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German Pages [352] Year 1990
V&R
ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER
HISTORISCHEN KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DES PIETISMUS
HERAUSGEGEBEN VON
K. ALAND, E. PESCHKE UND G. SCHÄFER
BAND 27
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
CHRISTUS, DAS HEIL DER NATUR ENTSTEHUNG UND SYSTEMATIK DER THEOLOGIE FRIEDRICH CHRISTOPH OETINGERS VON
MARTIN WEYER-MENKHOFF
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Die ersten 16 Bände dieser Reihe erschienen im LutherVerlag, Bielefeld. Ab Band 17 erscheint die Reihe im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Dem Gedenken meines Vaters Wilhelm Weyer-Menkhoff 1904-1989
CIP- Titelaufnahme der Deutschen
Bibliothek
Weyer-Menkhoff, Martin: Christus, das Heil der N a t u r : E n t s t e h u n g u n d Systematik der Theologie Friedrich C h r i s t o p h Oetingers / von Martin WeyerM e n k h o f f . - G ö t t i n g e n : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1990 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 27) Z u g l . : M a r b u r g , U n i v . , Diss., 1985 I S B N 3-525-55811-2 NE: GT
© 1990 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in G e r m a n y . - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede V e r w e r t u n g außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig u n d strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, M i k r o v e r f i l m u n g e n u n d die Einspeicherung u n d Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus B e m b o auf Linotron 300 System 4 (Linotype). Satz und D r u c k : Guide-Druck G m b H , Tübingen Bindearbeit: H u b e r t & C o . , Göttingen
Vorwort Diese im Sommer 1984 abgeschlossene Studie wurde 1985 aufgrund der Gutachten der Herren Professoren Ratschow und Liebing v o m Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Seit der Fertigstellung 1984 erschienene Literatur konnte nur in begrenztem U m f a n g eingearbeitet werden. Inzwischen hat Eberhard Gutekunst (Stuttgart) das als Original anzusehende Manuskript der Autobiographie Oetingers mit Ergänzungen und Nachträgen von eigener Hand entdeckt. Für die vorliegende Arbeit war es nicht mehr möglich, den wertvollen Fund zu berücksichtigen; dies habe ich nun in einer Bildbiographie tun können. Die Begegnungen und der Austausch von Forschungsergebnissen mit Herrn Reinhard Breymayer, M . A . , Ofterdingen, sind mir ein leuchtendes Beispiel wissenschaftlicher Zusammenarbeit jenseits (leider manchmal durchaus berechtigter) plagiatorischer Ängstlichkeit. Ich danke ihm dafür. Herrn Professor Dr. Liebing danke ich für seine wertvollen Änderungsvorschläge und Herrn Archivdirektor i. R. D . D r . Schäfer für die Beratung bei der Druckgestaltung. Ferner gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Wilhelm Kahle, Wittlich, und Herrn Studienleiter Pfarrer Michael Weyer-Menkhoff, Marburg, für zahlreiche Anregungen und Gespräche. Ungezählte Buchtransaktionen rufen mir die freundliche Zusammenarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vieler Bibliotheken in Erinnerung, besonders seien hier die Universitätsbibliotheken Marburg und Tübingen, die Landesbibliotheken Stuttgart und Wiesbaden sowie die Bibliothek der Fachhochschule Idstein genannt. Französische Übersetzungen verdanke ich meiner Frau, tschechische Herrn Dr.-Ing. Hanns Frank, Sindelfingen. Für die Arbeiten an der Erstellung und Korrektur des Satzes danke ich den D a m e n und Herren Sabine Knaup, Antje Borchers, Michael Hausin und Titus Hägele. Mit Druckkostenzuschüssen beteiligten sich an dieser Arbeit die Evangelische Kirchengemeinde Murrhardt, die Evangelischen Landeskirchen in Württemberg und Hessen-Nassau sowie die Stiftung für Kunst und Wissenschaft der Württembergischen Hypothekenbank. Den genannten Einrichtungen sei herzlich gedankt. Einen sehr persönlichen Dank möchte ich hier in dreifacher Hinsicht aussprechen: - Meinem Lehrer, Herrn Professor D . D r . Carl Heinz Ratschow, der nicht nur diese Arbeit anregte und begleitete, sondern auch ganz wesentlich die Richtung meines Glaubens und Denkens. Ich bin ihm in Verehrung und Zuneigung verbunden.
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- Meinem Berater und Seelsorgelehrer, Herrn Dr. Hans Bürki (Schinznach Bad, Schweiz), der meine Aufmerksamkeit auf Fragen und Verwirklichungen einer Theologie der Geschöpflichkeit, Integration und der Begegnung lenkte. - Meiner Frau Cornelia, die sich in Geduld übte und gleichwohl lebhaften Anteil an dieser Arbeit nahm! Daß man eine Arbeit über Leiblichkeit schreiben und dieselbe - inzwischen in Gestalt einer stattlichen Familie sogleich und immer wieder vernachlässigen kann, gehört wohl wenigstens zum Teil zu den Rätseln des alten Äons. Dennoch waren uns manche Gespräche über Gedanken Oetingers eine güldene Zeit. Idstein, im Dezember 1989
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Martin Weyer-Menkhoff
Abkürzungen und Typographie Die hier verwendeten Abkürzungen folgen dem sensus communis, wie er sich in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) und der Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) niedergeschlagen hat. Die Werke Oetingers, die als selbständiges Werk im Quellenverzeichnis angegeben sind, werden im laufenden Text mit KAPITÄLCHEN wiedergegeben, alle übrigen Titel kursiv. Zur Zitation und Abkürzung der Oetinger-Titel s. die Anmerkungen im Verzeichnis seiner Werke S. 274 f. Auch die übrige Literatur ist meist nur mit einem Kurztitel angeführt, der im Literaturverzeichnis leicht aufgelöst werden kann. Weitere Abkürzungen: [ ]
Inhalt der Klammern ist Zusatz, nicht Zitat Auslassungszeichen (für [ . . . ] ) ; „ . . . " begegnet in dieser Arbeit nicht als Zitat. unpag. unpaginiert; statt dessen wird oft das fol. folium (Blatt) mit etwa vorhandenen Druckbogenbezeichnungen angegeben. xr recte: Vorderseite des fol. χ xv verso: Rückseite des fol. χ
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FRIEDRICH CHRISTOPH OETINGER 1702-1782 Ölgemälde von Georg Adam Eger, 1775, in der Stadtkirche Murrhardt
Inhalt
Vorwort
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Abkürzungen und Typographie
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Einleitung I. Ziel und Aufgabe II. Zur Methode der Arbeit 1. Die Systematik nach dem Leben 2. Aufbau und Gliederung III. Zur Quellenlage
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1. D i e GENEALOGIE
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2. Die übrigen Schriften Oetingers
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IV. Zur Forschungslage. Ein Überblick V. Zur Biographie Oetingers. Eine Übersicht
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A. Die Entstehung der Theologie Oetingers (bis 1738) I. Drei bedeutsame Ereignisse 1. Aufschwung 2. Bekehrung 3. Schwierigkeiten mit Jesaja II. Auf der Suche nach dem Grund. Studium 1. Oetinger als „Idealist". „Leibniz" beim jungen Oetinger 2. Jacob Böhme 3. Die „Grundbegriffe" 4. Studien zur zukünftigen und doch uralten „Heiligen Philosophie" . . III. Auf der Suche nach dem Leben. Reisen Zwei Impulse: 1. Kabbala und Böhmes Philosophie Exkurs 1: Zur Kabbala
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2. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf a) Erste Begegnung b) Schnelle Begeisterung c) „Prüfung" und Abbruch der Beziehungen d) Zusammenfassende Beobachtungen Zwei Lebenserfahrungen: 3. Mystische Existenz a) Vorgeschichte b) Erste Praxis in Herrnhut und Tübingen c) Anna und Oetinger d) Die Zentralerkenntnis e) Oetinger und Zinzendorf 4. Die „Herunterlassung". Vom Perfektionismus zum Realitätssinn . . IV. Krise und Wende. Die Entdeckung des „sensus communis" V. Grundlagen der Theologie Oetingers um 1738
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B. „Etwas Ganzes" im Leben I. Die Allgemeinheit des „Ganzen". Die Wahrheit der Schöpfung 1. Allgemeinheit als Kriterium der Wahrheit 2. Der sensus communis a) Solidarität der Menschlichkeit b) Zur Tradition des Begriffs „sensus communis" c) „Definitionen" d) Sprache und sensus communis e) Die Aufgabe des sensus communis 3. Die zugrunde gegangene Schöpfungswissenschaft und die neuentdeckte Magie. Alchemie und Elektrizität II. Die Besonderheit des „Ganzen". Jesus Christus - der Weg zum Leben 1. Das „auflösliche" Leben a) nach Oetingers Lebenserfahrungen b) nach dem Buch der Natur: der Philosophie und den Wissenschaften c) nach der Heiligen Schrift 2. Sein oder Leben? Die Vorordnung des Glaubens vor das Denken. . . 3. Strukturen des Lebens a) Die Grundstruktur b) Die Lebenskräfte nach wichtigen Traditionen (1) Mechanische Kräfte (2) Motus alternus (3) Übermechanische Kräfte
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(4) Die drei Prinzipien (5) Die sieben Qualitäten oder Geister Gottes (6) Die zehn Sefirot c) Leiblichkeit als Ziel der Lebens-Bewegung d) Der Sonderfall: Menschen (1) Leben als Möglichkeit (2) Die Selbstbewegung. Wahres und falsches Leben (3) Das „doppelte Leben" und die Geistleiblichkeit (4) Die Seele und die „sogenannte Unsterblichkeit" Exkurs 2: Oetinger, der Geisterprediger? e) Das Wesen des Lebens (1) Quintessenz (2) Vierte Dimension (3) Ens penetrabile (4) Tetractys (5) Intensum (6) Enifelechie 4. Die Liebe . a) Das Reich Gottes . b) Versöhnung und Apokatastasis
III. Die Konkretion des „Ganzen". „Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes" 1. Geheiligter Materialismus 2. Die güldene Zeit und Stadt 3. „Die Wissenschafft des Grundes der Hoffnung"
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C. Strukturen der Ganzheit in Alltag und Wissenschaft I. Die Zeiten Gottes II. Das Salz des Friedens III. Die Methode 1. „Alles zusammennehmen! " D i e allgemeine Methode 2. „Phänomenologische Methode". Die Methode der Liebe 3. „Emblematik". Die Methode der Leiblichkeit
IV. Das System 1. Der Hiatus 2. System und Gelegenheit 3. Unorthodoxe Orthodoxie
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257 257 260 262
Die Systematik der Theologie Oetingers
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Literaturverzeichnis
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1. 2. 3. 4. 5. 6.
7. 8. 9. 10. Register
XII
Bibliothekswissenschaft Spezielle Bibliographien in Auswahl Nachschlagewerke in Auswahl Archiv Wichtige Bibliographien der Werke F. C. Oetingers Quellen: Kurze Übersicht der benutzten Werke Friedrich Christoph Oetingers a) Werkausgaben b) Teilsammlungen c) Einzelne Werke d) Alphabetische Liste der Kurztitel „Oetinger" im Lexikon. Eine Auswahl Rezensionen von Werken Oetingers in Auswahl Oetingers Tod. Eine Auswahl Literatur zu Oetinger und zum Thema
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Einleitung I. Ziel und
Aufgabe
A m Sonntag, dem Tl. September 1772, bestieg der 70jährige Prälat Friedrich Christoph Oetinger die Kanzel seiner Murrhardter Stadtkirche und begann die Predigt über das Thema GOtt und die Welt lieben, haißt doppelherzig seyn mit einem Rückblick auf sein Leben. „Viele können sich nicht in mich finden, aber sie wissen meinen verborgenen Grund nicht." 1 Er hatte recht und sollte recht behalten. Viele verstanden ihn nicht. Er sei ein „dunkler Schriftsteller", setzte Johann Caspar Lavater über die von ihm gezeichnete Vignette Oetingers drei Jahre nach dieser Predigt im I. Band seiner Physiognomischen Fragmente2. Zunächst fallen formale Schwierigkeiten der Lektüre Oetingers ins Auge, etwa Stil und Sprachlichkeit. 2a Johann Konrad Pfenninger schrieb 1781: „Die Gabe der Deutlichkeit hat er nicht" 2b . Manche Freunde drücken das vornehmer aus: „Oetinger ist ein Prophet, und kein Lehrer". 2 0 - E r selbst wußte darum, schien wohl auch darunter zu leiden und konnte oder wollte es doch nicht ändern. Einmal begründet er resignativ die Einteilung einer 1 Oetinger, Murrhardter Predigten II (1780), S. 218; ders., Predigtentwürfe (1776-1778), S. 519. 2 S. 233. 23 Es ist eine Untersuchung wert, Oetingers Ideen der Rhetorik, der ungekünstelten, nicht galanten und doch „zierlichen" Art nach dem „sensus communis" seiner eigenen Verwirklichung gegenüberzustellen. Oetingers Latein ist deutsch und sein Deutsch ist lateinisch, Grammatik und Stil bisweilen abenteuerlich. (Ein Vergleich mit zeitgenössischen Schriftstellern bestätigt diesen Eindruck.) Gewiß schreibt er von Herzen; Leser allerdings, die nicht seine Freunde waren, mußte das jedoch abstoßen. Bei dieser ganzen Beobachtung ist es erstaunlich, daß Oetinger ein großes - nicht nur theoretisches - Sprachempfinden besaß! (Vgl. Fullenwider, Oetinger, S. 117, im Anschluß an die Kritik Hermann Hesses). 2b [Frts. : ] „ . . . wenigstens für diejenige, welche nicht ihr Gedankensystem durch eben solche Mittel, wie er, gebildet haben. Eben dies hat viele, die sonst edel denken, an ihm irre gemacht, sie haben Unrecht gethan, oder nicht, wie man die Sache nimmt. Zu viel Ehre würden wir ihm erweisen, wenn wir in allem, was wir in seinen Schriften nicht verstehen, durchaus erhabne Weisheit vermuthen wollten; Unrecht würde ihm geschehen, wenn wir geradezu das Unsinn nennen wollten, was uns nicht verständlich ist." (J. K. Pfenninger in Oetinger, Genealogie (1781), S. 85f.). 20 Ph.M. Hahn, Tagebuchnotiz „15." 5.1773, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 385 Nr. 91; inzwischen ist das Original in kritischer Ausgabe zugänglich: Hahn, Kornwestheimer Tagebücher, hrsg. v. Brecht und Paulus, S. 143. Dort lautet die Notiz vom 21. 5.1773: „Nach Münchingen zur Visitationsmahlzeit. Herr Special Faber sagte, er könne Oetinger nicht verstehen. Ich sagte, er sey ein Prophet und kein Lehrer."
1
A b h a n d l u n g in A b s ä t z e : „Weil m a n m i r S c h u l d g i b t , daß ich die G a b e nicht habe, auch die gemeinste practische Wahrheiten deutlich vorzutragen, . . . so will ich es in d r e y A b s ä t z e t h e i l e n . . . " 2 d Diese „Undeutlichkeit" w a r - neben anderen, geistesgeschichtlichen
-
e i n e r d e r F a k t o r e n d a f ü r , d a ß er s o w e n i g v e r s t a n d e n w u r d e . E s b l i e b d a b e i , d a ß m a n i h n , w e n n m a n i h n n i c h t als „ G e n e r a l d e r S c h w ä r m e r " 2 ® a b t a t , w e g e n seiner G e l e h r s a m k e i t z w a r schätzte - aber sich darauf, e t w a s hilflos, b e s c h r ä n k t e ; eine wirkliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g f a n d k a u m statt.2f· H o c h a c h t u n g u n d z u g l e i c h U n v e r s t ä n d n i s k o m m t z u m B e i s p i e l in d i e s e m N a c h r u f eines F r e u n d e s a u f O e t i n g e r z u m A u s d r u c k : „In des Vatterlandes K l ö s t e r n B u h l t er mit den kleinen Schwestern D i e der Weisheit M ä g d e sind. M a a s , Gewichte, Circel, Zahlen S a h E r , und w i e m a n in allen Spuhren v o n d e m S c h ö p f e r findt, A u c h das M a a s der sieben K l ä n g e , und der Farben bunt G e p r ä n g e . P r ü f t A r c h y t e n und Piatone, bis a u f Wolf u n d M e n d e l s o h n e , und b e m e r k t e feuerscharf Schlaken menschlicher Verkehrung S t u f f e n göttlicher B e l e h r u n g .
2d Oetinger, Güldene Zeit II (1761),'S. 23. - Vgl. a. ders., Wahrheit (1754), Vorrede, unpag. fol.)()(3 v . - Schon bei der Visitation 1741 in Hirsau heißt es über Oetinger: „ . . . der Vortrag nicht allezeit klar u. deutlich pro captu vulgi" (Oetinger-Katalog, A 32). Zu der unten (S. 268) zitierten Rezension der Göttingischen Anzeigen (1753, S. 1163-1166, über Oetingers INQUISITIO (1752)) veröffentlichte Oetinger seine ABGENÖTIGTE ANMERKUNGtN (1777), wo es (S. 141 f.) heißt: „Man sagt, daß meine Sprache und Gedenkensart in den mehresten sehr dunkel geschienen. . . . Meine Sprache ist kein Lied, und meine Gedenkensart richte ich nicht nach der Galanterie, sondern nach dem besten Model, nemlich nach der Heil Schrift ein. Ich entlehne kein einig Wort von irgend einem Systemate, sondern ich rede, wie mich die gesunde Logic und Zergliederung der Dinge reden heißt. Darum bin ich dunkel."
*
Oetinger, Wörterbuch (1776), S. 353 = ders., Leben und Briefe (1859), S. 379 Nr. 74. · „ . . . unter seinen Schülern haben ihn . . . nur Wenige recht begriffen." (J. C. F. Burk, Kalender, 1832) - „Freunde wie Feinde sind ihm gegenüber in gleicher Weise hilflos." (Heinze, Bengel und Oetinger, S. 99). Theologen des vorigen Jahrhunderts, die der deutschen idealistischen Philosophie nahestanden (Hamberger, Rothe, Auberlen), meinten, daß nun Oetingers Werk eben in spekulativer Theologie und Philosophie aufgenommen und erfüllt worden sei. Oetinger hätte sich wohl dagegen verwahrt! Der Untersuchung Piepmeiers (Aporien des Lebensbegriffs) ist zu entnehmen, daß Begriff und Anliegen von Oetingers „Leben" nach ihm nur noch als Ästhetik aufgenommen wurde. Diese Reduzierung auf Gefühl und Anschauung war keineswegs Oetingers Absicht. 2t
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Sein Fleiß ohne auszurasten, Machte Ihn zum Sammelkasten Aller tiefen Wissenschaft. Ob er alles recht getroffen, Können wir nicht mehr als hoffen: Unsre Augen sind zu blind. Er hat nicht verdammen wollen Diß ist, was wir auch nicht sollen. " 2g
Ziel dieser Arbeit ist es, sich in Oetinger „zu finden", um die Möglichkeit zu schaffen, das so gewonnene Verständnis Oetingers unserem heutigen Verständnis von Welt, Leben und Glauben gegenüberzustellen. Es ist also angestrebt, ihn in Motiven, Anliegen, Ausbildung, Durchgang und Ergebnissen seiner Theologie und Philosophie, wenngleich auch nur exemplarisch anhand wichtiger Einsichten, zu hören und zu „verstehen". Daraus ergibt sich die Aufgabe, „den verborgenen Grund", von dem er sprach, aufzuspüren und zu erhellen. Der Entstehung seiner Theologie wird nachzugehen sein ebenso wie seinen grundlegenden Ideen und der Weise, in der sich ihm die biblische Wahrheit erschloß und in der er theologisch arbeitete. Dabei hat sich gezeigt, daß seine Art, theologisch zu arbeiten, programmatisch wichtig geworden ist·, mindestens so wichtig wie die materialen Ergebnisse seiner Dogmatik. Weiter stellte sich heraus, daß Wesentliches seiner Theologie und Philosophie nicht angemessen zur Geltung kommt, wollte man sie lediglich in der Struktur einer protestantischen, spätorthodoxen Dogmatik darstellen.3 Oetingers Theologie und Philosophie haben mehr Aufforderungs- als Darstellungscharakter. Stets nimmt Oetinger den Leser mit hinein in die Bewegung seines Denkens über den Glauben und fordert ihn nicht nur zum Mitdenken, sondern auch zur Mitarbeit auf. Oetingers dynamische Theologie und Philosophie ist über weite Strecken Handlungsanweisung für Menschen in der „fermentierenden Zeit" des U m bruchs in der nahen Erwartung des kommenden Herrn. Sie ist Lebens- und Wissenschaftstheorie auf dem Hintergrund der kommenden „Güldenen Zeit". Oetinger ging es um den Grund und die Möglichkeit zuverlässigen, gewissen und zuversichtlichen Lebens, Denkens und Handelns in Alltag und Wissenschaft. So ergibt sich die Aufgabe, diese Möglichkeit, die Oetinger sieht, in den Blick zu bekommen. Sie begegnet als Methodenlehre und als eine Struktur, die seine ganze Dogmatik und Philosophie durchzieht. Aus diesen Beobachtungen folgt, daß die prozeßhaften Ideen Oetingers angemessen in der Untersuchung ihrer Strukturen, ihrer Systematik zur Sprache kommen. Damit ist auch eine Möglichkeit geschaffen, Oetingers Weise 2
« [J. C. Hiller], Auf das seelige Abscheiden . . . Oetingers, [1782], S. 6.7.9.12. Daß eine solche Aufgabe, der sich ζ. B. Auberlen und Zinn unterzogen haben, aus Gründen der Vergleichbarkeit unerläßlich ist, sei nicht bestritten. 3
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theologischer Erkenntnis und Problemlösung mit der unseren in Beziehung zu setzen. Es ist hier nicht eine Darstellung der Theologie Oetingers beabsichtigt, 4 wenngleich viele ihrer wesentlichen Ergebnisse angeführt werden. Vielmehr soll nach dem Versuch, die Entstehungsgeschichte seiner Theologie nachzuzeichnen, die ihm eigene Systematik herausgearbeitet werden. Dabei ergibt sich ein überraschendes Bild sehr konsequenter Systematik, die zugleich Schlüssel zum Verständnis Oetingers, seiner Theologie und Philosophie wie auch seines Leben zu sein scheint.
II. Zur Methode der Arbeit i. Die Systematik nach dem Leben
In der oben erwähnten Predigt machte Oetinger seinen Zuhörern deutlich, daß man ihn schwerlich verstehen könne, wenn man sein Leben nicht kenne, vor allem seine Jugend, in der wohl etwas von dem „verborgenen Grund" seines Denkens zu finden ist. Auch seine Theologie bezeichnete er als eine „aus dem Leben abgeleitete", wenngleich zunächst offenbleiben muß, was er denn mit dem Begriff des Lebens meinte. Zehn Jahre vor jener Predigt bereits wurde er gebeten, „einen Aufsatz zu machen", wie seine „Gedanken in der Theologie zum Bestand und nach ihrer Entstehungsgeschichte . . . gebildet worden sind". 5 Er gab diesem Aufsatz dann auch den Titel G E N E A LOGIE DER REELLEN GEDANKEN EINES GOTTESGELEHRTEN. Schon die Überschrift dieser Autobiographie läßt erkennen, daß Oetinger das Werden seiner Theologie aufs engste mit seinem Leben verknüpft sieht. Er stellt dort seine Entwicklung in einer Weise konsequent dar und sich selbst in einer anscheinend nie ermüdenden, methodisch durchdachten Suche nach Wahrheit, ja „fast krankhaftem Eifer" ihr „auf den Grund zu kommen" 6 , daß dies Anlaß sein dürfte zu fragen, ob denn Oetinger tatsächlich so einlinigzielstrebig von Jugend auf gedacht und gearbeit habe oder ob eben nur im Rückblick manches zielstrebig und einlinig erscheint. Wenn Oetingers Theologie und Philosophie in enger Verbindung mit 4 Zielsetzung und Umfang der Arbeit brachten es mit sich, daß auf eine eigene Darstellung der Wirkungsgeschichte verzichtet werden mußte; die kontroversen Positionen wurden weitgehend lediglich aus der Literatur zur Kenntnis genommen. Eine Wirkungsgeschichte Oetingers müßte nach der wirkungsvollen Arbeit R. Schneiders und den berechtigten Entgegnungen -auch unter methodischem Gesichtspunkt- neu geschrieben werden und wäre eine eigene komplizierte und subtile Forschungsaufgabe. - Die Rezensionen der Schriften Oetingers sind, wenn auch nicht vollständig, gesammelt und ausgewertet worden (s. Literaturverzeichnis). 5 Oetinger, Genealogie S. 17.- Zum Interesse an Autobiographie und Selbstbeobachtung im 18.Jahrhundert vgl. Mahrholz, Der deutsche Pietismus, Berlin 1921; K.Holl, Kulturbedeutung, S. 409f.; Wuthenow, Das erinnerte Ich, 1974; Benrath, Art. Autobiographie, 1979. 6 Pressel, Dichtung, S. 750. - Die „große Konsequenz" in seinem Leben wird auch in Wuthenows schöner Skizze der GENEALOGIE hervorgehoben (Das erinnerte Ich, S. 51-53).
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seinem Leben in den Blick kommen soll, sind wir allerdings nicht auf die GENEALOGIE allein angewiesen. Seit seinem 21. Lebensjahr liegen Schriften Oetingers im Druck vor, und es existiert eine große Sammlung seines Briefwechsels ab dem Jahre 1727. Zusammen mit zeitgenössischen Äußerungen über Oetinger läßt sich auch ohne wesentliche Berücksichtigung der Autobiographie ein ziemlich genaues Bild von seinem Leben und der Entstehung seiner Gedanken zeichnen. Dieses bestätigt allerdings seine eigene Darstellung in der Selbstbiographie fast vollständig! 2. Aufbau und Gliederung
In einem ersten Teil soll die Entstehung der Theologie Oetingers in enger Verbindung mit seinem Leben dargestellt werden, was dennoch nicht als umfassende, historische Lebensbeschreibung anzusehen ist; dazu bedarf es noch zahlreicher Untersuchungen zur Chronologie, auch müßten in breiterem Umfang zeitgenössische Quellen Dritter herangezogen werden. Eine Zusammenstellung sämtlicher Daten aus seinen Schriften und Briefen sowie den in dieser Arbeit berücksichtigten anderen historischen Quellen gibt wohl ein recht geschlossenes Bild, läßt aber zugleich noch viele Lücken erkennen, vor allem in der Chronologie seiner Reisen.7 Diese Darstellung der Entstehung seiner Theologie bricht mit dem Jahr 1738 ab. In diesem Jahr hat er schließlich eine Pfarrstelle angenommen und geheiratet. Es ist eine These der vorliegenden Arbeit, daß diese Ereignisse Ausdruck einer bestimmten Entwicklung seiner Theologie waren und daß bis zu dieser Zeit alle wesentlichen Ideen und Inhalte seiner Theologie vorlagen. - Natürlich sind auch in der späteren Zeit Entwicklungen bei Oetinger festzustellen, so scheint sich der Stellenwert von „Sprache" in den 50er Jahren gewandelt oder die Beurteilung Jacob Böhmes Anfang der 60er Jahre geändert zu haben, auch entdeckte er schließlich, daß Aristoteles doch nicht so schlechte Ideen hatte, was eine ungünstigere Bewertung Piatos durch Oetinger nach sich zog. Aber zum Aufweis der Systematik Oetingers sind diese späteren Entwicklungen relativ belanglos, auch bewirken sie in der Substanz seiner Theologie und Philosophie kaum wesentliche Änderungen. Im zweiten Teil ist der Versuch unternommen, wesentliche Erkenntnisse der Theologie und Philosophie Oetingers in einer ihm abgeschauten Systematik darzubieten, wobei die Systematik selbst immer wieder Thema wird. Die Gliederung dieses Teils setzt notwendig das Ergebnis der Arbeit voraus und nimmt es vorweg. In einer sehr konsequenten Weise erweist sich die Struktur der Theologie wie Philosophie Oetingers als trinitarisch, bis hin in die Erkenntnislehre und seine Wissenschaftstheorie. Dies ist eine weitere These, die hier belegt werden soll. Aufbau und Aufgabenstellung dieser 7
Die Ergebnisse aus der Oetinger-Sammlung Heyken bieten gute Vorarbeiten und sind in dieser Arbeit berücksichtigt.
