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German Pages 386 [424] Year 1925
F E S T G A B E FÜR ERICH VON D R Y G A L S K I
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1925 by R. Oldenbourg, München und Berlin.
FREIE WEGE VERGLEICHENDER ERDKUNDE ERICH VON DRYGALSKI ZUM 60. GEBURTSTAGE AM 9. FEBRUAR 1925 GEWIDMET VON SEINEN SCHÜLERN
MÜNCHEN UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
RICH VON DRYGALSKI vollendet am 9. Februar 1925 das 60. Lebensjahr. Frisch und rüstig, in vollster Schaffenskraft und ganz erfüllt von Plänen und Hoffnungen tritt er über die Schwelle des siebenten Jahrzehnts. An diesem Tage erinnern sich viele mit freudiger Dankbarkeit an ihre Studienzeit in München, erinnern sich der schönen Jahre, da sie als Schüler Drygalskis in erdkundliches Denken und Arbeiten eingeführt worden sind. Das geographische Leben der bayerischen Hauptstadt ist aufs engste mit Drygalskis Namen verknüpft, der nun bald zwanzig Jahre an ihrer Universität wirkt und auf die Ausbildung der Geographielehrer richtunggebenden und bleibenden Einfluß genommen hat. Es ist eine Zeit frohen Aufschwungs, in der sich vieles ans Licht gerungen und durchgesetzt hat, was man vor Zeiten kaum zu hoffen wagte. Die steigende Anerkennung der Erdkunde und ihres hohen erzieherischen und allgemeinbildenden Wertes ist in Bayern nicht zuletzt Drygalskis Werk. Von den hohen wissenschaftlichen Verdiensten Drygalskis hier zu sprechen, wäre ein müßiges Unterfangen. Es soll nur davon die Rede sein, wie er als Lehrer in unser aller Herzen steht. Nicht in enge Grenzen starrer, aber doch vergänglicher wissenschaftlicher Meinungen bannte er seine Schüler. Nein, voll großen, gütigen Verständnisses für ernsthaftes Streben ließ er einen jeden zu freiester Entfaltung kommen. Freiheit im Studium, Freiheit in der Wahl des wissenschaftlichen Tätigkeitsgebietes, Freiheit auf dem Weg zur Erreichung des gesteckten Zieles — all das war jedem einzelnen gegönnt, ja wurde manchem, der sich lieber gedankenlos in sicheren, hergebrachten Bahnen hätte leiten lassen wollen, mit sanftem Zwange aufgenötigt. Und gewiß nicht zu seinem Schaden, denn selbständiges
Denken und Handeln, Selbstbesinnung und charaktervolle Eigenart ist letzten Endes die Frucht solch wohlbedachter Führung. Aller Dank ist dafür dem verehrten Lehrer sicher, dem nicht nur daran lag, tüchtige Glieder der Wissenschaft zu erziehen, sondern viel mehr als das: Rechte Menschen, die im Leben und im Dienste nationaler Wiedergeburt ihren Mann zu stellen wissen. Ein engerer Kreis von Schülern hat sich zusammengefunden, um in einer Sammlung von erdkundlichen Arbeiten nicht nur ihrer unverbrüchlichen Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, sondern auch nach ihren Kräften in bescheidenem Maße beizutragen, daß die Anregungen des Meisters fortleben und fortwirken. Das Wesen und die Eigenart der Lehrtätigkeit Drygalskis glaubten sie nicht besser kennzeichnen zu können als dadurch, daß sie dem Buche den Titel gaben: „ F r e i e W e g e v e r g l e i c h e n d e r E r d k u n d e " . Freiheit bedingt Vielseitigkeit, aber einigend und bindend durchdringt alle diese verschiedenen Arbeiten, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der Welt umspannen, ein Geist, der in Wahrheit und Gewissenhaftigkeit, Treue und Pflichterfüllung eine unwandelbare Richtschnur erkennt. Dieser Geist aber ist Erich von Drygalski eigen, und wenn er fortlebt in der deutschen Wissenschaft, dann ist es auch in Zukunft nicht schlecht um sie bestellt.
S c h r l f t l e l t u o | : L . DUt«l u n d E . FeU.
INHALTSÜBERSICHT Seite
DR. GUSTAV W . V. ZAHN, o. Professor an der Universität in J e n a : Der E i n f l u ß d e r K ü s t e n auf die V ö l k e r
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DR. OTTO MAUL!., a.o. Professor an der Universität in F r a n k f u r t a/M. : Zur G e o g r a p h i e der K u l t u r l a n d s c h a f t
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DR. ALBRECHT BURCHARD, Privatdozent an der Universität in Jena: D i e w i r t s c h a f t s g e o g r a p h i s c h e S t e l l u n g d e s T h ü r i n g e r L a n d e s in s e i n e r m i t t e l d e u t s c h e n U m g e b u n g
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DR. NIKOLAUS CREUTZBURG, Privatdozent an der Universität in Münster: D i e E n t w i c k l u n g d e s n o r d w e s t l i c h e n T h ü r i n g e r W a l d e s zur K u l t u r l a n d s c h a f t
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DR. EDWIN FELS, Privatdozent an der Universität in München: D e r Ö l b a u m in G r i e c h e n l a n d u n d s e i n e w i r t s c h a f t licheBedeutung
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DR. KARL HAUSHOFER, Generalmajor a. D., Honorarprofessor an der Universität in München : P o l i t i s c h e E r d k u n d e u n d G e o politik
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DR. HERMANN RÜDIGER, Abteilungsleiter am Deutschen AuslandInstitut in S t u t t g a r t : Z u r p o l i t i s c h e n G e o g r a p h i e d e r deutschen Minderheiten 104 DR, ÒTTO JESSEN, Privatdozent an der Universität in Tübingen: P o Ii t i s c h - g e o g r a p h i s c h e B e t r a c h t u n g e n ü b e r d i e Iberische Halbinsel 118 DR. OSKAR RITTER VON NIEDERMAYER, Major im ReichswehrMinisterium in Berlin: D i e g e o p o l i t i s c h e n G r u n d l a g e n d e s e u r a s i a t i s c h - a f r i k a n i s c h e n Ü b e r g a n g s e r d r a u m s 140 DR. JOSEF MÄRZ, Schriftleiter in Leipzig: G e o p o l i t i s c h e P r o b l e m e a m P e r s i s c h e n Golf 163 DR. FRITZ HESSE, Schriftleiter in Berlin: D i e StrukturMesopotamiens
geopolitische 175
DR. CARL H. POLLOG in München: Z u r F r a g e d e r d o p p e l t e n j ä h r l i c h e n T e m p e r a t u r k u r v e in d e n T r o p e n . . 187 DR. HANS FRHR. VON WOLF, Assistent am geologischen Institut der Universität in Innsbruck: E n t w i c k l u n g s g ä n g e m o r p h o l o g i s c h e r F o r s c h u n g in d e n A l p e n 203 DR. LUDWIG DISTEL, a. o. Professor an der Universität in München: Bergschrund und Randkluft 225
DR. ERICH MARTIN, Studienrat in Greiz : B o d e n f l u ß e r s c h e i n u n g e n im F r a n k e n w a l d u n d im V o g t l a n d . . . .
Selte
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DR. FRIEDRICH LEYDEN, Attaché am Auswärtigen Amt in Berliii: D i e G e g e n d um D r y g a l l e n 239 DR. ULRICH FREY, Oberstleutnant a. D. in München: zur K e n n t n i s A r m e n i e n s
Beiträge 255
DR. PAUL FICKELER in München: D a s O b - I r t y s c h - S y s t e m
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DR. CARL RATHJENS, Hilfsarbeiter am Hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv der Universität: N e u e r e A n s c h a u u n g e n ü b e r den g e o l o g i s c h e n B a u der C o l o n i a E r i t r e a . . . . 289 DR. KARL TROLL, Assistent am geographischen Institut der Universität in München: O z e a n i s c h e Z ü g e i m P f l a n z e n k l e i d Mitteleuropas 307 DR. LUDWIG KOEGEL in München: B e i t r ä g e z u r g e o g r a p h i schen E r f a s s u n g der a l p i n e n P f l a n z e n d e c k e aus K a r wendel und S c h i e f e r b e r g e n 336 DR. THEODOR LANGENMAIER, Studienrat in Weilheim: R e f o r m des G e o g r a p h i e - U n t e r r i c h t s im S i n n e Willensbildung
Die der 363
D i e S c h r i f t e n E r i c h v o n D r y g a l s k i s 1885—1924. Zusammengestellt von DR. LUDWIG DISTEL 374
VERZEICHNIS DER B E I L A G E N Titelbild. Erich v. Drygalski. Aufn. von Kester & Co. in München 1921. Tafel 1—3. Bilder aus Brasilien. Aufn. von O. Maull. Tafel 4. Olivenwald auf Korfu. Aufn. von A. Beer. Tafel 5. Bergschrund- und Randkluftbilder. Tafel 6. Bodenflußerscheinungen. Aufn. von E . Martin. Tafel 7. Bilder aus Masuren. Aufn. von F . Leyden. Tafel 8. Bilder aus dem Quellgebiet des Ob-Irtysch. Aufn. von W . W . Saposhnikow. Tafel Karte Karte Karte
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Klimatabelle für das Quellgebiet des Ob-Irtysch-Systems. Übersichtskarte der masurischen Seen. 1 : 3 0 0 0 0 0 . Skizze von Armenien, ca. 1 : 5 Mill. Geologische Kartenskizze von Eritrea, ca. 1 : 3 Mill.
Der Einfluß der Küsten auf die Völker. Von
GUSTAV W. v. ZAHN. Die Tatsache, daß 70,8 % der Erdoberfläche vom Meere eingenommen werden, in dem die Landmassen als Inseln liegen und von Küsten begrenzt werden, ergibt ohne weiteres die beherrschende Bedeutung dieser Oberflächenform, deren Einfluß auf die Völker im folgenden untersucht werden soll. Es ist dabei unter Küste nicht jener enge Streifen verstanden zwischen dem dauernd vom Wasser bedeckten Meeresboden und dem dauernd trocken liegenden Land, sondern eine weiter in das Land hineinragende Zone, die da ihr Ende findet, wo die unmittelbaren Einflüsse des Meeres aufhören. Aus der Natur des angrenzenden Landes folgt, daß dieser Gürtel von wechselnder Breite sein muß. Er kann sich eng an die morphologische Küste, wie man den genannten Streifen nennen könnte, anschließen, er vermag sie aber auch als biogeographische Küste weit zu übertreffen. An die in ihrer Gestalt so überaus verschiedenen, in ihren Formen zeitlich wechselnden Küsten trat der Mensch oder besser traten Gruppen von Menschen heran. Man wird nicht annehmen dürfen, daß der Urmensch sich an ihnen entwickelt hat. Aus dem Innern von Ländern vielmehr, die dazu geeignet waren, hat er durch allmähliche Ausbreitung und durch Wanderungen an vielen Stellen das Ende des festen Landes erreicht. Die erste Wirkung, die die Küste auf ihn ausübte, ist eine hemmende gewesen, alle Bewegungen mußten hier ein Ende finden. Pflanzen und Vögel übertrafen in dieser Beziehung den primitiven Menschen, Tiere, die sich nicht durch die Luft bewegen oder schwimmen können, waren ihm gleichgestellt. So bildete in diesen ersten Zeiten der Verbreitung des Menschen das Meer eine unbedingt trennende Schranke. Nachdem aber die Küsten, je nach ihrer Art natürlich, in ganz verschiedenem Maße zum Wohnplatz des ursprünglichen Menschen geworden waren, machte sich bald eine andere Eigenschaft geltend. Das notwendigste Gut für den Menschen jener frühen Zeiten, die Nahrung, bot die Küste und das angrenzende Meer in reicher Auswahl dar. Man muß unterscheiden zwischen der, die man erwerben konnte, ohne das Wasser zu befahren, und der, die nur auf diese Weise zu erringen war. Das Suchen der ersten, die auf dem Strand oder auf Riffen lebt und aus Würmern, Stachelhäutern, vor allem aber aus Weichtieren, also Muscheln und Schnecken, dann aus Gliederfüßlern und auf den Strand geworfenen Fischen und Seesäugetieren besteht, wozu noch Tange und Algen kamen, konnte einfach durch Sammeln, jene primitivste Form des Nahrungserwerbes, geschehen. So gewann zum ersten Mal die Küste einen Wert für den Menschen, denn in fast unerschöpflicher Menge stehen diese Organismen am Strand zur VerD r y g a l s k l , Festgabe.
