinn heißt auch der „Wortverstand"; es handelt sich um den sensus litteralis, den wir oben kennengelernt haben. Der mittelbare Sinn dagegen ist der „mystische" Verstand, der sensus mysticus. Der Wortverstand, also der unmittelbare Sinn, unterteilt sich in zwei Unterarten: wenn die Wörter ihre gewöhnliche Bedeutung haben, dann spricht Baumgarten vom eigentlichen Sinn, und dies ist der sensus litterae. „Ist der Sinn jedoch von dem gewöhnlichen verschieden, dann heißt dieser der uneigentliche Sinn" 117 • Baumgarten handelt im zweiten Kapitel von der Notwendigkeit, die Sprachverwendung zu berücksichtigen, und von der Wichtigkeit der Parallelstellenmethode. Im dritten Kapitel geht es um die „historischen Umstände". Die historischen Umstände einer Rede

Ebenda, § 6. 115 Ebenda, § 5. 116 Ebenda, §§ 13 und 16. 117 Ebenda,§§ 14 und 15. Diese Unterscheidung ist nicht neu. Sie findet sich auch bei Rambach, oder in den Artikeln „Verstand der Heiligen Schrift" und „Verstand der Rede" in Zedler: Universallexicon, a.a.O. (wie Anm. 74). 114

Einleitung

IL

sind die folgenden: 1) der Autor, 2) die Personen, an die sich die Rede richtet, 3) die Zeit, 4) der Ort, 5) die Gelegenheit, die die Rede festlegt. „Durch historische Umstände einer Rede werden alhier die Verhältnisse derselben als einer Begebenheit verstanden; oder alle zufällige ausserwesentliche Dinge einer Rede, so ferne sie als eine Begebenheit betrachtet wird" 118 . Reden im allgemeinen und göttlich inspirierte Reden im besonderen werden somit als historische Begebenheiten aufgefaßt. Das sich bei der Interpretation der Heiligen Schrift zunächst stellende Problem ist festzustellen, wer der „eigentliche Autor" des Heiligen Buches sei 119 . Sorgfältig müssten wir „die Göttlichkeit der Reden selbst von dem göttlichen Eingeben der Erzählung derselben" unterscheiden 120 . Deutlich wird bei Baumgartens Diskussion der historischen Umstände seine Sensibilität für die Geschichte und seine Tendenz, fast die ganze Heilige Schrift als ein Produkt der menschlichen Geschichte zu betrachten 121 . Baumgarten betont im vierten Hauptstück - in völliger Übereinstimmung mit der Wolffschen Philosophie-, daß der Ausleger zwei Hauptaufgaben hat: das Zergliedern des Textes und die Auffassung des Zusammenhangs der Textteile untereinander122. Zum einen müssen „die auszulegenden Textstellen in ihre Abschnitte, Sätze und Begriffe zergliedert werden, um ihr inneres Verhältnis und die darin gegründete sowohl Absicht des Urhebers, als auch Bedeutung der gebrauchten Ausdrücke besser zu bestimmen"123; zum zweiten geht es darum, die Beziehungen zwischen der auszulegenden Stelle und anderen Teilen des Heiligen Buches festzustellen 124 . Das fünfte Kapitel handelt vom Zweck bzw. scopus der Heiligen Schrift und von den praktischen Folgerungen. Aufgaben der Interpretation, die über die bloße Feststellung der Autorenintention hinausgehen, also auch das ,Besserverstehen' betreffen, sind Gegenstand weiterer Kapitel, in denen die Erklärung 118 Baumgarten, Unterricht: a.a.0., § 37. 119 Ebenda, § 39. 120 Ebenda, § 40. 12 1 Vgl. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, a.a.O., S. 223 und ff. 122 Baumgarten: Unterricht, a. a. 0 ., § 56. 123 Ebenda. 124 Ebenda, § 67.

L

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

der im Text erhaltenen Wahrheiten, der Reichtum von wichtigen Folgerungen aus ausgelegten Textstellen und die Erläuterung gleichzeitig gemeinter Nebenbedeutungen von Ausdrücken (die sog. Emphase) behandelt werden. Baumgarten erörtert natürlich auch die analogia fidei. Sie nimmt in seiner Hermeneutik aber nicht mehr dieselbe zentrale Rolle ein wie bei Rambach. Nach Baumgarten muß mittels der Glaubensanalogie das Verhältnis zwischen den einzelnen Wahrheiten der Heiligen Schrift in ihrer wechselseitigen Bezogenheit festgestellt werden 125 . Die Glaubensanalogie kann nur mehr die Möglichkeit einer bestimmten Interpretation anzeigen, nicht aber ihre tatsächliche Richtigkeit oder gar ihre Notwendigkeit. „Der Hauptbeweis der Wirklichkeit und Notwendigkeit eines Verstandes aber muß aus der erweislichen Bestimmung des Zwecks hergeleitet werden, als wodurch sich eigentlich der hermeneutice verus sensus von der Doktrinalbeschaffenheit des Inhalts unterscheidet, der nur einen möglichen Verstand erweiset und dartut" 126 . Auf diese Weise wird die Glaubensanalogie zu einem Prinzip der formalen Überprüfung der Heiligen Schrift auf Kohärenz und Systemhaftigkeit, sie wird zu einem bloß heuristischen Prinzip und verliert ihre Rolle als grundlegenden Beweismittels der biblischen Hermeneutik. Dazu, daß Baumgarten die Rolle der Glaubensanalogie eingeschränkt hat, hat wohl seine Beachtung der Geschichtlichkeit der Bibel beigetragen. Er glaubte, der christliche Glaube könne durch Resultate der Geschichtsforschung verteidigt werden 127 . Möglicherweise dachte er, im Christentum verwirkliche sich die in der Geschichte waltende Vernunft Gottes, und aus diesem Grunde könne die Glaubenswahrheit teilweise durch die Betrachtung der Geschichte erwiesen werden (wodurch die Glaubensanalogie an Gewicht verliert).

125 126

s.

Ebenda, § 89. Baumgarten: Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermeneutik, a.a.O,

526. 127 Vgl. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, a.a.O„ S. 156-170,

über den „theologisch-apologetischen Beweggrund" Baumgartens.

Einleitung

LI

8. Allgemeine Hermeneutik in den 40er und 50er Jahren des 18. Jahrhunderts In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts kommen einige wichtige Werke zur allgemeinen Hermeneutik heraus. 1742 erscheint die Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schrif ten von Johann Martin Chladenius (1710-1759) 128 • 1743 veröffentlicht Joachim Ehrenfried Pfeiffer (1709-1787) seine Elementa hermeneuticae universalis 129 • Und im Jahre 1747 folgt Christian August Crusius (1715-1775) mit seinem Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntnis 130 , der längere Ausführungen zur Hermeneutik enthält. In den 50er Jahren sind zwei Veröffentlichungen zur Allgemeinen Hermeneutik zu verzeichnen: die Dissertation aus dem Jahre 1756 von Johann Andreas Grosch (bei H. Lohmeyer) darüber, daß die Hermeneutik in allen Disziplinen ein und dieselbe sei 131 , und Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst im Jahre 1757. Mit Meiers Werk scheint die Reihe von selbständigen Veröffentlichungen zur Allgemeinen Hermeneutik in der Zeit der Aufklärung ein Ende zu finden. Die umfangreiche (600 Seiten lange) Einleitung von Chladenius verbindet die Auslegung mit dem Ziel des vollkommenen Verstehens einer Rede: „Auslegen ist daher nichts anders, als diejenigen Begriffe beybringen, welche zum vollkommenen Verstande einer Stelle nötig sind" 132 . Das vollkommene Verstehen einer Rede ist vom vollkommenen Verstehen eines Verfassers und seiner Absichten zu unterscheiden. Das vollkommene Verstehen des Verfassers besteht darin, dasselbe zu denken wie der Verfasser. Das vollkom-

Siehe Anm. 72. 129 Pfeiffer, Joachim Ehrenfried: Elementa hermeneuticae universalis, Jena 1743. Zu Pfeiffer siehe Alexander, Werner: Hermeneutica generalis, a.a.O. (wie Anm. 30), S. 192-193. 130 Crusius, Christian August: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1747 (ND Hildesheim 1968). 131 Grosch, Johann Andreas: De Hermeneutica in omnibus disciplinis una eademque, Jena 1756. 132 Chladenius: Einleitung, a.a.O. (wie Anm. 72), Vorrede: S. 18. 128