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Arbeit bringen es mit sich, daß die Biographie Oetingers nach dem Jahr 1738 nur gelegentlich thematisiert werden kann. Einen zum Verständnis unerläßlichen Überblick über sein Leben bietet das Kapitel V dieser Einleitung. Im dritten Teil sollen die Strukturen und die Systematik der Theologie Oetingers als Schlüssel zu ihrem Verständnis zusammengestellt und bedacht werden, was zugleich als zusammenfassende Formulierung des Arbeitsergebnisses gedacht ist. Die Methode, Oetinger zu verstehen, ist, ihm zuzuhören. Deswegen sollen hier in erster Linie Oetingers Schriften zur Sprache kommen in Verbindung mit Hilfsmitteln zur Geschichte, insbesondere Theologie-, Philosophie- und auch Wissenschaftsgeschichte. Die im Literaturverzeichnis angegebene und hier verarbeitete Literatur zu Oetinger ist sicher nicht vollständig; jedenfalls sind aber alle wichtigen und großen Werke und alle mir bekannten Schriften, die ausschließlich Oetinger behandeln, berücksichtigt. Sie werden mit Verfassernamen und abgekürztem Titel zitiert, was eine schnelle und eindeutige Identifizierung der gemeinten Ausgabe im Literaturverzeichnis ermöglicht. Schriften Oetingers werden im laufenden Text - meist ohne Verfasserangabe - IN KAPITÄLCHEN gesetzt.
III.
Zur
Quellenlage
Dieser Arbeit liegen Oetingers sämtliche gedruckte Werke, Abhandlungen, Briefe, Predigten, Lieder, Gebete, Kommentare usw. unter stichprobenartiger Berücksichtigung aller bisher erschienenen Ausgaben zugrunde, soweit sie zu beschaffen waren. Handschriften, die sich großenteils in der Tübinger Universitäts- und der Stuttgarter Landesbibliothek sowie im Archiv der Brüdergemeine in Herrnhut befinden, wurden nur in Einzelfallen zu Rate gezogen. Grundsätzlich erfolgen Angaben oder Zitate nach der Erstausgabe einer Schrift, bei weiteren Ausgaben, die zur Zeit Oetingers erschienen, wurden diese besonders berücksichtigt. Einen Sonderfall bildet die GENEALOGIE, wobei hier nur auf einige grundlegende Probleme hingewiesen sei. 1. Die
GENEALOGIE
Mit ihr verhält es sich wie mit der Bibel. Wir besitzen heute zwar kein Original,78 aber einige in Textgruppen einzuteilende Exemplare (Drucke) und wenigstens zwei alte Handschriften, so daß sich durch textkritische Verfahren ein ziemlich sicherer Text herstellen läßt. Dabei ist zu vermuten, daß Oetinger selbst die GENEALOGIE nicht nur nach 1 7 6 2 fortgeschrieben, sondern auch mindestens einmal überarbeitet hat. Vollständig erschien sie zum ersten Mal 1845 im Druck, in der ursprünglichen, in Paragraphen 7a
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Zur neu entdeckten Handschrift s. Vorwort!
geordneten Form sogar erst 1849. Oetinger hat die GENEALOGIE, der ersten Erwähnung im VORRAT (1762)8 nach zu schließen, bis Mitte9 176210 auf Verlangen von Freunden11 hin verfaßt. Die Irrfahrt der Überlieferung des Textes begann mit der - offensichtlich damals schon - leidigen Geschichte, daß ausgeliehene Bücher nicht zurückgegeben werden.12 Der weitere Weg der handschriftlichen GENEALOGIE ist nach den vorliegenden Quellen nur in 8 Vorrede, unpag, fol.):(2v: „Die Weisheit auf der Gasse, die Schickungen Gottes, und der Geist, der durch das Wort gereicht wird, müssen zusammen ein einig Werck des Geistes in der Seele des Lehrenden ausmachen. Auf diese Art hat mich GOtt mit seinen Augen geleitet. Ich habe es in einer besonderen Schrift von der Genealogie meiner Ideen durch diese drey concurrirende Hülfs-Mittel dargethan. Die, welche aus dem Geist lehren wollen, können manches daraus abnehmen, allein, ich überlasse es GOtt, ob es dem Druck solle übergeben werden." (Hervorhebung W-M). 9 Oetinger an K. F. Harttmann, 17.6.1762, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S.647. 10 Ehmann nimmt als Entstehungsdatum 1764 an (Ehmann, Oetinger-Bibliographie Nr. 45, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 842), Roessle eine Zeit zwischen 1762 und 1764 (Oetinger, Genealogie (1961), S. 5). Benrath, Autobiographie, S. 782, Z. 11, gibt irrtümlich das Jahr 1772 an. Vielleicht meint er aber auch lediglich das Datum einer Endredaktion Oetingers. Genauer ist dagegen die Angabe von Niggel (Autobiographie, S. 11), der den Zeitraum 1762/1772 nennt. Für das Jahr 1762 als Entstehungsjahr der GENEALOGIE sprechen außerdem: - folgende Notiz in der GENEALOGIE :„... da ich vom 60ten Jahre zurücksehe" (Oetinger, Genealogie (1824), S. 447; ebd. (1845/51), S. 4 = Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 10); - weiter eine Nachricht ebd. über den Aufenthalt in Herrenberg ab 1759: „Da bin ich nun drei Jahre..." (ζ. B. Oetinger, Genealogie (1731), S. XXXVI = ders., Leben und Briefe (1859), S. 278 = Oetinger, Genealogie (1978), S. 93). Dieser Passus fehlt in Hambergers Ausgabe (1845/ 51). Dagegen scheint der Hinweis auf den „noch jetzt lebenden 91jährigen Probst in Denkendorf' zu sprechen, gemeint ist Philipp Heinrich Weißensee, der am 6.2.1673 geboren ist (Pfeilsticker, Dienerbuch I I , § 3347). Diese auf das Jahr 1764 deutende Stelle findet sich nur in der G E N E A L O GIE-Ausgabe von 1849 (S. 18). Da aber die Hinweise auf das Jahr 1762 unzweifelhaft sind, vor allem die Erwähnung der GENEALOGIE im V O R R A T (1762), andererseits die GENEALOGIE-Ausgabe von 1849 einen sonst zuverlässigen Text bietet, bleibt die Möglichkeit, diese Stelle als spätere Eintragung aus dem Jahre 1764, wahrscheinlich dann von Oetinger selbst, anzusehen. Oetinger hat ohnehin seine Autobiographie noch einmal überarbeitet und mit Zusätzen versehen, vgl. Oetinger, Genealogie (1849), S. 56, wo er sein 71. Lebensjahr erwähnt (1773/74). Weitere Erwähnungen seiner GENEALOGIE durch ihn selbst finden sich nur noch in einem Brief an K . F . Harttmann 1763 (?), in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 661, und in seiner Schrift Zwo FÄHIGKEITEN (1775), S. 28, Oetingers bereits 1773 verfaßten Lösung der für 1775 erneut ausgeschriebenen Preisfrage der philosophisch-spekulativen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. - Vielleicht ist die GENEALOGIE auch in seinen M U R R H A R D T E R P R E D I G TEN (1780), Bd. IS. 399: Predigt an Jubilate = Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 378 Nr. 70 gemeint, wenn er hier nicht auf die WIEDERGEBURT (1735) oder auf seinen Aufsatz Die wahre Weisheit (in ders., Herunterlassung (1735), S. A 112ff.) hinweist. 11
Oetinger, Genealogie, S. 17. „ . . . so wollte ich bitten, nur mein Manuscript ohne die Mühe des Abschreibens, sobald Sie es thunlich machen können, zu remittiren. Absonderlich bitte ich von H. Walther gewisse Nachricht einzuziehen, wo meine Genealogie zu finden. Überhaupt habe ich nicht gern, daß ein entlehntes Werk länger als einen Monat ausbleibe. Mein kleines Büchlein, Idea Bohme's, dürfte auch nicht länger ausbleiben." (Oetinger an K. F. Harttmann, 1763(?), in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 661). 12
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etwa zu rekonstruieren. Jedenfalls hat Oetinger sein Exemplar zurückbekommen und auch öfter wieder ausgeliehen, wobei einige Abschriften entstanden. In späteren Jahren kamen durch Oetinger noch zwei weitere Schriftkomplexe in Umlauf, die nach eigenen Worten mit seiner Biographie in engem Zusammenhang stehen, so daß man auch hieraus auf die Überlieferungsweise der GENEALOGIE schließen kann: Die bis vor kurzem verschollen geglaubte Schrift EXPLICATIO von 173513 und eine Sammlung des Briefwechsels Oetingers mit Lutz Graf von Castell 14 . Sicher ist es auch dieser halböffentlichen Zirkulation von Schriften über Oetingers Leben, dem Mangel an gewisser Information, zuzuschreiben, daß von diesem Mann, der seinen Kreis von Verehrern hatte, schon zu Lebzeiten eine Reihe von Sagen 15 erzählt wurden. In dieser Situation erschien, ein Jahr vor Oetingers Tod, zum ersten Mal im Druck ein erzählender und kommentierter Auszug aus Oetingers GENEALOGIE in J. K. Pfenningers „Sammlungen zu einem christlichen Magazin" 1781, um den lang gehegten Wunsch zu befriedigen, „den sonderbaren Mann kennen zu lernen, von dem so viel seltsames, zum Theil widersprechendes erzählt wird" 1 6 . Handgeschriebene Exemplare liefen weiterhin um. A m 31. Oktober 1809 antwortete G. C . Pregizer auf eine entsprechende Anfrage Schellings, daß er über den Verbleib der GENEALOGIE nichts wisse. 1 7 In der posthumen Ausgabe der HERRENBERGER PREDIGTEN 1818 wird vermerkt, daß der Lebenslauf Oetingers schon großen Segen verbreitet habe, 18 13 „Meinen Auffsatz miratus sum me tantopere Lutheranum esse factum, habe ich jemand gelehnt, und weiß nicht wem? Ich glaub, H. Walther. Will ihn suchen, ob ich ihn nicht zweimal habe. Schreiben Sie ihn ab, und senden ihn innerhalb drei Wochen zurück; gehört zu meinem Leben." (Oetinger an K . F. Harttmann, 24.12.1771, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 770). 14 Oetinger an K. F. Harttmann, Februar 1769, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 723; dass. 14.12.1771, ebd. S.769; dass. 7.1.1771, ebd. S.771; dass. 30.5.1772, ebd. S. 800. Die Briefe Oetingers an Castell sind bei Oetinger, Leben und Briefe (1859) abgedruckt. 15 Einige finden sich gesammelt bei Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 413-428. Für die meisten dieser Sagen, insbesondere seiner Geisterpredigten, gibt es in seinen Schriften keinen Hinweis. - Aus wissenschaftlichen Erwägungen zur Frage der Entstehung solcher Sagen sowie zur Volkskunde soll nicht verschwiegen werden, daß mir die Sage Nr. 197 (ebd., S. 415f.) zuerst aus zwei unabhängigen Quellen in anderer, moderner Form über einen noch lebenden, berühmten Theologen bekannt geworden ist; der Anstand verbietet freilich weitere Erörterungen, wenngleich die Tatsache einer solchen Sage zugleich Hinweis auf Hochschätzung und Verehrung ist.— 16 Oetinger, Genealogie (1781), S. 213. Das M S wird auch im Schwäbischen Magazin 1777, S. 591 f. erwähnt: „Es liegt im Manuscript . . . II. Ein anderes Buch: Genealogie, der reelle Gedanke des Auctoris: 1. durch die Stimme der Weisheit auf der Gasse; 2. durch die Schrift; 3. durch die Schickungen GOttes." - S.a. Ph.M. Hahn, Tagebuchnotiz v o m 5.11.1775: „Nachts Oetingers Lebenslauf geleßen." 17 Fullenwider, Oetinger, S. 94. 18 Oetinger, Herrenberger Predigten (1818), S. IV; ders., Genealogie (1978), S. 5. E m s t Müller bezeichnete sie als „eines der wertvollsten geistesgeschichtlichen Zeugnisse des 18. Jahrhunderts" (Stiftsköpfe, S. 169).
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und auch diese Predigtsammlung vor ihrer Veröffentlichung „etliche Mal abgeschrieben, und daher von vielen gelesen" worden sei19. Nach dem Jahr 1 8 1 5 kamen immer wieder voneinander abhängige Auszüge der GENEALOGIE heraus, vor allem in Predigtausgaben Oetingers, 20 bis schließlich Julius Hamberger 1845 eine erste vollständige Edition veranstaltete. Sie erschien 1851 in einer zweiten Ausgabe, nachdem J . G. Kolb 1849 ebenfalls die GENEALOGIE publiziert hatte. In dieser Zeit häuften sich die Veröffentlichungen über Oetinger, Karl Christian Eberhard Ehmann beginnt mit der Herausgabe der W E R K E („Sämmtliche Schriften"). 1 8 5 9 erschien das bis heute noch grundlegende, seltene Quellenwerk FRIEDRICH CHRISTOPH OETINGERS LEBEN UND BRIEFE, ALS URKUNDLICHER C O M M E N T A R ZU DESSEN SCHRIFTEN, i n
dem Ehmann im ersten Teil den fortlaufenden Text der GENEALOGIE mit vielen weiteren Quellen und Anmerkungen versieht. Nach längerer Pause sind - von Auszügen abgesehen - nur noch zwei Ausgaben der GENEALOGIE zu erwähnen: S. Schaibles von 1927 und die 1961 v o n j . Roessle21 besorgte. Von den vollständigen Editionen wird in der Regel nach der zuletztgenannten zitiert werden, wofür folgende zwei Gründe den Ausschlag gaben: Zum einen bringt sie den Text in der originalen, in die drei Paragraphen gegliederten Form und entscheidet in Fragen des Textzusammenhanges oft überzeugend (ζ. B. gegenüber der Ausgabe von Hamberger); zum anderen ist sie leicht zugänglich. Die Tatsache, daß Roessle den Text oft glättet, spielt hier eine geringere Rolle, da ohnehin bei allen Zitaten die anderen Ausgaben zu Rate gezogen wurden, auch da, wo es nicht explizit vermerkt ist. 2. Die übrigen Schriften
Oetingers
Von der Fülle der Werke, die Oetinger verfaßt hat, waren bis zum Jahre 1 9 7 7 , abgesehen von der GENEALOGIE und den LIEDERN, hauptsächlich nur noch seine Predigten in kontinuierlichen Neuauflagen zu haben. Zur pietistischen Erbauungsliteratur gehörig 22 ist ihr breitgestreuter Bestand in diversen Auflagen gesichert. Anders sieht es bei den übrigen theologischen und philosophischen Schriften aus. Sie existieren oft nur in wenigen Bibliotheksexemplaren, manchmal sind Ausgaben überhaupt nicht mehr oder nur Oetinger, Herrenberger Predigten (1818), S. III. Es sei besonders auf den in der Forschung unter dem Gesichtspunkt der GENEALOGIE bisher kaum beachteten Auszug von Μ. I. Hoch aus dem Jahr 1823 hingewiesen. Er bietet eine wertvolle Textversion des „späteren Zusatzes" (s. Oetinger, Genealogie (1978), S. 97ff.). Hoch zitiert „aus einer handschriftlichen litterär. Selbstschilderung Oetingers" (Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten). 19
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2., unveränderte Auflage 1978. „Da stehn in Pergament und Leder Vornan die frommen Schwabenväter: Andreä, Bengel, Rieger zween, Samt Oetinger sind da zu sehn. „ (Eduard Mörike: Der alte Turmhahn, o.J., S. 16).
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mit größter Mühe nachzuweisen. Schon zu Lebzeiten Oetingers wurden dessen Schriften durch seelsorgerliche Maßnahmen des Stuttgarter Konsistoriums rar gemacht. 23 Man könnte ganze Seiten mit Klagen aus der Oetinger-Literatur füllen, denen dieser Umstand, die Seltenheit seiner Schriften, zu schaffen macht. 24 Die alphabetisch geordnete Bibliographie von Gottfried Mälzer aus dem Jahre 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus I) hat mit ihrer Verifizierung der meisten Schriften Oetingers in vielen Ausgaben die Grundlage zur umfassenden Beschäftigung mit diesem vielseitigen Gelehrten gelegt. Hatte man nun alle diese Werke Oetingers in der Hand, stellte sich sogleich ein weiteres Problem: Die Unübersichtlichkeit der vielen Veröffentlichungen. Immer wieder wurden Teile von Schriften bei anderen vor-, an- oder eingebunden, Zusammenhängendes erschien bisweilen unter verschiedenen Titeln. Ein systematischer oder historischer Überblick des bibliographischen Befundes war außerordentlich erschwert. Aus dem Wunsch nach bibliographischer Transparenz entstand im Zuge des Studiums der Schriften Oetingers eine chronologisch-systematische Bibliographie seiner Werke als Nebenprodukt dieser Arbeit. 243 Dort sind sie in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens (oder der Entstehung) und ihrer Z u sammengehörigkeit in Ausgaben oder Teilsammlungen übersichtlich zusammengestellt; Sammelwerke sind aufgeschlüsselt und die notwendigen Querverweise angebracht. Diese für eine gesonderte Edition vorgesehene Zusammenstellung ist so auch ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Oetingers und der einzelner Schriften. Aus den Jahren 1853 bis 1869 existiert eine (keineswegs vollständige) Ausgabe seiner Schriften, die WERKE, die von Karl Christian Eberhard Ehmann herausgegeben wurde; auch sie ist selten geworden. Aus der Abtheilung I (Predigten) existieren die ersten vier Bände in Neuauflagen; von der Abtheilung II (1858ff.; Theosophische Schriften) hat Erich Beyreuther 1977 die Neuauflage bisher zweier Bände besorgt, Band 2: SWEDENBORGS P H I L O SOPHIE; Band 3: D I E PSALMEN DAVIDS. Als nächster Band - ein Desiderat seit 23 „Die zehen Bogen über Swedenborg (= Oetinger, Beurteilungen (1771)) werden überaus rar werden. Sie kommen außer Lands." (Oetinger an K. F. Harttmann, 19.9.1771, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 768f.) 24 Ζ. B. Auberlen, Theosophie, S. 39: Oetingers Schriften „zu sammeln, würde auch wohl jetzt mit den größten Schwierigkeiten verbunden, ja wenn nicht eine Unmöglichkeit, jedenfalls wohl die Aufgabe eines ganzen Lebens sein weit das Meiste mußte der Verfasser unter dem württembergischen Landvolke nach und nach sammeln." Auberlen ist es etwa nicht gelungen, eine Ausgabe der INQUISITIO (1752) aufzutreiben. - Vgl. auch Hamberger, in Oetinger, Genealogie (1845/51), S. XVII; Zinn, Theologie, S. 5; W. A. Schulze, Oetingers Beitrag, S. 225 - usw. Ma Martin Weyer-Menkhoff, Chronologisch-systematische Bibliographie der Werke Friedrich Christoph Oetingers 1707-1983, Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers, Syst.-theol. Diss. Marburg 1984 (MS), Bd. III, S. 431-613.
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langem! - ist die Edition des zum Oetinger-Studium unerläßliche Quellenwerks Ehmanns Oetingers Leben und Briefe im Nachdruck geplant; Register und Quellenangaben liegen bereits seit längerem vor. - 1977 erschien in der Reihe Texte zur Geschichte des Pietismus Oetingers LEHRTAFEL in einer historisch-kritischen Edition von Reinhard Breymayer und Friedrich Häussermann. Sie bietet den Text original und versieht ihn mit einer extensiven Fülle vor allem bibliographischer Anmerkungen, die diese Ausgabe zu einem Nachschlagewerk der Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts werden lassen. In dieser Reihe liegt seit 1979 auch die von Konrad Ohly herausgegebene THEOLOGIA vor. Das WÖRTERBUCH (Hrsg. Ursula Hardmeier) und die INQUISITIO sind in Vorbereitung. Erfreulicherweise sind auch drei Faksimile-Ausgaben erschienen: 1964 die INQUISITIO, 1 9 6 9 das WÖRTERBUCH u n d 1 9 7 4 - o h n e d a ß d e r V e r l a g v o n d e r H e r a u s g e b e r s c h a f t O e t i n g e r s w u ß t e - die CATENA AUREAE HOMERI ( 1 7 7 0 ) 2 5 .
Die unermüdliche Forschungsarbeit Reinhard Breymayers (Reutlingen) hat bereits eine Reihe bisher unbekannter oder verschollener Schriften Oetingers zutage gefördert. Sie sind ebenfalls in dieser Arbeit berücksichtigt. Oetingers Briefwechsel ist zu einem Teil in der bereits erwähnten Quellensammlung Ehmanns von 1859 abgedruckt und hier auf dieser Grundlage ausgewertet. 26
IV. Zur Ein
Forschungslage. Überblick
Einen erschöpfenden Forschungsbericht vermißt man bis heute, wenn auch inzwischen treffende Zusammenstellungen wichtiger Oetinger-Rezipienten von Großmann 27 und Piepmeier28 erstellt worden sind. Für die späten Zeitgenossen und Nachgeborenen Oetingers liegt eine Untersuchung von H. F. Fullenwider vor. 29 Diese Lücke kann hier nicht geschlossen werden. Es sei Auf diese in Stockholm nachgedruckte Ausgabe ist R. Breymayer gestoßen. Weitere, neue Veröffentlichungen von Briefauszügen sind bei Herpel (Die Heilige Philosophie, 1923), Geiges (Oetinger und Zinzendorf, 1935/36), Hönes (Zur Geschichte Oetingers, 1893), Kirschmer (Briefe 1932) und im OETINGER-KATALOG (1982) zu finden. Die Bearbeitung noch unpublizierter Briefe sowie eine kritische Durchsicht der Edition Ehmanns mit den Originalien wäre sehr ergiebig. - Die Oetinger-Sammlung Heyken der Landesbibliothek Stuttgart enthält unter Nr. 18/19 ein Verzeichnis der Brief-MSS. Auf den Briefwechsel mit P.Divis (Staatsarchiv Olmütz), J . F . Metz (Stadtarchiv Göppingen), Swedenborg (Universitätsbibliothek Heidelberg) und J. C. Lavater (Zentralbibliothek Zürich) sei noch hingewiesen. 27 Gottesvorstellung, 1979, S. 14ff. 28 Aporien, 1978, S. 9ff. 29 F. C. Oetinger. Wirkungen auf Literatur und Philosophie seiner Zeit [Lavater, Goethe, Herder, Schubart, Hamann, Schiller, Jacobi, Novalis, Hölderlin, Hegel, Schelling, Baader, Kerner, Mörike und Hesse], 1975; vgl. a.: Oetinger's Einfluß auf das schwäbische Volk, Allgemeine ev.-luth. Kirchenzeitung, 1902. 25
26
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nur ein kurzer Überblick über größere Bearbeitungen und Bewertungen gegeben; die Auseinandersetzung mit der Forschung findet jeweils problembezogen im Verlauf dieser Arbeit statt. Im engeren Sinn hatte Oetinger keine Schüler. Sein Lebenswerk geriet dadurch, abseits der „großen" Theologie und Philosophie, zwar beinahe in Vergessenheit, andererseits aber war es auch nicht an eine bestimmte theologische Richtung gebunden. Zunächst beschränkte sich die wesentliche Beschäftigung mit Oetinger auf Gemeinde- und Gemeinschaftskreise, die die Schriften, vor allem die Predigten, eifrig studierten. Die Auflagenzahlen belegen das Interesse. Diesen bis heute bestehenden Kreisen wird es zu verdanken sein, daß nicht mehr Schriften Oetingers verschollen sind. C. G. Barth stellt 1828 fest, daß Oetinger bis auf diese Stunde der gelehrten Welt ein Ärgernis sei.30 Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann eine erste große Ära der Beschäftigung mit dem sonst unbekannten Theologen. Sie wurde sicher durch die Philosophie der Romantik und des Idealismus ausgelöst, die eine Undefinierte Nähe zum „prophetischen", seiner Zeit vorausgewesenen O e tinger ahnte: Der Theologe Julius Hamberger war Schüler Franz von Baaders, der enge Verbindungen zu Schelling unterhielt; beide schätzten Oetinger. Hamberger veranstaltete Ausgaben wichtiger Werke Oetingers, der GENEALOGIE, des WÖRTERBUCHS und der THEOLOGIA, die er übersetzte. Seine ausführlichen Einleitungen zeigen, wie Hamberger Oetingers und Böhmes Philosophie für seine spekulative Theologie fruchtbar zu machen versucht. Dabei ist deutlich, daß Oetinger hier mehr die Funktion der Bestätigung einer theologischen Richtung z u k o m m t . Sehr viel grundsätzlicher ist die bislang umfassendste, hervorragende Monographie Karl August Auberlens: Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger's nach ihren Grundzügen, die mit einem Vorwort Richard Rothes 1847 und in zweiter Auflage 1859 erschien. Sie läßt Oetinger ausführlich zu Wort k o m m e n , die Zitate machen über die Hälfte des U m f a n g s aus. Auberlen will Oetinger positiv darstellen, nicht kritisch. 31 Er tut dies in „vier sich von selbst ergebenden Gesichtspunkten: Gott, Welt, [ - ] Christus, Weltvollendung". 3 2 Schließlich ist hier der Pfarrer Karl Christian Eberhard E h m a n n zu nennen, der durch die Edition der WERKE Oetingers (1853-1869) erst die Grundlage für eine weitere Verbreitung und Wirkung des Murrhardter Prälaten sorgte. Besondere Bedeutung k o m m t bis heute dem Sammelband LEBEN 1 UND BRIEFE (1859) zu, ebenso den LIEDERN (1869 ), die viel Biographisches sichtbar werden lassen. 30
Süddeutsche Originalien I, 1828, S. 4. Theosophie, S. 44. 32 Ebd. S. 159; für den Abschnitt „Welt" verwendet Auberlen lediglich 30 Seiten gegenüber dem Zehnfachen fur „Christus". Das ist im Blick auf Oetinger sicher unausgeglichen. 31
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Auf den Bibeltheologen J. T. Beck und seine Oetinger-Rezeption hat bereits Auberlen 33 hingewiesen. - Theologiegeschichtlich würdigen J.A. Dorner 3 4 und A. Ritsehl 35 Oetinger. Ritsehl äußert sich zwar sehr kritisch, stellt aber genauso deutlich Oetingers Einzigartigkeit heraus: „Dennoch hat Württemberg keinen genialeren Theologen aufzuweisen". 3 6 Die Bedeutung Oetingers für Vorläufer und Vertreter v o m Materialismus des 19. Jahrhunderts und des Marxismus ist stets nur am Rande von E. Benz und W. A. Schulze, ausführlicher von Habermas und Piepmeier erörtert worden. Letzterer wies auf den Rekurs Feuerbachs 37 auf Oetinger hin. Aus marxistischer Sicht hat Siegfried Wollgast 38 über Oetinger geschrieben. In den letzten dreißig Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen sonst nur vereinzelt Arbeiten zu Oetinger. Genannt seien G. J. Metzgers Theologie Die christliche Wahrheit ... nach Ötingers realistischer Auffassung entwickelt (1892) und Arnold Pilets eigentümliche Untersuchung zur THEOLOGIA O e tingers (1899), die trotz großer Kritik, weil Oetinger sich von der Kirchenlehre entfernt habe, diesem mit „Sympathie" und dem Wunsch entgegentritt, daß die Theologen von seiner Weite des Geistes lernen sollten. 39 Danach wurden wieder in kürzeren Abständen Untersuchungen zu O e tinger veröffentlicht; ihre Zahl nahm beständig zu. An erster Stelle sind die Arbeiten des Dekans Johannes Herzog zu nennen. Dennoch blieb Oetinger ein „Stiefkind" in der Theologie. - Im folgenden seien nur noch einige besondere Arbeiten herausgegriffen. - 1923 erschien O t t o Herpels Auswahlband Heilige Philosophie unter Berücksichtigung neuer Quellen. Thema Herpels ist die Wiederentdeckung des individuellen 40 Glaubens und der „Offenbarung" bei Oetinger. - Als zweite theologische Gesamtdarstellung Oetingers nach Auberlen erscheint 1932 Elisabeth Zinns Dissertation bei W. Lütgert, die die Oetingerschen Gedanken von einem Kristallisationspunkt ausgehend systematisch entwickelt 41 . Gegenüber Auberlen ist hier mehr Wert auf Kritik gelegt, die von Luther her 42 geübt wird.