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fügung. Zugleich aber machte sich ein Unterschied der verschiedenen Küstenformen geltend. Unter ihnen nämlich mußten die einen Vorzug haben, die leicht erreichbar waren, bei denen ein flacher Strand oder eine Brandungsterrasse langsam unter dem Meeresspiegel abfiel, oder bei denen ein Gezeitenausschlag weite Strecken zur Zeit der Ebbe trocken fallen ließ. Sind es doch gerade diese Stellen, an denen sich jene Tiere und Pflanzen mit Vorliebe aufhalten. Auf diese Weise bildeten sich Völker, oder sagen wir besser Horden und Stämme aus, die an den Küsten wohnten und an ihnen durch Sammeln ihre Nahrung fanden. Sie unterschieden sich durch die Art derselben, nicht durch die Form des Erwerbes von den im Innern der Länder sitzenden. Die in jeder Jahreszeit zur Verfügung stehende Menge der Nahrungsmittel erlaubte ihnen seßhaft zu werden. Die schweifende Lebensart jener war hier nicht notwendig. Es erscheint mir aber falsch, diesen Erwerb des Lebensunterhaltes schon Fischerei zu nennen. Es wird kaum noch Stämme geben, die ausschließlich auf diese Weise ihre Nahrung erwerben, in Verbindung aber mit höher stehenden Formen, mit Fischerei oder mit Hackbau kommt dieses Sammeln oft genug noch heute vor. Wir brauchen nur an die Inselfluren des Pazifischen Ozeans, an viele Küstenstrecken des Indischen Ozeans, an Nordwest- und Südwestamerika zu denken. Es muß aber früher eine viel bedeutendere Rolle gespielt haben, wie die an vielen Küsten der Erde gefundenen haufenförmigen Überreste von Muschel- und Schneckenschalen zur Genüge beweisen. An der dänischen Ostseeküste nennt man sie Kjökkenmöddinger, Küchenüberreste. Knochen von Landtieren und Gräten von Fischen zeigen, daß daneben Jagd und ein primitiver Fischfang getrieben wurde. Ähnliche Muschelhaufen findet man an den Küsten von Irland, Frankreich, Portugal, Sardinien, Florida, Brasilien, Chile und Japan. Diese ursprünglichen Sammler sind es nun auch gewesen, die die Fischerei entwickelten. Sie unterscheidet sich vom Sammeln durch die Anwendung von Werkzeugen zum Fang der Tiere und im weiteren Verlaufe dadurch, daß man ihnen auf ihr Lebenselement, auf das Meer nachging. Lag es doch sehr nahe, den in Schwärmen auftretenden Fischen oder z. B. dem merkwürdigen astronomisch orientierten Palolowurm, in das Wasser und endlich mit Hilfe von Schwimmkörpern auf das Wasser nachzugehen. Es wird schwer sein zu beweisen, ob das Suchen der Nahrung, also die Fischerei, der erste Anlaß zur Seefahrt gewesen ist, oder ob andere, später zu erwähnende Gründe es waren, die zu diesem wichtigsten Schritt der Küstenbevölkerung geführt haben. Ich möchte das erste annehmen. Bei der Fischerei ist zu unterscheiden die Küstenfischerei und die erst mit Hilfe der Seefahrt entwickelte Hochseefischerei. Die erste ist neben anderen Formen des Nahrungserwerbes fast an allen Küsten, soweit sie bewohnbar sind, zu Hause. Charakteristisch wird sie aber erst dort, wo wir von wirklichen Seefischervölkern sprechen können. Wir tun es, wenn die ganze Bevölkerung ausschließlich auf den Fischfang angewiesen ist. Wir rechnen dazu die Eskimo im Arktischen Archipel von Nordamerika, die Bewohner der Aleuten, der Küste von Alaska und Britisch-Columbia
Der Einfluß der Küsten auf die Völker.
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und die gewöhnlich als Feuerländer bezeichneten Einwohner des südlichen Chile. Ihre Verteilung in diesen höheren Breiten hat folgende rein natürliche Gründe: einmal ist das Meer dieser Zonen besonders reich an Fischen, zu denen noch die Seesfiugetiere sich gesellen, das Land aber ist unwirtlich und nicht imstande, eine Bevölkerung zu ernähren. Klimatische und pflanzengeographische Gründe wirken dabei zusammen. Es lag also für die Bewohner der Zwang vor, sich die Nahrung vom Meere zu verschaffen. Es kommt aber offenbar noch etwas anderes hinzu. Alle diese genannten Gebiete sind Inselarchipele oder Küsten mit zahlreichen vorgelagerten Inseln. Es kann kein Zufall bein, daß sich gerade hier diese Völker entwickelt haben, die, wenn sie auch keine eigentliche Seefahrt kennen, doch in der Herstellung und Benutzimg ihrer Fahrzeuge Außerordentliches leisten. Es ist sehr kennzeichnend, daß die Eskimo, die in der unwirtlichsten Gegend leben, hierin an erster Stelle zu nennen sind, der Bau des Kajaks ist eine schiffbautechnische Leistung allerersten Ranges. Der Zusammenhang aber zwischen diesen Völkern und der genannten Küstengestalt führt hinüber zur Frage der Entstehung der Seefahrt. Was trieb den Menschen, abgesehen von der Suche nach der Nahrung, dazu, das Meer zu befahren ? Was veranlaßte ihn, jenen Schritt zu tun, den Sophokles als die gewaltigste Leistung des Menschen bezeichnet, wenn er sagt: »Vieles Gewaltige lebt, Nichts ist gewaltiger als der Mensch. Zur Winterszeit, wenn der Südsturm bläst, Befährt er des Meeres graue Flut, Mag's rings auch brüllen in schäumender Wut, Sein Schiff durchschneidet die Wellen.« Man muß annehmen, daß es zuerst Verhältnisse waren, die einen gebieterischen Zwang ausübten, das sichere Land zu verlassen, wie Übervölkerung und Nahrungsmangel oder das Nachdrängen kräftigerer Völker aus dem Binnenland. Man könnte beinahe von einer Zeit der gezwungenen Seefahrt sprechen. Später erst bei einer gewissen Kenntnis wird dann der Handel, der Seeraub, Kriegszüge und endlich der Entdeckungseifer, aber aus materiellen Gründen, eine wirkliche Entwicklung des nun freiwilligen Seeverkehrs herbeigeführt haben. Ähnlich also wie bei der Fischerei kann man auch hier zwei Phasen unterscheiden. In der ersten, einer Art vorbereitenden, wird es sich für die betreffenden Menschen nur darum gehandelt haben, trennende Meeresteile zu überschreiten, um Wanderungen fortzusetzen. Eine eigentliche Seefahrt braucht sich daraus nicht entwickelt zu haben. Man könnte sich sogar denken, daß nach einer solchen Überschreitung keine weitere Benutzung des Meeres eintrat. Die Kenntnis der Schiffahrt kann sogar verlorengegangen sein, wie das stellenweise bei Inselbewohnern der Fall gewesen ist. So hatten die Bewohner der Kanarischen Inseln, als man sie im Entdeckungszeitalter kennenlernte, keine Schiffahrt mehr. Es ist wohl ohne weiteres klar, daß solche Auswanderungen im Anfang nur da vor sich gehen konnten, wo im Angesicht der heimatlichen
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Küste über einem trennenden Meeresarm ein neues Land lockte. Schmale Meerestraßen zwischen Teilen des Festlandes oder Inseln, in Schwärmen oder Reihen angeordnet, werden solche Stellen gewesen sein. So haben sich die Eskimo über den nordamerikanischen polaren Archipel bis nach Grönland hin ausgedehnt. So wird man von Süden aus Skandinavien, von England aus Irland erreicht haben. Im amerikanischen Mittelmeer bot die Brücke der Antillen einen bequemen Weg, ebenso wie in Indonesien die zahlreichen Inselrücken. Von Korea aus kam man nach Japan, von der marokkanischen Küste nach den Kanarischen Inseln. Das Gebiet der ausgedehntesten Wanderung in unserem Sinne aber ist Ozeanien. Neben gewollten Wanderungen muß man hier auch unfreiwillige annehmen. Es ist noch aus unseren Tagen bekannt, daß Eingeborene durch Sturm und Strömungen nach anderen Inseln verschlagen wurden. Die zweite Phase, die natürlich durch Übergänge mit der Fischerei und mit diesen überseeischen Wanderungen in Zusammenhang steht, umfaßt die eigentliche Seefahrt. Ich verstehe darunter den Zustand, bei dem regelmäßig wiederholte Schiffsreisen unternommen werden, die, zu Handelsoder Kriegszwecken ausgeführt, auch wieder nach der Heimat zurückführen. Im Anfang werden sie gleichsam an der Hand der Küste gemacht, d. h. ohne diese länger aus dem Auge zu verlieren. Später erst löst man sich stellenweise von ihr zur wirklichen Hochseefahrt los. Es ist klar, daß sich nicht alle Küstenformen in gleicher Weise hierzu eignen. Entlang einer Küste wird man eine Seefahrt entwickelt haben, wenn einmal der Verkehr im Innern des Landes und vor allem an der Küste selber schwer oder unmöglich war und wenn Küstenvorsprünge, die man sonst nicht erreichen konnte, in Sicht lagen. Über das Meer wird man sich da zuerst gewagt haben, wo Inseln, vor der Küste liegend, zum Kommen einluden. Es folgt daraus, daß die Anfänge der Seefahrt an gegliederten Küsten und in Inselmeeren gesucht werden müssen. Es fallen also diese Stellen zusammen mit denen, die schon bei der Fischerei und den Wanderungen genannt worden sind. Natürlich sprach die Natur des Küstensaumes auch sonst noch mit. Es mußte Platz vorhanden sein, Schiffe zu bauen, sie ins Wasser zu lassen, und im unbenutzten Zustand aufzubewahren. Mit einem Ausdruck der späteren Entwicklung bezeichnet, könnten wir sagen, es mußten Häfen vorhanden sein. Dabei darf man aber nicht in den sehr oft gemachten Fehler verfallen, heutige schiffstechnische Anforderungen mit denen der Frühzeit gleichzusetzen. Für den phönizischen oder griechischen Schiffsführer war ein flacher, sandiger Strand, auf den er das Schiff heraufziehen lassen konnte, dasselbe Ideal wie für den heutigen eine bedeutende, bis an das Ufer reichende Wassertiefe, also ein steil abfallender Strand. Nicht immer haben sich die Häfen, wie man vielfach lesen kann, verschlechtert, sondern die Schiffe und ihre Anforderungen sind andere geworden. Berücksichtigt man diese natürlichen Bedingungen der Küsten, ihrer Form und ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nach, so kann man eigentlich ohne weiteres mit Hilfe einer Karte die Gegenden bezeichnen, die zur
Der Einfluß der Küsten auf die Völker.
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Entwicklung einer wirklichen Seefahrt geeignet waren. Sie fallen, wie schon gesagt, zum Teil mit den früher erwähnten zusammen. Im amerikanischen Mittelmeer fanden die Spanier eine Handelsschifffahrt zwischen Zentralamerika und den Antillen. An der peruanischen Küste am Golf von Guajaquil werden ebenfalls größere Schiffe mit Ruder und Segel erwähnt. Die Seefahrt im Karaibischen Meer und Golf von Mexiko ist leicht aus der Natur des Mittelmeeres zu erklären. Schwieriger ist es an der zweiten Stelle. Man wird hier vielleicht an eine Übertragung zu denken haben. In der Alten Welt ist im Westen ebenfalls das Mittelmeer mit dem Roten Meer und dem Persischen Meerbusen die Stelle einer alten entwickelten Seefahrt. Wir erfahren, daß von Ägypten aus im 3. Jahrtausend vor Christus Fahrten nach dem Lande Punt, d. h. der Somaliküste, und nach Phönizien unternommen wurden. In Südarabien war ebenfalls eine alte Schiffahrt zu Hause, und im Persischen Meerbusen bestand ein Seeverkehr um die Mitte des 4. Jahrtausends. Von dem phönizischen Seehandel im Mittelmeer kann man anscheinend von 2000 an reden. Es ist vorläufig kaum zu bestimmen, wo die ersten Anfänge dieser Schiffahrt lagen und von wem sie entwickelt worden ist. Uns m u ß die Tatsache genügen, daß die genannte Gegend ein uralter Sitz des Seeverkehrs war. Von diesen östlichen Teilen des Mittelmeeres aus ist er dann auch in dem westlichen heimisch geworden. Man braucht nur den Namen Karthago zu nennen. Ein zweiter Ausgangspunkt der Entwicklung scheint dann das allerdings dazu ausgezeichnet geeignete Ägäische Meer gewesen zu sein. Von hier aus verbreitete sich die griechische Seefahrt, die bald das ganze Mittelländische Meer umfaßte. Daneben kamen noch Etrusker, Ligurer und Sarden in Betracht. Außerhalb des Mittelmeeres ist die Ostsee ein wichtiges Zentrum geworden. Hier liegen die Anfänge der germanischen Seefahrt; sie h a t sicher von hier aus erst den Weg nach dem westlichen Skandinavien gefunden. Ebenso bestand, wie wir wissen, ein alter, wohl ebenfalls damit zusammenhängender Verkehr an der nordfranzösischen und britischen Küste. Kehren wir nach den nördlichen Buchten des Indischen Ozeans zurück, so ist hier noch zu erwähnen, daß von ihnen aus sehr früh ein Verkehr nach Vorderindien stattfand, den später die Araber von Südarabien aus übernahmen. Weiter im Osten haben sich im Gebiet des AustralischAsiatischen Mittelmeeres die Malayen zu hervorragenden Seefahrern entwickelt. Eine sonst auf der Erde nicht vorkommende Schiffsform, das Ausliegerboot, ist von ihnen erfunden worden. Mit ihren Wanderungen h a t es sich über ganz Ozeanien und im Westen nach Madagaskar verbreitet. Von einer wirklichen Handelsschiffahrt aber kann man doch wohl nur in den indonesischen Gewässern reden. Mit gut gebauten Segelschiffen trieben die Malayen Handel von Ceylon bis nach China. Die letzte zu erwähnende Gegend ist Ostasien. Es handelt sich einmal um die stark gegliederte Küste von Südchina mit ihren zahlreichen vorgelagerten Inseln, und dann um die von Japan, vor allem um die südlicheren Teile. Nördlich vom Jang-
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tse-kiang hörte an der chinesischen Küste die Seeschiffahrt auf. Sie fehlte ebenso in Korea und auf den Inseln nördlich der Hauptinsel Japans. Läßt sich nun von diesen eben kurz aufgezählten Gegenden etwas Gemeinsames, Kennzeichnendes sagen ? Sie liegen, wie wir sahen, fast alle im Bereich der Mittelmeere. Entstanden durch Eindringen des Meeres in Bruchformen des festen Landes, zeigen ihre Küsten im großen reich gegliederte Formen. Halbinseln wechseln ab mit tief eingreifenden Buchten, und nicht vollkommen vom Wasser überschwemmte Stellen ragen als Inseln, in Gruppen oder in Reihen angeordnet, darüber empor. Oft verbinden sie wie die Pfeiler einer Brücke Länder miteinander. Zum Teil sind es aber auch grabenförmige Einbrüche, deren Küsten nur durch schmale Wasserflächen voneinander getrennt sind. Zwei dieser Gebiete gehören zu den Randmeeren, die durch Inseln vom Ozean abgetrennt sind: die Nordsee mit dem Kanal und das Ostchinesische Meer. An der Stelle aber, wo man in frühen Zeiten einen Ozean nicht der Küste folgend überschritt, im Nordatlantik, führen Inseln, die untermeerischen Rücken aufgesetzt sind, von den Shetlandinseln über die Färöer und Island nach Grönland, das nur eine Meeresstraße von Nordamerika trennt. Hier überall waren also Gegenküsten vorhanden, entweder die eine von der anderen sichtbar oder doch nur durch schmale Meeresstraßen getrennt. In dieser Tatsache liegt ohne Zweifel der Grund, daß diese Gebiete die Heimat einer entwickelten Seefahrt geworden sind. Im einzelnen sind die Küstenformen ganz verschieden, neben reich gegliederten kommen verhältnismäßig glatte, wie die von Phönikien oder Yucatan, vor. Es kommt anscheinend nicht so sehr auf die Einzelgliederung als vielmehr auf die Gestalt im großen an. Zu Häfen geeignete Stellen finden sich schließlich, besonders wenn man an die anderen Anforderungen jener Zeiten denkt, fast an allen Küsten, mögen sie auf den Karten kleineren Maßstabes auch noch so ungegliedert erscheinen. An einen engeren Zusammenhang der Entwicklung der Seefahrt mit ozeanographischen oder klimatologischen Erscheinungen zu denken, verbietet die Überlegung, daß die genannten Gebiete in den verschiedensten Teilen des Meeres liegen, die in diesen Beziehungen nichts Gemeinsames haben. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, daß nicht örtlich gewisse Förderungen durch die eine oder andere dieser Erscheinungen vorgekommen sein könnten. Im allgemeinen aber überwiegt unbedingt der morphologische Charakter der Küstenregion. Man könnte hier zum Schluß die Frage stellen: sind gewisse Völker von Haus aus besonders für die Seefahrt befähigt ? Sie ist bejahend beantwortet worden. Ich glaube, mit Unrecht. Es ist ja gar nicht einzusehen, woher diese besondere Befähigung kommen soll, wenn sie nicht durch lange Übung erworben worden ist. Diese aber konnte sich jede Rasse, jedes Volk verschaffen. Keines aber wird von Anfang an dafür mehr veranlagt gewesen sein als das andere, die Übung aber trat nur dann ein, wenn die Natur des Landes dafür geeignet war und wenn die Verhältnisse dazu drängten. Daß die Neger Afrikas keine Seefahrer geworden sind, liegt nicht an ihrer Rasse, sondern an der Art der afrikanischen Küste.