LII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

mene Verstehen einer Rede geht darüber hinaus und ist folgendermaßen bestimmt: ,,Man verstehet eine Rede oder Schrift vollkommen, wenn man alles dasjenige dabey gedenckt, was die Worte nach der Vernunfft und denen Regeln unserer Seele in uns vor Gedancken erwecken können" 133 • Bei der Einteilung seines Buches folgt Chladenius der Wolffschen Disposition von Schriften in historische und dogmatische. Im Zusammenhang mit der Auslegung historischer Schriften entwickelt er die Theorie vom „Sehpunkt", der für jeden Schriftsteller spezifischen Sichtweise, die seine Darstellung beeinflußt 134 • Insbesondere für die literarische Hermeneutik von Bedeutung ist Chladenius' Konzeption des „Sinnreichen"Ll5. Chladenius' Einleitung weist systematischen Charakter auf, ist in den erwähnten (und anderen) Hinsichten originell, hat aber wenig Berührungspunkte mit der Hermeneutik Meiers. Chladenius geht es vor allem um die systematische Darlegung der Auslegung in ihren spezifischen Aspekten. Meier dagegen geht es vor allem um den Nachweis des Wissenschaftscharakters der Auslegungskunst als solcher unter Absehen von Erfordernissen, die spezifische Arten von Text mit sich bringen. Zu Unrecht unbeachtet geblieben sind bislang die Ausführungen von Crusius zur Hermeneutik. Von hohem Interesse ist, wie Crusius seine Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit mit der Problematik der Bewertung von interpretatorischen Hypothesen verbindet. Crusius verwendet hierbei den vor allem in der Jurisprudenz gebräuchlichen Begriff der Präsumption: „Ein allgemeiner wahrscheinlicher Satz, aus welchem sich andere subsumieren lassen, wird eine Präsumtion genennet" 136 . Crusius unterscheidet allgemeine Präsumptionen, die inhaltlich unspezifisch sind und die er ,,logikalisch" nennt, von spezielleren Präsumptionen: „Aus diesen [den logikalischen] müssen hernach die specialern Präsumtionen erwiesen werden [ ... ]"1 37 • Diese handeln von speziellen Inhalten. „Aus Ebenda, § 155. Ebenda, Cap. 8, §§ 306-318. 135 Vgl. Henn, Claudia: „,Sinnreiche Gedanken': Zur Hermeneutik des Chladenius", Archiv für Geschichte der Philosophie, 58 (1976), S. 240-264. 136 Crusius: Wege, a.a.O. (wie Anm. 130), § 397. ll7 Ebenda, § 398. 133

134

Einleitung

LIII

der Applikation der logikalischen Präsumtionen auf allerhand Materien entstehen eine unzählige Menge specialere Präsumtionen, welche man in jedweder Wissenschaft sammeln und sie die Wahrscheinlichkeit derselben Wissenschaft nennen kan" 138 • Hierbei hebt Crusius die hermeneutische Wahrscheinlichkeit hervor: die hermeneutische Wahrscheinlichkeit ergibt sich, wenn man den Zusammenhang zwischen einem Zeichen und der Sache, welche dadurch bezeichnet wird, untersucht, und hierbei „die Zeichen Worte sind" 139 . Zu den allgemeinsten Präsumptionen der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit zählen dann etwa folgende zwei: ,,So lange man von iemanden nicht zuverlässige Beweisgründe der Thorheit, Unbesonnenheit oder eines Verstandes hat, welcher den vorhabenden Sachen nicht gewachsen ist; und seine Worte entweder eine bequeme Auslegung noch leiden, oder doch nicht erwiesen werden kan, daß sie derselben nach den allgemeinen Gründen der Auslegung unfähig sind: so muß man nicht präsumieren, daß er sich selbst widerspreche"14 0. Während die erste Regel die logische Kompetenz der Sprecher betrifft, geht es in der zweiten Regel um die Zielsetzung von Personen, die miteinander kommunizieren: ,,Man präsumiret von jederman, daß er deutlich rede, und verstanden seyn wolle, solange entweder nicht das Gegentheil bewiesen, oder der Grund der Präsumtion entkräftet wird"l41. Kurz noch zu Pfeifer und Grosch. Pfeiffer folgt bei der Einteilung seines Buches der W olffschen Distinktion zwischen historischen und dogmatischen Schriften. Im wesentlichen entfaltet er dabei das begriffliche Instrumentarium von Zur Linden, wobei er sich auf die allgemeine Hermeneutik beschränkt und die Verbindungen zur theologischen Hermeneutik ausklammert. Groschs kleine Schrift folgt in wesentlichen Punkten Chladenius und bietet wenig Neuerungen.

138 139

140 141

Ebenda. Ebenda, § 405. Ebenda, § 636. Ebenda.

LIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna III. Meiers Auslegungskunst

Im Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst von G. F. Meier fließen verschiedene der hier skizzierten Entwicklungen zusammen: zum einen der methodische Ansatz der Wolffschen Philosophie, zum anderen empiristische und probabilistische Tendenzen sei es im Denken von Wolff oder in dem von Thomasius, und zum dritten die ausgearbeiteten hermeneutischen Regelkanones der pietistischen Theologie. Wie wir sehen werden, kommen als weitere Faktoren Leibnizsche Themen hinzu, das der ars characteristica und das der möglichen Welten. Nach einem knappen Überblick über Meiers Schrift kommentieren wir einige wichtige Aspekte.

1. Überblick In der Vorrede macht Meier Bemerkungen über Zielsetzung und Charakter seiner Auslegungskunst. Das Buch solle als Grundlage für Vorlesungen zur allgemeinen Auslegungskunst dienen. Um diesem Zweck zu genügen, besteht es aus kurzen Paragraphen, die Meier in seinen Vorlesungen ausführlicher erläutern konnte. Deswegen enthält die Schrift keine Illustrationen durch Beispiele und auch keine detaillierten Erklärungen von Begriffen und theoretischen Zusammenhängen. - Meiers Auslegungskunst hat zwei ungleich lange Hauptteile, denen eine knappe Einleitung vorangeht. In der Einleitung gibt Meier Definitionen einiger zentraler Begriffe. Er unterscheidet eine Auslegungskunst im weiteren Sinne („weitem Verstande"), die es allgemein mit der Auslegung von Zeichen („Mittel, wodurch die Wirklichkeit eines anderen Dinges erkannt werden kann", § 7, S. 7) zu tun hat, von einer Auslegungskunst im engeren Sinne, der es um die Deutung der Rede geht(§ 1, S. 5). Des weiteren unterscheidet er die allgemeine Auslegungskunst von speziellen Hermeneutiken, die sich allein mit bestimmten Zeichenarten bzw. bestimmten Arten von Rede befassen(§ 2, S. 5). Die Auslegungskunst handelt nach Meiers Bestimmung von Zeichen; deshalb gehört sie einer allgemeinen Wissenschaft der Zeichen an, der (bereits von Leibniz und Wolff so genannten) Charakteristik

Einleitung

LV

(§ 3, S. 5). - Der erste Hauptteil, der den wesentlichen Inhalt von Meiers Schrift ausmacht, beschäftigt sich in theoretischer Weise mit der allgemeinen Auslegungskunst. Im zweiten Hauptteil geht es um spezielle Hermeneutiken. - Im ersten Kapitel des ersten Hauptteils betrachtet Meier die Auslegung von Zeichen überhaupt, sei es die von natürlichen oder die von willkürlichen Zeichen. Hier verwendet Meier eine Unterscheidung, die auf die antike Philosophie zurückgeht und sich auch bei Augustinus 142 findet. Willkürliche Zeichen sind solche, bei denen der bezeichnende Zusammenhang zwischen Zeichen und Bedeutung von den Entscheidungen desjenigen abhängt, der sich der Zeichen bedient. Zeichen, die nicht willkürlich sind, sind natürliche Zeichen(§ 28, S. 14). So ist etwa Rauch ein natürliches Zeichen von Feuer. Im zweiten Kapitel geht Meier auf die Auslegung von Rede über, wobei er zunächst die Findung des unmittelbaren Redesinnes, sodann die Findung eines mittelbaren Redesinnes abhandelt. Abschließend befaßt er sich mit dem Kommentieren, einer vom Auslegen unterschiedenen Tätigkeit, bei der es um die Erläuterung und Vertiefung des durch die Auslegung gefundenen Sinnes geht. - In dem sehr knappen zweiten Hauptteil der Schrift zählt Meier im wesentlichen verschiedene Einzelhermeneutiken auf, insbesondere auch solche, die die Auslegung natürlicher Zeichen betreffen 143 •

2. Hermeneutik als Wissenschaft von Regeln Ein wichtiges Ziel von Meiers Auslegungskunst ist es, den Wissenschaftscharakter der Auslegungskunst zu erweisen. Meier vermerkt mehrfach, die Auslegungskunst sei eine Wissenschaft (Vor142 In De doctrina christiana (2,1,2: CC 32,32 - LA 149 bzw. 2,2,3: CC 32, 33 - LA 150) unterscheidet Augustinus signa naturalia und signa data. Auf die aristotelische Unterscheidung zwischen signa naturalia certa und signa naturalia probabilia brauchen wir hier nicht einzugehen. 143 Die Einstellung Meiers zu den verschiedenen Einzelhermeneutiken kommentiert Oliver R. Scholz in dem Aufsatz Die Allgemeine Hermeneu· tik bei Georg Friedrich Meier, in Bühler (Hrsg.): Unzeitgemäße Hermeneu· tik, a.a.O., S. 158-191, dort: 179-181.

LVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

rede§§ 1, 2, 4 S. 5-6). Die Auslegungskunst im weiteren Verstande bestimmt er als „Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden" (§ 1, S. 5). Nicht nur in der Allgemeinen Auslegungskunst, sondern etwa auch in seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaf ten finden wir die Redewendung „Wissenschaft der Regeln": die Ästhetik wird als eine „Wissenschaft der Regeln" definiert 144 . Auch Meiers Lehrer S. J. Baumgarten verwendet den Ausdruck „Wissenschaft der Regeln" 145 • Weder Baumgarten noch Meier erläutern, was sie darunter verstehen 146 . Es stellt sich also die Aufgabe herauszufinden, was denn eine Wissenschaft der Regeln ist. Für Wolff war die Wissenschaft bekanntlich die „Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzutun" 147 . Meier hält sich mit seiner Auffassung von Wissenschaft im Rahmen der Wolffschen Tradition. Für ihn ist eine Wissenschaft jedes Korpus von - allgemein gesagt - Erkenntnissen, „welche aus ganz unumstößlichen Gründen hergeleitet" werden 148 • Die jeweiligen Gründe einer Wissenschaft sind ihre Grundsätze. Eine Wissenschaft ist also ein Korpus von Erkenntnissen, die aus unumstößlichen Grundsätzen hergeleitet sind. - Das Wort „Regel" hat bei Meier eine Verwendung, die normative und deskriptive Sätze unter sich faßt und die er in seiner Metaphysik erläutert: „Eine Regel ist ein Satz, welcher aussagt, worin die Gleichförmigkeit einer Bestimmung mit dem Grun144

Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle 1748-50,

§ 515.

Baumgarten: Ausführlicher Vortrag, a.a.0., S. 5. 146 Meier erläutert dies auch nicht in seinen Anfangsgründen, a.a.O. Ebensowenig gibt Baumgarten (siehe Anm. 145) eine Erklärung; er verwendet die Redeweise so, als sei allgemein bekannt, was sie bedeute. 147 Wolff: „Vorbericht [... ]"in: Vernünftige Gedanken von den Kräften 145

des Menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit (Deutsche Logik), in Wolff: Ges. Werke, a.a.O., Abt. I, Bd. 1, § 2. Vgl. hierzu die Formulierungen aus Wolff, „Discursus praeliminaris" in Philosophia Rationalisive Logica, a.a.O., § 30: „Per scientiam hie

intelligo habitum asserta demonstrandi, hoc est, ex principiis certis & immotis per legitimam consequentiam inferendi". 148 Meier: Anfangsgründe, a.a.O., § 3.

Einleitung

LVII

de bestehe; oder eine Regel bestimmt, wie eine Bestimmung eingerichtet werden müsse, wenn sie dem Grund gemäß seyn soll; sie zeigt nicht nur, welche Bestimmungen dem Grunde gemäß sind, sondern auch, wie sie entweder ihrer Beschaffenheit oder Größe nach, oder in beyderley Absicht, oder auch in andern Absichten seyn müssen, wenn sie dem Grunde gemäß sind. Dieser Grund ist die Seele der Regel, und obgleich die Regel nicht allemal den Grund offenbar in sich enthält, so ist derselbe doch jederzeit in der Regel wenigstens auf eine verborgene Art anzutreffen, und aus ihm wird die Regel erkannt und bewiesen" 149 • Regeln sind also Bestimmungen, die in Übereinstimmung mit allgemeinen Grundsätzen getroffen sind. Beispiele für Regeln sind etwa: „Wir müssen Gott lieben", „Von dem Besondern kann nicht auf das Allgemeine geschlossen werden", „Lebe so, wie es alle deine Leidenschaften fordern" (letzterer Satz ist eine „falsche" Regel) 150 . Regeln werden von Meier im hier betrachteten Zusammenhang der Auslegungskunst wohl auch als Anweisungen verstanden, in Übereinstimmung mit Walchs Philosophischem Lexicon, für welches eine Regel ein Satz ist, „welcher weiset, wie man ein gewisses Unternehmen anzufangen habe" 151 . Regeln sind danach also - wie wir heute sagen würden - normative Sätze. Möglicherweise lassen sie sich auch als bedingte oder konditionale Normen von der folgenden Art auffassen: „Wenn du auslegen willst, dann tue das und das". Wichtig ist aber immer, daß sie in Übereinstimmung mit der angeführten Erläuterung allgemeinen Grundsätzen entsprechen. - Wenn Meier bei seiner Bestimmung von Wissenschaft von „Erkenntnis" spricht, ist dies Wort in einem sehr allgemeinen Sinne gemeint, einfach für eine Menge von Vorstellungen: „Durch die Erkentniß verstehen wir[... ] einen ganzen Inbegrif vieler Vorstellungen" 152 . Vorstellungen jeder Art scheinen als „Erkenntnisse" zu gelten, also nicht nur Vorstellungen, die wahr oder falsch sein können, somit deskriptiven Charakters sind, sondern auch solche, die Handlungsanweisungen 149 Meier: Metaphysik, in vier Teilen, Halle 1755-1759, Bd. 1, § 80. 150 Ebenda. 151 Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775 (1. Aufl. 1726); Nachdruck Hildesheim 1968, Bd. 2., „Regel", Sp. 592. 152 Meier: Vernunft/ehre, Halle 1752, § 25.

LVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

ausdrücken. Dementsprechend müssen „Gründe" oder Grundsätze nicht deskriptiven Charakter haben, sie können auch normativer Natur sein. Ein Grundsatz ist dann ein solcher wegen seiner Stellung in einem Korpus von Erkenntnissen, gleich ob diese ,normativ' oder ,deskriptiv' sind. Und eine Wissenschaft kann - entgegen einem heute eher vorherrschenden Verständnis - sowohl deskriptiven wie auch normativen Charakter haben, vereinigt möglicherweise beide Aspekte. Zu beachten ist dabei, daß Meier im hier betrachteten Zusammenhang die begriffliche Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Sätzen nicht trifft 153 • Welche Bedeutung Grundsätze haben, hat Meier mit Blick auf die Ästhetik in seiner Schrift Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften in zusammenfassender Weise ausgeführt: (1) „Einmal wird dadurch, die Ordnung, und das Systematische, in der Erkenntnis der Regeln aller schönen Künste und Wissenschaften befördert" 154 • Das System hilft, Fehler zu vermeiden: „Ehe man sich es versieht, vergißt man etwas, welches zu demselben Lehrgebäude gehört, und bringet wohl gar etwas mit hinein, welches nicht mit zu demselben gehört, und es wird entweder zu kurz oder zu weitläufig" 155 • (2) Wer einen ersten Grundsatz kennt, verfügt damit über einen „ganz allgemeinen Begriff". Hat ein Mensch „einen ganz allgemeinen Begriff im Kopfe, welcher alle diese Regeln in sich enthält, so kann er denselben bei der Ausübung immer vor Augen haben" 156 • (3) Ein Vorteil ist auch, daß man die logischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Wissenschaften, insbesondere ihre wechselseitige Konsistenz, leichter einsieht 157 . (4) „Wenn man alle schönen Künste und Wissenschaften auf einen allgemeinen Grundsatz zurückführt, so kann man Er tut dies aber etwa in§ 248 der Vernunft/ehre, a.a.O., wo er zwischen praktischer und theoretischer Erkenntnis unterscheidet. 154 Meier: Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften, Halle 1757, S. 14. 155 Ebenda, S. 15. 156 Ebenda, S. 17. 157 Denn „unsere Einsichten werden allemal besser, wenn man die engen Verbindungen einsieht, in welchen verschiedene Künste und Wissenschaften miteinander stehen"; ebenda, S. 20. 153

Einleitung

LIX

einen desto gewissem, und lebhaftem und untrüglichem Begriff von den wesentlichen Schönheiten[ ... ] in den Werken der Kunst bekommen" 15 8 • - Allgemein gilt: „Es wäre demnach zu wünschen, daß man die allererste Regel der Welt finden könnte" 159 • Beziehen wir dies nun auf die Auslegungskunst als eine besondere Wissenschaft von Regeln, also von Anweisungen zur Auslegung von Zeichen bzw. des Sinnes der Rede. Diese Regeln bilden, da sie einer Wissenschaft der Regeln angehören, kein ungeordnetes und unsystematisches Durcheinander, sie werden vielmehr aus Grundsätzen hergeleitet. Welches sind diese Grundsätze? Meier bestimmt, wie wir sahen, in§ 3 die Auslegungskunst als Teil der Charakteristik, also der „Bezeichnungskunst". Diese enthält zum einen die Kunst der „Erfindung der Zeichen", zum zweiten eben die Auslegungskunst 160 • Die Grundsätze der Auslegungskunst sind nach § 4 die Grundsätze der allgemeinen Charakteristik und „die Gründe der Metaphysik samt der Erfahrung". Hervorragende Gründe oder Grundsätze der Metaphysik sind das Widerspruchsprinzip und das Prinzip des zureichenden Grundes. Der Satz des Widerspruchs lautet bei Meier: „es ist unmöglich, daß etwas zu gleicher Zeit sey und nicht sey; oder was zugleich ist und nicht ist, ist gar Nichts" 161 • Und der Satz vom Grunde besagt: ,,Alles was möglich ist hat einen Grund; oder wo etwas ist, muß auch etwas seyn, warum es ist, warum es eben so und nicht anders ist" 162 • Erfahrung ist „alle Erkenntniß, welcher wir uns vermittels der Sinne bewußt werden" 163 . Es könnte sich im Fall der Auslegung um sinnliche Erfahrungen handeln (wie Hören oder Sehen), die Zuhören oder Lesen begleiten und somit wesentliche Bestandteile des Auslegungsprozesses sind. Aber sicher ist auch die innere Erfahrung gemeint. Die Gründe der Metaphysik und die Erfahrung spielen nach Meier in allen Disziplinen eine Rolle. Daß der für die Allgemeine Charakteristik und damit für die Auslegungskunst spe158 159