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Ebd. S. 30; vgl. Η. M . Wolf, Becks Christliche Reden, S. 157 u. ö. Entwicklungsgeschichte, 1853· S. 1022ff. 35 Rechtfertigung, 18822, S. 6 0 8 f f ; Pietismus III, 1886, S. 120 ff. 274 ff. 36 Pietismus, S. 126. 37 Ludwig Feuerbach, Geschichte der Neueren Philosophie, 1959, S. 242. 38 Böhme, Oetinger und Schelling, 1976. 39 Pilet, Oetinger, S. 64.67. Es fällt auf, daß sich in der Literatur bislang - soweit ich sehe noch niemand mit diesem Werk auseinandergesetzt hat. Es erscheint allerdings in treuer Stetigkeit in Literaturverzeichnissen. 40 Herpel, Philosophie, S. 324. 41 Es sei hier kurz angemerkt, daß sowohl bei Auberlen wie auch bei Zinn Oetingers Theologie - mit gewissen Gründen- stets als Ganze, als relativ fertiges System gesehen wird. Ist von sich entwickelnden (Oetinger: „generativen") Gedanken oder Darstellungen die Rede (Auberlen, Theosophie, S. 39.82.(159) u. ö.; Zinns „Ausgangspunkt", die idea vitae: 11.104.108), so ist dies stets systematisch gemeint, nicht oder kaum auch historisch. 42 Zinn, Theologie, 65 ff. 182 ff. 34
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So umstritten die Abhandlung Robert Schneiders Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen (1938) in Motiv und Ergebnis 43 auch - zu Recht! - ist, so hat sie doch eine außerordentlich starke, positive Beschäftigung mit Oetinger bei Philosophen und Theologen ausgelöst. Bis heute dauert die Diskussion darüber an, wie weit und a u f w e i c h e Weise Hegel (und Goethe) aus der verborgenen Quelle „Oetinger" schöpften, die zunächst einmal Kulminationspunkt von Traditionen „der Alten" ist, der Physik, der griechischen Philosophie, der Hermetik und der Kabbala. - W. A. Hauck läßt Oetingers Philosophie in seiner Untersuchung von 1943 zu einem „Lebensprinzip" werden, das schließlich über Idealismus und Materialismus endgültig siegen werde. Er vergißt allerdings die theologischen Implikationen Oetingers. 4 4 Gleichwohl ist seine Arbeit bedeutsam, weil er die inzwischen vernachlässigten „naturphilosophischen" Passagen Oetingers untersucht und damit wieder ein Stück der Schöpfungslehre Oetingers sichtbar werden läßt. Auf den ganz eigenen Essay Hans Jürgen Badens jenseits aller literarischen Abhängigkeiten 4 5 von der Forschung sei besonders hingewiesen. - W. A. Schulzes Aufsätze beleuchten vor allem den philosophischen und besonders jüdisch-kabbalistischen Hintergrund sowie die Wirkungen Oetingers. Ernst Benz sorgte mit seinen zahlreichen Arbeiten gewiß für eine breitere Aufmerksamkeit auf einen Oetinger, der nun ganz und gar nicht in den theologischen Geschmack der 50er und 60er Jahre paßte. Auch Karl Barth warnte angesichts der „an sich so sympathischen Kraftsprache" Oetingers in seiner Kirchlichen Dogmatik mehrfach zur „Vorsicht" gegenüber allzuviel „Leiblichkeit" dieser „Krafttheologie". 4 6 - D e m Urteil Wolfgang Philipps (EKL II S. 1781 ff.) über Oetingers „Monismus" als „unüberwundenes Barock" und über das „absolute Fehlen der biblischen Transzendenz" bei ihm kann nicht zugestimmt werden. Philipp hat offensichtlich die Bedeutung des Heiligen Geistes für die Theologie Oetingers übersehen. Daß er Oetinger darüberhinaus im ersten Satz des verbreiteten Kirchenlexikons als „Erneue-
43 S. bes. Zimmermann, Weltbild, I 40; bereits 1927 wies K. Leese in seiner philosophischen Dissertation (Von Böhme zu Schelling) auf Oetinger als das Bindeglied zwischen Böhme und Schelling hin. Leeses Interesse an Oetinger geht deutlich von Böhme aus. Vgl. a. Habermas, Bemerkung von der „heimlichen Tradition" Oetinger mit Bezug auf R. Schneider: Habermas, Das Absolute, S. 122.138; ders., Marxistischer Schelling, S. 342. 44 S. bes. im Kapitel „Tod", S. 187ff. 45 Eine Korrektur: A m Anfang (35) schreibt er v o m „Goldstaub der Wahrheit", der „in den Schuttmassen [der vielen von Oetinger aufgenommenen Traditionen] aufleuchtet". - Bereits 1782, im Todesjahr Oetingers, begegnet dieses Motiv in den Acta historico-ecclesiastica (59.Theil, S. 299): In Oetingers THEOLOGIA könne „man unter dem mystischen Staub noch manche Goldkörner" finden. Dieses Motiv, daß Oetingers Schriften „Goldkörner" enthalten (aber ansonsten Schutt sind) begegnet in der Literatur regelmäßig - wie denn auch viele andere bewertende Motive und Formulierungen einander abgeschrieben erscheinen. - Baden verwendet das Gold-Motiv übrigens sehr positiv! 46 K D III 3, S. 155; 11, S. 138; II 1, S. 300.
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rer hellenistischer Religiosität" charakterisiert, ist - v o m Fehlurteil abgesehen - wirkungsgeschichtlich sehr bedauerlich, als Leser und besonders christliche Theologen dadurch kaum ermuntert wurden, sich mit Oetinger zu beschäftigen. In den 60er Jahren wird durch Forschungsprojekte die Grundlage der jetzigen Oetinger-Renaissance gelegt. Zunächst sei auf die sonst nicht weiter in Erscheinung getretenen bibliographischen, werkgeschichtlichen und historischen Forschungen des Pfarrers Rudolf Heyken hingewiesen. 47 - Es erschienen, von den schon erwähnten stetigen Neuauflagen der Predigten und Lieder abgesehen, Nachdrucke und Auswahlbände von Werken Oetingers. 48 - Germanisten und Philosophen nahmen sich Oetingers an. Eine Bilanz dieser Bemühungen wurde 1975 von H. F. Fullen wider gezogen. 49 1965 Schloß Η. E. Yeide seine umfangreiche Dissertation über Oetingers Sozialethik ab, worauf Breymayer hinwies. Diese breit angelegte gründliche Untersuchung entstand im Umkreis Tillichs und blieb unpubliziert. - Die neuen und geplanten Editionen sind oben schon erwähnt worden, 5 0 ebenso Reinhard Breymayers kenntnisreiche Forschungen auf historischem und bibliographischem Gebiet wie auch Konrad Ohlys wichtige Funde. Sehr wertvoll sind die Arbeiten Friedrich Häussermanns zur von Oetinger aufgen o m m e n e n Emblematik und jüdischen Mystik. Mehr systematisch orientiert sind die Publikationen Gerhard Wehrs. Als guter Kenner der zeitgenössischen Philosophie Oetingers weist sich Guntram Spindler aus. Dieser Überblick kann nicht abgeschlossen werden, ohne die m . E . seit Auberlen (und Zinn) gründlichsten großen Monographien über Oetinger zu nennen: Sigrid Großmann: Oetingers Gottesvorstellung (1979)51 und Rainer Piepmeier: Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger (1977/78), übrigens beides philosophische Arbeiten. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie Oetinger in eigenständiger und angemessener Weise in seinem breiten Anliegen zur Sprache bringen 52 und sich nicht darauf verlassen, Ergebnisse oder Meinun'47 Das Oetinger-Archiv von Heyken, das sich in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart befindet, ist von mir ausgewertet worden. Von Heyken übernommene Ergebnisse sind im Einzelfall angemerkt. 48 Oetinger, Inquisitio (1964), hrsg. v. H. G. Gadamer; ders., Wörterbuch (1969), hrsg. v. E. Benz, D. Tschizewskij; [Aurea Catena Homeri (1974), Hinweis von R. Breymayer]; Zeugnisse der Schwabenväter I-IV (1961 ff.). 49 F. C. Oetinger, 1975. 50 S.o. S. lOf. Nicht wenige Forscher sprechen in Bezug auf die Anmerkungen der historisch-kritischen Ausgabe von einem (Wort-fur-Wort) „Kommentar"; dies trifft aber bis auf Ausnahmen, vor allem der Beiträge von O. Betz oder F. Häussermann, nicht zu. Vielmehr steht eine umfassende (systematische), fortlaufende Kommentierung noch aus. Die kritische Ausgabe ist zunächst historische Analyse und schafft damit sehr gute Voraussetzungen zu einem Kommentar. 51 Zur Würdigung und Kritik verweise ich auf meine Rezension in ThBeitr 14, 1983, S. 46 f. Großmann ist übrigens der kurze Aufsatz W. Ludwigs „Der Gottesbegriff Oetingers", 1929, entgangen. 52 Es ist kritisiert worden, daß Piepmeier kaum Originalausgaben Oetingers, sondern die
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gen aus der Oetinger-Literatur zu übernehmen. Die vorliegende Arbeit wird von Fall zu Fall vor allem auf Piepmeiers Untersuchung zu sprechen kommen. 53 Was bleibt für die Oetinger-Forschung zu wünschen? Ein gründlicher, systematischer Forschungsbericht; das baldige Erscheinen der Neuauflage von Ehmanns Brief-Edition sowie der weiteren geplanten Editionen; eine textkritische Ausgabe der Selbstbiographie auf der Grundlage der gedruckten und bekannten handschriftlichen Überlieferungstypen und schließlich Veröffentlichungen wichtiger, aber schwer entzifferbarer Handschriften Oetingers. - Carl Heinz Ratschow regte Überlegungen zur Bildung einer Oetinger-Gesellschaft an.
V. Zur Biographie Oetingers. Eine Übersicht Friedrich Christoph Oetinger wurde geboren am 2. 54 Mai 1702 in Göppingen als drittes von elf Kindern des dortigen Stadt- und Amtsschreibers Johann Christoph Oetinger (1668—1733) und seiner Frau Rosina Dorothea geb. Wölfing (1676-1727). Der Vater war in zweiter Ehe seit dem 12. Mai 1696 verheiratet. Seine erste Ehe vom 16. Oktober 1694 wurde durch den Tod seiner Frau Maria Justina geb. Harprecht am 25.8.1695 beendet. 1709 ist das Jahr des mystischen Kindheitserlebnisses Oetingers, 1716 plagt er sich mit hermeneutischen Fragen zu Jesaja. Am 20. oder 21. Oktober 1717 tritt er in die Klosterschule Blaubeuren ein, um den 25. Oktober 1720 rückt er in die höhere Klosterschule Bebenhausen vor. 1721 faßt er den Entschluß „Deo servire libertas". Dies nennt er seine Bekehrung und fallt mit seiner Berufswahl, Theologe zu werden, zusammen. In dieser Zeit lösen sich auch seine Fragen zur Hermeneutik Jesajas. 1722 wird er als „Stiftler" in Tübingen immatrikuliert, zunächst an der philosophischen Fakultät; diese erste Phase des Studiums endet am 2. Mai 55 1725 mit der Magisterpromotion. Daran schließt sich bis 1727 das Studium an der theologischen Fakultät an. Oetinger kommt in Kontakt mit J . A. Bengel und vorher mit Schriften Jacob Böhmes. Nach dem Tod der Mutter WERKE-Ausgabe (hrsg. von Ehmann) seiner Arbeit zugrunde gelegt hat. Zeigt aber nicht Piepmeier vielmehr, wie gründlich-systematisch man auch mit dieser Ausgabe arbeiten kann?! 53 Abschließend in der A n m . 10 auf S. 270 dieser Arbeit. 5 4 Das in der Literatur meist angegebene Geburtsdatum 6 . M a i ist der Tauftag, s. OetingerKatalog A 32; richtig ζ. B . : Hauß, Wort Gottes, S. 44. 55 Die Matrikeln der Universität Tübingen, 3, N r . 31 S. 890; die Prüfung fand nach einem handschriftlichen Eintrag auf dem Titel der gedruckten Magisterarbeit (DE PRINCIPIO) am 19.3.1725 statt.
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(19.7.1727) hält er sich mit Unterbrechungen zu Hause in Göppingen auf, er unterrichtet seine Brüder Wilhelm-Ludwig (*7.1.1709, später OberamtsArzt in Göppingen und Tuttlingen), Johann Christoph (*8.10.1711, später Stadtschreiber und Proviantdirektor) und Ferdinand Christoph (*18.2.1719, später Professor der Medizin in Tübingen). Die erste Reise vom September 1729 bis Dezember 1730 führt ihn über Frankfurt, Berleburg, Schwarzenau, Jena, Halle nach Herrnhut (5. April bis September 1730) und weiter über Halle, Jena, Altenburg, Jena, Leipzig, Ebersdorf, Erfurt, Berleburg, Halsdorf und Ludwigsburg wieder nach Göppingen. Seit Anfang April kommt er seiner Verpflichtung als Repetent am Tübinger Stift nach. Eine zweite Reise unternimmt er nach dem Tod seines Vaters (27.1.1733) vom April 1733 bis Juni 1735. Die Reisestationen waren: Denkendorf und Tübingen, zusammen mit Zinzendorf: Erfurt, Herrnhut, zwischendurch und wiederholte Reisen nach Leipzig. In der Zeit vor 1736 war er auch in Holland. Am 19.6.1735 meldet er sich bei seiner Kirche zurück. Schon im September 1735 begibt er sich auf seine dritte Reise, die bis Mitte 1737 dauert: Eigentlich wollte er nach Herrnhut, bleibt aber auf dem Weg über Schwäbisch Hall und Ebersdorf in Halle, wo er als Dozent Vorlesungen hält. Über Weihnachten 1735 ist er in Magdeburg, öfter sonst auch in Leipzig. Mit Zinzendorf reist er -eigentlich gegen seinen Willen- im August 1736 wiederum nach Magdeburg und von dort aus nach Berlin, um schließlich doch noch nach Herrnhut zu kommen. Anfang 1737 hält er sich längere Zeit auf der Ronneburg auf, die Zinzendorf seit kurzem für seine Arbeit zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Oetinger ist auch längere Zeit in Frankfurt und studiert in Homburg vor der Höhe in der Medizinschule bei Dr. J.Ph. Kämpf. Im Juni 1737 kehrt er nach Württemberg zurück und wird als Pfarrer für Hirsau vorgesehen. Am Sonntag vor Ostern 1738 bezieht er seine erste Pfarrstelle in Hirsau und heiratet am 22. April 1738 Christiane Dorothea geb. Linsenmann (* Urach 19.8.1717, f Sindelfingen 26.12.1796), die zunächst mit seinem Bruder Ferdinand Christoph verlobt war. Ihre Eltern waren der Stadtschreiber Josef Friedrich Linsenmann und Maria Dorothea geb. Scholl. Von 1743 bis 1746 ist Oetinger Pfarrer in Schnaitheim und von 1746 bis 1752 in Walddorf.
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Ende des Jahres 1752 wird er zum Stadtpfarrer und Spezial-Superintendenten in Weinsberg und im April 1759 in Herrenberg berufen. Für das Konsistorium etwas überraschend wird Oetinger v o m Herzog zum Prälaten von Murrhardt und damit zum Mitglied der „Landschaft" und zum „Rath" bestimmt. Herzog Karl Eugen hoffte, den chemisch bewanderten Oetinger zur Förderung seiner dortigen Salinen- und Bergwerksvorhaben einsetzen zu können, die diesem Landstrich wirtschaftlich aufhelfen sollten. Oetinger zieht am 2. Februar 1766 nach Murrhardt. Als kurz darauf sein Werk SWEDENBORGS PHILOSOPHIE beschlagnahmt wird, erwägt er, den Titel eines Dr. theol. zu erwerben, u m seine Verteidigung „ex cathedra" besser vornehmen zu können. Spätestens seit dieser Zeit befindet er sich in ständiger Auseinandersetzung mit dem Konsistorium, das ihm verbietet, etwas drucken zu lassen; die eingezogenen Bücher werden mit dem Rescript v o m 27. Juni 1767 endgültig konfisziert. Oetinger entwickelt auch hier eine rege Korrespondenz, schreibt viele Abhandlungen und läßt sie außer Landes, anonym oder pseudonym d r u k ken. Auch laboriert er wieder viel und produziert Medikamente, z.B. Tropfen gegen Melancholie. 1722 wird das Silberbergwerk Wüstenroth in der Nähe von Murrhardt eingerichtet. Oetinger ist Lehensträger. Es erweist sich allerdings als unrentabel und m u ß schließlich nach betrügerischen A k tionen des mit der fachlichen Leitung beauftragten Bergrats Riedel geschlossen werden. Mitte 1776 unternimmt Oetinger noch einmal eine Reise und begibt sich nach Nürnberg zu „ehrbaren, andächtigen Christen", offensichtlich wegen Verbindungen zu rosenkreuzerischen Vereinigungen oder jedenfalls in „chemischen" Angelegenheiten. - Schon im März 1778 hieß es, Oetinger würde nicht mehr viel reden. Ostern, am 19. April 1778, hält er seine letzte Predigt Von der Freude über den Auferstehungstag. Ein Jahr später wird berichtet, daß er „noch immer sehr wenig rede" 56 . Der letzte bei E h m a n n edierte Brief trägt das D a t u m 20. April 1779. Im 80. Lebensjahr soll er gesagt haben: „Alles, was ich von dem lebendigen Gott weiß, ist in Luthers Kleinem Katechismus enthalten. " 57 Oetingers zehn Kinder waren: 1.' Christiana Benigna, 30.4.1740 bis 5. oder 15.3.1764, Hochzeit am 27.8.1761 in Herrenberg mit Johann Christoph Klemm, Helfer in Tuttlingen. 2. Magdalena, *23.8.1741, f als Kind. 3. Johanna Dorothea, 3.2.1744 bis 17.5.1751. 56 57
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Flattich in einer Notiz vom 10.4.1779, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 388f. Ältester mir bekannter Beleg: A. Knapp, Hofacker, 18552 , S. 328.
4. Victor Immanuel, 26.3.1745 bis 16.11.1745. 5. Eberhardina Sophia, 3.9.1748 bis 14.10.1802, Hochzeit am 4.10.1768 in Murrhardt mit Johann Ferdinand Seiz, Helfer in Besigheim. 6. Theophilus Friedrich („Halophilus"), 15.10.1750 bis 13.4.1806, Hochzeit am 8. oder 10. Juni 1773 in Murrhardt mit Eva Rosina Widmann, 2. Ehe mit Katharina Junker, Arzt in Göppingen. 7. Karl Martin, 11.11.1752-29.12.1755. 8. Johann Friedrich, 7.10.1754-31.5.1784. 9. und 10. Zwillingstöchter, am Tag der Geburt gestorben: 26.4.1757. Die letzten Lebensjahre sei Oetinger in Sprachlosigkeit verfallen; ein Zeitgenosse berichtet aber noch im Jahre 1781 von ihm, der „nun am Rande des Grabes" stehe: „Seine zunehmenden Jahre haben zwar seine Kräfte nach vielen Theilen geschwächt, aber noch ist sein Geist heiter, und nie ist er ohne Beschäftigung." 58 Im engen Zusammenhang mit den Sagen über Oetingers Sprachlosigkeit stehen die Legenden von Oetinger als „Geisterprediger". Daß Oetinger den Geistern gepredigt habe, ist nach den vorliegenden Quellen historisch nicht erweisbar und nach seinen eigenen Aussagen eher unwahrscheinlich.58" - Am Sonntag Estomihi, dem 10. Februar 1782 gegen 5 Uhr, erliegt Oetinger einer kurzen fiebrigen Erkrankung und wird am 14. darauf in der Stadtkirche Murrhardt beigesetzt. Die Exhumierung bei der unlängst erfolgten Restauration der Kirche förderte Oetingers letzte typische Aktion zutage. Auch im Tode konnte er es nicht lassen, seiner Kirche einen unparteiischen Denkzettel und ein Zeugnis dessen, worauf es ihm ankam, zu hinterlassen: Der Prälat ließ sich mit einer Kappe59, wie sie bei den pietistischen „Stundenleuten" üblich war, bestatten. Als ein Bruder derer, mit denen er bis zuletzt60 soviel Schwierigkeiten hatte, wollte er seinem Herrn entgegentreten.
58 58a 59 60
Pfenninger, in Oetinger, Genealogie (1781), S. 212.85. S. u. den Exkurs Oetinger, der Geisterprediger? S. 186ff. Vgl. Oetinger-Katalog A 53. Vgl. ζ. B. Oetinger, Erbauungs-Stunde (1775).
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Α. Die Entstehung der Theologie Oetingers (bis 1738) I. Drei bedeutsame Ereignisse Mitten im Schreiben hält Oetinger bisweilen in seiner Arbeit inne, um den Leser an einem Rückblick auf jene Linien teilhaben zu lassen, in deren Schnittpunkt sich seine jeweilige, gegenwärtige theologische und philosophische Position befindet. Im Verlauf dieser Linien gelangt er immer wieder zu hauptsächlich drei, noch in seiner Jugendzeit liegenden Ereignissen. Dabei ist gleichgültig, ob dies in einem Werk von 1735, 1762 oder 1776 geschieht, stets erscheint dieselbe Konstruktion des Rückgriffs, wenn auch die Chronologie nicht immer übereinstimmt. Oetinger lebt in der Gewißheit, daß Gott ihn von Jugend an gelehrt habe. 1 Die Bedeutung dieser Wahrnehmung gebietet es, auf alle jene Textstellen näher einzugehen und sie einer ersten Analyse zu unterziehen. Sie sind nach den drei Ereignissen des „Aufschwungs", der Bekehrung und der hermeneutischen Schwierigkeiten mit dem Buch des Propheten Jesaja einzuordnen. 1. Aufschwung
Im Jahr 1748 hängte Oetinger seinem Hiob-Kommentar 2 ein den Dialogen dieses biblischen Buchs analog aufgebautes, fingiertes Gespräch über seine Erfahrungen mit dem Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine, Graf von Zinzendorf, an. Dort findet sich, erstmalig, ein Hinweis auf tiefe „Eindrükke" aus der Kindheit, die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hätten: „Ich habe von Kindheit an gewisse Eindrücke von der Wahrheit bekommen, die mich von der Passion der Furcht befreyet, und einen unverletzlichen Respect gegen der heiligen Schrifft und der Sprache des Himmels und der Natur in mir unterhalten. Daher habe ich Bequemlichkeit, Gut und Ehre nichts dagegen geachtet. " 3 In einem Brief aus demselben Jahr an den fränkischen 1 „GOtt hat mich von Jugend auf gelehret" (Oetinger, Wörterbuch (1759), in ders., Weinsberger Predigten II (1759). S. 1040 = ders., Wörterbuch (1776), S. 673 = Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 391 Nr. 115; vgl. a. ders., Güldene Zeit II (1761), S. 158). - Piepmeier wendet sich gegen ein „individualpsychologisches Deutungsschema" (in ders., Rez.: Großmann, Gottesvorstellung, S. 218f.). Unter Vermeidung von Psychologisierungen sollen hier gleichwohl Oetingers Deutungen sprechen. Es wird sich zeigen, wie Oetinger über das Individuelle hinausgeht (s. u. S. 103ff.: Die Entdeckung des sensus communis)! 2 Oetinger, Das rechte Gericht (1748). 3 Ebd. S. 283; dieses Gespräch findet sich auch in ders., Entrevue (1761), S. 31 [Bogen E] bis 75.