Der Einfluß der Küsten auf die Völker.
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Die Indianer haben an einer günstigen Stelle eine der weiteren Entwicklung fähige Seefahrt geschaffen, sind an anderen Küstenstrecken ihrer Kontinente zu ausgezeichneten Fischervölkern geworden. An Strecken, die ungeeignet waren, sind sie in keine weitere Berührung mit dem Meer getreten. Die Mongolen sind im Norden Asiens typische Kontinentalvölker geworden, die mit ihnen der Rasse nach zusammenhängenden Malayen haben sich zu einem der besten Seefahrervölker der Erde entwickelt. Im Laufe der Zeit wurden so allerdings bestimmte Eigenschaften erworben, die die Angehörigen dieser Völker dann befähigten, an Küsten, die aus natürlichen Gründen bis dahin unbenutzt waren, eine Seefahrt zu schaffen. Ratzel weist einmal darauf hin, daß die Indianer an der Stelle des heutigen New York nur Muscheln sammelten, die Holländer an demselben Ort den Grund zu einem Welthandelshafen legten. Für diese aber eben hatte diese Küstenstelle eine ganz andere Bedeutung als für die Eingeborenen, sie war, kann man sagen, in ihren Augen eine Gegenküste geworden. Solche Übertragungen seemännischer Fähigkeiten an andere Küsten und unter Umständen auf die dort wohnenden Völker haben wohl oft stattgefunden. Die Einwohner der Südküste von China scheinen einen malayischen Einschlag zu haben. In Japan vertritt aber seit alten Zeiten der Satsuma-Clan die maritimen Interessen. Er wohnt bezeichnenderweise an der Südseite der Südinsel Kiushu, wo eine sicher eingetretene malayische Einwanderung zuerst und also am nachhaltigsten Fuß fassen mußte. Wir sahen, daß die Gegenden, in denen sich ein aussichtsreicher Seeverkehr entwickelte, das amerikanische Mittelmeer, das romanische Mittelmeer mit den anschließenden Küsten Westeuropas und der Ostsee, der nördliche Indische Ozean, das Gebiet von Indonesien, Südchina und Japan waren. Nur an einer der genannten Gegenden hat sich die moderne Schifffahrt entwickelt, und zwar in Europa, im Anfang im Mittelmeer, später in Nordwesteuropa. Von hier ist sie natürlich an alle von diesen Völkern besiedelten Küsten übertragen und von Japan übernommen worden. Liegen auch hier etwa natürliche Gründe vor oder ist dies lediglich die Wirkung der Geschichte gewesen ? Als natürlichen Grund könnte man die Tatsache anführen, daß Nordwesteuropa ein ärmeres Land ist, als die reicheren südlichen Gegenden, der Zwang also hier ein größerer war. Auch der Reichtum an Kohle und Eisen spricht hier mit. Vor allem aber sind es doch geschichtliche Ursachen. Die Entwicklung ist in allen anderen Gebieten abgeschnitten worden. Im amerikanischen Mittelmeer und den angrenzenden Ländern vernichteten die Spanier die einheimische Kultur, die wir für gewöhnlich als viel zu gering ansehen. Damit war auch das Ende der indianischen Handelsschiffahrt gegeben. Im nördlichen Indischen Ozean haben die Portugiesen die ausgebreitete arabische Schiffahrt zu Fall gebracht. Die Entwicklung endlich einer malayischen Seefahrt ist durch das Eintreffen der Portugiesen und Holländer ebenfalls abgeschnitten worden, und etwas Ähnliches wird man für die chinesische Schiffahrt behaupten dürfen. Ein Stillstand der Entwicklung war in Japan eingetreten. Einer der bedeutendsten Fürsten, der Schogun Jjemitzu, hat
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am Anfang des 17. Jahrhunderts seinem Volk, um es vor der Berührung mit den Europäern zu bewahren, das Verlassen Japans verboten. Größere Fahrten waren dadurch unmöglich. Die Schiffe mußten, damit das Verbot nicht übertreten wurde, umgebaut werden. Er hat damit unbewußt die maritime Kraft seines Landes in Reserve gehalten. Im 19. Jahrhundert nach der Öffnung Japans und der Übernahme der europäischen Kultur machte sich seine günstige Lage wieder geltend. Es wurde eine unseren Flotten durchaus gleichwertige neue gebaut, die schon heute eine beachtenswerte Rolle spielt. Sie wird in kommenden Tagen den Kampf um die Herrschaft des Pazifischen Ozeans auszufechten haben und auf ihm dann wohl eine ähnliche Rolle spielen wie die Englands auf dem Atlantischen. Es ist interessant, hier auf die Ähnlichkeit der Lage Japans und Großbritanniens hinzuweisen. Beide liegen im Norden eines Mittelmeeres mit alter Seefahrt, am Rande des Kontinentes gegen den freien Ozean, vor seinen dichtest besiedelten Teilen. England hat sich zum unumschränkten Herrn zuerst des Atlantischen, dann des Indischen Ozeans gemacht. Wird Japan einmal der des Pazifischen Ozeans geworden sein, dann wird der zwischen diesen Herrschaftsbereichen liegende Indische Ozean die Stelle des Kampfes zwischen beiden werden. Merkwürdig ist die Entwicklung der Vereinigten Staaten, des Konkurrenten um die Herrschaft des Stillen Ozeans. Eine ihren sonstigen Verhältnissen entsprechende Handelsflotte hat sich hier nicht entwickelt. Die notwendigen Transporte wurden in der Hauptsache von europäischen Schiffen besorgt. Es scheint, als ob die natürlichen Verhältnisse noch nicht überwunden wären, und vor allem fehlt wohl der Trieb dazu im Lande selbst. Dies wird sich erst ändern, wenn durch seine Ausfüllung mit Bewohnern und durch andere Verhältnisse ein größerer Zwang eintreten wird. So haben die Küsten zwei positive Eigenschaften. Sie geben in reicher Fülle Nahrungsmittel und sie sind der Ausgangspunkt des Seeverkehrs. Beides verleiht ihnen einen Wert für die Völker. Diese Tatsache wieder äußert sich in zwei Richtungen: wir sehen an gewissen Küsten eine Bevölkerungsverdichtung und bemerken das Bestreben der Staaten, einen Anteil an ihnen zu besitzen. Die Anziehung, die eine Küste in diesem Sinn ausübt, wird abhängig sein von ihrer Güte, deren Bedingungen wir schon kennen, und von den Verhältnissen des angrenzenden Hinterlandes. Je schlechter dieses und je besser jene, desto größer wird der Drang nach der Küste sein. Den extremsten Fall stellen wohl die Gestade des nordamerikanischen polaren Archipels dar. Das Innere dieser Inseln bietet auch da, wo es nicht vom Inlandeis eingenommen wird, aus klimatischen Gründen gar keine Lebensmöglichkeiten, so daß die Bevölkerung nur an den Küsten zu leben imstande ist. Im südlichen Chile hat die Unwirtlichkeit des Gebirges die Menschen ebenfalls an die Küste getrieben. In diesen beiden Fällen steht das Innere als absolut unbewohnt der besiedelten Küste gegenüber. In den gemäßigteren Breiten ist der Unterschied ein relativer. So nimmt in Norwegen, einem vorwiegend maritim orientierten Land, die Bevölkerungsdichte überall nach der Küste hin zu. In der Bretagne umsäumt ein stark
Der Einfluß der Küsten auf die Völkey.
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besiedelter Streifen das unfruchtbare ärmere Innere der Halbinsel. Die Gebiete mit dem Dichtemaximum der iberischen Halbinsel liegen ebenfalls am Meere. Kennzeichnend in dieser Beziehung ist auch Dalmatien, wo die Bevölkerung nach dem Innern zu an Menge stark abnimmt. Die zweite Wirkung des Wertes der Küsten ist das Bestreben der Völker, einen Anteil an ihrem Besitz zu haben. Der Grund ist hier weniger die Möglichkeit leichten Nahrungserwerbes, als vor allem der, einen Seeverkehr unter eigener Flagge entwickeln zu können. Zweierlei Art des Besitzes kann man hier unterscheiden. Im ersten Fall bemüht sich ein Volk, sein eigentliches Wohngebiet bis an das Meer auszudehnen, im anderen Fall handelt es sich um den Besitz von Stellen an fremden Küsten, die nur zu Schiff zu erreichen sind. Zahlreiche Beispiele ließen sich aus der Geschichte anführen. Aus unseren Tagen ist vielleicht dasjenige Rußlands das beste. In Ostasien berührten die Russen den Ozean zuerst 1638 am Ochotzkischen Meer. Die Küste dort ist nur kurze Zeit im Sommer eisfrei und liegt an einem Randmeer. So ging man 1689 nach Kamtschatka; als auch hier die Verhältnisse nicht besser waren, wurde 1857 weiter im Süden Nikolajewsk am Amur, 1860 Wladiwostok gegründet, und endlich setzte man sich 1898 in Port Arthur fest. Das Ziel schien annähernd erreicht. Der Russisch-Japanische Krieg aber leitete eine rückläufige Bewegung ein. Dasselbe Streben, eine brauchbare Küste zu besitzen, lag letzten Endes dem Wunsche Rußlands nach Konstantinopel zugrunde. Wenn endlich Sven Hedin sein Vaterland vor Rußland warnte, so t a t er es, weil er als Geograph das Streben Rußlands nach einem Stück der norwegischen Küste am nordatlantischen Ozean verstand. Es war ein heißer Wunsch Serbiens, einen Streifen Landes an der Adria zu bekommen. Das Ziel war berechtigt, und die österreichische Diplomatie hätte klüger getan es zu erfüllen. In Südamerika bildet das richtige Verlangen Bolivias, wieder einen Anteil an der pazifischen Küste zu erhalten, einen Grund für die dauernde Kriegsgefahr mit Peru und Chile. Der berüchtigte polnische Korridor nach der Ostsee gehört ebenfalls hierher. Ein interessantes Beispiel aus der ältesten Geschichte ist das Drängen der Hebräer nach dem Nordende des Roten Meeres im Golfe von Akaba und damit nach dem Indischen Ozean. Von David an bis Abas versuchte man die Gegend von Elath im Gebiet der Edomiter dem Reiche Juda anzugliedern. Im zweiten Fall handelt es sich um den Besitz von Kolonien. Sie sind immer, wenn man absieht von Nebenländern, überseeischer Besitz. Sie können nur entstehen von ozeanischen Küsten aus, und nur seefahrende Nationen können sie erwerben. Im Anfang der Kolonisation versucht man Punkte oder Strecken an Küsten zu besetzen, die aus irgendeinem Grund für den Handel oder den Seeverkehr wertvoll sind. Viel später erst dringt man dann in das Innere der Länder vor. Immer aber behält die Küste ihren Wert, da ihr Besitz die Grundbedingung der ganzen Kolonisation bleibt. Ihre erste rein maritime Form ist die Anlage von Handelsstationen, wie sie Phönizier, Griechen und später die italienischen Seestädte im Mittelmeere besaßen. Vom Beginn des Entdeckungszeitalters an benutzen
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Gustav W. y. Zahn. Der Einfluß der Küsten auf die Völker.