160 161 162 163

Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 25. Meier: Anfangsgründe, a.a.O., § 515. Meier: Metaphysik, Bd. 1, a.a.O., § 21. Ebenda, § 32. Meier: Vernunft/ehre, a.a.O., § 288.

LX

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

zifische Grundsatz der der hermeneutischen Billigkeit ist, sagt Meier in § 4 noch nicht; dies geht vielmehr aus späteren Ausführungen in der Auslegungskunst hervor. Etwa aus § 238, wo hervorgehoben wird, die Billigkeit sei „die Seele aller hermeneutischen Regeln". Auch aus Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften wissen wir, daß Prinzipien der hermeneutischen Billigkeit Grundsätze der Allgemeinen Charakteristik sind 164 • Wir haben gesehen, daß Voraussetzungen von Vollkommenheit und Rationalität schon früher, insbesondere bei Wolff, eine große Rolle spielten, wenn auch dementsprechende Formulierungen noch nicht als „Grundsatz" einer Disziplin ausgezeichnet wurden. Meiers Lehrer und Freund A. G. Baumgarten hatte die Billigkeit zum Grundsatz der Hermeneutik erklärt: „Die Billigkeit des Auslegers ist die Neigung, diejenige Reihe von Vorstellungen für den Sinn zu halten, die mit den Vollkommenheiten des Autors am besten übereinstimmt, bis das Gegenteil sich herausstellt. Der Ausleger soll billig sein: dies ist der erste Grundsatz der allgemeinen Hermeneutik" 165 • Ebenso sieht Johann Heinrich Lambert (1728-1777) im Billigkeitsprinzip „die Grundregel" der Hermeneutik, nämlich „daß die Redensart, so wie sie konstruiert wird, einen Verstand haben solle" 166 . Meier unterscheidet zwei Arten von Billigkeit und im Zusammenhang damit zwei Billigkeitsgrundsätze: bei der Auslegung natürlicher Zeichen ist der Grundsatz der der hermeneutischen Billigkeit gegenüber Gott, also die Anweisung, „diejenigen Bedeutungen für die wahren zu halten, aus denen, wenn sie wahr sind, folget, daß die natürlichen Zeichen die besten Zeichen sind, und Meier: Anfangsgründe, a.a.O., § 515. 165 „AEQUITAS INTERPRETIS est propensio ad eam repraesentationum seriem pro sensu habendam, quae cum perfectionibus auct0fis optime convenit, donec constet contrarium. Interpres aequus esto: est primum hermeneutices universalis principium [... ]";Baumgarten, Alexander Gottlieb: Acroasis Logica. In Christianum L. B. De Woljf, Halle 1761, Nachdruck in Wolff: Ges. Werke, a.a.O., Abt. III, Bd. 5, Hildesheim 1983, § 464. 166 Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein, Nach druck in Lambert: Philosophische Schriften, hrsg. von Arndt, Hans-Werner, Hildesheim 1965, (Leipzig 1764) Bd. 2, Semiotik, § 302. 164

Einleitung

LXI

mit den Vollkommenheiten Gottes und insonderheit mit seinem allerweistesten Willen am besten übereinstimmen" (§ 39, S. 17). Bei der Auslegung der willkürlichen Zeichen ist der Grundsatz die Anweisung, „diejenige Bedeutung für hermeneutisch wahr [zu] halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers derselben am besten übereinstimmt, bis das Gegentheil erhellet" (§ 95, S. 37). „Vollkommenheit" ist ein zentrales Wort in diesen Billigkeitsgrundsätzen. Eine Sache ist nach Meier dann vollkommen, wenn alle ihre Bestandteile zu einem Gesamtzweck beitragen: „Die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einer Sache zu einer gemeinschaftlichen Absicht, wird die Vollkommenheit genant. Die Absicht einer Uhr besteht darin, daß sie die Stunden des Tages anzeige. Wenn nun alle Theile einer Uhr so beschaffen, und so zusammengesetzt sind, daß sie diese Absicht erreichen, so schreibt man der Uhr eine Vollkommenheit zu" 167 . Bereits Leibniz hatte die Vollkommenheit als „einigkeit in der vielheit" bestimmt 168 . Dies verband er mit seiner Mögliche-Welten-Lehre: Die von Gott erwählte Welt ist ,,le plus parfait, c'est adire le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes" 169 . Die beste aller möglichen Welten ist die vollkommenste Welt, d.h. jene, die die größte Vielfalt hinsichtlich der größten Einfachheit der sie beschreibenden Hypothesen aufweist, und damit auch das höchste Ausmaß an Geordnetheit. Wolff übernahm die Konzeption der Vollkommenheit als „Einigkeit in der Vielheit" 170 . A. G. Baumgarten be-

Meier: Vernunftlehre, a.a.O., § 36. 168 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften, hrsg. von C. I. Gerhardt, Bd. 7, Halle 1863, S. 87. 169 Leibniz: Philosophische Schriften, hrsg. von Gerhardt, Bd. 4, Halle 1859, S. 431. 170 Wolff, Christian: Philosophia prima, sive Ontologia, methodo scienti· fica pertractata, Frankfurt am Main - Leipzig 2. Aufl. 1736, ND in ders.: Gesammelte Werke, Hildesheim 1968, Abt. II, Bd. 3, § 503: „Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno". Zur Beziehung zwischen den Vollkommenheitskonzeptionen von Leibniz und Wolff siehe Schwaiger, Clemens: Das Problem des Glücks im Denken Chri167

stian Woljfs. Eine quellen-, begriffe- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik, Stuttgart-Bad Canstatt 1995, S. 93-120.

LXII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

stimmt die Vollkommenheit ähnlich wie Meier: "Durch die Vollkommenheit wird vieles in derselben Hinsicht in Übereinstimmung miteinander festgelegt. Also ist Ordnung in der Vollkommenheit [ ••• ]" 171 • Die Annahme von Vollkommenheiten ist gleichzeitig eine Annahme von Geordnetheit. Gemäß der Billigkeitsprinzipien sollen wir davon ausgehen, daß Gott bzw. der Autor einer Rede mit Vollkommenheiten ausgestattet ist. Für Gott nehmen wir damit vollkommene Geordnetheit an, für Menschen die jeweils größtmögliche. „Billigkeit" war zur damaligen Zeit in mehreren Bedeutungen geläufig: zum einen bei der Anwendung von Gesetzen, „als die Gerechtigkeit, sofern man nämlich die menschlichen Verrichtungen rechtmäßig auf das Gesetz deutet, und nach demselben die Zurechnung der Gerechtigkeit gemäß befaßt [... ] beziehungsweise für eine Erklärung oder Auslegung des Gesetzes in Ansehung dieser und jener That" 172 • Zum anderen wurde "Billigkeit" in der Sittenlehre verwendet „für eine Haupttugend, die man anderen gegenüber zu beachten hat" 173 • Als allgemeine Billigkeit galt die „allgemeine Liebe gegen den Nächsten" 174 • Billig im juristischen Sinne ist also die Beurteilung einer Handlung unter Heranziehung passender gesetzlicher Regelungen. Billig im Sinne der Ethik ist dagegen ein Verhalten anderen gegenüber, das von einer positiven Einstellung zum Mitmenschen geprägt ist. Die Billigkeit, um die es Meier geht, ist offenbar Billigkeit im zuletzt genannten Sinne als ein Gebot der Sittenlehre. Meier hat nicht unmittelbar den Bereich des Rechts, also die Anwendung von staatlichen Gesetzen im Auge. Die Einschränkung "bis das Gegenteil erhellet" 175 für die Auslegung willkürlicher Zeichen weist uns zunächst darauf hin, daß Baumgarten, A. G.: Metaphysica, Halle 1739, § 95: „In perfectione plura eidem rationi conformiter determinantur. Ergo est in perfectione ordo [... ]". 172 Walch: Philosophisches Lexicon, a.a.O., „Billigkeit": Bd. 1, Sp. 422-424; ebenso in Zedler: Universallexicon, a.a.O., Bd. 3, Sp. 1847-48. 173 Ebenda. 174 Ebenda. 175 Ähnliche Formulierungen finden sich auch bei S. J. Baumgarten, etwa Unterricht a.a.O., § 23. Siehe auch die in Anm. 165 zitierte Formulierung von A. Baumgarten: .donec constet contrarium". 171