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Grafen zu Castell-Rehweiler4 gab er als genaueren Termin das siebente Lebensjahr an; wieder ist von einem göttlichen „Eindruck" die Rede: „Die größte Wahrheit ist, daß nur eine Wahrheit ist. An dieser zu halten hat mich mein Erlöser in meinem siebenten Jahr durch einen unwiderstreblichen göttlichen Eindruck auf lebenslang verwahrt, und die Pforten der Hölle haben mich ohngeachtet mancher Stöße und Verwundungen nicht überwältigt."5 Erst die GENEALOGIE ( 1 7 6 2 ) berichtet zu Beginn des erzählenden Teils ausführlicher von jener Begebenheit:6 Der siebenjährige Oetinger sollte eines Abends wie üblich „einen ganzen Rosenkranz von Liedern vor dem Einschlafen herbeten." Als er an das ihm unverständliche Lied Paul Gerhardts „Schwing dich auf zu deinem Gott" kam, wurde er „etwas ungedultig . . . : wenn ich doch auch wüßte, was ich betete"7: „Schwing dich auf zu deinem Gott, Du betrübte seele! Warumb ligst du Gott zum spott In der schwermutshöle? Merckstu nit des Satans list? Er wil durch sein kämpfen Deinen trost, den Jesus Christ Dir erworben, dämpfen. " 8
Plötzlich empfand er auf einzigartige Weise den Sinn der Worte in einer inneren Erleuchtung. „Nichts von Betrübniß wissend wurde ich heftig angetrieben zu wissen, was es sey, sich zu Gott aufschwingen? Ich bemühete mich inwendig darum vor Gott; und siehe, da empfand ich mich aufgeschwungen in Gott. Ich betete mein Lied ganz aus, da war kein Wort, das nicht ein distinktes Licht in meiner Seele zurückließ. In meinem Leben habe ich nichts fröhlichers empfunden... "9 Dieses mystische Erlebnis in seiner intuitiven Klarheit und „unbeschreiblichen Realität"10 sollte Einfluß auf sein ganzes Leben haben, als richtungsweisender Maßstab für alle Erkenntnis überhaupt. Als Grundsatz nahm er sich vor: „Alles, was ich lernte, mußte ich also [geradeso] verstehen."11 Die später für Oetinger so wichtige Frage nach Gewißheit der Erkenntnis ist gestellt; denn diese vom Kind Friedrich Christoph erlebte Gewißheit wurde 4
Ludwig Friedrich (Lutz) Graf und Herr zu Castell-Remlingen (1707-1772) war lange Zeit freundschaftlicher Korrespondent mit Oetinger. Diese Bekanntschaft kam wohl über die Brüdergemeine zustande (Oetinger, Leben und Briefe, S. 557f. Anm.) und blieb durch das gemeinsame Interesse an der Hermetik erhalten. Briefauszüge ab 1748 sind bei Oetinger, Leben und Briefe (1859) zugänglich. Vgl. H. W. Erbe, Zinzendorf und der f r o m m e hohe Adel, 1928/ 1975; August Sperl, Bilder aus der Vergangenheit eines deutschen Dynastengeschlechts, Stuttgart 1908, S. 484-509; R. Breymayer in Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. II S. 47; H. Weigelt, Beziehungen zwischen Castell und Zinzendorf, 1984. 5
Oetinger an Castell, 1748, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 560 N r . 159. Oetinger, Genealogie, S. 18f.27; s.a. Wangemann, Kirchenlied, S. 266f. 7 Oetinger, Genealogie (1824), S. 447. 8 (EKG 296) aus Johann Crügers Gesangbuch „Praxis pietatis" von 1653, zitiert bei Breymayer in Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. II S. 417. 9 Oetinger, Genealogie (1781), S. 214. 10 Ebd. S. 215. 11 Ebd. S. 214. 6
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bald fragwürdig. Als er mit 18 Jahren in die Lektüre des englischen Erbauungspredigers Thomas Goodwin (1600-1679) vertieft „den Grund der theologischen Wahrheiten so klar wissen" wollte, wie er „das Lied ehemals: Schwing dich auf zu deinem Gott verstanden", vermochten weder „Gebet noch Forschen" ihn dazu zu bringen.12 Das „ängstliche Suchen" machte ihn schließlich krank.13 Oetingers Leben wurde bis zum großen Zusammenbruch 1736 vom Streben nach unmittelbarer, intuitiver Erkenntnis als des sichersten Mittels zur Gewißheit bestimmt. Darüberhinaus ließ ihn die Erfahrung von Gewißheit, wie er es mit dem Kirchenlied erlebte, nicht mehr los, so daß er sich mit keinem fremden oder eigenen Gedanken oder System zufriedengeben wird, wenn sie ihm nicht bis auf den „Grund" zureichend erschienen. „Was ich hörte, tat mir nicht genug . . . nichts tat mir genug."14 Die Wirkung war ein schier unerschöpflicher Antrieb, Dingen auf den Grund zu kommen; darin sind die Wurzeln seiner immensen Forschungsarbeit zu suchen. Die Frage nach der Gewißheit wird wichtigstes Thema Oetingers. Mit diesem .fröhlichsten Erlebnis seines Lebens' korrespondiert, wenn auch untergeordnet, der schrecklichste Eindruck jener Zeit: Träume vom Zustand der Verdammten nach dem Tod und Angstzustände.15 Oetinger betont ausdrücklich, daß diese beiden Erfahrungen auf sein Denken und Leben große Einwirkung hatten.16 Dies bestätigt sich bei näherem Studium. So wird auch verständlich, daß Oetinger immer wieder auf diese Ereignisse in der Kindheit verweist.17 Das Kindheitserlebnis vom „Aufschwung" wur-
12 Oetinger, Genealogie (1824), S. 456. Die GENEALOGIE (1978, S. 27) läßt dieses Geschehen kurz nach seiner Bekehrung (1721, s. u. S. 23 f.) stattfinden; in einer Predigt spricht er vom Jahr 1720: „Ich habe mich anno 1720. mit Godwins Lehre von der Rechtfertigung wollen in meiner Angst aufrichten..." (Oetinger, Grundbegriffe (1776) II, S. 498f., Predigt am Feyertag Jacobi maj.; ebenso: ders., Murrhardter Predigten (1780) II, S.210, Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis = ders., Leben und Briefe (1859), S. 356 Nr. 4; ders., Herrenberger Predigten (1815) I, S. 391, Predigt an Ostern = ders., Leben und Briefe (1859), S. 357f. Nr. 7). 13 Oetinger, Genealogie, S. 27. - Während dieser körperlichen Krankheit denkt Oetinger über die Leiblichkeit im Reich Gottes nach; eine Idee, die er später aufnimmt, s. u. S. 46f. 14 Oetinger, Genealogie, S. 18.27. 15 Oetinger, Genealogie, S. 18f.; „Das war, wie jenes das angenehmste, so dieses das schröcklichste meiner Impressionen, welches alles auf meine folgenden Vorstellungen viel Einwürkung hatte." (Oetinger, Genealogie (1781), S. 215; dass., (1824), S. 448). 16 „ . . . hatte einen Einfluß auf mein ganzes Leben" (Oetinger, Genealogie, S. 18). 17 „So dringende Motive aus göttlicher Schickung übernahmen meinen vom sechsten Jahr an unerschrockenen Geist, indem ich schon damals gedachte: Wenn die Welt zusammenstürzte, sollten doch die Trümmer mich nicht schrecken (Hor.Od.3,3.)." (Oetinger an Karl Eugen, Herzog von Württemberg, März 1766, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 684). Auch das Lied „Schwing dich auf zu deinem Gott" begegnet öfter und scheint verborgen an das zurückliegende Kindheitserlebnis zu erinnern: 1755 ruft sich Oetinger den Text beim Tode seines dreijährigen Sohnes Karl Martin zu (ders., Trost-Gedanken (1756), in ders., Lieder (1967), S. 134); 1763 in seiner LEHRTAFEL, S. 331. In der Predigt über die kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia heißt es: „Schwinge dich unter soviel Zufällen der bösen Welt über alles
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de zum Schlüsselerlebnis und hat Weichen für sein Denken gestellt: In einer fast schon exzessiven Weise will Oetinger seines Lebens und seiner Arbeit gewiß werden. Es soll hier gezeigt werden, daß er die Frage nach dem Wie bis etwa 1738 beantwortet hat. 2. Bekehrung Als zweites wesentliches Jugendereignis soll Oetingers „Bekehrung" 18 , die Bedeutung, die er selbst diesem Ereignis gab, genannt werden. Auf der höheren Klosterschule in Bebenhausen, der letzten Station vor der Universität, konnte noch eine endgültige Entscheidung über das zu studierende Fach fallen, wenn auch der Unterricht schon als Vorbereitung auf das Theologiestudium ausgelegt war. Oetinger war in dieser Entscheidung nicht frei. Die Mutter, ihre Verwandten und auch er selbst19 wollten, daß er Rechtswissenschaft studiere und in den Staatsdienst gehe; der Vater dagegen hatte ihn „von Mutterleibe an" der Theologie geweiht, ihm sogar mit „einer Art von Fluch" gedroht, falls er sich anders entscheiden würde. 20 Oetinger zögerte lange, seine Lehrer wurden ungeduldig. Aber Für und Wider hielten sich die Waage. Auch Ratschläge anderer halfen nicht weiter. Schließlich zog er im Jahre 172121 in einem plötzlichen, bewußten Akt die hinaus..." (Oetinger, Murrhardter Predigten (1780) II, S. 111: Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis = ders., Beurteilungen (1771), S. 98). Hiller dichtet auf Oetingers Tod: „Er empfand als junger Knabe Eine übersel'sche Gabe In der Urquell seiner Brust. Reine Lieder, süße Sprüche Gaben Köstliche Gerüche Und erzeigten in ihm Lust, Sich vom Niedern zu erheben und der Ewigkeit zu leben." (Auf das seelige Abscheiden [1782], S. 5) 18 Diesen Ausdruck verwendet Oetinger auf sich selbst bezogen: Kasual-Reden (1761), S. 69.144; Genealogie, S. 26; Hochzeit-Predigt (1769), in Werke I 5, S. 425; Herrenberger Predigten (1818) I, S. 210: Predigt am 6. Sonntag nach Epiphanias. - Im übergreifenden Sinn: Rechtsgelehrsamkeit (1761), S. 137. Sonst auch „Erweckung", ζ. B. Genealogie, S. 28. 19 Oetinger, Genealogie, S. 21; zumal er vor der Theologie und besonders dem Abendmahl einen numinosen Schrecken hat (Genealogie, S. 25). 20 Ebd. S. 24f. 21 Zur Datierung: Explizit vom Jahr 1721 sprechen: Oetinger, Kasual-Reden (1761), S. 69; ders., Bekenntnis (1772), in ders., Leben und Briefe (1859), S. 798f. Implizit: Meine Theologie „habe ich in 46 Jahren gemacht" (Oetinger an Castell, 1766, ebd. S. 680 = bei Roessle in Oetinger, Genealogie (1978), S. 106). Die Stelle in den Weinsberger Predigten, in denen er von sich sagt, von 21 Jahren an nichts vorsätzlich wider sein Gewissen getan zu haben (ebd. II (1759), S. 392: Predigt an Misericordias Domini), muß auf das Kalenderjahr 1721 gedeutet haben. Das 21.Lebensjahr, also 1723/24, wäre zu spät, da er sich nur bis Mitte 1722 in Bebenhausen aufhielt, die Bekehrung sich aber dort ereignete: Oetinger, Genealogie, S. 24-26; ders., Hochzeit-Predigt, in Werke I 5, S. 425. - Die Ereignisse, daß Oetinger in Blaubeuren
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Theologie der Rechtswissenschaft vor, und, wie er damit meinte, Gott der Welt. Die „Bekehrung" fällt also mit der Berufsentscheidung, Theologe zu werden, zusammen, geht aber nicht in ihr auf. „Deo servire libertas" war bei diesem Entschluß sein Leitwort. 2 2 Es begegnet in seiner Handschrift als Bildunterschrift eines mehreren Ausgaben seiner Schriften beigefügten Porträts. Oetinger wollte nicht Gott und dem M a m m o n dienen 23 und sah in seinen Verwandten, die ihm zum Rechtsstudium rieten und ihn durch günstige Heirat in bedeutende Stellungen befördern wollten, eine große Gefahr. 2 4 Sein Verständnis theologischer Existenz führte zur Abkehr von der Welt. 25 War er gleichwohl ein „Jüngling von guter Gestalt" 26 , legte er zum Beispiel nun -und zeitlebens!- keinen Wert mehr auf gute Kleidung. Dementsprechend waren später die Urteile anderer, die sich in einigen Sagen niederschlugen, in denen der Dekan oder Prälat mit einem Bettler verwechselt wird. 27 Es ist für Oetinger typisch, daß er sich mit Entscheidungen schwer tut, die Kehrseite seines Strebens nach besonderer Gewißheit. Er hat sie nun durchs „beim Tischdecken mit dem Zinngeschirr seine Bibel durchbohrt" (22.6.1719) und sich während des Gottesdienstes trotz wiederholter Ermahnung in der Orgel versteckt hat (15.3.1720), liegen demnach sicher vor seiner Bekehrung! (Strafbuch der Klosterschule Blaubeuren, zitiert in: Oetinger-Katalog A 23). 22 Oetinger, Genealogie, S. 26. - D e m Zusammenhang nach könnte das Wort „ D e o servire libertas" von Augustin stammen, wie auch Gotthold Müller vermutet (Wer Gott dient, ist frei, 1982). Trotz einiger Anklänge, z . B . Confessiones VIII 5, ist dies aber nicht der Fall, wie der jetzt in Betrieb genommene Rechner des Avgvstinvs-Lexicon (Gießen) auf der Suche dieser Wortkombination im gesamten Werk Augustins zuverlässig mitteilt. Diese Formel fur Oetingers Bekehrung begegnet 1759 in einer Predigt: „ O Ja, lasset uns . . . dem HErrn dienen, dessen Dienst wahre Freyheit . . . ist. . . . Wenn [Wann] willst du anfangen? Ich habe schon angefangen. Ich habe ihm schon 25 Jahr und drüber g e d i e n t . . . " (Oetinger, Weinsberger Predigten II (1759), S. 795: Kurze Betrachtungen am 15. Sonntag nach Trinitatis) - Hier sei noch der seelsorgerliche Kommentar zur Konklusion von Bekehrung und dem Entschluß Pfarrer zu werden, wiedergegeben; er stammt v o m ersten Hrsg. der Genealogie, Johann Konrad Pfenninger: „Wer um Gottes willen, vor Gott und mit Gott - thut, wozu er ordentlich oder ausserordentlich berufen ist, der dienet Gott, sey er Schafhirt oder Selenhirt, Christi Minister oder des H e r z o g s . . . " (in: Oetinger, Genealogie (1781), S. 227 Anm.). 23 Oetinger, Murrhardter Predigten (1780) II, S. 218: Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 27.9.1772; vgl. ders., Predigtentwürfe, S. 519 = ders., Leben und Briefe (1859), S. 3 5 7 N r . 6. 24 Oetinger, Genealogie, S. 24; ders., Murrhardter Predigten (1780) I, S. 198: Predigt am 6. Sonntag nach Epiphanias; interessant ist noch ein Abschnitt, in dem Oetinger sich selbst charakterisiert. Er schließt mit den Worten: „Die Grundneigungen zur Naturkunde und zur Theologie, hätten vielleicht können verstellt werden, wenn ich, wie Anfangs aus Ehrfurcht gegen meiner Mutter Wunsch vorhatte, die Jura studiert hätte. Allein Gott hat mich ganz anders bestimmt, und alles hat müssen mitwirken, meine Gedanken, so wie sie sind zu formieren. Ich erkenne es nun erst, da ich v o m 60sten Jahr zurücksehe." (ders., Genealogie (1824), S. 446 f.; dieser Abschnitt fehlt in der GENEALOGIE-Ausgabe von 1978 (S. 17; vgl. dort Anm. 34, S. 122). „Die Z ü g e Gottes in der Kindheit" (ebd. S. 20) spielen bei Oetinger eine große Rolle.) 25 Ebd., S. 26; vgl. ders., Murrhardter Predigten (1780) I, S. 198, Predigt am 6. Sonntag nach Epiphanias. 26 Ders., Genealogie, S. 24. 27 Ders., Leben und Briefe (1859), S. 415ff., Nrr. 197.198.201.
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Gebet, besser: durch die Absicht, sich von Gott in der Entscheidung feste Entschließung zu erbitten, erfahren. An diesem Beispiel wird ihm lebenslang deutlich, daß man durch verdeckte Interessen, „Lieblingsmeinungen"28 korrumpiert werde und zu einseitigen Schlüssen komme. Dies äußert Oetinger mehrfach. „Ich hatte aber gleich bei meiner Erweckung zum Grund gelegt, ich wolle meinen allererheblichsten Einwendungen niemalen trauen, wenn sie auch wahr seyen, sondern immer sorgen, ich werde von meiner Gunst gegen meine Gesinnungen betrogen, deßwegen wolle ich solche vorher Gott im Gebet vortragen, und hernach wieder prüfen. "29 3. Schwierigkeiten
mit Jesaja
Am Anfang des Jahres 1735, mitten in einer großen inneren Umbruchsituation Oetingers, findet sich in seiner Schrift D I E UNERFORSCHLICHEN W E G E DER HERUNTERLASSUNG GOTTES ein Rückblick auf religiöse Kindheitserfahrungen: Die Weisheit „hat mich zwar im 14. Jahr aus der Bosheit durch einen ihrer vorbeygehenden Blicke heraus geruffen; aber ich habe ihr nicht gefolget."30 1 7 4 8 geht Oetinger im Anfang seines Hiob-Kommentars D A S RECHTE GERICHT wiederum auf Ereignisse ein, die ebenfalls mit dem Jahre 1 7 3 5 zusammenhängen, Auseinandersetzungen mit Zinzendorf. Wieder kommt das 14. Lebensjahr zur Sprache: als einem Jungen von 14 Jahren habe sich ihm der Sinn des letzten Jesaja-Kapitels erschlossen.31 Erst die Selbstbiographie berichtet in diesem Zusammenhang ausführlich: Seine allzustrenge Erziehung durch den Vater, den Hauslehrer und vor allem den Präzeptor Kocher ließ ihn alle Freude, auch am christlichen Glauben, :tl
Ein Lieblingswort Oetingers, vgl. u. S. 31 A n m . 70; S. 238 A n m . 66. Oetinger, Genealogie (1824), S. 458. - Weitere Belege zur hermeneutischen Bedeutsamkeit seiner Bekehrung: „ . . . so k o m m t alles darauf an, wie ich im Anfang meiner Bekehrung [lectio vera nach S. 144] A n n o 21. allen Leuten in ihr Stammbuch geschrieben, daß ihr . . . alle Schlüsse, Gedanken, Sätze, Wahrheiten ohne diß [sc. Mißtrauen gegen sich selbst] vor verdächtig haltet, so gibt sich das andere von selbst." (Ders., Kasual-Reden (1761), S. 69 = ders., Leben und Briefe (1859), S. 357 N r . 5). „So habe ich es gemacht in den ersten Tagen meiner Bekehrung, und alle die es anhörten, wie mich G O t t [!] zu sich gekehrt, da ich vorher zur Welt gekehrt gewesen, haben erkannt, daß ich mein Wissen nicht duch Spekuliren, sondern durch T h u n erlernt habe." (Ders., Herrenberger Predigten (1818) I, S. 210f.: Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis = ders., Leben und Briefe (1859), S. 358 N r . 8). 30 Oetinger, Herunterlassung (1735), A S. 112. 31 „ . . . daß die aus Christen, Juden und Heyden bekehrte . . . in den letzten Zeiten das Höchste in der weit werden sollen, wie es der clare Buchstabe Jesajä mir als einem Jungen von 14. Jahren, in den Sinn gebracht und folglich einem mehr Verständigen ohne Kopff-Verbrechen [sie!] an die Hand geben wird." (Oetinger, Das rechte Gericht (1748), S. 278f.). - Vgl. dazu das Referat aus einem bisher nicht vollständig veröffentlichten Brief Oetingers an Zinzendorf v o m 7.4.1735 bei Geiges, Oetinger und Zinzendorf, S. 142. 29
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verlieren, so daß er schließlich fluchen lernte „wie ein hamburgischer Schiffer". Auf diese Weise habe er sein Leben so zugebracht „bis ins vierzehnte Jahr". 32 Nach erneuter Nennung des 14. Lebensjahres erzählt er die folgende Begebenheit.33 Oetingers Mutter - der Vater wird nicht genannt - schickte sich an zum Sonntagsspaziergang. Friedrich Christoph sollte zuhause und auch , fromm' bleiben und erhielt zu diesem Zweck den Befehl, „nicht vom Stul aufzustehen, bis er einige Capitel aus der Bibel gelesen hätte." 34 „Ich dachte: ja ihr könnt schon befehlen, ihr geht spazieren und ich soll nun lesen. Doch schlug ich in mich, sagend zu mir selbst: weil ich muß, so will ich. Ich fand den Propheten Jesaiam, blätterte hie und da, und weil ich wußte, daß ich böse geworden, und die Züge Gottes in der Kindheit hintangesetzt; so empfand ich all mein Böses sehr tief. Hatte aber einen verborgenen Hang zur Wiederumkehr zu Gott, absonderlich da ich mich hernach so grausam vor Donnerwettern fürchtete. Ich bekam zu Gesicht die Stelle: Jes. 54, V. 11-14. Ich las sie mit Begierde. Ich seufzete und sprach bei mir selbst: wie schön liest sich das! Wenn diese schönen Sachen mich angiengen, so wäre es der Mühe werth mich zu bekehren. "35 Oetinger plagte sich mit dem Problem, daß die Verheißung des Prophetenworts 36 für die letzte Zeit und an Israel gerichtet ist, nicht aber an ihn damals. Andererseits erlebte er die christliche Inanspruchnahme solcher Texte, etwa im Gottesdienst. Das konnte er nicht nachvollziehen, so sehr er es sich auch -wünschte.37 Lange fand er keine „logice und spiritualiter"38 zureichende Antwort, bis sie ihm später „durch göttliche Schickung"39 zuteil wurde. Jahre später40 fragte Oetinger in der Klosterschule Blaubeuren seinen Lehrer Philipp Heinrich Weißensee nach diesem Problem, „wie ich es wissen könnte, daß es auch mich anginge? Er sagte: was Allen gesagt sei, sei auch mir gesagt. Ich aber schwieg und dachte: das hab' ich wohl vorher gewußt. Auch habe ich darauf von Niemand eine zulängliche Antwort finden können, bis mir es Gott durch seine Schickungen selbst gezeigt. "41 32 Oetinger, Genealogie, S. 19; „der Zorn und Grimm machte mich endlich so böse, . . . und daraus folgte sodann ein von Gott abtrünniges Leben . . . Meinem Informator und Präceptor war ich so feind, daß ich ihnen hätte mit Gift vergeben können." (Ders., Genealogie (1781), S. 216). Kommentar des Hrsg. Pfenninger: „Ein Wink fur Eltern, und Euch, die ihr euch der Erziehung widmet!..." (ebd.). 33 Ders., Genealogie, 19f.23f.29f. 34 Ebd. (1781) S. 217. 35 Ebd. (1824) S. 449. Das „Aufschwungs'-Erlebnis nahm Oetinger fur lange Zeit die Angst vor Gewittern, vor denen sich sein Vater „hinter dem Bettumhang verbarg" (Ders., Genealogie, S. 18). 36 Jes 54,11-14. 37 „denn mein erstes Muster, wie klar die Gedanken sein müssen, wenn etwas gewiß sein soll, stand von Anbeginn immer vor mir." (Oetinger, Genealogie, S. 30). 38 Ders., Genealogie (1859), S. 17.29. 39 Ders., Genealogie, S. 24. 40 1719; Ders., Genealogie, S. 23f., s. u. Anm. 42. 41 Ebd. (1849), S. 20; als so ganz unzulänglich hat Oetinger diese Antwort seines Präzeptors
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Nach zwei weiteren Jahren (1721)42 setzte sich Oetinger in seiner Heimatstadt Göppingen mit der dort aktiven separatistischen Gruppe der „Inspirierten"43 um den Sattler und Pfarrerssohn Johann Friedrich Rock auseinander, nachdem er bereits vorher zu ihr Kontakt hatte44. Sie stand in der Tradition der französischen Camisarden und übte mit ihrer ekstatisch vorgetragenen Büß rede keinen geringen Einfluß aus. Ihre auch in Deutschland durch die offiziellen Stellen erfolgte Ächtung, bisweilen auch Verfolgung, konnten das Interesse an dieser Gruppe nur verstärken. Oetinger entdeckte bei ihnen wesentlich mehr biblische Züge als in der Kirche. Das urchristliche Moment lebendiger Prophetie mag den jungen Oetinger vor allem fasziniert haben; „ . . . ich dachte: diese Leute leiden Bande, Gefängniß und Streiche um ihres Bekenntnisses willen, unsere Pfarrer und Speciäle aber leiden niemalen nichts. Jene sehen den Aposteln viel ähnlicher als die Pfarrer. "45 Hat er es sich bei der Bekehrung zum Grundsatz gemacht, sich in seinem Urteil nie allein auf seine vernünftigen Überlegungen zu verlassen, seien sie positiv oder negativ,46 so mußte er jetzt bemerken, daß er jene enthusiastische Gruppe auch nicht ausschließlich anhand seines geistlichen Empfindens einschätzen konnte. Deutlich spürte er, daß bloßes geistliches Empfinden, Beten ohne Anwesenheit von „Welt", Anwendung der Bibel ohne Beachtung des Zusammenhanges Wahrheit nicht zu entdecken vermag, die Suche nach ihr vielmehr durch unkontrollierte psychische Neigungen gefährdet ist. U m also nicht von den Inspirierten eingenommen zu werden und ihrem Fanatismus zum Opfer zu fallen, griff er schließlich auf ein „Gegenmittel" (Antidoton)47 zurück, das er kurz zuvor bei seiner Bekehrung gemeint hatte später nicht mehr empfunden, er zitiert sie als eigenes Wort in seinen Anmerckungen über die Göttliche Mund- und Schreib-Art der Männer GOttes: „Eine solche ... Rede GOttes [Jes 40 ff. ] biete einem jeden ... die Allgemeinheit der Gnade ... aufs raisonableste an; Was die gantze Welt angeht/ geht auch mich/ dich und einen jeden an." (in Oetinger, Etwas Ganzes (1739), S. A 8 (Hervorhebung W-M)). 42 Ders., Genealogie, S. 24. - „Anno 21 hab' ich durch eine Prüfung mit den Inspirierten durchgemüßt, die hat dreiviertel Jahr gewährt." (Oetinger an Zinzendorf, Hirsau, 21.10. [Heyken: 12.] 1739, in ders., Briefe (hrsg. v. Herpel, 1923), S. 118). 43 (1678-1749). Über J. F. Rock und die „Inspirierten" s. Johann Lorenz von Mosheim, Kirchengeschichte [dt], 1788, VI S. 1047ff. (Oetinger zitiert Mosheim, der seinerseits öfter Oetinger erwähnt, z.B. in Oetinger, Inquisitio (1752), dt. Rez. (unpag.) fol. 3V); H. Steitz, Geschichte der EKHN II, S. 233ff., dort auch weitere Literatur; neuerdings: P. Krauß, J.F. Rock, 1983 (Hinweis von Herrn R. Breymayer). 44 Oetinger, Genealogie, S. 24.27-30. 45 Ebd. (1824) S. 457. - Pfenningers Kommentar: „Eigentlich ists freylich nicht wunderbar, daß Schwärmer der höchsten Standhaftigkeit fähig sind, ... besonders einen Jüngling von feuriger Einbildungskraft, der dabey ein gutes Herz hatte, konnte dieß leicht rühren . . . ; da er vermuthlich nicht wußte, daß das, was er an ihnen bewunderte, gemeiniglich die Art aller Schwärmer ist." (in: Oetinger, Genealogie (1781), S. 223). 44 Oetinger, Genealogie, S. 28. 47 „Antidoton": Ders., Leben und Briefe (1859) S. 28.