Portugiesen und Holländer, im Anfang auch Franzosen und Englfinder diese Form. Die spanischen Kolonien waren immer mehr auf Landbesitz zugeschnitten. Es ist eine kontinentalere Art der Kolonisation, die diesem Volk wohl mehr zusagte. Eine Wirkung dieser Erscheinung ist die Verbreitung von Völkern in einem Streifen längs der Küste. So sind die Seestädte Dalmatiens von Italienern bewohnt und an den Küsten von Kleinasien und an der von Thrazien am Schwarzen Meere zieht sich heute noch ein Streifen griechischer Bevölkerung hin. In Indonesien sind in ähnlicher Weise die seefahrenden Malayen in einem Streifen an der Küste angesiedelt, während ältere heute nicht mehr auf die See gehende Stämme das Innere der Inseln bewohnen. In mannigfaltiger Weise greifen die Wirkungen der Küste, wie wir sahen, in das Leben der Völker ein. In reicher Fülle findet der Mensch an ihr Nahrung. Ursprünglich hemmt sie Bewegungen und wird zur scharf trennenden Schranke. Nachdem man aber verstanden hatte, die See zu befahren, wurde sie zur Schwelle zum Meer, das nun schrankenlos alles miteinander verbindet. Denn darin gerade liegt ja der auffallende Charakter des Ozeans als Verkehrsgebiet, daß er dem, der auf ihm zu fahren weiß, keine Hindernisse bietet. Jeder Punkt einer Küste ist, mit wenigen Ausnahmen in polaren Regionen, von jedem anderen aus zu erreichen. Die Besiedlung der ganzen Erde und der Austausch der Erzeugnisse der verschiedensten Gegenden ist bei der Inselnatur des festen Landes nur dadurch möglich geworden. Die besprochenen Wirkungen bezogen sich auf die Verbreitung des Menschen, auf seine Wirtschaft, seinen Handel und die Politik seiner Staaten. Es wäre bei genügendem Raum leicht zu zeigen, daß daneben noch andere vorhanden sind. Man hat mit Recht behauptet, daß die wirklichen Küstenvölker besondere körperliche und vor allem geistige Eigenschaften hätten. So rühmt man ihnen die Weite des Blickes nach, im Sinne deB Wortes von Goethe: das freie Meer befreit den Geist. In den Schöpfungen der Kunst treten uns Anklänge an die Natur des Landes entgegen. Es sei erinnert an die Odyssee und das Gudrunlied. In der höchsten Äußerung endlich des menschlichen Geistes, in der Religion, lassen sich diese Wirkungen verspüren. Nietzsche sagt einmal in seinem Zarathustra: »Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte.«
Zur Geographie der Kulturlandschaft. Von OTTO
MAULL.
Mit Tafel 1—3.
Geographie der Kulturlandschaft ist von altersher stets gepflegt worden, wenn die Kulturlandschaft oder die Kulturlandschaftselemente Objekte geographischer Forschung und Darstellung waren. Die Intensität und die Art der Beschäftigung mit der Kulturlandschaft war freilich während der einzelnen Entwicklungsphasen der geographischen Wissenschaft grimdverschieden. Auch innerhalb des Ablaufs der modernen Geographie sind in der Hinsicht grundlegende Unterschiede zu erkennen. So prägt sich trotz alles Ringens nach harmonischer Einheit in der Zeit des systemastischen Auf- und Ausbaus, besonders seit den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der uralte, durch H u m b o l d t und R i t t e r wieder neubelebte, einer vollendeten Synthese scheinbar widrige physischgeographische-anthropogeographische Dualismus aus, wobei die naturwissenschaftliche Komponente entschieden herrscht. Und doch finden sich unter den länderkundlichen Studien jener Zeit prächtige Musterbeispiele regionaler Kulturlandschaftsgeographie, zugleich als Beweis der Fruchtbarkeit systematischer Arbeit für die geographische Gesamtaufgabe. Ihre Konzeption, die geleitet wurde durch das Streben nach der Erfassung von Landschaftseinheiten, gelang damals noch leichter und vollkommener als in der folgenden Zeit, die — anscheinend bestimmt von der R i t t er sehen Definition der Geographie als der Wissenschaft von dem dinglich erfüllten Erdraum oder ähnlichen Begriffsfassungen — von der Betrachtung des Ganzen zu der der Einzelerscheinungen überging und dabei weniger eine Geographie der Kulturlandschaft, sondern mehr eine solche der Kulturlandschaftselemente sowohl im systematischen Ausbau wie in länderkundlicher Darstellung schaffen konnte. Analyse herrschte, und sie herrscht zum Teil noch heute. Der Gedanke an die Synthese war fast verloren gegangen1). Die Geographie als solche stand und steht z. T. noch vor der Gefahr kaum mehr übersehbarer Zersplitterung, schon im System, erst recht bei regionaler Betrachtung, einer Ausbreitung ins Uferlose — trotz ihres räumlich begrenzten Arbeitsfeldes — und des fast allseitigen Übergreifens auf die Gebiete der Sachwissenschaften. Für die Größe dieser Gefahr ist ebensosehr die Mißachtung Ausdruck, die der Geographie wegen ihrer expansiven Tendenz von den Nachbarwissenschaften zuteil wird, wie das Bedürfnis *) In dieser Auffassung sehe ioh mich bestärkt durch die analoge Wertung, die N. Krebs in seinem schönen und tiefen Aufsatz Uber »Natur und Kulturlandschaft« (Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde, Berlin 1923, S. 81—04) dieser Periode hat angedeihen lassen.
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der Geographen selbst, sich nun auf einmal über Wesen und Aufgabe ihrer seit Jahrzehnten intensiv gepflegten Wissenschaft klar zu werden. Methodologische Erörterungen bringen nur selten unmittelbar den Fortschritt. Doch ihr Auftreten ist Symptom für krisenhafte Zustände, und so bezeichnen sie meist Wendepunkte einer Entwicklung. Nutzlos war die diesmalige Diskussion nicht. Die Idee der Einheit in der Geographie ist dabei mehrfach nachdrücklich betont worden; und von manchen Seiten ist auch das Objekt, auf das sich der Einheitsgedanke bezieht, klar herausgestellt worden: die »Landschaft«. Die Forderung der Einheit in der Geographie bedeutet die gleichmäßige Erfassung und Betrachtung der beiden Seiten der Landschaft: der Natur- wie der Kulturlandschaft. Allein von der gedanklichen Tendenz bis zur Tat der Forschung und Darstellung selbst war für jene Phase der Aufsplitterung geographischen Arbeitens ein zu weiter Weg, als daß er, trotz mannigfacher Versuche, hätte zurückgelegt werden können. An sich war diese analytische Periode und analytische Arbeitsweise in der Entwicklung der Geographie durchaus notwendig zur Sichtung des Materials und zur Erprobung der Methode; und nie wird die Forschung diese Analyse entbehren können. Es ist darum begreiflich, daß das eigentliche synthetische Ziel, die Erkenntnis der Landschaft, vor ihr, der Erkenntnis der Landschaftselemente, eine Zeit lang zurücktreten mußte, daß darum auch der Länderkunde, vornehmlich in ihrem anthropogeographischen Teil, gelegentlich bis heute, der analytische Grundzug aufgeprägt ist und sich selbst noch in der Suche nach Systematik auf dem Gebiete der modernen »Landschaftskunde« zeigt. Die Einheit in der Länderkunde setzt notwendigerweise die Einheit in der allgemeinen Geographie voraus; und diese fehlt noch. Noch wird das System der Geographie vielfach durch hilfs- und nachbarwissenschaftlichen Ballast gesprengt; und wenn der Länderkundler die Forschungsergebnisse eines speziellen Erdraumes an den Gesetzen der Landschaft überprüfen will, stößt er recht oft nur auf die analytische Behandlung der Einzelerscheinungen im Bereiche der allgemeinen Geographie. Das gilt weniger für das Gebiet der physischen Geographie. Denn unter dem Einfluß der innigen kausalen Wechselwirkungen der einzelnen Erscheinungsgruppen — Geomorphologie, Klima, Pflanzendecke — hat hier die Forschung ihre Wege der Synthese, der begrifflichen Erfassung der Naturlandschaft, viel weiter entgegengetrieben als im Bereiche der Anthropogeographie. Umso empfindlicher macht sich bei der mannigfachen wechselseitigen Abhängigkeit der Erscheinungsformen voneinander und der vielfältigen Bedingtheit durch die physischen Verhältnisse das völlige Fehlen einer allgemeinen Geographie der Kulturlandschaft bemerkbar. •
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Geographie der Kulturlandschaft kann also, der erwähnten Kausalität zufolge, nur von der Basis der geographischen Erfassung der Naturlandschaft aus betrieben, aber die Kulturlandschaft kann nicht etwa allein aus den Bedingungen der Naturlandschaft heraus erklärt werden. Solche
Zur Geographie der Kulturlandschaft.
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Erklärung der Kulturerscheinungen aus den Naturgegebenheiten hat man vornehmlich in der analytischen Phase vielfach versucht. Man mußte dabei notwendigerweise im besten Falle zu beziehungswissenschaftlichen Teilergebnissen kommen. Für die Geographie der Kulturlandschaft ist die Naturlandschaft — morphologisch b e t r a c h t e t — Baustoff und Ausgangsform, an denen die Kulturkräfte des Menschen ansetzen, um sie umzubilden zum Lebensraum des Menschen. Dynamisch gewertet stellen die Naturbedingungen, die einer Kulturentwicklung bald günstigen, bald widrigen Naturkräfte, potentielle Energie dar, die im Maße der Kulturarbeit in kinetische Energie umgewandelt wird. Die lebendige K r a f t der Kulturarbeit des Menschen erzeugt dabei Lebensformen im irdischen Räume. Die Kulturlandschaft ist darum nichts anderes als der unter dem Einfluß der Kulturkräfte aus der Naturlandschaft geschaffene, in W o h n - , Wirtschaftsund Verkehrsraum gegliederte Lebensraum des Menschen. Wenn immer auch die Naturlandschaft Form und Inhalt des Geschaffenen bestimmen und der Kulturlandschaftsentwicklung bestimmte Grenzen ziehen wird, so hängt Art und Grad der Umbildung in erster Linie doch nicht von der Ausgangsform ab, sondern von dem Wesen und der Höhe der Kulturkräfte, von der Kulturstufe der Bildner. Dabei ist freilich die Kulturkraft selbst als das Produkt einer »geographischen Provinz« anzusehen und, soweit sie auf Entlehnung oder Übertragung zurückzuführen ist, unterliegt sie in hohem Grade der Anpassung an das neue Milieu. Aus dieser doppelten Abhängigkeit von der Ausgangsform und ihrer physischen Struktur, kurz, von der Naturlandschaft — wenn man den Ausdruck vorzieht, von der Urlandschaft, wobei aber Urlandschaft gleich Naturlandschaft zu setzen wäre — und von der umgestaltenden Kulturkraft ergibt sich die Gliederung in Typen, ergibt sich der Formenschatz der Kulturlandschaft durch die Betrachtung der Umbildungsvorgänge. Gegenüber den Naturkräften schaffen neue Kräfte, teils im Gegensatz zu diesen, teils im Verein mit ihnen neue Formen im Landschaftsbilde. Kulturlandschaftsgeographie, die aus den Umwandlungsprozessen die Veränderung und Auswertung der Naturlandschaft und die Bildung der Kulturlandschaft unter dem Einfluß der Kulturkräfte zu betrachten h a t , wird ihr Augenmerk künftighin in gleichem Maße dem Studium der Kräfte wie dem der Formen zuwenden müssen; während die analytische Periode mehr die K r ä f t e und weniger die Formen untersucht h a t . W i l l man zu sicheren Ergebnissen kommen und nicht nur an der Kulturlandschaft geographisch herumrätseln, so muß die Untersuchung im einzelnen Fall eine historischgeographische sein, die für geeignete zeitliche Querschnitte die K r ä f t e zu erkennen und das Kulturlandschaftsbild zu rekonstruieren und zu beschreiben versucht. Denn erst der genetische Vergleich der verschiedenen in der Zeit sich ablösenden Kulturlandschaften gibt möglichst vollkommenen Aufschluß über den Formenschatz der heutigen Kulturlandschaft: da liegen innerhalb der neugeschaffenen ererbte, z. T . zwangsweise ererbte Formen — denn vielfach fehlt doch die Anpassung an die physische S t r u k t u r wie die Einpassung in das Gesamtgefüge der modernen Kulturlandschaft; und neben den lebenden Formen zeigen sich tote, neben den in voller E n t -
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wicklung stehenden absterbende. So allein kann eine Aufhellung der Entwicklungsvorgänge und der Entwicklungsreihen der Formen erfolgen. Die Untersuchung der Prozesse und des Formenschatzes wird dann lehren, wie aus den gleichen physischen Grundbedingungen unter dem Wirken von Kulturkräften, die nach Art und Intensität voneinander abweichen, entsprechend verschiedene Kulturlandschaftsbilder entstehen. Kulturkräfte, die schon an einer Kulturlandschaft ansetzen, nutzen im allgemeinen voll die schon geschaffene Basis aus, und es stellt sich etwas wie Potenzierung der Kulturwirkungen ein. Nur wenn zu verschiedene Kulturwirkungen einander ablösen, negiert und zerstört die spätere die Schöpfungen der früheren. Je höher die Kulturkräfte sind, desto stärker ist die Umwandlung, desto vollkommener ist der Sieg der Kultur über die Natur. Darum tritt auf den höchsten Stufen der Kulturwirkung im Kulturlandschaftsbilde ein die verschiedensten Naturgebiete nivellierender Zug auf. Eine genaue Analyse der ursächlichen Beziehungen der Kulturlandschaft zur physischen Struktur und Ausgangsform wird aber auch dann noch die ferneren und gröberen Bindungen zwischen beiden aufzuhellen vermögen und erweisen, daß sich die Kulturlandschaft doch immer nur als ein mehr oder minder fadenscheiniges Kleid über die Naturlandschaft legt, durch das die großen Züge der Verteilung von Wasser und Land und die Formen der Erdoberfläche klar zu sehen sind. Das gleiche Klima bestimmt den Ausdruck der Natur- wie der Kulturwirkung. Allein Pflanzendecke und Wohnräume der Tiere samt ihrem Leben unterliegen rascher und oft nachhaltigster Veränderung. Aus dieser Abhängigkeit der Kulturlandschaft von den Naturgegebenheiten erwächst die Forderung, die Betrachtung von der Basis der Naturlandschaft aus durchzuführen. Kulturlandschaftsgeographie ohne die völlige Auswertung der physischen Bedingungen ist ein Unding und steht zugleich im Widerspruch mit dem Postulat der Einheit in der Geographie; und auch der Weg zeigt sich dem suchenden Blick des Forschers in der Fragestellung: Wie wandelt sich der klimabedingte Raum des physischen Lebens zum Lebensraum des Menschen um ? Es ist die Frage nach den Umbildungsprozessen und nach den neugeschaffenen Formen zugleich. Kulturkräfte verschieden hoher Kulturstufen 1 ) setzen an den Klimazonen an, die durch die solare Lage auf dem Erdball, durch ihre Kontinentlage und geomorphologische Gestaltung bedingt werden und ihren besten, das Leben in der physischen Landschaft bestimmenden Ausdruck in der Entwicklung der Pflanzendecke finden, und schaffen den physischen Bedingungen und der Kulturhöhe entsprechende Kulturlandschaftsbilder. Die Untersuchung der Wechselwirkungen bei diesen Prozessen und der sich daraus ergebenden Neuschaffung der Kulturlandschaftsformen bestimmt damit die Methode der Forschung, die im folgenden auf die klimatisch-pflanzengeographischen Typenzonen der Erde als den Ausgangsformen, soweit es der hier verfügbare Raum zuläßt, angewandt werden soll. m m *
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) loh verweise für die Terminologie auf die Kulturstufengliederung, die in meiner bei Borntraeger erschienenen »Politischen Geographie« (S. 442ff.) gegeben worden ist.