Einleitung

LXIII

sich hermeneutische Wahrheit - als die Bedeutung, die mit den Vollkommenheiten des Autors am besten übereinstimmt - nicht demonstrieren läßt. Hermeneutische Wahrheiten, die bei der Auslegung willkürlicher Zeichen gewonnen werden, sind nicht absolut gewiß, sondern nur wahrscheinlich. Es sind keine Urteile, bei denen wir einsehen können, daß die Bestimmungen des Prädikats in den Bestimmungen des Subjekts enthalten sind, es sind damit also keine Urteile, bei denen wir einsehen können, daß ihr Gegenteil unmöglich ist. Zum zweiten drückt die Einschränkung „bis das Gegenteil erhellet" aus, daß willkürliche Zeichen von endlichen Wesen verwendet werden, denen die Vollkommenheit Gottes abgeht. Endliche Wesen können in jedem Einzelfall in einzelnen Hinsichten unvollkommen sein. Eine Untersuchung des Einzelfalls kann nun aufdecken, daß eine Unvollkommenheit vorliegt. Liegt sie vor, dann darf die Vollkommenheit nicht vorausgesetzt werden. Gelegentlich lassen sich auch allgemeine Behauptungen über die Unvollkommenheiten endlicher Wesen machen. So hebt Meier ausdrücklich hervor, daß Autoren nicht in der Lage sind, alle Folgerungen ihrer Äußerungen zu überblicken (§ 205, S. 77). Meier rekurriert in der Auslegungskunst zum Zweck der Begründung spezieller Regeln der Auslegung immer wieder auf die Billigkeitsprinzipien. Er sagt, die speziellen Regeln der Zeichen- bzw. Sinnauslegung würden aus den Grundsätzen hergeleitet(§ 4, S. 6). Damit meint er natürlich nicht, die Grundsätze allein reichten zu dieser Herleitung aus. Er zieht für die Herleitung vielmehr Spezifizierungen des Begriffs der Vollkommenheit heran. Aus diesen zusammen mit einem Billigkeitsprinzip lassen sich einzelne Auslegungsregeln herleiten. Nun sind Vollkommenheiten von Zeichen ihre Größe, ihr Inhaltsreichtum, ihre Wahrheit, Klarheit, ihr Praktisch-Sein(§ 94, S. 37). Vollkommenheiten des Urhebers von Zeichen sind solche, „welche den nächsten Grund der Vollkommenheiten der Zeichen enthalten" (§ 96, S. 37). Vollkommenheiten des Urhebers sind im Einzelnen Fruchtbarkeit des Kopfs oder der Gemütsart, Größe des Gemüts, Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit und Gründlichkeit seines Denkens, Einsicht in die praktische Anwendbarkeit von Zeichen. Aus der Anweisung, wir sollten „diejenige Bedeutung für hermeneutisch wahr halten, welche mit den

LXIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Vollkommenheiten des Urhebers am besten übereinstimmt", und der Spezifizierung der Vollkommenheit etwa als Verständlichkeit des Denkens des Autors folgt also, daß wir diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr halten sollten, die mit der Annahme am besten übereinstimmen, der Autor sei in seinem Denken verständlich. Eine oft erwähnte Vollkommenheit ist die Klugheit, die den Autor dazu veranlaßt, „klüglich erwählte Zeichen" zu verwenden (§ 89, S. 35). Klugheit war für Wolff die „Fähigkeit, weißlich erwählte Mittel wohl auszuwählen" 176 . In Walchs Philosophischem Lexicon ist unter „Klugheit" vermerkt, sie sei „eine solche Geschicklichkeit des Gemüthes, daß man seine Handlungen so einzurichten wisse, damit man zu seinem Zweck gelangen und also seinen und anderer Nutzen auf eine rechtmäßige Art befördern möge" 177 . Meier bemerkt, die Klugheit beschäftige sich „mit der Einsicht des Zusammenhangs der Zwecke und Mittel"(§ 31, S. 15). „Klugheit" bezeichnet also vornehmlich - wenn wir von den moralischen U ntertönen (in „rechtmäßiger Art") absehen - eine Zweck-MittelRationalität. Die Behauptung von Klugheit als Zweck-MittelRationalität kommt heutigen Versionen von Rationalitätsprinzipien nahe, denen entsprechend Personen, gegeben bestimmte Wünsche und bestimmte Überzeugungen über Mittel zur Erlangung ihrer Wünsche, versuchen, diese Mittel zur Realisierung ihrer Wünsche einzusetzen. Aus dem hier herangezogenen Billigkeitsprinzip zusammen mit der näheren Bestimmung von „Vollkommenheit" durch „Klugheit" folgt also eine Aufforderung zur Unterstellung von Zweck-Mittel-Rationalität. Wir haben hier von der Hermeneutik als Wissenschaft der Regeln zur Anweisung bei der Auslegung gesprochen. Die Regeln ergeben sich aus Gründen, die „unumstößlich gewiß" sind, und bilden einen systematischen Zusammenhang. Diese Regeln sind offenbar Wolff: Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgethei· Let (Deutsche Ethik), Nachdruck der 4. Aufl. Frankfurt und Leipzig 1733, in Wolff: Ces. Werke, a.a.O„ Abt. I, Bd. 4, Hildesheim 1976, § 327. 177 Walch, Philosophisches Lexicon, a.a.O„ Bd. 1, Sp. 2146-2151. 176

Einleitung

LXV

zu unterscheiden von den Resultaten der Auslegung, die zu erhalten uns die hermeneutischen Regeln helfen sollen. Wie wir bereits im Zusammenhang der Diskussion des Billigkeitsprinzips gesehen haben, gilt für die eigentliche hermeneutische Erkenntnis, also die Findung des Sinnes der Rede, nicht, daß sie unumstößliche, apodiktische Gewißheit erreichen kann: "Die allergrößte hermeneutische Demonstration ist niemals ohne alle Furcht des Gegenteils; folglich ist sie niemals eine apodiktische Gewißheit. Folglich kann keine hermeneutische Demonstration eine mathematische oder apodiktische Gewißheit sein" (§ 242, S. 89). Die größtmögliche hermeneutische Gewißheit läßt immer die Möglichkeit ihres Gegenteils bestehen, ihre Negation ist also kein Widerspruch. Hier handelt es sich um eine "moralische Gewißheit". Sie ist immer bestätigt worden; keine Gegeninstanz ist bekannt. Für diese Art von Gewißheit gilt, daß sie der obere Grenzfall der Wahrscheinlichkeit ist, wenn wir Wahrscheinlichkeitswerte auf einer Skala von 1 bis 0 anordnen 178 • Meier macht also klar, daß hermeneutische Erkenntnis nie absolut gewiß sein kann; sie ist bloß plausibel oder hat unter Umständen probabilistischen Charakter. Diese Auffassung geht bis auf Thomasius zurück und sie findet sich auch bei Meiers Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten, der immer wieder auf die Möglichkeit des Gegenteils bei der Auslegung hinweist 179 • Fassen wir zusammen: Hermeneutik als Wissenschaft der Regeln der Auslegung ist eine Menge von Grundsätzen, deren hervorragendsten die der hermeneutischen Billigkeit sind. Die speziellen Regeln der Auslegungskunst sollen aus den Grundsätzen hergeleitet werden können. Auf diese Weise soll - ganz im Sinne von Wolffs Konzeption von System - die Allgemeine Hermeneutik eine Ausarbeitung als System von Prinzipien und Regeln, einer auf

Die moralischen Gewißheit ist für Meier der höchstmögliche Grad der Wahrscheinlichkeit; siehe Anmerkung 10 zu Meiers Text. Dieses Verständnis des Ausdrucks war nicht neu; wir finden es z.B. auch in der Logi· que von Port-Royal, bei Leibniz und bei Jakob Bernoulli; vgl. hierzu Cataldi Madonna: "Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff", a.a.O„ S. 22. 179 Baumgarten: Unterricht, a.a.O., etwa§ 18. 178

LXVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Grundsätzen basierenden Wissenschaft der Auslegungskunst erhalten. Sie soll auf der einen Seite in expliziter Weise die allgemeinen Grundsätze umfassen, auf der anderen Seite in impliziter Weise spezielle Regeln der Auslegung, und soll somit die Zielvorgabe der systematisch-deduktiven Organisation einlösen, die allgemeine mit speziellen Regeln verbindet, so wie Tschirnhaus dies mit seiner Metapher des arbor scientiarum (siehe oben III, (1)) ausgedrückt hatte. 3. Die Auslegung natürlicher Zeichen Betrachten wir nunmehr, wie Meier im einzelnen vorgeht. Er beginnt mit einigen wichtigen terminologischen Festlegungen. „Auslegung im weiteren Sinne" (§ 8, S. 7) heißt die klare Erkenntnis der Bedeutung aus den Zeichen im allgemeinen (Auslegen im engeren Sinne betrifft allein die Rede, § 1, S. 5). In diese Erkenntnis geht dreierlei ein: (1) die Kenntnis des Zeichens, (2) die Erkenntnis seiner Bedeutung und (3) die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Zeichen und Bedeutung (§ 10, S. 8). Die im Rationalismus so ubiquitäre Unterscheidung von Klarheit und Deutlichkeit wird nun auch auf die Zeichenerkenntnis angewendet (§ 9, S. 8). Eine klare Erkenntnis von Bedeutungen ist eine solche, die die einzelnen Bedeutungen erkennt und voneinander unterscheidet. Eine andere mögliche Eigenschaft der Erkenntnis im allgemeinen und der von Bedeutungen im besonderen ist ihre Deutlichkeit: die Erkenntnis einer Bedeutung ist deutlich, wenn man die Merkmale der Bedeutung auch angeben und formulieren kann. Die Gegensätze zu „klar" bzw. „deutlich" sind „dunkel" bzw. „undeutlich". Ist die Erkenntnis der Bedeutung aus den Zeichen nicht allein klar, sondern darüberhinaus auch deutlich, dann spricht Meier von einer vernünftigen Auslegung; ist sie undeutlich, von einer ästhe· tischen Auslegung; dabei verwendet Meier - im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch - „ästhetisch" zur Bezeichnung klarer, aber undeutlicher Erkenntnis 180 • „All unsere Erkenntnis ist entweder deutlich vernünftig philosophisch, oder undeutlich und sinnlich. Mit der ersten beschäftigt sich die 180

Einleitung

LXVII

Zunächst (im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels) diskutiert Meier die Auslegung natürlicher Zeichen. Er geht von Leibniz' Idee aus, Gott habe aus der Menge der möglichen Welten die beste ausgewählt; unsere Welt sei also die beste aller möglichen Welten. Aus diesem Grunde sei in dieser Welt der bezeichnende Zusammenhang so umfassend wie nur möglich - und deswegen könne jeder Teil der Welt als Zeichen fungieren(§ 35, S. 16). Meier bringt hier die natürliche Zeichenbeziehung in engen Zusammenhang mit der Kausalbeziehung, mit der Beziehung zwischen Zweck und Mittel sowie der zwischen Gegenstand und Abbild (§§ 68-83, S. 28-33): Wirkungen sind natürliche Zeichen von Ursachen, und umgekehrt sind Ursachen natürliche Zeichen von Wirkungen; Zwecke sind Zeichen der Mittel, und umgekehrt; auch das Verhältnis von Urbild und Kopie ist eine Zeichenbeziehung, da für Meier die verursachte Sache der verursachenden Sache ähnlich ist. Es gilt, daß die natürlichen Zeichen - da Gott die Welt geschaffen hat - von Gott aus gesehen willkürliche Zeichen sind(§ 38, S. 17). Den Menschen als endlichen Wesen ist diese Zeichenfunktion der Dinge freilich nur unvollständig zugänglich (§ 36, S. 16). Bereits für die Auslegung der natürlichen Zeichen, nicht nur der willkürlichen Zeichen, gilt - wie oben erläutert - als zentraler hermeneutischer Gesichtspunkt der der hermeneutischen Billigkeit(§ 39, S. 17). Hermeneutische Billigkeit bei der Auslegung natürlicher Zeichen wird in Bezug auf Gott ausgeübt: mit den natürlichen Zeichen müssen wir solche Bedeutungen verbunden sehen, die den Vollkommenheiten Gottes in höchstem Ausmaß entsprechen. Wegen dieser Maxime zu unterstellende Vollkommenheiten der natürlichen Zeichen sind hermeneutische Gründe, d.h. die Auslegung legitimierende Erkenntnisgründe(§ 21, S. 12), die uns die Deutung dieser Zeichen ermöglichen. Für uns heutige Leser haben Meiers Ausführungen über die Auslegung natürlicher Zeichen befremdlichen Charakter. Zum einen haben wir Schwierigkeiten damit, in ihrem vollen Umfang LeibVernunftlehre, und mit der letzten die Ästhetik". Die Ästhetik hat „die Schönheiten der sinnlichen Erkenntnis zum Zweck"; Meier: Anfangsgrün· de, a.a.O., § 5.

LXVIII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

niz' Metaphysik von den möglichen Welten ernst zu nehmen, die den Hintergrund von Meiers Überlegungen bildet. Zweitens fällt es uns schwer, in der Rede vom bezeichnenden Zusammenhang in der Welt mehr zu erblicken als bloß eine etwas ungewöhnliche Ausdrucksweise für die Welt als umfassenden Kausalzusammenhang. Was die Metaphysik der möglichen Welten anlangt, so ist hier nicht der Ort, sie näher zu diskutieren. Was die Rede vom bezeichnenden Zusammenhang in der Welt betrifft, so sei in unangemessener Knappheit folgendes bemerkt: dadurch, daß Meier den bezeichnenden Zusammenhang in der Welt sowohl mit ZweckMittel-Zusammenhängen identifiziert wie auch mit einem allgemeinen Kausalzusammenhang, will er wohl Kausalzusammenhang, Zweck-Mittel-Zusammenhänge und die Zeichenbeziehung ontologisch auf dieselbe Ebene stellen. Deswegen ergeben sich erkenntnistheoretisch keine Unterschiede zwischen Kausalerkenntnis, Einsicht in Zweck-Mittel-Beziehungen und Zeichenerkenntnis. In V, (1), werden wir etwas eingehender erörtern, welche Rolle der allgemeine Bezeichnungszusammenhang der Welt in Meiers Konzeption spielen könnte.

4. Die Auslegung willkürlicher Zeichen Nach den natürlichen Zeichen wendet sich Meier den willkürlichen Zeichen und ihrer Auslegung zu. Er meint, nur solche willkürliche Zeichen könnten ausgelegt werden, die auf intelligente Weise ausgewählt („klüglich erwählet" - § 84, S. 33) worden sind. Texte, deren Zeichen „klüglich erwählet" sind, sind offenbar solche, die - in der Terminologie W olffs - mit Urteil geschrieben sind. Wer Zeichen klüglich erwählt, verleiht ihnen eine „gute Bedeutung"; d.h. die Bedeutung selbst oder der Urheber der Zeichen weisen Vollkommenheiten auf, oder beim Rezipienten kommen Vollkommenheiten zustande. Da nur intelligent ausgewählte Zeichen ausgelegt werden können, unterstellt der Ausleger also, daß sie intelligent ausgewählt worden sind, und das heißt, er ist bei der Interpretation billig(§ 85-93, S. 34-37). Wenn der Ausleger beim Autor Vollkommenheiten unterstellt, müssen es - wie wir bereits

Einleitung

LXIX

sahen - insbesondere solche sein, die die nächsten Gründe der positiven Qualitäten der Zeichen sind(§ 96, S. 37): geistige Eigenschaften und Einstellungen, die die Hervorbringung solcher Zeichen gewährleisten (Fruchtbarkeit des Kopfes, Größe des Gemüts, Gründlichkeit u.s.w.). Willkürliche Zeichen werden nun nicht immer von ihren Verwendern eigens erfunden, sondern die Zeichenverwender übernehmen die willkürlichen Zeichen von anderen. Um verständlich zu bleiben, wird der Autor einen solchen Gebrauch übernehmen, der bei den meisten verbreitet ist. Deswegen müssen wir - wenn wir billig sein wollen - bei der Auslegung konventioneller Zeichen zunächst unterstellen, daß der Autor sich den Konventionen des Gebrauchs anpaßt, sich also an den Bezeichnungsgebrauch hält (§ 97, S. 38). Natürlich kann diese Unterstellung in Schwierigkeiten kommen, und dann nehmen wir an, daß im vorliegenden Fall der Autor vom Gebrauch abgewichen ist. In diesem Zusammenhang geht Meier auf Zeichen ein, die nicht immer ein und dieselbe Bedeutung bezeichnen(§ 98, S. 39). Um herauszubekommen, wie sie gemeint sein könnten, empfiehlt er uns, auf den Kontext, in dem sie vorkommen, zu achten, sowie auch eigene Äußerungen des Autors - die authentische Auslegung - heranzuziehen. Ganz allgemein sei bei der Auslegung willkürlicher Zeichen die Individualität ("Einzelnheit") des Autors zu berücksichtigen(§ 102, S. 41). Das zweite Kapitel handelt von der Auslegung der Rede, einer Unterart von willkürlichen Zeichen. Meier geht einleitend in grundsätzlicher Weise auf den Sinn der Rede und auf Ziele bei ihrer Auslegung ein. Mit einzelnen Zeichen und Wörtern sind Bedeutungen verbunden; die Bedeutung der in der Rede miteinander verknüpften Wörter wird terminologisch eigens hervorgehoben und Meier nennt sie den Sinn der Rede (§ 104, S. 42). Der Ausleger muß die Rede mit ihren Wörtern erkennen, mit den Bedeutungen der einzelnen Wörter, den Zusammenhang dieser Bedeutungen sowie den Zusammenhang zwischen der Rede und ihrem Sinn(§ 106, S. 43). Da die Rede aus willkürlichen Zeichen besteht, können wir auch unterstellen, daß sie weislich erwählt, also in intelligenter Weise zusammengestellt wurde. Der Autor hat sich an Regeln aus verschiedenen Disziplinen gehalten (aus der Vernunftlehre, der Re-