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aufgeben48 zu können: die Philosophie. Auf den Rat des später berühmten Georg Bernhard Bilfinger49, eines Sohnes seines vormaligen Lehrers in Blaubeuren, studierte er die Logik des Jean Pierre Crousaz.50 Oetinger verglich nun die Folgerichtigkeit der „inspirierten" Lehren mit denen der biblischen Propheten und kam zum Ergebnis, daß „die Schriftconnexion . . . viel logischer sey als der Inspirirten ihre"; gleichwohl sagte er sich: „das giebt dir noch kein Recht, diese Leute als falsche Knechte Gottes zu erklären. " 5I Ein dreiviertel Jahr beschäftigte sich Oetinger noch mit ihnen, bis er für sich selbst zu einer Entscheidung kam: Die Inspirierten können keinen Absolutheitsanspruch für ihre Lehren reklamieren; andererseits sieht er auch keinen Grund, sie als Irrlehrer zu „verdammen". Wieder trägt er dies Gott im Gebet vor. „Und auf diese Art bin ich auch, sowohl logice als auch sensu interno von ihnen losgesprochen worden. "52 In diesem Zusammenhang erfuhr Oetinger auch eine Antwort auf seine hermeneutische Frage des Jesajatextes, die ihn mit vierzehn Jahren beschäftigte.53 Von den Inspirierten in seiner christlichen Existenz in Frage gestellt erinnerte er sich an die damals gelesene Stelle: „O Jerusalem, alle deine Kinder sollen gelehrt seyn vor dem Herrn." 54 Nun entdeckte er dieses Prophetenwort als Zitat Jesu im Johannes-Evangelium (6,45) und schließt „logice", daß ihn das Wort aus Jesaja nun auch angehe, weil Jesus diese eschatologische Verheißung bereits auf seine Nachfolger bezogen habe.55 Oetinger schreibt in seiner Selbstbiographie, daß diese frühe Begegnung mit dem Jesajatext „der Grund . . . [seines] um 23 Jahre später (1739) herausgegebenen Büchleins: E T W A S GANTZES VOM EVANGELIO gewesen sei.56 Tatsächlich sind auch in dieser Schrift Spuren jener Jugendereignisse zu finden. Neben der oben57 erwähnten Bemerkung gibt es eine weitere, wohl in 48 „Das weltliche Studiren wurde mir so gar entleidet, daß ich dachte, ich wolle jetzt sogleich Theologiam studiren, und die Philosophiam an ihrem Ort stehen lassen." (Ders., Genealogie (1845/51), S. 14). 49 S.u. S.31 Anm.75. 50 Oetinger, Genealogie, S. 28 f. - Crousaz (1663-1748) war Professor fur Philosophie und Mathematik in Lausanne, Gegner der Wolffschen Philosophie und Eklektiker; 1712 erschien in Amsterdam: La logique (lat.: Genf 1724). 51 Oetinger, Genealogie (1824), S. 459. 52 Ebd. S. 460. 53 Oetinger, Genealogie, S. 29 f. 54 Jes 54,13a nach Oetinger, Genealogie (1824), S. 460. 55 Von dieser hermeneutischen Antwort erzählt Oetinger ferner in seiner HOCHZEIT-PREDIGT (1769), in Werke 15, S. 425 f. Dieser Bericht entspricht wörtlich dem der GENEALOGIE. „Ich habe von meinem vierzehnten Jahr an bis in das vierundzwanzigste Jahr nicht verstehen k ö n n e n . . . " (a. a. O. S. 425). 1726 ist als Abschluß des Problems wohl zu spät angesetzt. - In den MURRHARDTER PREDIGTEN (1780) erwähnt Oetinger noch zweimal diese Jugendgeschichte, wobei er einräumt, daß er sie schon oft erzählt habe (I, S. 446: Predigt an Exaudi; II, S. 307: Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis; vgl. insgesamt Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 356 Nr. 2). 56 Ders., Genealogie (1824), S. 450. 57 S.o. Anm. 41.
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Erinnerung an die Anfrage der Inspirierten nach dem Geistbesitz und an die des Vierzehnjährigen nach der Hermeneutik zur Auslegung Jesajas: Der Anteil am Geist Jesu sei Grund genug, Gottes Anrede in den Propheten auf sich zu beziehen.58 Oetinger mißt den hier skizzierten Erfahrungen grundsätzliche Bedeutung für seine Entwicklung bei, was auch daraus zu sehen ist, daß er immer wieder darauf zu sprechen kommt. Zwei Momente seien hier festgehalten. Zum einen ist wahrzunehmen, mit welcher Zähigkeit und Ernsthaftigkeit59 er an einem Problem verharren kann, um „Gewißheit" zu erlangen. Er nennt das „Prüfung". 60 Wichtige Stellen seines Lebens werden von solchen „Prüfungen" bestimmt sein: die Auseinandersetzung mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (in den Jahren 1730-1741) und mit dem schwedischen Seher Emanuel Swedenborg (in der Zeit ca. von 1752 bis 1772). „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet" (IThess 5,21), wird ihm zu einem Leitwort. Ein großer Teil seiner Arbeiten ist vom theologisch-philosophischen wie auch psychologisch-pädagogischen Bemühen gekennzeichnet, Leitlinien einer Kritik des weiten Herzens zu entwerfen und sie anzuwenden, 61 womit er sich freilich auch als Kind seiner „aufgeklärten", „toleranten" Zeit erweist. Die Forderung nach weitherziger Prüfung und Kritik geht soweit, daß er sogar einem seiner Söhne einen Beinamen gibt, den man mit „Friedfertiger Kritikfreund" wiedergeben kann62! Zum anderen ist zu bemerken, daß neben einer geistgewirkten, unmittelbar-innerlich erfahrenen Gewißheit nun, gerade im Gegenüber zu den Geistinspirierten, „Logik" und „Vernunft" eine Rolle im Erkenntnisverfahren zugewiesen bekommen. Der psychologische Aspekt von Vorurteilen und -Verständnissen wird vom jungen Oetinger hermeneutisch umgesetzt: „Darum hatte ich so großes Miß trauen auf meine Eigenliebe, darum hielt ich ?8 „Wer Christi Geist hat [Rom 8], solte er auch noch so zerbrochen seyn, so gehören ihm doch alle diese Dinge an, eben so gut, als wenn er zu derselben Zeit lebte." (Oetinger, Etwas Ganzes (1739), S. 86f., Hervorhebung W-M). Im Titel dieser Schrift heißt es: Predigt, Die GOTT selbst/ Durchjesaiam . . . An alle Welt hält; Und noch würcklich nach eben dem Geist, jedem Zeit-Lauffund jedem Ort gemäß, will gehalten haben" (Hervorhebung W-M). 59 Oetinger spricht von seiner „Lossprechung" von den Inspirierten (Genealogie, S. 29) und benutzt damit eine Formulierung, die auf große psychische Abhängigkeit schließen läßt. Die dem folgende Bemerkung, daß Gott ihn damit auf die spätere „Prüfung" Zinzendorfs vorbereitet habe (ebd.), ist in dieser Hinsicht ganz einsichtig, war doch Oetinger auf der Höhe der Auseinandersetzung mit dieser starken Persönlichkeit kaum noch einen Schritt vom Suizid entfernt (s.u. S. 103ff.). Zur späteren Auseinandersetzung mit den Inspirierten s. Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 138 ff. 60 Ders., Genealogie, S. 29f. - Pfenninger bemerkt dazu: „Prüfet alles: das heißt nicht: Laßt nichts ungeprüft liegen; sondern: Nehmt nichts ungeprüft a n . . . " (in: Oetinger, Genealogie (1781), S. 37 Anm.). 61 Vgl. den Titel D A S RECHTE G E R I C H T (1748). Überhaupt haben viele Schriften Oetingers einen verborgenen biographischen Hintergrund, vgl. u. S. 260 ff. den Abschnitt „System und Gelegenheit". 62 S. u. S. 235ff.: „Das Salz des Friedens".
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meine ungeprüften Urteile für meine größten Verführer, darum sah ich die Logik als Gottesgabe an, wenn sie neben andern Hülfsmitteln gebraucht würde." 6 3 Daß seine Erkenntnis über das Jesaja-Wort und die Prüfung der Inspirierten sowohl „vernünftig" als auch „dem inneren Sinn gemäß" 6 4 , mit gutem Gewissen (Gewißheit) vor Gott, erfolgten, ist Oetinger so wichtig, daß er diesen Erkenntnisfortschritt noch einmal ausdrücklich betont. E r bezeichnet das skizzierte Ergebnis seiner Überlegungen als „reelle Gedanken" 65 , womit er den Titel seiner Autobiographie aufnimmt: GENEALOGIE DER REELLEN GEDANKEN EINES GOTTESGELEHRTEN 66 .
Die beschriebenen Ereignisse, von denen Oetingers Selbstbiographie berichtet, sind also nicht lediglich als anekdotenhafte, vielleicht im Nachherein so hingestellte Geschichten zur Vereinheitlichung seines Lebensbildes anzusehen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich weichenstellende Geschicke, Schlüsselerlebnisse. Die Belege, gerade aus frühen Schriften, sollten dies erhärten. Damit gewinnt das Bild Oetingers Züge großer Konsequenz. Sie lassen es angeraten erscheinen, die Einwirkung seiner Biographie auf sein Denken besonders im Blick zu haben.
Oetinger, Genealogie (1824), S. 461. . . . „sowohl logice als auch nach dem sensu interno" (ders., Genealogie (1859), S. 29). Eine Einzelheit zur GENEALOGIE-Überlieferung: Die GENEALOGIE-Ausgabe 1859, S. 29 bietet wohl den originalen Text. Die Ausgaben 1824 (S. 460), 1849 (S. 22) und 1845/51 (S. 18) interpretieren richtig, indem durch Kommasetzung „logice" und „sensu interno" als nähere Erläuterung der Lossprechung erscheinen. Überdies sind bei den drei zuletzt genannten Ausgaben die pleonastischen Worte „nach dem" (sc. sensu interno, lectio diff.!) gestrichen. Die Ausgaben 1927 und 1961/78 übertragen glücklich durch Einfügung von „tatsächlich": „ . . . bin ich auch tatsächlich . . . losgesprochen..." 63 64
Oetinger, Genealogie (1849), S. 22. Den „reellen Gedanken" setzt Oetinger die „Schein-Gedanken" entgegen: „Ein Mensch hat keinen edlern Schatz, als seine Gedancken. . . . Das Wort würckt durch eine Scheidung der durch Lehre eingepflanzten geistlichen wahren Gedancken/ von den Schein-Gedancken/ welche entweder in der Natur vergänglich/ oder im bösen Gewissen unvergänglich seyn. So wohl die natürliche als die geistliche Gedancken sind zusammen gesetzte Dinge [vgl. Oetinger, Genealogie, S. 1 1 ! ] . . . " (Oetinger, Etwas Ganzes (1739), A S. 61). Weitere Belege, die mit dem Titel der GENEALOGIE korrespondieren: - „Wahre Gedancken haben ihre Connexion von der Schrift und von dem Mund des HErrn; Sprüchw. 3. Optische Schein-Gedancken..." (ebd. A S. 57). - „Es kommt nicht so wohl auf viel Lernen und Wissen an, sondern auf gewurtzelte Gedancken." (Ders., Weinsberger Predigten (1758) I, S. 172: Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis). - Gewurtzelter Gedancke: Ders., Vorrat (1762), S. 733. - Realität der Gedanken: Ders., Genealogie (1824), S. 448. - Klare Gedanken: Ders., Genealogie, S. 30. 65
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II. Auf der Suche nach dem
Grund.67
Studium i. Oetingerals „ Idealist ", 6 8 „Leibniz" beim jungen Oetinger Oetinger begann im Herbst des Jahres 1722 sein Studium in Tübingen. 69 Dabei bewegten sich seine Interessen in der Spannung zwischen zwei Polen, welche sich als Folge seiner oben entwickelten Grundeinstellungen ergaben: A u f der einen Seite stand ihm eine unerschütterliche Gewißheit der Gedanken vor Augen, die es nun in der Theologie zu erreichen galt, andererseits wurde ihm mehr und mehr deutlich, daß kein Mittel geeignet sei, dieses Ziel zu erreichen, zumal alle Menschen ständig durch Vorurteile und „Lieblingsmeinungen" 70 verblendet würden. Die Tübinger Theologische Fakultät 71 unter dem Kanzler Christoph Matthäus Pfaff 72 (1686-1760) vertrat eine Position zwischen Orthodoxie einerseits und Pietismus und Aufklärung andererseits, wobei neben einer neuen Betonung praktischer Frömmigkeit 7 3 noch das Bewußtsein der Orthodoxie gegenüber allen Neuerungen 74 im Vordergrund stand. Dies bekam besonders der außerordentliche Professor Georg Bernhard Bilfinger 75 (1693-1750) zu spüren, der als Schüler Christian Wolffs dessen Philosophie lehrte. Darin bestanden wohl die „Neuerungen", die ihn bei seinen Kollegen „etwas verhaßt" machten. 7 6 Vor allem bei ihm hörte Oetinger und wurde sein „eifrigster Anhänger" (ebd.). Die „monado-
67 „Empfindungen und Süßigkeiten . . . waren nie mein Ziel, sondern ein ewiger Grund der Wahrheit, der wider alles besteht" (Oetinger an Anna Nitschmann, 12.9.(?)1735, in ders., Briefe (hrsg. v. Herpel), S. 95 · (Heyken (Archiv 65 C 1953) datiert: 12.11.1735); Hervorhebung W-M)). 68 „Ich weiß, wie viel Jahre ich ein Idealist gewesen." (Oetinger, Lehrtafel (1763), S. 136). 69 Oetinger, Genealogie, S. 30-46. - Vgl. Die Matrikeln der Universität Tübingen, III, Matrikel 31 890 am 6.11.1720, Bac. am 11.11.1722. 70 Oetinger, Erbauungsstunden (1731), in ders., Leben und Briefe (1859), S. 79; ders., Wörterbuch (1776), S. 5.61.105.415.423.561f.643. - Seit Descartes ist das Angehen gegen „Vorurteile" gängiger philosophischer Topos (Discours de la Methode), ζ. B. bei Bacon, Vico, C. Thomasius. 71 Klüpfel, Geschichte der Universität Tübingen, S. 146f.; Liebing, Zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Das philosophische und theologische Denken Georg Bernhard Bilfingers, S. 7f; Kolb; Aufklärung in der württembergischen Kirche, S. Iff; Leube, Geschichte des Tübinger Stifts, II S. 295 ff. 72 Vgl. das Schreiben Oetinger an Castell, 1756, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 611 Nr. 369; Kolb, Aufklärung, S. 1-21. 73 Uttendörfer, Mystik, S. 10. 74 Klüpfel, Geschichte, S. 148 f. 75 S. Liebing, Bilfinger. - Bilfinger, Sohn des Lehrers Oetingers in Blaubeuren, Johann Wendel Bilfinger, wurde 1725 Professor der Philosophie in Petersburg, 1735 KonsistorialPräsident in Stuttgart; s.a. Kolb, Aufklärung, S. 21-28. 76 Oetinger, Genealogie, S. 31.
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logische Philosophie von Leibniz" 77 übte auf ihn eine so große Wirkung aus, daß er sie ganz in seine Vorstellungen aufnahm. In der GENEALOGIE streift er kurz seine damaligen Überzeugungen, vor allem die der prästabilierten Harmonie, der Leibnizischen Theorie über die scheinbare Wechselwirkung von Leib und Seele. Ein philosophisches Thema jener Zeit war die Frage, wie Körper und Seele miteinander zusammenhingen; ob es gegenseitige Einwirkungen gäbe; wie die offensichtliche Wechselwirkung zwischen Körper und Seele zu erklären sei.78 Grundlage und Anlaß 79 solcher Fragestellungen war die von Rene Descartes (1596-1650) zum Programm erhobene radikale Entgegensetzung von Seele (Bewußtsein) und Körper, welche wegen ihrer Verschiedenheit nichts miteinander gemeinsam hätten: Die denkende Seele (res cogitans) sei ohne Ausdehnung, während den Körper (res extensa) Ausdehnung und Bewegung (Mechanik) auszeichneten. Descartes nahm mit seinem erkenntnistheoretischen und metaphysischen Dualismus wiederum antike, im Mittelalter stets gegenwärtige Gedanken vom Verhältnis des Geistes zur Natur auf, die zu Piaton zurückführen: Die „Ideen" der Dinge haben wahres Sein, ihre Erscheinungen dagegen - Körperlichkeit - sind mangelhaft und trügerisch. Der menschliche Geist ist in einem Körper wie in einem Gefängnis gefangen. Doch kann er sich durch Erkenntnis von der Sinnlichkeit befreien und „aufsteigen". Es ist deutlich, daß hier wahre Erkenntnis metaphysische Erkenntnis ist, ihre Quelle liegt in der inneren Erfahrung (Anamnesis) des Geistes, sie wird nicht aus der trügerischen Sinnlichkeit gewonnen. U n d so war noch für Descartes die Existenz Gottes gewisser als die der scheinbaren Welt.80 Descartes' Dualismus bildete in der Folgezeit das Hauptthema der Philosophie, welches mit Beginn des 18. Jahrhunderts - erstmalig - als Kampf des „Idealismus" 81 (polemisch abgehoben vom „Materialismus") bezeichnet wurde. Sah Descartes die Verbindung und Wechselwirkung des denkenden Bewußtseins mit dem Körper noch einfach als Tatsache gegeben, wurde nun versucht, den Dualismus nach der einen oder anderen Seite aufzulösen. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) dagegen, auf der Suche nach einem System der Weltharmonie, lehnte dualistische oder monistische Lösungen ab, um allen Aspekten gerecht zu werden. 82 Er bestimmte Körper77 Oetinger, Genealogie, S. 32; zum Studium in Tübingen vgl. E. Müller, Stiftsköpfe, S. 170. 78 Vgl. Specht, C o m m e r c i u m mentis et corporis, 1966; ders., Art. Leib-Seele-Verhältnis, H W P 5, Sp. 187ff.; - vgl. den 15 Spalten umfassenden, umfangreichen Art. zum Stichwort „Seelenvereinigung mit dem Körper" i n j . G. Walchs Philosophischem Lexicon (17754, II Sp. 806-821). 79 Specht, C o m m e r c i u m , S. 7. 80 Überweg, Grundriß, III S. 235. 81 W. Halbfass, Art. Immatrialismus, H W P 4, Sp. 241; s.a. P. Hadot, Art. causa sui, H W P 1, Sp. 976. 82 Leibniz, Monadologie; Überweg, Grundriß, III S. 299fF.
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lichkeit als bloße „Phänomene"83, in welchen Wirkursachen herrschen, und ordnete ihr die Seele als ihr substanzielles Einheits- und Individuationsprinzip zu, in welcher Zweckursachen die Handlungen bestimmen. 84 Seele und Körper bilden zwar ein organisches Lebewesen, doch gibt es keine gegenseitigen Einwirkungen. So läßt sich alles sowohl kausal (mechanisch; vom Körper her) als auch final (moralisch; von der Seele her) erklären. Die scheinbare Wechselwirkung von Seele und Körper beruht auf der vollständigen, parallelen Harmonie der „Vorstellungen" der Seele mit den Vorgängen des Universums, insbesondere mit denen des ihr zugeordneten Körpers. Aber auch untereinander können sich die Seelen nicht beeinflussen. „Sie haben keine Fenster".85 Ursprünglich vom Atomismus Pierre Gassendis (1592-1655) beeinflußt, definierte Leibniz die Seele als einfache, nicht teilbare, unabhängige und selbsttätige „Substanz"86, als substanzielles Atom im Gegensatz zum materiellen, welches Schwere und Dichte besitzt, das aber Leibniz nicht gelten ließ. Die menschliche Seele als eine solche Substanz befindet sich unter unvorstellbar, aber endlich vielen geschaffenen in der Welt, deren keine der anderen gleicht und die sich durch den kontinuierlich unterschiedlichen Grad ihrer Bewußtheit (Perzeption) unterscheiden. Ihnen gab er später (1696)87 den Namen „Monaden", der bald ein verbreiteter Begriff und auch zum Schlagwort wurde, wie bei Oetinger zu sehen ist. Gemeinsam ist den Monaden außer ihrer Einfachheit, daß sie das ganze Universum -unterschiedlich deutlich- „repräsentieren" („spiegeln") und nur von Gott, der sie geschaffen hat und als notwendige 88 Zentralmonade gedacht wird, beeinflußt werden können. Mit diesem System gelang es Leibniz, den unbefriedigenden Dualismus von res cogitans und res extensa ohne Verkürzung allgemein-intuitiver oder theologisch-dogmatischer Erkenntnisse einerseits oder empirischer andererseits zu überwinden: Gott und die Welt bleiben unterschieden, die aufkommende empirische Betrachtungsweise der Natur und die herkömmlichen Überzeugungen, also - anachronistisch definiert - Materialismus, Realismus und Idealismus, können miteinander vernunftmäßig in Einklang, in „Harmonie" gebracht werden. Die Universalität seiner Wissenschaft ging nicht auf Kosten der Mannigfaltigkeit der Individuen, da sie ja gerade im 83 - also keine Substanzen. Leibniz an Nicolas Remond, 10.1.1714, hrsg.v. Gerhardt, III S. 606, zitiert bei Überweg, Grundriß, III S. 315. Allerdings: „des phenomenes bien fondes"; dass., Juli 1714und 11.2.1715, hrsg. v. Gerhardt, III S. 622.636, zitiert bei Überweg, Grundriß, III S. 337. - Dies aber nur, s o f e r n sie eine Monade repräsentieren (Horn in Leibniz, Monadologie, 1962, S. 113; s.a. Specht, Art. Leib-Seele, Sp. 195f.). 84 Leibniz, Monadologie, § 79; vgl. ders., Discours de Metaphysique, Kap. 21 f. 85 Ders., Monadologie, § 7. 86 Ders., Principes de la nature, § l ; d e r s . , Monadologie, §§1-7. 87 Überweg, Grundriß, III S. 234f. 88 Leibniz, Monadologie, § 38.
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Einzelnen, in der μόνας angelegt ist. Das Ganze besteht in kontinuierlichen Teilen. Nicht nur in der Mathematik löste Leibniz das Problem des Unendlichen durch ein differenzierendes, vom Kleinsten ausgehendes Verfahren.89 Wenn Oetinger nun schreibt, er sei „in die Leibniz'sche Monadenlehre ganz eingetaucht"90, stimmt das nur bedingt. Denn er lernte „Leibniz" vielmehr als Wölfische Philosophie kennen, wenn auch Oetingers Lehrer G. B. Bilfinger gegenüber Wolff relativ eigenständig war. Denn die meisten der Schriften Leibnizens waren zu dieser Zeit Oetingers noch nicht veröffentlicht, oder, weil sie fast alle aus Gelegenheitsschriften bestehen, durch „die vorherrschende Bezogenheit auf mehr oder minder zufällige Anlässe . . . in [ihrer] literarischen Bedeutung eingeschränkt"91, was zumal von den aufschlußreichen Briefen gilt, von denen mehr als 15 000 existieren. Zwar waren an systematischen Werken neben der Theodice (1710) die Auseinandersetzung mit Newton (Briefwechsel mit Samuel Clarke 1715/16) im Jahre 1717 und die „Principes de la nature et de la grace" 1718 veröffentlicht und 1720 - zuerst deutsch - die Monadologie, - doch hatte sich bereits Christian Wolff (1679-1754) angeschickt, in enger Abhängigkeit von Leibniz sein eigenes großes System von „Gott und der Welt"92 zu lehren. So wurde Leibniz - als System - zunächst hauptsächlich durch und als Christian Wolff bekannt. Beide, Leibniz und Wolff, wurden daher so in eins gesehen, daß die Rede von der „Leibniz-Wölfischen Philosophie"93 aufkam. Auf diese Weise, als durch Bilfinger vermittelte und durch die übrigen Professoren der Theologie94 Tübingens zunächst geschmähte „Leibniz-Wolffsche Philosophie", lernte Oetinger „Leibniz" kennen. Auch der wechselnde Sprachgebrauch bei Oetinger selbst, der „Leibniz" und „Wolff' oft fast zu identifizieren scheint95, macht deutlich, daß Oetingers Urteil über Leibniz unter diesen 89 An dieser Verfahrensrichtung jedoch -vom Einfachen zum Zusammengesetzten induzierend- übte Oetinger später grundlegende Kritik und stellte dem seine „phänomenologische Methode", an die Lebenswelt heranzugehen, entgegen. 90 Oetinger, Genealogie, S. 32. 91 Überweg, Grundriß, III S. 303; dort (S. 304) auch eine Liste der Werke Leibnizens, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden; ausführlich: SPECIFICATION | Aller | Des Seel. | Hn. von Leibnitz | bißher gedruckter Schrifften, | Wie sie nach einander herausgege- | ben worden. | oO., oj. [16] S., angebunden an Leibnitz, Essais deTheodicee [dt.], Amsterdam (Cornel. Boudestein) 1720 (Hessische Landesbibliothek Wiesbaden: Ba 6376). 92 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 1719. 93 im Gutachten der Tübinger Theologischen Fakultät von 1725 gegen die Wolffsche Philosophie, anderthalb Jahre nach dessen Vertreibung aus Halle. Wolffs Ansicht (und die einiger Philosophiegeschichten, ζ. B. Überweg, Grundriß, III S. 449; auch W. A. Schulze, Oetinger contra Leibniz, S. 613), Bilfinger sei der Schöpfer dieses Begriffs, ist unzutreffend, wie Liebing gezeigt hat (Bilfinger, S. 17). 94 Die Philosophische Fakultät sprach sich in einem Gutachten vom 7.7.1725 für Wolff aus; Ludovici, Historie der Wölfischen Philosophie, II, 1737, S. 535 §577; III, 1738, S. 103 § 130. 95 Vgl. z.B. den Abschnitt: „Die Wolfische Philosophie mit der Philosophie Jacob Böhms verglichen", in Oetinger, Swedenborgs Philosophie II (1765), S. 156-198.
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ungünstigen ÜberlieferungsVerhältnissen gesehen werden muß, die die eigentümliche Lebendigkeit96 der Leibnizischen Philosophie verschütteten. Mit einigen Kommilitonen bildete Oetinger einen „philosophischen Kreis", in welchem Probleme der Philosophie Bilfingers besprochen und in Beziehung zur eigenen Frömmigkeit gesetzt wurden. 97 Als Schriften des Frankfurter Juristen Christian Fende98 (1651-1746), eines ehemaligen Gesinnungsfreundes und Mitarbeiters im Büro des Johann Jacob Schütz99 (1640-1690), in diesen Kreis gelangten, führte dies zu Auseinandersetzungen zwischen den Kommilitonen, denn Fende wurde „Arianismus" vorgeworfen. 100 Er behandelte in seinen Schriften immer wieder Probleme des Trinitätsdogmas und schrieb der Schöpfung einen präexistenten „Urzustand" analog zu Jesus Christus zu. Christus, welchen Fende sich ausdrücklich weigerte, „Gott" zu nennen, weist in besonderer Weise den Weg „zurück" in die himmlische „Heimat".101 Offensichtlich sah sich dieser kleine philosophische Zirkel durch das Studium der Fendeschen Schriften nun selbst dem Voiwurf des Arianismus ausgesetzt, da doch auch seine Philosophie, die durch Bilfinger vermittelte Monadenlehre, die Präexistenz der Kreatur lehrte: Da die Monaden sich nicht neu entwickeln, sondern nur durch Schöpfung entstehen können, sind sie alle auf einmal bei der Schöpfung von Gott geschaffen. Das Erscheinen der Monaden ist lediglich ein Auswicklungsprozeß. Wie verhält sich nun Christus in dieser Reihe von Präformationen102? Die hinter dem „Arianismus" sich verbergende Antwort auf die alte Frage nach der Unveränderlichkeit und Güte Gottes im Gegenüber zur sich verändernden und schlechten Welt und die Rolle Jesu Christi in diesem Verhältnis 96 Vgl. Leibniz, Monadologie, §§ 66-69. „Mußte er [Oetinger] nicht . . . in Leibniz einen Verbündeten sehen?" (Gadamer, Oetinger, in Oetinger, Inquisitio (1964), S. XI. - Der schon erwähnte Aufsatz W. A. Schutzes (Oetinger contra Leibniz), der Oetingers spätere Auseinandersetzung mit „Leibniz" behandelt, sieht das Problem nicht und stößt daher auch nicht zu der in diesem Zusammenhang eigentlich interessanten Frage vor, wieweit Oetinger und Leibniz -von ähnlichen Motiven ausgehend- miteinander in einer tiefen Schicht übereinstimmen!) 97 Oetinger, Genealogie, S. 35. 98 Oswalt, Christian Fende, Phil.Diss. Frankfurt 1921 (masch.); H. J. Schräder, Nachwort zu Reitz, Historie III, S. 148 f. 99 Dechent, J.J. Schütz, 1890. 100 Oswalt, Fende, S. 33; der Vorwurf, Arianer zu sein, wurde vorher bereits gegen Schütz, aber auch gegen Spener erhoben. Oetinger sagt in einer Erbauungsstunde am 16.9.1731: „Ich bin lange auf dem Socianismus und Arianismus gestanden. . . . Arianer sind zweierlei: der eine Theil, der ihn [Jesum] zu einem Geschöpf macht, ist nichts; die anderen, welche ihn noch als eine abgetrennte kleine Gottheit ansehen, . . . bilden sichs ein . . . Ich bin lange darauf gestanden, bis ich durch den Spruch (Spr.8,22.): .vordem Ablauf des Zeitlaufs' davon abgebracht wurde." (Oetinger, Erbauungsstunden (1731/32), in ders., Leben und Briefe (1859), S.74f.; vgl. a. ders., Theologia (1765), S. XXVII). Zum Begriff s. A.M. Ritter, Art. Arianismus, TRE 3, S. 693. 101 Oswalt, Fende, S. 72. 102 Zur Präformationslehre bei Leibniz s. ders., Monadologie, §74; Überweg, Grundriß III, S. 328 f; Th.F. Oetinger, Zeugung und Geburten der Dinge (1774).