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An einen mittleren um die Erde laufenden Klimagürtel gebunden ist die gewaltige menschenfeindliche Zone des T r o p e n w a l d e s . Er ist im großen Überblick, besonders hinsichtlich seiner Kulturgrundlagen, eine Einheit trotz der vielfältigen Abwandlungen nach Aussehen und Wirkung und Gliederung in mannigfache Waldtypen im einzelnen. Die Menschheit ringt mit seiner vegetativen Überfülle um Lebensraum; und in diesem Kampfe mit dem Walde — nicht nur in den Tropen, sondern überall im Milieu des Waldes — und selbst im Siege über ihn, paßt sie sich den Wirkungen der Formation und des Waldklimas an und nimmt Waldvolkcharakter 1 ) an. Die Kulturkraft, die der Mensch zunächst im Kampfe mit dem Walde aufbringt, ist die Rodungskraft. Ist sie noch schwach, noch zu schwach, so beugt er sich der Herrschaft des Waldes und lebt gleichsam als Parasit im Walde, sich fast ausschließlich von dem nährend, was ihm Sammlertum und primitive Jagd bringen. Die Okkupation arbeitet nur für sofortige Konsumtion; und nur ganz selten treten Ansätze zu wirtschaftlichen Anbauformen und kümmerlicher Produktionswirtschaft auf natürlichen Lichtungen auf. Die Siedlung ist erschreckend primitiv und unstet, darum ein rasch wieder ausgelöschter, vorübergehender Kulturzug in der Landschaft; ihrem Wesen nach ist sie eine tief im Waldesdickicht versteckte Schutzzelle. Noch herrschen die Naturkräfte über die Kulturkräfte; und das Leben entwickelt darum, vom übermächtigen Beharrungsgesetz des Waldes gebeugt, nur Kümmerformen, gleichgültig, ob es sich um Konservierung einer uralten Menschen- und Kulturschicht oder um Rückentwicklung von schon höher Entwickeltem, aber noch nicht hoch genug Entwickeltem — um den Kampf mit dem Walde aufnehmen zu können — handelt. Die Naturlandschaft bleibt darum von der geringen Kultur dieser Primitiven fast unbeeinflußt. Mit der Entfaltung der Rodungskraft auf der Stufe der Naturvölker legen sich Rodungsoasen oder -inseln, die zugleich Zellen des Wohn- und Wirtschaftsraums bedeuten, in den Wald hinein. Pfade und natürliche Wasserwege, die mit einfachen, aber voll beherrschten Verkehrsmitteln gemeistert werden, überspannen in einem sehr weitmaschigen, noch recht unvollkommenen und — soweit es künstlich ist — wenig konstanten Verkehrsnetz die Urwaldräume. Das Bedürfnis nach Schutz der Wohnund Wirtschaftszellen erheischt eher die Erhaltung des ursprünglichen Zustandes der Waldzwischenzonen als deren Aufschließung; und damit bleibt zugleich der Wald wie auf der vorigen Stufe Jagdgebiet und Raum für Sammelwirtschaft — eine Region ererbter und doch schon weiter entwickelter Formen wirtschaftlicher Ausnutzung, die in gewissem Umfange auch auf allen höheren Entwicklungsstufen der Waldländer auftreten. Innerhalb der Gesamtwirtschaftsstruktur stellt er aber jetzt noch eine wesentliche Ergänzungslandschaft des Nährraums dar und hat damit noch eine Bedeutung, die später schwindet. Denn die Bewirtschaftung des ') loh benutze bei diesen Ausführungen als eine das Material in weitem Umfange sammelnde und sichtende Vorarbeit ein im Entwurf vorliegendes Dissertationsmanuskript von Georg H ö r n e r : »Die Wald Völker. Ein Versuoh einer vergleichenden Anthropogeographie«.
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Kulturlandes beschränkt sich, zwar bei einer Polykultur der Felder, auf eine der Armut des Waldes an vegetabilischen Nahrungsmitteln entsprechende geringe Zahl — nach ihrer Art in den einzelnen Erdteilabschnitten variierender — Kulturpflanzen und auf die dem engen Raum im Walde und die dem Waldmilieu angepaßte Kleinviehzucht. Diese Anbauwirtschaft arbeitet noch kaum auf Überproduktion hin. Dagegen steuern Jagd und Sammeln zur Weltwirtschaft bei, beleben den Handel der Naturvölker und die Wege im Walde. Vielfältige Anpassung an die Waldenge und alle Bedingungen des Waldes zeigen Haus und Dorf in zum Teil hoch entwickelten Formen. In ihrer Abhängigkeit vom humiden Tropenklima und Feuchtboden sind auch diese Kulturlandschaftszüge nicht von Dauer; fehlt zwar das Unstete der Primitivstufe, so führt doch die Raubwirtschaft zur Erschöpfung der Hackbauflächen, zu neuen Rodungen und zur Verschiebung des Wirtschaftsraumes und damit schließlich zur Verlegung der Wohnplätze, während der Wald selbst wieder von dem völlig erschöpften Land nur langsam Besitz ergreift. So mangelt auch hier der Kulturlandschaft noch die Konstanz; und die Erkenntnis wird gewonnen, daß die Entwicklung der Kulturlandschaft im Walde nicht allein von der Rodungskraft, sondern auch von der Kunst, für die Ersatzstoffe des Bodens zu sorgen, im engeren und primitiveren Sinne von der des Düngens abhängt. Das Vorkommen primitiver, dem Tropenwald gegenüber noch hilfloser Menschengemeinschaften läßt ebenso wie das im Überblick merkwürdig gleichbleibende Bild der Kulturlandschaft auf der Naturvolkstufe — Kulturoasen in inselhafter Verteilung im Walde — die sich in starken Hemmungen äußernde Kulturwidrigkeit erkennen, die er aller Entwicklung entgegensetzt. Der Umfang der im Walde selbst geschaffenen, autochthonen Kultur ist noch schwer zu umreißen. Afrikanische Beispiele sprechen dafür, daß die Kulturlandschaft der Naturvolkstufe, allochthonen Einflüssen und Wanderungen von der Savanne her, ihre Entstehung verdankt; und wiederum lehrt das fast überall übereinstimmende Bild der nur zellenhaften Öffnung, wo der Wald nicht von abermals höheren Kraftwirkungen durchsetzt worden ist, daß dieser Zustand ohne wesentlich starke Kulturkräfte nicht zu überwinden zu sein scheint und wahrscheinlich als Stagnation aufzufassen ist. Nicht etwa völkerpsychologisch, aus der Rückständigkeit der Tropenvölker, vermag dieser Stillstand erklärt zu werden. Denn auch weiße Siedler, die die Vorstellung von der Konstanz und dem in stetiger Weiterentwicklung um sich greifenden Kulturland mitbrachten, haben sich diesem Gesetz der frühen Entwicklung im Tropenwalde unterwerfen müssen, so lange es ihnen nicht gelang, mit Überwindung der Verkehrshemmungen, gestützt auf Kapital und Arbeitskräfte, den Urwaldboden durch rationelle Wirtschaft und durch Zufuhr von Ersatzstoffen dauernd produktionsfähig zu erhalten. So legen sich, ohne weiteres den Kulturlandräumen der Naturvölker vergleichbar, die Siedlungen und Wirtschaftsräume der Deutschen in Espirito Santo oasenhaft (Tafel 1 Bild 1) in den Urwald des brasilianischen Küsten Waldgebirges hinein; Raubwirtschaft führt hier genau so
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wie dort zur Erschöpfung des Bodens und zur Verschiebung der Kulturareale und hat Wanderungen der Siedler zunächst aus dem klimagünstigen südlichen hohen Kolonisationsgebiet hinab in die heißen Seitentäler des Rio Doce und seit etwa zehn Jahren hinüber über den FluB in den jungfräulichen Wald im Norden erzeugt. Auch der von den Weißen organisierte Plantagenbau ist auf früher Stufe den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Die einst so wichtigen Kaffeebaugebiete auf der sanften binnenländischen Abdachung der Serra do Mar im Staate Rio de Janeiro sind heute erschöpft und tragen nur noch Weideland. Ererbte Formen prächtiger Fazenden (Tafel 1, Bild 2) zeugen heute noch von dem einstigen wirtschaftlichen Reichtum bei anders gearteter Bodenausnutzung. Diese Norm des Waldes, die sich in einem merkwürdig starken Beharrungsvermögen der Naturlandschaft äußert, rasch zum Ausgleich von Kulturkraft und Waldwiderstand und zur oasenhaften Aufsplitterung des Kulturlandes im Walde führt und Angewiesensein weniger Siedler auf große Waldräume, also geringe Volksdichte, Extensität der Wirtschaft, Anpassung des gesellschaftlichen, staatlichen geistigen Lebens an den Wald zur Folge hat, kann nur unter der Wirkung intensiver allochthoner Kulturkräfte überwunden werden. Die Vollkulturen haben den Widerstand des Tropenwaldes gebrochen. Siedlungen und Wirtschaftszellen haben sich an den eindringenden Verkehrswegen, dabei sich gegenseitig bedingend, zunächst zellenhaft aufgereiht. Wachstum dieser Zellen hat gegenseitige Annäherung des Kulturlandes und gassenhafte, schlauchartige Öffnung des Waldes im Bereich der Verkehrszonen zur Folge gehabt, wie das heute im westlichen Säo Paulo noch gut zu beobachten ist. Fortschreitende Besiedlung hat stellenweise zur immer stärkeren Durchdringung des Waldes zugunsten des sich stetig schließenden Kulturlandes geführt, das sich mit einem vielfach differenzierten Wegenetz überzieht. Zunehmende Waldarmut drängt zur Aufforstung (Säo Paulo). Die Kulturlandflächen zeigen das Bild einförmiger Monokultur; aber die Zahl der Kulturpflanzen hat bedeutend zugenommen, und der Anbau arbeitet für den weltwirtschaftlichen Austausch. In dem weit zur Kultursteppe geöffneten Waldland sind die großen Kulturtiere heimisch geworden. Mit diesen Formen hat die umgebildete tropische Waldlandschaft entschiedene Züge der Kulturnivellierung erhalten, die sich am entschiedensten im Siedlungsbild selbst ausprägen. So erinnern die größeren geschlossenen Siedlungen des brasilischen Küstenwaldgebirges an die mittelmeerischen Vorbilder der portugiesischen Eroberer (Taf. 2, Bild 3); die größten Schöpfungen, wie Rio de Janeiro, die Weltstadt in den Tropen, und Säo Paulo, die extremsten Wirkungen des Umbildungsprozesses, haben ihre Analoga in den Riesenzentren des europäischen und nordamerikanischen Kontinents. Aber selbst beim Anblick solcher Kulturwunder in den Tropen, die zur Feststellung der Umkehr der Naturkräfte drängen, wo an die Stelle kulturhemreender Aufsplitterung des Wirtschaftsraumes und Isolierung der Menschen Zusammenballung der Bevölkerung bei regstem Wirtschaftsleben getreten ist, sind doch nicht schwer letzte Wirkungen des Tropenwaldmilieus zu erkennen (Tafel 2, Bild 4). D r y g a l s k l , Festgabe.