LXX

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

dekunst etc.}, auf die wir bei der Auslegung auch zurückgreifen können(§ 111, S. 45}. - Die Rede wird vom Verfasser als Mittel eingesetzt, um ihren Sinn auszudrücken (§ 112, S. 45). Was der Autor nicht gewollt hat, kann deswegen nicht zum Sinn der Rede gehören. Der Sinn kann in mehrfacher Weise von der Rede abhängen. Entweder ist er unmittelbarer oder entfernter Zweck der Rede - unmittelbarer oder mittelbarer Sinn. Jede Rede hat einen unmittelbaren Sinn, nicht immer aber einen mittelbaren Sinn, also einen vom unmittelbaren Sinn verschiedenen Sinn, der mit dem unmittelbaren Sinn verknüpft ist. Die Auslegung zielt auf den unmittelbaren oder den mittelbaren Redesinn. Wer aus Wörtern und Rede die Bedeutungen bzw. den Sinn erkennt, der versteht die Wörter und die Rede. In diesem Fall denkt der Ausleger den Sinn und die Bedeutungen, die der Autor gedacht hat. Und wenn dieses Dasselbe-Denken nicht zustandekommt, dann kommt kein Verständnis zustande (§ 128, S. 50}. Für Meier ist also, wie auch für die im letzten Kapitel behandelten Autoren, die Erkenntnis der Autorintention Ziel der Auslegung. - Der Sinn, den eine auszulegende Rede tatsächlich hat, ist der hermeneutisch wahre Sinn der Rede; er ist "die Absicht, um derentwillen der Urheber des Zeichens dasselbe braucht" (§ 17, S. 10). Von der hermeneutischen Wahrheit eines Sinnes sind seine logische, metaphysische oder moralische Wahrheit zu unterscheiden(§ 118, S. 47). Denn die hermeneutische Wahrheit ist eine mögliche Eigenschaft der Auslegung, also einer Rede, die der Ausleger vornimmt. Logische, metaphysische, moralische Wahrheit dagegen sind mögliche Eigenschaften der auszulegenden Rede, also der Rede, die sich der Ausleger unter Umständen zum Auslegungsgegenstand macht. Wie können wir den unmittelbaren Redesinn ermitteln? Um den unmittelbaren Sinn zu finden, hat der Ausleger den Text zu erkennen und den unmittelbaren Zweck des Autors aufzufinden. Hierfür muß er insbesondere die Sprache kennen, derer sich der Autor bedient hat (§ 132, S. 52}, den außersprachlichen Kontext der Rede berücksichtigen(§ 133, S. 52), die Ergebnisse der Textkritik heranziehen und die eigene Auslegung des Autors beachten (§§ 134-136, S. 53). Der Ausleger muß zunächst die verschiedenen buchstäblichen Sinne von Zeichen und Rede ermitteln, die

Einleitung

LXXI

durch den Sprachgebrauch festgelegt sind(§§ 140-142, S. 55-56). Wichtige hermeneutische Gründe, also Erkenntnisgründe (vgl. § 21, S. 12) für die Annahme unmittelbarer Bedeutungen sind Wortund Sachparallelismen(§§ 151-155, S. 58-59). Der Zusammenhang der Bedeutungen von Ausdrücken im Text legt den unmittelbaren Sinn fest und ist auch ein hermeneutischer Grund. - Der unmittelbare Sinn ist das, was der Autor will(§ 162, S. 62). Um zu erkennen, was der Autor will, müssen wir uns mit den Wünschen des Autors und seinen mit der Hervorbringung des Textes verbundenen Zielen bekannt machen(§§ 163, 164, S. 62). Bei all dem gilt es zu beachten, daß der Autor andern die Erkenntnis des Sinnes ermöglichen will(§ 165, S. 63). Er wird seine Rede also so einzurichten suchen, daß dieses Ziel erreicht werden kann, und hierfür muß er die Rede mit verschiedenen Vollkommenheiten ausstatten (§ 166, S. 63). Die eigentliche Bedeutung ist der gewöhnliche buchstäbliche Sinn, und sie ist häufiger als die uneigentliche; daher zieht der Ausleger die eigentliche der uneigentlichen Bedeutung vor, „bis das Gegenteil erhellet" (§ 172, S. 65). Können die Vollkommenheitsunterstellungen nur aufrechterhalten werden, wenn man einen uneigentlichen Sinn annimmt, dann ist dieser als unmittelbarer Sinn der Rede anzunehmen. Vielleicht um die Zurechnung des mystischen Sinns bei der Bibelauslegung zu ermöglichen, läßt Meier auch den mittelbaren Redesinn zu, dessen Findung der dritte Abschnitt des zweiten Kapitels gewidmet ist. Da der mittelbare Sinn aus der Rede schwerer zu erkennen ist als der unmittelbare, eine Rede mit mittelbarem Sinn also ein weniger gutes Zeichen ist, darf man nicht ohne weiteres annehmen, daß die Rede einen mittelbaren Sinn habe; allein wenn der unmittelbare Sinn die Rede zu einer sehr unvollkommenen Rede macht, müssen wir einen mittelbaren Sinn unterstellen(§ 213, S. 80). Ob Meier denen, die einen mystischen Sinn der Heiligen Schrift annehmen wollen, mit seiner Lehre vom mittelbaren Sinne wirklich einen guten Dienst tut, ist zu bezweifeln. Nach Meier läßt sich die Annahme des mystischen Sinnes ja nur rechtfertigen, wenn der unmittelbare Sinn sehr unvollkommen ist. Das werden jedoch Bibelexegeten bezüglich vieler Stellen, an denen sie den mystischen Sinn bemühen, wohl nicht behaupten wollen.

LXXII

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Es scheint nun nicht der Fall zu sein, daß Meiers Ausführungen über die Auslegung willkürlicher Zeichen im Vergleich zu Schriften früherer Autoren (hier ist insbesondere an Rambach, Zur Linden und S. J. Baumgarten zu denken) völlig neue Aspekte enthalten. Von ihm verwendete Terminologie und begriffliche U nterscheidungen ("Sinn", "unmittelbarer Sinn", „mittelbarer Sinn", "hermeneutische Wahrheit" etc.) sind uns bereits bei diesen Autoren begegnet. Auch schlägt Meier wohl keine bisher unbekannten Auslegungsmethoden vor, sondern übernimmt im wesentlichen in der Literatur bereits erörterte. Er begründet die Auslegungsregeln aber besser bzw. ausführlicher als frühere Autoren. Er versucht, die einzelnen Auslegungsregeln als Spezialfälle der Ausübung interpretatorischer Billigkeit begreiflich zu machen. Uns scheint, daß hierin die spezifische Leistung von Meiers Erörterung der Auslegung willkürlicher Zeichen zu sehen ist.

5. Die Anwendung und das Besserverstehen Das Ziel der Auslegung ist erreicht, wenn Autor und Ausleger dasselbe denken (§ 128, S. 50). Hiermit ist natürlich das, was wir mit einem Text ,machen' können, nicht erschöpft. Zum einen können wir den Text praktisch umsetzen, ihn also anwenden, zum anderen können wir versuchen, besser zu verstehen, was der Text besagt. Diese Thematik ist Gegenstand des vierten Abschnittes des zweiten Kapitels. Die Ausdeutung des bei der Auslegung gewonnenen Sinnes in verschiedene Richtungen für das Publikum des Auslegers nennt Meier das Kommentieren. Es ist die Tätigkeit, Personen, um derentwillen die Auslegung vorgenommen worden ist, eine vollkommenere Erkenntnis des durch die Auslegung gefundenen Sinnes beizubringen. Hier geht es also nicht mehr nur um die Feststellung dessen, was der Autor gedacht hat, sondern um die Anwendung des Textes auf die Situation des Interpreten und insbesondere seines Publikums, also, wie man auch sagt, die Applikation. Und es geht (zumindest teilweise) darum, ein besseres Verständnis dieser Gedanken zu erreichen. Kommentieren kann nach Meier in dreierlei Absicht geschehen: auf klare Sinnerkenntnis, auf ge-