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hatte bei Descartes und Leibniz eine logisch einleuchtende, aber theologisch kontroverse Antwort erhalten. Descartes sah im unveränderlichen Quantum der sich stets ändernden Bewegungsgrößen in der Welt eine Entsprechung zur Unveränderlichkeit Gottes, und Leibniz behauptete - neben der Korrektur an Descartes, daß die Kraftsummen, nicht die Bewegungen konstant blieben103 - , diese Welt sei die beste aller möglichen. Für das Problem von Schöpfung und Christologie suchte Oetinger nun systematisch nach einer mit der Heiligen Schrift und „Leibniz" übereinstimmenden Antwort: Er „machte" sich „ein eigenes System" von der Stellung Christi bei der Schöpfung 104 . Demnach waren in Christus, dem ewigen Logos, alle Geschöpfe bereits präformiert. Die Generationen stellen dann nur ein Auswicklungsverfahren der eingeschachtelten Formen dar. 105 Oetinger schreibt, daß er hierbei hauptsächlich Gedanken von Malebranche aufgegriffen habe (ebd.), mit dem er ohnehin beschäftigt war 106 , da Bilfinger ihn schätzte und oft zitierte. Über Oetingers „Malebranche'sches System", in dessen Zentrum der göttliche Logos, in dem alles Geschaffene gelegen hat, stand, finden sich allerdings in Oetingers Schriften keine weiteren Erläuterungen. Vielleicht deshalb, weil er es „hernach durch eine besondere Schikkung Gottes losgeworden" 107 ist. 103 „Später aber habe ich erkannt, worin der Fehler [des Descartes] besteht. Er liegt darin, daß Descartes und viele andere gelehrte Mathematiker geglaubt haben, daß die Bewegungsgröße, das heißt die mit der Größe des Bewegten multiplizierte Geschwindigkeit, gänzlich mit der bewegenden Kraft zusammenstimmt, oder, um geometrisch zu sprechen, daß die Kräfte dem Produkt aus Geschwindigkeit und Körper proportional sind." (Leibniz, Discours de Metaphysique, Kap. 17, dt. zitiert nach Leibniz, Kleine Schriften, hrsg. ν. Η. H. Holz, S. 105). 104 „Aus Malebranche machte ich mir, durch diesen Arianismus afficirt, ein eigenes System von Christo, und damit ich kein Arianer würde, nahm ich aus Malebranche an, daß in dem ewigen Wort ein vorweltliches Schema der Menschheit gelegen, worin alle Menschen involute [lectio vera nach S. [155]] und eminenter quasi in matrice gestanden und hernach sucessive vermittelst der Zeugung der Menschen ausgeboren worden, indem ihre Bildung präexistiert und unter der Zeugung und Geburt in sie gekommen." (Oetinger, Genealogie (1849), S. 27). 105 Zum Präformationsgedanken vgl. Hauck, Geheimnis, S. 161 ff. 106 Oetinger, Genealogie, S. 31; zu Nicole Malebranche (1638-1715) s. W. Ziegenfuß, Philosophen-Lexikon II, Berlin 1950. 107 Oetinger, Genealogie, S. 34; vgl. Malebranchs indische Philosophie (u.a. ein Auszug aus seinem Tratte de la Nature & Grace) in Oetinger, Swedenborgs Philosophie (1765) II, S. 4 8 - 8 2 ; ders., Lehrtafel (1763), S. 155 f. - „Die Reichsbegriffe [Oetingers Schrift von 1744] sind gedruckt wider Lavater. Lavater ist ein Schwenkfelder aus Bonnet [Lavater übersetzte Bonnets Palingenesie, Zürich 1770/69]. Aus seiner Präformation folgt, daß in dem Schwenkfeldischen vorweltlichen Schema Christus schon als Christus in derselben Materie präformirt gelegen, und nicht aus Maria Fleisch geboren habe werden müssen. Niemand als J . Böhm in seiner Apologie wider Stiefel hat es so schön widerlegt. Das war der Grund, warum ich selbes System, so ich ehemal auch gehabt, verlassen..." (Oetinger an Harttmann, 10.3.1774, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 813).
- Es wäre interessant gewesen, mehr von Oetinger über sein „Malebranche's System" zu hören und wie er es mit Leibnizens in Obereinstimmung brachte. Denn Malebranche vertrat mit seinem (so seit Kant:) „Okkasionalismus" eine Position zwischen dem erledigten „influxus physicus" einerseits und der modernen „prästabilierten Harmonie" andererseits: Der Einfluß
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Von seinen Lehrern lernte Oetinger, daß es für die Exaktheit der Philosophie und Theologie auf saubere Begriffe ankommt, aus denen sich ein Lehrgebäude zusammensetzt. So mußte Oetinger wohl der Meinung sein, daß die Gewißheit, die er in „der Theologie" erreichen wollte, von der Gewißheit der grundlegenden Begriffe abhängt, also von der Genauigkeit ihrer Definitionen.108 Die Fortschritte der Mathematik hatten die übrigen Disziplinen zu Systemen ähnlicher Genauigkeit und „Pünktlichkeit herausgefordert, waren doch die meisten Philosophen zugleich Mathematiker.109 Die Strenge in der -nun deutschen- Terminologie und die Forderung nach klaren Definitionen fuhrt zurück auf Descartes, der den Terminus „idea" (Begriff) aufnahm. Seitdem stand die Frage nach dem Ursprung von Begriffen (Ideen), ob sie angeboren oder erworben seien, im Vordergrund.110 Oetinger griff diese Fragerichtung nach dem Ursprung auf, womit er zugleich seiner Frage nach Gewißheit Gestalt gab. Denn damit waren auch für seine Beschäftigung mit der Bibel Maßstäbe gesetzt: Auf ihre Begriffe kam es an! Über Oetingers Umgang mit der Bibel ist hier zu bemerken, daß sie ihm über die erbauliche Anwendung hinaus Quelle und Maß philosophischer Erkenntnis war, und zwar in sehr buchstäblicher Weise. Das zeigt sich in den vielen Bibelzitaten, mit denen Oetinger sein „vorweltliches Schema", das oben erwähnte „Malebranche'sche System", zu stützen suchte. Diese Unmittelbarkeit im Umgang mit der Bibel — aus der Bibel zu leben (erbaulich) und, bis in die Sprachlichkeit hinein, aus ihr wissenschaftliche Erkenntnisse zu entnehmen - stellt in ihrer Grundstruktur eine typisch pietistische Verwendung der Bibel dar.111 Die Parallelität zu Johann Albrecht Bengel (1687-1752), einem durch dessen Mutter weitläufigen Verwandten Oetinder Seele auf den Körper komme durch stetige übernatürliche Assistenz (Gottes) zustande, also durch ein ständiges Wunder (vgl. Liebing, Orthodoxie, bes. S. 88-90; Überweg III §28). 108 Vgl. Leibnizens ständige Bemühungen um Definitionen und Oetingers Magisterarbeit über den zureichenden Grund von 1725 (DE PRINCIPIO). 109 Zum Schluß der Mathematik auf die Theologie s. Hirsch, Geschichte I, S. 161 f.; zur großen Bedeutung genauer Begriffe s. -bei Wolff: Vorländer, Philosophie der Neuzeit, V S. 85; -bei Tetens: ebd S. 93; -bei Herbart: Erdmann, Philosophie der Neuzeit, VIII S. 18. - Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689) meinte in seiner Cabbala denudata (II, 1684, S. 3), daß der Streit verschiedener philosophischer Prinzipien und daraus folgende Spaltungen durch den Rückgriff auf die biblische Philosophie überwunden werden könnten (nach Benz, Die christliche Kabbala, S. 21). Zu dieser Zeit kannte Oetinger Rosenroth durch die Literatur Schützens und Fendes, sowie durch Korrespondenz mit letzterem (Oetinger, Genealogie, S. 33.50). Erst später war er selbst im Besitz der Cabbala denudata (Oetinger, Genealogie, S. 50). S. a. u. S. 48 und die zugehörige Anm. 194. Haller, Art. Begriff, HWP 1, 1971, S. 782 f. Peterson, Bibelauslegung, 1923: Das Schriftwort ist im 18. Jahrhundert nicht mehr „nur" Offenbarung Gottes, sondern -weniger mittelbar- Ausdruck der göttlichen Wahrheit (S. 472). Zur Bedeutung der Bibel für Oetinger vgl. weiter: Kolb, Bibel, 1917, S. lOOff; U.Mann, Spiritualismus, S. 228ff.; Yeide, Vision, S. 78-133; Betz, Bedeutung der Schrift im Denken Oetingers, 1982. 110
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gers und später112 sein väterlicher Freund, ist sicher nicht zufällig, wenn auch die Quellen über Oetingers frühe Verbindungen zu Bengel vor 1727 recht unbefriedigend Auskunft geben. Kam es nun auf begriffliche Exaktheit an, so war es unter den hier geschilderten Voraussetzungen nicht einfach, die damaligen philosophischen Richtungen mit der biblischen Sprachwelt, zumal der hebräischen, in Übereinstimmung zu bringen. So blieb auch bei Oetinger ein Unbehagen, ja schließlich sogar die existenzielle Sorge, er könnte mit seiner Leibniz-Malebranche'schen Philosophie die Gedanken der Heiligen Schrift verfälschen113, mithin die wahre Philosophie verfehlen, die den Schreibern der Bibel114 vor Augen gestanden hätte. „Gleichwohl wollte mir fur meine Person alles, was ich gelernt hatte, nicht zureichen."115 Deshalb studierte er „Tag und Nacht"116 die Begriffe117, auf denen die philosophischen Systeme und die Lehren der Bibel sich gründeten. Denn die logische Folgerichtigkeit eines Systems allein, etwa die faszinierend geschlossene Monadenlehre, reichte ihm als Kriterium der Wahrheit nicht aus.118 Etwas mußte die Axiome119 und damit das ganze System gewiß machen. Das bedeutete für Oetinger, die Voraussetzungen der Wolffschen Philosophie, die Monaden, in der Bibel bestätigt zu sehen. Zwar wußte er, daß die biblischen Schriftsteller keinen Wert auf genaue Definitionen und strengen logischen Zusammenhang legten;120 aber letztlich, wegen der Struktur der Wahrheit, müßten eben auch sie die gleichen „letzten Begriffe"121 wie Leibniz, Wolffund Malebran-
112 Vgl. den beiderseitigen Briefwechsel (hrsg. v. Burk); Mälzer (Bengel und Oetinger) und K. Hermann (/. A. Bengel) bieten wichtige Quellen. 113 Oetinger, Genealogie, S. 40. Oetinger spricht hier von einem „falschen Nexus" (dass. (1859), S. 40), der in die Heilige Schrift getragen werden könnte. - Mit diesem Ausdruck nimmt Oetinger bereits die Lösung der Frage nach dem rechten Philosophieren voraus, auch klingt, soviel sei hier vermerkt, schon die Grundidee seiner späteren Sünden- (und Lebens-) Lehre durch; s. u. S. 176 „Leben als Möglichkeit" und S. 177 „Wahres und falsches Leben". 114 Oetinger differenziert später seine Auffassung von der Bibel: Er statuiert verschiedene Grade der Inspiration der Schreiber und historische Bedingtheiten, die bei der Auslegung zu berücksichtigen seien, s. z.B. Oetinger, Herunterlassung (1735), S. A 92f.; ders., Anleitung Hl. Schrift (1738), S. 3f; ders., Lehrtafel (1763), S. 389; ders., Swedenborgs Philosophie (1765) II, S. 368; ders., Beurteilungen (1771), S. 46; ders., Wörterbuch (1776), S. 546. An seiner Grundeinstellung ändert sich freilich nichts. 115 Oetinger, Genealogie, S. 40. 116 Oetinger, Genealogie, S. 35.41; ders., Philosophie der Alten (1762) II, S. 35. 117 Oetinger, Genealogie, S. 41. 118 Oetinger, Genealogie, S. 40f. 119 Oetinger an Bengel, Herrnhut, 8.7.1733, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 446. 120 Oetinger, Genealogie, S. 41.74f. 121 „Ich zweifelte also nicht, so weit auch die Philosophen ihre Begriffe verfeinern und zuspitzen, daß die heiligen Männer Gottes ebensolche letzte Begriffe gehabt haben müssen, nur nicht in genau der gleichen ausgewickelten Form, aber der Wirklichkeit nach hundertmal besser. Folglich war es mein tägliches Bemühen, ebensolche letzte Begriffe zu finden, die die Wolffschen entweder bestätigen oder umstoßen würden. Das war eine schwere Arbeit fur mich; allein ich sah, daß sie getan werden müsse, sonst würde ich bei dem gegenwärtigen
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che zur Grundlage gehabt haben, wenn deren Philosophie wahr sein solle. Der Heilige Geist habe zwar den Schreibern bei ihren Gedanken und Folgerungen zur Seite gestanden; das könne aber nicht heißen, daß deren Erkenntnisse nun nicht auch „allgemein nachprüfbar" 1 2 2 seien; mithin müßte die gegenwärtige exakte Philosophie zu gleichen Ergebnissen wie die biblischen Schriftsteller k o m m e n ! 2. Jacob Böhme Während Oetinger mit diesen Vergleichen von Philosophie und Bibel beschäftigt war, k a m er zufällig mit Schriften J a c o b B ö h m e s in Berührung. Oetinger sah dies später als eine „besondere Schickung Gottes" 1 2 3 an. Sie ereignete sich auf einem denkwürdigen und durch die stetigen Nacherzählungen dieser Begebenheit in fast der gesamten Literatur zu Oetinger berühmt gewordenen Spaziergang. Einzige Q u e l l e ist Oetingers Bericht in der GENEALOGIE 1 2 4 :
„Durch Gottes Schickung geschah es, daß ich zur Recreation oft bey der Pulvermühle zu Tübingen vorbeyging. Da traf ich den Pulvermüller als den größten Phantasten, der sich eine tiefe Grube in den Boden gegraben, um da verwahrt zu seyn, wenn Babel nach seiner Rechnung zu Haufen fallen würde.125 Dieser trug mir seine Träume vor; ich verlachte ihn, doch mit Modestie. Er sprach: Ihr Candidaten seyd gezwungene Leute; ihr dürft nicht nach der Freyheit in Christo studiren, ihr müßt studiren, wozu man euch zwingt. Ich dachte: es ist fast wahr, aber wir haben doch Freyheit. Er sprach: Ist euch doch verboten, in dem allervortrefflichsten Buche nach der Bibel zu lesen! Ich sprach: Wie so? Er bat mich in seine Stube, zeigte mir Jacob Böhm und sagte: Da ist die rechte Theologie. Ich las das erste Mal in diesem Buch, fürchtete mich aber vor den imaginativen Worten: Sal, Sulphur und Mercurius, womit J. Böhm per analogiam die Kräfte der sieben Geister Gottes und des dreyfachen Lebens bezeichnete. Ich moquirte mich, und ging davon. Ich fand aber gleichwohl unter den imaginativen Ausdrücken etwas Raisonabeles, und dachte: mit Malebranche und Leibnitz müsse man die Termini dieses Laien corrigieren. Ich bat sodann, daß er mir das Buch leihen möchte, und las nun mit Hinweglegung alles Vorurtheils. Da fand ich die Widerlegung meines eingebildeten vorweltlichen Systems." Oetinger sagt hier nicht, welche Schrift oder Schriften B ö h m e s ihm nun so grundlegend wichtig wurden, auch die bisherige Forschung schweigt. E s Geschlecht dem Willen Gottes nicht auf vollkommene Weise dienen können." (Oetinger, Genealogie, S. 41). 122 Ders., Genealogie, S. 41. Oetinger, Genealogie, S. 34.36. Ders., Genealogie, S. 36, zitiert nach ders., Genealogie (1845/51), S. 25f. 125 Nach den Recherchen Ehmanns war zu jener Zeit Johann Kaspar Obenberger der Pächter der Mühle „und war damals schon ein alter Mann", Ehmann in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 35 Anm. 123 124
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ist aber anzunehmen, daß sich in dem ausgeliehenen Band Böhmes AntiStiefelius (1622)126 befand. Denn was Oetinger in diesem Zusammenhang in der GENEALOGIE wiedergibt 127 , ist Paraphrase des § 15 aus dem II. Buch dieses Werks: Die Präformation der ganzen Schöpfung, also auch etwa aller Würmer 128 , im Logos sei widersinnig. Das hat Oetinger eingeleuchtet. Der Logos ist nicht der erste in der Reihe der Geschöpfe, in welchem alles unendlich klein und mechanisch - vorgebildet war. Durch diese Einsicht sah Oetinger seinen „Arianismus" „über den Haufen fallen"129 - während die zwei Thüringer „Ketzer" Stiefel und Meth 130 , gegen die Böhme seine Schrift verfaßte, mit ihrer Determination der Schöpfung in Christus Schwenckfeldische Tendenzen verbanden, also dem Arianismus entgegengesetzte Gedanken. Es gibt aber auch einen Hinweis auf die Oetinger vorliegende Schrift von ihm selbst. Im Jahre 1774 schreibt er seinem Schüler und Freund Karl Friedrich Harttmann: „Niemand als J. Böhm in seiner Apologie wider Stiefel hat es so schön widerlegt. Das war der Grund, warum ich selbes System, so ich ehemal auch gehabt, [sc. ,das vorweltliche' Präformationsschema] verlassen, u n d j . Böhm für göttlich in diesem Stück erkannt." 131 Die These, daß Böhmes Anti-Stiefelius die Schrift war, die sich Oetinger vom Müller Obenberger auslieh, kann durch eine weitere Beobachtung erhärtet werden: Ein Jahr vor der Abfassung der GENEALOGIE erscheint im Jahr 1761 Oetingers 132 Gespräch im Reich der Todten zwischen Dippel und Zinzendorf (genannt ENTREVUE), in welchem er ebenfalls auf Böhmes AntiStiefelius zurückkommt: Zinzendorf, nach seinem Tod „hinab gefahren" (!)
126 Jacob Böhme: ANTISTIEFELIUS, oder Bedencken über Esaiä Stiefels, von Langensaltza, Büchlein von Dreyerley Zustand des Menschen . . . im Jahr 1622 . . . , 1730, Faks.-Nachdruck, hrsg. v. Peuckert, Bd. V, 1960 (hier benutzte Ausgabe). Oetinger hat wohl benutzt: BEdencken über ESAIAE STIEFELS Büchlein . . . Geschrieben Anno Christi 1621., Amsterdam (Henricus Betkius) 1676. 127 Oetinger, Genealogie, S. 36 f. m „ G O t t hat das Ungeziefer nicht erschaffen, wie die reine Thiere, sondern es ist aus dem wallenden Leben entstanden, ist aber von der Weißheit, als zur Harmonie gehörig in seinem Spiegel ersehen worden als aus der Finsterniß." (Ders., Wörterbuch (1776), S. 798). 129 Oetinger, Genealogie, S. 37. 130 Esaias Stiefel ca. 1560-1626; Ezechiel Meth war dessen Neffe und bis zum Tod seines Onkels dessen Schüler. Nach Stiefels Tod wandte er sich (wieder) der Kirche zu. 131 Oetinger an Harttmann, 10.3.1744, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S.813. 132 Zur Verfasserschaft des Sammelbandes ENTREVUE (1761): Der Titel weist Oetinger lediglich als Teilverfasser aus: des Gesprächs über die Mährischen Brüder (S. 31 [Bogen E] - 75), zuerst erschienen in Oetinger, Das rechte Gericht (1748), S. 269-336, und der Abhandlung von Gesetz und Evangelium aus dem Jahr 1740/41. Aber auch die anderen Stücke stammen dem Stil und Inhalt nach sämtlich von Oetinger. Die Titelangabe „zum Druck befördert von einem Freund des Verfassers der güldenen Zeit" verweist auf einen ebenfalls anonymen Sammelband Oetingers. Z u r Verfasserschaft des -übrigens sehr künstlichen und plumpen- Gesprächs zwischen Dippel und Zinzendorf(S. 1-24) bekennt sich Oetinger in der GENEALOGIE, S. 94; ebenso: Ders. an Castell, 1761(1), in ders., Leben und Briefe (1859), S. 642f. N r . 491; vgl. Joachim Gottlob Freund an Oetinger, ca. 1763, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 663.
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in das „Land der Stille" 133 , gesteht Johann Conrad Dippel (genannt „Christianus Democritus", 1673-1734) 1 3 4 seinen Fehler, daß er aus Furcht „des Arianismi" 135 „schwenkfeldische Anmuthigkeiten . . . in [seinen] Cram" 1 3 6 eingeführt hätte. Er hätte auf Oetinger hören sollen oder aufJacob Böhme und besonders dessen Anti-Stiefelius,137 - Interessant ist die eingeschobene Bemerkung, daß „da . . . auch Jacob B ö h m am besten zu fassen" sei (ebd.). Hier spricht der Verfasser Oetinger wohl mehr über seine eigene Geschichte, und es ist sicher kein Zufall, wenn er anschließend in einem Extract aus Jacob Böhmen Apologie wider die Schwenkfeldische Secten138 gerade die Stellen paraphrasiert, die ihn damals von seinem „Leibniz-Malebranche'schen System" abgebracht hatten. Im gleichen Jahr 1761 empfiehlt Oetinger dem Grafen Castell Böhmes Anti-Stiefelius: „Da hat B ö h m recht verständlich geredet." 1 3 9 Schließlich führt Oetinger im Schlußwort seines 1762/63 geschriebenen Vermächtnisses eben wieder dieses Werk Böhmes an. 140 Diese erste und „grundstürzende" 141 Begegnung Oetingers mit der Philosophie Jacob Böhmes fiel wohl ins Jahr seiner Magisterpromotion 1725, keinesfalls aber später. 142 Nach anfanglichem Spott über dessen dunkle Bildersprache 143 forschte er doch genauer nach und entdeckte dort eine ganz andere Art des Philosophierens: Gott und die Welt werden nicht als Seinszustände beschrieben, sondern als im Prozeß begriffen. Bis in die letzten „Tiefen" spürt Böhme diesen Prozessen, den sogenannten „Geburten", Oetinger, Entrevue (1761), S. 1-2; Zinzendorf starb am 9.5.1760. S. Voss, Christianus Democritus, 1970. 135 Oetinger, Entrevue (1761), S. 10. 136 Ebd. S. 12. 137 „Zinzendorf: ,Jacob B ö h m aber, unerachtet er in seiner anfänglichen Mahlerey der unaussprechlichen simultaneischen Geistessache viel geirret, hat doch in seiner Apologie wider Jesaias Stiefel und Ezechiel Met, als neue und übertriebene Schwenkfelder, die Sache schon längst, ehe wir [sc. Dippel und Zinzendorf] gebohren wurden, am besten wiederleget, und da ist auch Jacob B ö h m am besten zu fassen. Aber die Mysticos als gar zu spirituelle, habe ich zuweilen, wie Pabst und Türkenmord gescheuet, und die Gelehrte habe ich auch ohne Noth aufgebracht, und mit meinen Finessen habe ich eine für mich allzu große Sache wollen durchsetzen, bis ich gegen Ende meines Lebens erkannt habe, man müsse denen Pfarrern und Gelehrten wieder gute Worte geben, und in Praxi nur auf Besserung dringen, und aufbessere Zeiten warten." (ebd. S. 12). 133
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Ebd., S. 28-28[Bogen E]. Oetinger an Castell, 1761, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 643 Nr. 491. 140 Ders., Swedenborgs Philosophie (1765) II, S. 367. 141 Hauck, Geheimnis, S. 164. 142 Oetinger, Genealogie, S. 39. In seinem VORRAT (1762) schreibt Oetinger (Vorrede, Noten und Anmerkungen über M t 18 und M k 9, unpag. fofyO:^ 1 ), daß Gott ihn in besonderer Weise ab dem Jahre 1725 behutsames „Urtheilen" ans Herz gelegt habe, was dem Zusammenhang nach auf die Begegnung mit Böhmes Schriften zu deuten ist. 138
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143 „Ich habe wohl ein gantzes Jahr über Jacob Böhmens Rad der Natur heimlich gespottet, weil ich es mit meinen philosophischen Grundsätzen nicht reimen konnte", (ders., Aufmunternde Gründe (1731), S. 172 = ders., Leben und Briefe, S. 37).