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Die W ä l d e r d e r k a l t e n Z o n e und die waldnahen Tundrengebiete mögen auf Grund ihrer die Kulturentwicklung hemmenden W i r k u n g dem Tropenwald in flüchtiger Erwähnung parallel gesetzt werden. W e n n diesem Walde auch die Primitiven fehlen, so kommt doch bei dem fast allem Anbau widrigen Klima die Entwicklung der Kulturlandschaft rasch zum Stillstand. Nur wenig hat sich die Naturlandschaft im Bereiche der Siedlungen geöffnet, neben deren Bodenstete, besonders der der Fischerniederlassungen, ein stark nomadischer Zug des Jägertums und Ren-Nomadentums herrscht. Ihrer Wirtschaftsstruktur nach ist die Landschaft fast reine Okkupationslandschaft, in der sich zur Fristung des Lebens, ähnlich wie im Tropenwalde, mannigfache sich ergänzende Wirtschaftsformen, neben primitiver Viehzucht J a g d und Fischerei und Sammlertum, bei nahezu unentwickelter Verkehrsstruktur ausgebildet haben. Viel Nachdruck in der Einzelforschung wird naturgemäß auf das Studium der Entwicklung der Kulturlandschaft in der W a l d z o n e d e r g e m ä ß i g t e n B r e i t e n gelegt werden; und dankbar ist schon heute der gründlichen und anregenden Arbeiten von G r a d m a n n , Schlüter, W a h l e u. a. zu gedenken. Allein mehr Rekonstruktion als unmittelbares Erfassen und Festlegen der Entwicklungsvorgänge und -formen ist solche Arbeit, zum mindesten für die älteren Phasen; und die Entwicklung der Landschaft unter der Wirkung der Kräfte früher Kulturstufen bleibt für die altweltlichen Anteile der Mittelzone eine unbeantwortbare Frage. Nur Nordamerika bietet in der Hinsicht ein günstiges Arbeitsfeld, dessen Studium die bei der Betrachtung des Tropenwaldes gewonnenen Ergebnisse in wenig abgeänderter Form zu wiederholen scheint. In der Alten Welt gehen deutlich erkennbare Wirkungen erst von einer Halbkultur aus, die unter dem Einfluß der Umwelt, mit den Kulturvölkern des Mittelmeers und des Orients, vielleicht auch mit denen Süd- und Ostasiens in Verbindung s t e h t . Schwer ist darum zwischen autochthoner und allochthoner Entwicklung hier zu scheiden. Um so klarer erscheint aber die alle Weiterentwicklung bedingende Gunst in der Ausbildung der Naturlandschaft: der Wald wird von natürlichen Lichtungen oder leicht zu rodenden Landstrichen, gebunden an Löß- und Kalkland, durchsetzt; er zeigt so Schwächezonen, von denen aus und an denen Waldwiderstand leichter zu brechen ist. Auch die Sand- und Moorgebiete sind Zonen der Sonderentwicklung in diesem Waldland und werden hier nur erwähnt, weil sie Unterbrechungen der einheitlichen Decke darstellen. W o immer neuerdings Einzelarbeiten das Werden der Kulturlandschaft zu analysieren versuchen, indem sie für verschiedene Zeiten Querschnitte durch die Landschaften legen und die genetischen Beziehungen dieser einzelnen Bilder mit der heutigen Kulturlandschaft aufhellen wollen, ob in der W e t t e r a u , ob im Saapgebiet, ob am Rande des westrheinischen Schiefergebiiges bei Aachen 1 ), stets hat sich die allgemeine Anschauung bestätigt, ') Ich beziehe mich auf die vorläufigen Ergebnisse der Studien mehrerer Schüler: H. Michel: »Beitr&ge zur Geographie der deutschen Kulturlandschaft am Beispiele
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daß die Löß- und Kalkgebiete die am frühsten erkennbaren Kulturlandschaftsbereiche trugen, während die geschlossenen Wälder daneben viel später in die Entwicklung einbezogen wurden. So weist das Lößland der Wetterau, darin vergleichbar der Aachener Börde, bei erstaunlich früher Reife eine völlig kontinuierliche Entwicklung der Kulturlandschaftsformung auf. Ebenso bleibt der Wetterau auf allen Stufen der Weiterbildung der Charakter eines Passage-, Straßenlandes und dicht besiedelten, mit großen Wohnzellen besetzten Fruchtlandes gewahrt. Auf den frühe von den Siedlern aufgesuchten Kalkplatten zeigt sich dagegen nach einer gewissen Entwicklungsspanne häufig Stillstand: nach entschiedener Vorherrschaft als Siedlungs- und Wirtschaftsraum wahrscheinlich schon während prähistorisch-keltischer Zeit, sicher zur römischen und fränkischen Zeit, t r i t t die lothringisch-pfälzische Muschelkalkplatte allmählich hinter den später aufsteigenden Landschaften in der Mitte des Saargebiets mehr zurück. Diese früh entwickelten Landschaftszellen bildeten die Kulturbasis, die Rodungsbasis, von der aus die Rodungskräfte das umliegende Waldland öffneten. Die Siedler haben dabei, wie in den Tropen, nicht etwa Gassen in den Wald gebrochen; sie folgten wohl den Wassern und den Tälern hinein in den Wald und in das Gebirge, ohne aber Lichtungen entlang des Weges zu schaffen. Das neue Kulturland entstand in der Form von Rodungsinseln im Walde, die erst später in schlauchartigen Fortsätzen miteinander verwachsen sind. So ist der Spessart von der Rodungsbasis des Untermaingebiets wie von der der fränkischen Muschelkalkplatte langsam durchdrungen worden. Während jene beiden offenen Landschaften in prähistorischer Zeit dicht besiedelt waren, war das dazwischenliegende Gebirge Niemandsland und noch Waldglacis vor dem römischen Limes, Waldgrenzsaum im karolingischen Deutschland und hat noch als solcher die Bildung der landesherrlichen Territorien beeinflußt. Erst gegen Ende des ersten christlichen Jahrtausends erscheinen im Hochspessart (auf dem Bereich des Blattes Lohrhaupten), die Siedlungen, die sich allmählich mehren, und um 1200 liegen nur Dörfer in den Tälern, zum Teil in deutlicher Beziehung zur alten Birkenhainer Straße. Es sind Rodungsinseln im Walde; denn noch um 1754 ist die Flur der meisten Dörfer völlig vom Walde umschlossen, und erst seitdem ist das Feldland, Talgassen und Talbuchten zwischen weiten Kulturwaldarealen bildend, zusammengewachsen zu einer spät und nur strahlig geöffneten Waldlandschaft. Wirtschaftsleben und -formen zeigen hier in allen Phasen den tiefen Einfluß des Waldes. Je nach Lage, Geomorphologie, Boden und Klima verlaufen die Rodungsprozesse nach Zeit und Tempo verschieden, und sie führen dementsprechend zu recht abweichenden Kulturlandschaftsformen in frühen und mittleren, z. T. noch in den späteren Stadien. Neben der schlauchartigen Verbindung der Meßtischblätter Butzbach (Wetterau) und Lohrhaupten (Buntaandsteinspessart)«, R. V ö l k e l : »Beiträge zur Geographie der deutsehen Kulturlandschaft am Beispiele der Meßtischblätter Lindenfels (kristalliner Odenwald) und Bensheim (Bruchrand und Rheingraben)«, C. S c h n u r : »Die Entwicklung der Kulturlandschaft im Saargebiet« und H. O v e r b e o k : »Die Entwicklung der Kulturlandschaft des Aachener Wirtschaftsgebietes«. 2*
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einzelner Rodungsinseln der Täler (Spessart) und der mehr gassenhaften Öffnung langer Siedlungsräume (Odenwald, Erzgebirge), zwischen denen zum Teil noch völlig isolierte Oasen in den Waldvierteln der Höhen liegen, lagern die Formen ausgedehnterer, aber scharf zerschnittener Hochflächen (Teile des Rheinischen Schiefergebirges). Breite Kulturlandzonen umklammern und durchdringen hier den Wald und zehren ihn allmählich auf, während er in den wirtschafts- und siedlungsfeindlichen Talhängen erhalten bleibt. Anderwärts fressen sich wieder Rodungsbuchten in die Hänge waldiger Kammgebirge (Taunus) ein; und in den Waldbecken erweitert sich von sekundärer Rodungsbasis (Fulda) aus das Kulturland konzentrisch 1 ). Noch fehlt es an speziellen Studien über die Entwicklung der Formen und der sie bedingenden Kräfte, die an typischen Beispielen durchzuführen wären, um den Sinn der Kulturlandschaft zu erfassen. Bei der genetischen Betrachtung der Elemente des Landschaftsbildes wiederholt sich immer wieder derselbe Grundzug in ihrer Wanderung von der früh offenen in die vom Walde einst verschlossene Landschaft; vielfach ist es ein Vorrücken von der Tiefe zur Höhe, ohne daß dabei viel Rückbildungen zu erkennen sind; doch zeitiges Stehenbleiben begegnet recht oft. So schreiten die Errungenschaften in der Feldbestellung vor, macht die frühe extensive Feldgraswirtschaft, die in Mitteleuropa nur noch in den abgelegensten Zonen (z. B. in dem hohen Erzgebirge) angetroffen wird, der Dreifelderwirtschaft und diese wieder der intensiven Fruchtwechselwirtschaft Platz; ebenso hat sich die Kunst des Düngens und die Verwendung der Wirtschaftsgeräte verbreitet. Analog sind Kulturpflanzen und Kulturtiere gewandert und haben zu einer immer größeren Bereicherung der Wirtschaftsflächen und des Wirtschaftslebens geführt. Auf diesem Wege ist allmählich die Umbildung des Waldes aus dem Urwalde in einen immer intensiver, auch vielfach von primitiver Waldindustrie ausgenutzten Okkupationsraum und dann in den Kulturwald, den Forst, eine von dem Menschen geschaffene Anbauform erfolgt. In derselben Richtung hat die Verkoppelung, Zusammenlegung der in den Gewannen durch Erbteilung immer mehr zerschlagenen Äcker und Äckerchen das Bild der Feldmark monotoner gestaltet und ihre Wirtschaftswege in ein geometrisches Netz gedrängt. Selbst in den offenen Landschaften geht sie aus von den großen Kulturzentren gegen die peripherischen Gebiete hin — die Wetterau z. B. ist von Süden her bis in die Gegend von Butzbach verkoppelt —, um vor den deutschen Mittelgebirgslandschaften noch vielfach Halt zu machen. Im ganzen erobert sich so erhöhte Wirtschaftskraft stets neue Ansatzflächen und ringt immer umfangreicheren Gebieten größere Beträge ab. Auch Rückentwicklungen und Umstellungen fehlen nicht. Aus alten Zeiten sind Beispiele von Feldfluren und besiedelten Gebieten bekannt, die heute bewaldet sind, und ebenso lassen sich aus neuerer Zeit zahllose 1
) Das hat Aenne S c h m ü c k e r in einer Untersuchung: »Der Fuldaer Wald- und PaBstaat« gezeigt. Man vgl. die dieser Arbeit entnommene Karte in meiner »Politischen Geographie« S. 229.