Einleitung

LXXIII

wisse Sinnerkenntnis, auf lebendige Sinnerkenntnis ausgerichtet (§ 219, S. 82). Ein erläuternder (oder erklärender) Kommentator

will größere Klarheit erreichen(§ 220, S. 82). Geht es dem erläuternden Kommentator vornehmlich um die Rede des Textes, nicht den Sinn oder die Abhängigkeit des Sinnes von der Rede, sondern seine sprachliche Gestalt, dann ist er ein philologischer Kommentator(§ 222, S. 83). Ein solcher ist auch, wer den Text in eine andere Sprache übersetzt. Wer dagegen den Sinn und seine Abhängigkeit vom Text erläutert, ist ein exegetischer Kommentator(§ 222, S. 83). Er bedient sich der Paraphrase und der Zergliederung des Textes. - Kommentieren, bei dem es um die gewisse Erkenntnis des Sinnes geht, ist beweisendes Kommentieren, das sich hermeneutischer Beweise bedient und daher auf hermeneutische Gründe rekurriert, aber nie vollkommene mathematische Gewißheit erreicht (§ 233, S. 86). - Ein praktischer Kommentator ist dagegen einer, dem es um die Lebendigkeit der Zeichen geht, d.h. um ihre moralische Bedeutung(§ 247, S. 91). Die Anwendung des Textsinnes geschieht also durch den praktischen Kommentator. Wie wir gesehen haben, ist ein Ziel der Auslegung, das rechte Verstehen, erreicht, wenn Autor und Ausleger dasselbe denken. Zu diesem rechten Verstehen ist aber nicht notwendig, daß der Ausleger dasjenige, „was der Autor gedacht hat, auch eben so denke, wie es vom Autor gedacht worden"(§ 129, S. 51). Der Ausleger kann nämlich eine weitläufigere, größere, richtigere, klarere „Erkenntnis des Sinnes haben als der Autor, und umgekehrt". Nach Meier ist es also möglich, daß zwei Personen dasselbe denken, daß sie es aber auf unterschiedliche Weise denken. Erstens kann die Erkenntnis, die der Ausleger hat, vollkommener sein als die des Autors. Umgekehrt kann der Autor eine vollkommere Sinnerkenntnis haben als der Ausleger. Der erste Fall ist offenbar derjenige, in dem wir sagen können, der Ausleger verstehe den Autor besser, als dieser sich selbst verstanden habe. Diesen Fall hatte - wie wir oben gesehen haben - auch Wolff im Auge, als er darauf hinwies, der Ausleger könne unter Umständen im Gegensatz zu den undeutlichen Begriffen des Autors deutliche Begriffe haben. Eine andere Möglichkeit, einem Publikum eine vollkommenere Sinnerkenntnis beizubringen, bietet der praktische Kommentar.

LXXIV

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

Hier wird auf die „Lebendigkeit" der Sinnerkenntnis abgezielt. Diese Lebendigkeit kann, selbst wenn wir dasselbe denken wie der Autor, höher sein als für den Autor, und zwar dann, wenn wir den Sinn in die Tat umsetzen. Meier hat hierbei wohl primär die Anwendung theologischer Inhalte im Auge, weniger die Frage der Anwendung von Rechtssätzen. Bestimmte Probleme, die die Anwendung von Rechtssätzen betreffen, scheint er dabei eher in die Gebiete des exegetischen oder beweisenden Kommentierens zu delegieren als in den Bereich ihrer Anwendung (die Gegenstand des „praktischen Kommentars" ist). - Den Text besser zu verstehen, und gar den Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstanden hat, somit eine vollkommenere Sinnerkenntnis als der Autor zu gewinnen, sind bei Meier offenbar anderen Zielen nachgeordnete Erkenntnisziele der Interpretation. Zuerst kommt es darauf an, daß der Ausleger dasselbe denkt wie der Autor. Dies ist das Hauptziel der Interpretation. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Aufgabe des Kommentierens, also u.a. die Aufgabe, zu einer vollkommeneren Sinnerkenntnis zu gelangen. Insofern ist keineswegs alles gelungene Interpretieren ein Besserverstehen. Was das Hauptziel der Auslegung anlangt, dasselbe zu denken wie der Autor, so liegt hier natürlich ein Gegensatz etwa zur Verstehenskonzeption der sogenannten Philosophischen Hermeneutik 181 vor, für die Verstehen immer ein Andersverstehen ist (also den Autor anders verstehen, als dieser sich selbst verstanden hat). Des weiteren ist hervorzuheben, daß auch die Anwendung des Textsinnes auf die Situation des Publikums, dem zuliebe die Auslegung geschieht, ein Schritt ist, der der Erfassung des Textsinnes nachgeordnet ist und klar von ihm unterschieden ist. Hierin besteht wiederum ein scharfer Gegensatz zu modernen interpretationstheoretischen Positionen wie etwa der eben genannten Philosophischen

Die Philosophische Hermeneutik ist eine auf Überlegungen Martin Heideggers in Sein und Zeit, Tübingen 1979 (1. Aufl. 1927), aufbauende Konzeption. Sie analysiert das Textverstehen auf der Grundlage des Verstehens als eines allgemeinen Seinsmodus des Menschen. Im deutschsprachigen Bereich ist die maßgebliche Formulierung Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O. (vgl. Anm. 72). 181

Einleitung

LXXV

Hermeneutik, für die Interpretieren ,immer schon' Applikation ist, und Anwendung und Sinnerfassung untrennbar miteinander verbunden sind 182 •

6. Zu den Wirkungen von Meiers Hermeneutik Meiers Auslegungskunst war keine große Fortüne beschieden. Soweit wir feststellen konnten, gab es nur eine von Zeitgenossen verfaßte, negativ gehaltene Rezension des Buches 183 • Der Philosophiehistoriker Buhle gab ein positives Urteil ab (siehe oben, II, (2)) und erkannte, daß hier zum ersten Mal die "Idee einer für sich bestehenden systematischen Hermeneutik" entwickelt werde. Der Altphilologe Friedrich August Wolf beurteilte das Buch in seiner Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft184 als "wenig befriedigend". Boeckh erwähnt Meiers Auslegungskunst ohne weiteren Kommentar 185 • Dilthey meinte, das Buch zeige "wieder einmal, daß man nicht nach Gesichtspunkten der Architektonik und Symmetrie neue Wissenschaften erfinden kann. So entstehen nur blinde Fenster, durch die niemand sehen kann" 186 • Sein Schüler Joachim Wach äußerte sich positiver: Meiers Hermeneutik sei "eine recht anerkennenswerte, wenn schon stark formalistische Leistung". Für Meiers Idee einer systematisch begründeten Hermeneutik brachte er aber kein Verständnis auf, denn er meinte, es sei ihm nur um eine reine Klassifikation gegangen, eine "systematiSo meint Gadamer, .daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet", Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 291. 183 Anonymer Autor, Rezension von Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Göttingische gelehrte Anzeigen, 152. Stück vom 19. Dezember 1757, S. 1428-33. 184 Wolf, Friedrich August: Vorlesung über die Encyclopädie der Alter· thumswissenschaft, Leipzig 1831, S. 271. 185 Boeckh, August: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. von Ernst Bratuscheck, (Leipzig 1886) Nachdruck: Darmstadt 1966, S. 79. 186 Dilthey: .Die Entstehung der Hermeneutik", a.a.O., S. 326. 182

LXXVI

Axel Bühler · Luigi Cataldi Madonna

sehe Gruppierung von ,Zeichen', die es zu verstehen gilt" 187 . Gadamer, der Meiers Schrift in Wahrheit und Methode unberücksichtigt gelassen hatte, bemängelte an ihr, sie sei formalistisch und schematisch 188 . Knappe Behandlung findet Meiers Hermeneutik in der Geschichte der Hermeneutik von Ferraris 189 • Ein Abschnitt aus Meiers Auslegungskunst ist in einer von Ravera veröffentlichten Anthologie von Texten aus der Geschichte der Hermeneutik wieder abgedruckt worden 190 . Gegenstand detaillierterer Untersuchungen wurde Meiers Auslegungskunst erst in jüngster Zeit, und zwar aus zwei Gründen: einmal deswegen, weil in den letzten Jahrzehnten die Philosophie der deutschen Aufklärung zu einem wichtigen Gegenstand der philosophiegeschicht!ichen Forschung wurde, zum anderen wegen Geldsetzers verdienstvoller Initiative, bestimmte vernachlässigte Episoden der Geschichte der Hermeneutik durch Nachdrucke und sie begleitende Einleitungen wieder zugänglich zu machen. So konnten nach dem Nach druck, den Geldsetzer im Jahre 1967 vornahm und mit einer informativen Einleitung begleitete 191 , erstmals Arbeiten erscheinen, die einzelne Aspekte von Meiers Hermeneutik in den Mittelpunkt stellten. Hier sind Schriften von Longo 1nSzondi 193 ,

187 Wach, Joachim: Das Verstehen, 3 Bde.; Tübingen 1933, Nachdruck: Hildesheim 1966. Meiers Auslegungskunst wird in B