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nach. So stieß Oetinger auch sofort auf Böhmes Ansichten zu den „vorweltlichen" Spekulationen, um die Oetingers Gedanken in jener Zeit kreisten. Die Freiheit des Schöpfers, der Voluntarismus144, die große Freiheit, die Böhme den Geschöpfen im Prozeß ihres Werdens145 im Gegensatz zu Wolffs Determinismus146 zugestand und die zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit streng differenzierende Christologie147 mögen Oetinger wohl besonders ins Auge gefallen sein. Jacob Böhme148 (1575-1624) teilt nicht den Grundsatz quantitativer Polarität, also von Seins-ab-Stufungen (Sein Nichtsein; oder Gut Böse), die sich als Geist-Körper-Dualismus manifestieren könnten. Vielmehr ist die Polarität, der „Streit" bei Böhme in jedem Teil des Ganzen angelegt, die „Gegensätze kommen zusammen" (Nikolaus von Kues), man könnte es ein System qualitativer Polarität nennen. So ist Böhme auch nicht genötigt, - gewissermaßen nachträglich - die Einheit der Welt wieder herzustellen oder zu begründen, weil die Gegensätze schon notwendig und vorgängig miteinander da sind und daher nicht erst philosophisch zusammengebracht werden müssen. Nach Böhme wäre der abstrakte Begriff des „Seins", als bloßes -möglicherweise homogenes- Dasein von Dingen, ungeeignet, um mit ihm eine Philosophie aufzubauen. Die einzelnen Dinge .bestehen' nicht (im doppelten Sinn:) einfach, sondern sie sind zu beschreiben als ständiges Werden149, als unaufhörlicher150 Fluß, als stetiger Kampf. Das Werden, die „Geburten" „urständen" in zwei konträren „Prinzipien" und haben darin ihr „Wesen" oder die Möglichkeit, „Kraft" ζμηι „Wesen". Nichts, auch nicht Gott, der Schöpfer, besteht einfach und homogen. Wäre dem so, gäbe es auch im Großen keine Mannigfaltigkeit, und es bestünde ein gleichförmiges Nichts, in dem nichts zu beschreiben, kein Leben und keine
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Z.B. Böhme, Antistiefelius II §35, hrsg. v. Peuckert, Bd. V S. 211. Z.B. ebd. § 39 S. 212; aber auch hier kritisiert er Böhme später und gesteht den Geschöpfen noch weit mehr Freiheit zu, Oetinger, Grundweisheit (1774), S. 21-33. 146 - einer der -theologischen- Hauptvorwürfe gegen Wolff (Leibniz). 147 Z.B. Böhme, ebd. §§ 16-72: „Von Christo", S. 208-219; ders., Ep. theosophicae 12, 54, aaO. Bd. IX S. 54f.: gegenüber Schwenckfeld. 148 Zugrundegelegt sind hier Schriften Böhmes der Ausgabe 1730 im Faks.-Nachdruck, hrsg. v. Peuckert. Vgl. ferner -zu Böhme: [J. H. Reitz], Historie Der Wiedergebohrnen II, 1701, S. 82-89, Faks.-Nachdruck 1982; Grunsky, Jacob Boehme, 1956; E.H. Pältz, Art. Jacob Böhme, TRE 6, 1980; E.Benz, Der vollkommene Mensch nach Jacob Böhme, 1937; ders., Geschichtemetaphysik, 1935; ders., Prophet Böhme, 1959; G. Wehr, Jakob Böhme, 1971; s.a. seine Sammelbände; -zu Oetinger und Böhme: K. Leese, Von Böhme zu Schelling, 1927; W. A. Schulze, Oetingers Beitrag, 1957; ders., Der Einfluß Böhmes, 1956; H. Bornkamm, Pietistische Mittler, 1975. 149 Böhme, Drey Principien, IX 35 (II S. 97); ders., Antistiefelius, II 245 (V S. 263). 150 „Rad der Natur"; auf Böhmes Qualitätenlehre, die das Werden der drei Prinzipien näher darstellen, braucht und kann hier nicht näher eingegangen werden. 145
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Wissenschaft wären, ein ewiges Schweigen.151 Das ist Gott vor allem Anfang, der „Ungrund"152, das Unbegründete, Unabhängige. Nun aber ist Gott aus dem Schweigen hervorgetreten und hat geredet153 und redet noch, ein „Wort" (Gen 1, Joh 1). Er ist nicht, sondern er wird, er geschieht; terminus technicus Böhmes: Er „gebiert" sich - ewig.154 Böhme beschreibt dieses Geschehen -vereinfacht und in Grundzügen wiedergegeben· so: Das Eine, das Nichts, der Ungrund bedeutet keineswegs höchste Vollkommenheit, sondern, wie Grunsky155 herausgestellt hat, höchste Bedürftigkeit. Wäre es vollkommen, hätte es keine Sehnsucht. Es liegt aber „im Nichts . . . ein ewiger Wille zur Offenbarung"156. Dieser Wille des Vaters gebiert (oder schafft oder offenbart) die ewige Natur (in Gott) als das „I. Prinzip": Die Finsternis oder „Finster-Welt" oder die Härte157, das Feuer oder den Zorn und Eifer des Vaters.158 Dieses angstschaffende Prinzip der Finsternis verursacht die Geburt des „II.", des sanften und empfindlichen Prinzips: Des Lichts oder des Sohnes oder seines „Herzens", das „das Feuer zur Freudenreich machet"159. Nicht, als ob diese zwei Prinzipien in Gott aus dem Nichts entstanden wären! Sie, Finsternis und Licht, befinden sich aus einem nicht zu ergründenden Ge131
Böhme, Clavis 2. 13; auf die mannigfaltigen geistesgeschichtlichen Verknüpfungen Böhmescher Gedanken kann hier ebenfalls nicht eingegangen werden, etwa hier bei der Vorstellung des heiligen Schweigens, welches in der frühchristlichen Literatur ζ. B. in den Ignatius-Briefen einen bestimmenden Niederschlag gefunden hat. 152 „das Nichts in Gott", der „Ungrund" (ders., Antistiefelius, II 145.146 (V S. 233f.)). 153 „Der Vater ist der ewige Anfang, und der Sohn ist das ewig Angefangene, als die Offenbarung des Geistes, der Vater heisset: U n d der H. Geist ists, der den Vater durch den Sohn offenbaret, mit der weiten ausgesprochenen Weisheit, aus dem Hall, den der Vater mit dem Sohn gebieret, der Sohn ist des Vaters Hall oder Wort: Die Creatur ist das lautbare geoffenbarte Wort, dadurch der Vater in der ewigen Gebärung seines H. Wortes hallet und spricht." (Ders., Antistiefelius II 516; vgl. a. 144 (V, S. 337.233)). 154 „Denn das gantze Göttliche Wesen stehet in steter und ewiger Geburt". (Ders., Drey Principien, IX 35 (IIS. 97)). 155 Boehme, S. 75f.79. 156 Böhme, Antistiefelius II 145 (V, S. 233). 157 „Die erste Eigenschaft ist die Begierlichkeit, gleich einem Magnet, als die Einfaßlichkeit des Willens, da der Wille etwas seyn will, und hat doch Nichts, daraus er ihm etwas mache; so führet er sich in eine Annehmlichkeit seiner Selbsten, impresset und fasset sich selber zu einem Etwas; und das Etwas ist doch nichts, als nur ein scharfer magnetischer Hunger, einer Herbigkeit, gleich einer Härte, davon auch Härte, Kälte und Wesen entstehet. Dieses Impressen oder Anziehen beschattet sich selber, und machet sich zur Finsterniß, welches auch der Grund der ewigen und zeitlichen Finsterniß ist: Durch diese Schärfe ist im Anfang dieser Welt entstanden Saltz, Steine, Beine und alles was deme gleichet." (Ders., Clavis 38 (IX S. 87)). 158 „Das erste und größte Mysterium ist der Abgrund; da sich das Nichts in einen Willen einführet, der Vater heisset, oder der Urständ zum Etwas. Aus dem Mysterio des Vaters ist die Schöpfung durch die Natur geurständet." (Böhme, 40 Fragen, Fr. 1, 120 (III S. 34); vgl. a. ders., Tafeln, 27.33. (IX S. 63.65); zu den Drei Prinzipien s.a. Piepmeier, Art. Materie IV.2.: Böhme, in: H W P 5, Sp. 914-916). 159 Böhme, Antistiefelius, II 246.66 (V, S. 263.217).
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heimnis160 von Ewigkeit her und auch in alle Ewigkeit161 in Gott. Aber sein Wille macht sie offenbar, indem er sich „faßlich macht" (greifbar). Wollte Gott nicht das Licht, wäre auch keine Finsternis!162 In dieser Polarität spricht Gott sein Schöpfungswort163 „Fiat"164: „Das Licht scheint in der Finsternis"165 (Joh 1,5). Das ist die Gebärung des „III." Prinzips, des Prinzips unserer Welt und166 des Heiligen Geistes, „welcher aus des Vaters Feuer und Licht ewig ausgehet"167. „Diese sichtbare Welt ist ein Gleichnis des ewigen Mysterii, daraus Freud und Leid, Licht und Finsterniß urständet, durch welches ewiges Mysterium sich der Geist der Drey-Zahl in Dreyfaltigkeit offenbaret, und in drey Principia einführet. . . . Nemlich (1) in die finstere, kalte und Feuer-Welt als in Abgrund des Mysterii; und dann zum (2) in die Göttliche Licht-Welt der Freuden reich; (3) Mit einem Gleichniß der finstern, Feuer- und Licht-Welt, als mit dieser äußern, sichtbaren und Elementischen Welt, in welcher Er der ewigen Welt Vorbilde gebieret in Bösem und Gutem wie an allen Creaturen dieser Welt, auch an Sternen, Elementen, Kräutern und Bäumen zu sehen ist, wie alles ein Contrarium wieder einander ist, und doch die Geburt alles Lebens in solchem Contrario stehet; Ein jedes Leben stehe in Bös und Gut"168. Im III. Prinzip kommt Gottes Wille169 zum Ziel: Seine Offenbarung „mit" der durch das Fiat geschaffenen materiellen Welt.170 Sein Wille -wie aller Wille- sucht sich eine
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S.o. das Zitat in Anm. 158. Ders., Drey Principien IX 40 (II, S. 99). 162 „Als wie oft gemeldet, GOtt ist das Wesen aller Wesen, darinnen sind zwey Wesen in einem (ewig) ohne Ende und ohne Herkommen, als (1) das ewige Licht [das II. Prinzip], das ist GOtt oder das Gute; und dann (2) die ewige Finsterniß [das I. Prinzip], das ist die Quall; und wäre doch keine Quall darinnen, wenn nicht das Licht wäre. Das Licht machet, daß sich die Finsterniß ängstet nach dem Licht, und dieselbe Angst ist GOttes Zorn-Quall oder höllisch Feur, darinnen die Teufel wohnen, davon auch sich GOtt einen zornigen, eiferigen GOtt nennet. Das sind zwey Principia, da wir von ihrem Urkunde nichts wissen". (Ders., Drey Principien IX 30 (II, S. 95); vgl. a. ders., Clavis 39 (IX, S.87)). 163 Ders., Antistiefelius II 516 (V, S. 337); zitiert o. in Anm. 153. 164 S. Goldammer, Art. Fiat, HWP2, Sp. 945 f. 165 „Also auch ist die ewige Geburt; da von Ewigkeit ist immer erboren worden die Kraft, und aus der Kraft das Licht; und das Licht ursachet und machet die Kraft, und (die Kraft und) das Licht scheinet in der Finsterniß, und machet den sehnenden Willen im ewigen Gemüthe, daß der Wille in der Finsterniß gebieret die Gedancken, und die Gedancken die Lust und Begierlichkeit: und die Begierlichkeit ist das Sehnen der Kraft, und in der Kraft Sehnen ist der Mund, der spricht aus das Fiat, und das Fiat machet die Materiam, und der Geist der in der Kraft ausgehet zerscheidets..." (Böhme, Drey Principien IX 36 (II, S. 97); vgl. a. ders., Clavis 23 (IX (XVIII) S. 84)). 166 Ders., Tafeln35 (IX (XVIII), S. 65). 167 Ders., Antistiefelius II 59 (V, S. 216). 168 Ebd. 52f. (V, S. 214f.). 169 Ders., Drey Principien, IX 35 (II, S. 97). 170 „Und hat GOtt das dritte Principium darum erboren, daß Er mit der materialischen Welt offenbar würde". (Ders., Drey Principien, V16 (II, S. 52)). 161
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Form zu geben, zielt auf Konkretion, auf das „An-Wesen", auf Leiblichkeit.171 Die Polarität des Lebens172, das Contrarium 173 von Gut und Böse, von Angst und Freude, Ja und Nein, erklärt Böhme als notwendige Prinzipien nicht nur unserer Existenz, sondern aller Wesen, ja sie findet sich auch in der Tiefe der Gottheit. Im Menschen als dem Bild Gottes174 spielt sich gleichnishaft175 der Prozeß der ewigen Geburt in der Gottheit ab. Darin wird allerdings zugleich die Gewichtung in der Kontrarität der zwei ersten Prinzipien auch für die Schöpfung (das III. Prinzip) deutlich: Zwar ist die „FinsterWeit" die unabdingbare176 Grundlage allen Werdens überhaupt, doch soll der Wille weiter fortschreiten, um im II., dem sanften, gütigen Prinzip, der Wieder-Geburt, Ruhe zu finden. Ein solcher, im II. Prinzip gefaßter Wille hat als steten Hintergrund oder Folie die Finsternis und als Ziel die Verklärung des An-Wesens (III. Prinzip, Materialität). Wenn Oetinger zwar im Moment, und das heißt wohl auch: intuitiv, alle seine philosophischen Ideen durch Böhme widerlegt sah177, mag es noch eine ganze Weile gedauert haben178, bis sich diese Entwicklung auch in seinem Bewußtsein tatsächlich vollzog. Sie war aber nicht mehr aufzuhalten.
3. Die
„Grundbegriffe"
Seit etwa 1725 war Oetinger mit dem dynamischen179 Denken Jacob Böhmes konfrontiert. Zunächst brach ihm sein „vorweltliches Schema" zusammen. Dann wurden seine Zweifel, ob denn auch Jesus und die Apostel der Monadologie ähnliche Vorstellungen zur Grundlage ihrer Gedanken gehabt hätten180, durch Böhme nur noch genährt, zumal dessen Philosophie allein 171
Ebd. I X 35f. (II, S. 97f.); Grunsky, Boehme, S. 81 f. B ö h m e , D r e y Principien, X 14 (II, S. 106); ders., 177 Fragen, 12, 12 (IX S. 37); 3, 2 (S. 6). 173 Ders., Antistiefelius, II 58 (V, S. 216). 174 Ebd. II 339 (V, S. 288). 175 „Also ist auch die Gleichniß G O t t e s der Mensch in seinem Innestehen gewesen, und v o n G O t t also aus dem Wesen aller Wesen, in ein Bild nach d e m Wesen aller Wesen geschaffen w o r d e n " . (Ebd. II 64 (V, S. 217); vgl. a. II 5 2 - 5 4 (V, S. 214f.)). 176 Vgl. Grunskys tiefsinnige D e u t u n g des I. Prinzips als der Tragik aller menschlichen Verwirklichungen, die sich (zunächst) i m m e r gegen den Träger des Willens richten, ζ. B. in der Technik; s.a. das Zitat Berdjajews ebd. (Grunsky, Boehme, S. 133f.). 177 Oetinger, Genealogie, S. 37. 178 Ebd., S. 40f. macht deutlich, daß Oetinger auch nach der Entdeckung Böhmes die ganze Problematik seines „vorweltlichen Schemas" mit Freunden durchgesprochen hat (,Jahr und Tag"). In seiner Schrift AUFMUNTERNDE GRÜNDE (1731), S. 172 nennt er die Dauer v o n einem Jahr, s. das Zitat o. A n m . 143. 179 Vgl. Grunsky, Boehme, S. 101-109. 180 Oetinger beschwor einmal den Tübinger Theologen Gottlieb Israel Canz (1690-1753), den späteren Verfasser des Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia (1728), ob er sich darüber sicher sei. A u f die bohrenden Fragen hin antwortete er mit , j a " , Oetinger, 172
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schon durch die ständigen Bibelzitate und die Nähe zur jüdischen Mystik mehr von der geforderten „Zusammenstimmung" 181 mit der Heiligen Schrift zeigen mußte. So wird nun auch Jacob Böhme mit hineingenommen in eine große „Prüfung". Auch er wird auf seine „Grundbegriffe" hin befragt. In der GENEALOGIE berichtet Oetinger auf dem Hintergrund der Begegnung mit Böhme zusammenfassend von den Ergebnissen seiner Auseinandersetzung mit der Monadenlehre.182 Doch ist dies nicht als nur historischer Bericht der Zeit zwischen 1725 und 1727, sondern vielmehr als seelsorgerlich-systematische Apologie vom Jahre der Abfassung her (1762) zu begreifen. - Hier sei versucht, diejenigen Momente und Voraussetzungen, die für Oetinger damals entscheidend waren, herauszustellen. Für die - cartesische - Mathematik scheint Oetinger keinen besonderen sensus gehabt zu haben. Er „begründete" dies damit, daß er sehr von „theologischen Überlegungen eingenommen" gewesen sei, nämlich über die „Herrlichkeit Gottes", und daß die Beschäftigung mit der Mathematik demgegenüber zurückstehen mußte.183 Man habe ihn deswegen für melancholisch gehalten.184 Obwohl Oetinger „in die Leibniz'sche Monadenlehre ganz eingetaucht" war, hat sie ihn auf Dauer nicht tiefer einnehmen können. Es war ihm offensichtlich nicht möglich, die „Herrlichkeit Gottes" in der Wolffschen Interpretation durchscheinen zu sehen. Auch der kosmologische Gottesbeweis aus der prästabilierten Harmonie vermochte ihn nicht zu faszinieren. Daraus ist zweierlei zu schließen. Erstens. Von der „idealistischen" Voraussetzung der Trennung von Geist und Körper, die zugleich die Voraussetzung des Leibnizischen Gottesbeweises ist, war Oetinger nicht ohne Vorbehalte durchdrungen. - Aus dem Bisherigen zu schließen könnte Oetingers ganzheitlich erlebtes, mystisches Kindheitserlebnis185 einen Anteil daran haben. Ein weiterer, größerer Anteil kommt wohl seiner Krankheit186 im Jahre 1721 zu, während der er eigene körperliche Defizienz erfuhr, aber sich im Gegenzuge an den Aussichten vollkommener Leiblichkeit in dem letzten Kapitel der Offenbarung „er-
Genealogie, S. 42. (Die GENEALOGIE-Ausgabe 1824 (S. 466) spricht v o n „Professor Lang", ein Lesefehler des in deutscher Schreibschrift geschriebenen „Canz".) Hier tritt wieder Oetingers unmittelbares Bibelverständnis deutlich zutage. 181 Oetinger, A u f m u n t e r n d e Gründe zu Lesung der Schriften Jacob Boehmens (1731), S. 172. 182 Oetinger, Genealogie, S. 41-46. - „Das alles schreibe ich, damit m a n sehe, wie sehr m a n umgetrieben wird, bis m a n jetziger Zeit auf die Grundbegriffe der Apostel k o m m t , welche doch an sich so leicht sind". (Ebd. S. 45, zitiert nach der Ausgabe 1845/51, S. 38). 183 Oetinger, Genealogie, S. 35 - „Die mathematische Philosophie [das Denken in Quantitäten] hilft nur zum Fortgang der Welt, aber sie verfehlt des Lebens." (Oetinger an Castell. 1748, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 570 N r . 189). 184 S . u . S. 121. 185 S . o . S. 20ff. 186 Oetinger, Genealogie, S. 27; s. o. S. 22.
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quiekte", wie er in einer Predigt am Ostermontag 1775 erzählt187. Dieser Bericht weist auf das früheste Bedeutsamwerden der „Leiblichkeit" für Oetinger hin! Schon vor der Bekanntschaft mit Böhme hat dieses Thema Oetingers Aufmerksamkeit erregt. Es ist verständlich, daß nun Böhmes Philosophie bei ihm auf fruchtbaren Boden fällt. Zweitens. Oetinger hat sich eine Existenz in oder aus der reinen Intellektualität („Vernunft") der Wolffschen Philosophie nicht als wahres Sein, Leben vorstellen können oder erlebt. - Später trat der Gedanke der Nützlichkeit, bei Oetinger ein Prüfstein für die Nähe zum „Leben", in den Vordergrund: Reine Intellektualität - Wolffs praktisch-psychologische Erwägungen ausgenommen - kann den Menschen nicht bessern, geschweige denn zur Freude und Liebe, die aus dem Glauben kommen, führen.188 Denn „Leben" meint bei Oetinger mehr als nur „Praxis", so ist auch sein Nützlichkeitsdenken189 mehr als nur Utilitarismus, wenn er auch in dieser Hinsicht mit Tendenzen der Aufklärung übereinstimmt. - Er bestreitet den aufklärerischen Anspruch, daß man mit der Vernunft die Welt und das Leben beherrschen könne. Und offensichtlich ist er auch nicht der optimistischen Meinung, daß man im Beschreiten vernünftiger Wege schließlich an Gott gewiesen werde.190 Dagegen sprachen Oetingers programmatische191 psychologische Erfahrungen, daß Intellektualität immer nur einen Bereich des Menschen anspreche und dieser durch verdeckte Interessen stets gefährdet und oft korrumpiert sei. Die Grundzüge des Systems Böhmes eignete Oetinger sich zunehmend an und blieb ihm auch zeitlebens treu. Hier fand Oetinger die Übereinstimmung mit der Bibel, genauer mit „Jesus und den Aposteln". Diese häufige Formel Oetingers mit Hinweis aufjoh 1 begegnet programmatisch auch bei Böhme, so daß auch in der Formulierung ein Einfluß Böhmes auf Oetinger 187
„In den Tagen meiner Jugend, da ich Alumnus in Bebenhausen war, schickte die Verordnung GOttes eine gefährlich aussehende Unpäßlichkeit über mich, daß ich ein halbes Jahr in meiner Vaterstadt bleiben mußte. Ich war damal schon völlig dem HErrn ergeben . . . Die Unpäßlichkeit war nicht gros, doch dahin eingerichtet, daß ich viel auf dem Feld allein gehen konnte . . . Das letzte Capitel heiliger Offenbarung war meine einige Erquickung . . . Ich wunderte mich am meisten über die Leiblichkeit, womit die himmlische Vorwürfe umgeben waren. . . . Ich nahm die Worte für gewiß und unverblümt wahrhaftig an. . . . So leiblich, so körperlich diese Dinge der Offenbarung sind, . . . so geht es uns, die höchsten Dinge werden uns alt: darum ist G O t t so sparsam, uns die hohe Sachen zu viel zu sagen. . . . Es ist nun über die 50 Jahre, daß ich diese Dinge mit unverwandten Augen angesehen, nichts konnte mich abbringen . . . N u n sehe ich erst von dem Α meiner Jugend in das Ο meines 73 Alters." (Oetinger, Grundbegriffe (1776) I, S. 300f.: Predigt am Ostermondtag = ders., Leben und Briefe (1859), S.21f.). 188 Oetinger: Die Wolfische Philosophie mit der Philosophie Jacob Böhms verglichen, in ders., Swedenborgs Philosophie (1765) II, S. 156ff., bes. S. 158.168f.174f. 189 S.u. S.248ff. 190 Äußerungen Oetingers, die anscheinend das Gegenteil ausdrücken, haben einen anderen, nämlich dessen eigenen Begriff von Philosophie zur Voraussetzung, vgl. ζ. B. das zustimmend zitierte Wort Bacons in Oetinger, Philosophie der Alten II (1762), S. 91. 191 S.o. S. 21.25.