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»Verwaldungen« und Wiederaufforstungen nachweisen, z. T. in schon waldarmgewordenen Gebieten, aiber gerade auch in Waldgebirgen auf mageren, vom Ackerbau wieder aufgegebenen Strichen (Spessart 1 ). Aus dem Vogelsberg ist ein charakteristisches Abwärtsrücken des Feldlandes und Nachdrängen von Weide und Forst bekannt geworden 2 ). Solche Wandlungen im Landschaftsbild sind jedoch geringfügige Züge, die wenig den kontinuierlichen Gesamtcharakter der Entwicklung und die Konstanz des Geschaffenen stören. In Parallele zur Entwicklung des Wirtschaftsraums steht die der Wohnzellen und Verkehrsadern. Ist die geschlossene Siedlung in den vom Walde befreiten Landschaften schon früh, selbst schon in prähistorischer Zeit vorhanden, so zeigt sich dagegen — im Waldland des Spessart — später Zusammenschluß einzelner weilerartiger Zellen zum größeren Wohnraum. In der allgemein von den Kulturkräften eingeschlagenen Richtung — von draußen nach innen — treten im Verein mit den eindringenden, leistungsfähigeren Verkehrswegen Fortschritte im Hausbau und der Hauseinrichtung ein. Das lokale Verkehrsnetz erleidet vielfache Änderungen und stellt sich auf die' lokale Verkehrsbasis der neuen Haupt Verkehrswege um. Auf diesen Wegen wandern die Wirtschaftsgüter in beiden Richtungen; während die Kultur der lokalen und ferneren Kulturbasis als Bildung, Sitte, Gesinnung, Tracht, ja selbst als Sprache vom Maximum aus zentrifugal fortschreitet. Mit der Öffnung der Waldlandschaft hat sich die Stadt, die bevorzugte Form des bodensteten Wohnens in den offenen Landschaften, aus den Motiven des gesteigerten politischen, wirtschaftlichen und Verkehrslebens heraus entwickelt. Ihre Verbreitung erfolgt, wie die aller Kulturlandschaftselemente, in den Bergländern von der Tiefe nach der Höhe; und offene, durchgängige Landschaften sind früher mit Städten gesättigt als weniger wegsame Berglfinder. So wird in Hessen 8 ) der zahlenmäßige Höhepunkt der Städtegründungen um ein ganzes Jahrhundert früher (im 13. Jahrhundert) erreicht als in dem benachbarten ostrheinischen Schiefergebirge 4 ), trotz der frühen städtischen Entwicklung (auf römischer Grundlage) im Rheintal. Der Charakter der Städte als planmäßige Gründung oder Umbildung älterer Siedlungen hat mit dem Wandel oder gar dem Erlöschen der als Gründungsmotive wirkenden Kräfte rasch Stillstandsformen dieses Siedlungstypus erstehen lassen — aber nicht etwa »tote « Formen, wie vielfach behauptet wird. Sie liegen als Zwerg- und Landstädte in der Landschaft; es sind auch keine Rückbildungen, denn sie haben zum größten Teil kein anderes Leben gekannt, und die ersteren heben sich kaum von den dörflichen Siedlungen ab. Nur die Entwicklung *) Nach H. Miohel, der auoh den Terminus »Verwaldung« gebrauoht. *) Nach Angaben meines Schülers H. Meyer. *) Erich Sohrader, Geographie der Städte der hessischen Landsohaft. Dissertation Frankfurt a. M. 1922. Im Auszug veröffentlicht als: »Die Stftdte Hessens« im Jahresbericht des Frankfurter Vereins für Geographie und Statistik. 84. bis 86. Jahrg. Frankfurt a. M. 1922. ') Nach der Frankfurter Staatsexamensarbeit von Margarete Kurzenaoker (Schw. Wilfreda): Stftdtegeographie des südostrheinischen Schiefergebirges, 1923.
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weniger meist früh und in hervorragender Lage gegründeter Städte hat über die in der Landschaft häufig auftretenden Zwischenstufen von Kleinund Mittelstädten zur Ausbildung besonderer Landschaftszellen geführt, die mit Recht »Städtelandschaften* genannt und in der letzten Zeit einem intensiven geographischen Studium unterzogen worden sind. Denn es sind Räume, die eine vollkommen andere anthropogeographische Struktur als die Umgebung tragen und in allen Zügen in ihrer Physiognomie zum Ausdruck bringen. Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr, Verwaltung und Bildung, Wissenschaft und Kunst haben hier auf relativ kleiner Fläche zu bedeutenden, oft riesigen kulturanregenden Menschenzusammenballungen geführt. So ist die Stadt die Kulturbasis für die Umgebung geworden, und große städtische Zentralen sind an die Stelle der offenen Landschaften von einst getreten. Diese städtischen Zellen sind aber nicht mehr nährbodenständig, sondern nur erwerbsquellenständig. Sie lösen sich darum nicht als eigene Räume aus der Umgebung heraus, sondern überspannen diese polypenartig mit einem Gewirre von Verkehrsarmen, das nirgends so dicht ist wie hier, Nahrung und Arbeitskräfte aufsaugend und Fabrikate und Kulturgüter austauschend. So liegen die Städte in der Kulturlandschaft als Orte des zentralisierten und wieder von hier ausstrahlenden Lebens; und soweit sie, physiognomisch und dynamisch, überhaupt als Städte bezeichnet werden dürfen, beherrschen sie das Umland und leben zugleich von ihm. Erscheint wohl so die Kulturlandschaftsentwicklung nach Ablauf und Formengestaltung in großen Zügen klar, so bleiben einer Forschung, die auf die Erklärung der Formen aus den Kräften drängt, noch viele Fragen zu beantworten. Für die frühen Perioden ist recht oft weder das Wesen noch die Zeit des Einsetzens neuer Kulturkräfte klar zu erkennen, und meist nur vage können darum kausale Beziehungen zwischen ihnen und den Kulturlandschaftsformen angenommen werden. Es liegt z. B. wohl nahe, solche ursächlichen Verkettungen zwischen der raumfordernden extensiven Feldgraswirtschaft und den Rodungsprozessen des frühen und mittleren Mittelalters anzunehmen. Ebenso fällt das Abebben der intensiven Rodetätigkeit mit dem immer weiteren Umsichgreifen der viel ertragreicheren Dreifelderwirtschaft zusammen. Bewiesen sind diese Annahmen jedoch keineswegs. Kein Aufschluß könnte die Wirtschaftsraumentwicklung so klären wie Feststellungen, wann und in welchem Ausmaß zum Zwecke kontinuierlicher Ausnutzung dem Boden Ersatzstoffe zugeführt worden sind. Trotz vieler Einzelangaben scheint es kaum zu gelingen, wirklich klare Vorstellungen über die Bedeutung des mittelalterlichen Handels und Verkehrs und des lokalen Marktlebens für die Entwicklung der Städte zu gewinnen. Für die jüngere Zeit ist dagegen das Einsetzen neuer Kräfte quellenmäßig sicher zu belegen. Zuwanderung, wie die der Hugenotten, hat zur Entfaltung des Wirtschaftslebens bestimmter Siedlungen und zur Gründung von neuen Wohnzellen geführt. Umstellung in der Wirtschaftsstruktur h a t vielfach auch im Landschaftsbild Wandlungen zur Folge. So hat z. B. das Ausgehen der Glashüttenindustrie im Spessart den letzten großen Rodungsprozeß, das Zusammenwachsen der Rodungs-
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inseln, ausgelöst. Noch spätere Wandlungen standen meist schon unter unmittelbarer wissenschaftlicher Beobachtung. Die geschaffenen Formen erweisen sich weiterhin als Resultanten aus der Kulturkraft und den physischen Entwicklungsmöglichkeiten. Durch die letzteren mitbedingt, erscheinen sie als Formen der Anpassung an die Landschaft. Den zahlreichen offenen Flächen entspricht — im Gegensatz zur Entwicklung im Tropenwalde — die frühe und vorherrschende Bedeutung der Großviehzucht. Die Einwanderung der Kulturtiere und pflanzen muß der Anpassung, besonders an das Klima, Rechnung tragen. Die Kulturform der Feldgraswirtschaft steht dem natürlichen Milieu am nächsten; während in der Dreifelderwirtschaft samt ihrer Gewanneinteilung schon eine rationellere Ausnützung des im ganzen oft mageren Bodens zu sehen ist, der selbst auf engem Raum nach Güte und Exposition vielfach wechselt. Das-Haus — sowohl das ländliche wie das frühe städtische — ist eine Ausdrucksform des Wirtschaftslebens und zeigt darum engste unmittelbare Beziehungen zum Wirtschaftsraume und damit auch zur Landschaft, nicht etwa zum Stamm. Denn innerhalb eines — doch nur durch Rekonstruktion zu gewinnenden — deutschen Stammesgebiets, z. B. des der Chatten, zeigt das Haus mannigfache Abwandlungen und nimmt z. T. ganz abweichende Formen an. Ähnlich wie das Haus ändert sich der Gesamttypus der Siedlungen in ständiger Anpassung an die Naturlandschaftsbedingungen, an Baugrund und Bodenform, an Baumaterial und Wasser; sie suchen die Gunst des Klimas und Schutz vor seinen widrigen Einflüssen, sie suchen Schutz vor Menschen und doch wieder Beziehung zur Umwelt, nach der sie die Verkehrsarme hin ausstrecken. Selbst die erst in jüngerer Zeit das Kulturlandschaftsbild intensiver bestimmenden Industriesiedlungen, die bei flüchtiger Betrachtung wie zufällige Einlagerungen erscheinen, entbehren der innigen mittelbaren oder unmittelbaren Verkettung mit der Landschaft nicht und erweisen sich als bodenständig hinsichtlich Rohmaterial, Naturoder Menschenkraft, verkehrsständig oder konsumtionsständig. Im Landschaftsbilde liegen die Stadien einer Entwicklungsreihe, oft recht unregelmäßig verteilt, nebeneinander, von der einsamen Industriezelle und dem industriellen Annex kleiner Siedlungen — über die vielgliederigen Reihen industrieller Schöpfungen oder solcher in flächenhafter Streulage, die sich in eine andersgeartete Umwelt hineinlegen und sich von ihr nähren, z. T. noch mit ihr eng verwachsen sind, zu den großen Industrievierteln der Städte und schließlich zu der reinen Industrielandschaft mit ihren großhalligen Arbeitsstätten, ihrem Wald von Schloten, ihrer Rauchatmosphäre, ihrem monotonen Lärm, ihren langweiligen, gleichförmigen Wohnvierteln und ihrem dichtesten Verkehrsnetz, dessen eine Aufgabe in der Versorgung mit Nahrungsmitteln der dem Ackerbau völlig entfremdeten Zone besteht. Wo immer ein intensives Studium einer Kulturlandschaft einsetzt, wird sich aus der wechselseitigen Abhängigkeit der einzelnen Elemente eine Synthese des Ganzen ergeben. Am meisten eignet sich zu solcher Feststellung die Betrachtung von Übergangsformen, die sich von den Höhen waldiger Gebirge allmählich zur Tiefe senken, etwa die des Profils vom Feldberggebiet im Taunus westwärts zur Idsteiner Senke. Da liegen fast
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noch auf Rodungsoasen, nur durch schmale Wiesentäler mit den Feldlandzellen im Norden verbunden, die obersten Feldbergdörfer. Der Boden ist steinig und kalt und gibt karge Erträge, im Gelände stören steile Formen, der Wirtschaftsraum ist eng, und der Anteil der Wiese am offenen Land scheint den der Äcker zu überwiegen. Siedlung und Wege stehen unter dem Zwang der Geomorphologie, und das kleine Haus spiegelt in seinem engen Höfchen und seinem Mangel an besonderen entwickelten Wirtschaftsgebäuden den Tiefstand der Landwirtschaft und gibt sich als Stätte früherer Heimindustrie, heute als Wohnsitz von Arbeitern zu erkennen, die fern von ihm beschäftigt sind. Mit dem Überstieg zum Emstal gewinnen Siedlung und Feldland mehr Raum, die Dorfform befreit sich aus der Zwangslage im Tal oder am Hang, und die Wege strahlen allseitig aus. Die Wirtschaftsausstattung ist schon reicher, und einige Ackerbauernhöfe erscheinen. Diese letzteren beherrschen das Straßenbild in den großen Dörfern der Idsteiner Senke, wo breite Feldlandgassen mit regelmäßig aufgeteilter Flur das Waldgebirge durchziehen. Werden in solcher Weise verschiedene Gebiete mit starken landschaftlichen Gegensätzen (Spessart—Wetterau, Odenwald—Rheingraben) betrachtet, so sind die Abweichungen untereinander auffälliger, ihre Kausalitäten sind aber nicht so zwangsläufig wie in jenen schwächeren, aber doch deutlich markierten Übergängen zu erkennen. Im allgemeinen gehören die in den Waldländern der gemäßigten Zonen entwickelten Kulturlandschaftsstadien einer Reihe an, die die Tendenz der Umbildung des Waldes zur Kultursteppe zeigt; und die Einzelformen ordnen sich diesem Vorgange unter. Die Einzelländer der Zone sind noch verschieden weit von dem Endstadium entfernt, am weitesten steht noch der junge europäische Osten ab, während ihm der kulturälteste Westen am nächsten gerückt ist. Die Mitte Europas, dessen Beispiele allein als Beleg für methodische Erörterungen gewählt wurden, lehrt vielleicht die reichste und reifste Phase in einem Bilde stärkster Differenzierung und verschiedenartigster Auswertung und Formung der Landschaft kennen; es ist das Werk einer rege und sich mannigfach entfaltenden Kultur kraft, die neben allen übrigen Anregungen durch die Naturbedingungen vornehmlich auf eine starke klimatische Energie zurückzuführen ist. Dem Wechsel recht gegensätzlicher, aber doch nicht zu scharf akzentuierter Tages- und Jahreszeiten und dem raschen Aufeinanderfolgen verschiedener Wetterlagen verdankt sie ihre Wirkungen. So arbeitet trotz der vielen Übertragungen und Entlehnungen aus der Ferne, aus früher entwickelten Gebieten die Naturlandschaft selbst an der Bildung der Kulturlandschaft. Zu diesen früh entwickelten Gebieten gehören die lichten W a l d l ä n d e r der S u b t r o p e n , deren Waldwiderstand zudem noch durch die Einlagerung anderer, z. T. wegsamer Pflanzenformationen gebrochen wird. Ihr Entwaldungsstadium — der Ausdruck der langen Kultureinwirkung — ist bekannt und vor allem für die Mittelmeerländer vielfach beschrieben worden. Aber trotz der weit vorgeschrittenen Entwicklung ist doch noch zu erkennen, daß sich die Kulturlandschaftsbildung unter dem Gesetz des Waldes vollzogen hat, und daß die Vorgänge keinen wesentlich anderen Ablauf genommen haben als in anderen Waldländern. Im Peloponnes
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werden die altbesiedelten, offenen Gebiete von immer noch beträchtlichen Gebirgswaldungen umsäumt, aus denen sich die ehemaligen Waldgrenzsäume leicht rekonstruieren lassen; und ebenso hat die Entwicklung des antiken Griechenlands in dem waldarmen, trockenen Osten eingesetzt und dort rasch Kulturlandschaften entwickelt, die vom heutigen Bilde nicht sehr abweichen. Neben dem Anbau in den Beckenlandschaften und auf den Kulturterrassen der Hänge spielt auf dem steinigen, kargen Boden der Höhen die Kleinviehzucht als Anpassungsform an die Landschaft eine wesentliche Rolle. Ähnlich wie die lichten subtropischen Wälder den an die Regen zu allen Jahreszeiten gebundenen Wald der gemäßigten Zone säumen, legen sich um den tropischen Regenwald die im Vergleich zu diesem doch schon lichteren T r o c k e n w ä l d e r als Übergangsformation zur Savanne. Eine entsprechende Zwischenstellung zeigt auch ihr Kulturlandschaftsbild. Neben den im Waldesdickicht lagernden Hackbauoasen (Tafel 3, Bild 5) hat von den offeneren Räumen die Großviehzucht Besitz ergriffen; doch wie im Urwalde stagniert die Entwicklung bald, und erst allochthone Kultur vermag eine Kulturlandschaft in zusammenhängender Fläche zu schaffen. Der Lebensraum des entschiedenen Fortschritts in den Tropen ist die S a v a n n e . Zwar ist der Boden weniger ertragreich als der des Tropenwaldes. Der Feldbau erfordert darum noch große Flächen bei extensiver Wirtschaft, und Körnerfrüchte verdrängen hier allmählich die Knollenfrüchte des Waldes. Aber sowohl die Umwandlung der Savanne in Kulturland durch Abbrennen (Taf. 3, Bild 6) wie die Feldbestellung ist leichter als im Walde. Die natürlichen Wirtschaftsmöglichkeiten zeigen auf der Savanne ein doppeltes Gesicht: sie ermöglicht noch den Feldbau und dient zugleich als Weide für die großen Kulturtiere. Aus diesen doppelten Wirtschaftsquellen wird die reiche Entwicklung vieler Savannenländer schon auf frühen Stufen gespeist, die ergänzt wird durch regen Handelsaustausch in dem von Natur relativ verkehrsfreundlichen Gebiet. Die Siedlungen sind stärkere Zusammenballungen der Menschen im Raum als im Walde, weil sie den von Natur aus fehlenden Schutz in ihrer eigenen Struktur suchen, die zu festerem gesellschaftlichem und politischem Zusammenschluß und damit zu höheren Formen des Lebens führt. Zugleich sind sie an das Wasser gebunden. Die scharfe Periodizität des Wechselklimas drängt zur Vorsorge für die trockene Zeit und gibt so weitere Richtlinien für den gesamten Lebensablauf. Trotz dieser vielfältigen Anregung zur Höherentwicklung, die das Leben aus den Naturwirkungen der Savanne empfängt, führt die autochthone Kultur nicht über die beginnende Halbkultur hinaus. Die Zugehörigkeit der Savanne zu den Tropen scheint die weitere Entfaltung der eingeborenen Lebensäußerungen zu hemmen, und die Kulturlandflächen liegen noch zellenartig in der Urlandschaft, die freilich vom Verkehr rege und als Okkupationsfläche von der Viehzucht und als Jagdraum ausgenutzt wird. Rasch erobert höhere allochthone Kultur die Savanne. Sie überspannt die Savanne mit einem Netz von Wegen; an den Hauptsträngen entstehen einzelne städtische Zentren und abseits davon, der noch extensiven Wirtschaft angepaßt, viele Einzelsiedlungen.