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zu vermuten ist.192 Aber nicht nur dies, sondern sein unentwegtes193 Bemühen, endlich die Grundbegriffe Jesu und der Apostel -und damit nach Oetingers Vorstellungen der Philosophie überhaupt- zu finden, kamen zum Ziel. Die grundlegende Bedeutung klarer Begrifflichkeit war ihm schon zu Beginn des Studiums eingeprägt worden. Descartes nannte die „Urbegriffe" (notions primitives) den Ausgangspunkt aller Philosophie, Malebranche waren diese „eingeborenen Ideen" Garant der Wahrheit, und nach Wolff hängt die Gewißheit der Erkenntnis neben anderen Faktoren vor allem von deutlichen Begriffen ab.194 Oetinger hatte diese Forderung nun an ein System gestellt, das keine Trennung zwischen Weltweisheit und Weisheit der Heiligen Schrift kennt. Kurz nach Verfassen seiner Autobiographie 1762/63, während einer schweren Krankheit, beschließt Oetinger „Vor den Pforten der Ewigkeit" sein als Vermächtnis gedachtes Philosophen-Manuskript, das nun als II. Teil von SWEDENBORGS UND ANDERER PHILOSOPHIE (1765) vorliegt, mit den Worten: „Mich dünckt offt: Jacob Boehmens Bücher enthalten eine Philosophie . . . Der Grund ist nach Ezechiel und nach H. Schrifft gewiß, aber was gehört zum Grund? Antwort: Was in jeder der Philosophien auch Grund heißt, nämlich die Entstehung und Geburt geistlicher und leiblicher Dinge zu erklären, und zu wissen, was Christus und die Apostel für letzte Notionen von der Seele gehabt. Da ist offenbar, daß das Licht in der Seele kan zu Finsterniß werden, und die Finsterniß zu Licht. " I 9 5
Für die drei Prinzipien allen Werdens berief sich Böhme häufig auf die ersten Verse des Johannes-Evangeliums,196 in denen in Begriffen des Licht192 „Mein Buch hat nur 3 Blätter, das sind die 3 Principia der Ewigkeit; darinnen kann ich ales finden, was Moses und die Propheten, so wol Christus und die Aposteln geredet haben." (J. Böhme, Theosophische Send-Briefe, 12,15, an Caspar Lindner (Beuthen), 1621, ( I X ( X X I ) S. 46); vgl. a. ders., Tafeln, 45 ( I X ( X I X ) S. 67)). „Der Evangelist schreibet vom Urkunde der Wesen und Geschöpfe dieser Welt also gantz hoch und recht, als man sonst in keiner Schrift in der Bibel lieset: Im Anfang war das W o r t . . . " [Es folgt das Zitat von J o h 1 , 1 - 5 nach Luther] (Böhme, Drey Principien, 8,17 (II, S. 78)). 193 S. o. S. 38. 194 Cassirer, Aufklärung, S. 123-128; Hirsch, Geschichte, II S. 53; s. o. S. 37. 195 Oetinger, Swedenborgs Philosophie II (1765), S. 367 (Hervorhebungen W-M); parallel dazu: ders., Lehrtafel (1763), S. 209: „Der Philosophen Systemata geben dem Verstand nie keine Genüge, propter hiatus. Hiatus sind dreyerlei Systematis. Denn Malebranche, Wolff, Ploucquet, wollen alles aus dem Idealismo; Bagliv und die Medici aus dem Materialismo, als zwey extremis, deduciren. Neuton, Cluver und Swedenborg, participiren von beyden, und treffen es doch nicht. Wenn man J a c o b B ö h m könnte in deutliche Sätze bringen, so würde seim System der Seele die meiste Beruhigung geben. Man muß noch ferner arbeiten . . . Die Heil. Schrift und die Worte JEsu geben mehr Beruhigung, als die allerdeutlichste Philosophie. JEsus wird groß durch die Betrachtungen. Wo man nicht auf der proprietate Verborum Dei besteht, so ist kein wahrer Fried in der Seele." 196 „Für alles, was geworden ist, war in ihm das Leben, und das Leben war das Licht der
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Finsternis-Dualismus und des „ewigen Worts" gedacht wird. L i c h t und Finsternis, das also waren die „Grundbegriffe", die Jesus und die Apostel ihrer Lehre zugrunde legten. 197 - Der Begriff des Lebens (Joh 1,4), der als zusammenfassender Begriff für die Wesenheit der beiden ersten Prinzipien benutzt werden kann, aber auch speziell für das III. Prinzip198, wurde erst später von Oetinger besonders hervorgehoben und sollte noch ganz grundlegende Bedeutung 199 erlangen. Wie wichtig Oetinger diese „Grundbegriffe" waren, zeigt der Stich von Jacob Andreas Friedrich aus dem Jahr 1767, der Oetinger mit Bibel, Globus und Retorten zeigt: Senkrecht zwischen den Retorten steht in zierlicher Schrift „Licht aus Finsternuß l.[recte: 2.] Cor. 4. v. 6 . " Dieser Stich findet sich in mehreren Predigtausgaben Oetingers. 1993 Für Oetinger gab es keine Möglichkeit mehr, den Grundzügen der ihrem Siegeszug entgegengehenden Wolffschen Philosophie zuzustimmen. Grundsätzlich erkannte er nichts „Einfaches" an. A l l e s konkret Existierende sei zusammengesetzt aus den Prinzipien des Streits, die das Werden ermöglichen; so gibt es keine „Monaden". Die Ablehnung Wolffs verschärft sich später mehr und mehr. Im „Idealismus" 200 sieht Oetinger das Grundübel. Vom Ausgangspunkt der gerade entdeckten „Grundbegriffe Jesu und der Apostel" macht er sich nun auf den Weg, ein konstruktives System christlichen Denkens zu suchen und aufzubauen. Rückblickend stellt Oetinger fest: Hätten unsere Doctores nicht zu viel auf der Fidel der Hoffart gegeiget,
sondern auf der
Propheten und Apostel Geigen, so sollte wohl eine andere Philosophie in der Welt seyn. Wer
Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, aber die Finsternis hat's nicht begriffen." (Joh l , 4 f . ) . 197 „Besser ist es vom Heiland die Grundbegriffe des Lichtes und der Finsternis anzunehmen, die er in voller Harmonie mit den Propheten und Aposteln [Eph 2,20] gebraucht". (Oetinger, Genealogie, S. 44). .Jesus Christus allein sollte euch die erste Grund-Gedancken zu recht stellen, seine GrundGedancken seynd Wort, Leben, Licht, Finsterniß..." (ders., Lehrtafel (1763), S. 138). ,JEsus Christus lehret im Ev. Johann, die rechte Grund-Ideen, die keiner von sich selbst finden k a n . . . Man muß die Worte deß wegen annehmen, weil sie JEsus und Johannes als die äusserste Gräntzen der Gedancken-Form erwählet, ob sie schon nicht ganz verständlich seynd." (ebd., S. 363.364). Finsternis (I.) - Licht (II.) - Leben oder Geist (III.): Joh l , 4 f . J . A. Bengel hat daran wesentlichen Einfluß ausgeübt, s.u. S. 148f. O b bereits der Tübinger Kanzler C. M . Pfaff „die Grundbegriffe der Apostel und Propheten" in ähnlichem Sinn verstanden hat, wie Kolb (Aufklärung, S. 4) meint, ist zweifelhaft. 199a Zum Stich Friedrichs vgl.: „Portrait ist noch nicht da. Friederich in Augsburg will es erst corrigiren nach dem großen Portrait." (Oetinger an Harttmann, Murrhardt, 16.5.1766, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 687). „ . . . mein Portrait ist fertig. . . . Bin nicht getroffen. Es trifft mich keiner. Der Maler hier hat mich noch weniger getroffen. Sie sagen, wenn ich nicht rede, so sehe man mich nicht, sondern ein sombres Bild. Hier haben sie ein Müsterlein." (Oetinger an Krafft, (1767), in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 703). 2 0 0 S . o . S. 31 ff. 198
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nun weiter nach diesem Grund mit geradem Herzen, ohne sich auf die Mode- Wissenschaft hinreissen zu lassen, forschen will, wird mehrfinden, als ich hier schreiben kann.201
4. Studien zur zukünftigen
und doch uralten „Heiligen
Philosophie"
Oetingers 1725 beginnende eigene konstruktive Arbeit bestand im systematischen Studium der Kirchenväter und mittelalterlicher Rabbinen, begleitet von den beginnenden Beziehungen zu Johann Albrecht Bengel202. Sie veranlaßten Oetinger zur Beschäftigung mit den Propheten und der biblischen Apokalyptik.203 Mit Bengel, seit 1713 Klosterpräzeptor der Klosterschule in Denkendorf, hatte Oetinger bereits über seinen Kommilitonen und engen Freund Jeremias Friedrich Reuß204 (1700-1777), der auch mit zum „philosophischen Kreis" gehörte, Kontakte. Dieser war als Bengels ehemaliger Schüler dessen „Berichterstatter" über Vorgänge an der Tübinger Universität. Oetinger schreibt, Reuß habe ihm Bengels Briefe stets zu lesen gegeben „von der ersten Zeit an, als er schrieb: ,Ich habe mit des Herrn Hilfe die Zahl des Tieres [Apk 13,18] gefunden'", also ab 1725.205 Im Jahr 1727 verließ Reuß Tübingen und nahm eine Stelle als Hofmeister an; Oetinger wurde nun Bengels „Berichterstatter". Die Verbindungen mit Bengel wurden enger, Oetinger schätzte ihn sehr hoch.206 Mit Bengels behutsam vorgetragenen apokalyptischen Ideen identifizierte er sich sogleich. Oetingers Biblizismus hat durch diese Kontakte wesentliche Förderung erlangt. Die Bibel ist für Oetinger selbstverständlich Voraussetzung und Ausgangspunkt christlicher Theologie wie der Philosophie - und des praktischen Lebens. Darüberhinaus ist Oetinger wichtig, daß sich dieser Ausgangspunkt in Gestalt von Begriffen festmachen läßt. Zwar weiß auch er, daß die Bibel „nicht so geschrieben" ist, „daß man nichts einwenden kan",207 aber sie enthält „Worte", die die Menschen zu aller Zeit „gesund zu machen" imstande sind. Solche „heilsamen Worte" (1 Tim 6,3 u. ö.) sind Oetinger die „Grundbegriffe" der Heiligen Schrift; sie dürfen bei Verlust der Wahrheit und der Gewißheit nicht verändert,208 müssen aber erläutert werden. Die 201
Oetinger, Herabkunft (1769), S. 43; vgl. Hermann, Bengel, S. 445. Oetinger erhoffte sich von Bengel Hinweise und Hilfe für seine „studia und privata", Oetinger an Bengel, Tübingen, 16.4.1727, hrsg. v. Burk (1836), S. 164; Oetinger, Leben und Briefe (1759), S. 429 [dt.]. 203 Ebd.; Oetinger an Bengel, Tübingen, 13.5.1727, in Oetinger, Briefe (hrsg. v. Burk, 1836), S. 165f.; Oetinger, Leben und Briefe (1759), S. 431 [dt]. 204 Oetinger, Genealogie, S. 34.97; s. Oetingers Briefe aus den Jahren 1764, 1769 und 1770. 205 Oetinger, Genealogie, S. 38. Das Zitat stammt aus dem Brief Bengels an Reuß vom 22.12.1724 (hrsg. v. Burk, 1836, S. 265; vgl. Mälzer, Bengel und Zinzendorf, S. 23). 206 Oetinger, Genealogie, S.40.39. 207 Ders., Swedenborgs Philosophie II (1765), S. 368; ders., Anleitung Hl. Schrift (1738), S. 3f. 208 „Wenn jemand anders lehrt und bleibt nicht bei den heilsamen Worten unseres Herrn Jesus Christus [Oetinger: und der Apostel], [der hat] ... zerrüttete Sinne und [ist] der Wahrheit beraubt" (lTim 6,3.5; diese Stelle und lTim l,6f. sowie IPetr 3,15 werden loci classici 202
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Bedeutung, die Oetinger den „richtigen" Grundbegriffen zumißt, läßt darauf schließen, daß hier schon sein universales Konzept von Philosophie vorliegt. Oetinger wird - sicher nicht ohne Enthusiasmus - der Meinung gewesen sein, nun den Schlüssel zur Reformierung der Philosophie und Theologie und damit aller Wissenschaften gefunden zu haben. Eine solche Philosophie müsse nun ausgearbeitet werden. Daß sie in der Lage wäre, auch das „gesellschaftliche Leben", die Politik und die Wirtschaft zum Besseren zu kehren, - diese Ausweitung209 lag hier wohl noch nicht in seinem Blick, bis dahin führt aber ein kontinuierlicher Weg durch Oetingers PhilosophieIdee. Eine solche, noch zu schaffende Philosophie, die die „heilsamen" Grundworte der Heiligen Schrift zu ihren Grundbegriffen macht, wird „Heilige Philosophie".210 Oetinger weiß sich auf dem Weg zu ihr. Dazu vertiefte er sich zunächst, wie die GENEALOGIE darstellt,211 in das Studium der Kirchenväter und der altchristlichen Literatur überhaupt, um die Verarbeitung und Auswicklung der „Grundbegriffe der Apostel", jener durch Jesus sanktionierten Sprach- und Denkweise, in den verschiedenen Theologien kennenzulernen. Ältere Quellen, die bereits drei Jahrzehnte vor Abfassung der GENEALOGIE erschienen waren, bestätigen Oetingers systematisches Studium.212 Er beobachtete, wie die Grundbegriffe Jesu durch die Philosophie verdorben werden, indem sich durch Aufnahme gnostischer Ideen der christliche Glaube vergeistigte. Oetinger sah hier zwischen der Kampfsituation, wie sie deutlich im 1. Johannesbrief zum Ausdruck kommt, und seiner jetzigen, durch die Philosophie der „Wolffianer" bestimmten Lage eine Übereinstimmung. Wie der Doketist Kerinth213 (um 100), so würden auch die Wolffianer die Materie und somit auch die Leiblichkeit des fleischgewordenen Logos nur für eine „Erscheinung", für mindere Realität, halten214. Unverständlich bleibt zunächst das Lob, das Oetinger Augustin spendet, der „sehr schöne Grundbegriffe" habe und aus dem Plato „sehr hell hervorleuchte. "215 Das erscheint merkwürdig, weil gerade Oetingers für die Ablehnung der Schrift-Grundbegriffe. Vgl. ζ. B. die zwei Erklärungen an die Pastoral-Konferenzen: - Am 28.9.1742, in Oetinger, Leben und Briefe (1759), S. 1 6 8 ; - i m j a h r [1757], in Oetinger, Briefe (hrsg. v. Hoenes, 1883), S. 3; ferner: Oetinger, Genealogie, S. 45). 209 Später äußert Oetinger diese in der früheren theologischen Forschung fast regelmäßig übersehenen Gedanken explizit. 210 Oetinger, Genealogie, S. 57. 211 Ebd., S. 46ff. 212 ders., Aufmunternde Gründe (1731), S. 172; ders., Herunterlassung (1735), S. A 102. 213 Ders., Wiedergeburt (1735), S. 135; Oetinger, Genealogie, S. 14.47. „Cerinthus und Mahomed . . . sagten, JEsu Leib habe nur einen Schein des Leibes gehabt . . . Und diß sagen nicht nur die Wolfischen Weltweisen..." (Oetinger, Grundbegriffe I (1776), S. 315: Predigt an Quasimodogeniti = ders., Leben und Briefe (1759), S. 374 Nr. 58). „Wolff glaubt, die Leiber seien nur Scheinleiber, Phaenomena regulata, und damit fallen sie wieder in die Lehre Cerinthi" (Oetinger, Wörterbuch (1776), S. 37: Art. Antichrist; s.a. ebd. S. 97: Art. Bund). 214 Oetinger, Genealogie, S. 47. 215 Oetinger, Genealogie, S. 48.
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Piatos Philosophie in ihrer Grundstruktur nicht so weit von jener mit dem neuen Begriff der „Idealistischen Philosophie" benannten entfernt scheint. 216 Methodisch merkt Oetinger noch an, daß er sich einen Zettelkasten über die loci communes der Kirchenväter angelegt habe, wobei er besonderes Augenmerk auf die jeweiligen Grundbegriffe, ihr Verhältnis zu denen der Heiligen Schrift und auf die „Schreibart" gelegt habe. 217 „Denn ohne diß nüzt das Lesen der Kirchenväter fast gar nichts; denn wer sich rühmt, die Väter gelesen zu haben, und hat die Reminiscenz ihrer Grundideen in Vergleichung gegen der Schrift nicht in sich, der ist in den Vätern nicht zu Hause. Man kann ohne diß wohl postillenmäßig in den Vätern lesen, aber das trägt zur Weisheit Jesu Christi nicht viel bei." 218 Als ein „zweites Hilfsmittel" zum Studium der Theologie zählt die GEneben der Lektüre der Kirchenväter die Beschäftigung Oetingers mit rabbinischen philosophischen Schriften, vor allem solchen kabbalistischer Tradition, also Werke, die im ausgehenden Mittelalter (nach 1250) entstanden sind. 219 Ein erstes Studium des großen kabbalistischen Hauptwerks Sohar hinterließ bei Oetinger einen tiefen Eindruck. Weitere jüdische Denker, die er studiert hat, waren: der Systematiker Josef Albo (1380-1440), der Gegner der Karäer Saadja ben Joseph Gaon (892220 - 942), Jizchak Abravanel (1437-1508), Michlal Jophi und Rabbi Bechai. Oetinger war bestrebt, weiter in die Kabbala einzudringen, unterließ es jedoch mangels einer kundigen Einweisung. Erst später kam er wieder dazu. 221 NEALOGIE
In den Jahren 1727 und 1728 -eingegrenzt von zwei größeren Krankheiten, die er zu Hause in Göppingen auskurierte- betätigte sich Oetinger als Hauslehrer seiner drei jüngeren Brüder in Tübingen 222 , bis er sich schließlich im Herbst 1729 auf seine erste Bildungsreise begab.
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S. o. S. 32; „An diesem ganzen Elend ist die mißverstandene [!] Platonische Philosophie schuld." (Ders., Wörterbuch (1776), S. 96: Art. Bund). Oetinger nimmt nach einigen Entwicklungen eine interessante, differenzierte Position gegenüber Piaton ein. Er interpretiert ihn von Aristoteles her und spielt diesen gegen Leibniz aus! S. u. Anm. 5 zu S. 232. 217 Oetinger, Genealogie, S. 48. 218 Ders., Genealogie (1859), S. 50; unverständlich ist das Urteil A. Pilets, daß es Oetinger am „sens historique" gefehlt habe, so daß ihm der Zugang zur christlichen Lehre versperrt blieb (Oetinger, S. 63). 219 Oetinger, Genealogie, S. 49; hierbei beteiligte sich ein Bekannter, „Lektor Bernhard". Vgl. a. u. den Exkurs zur Kabbala S. 58 ff. 220 RGG 3 gibt als Geburtsdatum wohl irrtümlich „882" an (Art. Jüdische Theologie, Bd. IV, S. 1007). 221 - a u f seinen Reisen, s.u. S. 53ff. 222 Oetinger, Genealogie, S. 49f.; vgl. auch Oetingers Zeugnisse aus dem Tübinger Stift (Auszüge bei Oetinger, Leben und Briefe (1759), S. 57 Anm.). Dort werden Oetingers Privatstudien bestätigt. 1727-28 heißt es: „in rabbinicis se exercet"; „Informator domesticus...".
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III. Auf der Suche nach dem Leben. Reisen Diese erste, wie die beiden nachfolgenden Reisen, diente vor allem zwei Anliegen: Erstens gedachte Oetinger, Mitarbeiter für seine Idee der Grundbegriffe zu gewinnen, und zweitens war er auf der Suche nach „gegründeter Einigkeit", nach einer urchristlichen Gemeinde oder Gemeindeform, die nicht von menschlichen Traditionen oder Nebenabsichten, sondern allein von der Bibel als der Grundlage ausging.223 Zunächst aber trieb Oetinger ganz einfach die „Begierde zu reisen". Ziel sollte Jena sein, weil ihm sein Freund Reuß mitgeteilt hatte, daß dort „eine Erweckung wie in der Apostelzeit entstanden" sei.224 Die erste Reise vom Herbst 1729 bis Ende 1730 führte ihn über Frankfurt und Berleburg, das Refugium spiritualistischer Separatisten, nach Jena und Halle, wo er an den Universitäten und im Francke'schen Waisenhaus seine Absicht einer „Heiligen Philosophie" auf der Grundlage geheiligter Begriffe vortrug. Sein Anliegen stieß aber nicht auf Resonanz.225 Schließlich kam Oetinger am 5. April 1730 nach Herrnhut zu Zinzendorf. Aber auch dort fand er mit seiner Idee kein Echo. Jedoch nahm man ihn in der Gemeinschaft freundlich auf, und Zinzendorf hat ihn nicht wenig fasziniert226. Gemessen an den beiden Zielen, Mitarbeiter zur Ausarbeitung der Grundbegriffe zu finden und mit einer urchristlich organisierten Gemeinde227 in Kontakt zu kommen, war das Ergebnis dieser wie auch der anderen Reisen deprimierend. Andererseits erhielt Oetinger zwei Impulse, die ihn nachhaltig beeinflußt haben: einen erneuten Hinweis auf Jacob Böhme und die Begegnung mit Zinzendorf. 1. Kabbala und Böhmes Philosophie
Aufseiner ersten Station, in Frankfurt, kam Oetinger persönlich mit Christian Fende zusammen, den er vorher schon durch dessen Schriften228 und, wie die GENEALOGIE hier berichtet, durch Korrespondenz229 kannte. Fende machte Oetinger mit dem Kabbalisten Coppel Hecht230 bekannt. So konnte Oetinger, Genealogie, S. 55.71. Oetinger, Genealogie, S. 50. 225 S. Oetingers Briefe an Steinhofer 1736, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 476-507. 226 Oetinger, Genealogie, S. 58. 227 „Nun bin ich mit der Vorstellung von einer Apostolischen Gemeine, sogut ich sie mir . . . aus dem Wort GOttes habe vermählen können, ausgereist, und habe sie nach meinem Bild nicht können antreffen..." (ders., Herunterlassung (1735), S. A 116). 228 Ders., Genealogie, S. 33. 229 Ders., Genealogie, S. 50.- Der Briefwechsel muß zwischen 1722 und 1725 erfolgt sein und ist bisher nicht nachgewiesen. 230 Daß dieser Name sich nicht in der Enzyclopaedia Iudaica findet, braucht nicht zu verwundern. Die Kabbalisten waren oft unscheinbare Leute, Handwerker, die sonst nicht weiter in 223
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sich Oetinger endlich unter kundiger Anleitung über kabbalistische Probleme231 informieren, zumal ihm kurz zuvor232 von der Tochter des Johann Jacob Schütz eine Ausgabe der „Cabbala Denudata" Rosenroths233 verehrt worden war. Hecht eröffnete Oetinger die alte Tradition, daß Plato Schüler des Propheten Jeremia gewesen sei, der seine „Grundbegriffe" von diesem übernommen habe,234 - eine verständliche historisierende Erläuterung für den Sachverhalt, daß die Kabbala ohne neuplatonische Tradition nicht zu denken ist. Von daher ergibt sich auch Oetingers Hochschätzung Piatos, die erst später nachläßt. Jedoch bremste Hecht Oetingers Eifer für die Kabbala mit dem Hinweis auf Jacob Böhme, bei dem alles noch viel deutlicher zu finden sei. Dieser zweite Hinweis auf Jacob Böhme muß bei Oetinger großen Eindruck gemacht haben. Er ist darin bestärkt worden, die „Heilige Philosophie" nur unter besonderer Zuhilfenahme Böhmes finden zu können. Noch mit 64 Jahren steht ihm diese Begegnung lebendig vor Augen: .Jetzt weiß ich, daß wahr ist, was der große Kabbaiist Kappel Hecht in Frankfurt zu mir gesagt: J. Böhm ist über alle Kabbala. Was verachtet ist, hat Gott erwählet.1,235 Für Oetinger war dies zumal eine in Frankfurt lebendige Tradition: Philipp Jacob Spener (1666-1686 in Frankfurt), der einigen Einfluß aufJohann Jacob Schütz besaß, habe sich dementsprechend geäußert236. Erscheinung traten (Freundlicher Hinweis von Herrn Dr. P. Lapide, Frankfurt). Fehlanzeige auch bei A. Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden, 1907. 231 S. auch den Exkurs zur Kabbala S. 58 ff. 232 Nicht 1727, sondern erst im Herbst 1729 befand sich Oetinger das erste Mal in Frankfurt, wo er Maria Katharina Schütz kennenlernte; anders: Roessle in seiner Ausgabe der GENEALOGIE (1961/78) S. 125 Anm. 42; Beyreuther, Pietismus, S. 268. 233 Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689), Dichter des Liedes Morgenglanz der Ewigkeit (EKG 349), war Minister des Pfalzgrafen zu Sulzbach (Oberpfalz), Alchemist und Mystiker. Seine Cabbala Denudata (1677/1684) ist als Kommentar zum Sohar angelegt; vgl. Benz, Die christliche Kabbala, 1958. 234 Oetinger, Inquisitio (1752), Vorrede, unpag. fol.)(3; ders., Genealogie, S. 51; Oetinger, Lehrtafel (1763), S. 32; ders., Theologia (1765), S. X I ; ders., Metaphysik (1770), S.521; vgl. dazu Breymayer in Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. II S. 46. 235 Oetinger an Castell, 1766, in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 680 Nr. 560; vgl. Oetinger, Genealogie, S. 5 0 - 5 2 ; Oetinger, Lehrtafel (1763), S. 32. 236 Oetinger zitiert und verweist häufig auf Speners „Consilia Theologica" (1709) und „Theologische Bedencken" (1700ff.): „ . . . Speners allerernstlichster Wunsch . . . , da er zu GOtt betet, G O t t möchte tüchtige Leute erweken, welche sonnenklar darlegen, ob wir an Jacob Böhm einen göttlichen oder doch richtigen Lehrer haben", dem „unmittelbar" die „Philosophia sacra" „offenbart" worden sei. (Oetinger: Auszug aus ders., Wiedergeburt (1735), in ders., Güldene Zeit II (1761), S. 212; ebd. S. 51, worauf Oetinger in seiner Schrift HOHEPRIESTERTUM (1772), S. 55 verweist; ders., Lehrtafel (1763), S. 139f.283f.330.384f.403ff.; ders, Swedenborgs Philosophie (1765) II, S. 2: „Aber nach Speners Wunsch hat noch niemand Böhmen behandelt. Ich habe zu dem Ende diß Buch geschrieben"; ebd. S. 45.140.368ff. u. ö.; auch sonst sehr oft.). Zitate der fraglichen Stellen Speners s. bei Breymayer und Blaufuß. Spener sagt, er habe „von Böhme nur wenig gelesen und das Wenige nicht verstanden" (Helmut Obst, Böhme im Urteil Speners in: Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. II, S. 523); von einem besonderen Wunsch Speners nach Verdeutlichung der Lehren Böhmes kann nach dem Textbefund nicht die Rede sein.
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Jedenfalls benutzte Spener im Zusammenhang mit Böhmes Lehre den Begriff „philosophia sacra"237. Auch die Literatur zu Oetinger beschäftigte sich schon zu seinen Lebzeiten mit diesem Ereignis - zugleich das früheste Zeugnis literarischer Abhängigkeit von Oetingers GENEALOGIE -: „Ein sehr gelehrter und frommer in der Stille lebender Jude [Coppel Hecht], bei dem sich ein christlicher Philosoph [!, Oetinger] nach der ächten Cabbala erkundigte, sagte zu diesem, er könne der Mühe überhoben sein, solche bei den Juden zu suchen; die Christen hätten selbst einen Schriftsteller, der die alte Philosophie der Hebräer verstände, und er, der Jude, weiset zum Erstaunen des Christen Jakob Böhm's Schriften vor." 2 3 8 Im Anschluß an den Aufenthalt in Frankfurt begab Oetinger sich über Berleburg, Schwarzenau und Jena nach Halle, wo er bis Ende März 1730 als Dozent über seine Heilige Philosophie und die Sprüche Salomos las. Dort arbeitete er zusammen mit einem nicht namentlich genannten Juden239 die Handschrift 'es chajjim durch. Im April reiste er nach Herrnhut weiter. In dieser Zeit wurde Oetinger mit der Kabbala eng vertraut und versuchte, ihr einen besonderen Platz in seiner Idee einer Heiligen Philosophie einzuräumen. 240 Diesen Platz wies er ihr nun dicht neben Jacob Böhme zu. Kaum fand Oetinger Zeit, warb er öffentlich für Böhme; in Herrnhut241 schrieb er seine AUFMUNTERNDE GRÜNDE ZU LESUNG DER SCHRIFFTEN JACOB BOEHMENS,
Vielmehr nahm er eine neutrale Rolle B ö h m e gegenüber ein, verurteilte allerdings auch heftig dessen Widersacher. - Oetingers Hinweis auf Spener ist als typische Überbewertung einzelner Äußerungen zu werten, wie es bei Oetinger öfter zu beobachten ist. 237 Theologische Bedencken III, Halle 1708 2 /1715 3 , S. 945 (nach Breymayer in: Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. II, S. 516.339), zit. bei Oetinger, Lehrtafel (1763), S. 404; vgl. die Literatur bei Breymayer in: Oetinger, Lehrtafel (1977), Τ. I, S. 24f.; Breymayer, Theologia Emblematica, S. 2 6 2 - 2 6 5 . Das dort wie auch bei Specht (Commercium, S. 158 Anm. 41) angegebene Werk des Franciscus Valesius Philosophia sacra (z.B. 1652 6 ) legt die Vermutung nahe, daß Oetinger auch schon bei seinem ausfuhrlichen Studium Malebranches, der in der Tradition des Valesius stand, mit diesem Begriff in Berührung kam, der übrigens auch bei Leibniz vorkommt (Theodizee, hrsg. v. Buchenau, 1925, S . 4 5 ) . 238 Johann Gerhard Hasenkamp an Johann Caspar Lavater, Duisburg, 30.5./1.6.1773, in: Ehmann, Briefwechsel Lavater/Hasenkamp, S. 88. 239 Vielleicht ist es derselbe, den Oetinger in der Predigt an Exaudi in Weinsberg erwähnt, demnach ein getaufter Jude: „Ich erinnere mich, als ich in Hall studirt, daß ich mit einem bekehrten Juden zu einem Weib gegangen, von welcher man gesagt, daß sie vom Satan besessen s e y . . . " (Oetinger, Weinsberger Predigten II (1759), S. 451: Predigt an Exaudi = Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 363 Nr. 23). 2 4 0 „ . . . wandte alle meine Gedanken an die heilige Philosophie der Kabbalisten." (ders., Genealogie, S. 57). Daß Oetinger auch dieses Studium sehr genau betrieben hat, zeigt sich daran, daß er später die Schriften der Kabbalisten „zur Hand" hat (s. ζ. B . in ders., Güldene Zeit I (1759), S. 5; ders., Theologia (1765), S . 4 1 4 ; ders., Wörterbuch (1776), S . 6 0 9 f . ; ders., Das rechte Gericht (1748), S. 186). 241 Von April bis September 1730 war Oetinger zum ersten Mal dort; so überzeugend Heyken, Archiv 66 A, 8 - 1 0 ; anders Ehmann (in Oetinger, Leben und Briefe (1859), S. 66) und die von ihm abhängige Literatur.
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die 1731 pseudonym erschienen.242 Diese Schrift243 besteht aus zwei größeren Teilen, der Edition einer Verteidigungsschrift für Böhme von 1684244, der Oetinger hin und wieder245 Anmerkungen beifügt, und einer Reflexion über die Bedeutung Böhmes für das christliche Leben. Hier läßt sich zunächst sehen, wie Oetinger ein halbes Jahr nach den halleschen Kabbala-Studien mit dieser Tradition umgeht. Er benutzt sie als autoritative Zeugin für Böhmes Schriftauslegung und Visionen. Es sei denkwürdig, daß kurz vor Böhme ein ebenfalls geistgesalbter Mann, Jizchak Luria, gelebt und gewirkt habe. Sein Buch 'es chajjim sei „eine von oben empfangene Erklärung des zu Pauli Zeiten schon bekannten und noch vorhandenen aber sehr dunckelen Buchs, Sohar genannt. " 246 Oetinger nimmt die pseudepigraphe Angabe des Sohar „Schimeon ben Jochai", eines Zeitgenossen des Paulus, als echt an, wodurch die Autorität des Sohar in die Nähe der Bibel rückt. Er nennt nun stichwortartig einige Begriffe der lurianischen Kabbala, wie „Sefirot", „Adam Kadmon", „Bruch der Gefäße", „Merkaba", um dann zu statuieren: „Dieses gantze Systema hat so viel Verehrungs-würdiges, daß kein Vernünfftiger es für ein Spiel der Phantasie halten kan.l