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Zugleich beginnen größere Flächen sich zusammenzuschließen zu einheitlicheren Kulturlandräumen. Die weitere Wanderung um die Erde von den humiden zu den ariden, von den vegetationsreichen zu den vegetationsarmen Zonen hin führt zu den w a r m e n S t e p p e n l f t n d e r n und zu neuen Prozessen und Formen der Kulturlandschaftsbildung. Die Steppe, das Grasland ohne Baumwuchs, ist von Natur aus Weidegebiet, und in der langen Trockenzeit ist sie ein Raum natürlicher Heuproduktion. Das Leben der Frühstufen hat diese Naturgunst voll ausgenutzt und zum eigentlichen Lebensraum der Hirten gemacht, die nomadisierend mit ihren Herden das Grasland abweiden. Die Steppe ist darum auf dieser Stufe nur Okkupationsraum, der seine natürliche Formation nach der Ausnutzung ständig wieder neu ergänzt. Dem Nomadismus zufolge sind die Siedlungen nur bodenvag und ihre Spuren wieder leicht verwischt. Die Naturlandschaft erleidet unter dem Einfluß des Hirtenlebens nur geringe Umwandlungen; und doch sind die Kulturkräfte in der Steppe selbst schon jetzt nicht gering. Zwar verläuft das aus dem Steppenmilieu heraus geborene Leben einförmig und ist so einseitig entwickelt, daß es vor allem nach der wirtschaftlichen Ergänzung aus Ackerbaugebieten verlangt. Die Verkehrsgunst der Steppe ist diesem Drange günstig gewesen und hat neben dem Austausch an Bedürfnissen des Lebens zur vielfältigen Verknüpfung mit dem Leben der Ansässigen geführt, daß die Steppe ohne diese Beziehungen nicht begriffen werden kann. Von dieser Basis aus sind auch die mannigfachen Verschiebungen zwischen Steppe und Anbauland in der Grenzzone zwischen beiden zu verstehen. Die Steppe ist so nie von allochthonen Einflüssen frei gewesen und hat darum vielleicht vielfach die Höhe der Halbkultur, gelegentlich Fortschritte, die bedeutend darüber hinausführte, namentlich auf dem Gebiete der Sozial- und politischen Struktur, erreicht, ohne ihr eigentliches Wesen zu ändern. Aber aus sich heraus ist die Entwicklung nirgends darüber hinausgegangen. Die Erreichung höherer Stufen für die Natur hat der allem Leben in der Natursteppe notwendige Wandertrieb des nomadischen Hirtentums verhindert. Seine Überwindung konnte nur in kräftigem Vorstoß der Pflugbauern von außen erfolgen. Unter der Wirkung des Pflugs sind große einheitliche Feldlandflächen — in den Pampas, Prärien, der russischen und turanischen Steppe — entstanden; die Steppe wurde besiedelt und befriedet. Aus der Natursteppe wurde unter der Einwirkung hoher Kultur die Kultursteppe. Kulturgräser, Getreide wiederholen in auffälligster Anpassung an das Naturmilieu die einförmigen Flächen der Wildgräser; aber sie haben den Steppen, die vorher wenig für die Wirtschaft der Umwelt bedeuteten, als Kornkammern der Erde in der Raumstruktur der Weltwirtschaft eine hervorragende Stelle zugewiesen. Bedeutend ungünstigere Entwicklungsbedingungen zeigen die k a l t e n S t e p p e n l ä n d e r , die Tundraländer und die kalten Hochsteppen, und nur die „subpolaren Wiesenländer" und die diesen in den Gebirgen entsprechenden mittelhohen Mattengebiete nehmen unter den kalten Steppen wieder eine bevorzugtere Stellung ein. Es sind Gebiete der Viehzucht, die teils von Nomaden, teils von Halbnomaden, teils von Ansässigen
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betrieben wird; nur schwache Umbildungen zur Kulturlandschaft sind ihnen eigen. Stagnation hinsichtlich Kultur höhe und Entwicklungsbreite im Raum ist ihr Kennzeichen; und wiederum zeigen nur die Wiesenund Mattenländer Andeutungen erkennbaren Fortschritts. Die W ü s t e n , die Kältewüsten wie die der wärmeren Zonen, sind an sich sterile Gebiete; und große Areale, wie die Eiswüsten der polaren Zonen, die Fels- und Sandwüsten, die Fels- und Gletscherstufen der Hochgebirge, müssen als absolut steril angesehen werden, wo sich das Leben, künstlich genährt, nur hie und da eine Weile halten kann. Allein überall liegen zwischen den sterilen Räumen Ansatzpunkte bodenständiger Entwicklung, und wie in der Landschaft der Vegetationsfülle beginnt auch in der der Vegetationsleere die Bildung des Lebensraums mit der Zelle. Im hohen Norden fristen auf der arktischen Trift, deren karger Nährraum durch den reicheren des Meeres ergänzt wird, Menschen auf tiefer Stufe ihr Kümmerdasein. In den Wüsten der warmen Länder ist die O a s e , an die Naturgabe des Wassers und die Kunst der Berieselung gebunden, die Zelle des Lebensraumes; und nur soweit die Möglichkeit und die Fähigkeit zur Bewässerung des Landes reicht, kann die hohe potentielle Fruchtbarkeit des Wüstenbodens in Energie des Wüstenbodens umgewandelt werden und Kulturlandschaft in der Form der Fruchtgärten der Oasen entstehen. Wie es im Walde die Rodungskultur und die Befähigung, dem Boden die Fruchtbarkeit zu erhalten, ist, die den Lebensraum schafft, so ist es hier die Berieselungskultur. Doch weit zwingender als im Walde ist alles Leben an den neugeschaffenen engen Raum gebunden; und eine sonst selten in solcher Schärfe zu beobachtende Linie trennt hier das Kulturland von dem sterilen Raum. Die zwingende Abhängigkeit von der natürlichen Wasserstelle drängt von früh an zur festen Siedlung, zu den materiellen und geistigen, durch Konstanz und Kontinuierlichkeit der Entwicklung gekennzeichneten Formen der Ansässigen, die damit gleichsam die Frühstufen der Waldvölker überspringen. Doch diesem kulturfördernden Einfluß des inselartigen Zwangraums steht dessen kulturhemmende Enge und Verkehrsisolierung gegenüber. Der dürftige Austausch mit der Umwelt und die geringe Entwicklungsbreite lassen auch nur mäßige Entwicklungshöhe, etwa bis zur Stufe der Halbkultur, zu. Erst die Erschließung der i n s e l h a f t e n O a s e n durch moderne Verkehrswege wird eine weitere Entfaltung des Lebens und der Landschaft unter dem Einfluß allochthoner Kräfte bringen. Ganz anders als in den kleinen isolierten Oaseninseln gestaltet sich der Ablauf in den F l u ß o a s e n l ä n d e r n . Nicht jene, sondern diese sind darum die Ursprungsstätten der frühen hohen potamischen Kultur geworden, indem die Ausnützung zusammenhängender, von Natur offener, durch Überschwemmung oder künstliche Berieselung in ihrem Ertragswert konstant erhaltener Wirtschaftsflächen zur Bodenstete einer sich immer mehr verdichtenden Bevölkerung geführt hat. Die Aufgabe der Erhaltung des Kulturzustandes großer Räume durch ein einheitliches Berieselungswerk hat diese Menschenmassen, willig oder gezwungen, dem System dieser Arbeit untergeordnet und zur Ausbildung entsprechender Herrschafts-
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formen und gesellschaftlichen Schichtung geführt. Diese zwangsläufige Abhängigkeit von einem durch Natur- und Kulturkraft bedingten Arbeitssystem schloß aber auch stets die Gefahr des vielfach zu beobachtenden bizarren Kulturrückganges bei Nachlassen der Arbeitsleistungen oder widrigen Natureinflüssen in sich. Erst die allochthonen Krfifte der modernen Technik sichern den alten Oasenlfindern eine kontinuierliche, von solchen Schwankungen befreite Entwicklung, und sie haben ebenso andere Trockengebiete neu erschlossen1). Mit der Entwicklung der Oaseninseln hat die der Becken der Hochgebirgs- u n d K a r s t l a n d s c h a f t e n , die, von sterilem Umland umrahmt, in eine entsprechende Isolierung gedrängt sind, viel Ähnlichkeit, wenn auch die Formen der Wirtschaft, Siedlung und des Verkehrs vielfältig voneinander abweichen. Um die Länder der Erde legt sich das Meer als Verkehrs- und Wirtschaftsraum; wie in ihrem Naturbilde so sind auch in ihrer anthropogeographischen Struktur und Auswertung die einzelnen Meere recht verschieden, und man könnte darum auch vom Standpunkte der Geographie der Kulturlandschaft von einer »Meereslandschaft« sprechen. Vom Meere gehen auf einen bald schmalen, bald minder breiten Saum in hohem Grade einheitliche Wirkungen aus und schaffen auch im kulturlandschaftsgeographischen Sinne die K U s t e n l a n d s c h a f t . Sie trägt wohl die Züge der einzelnen Länder, denen sie angehört, und doch zwingt ihr die Nachbarschaft des Meeres viele gemeinsame Formen auf in der Entwicklung der Häfen und in der Einstellung auf Meereswirtschaft, in der Ausnutzung der Gunst des Meeres und in der Entfaltung des Kampfes mit dem Meere, der an einigen Stellen selbst dazu übergeht, in zähem Ringen dem Meere Land abzugewinnen. Eine genauere Analyse müßte die Einwirkungen der einzelnen Meere und die unter ihren Verkehrs- und Wirtschaftsbedingungen entstandenen Formen nach der Stellung der Meeresgebiete auf dem Erdball untersuchen und käme zu vielfachen Abstufungen nach Intensität und Formengestaltung. Der Überblick über die stellenweise nur kursorisch und mehrfach allein programmatisch dargelegte Untersuchung führt neben dem Hinweis auf die Mannigfaltigkeit im Ablauf und in den Formen der Kulturlandschaftsbildung im einzelnen zur Aufzeigung von Regionen, die grundverschiedene Entwicklungsbedingungen der Kulturlandschaft in sich bergen: neben den s t e r i l e n R ä u m e n liegen die E n t w i c k l u n g s r ä u m e , und innerhalb der letzteren lassen sich die G e b i e t e z e i t w e i l i g e n S t i l l s t a n d s von denen k o n t i n u i e r l i c h e n F o r t s c h r i t t s s c h e i d e n , wie das die nebenstehende Tabelle tut. Wie arbeitshypothetisch zunächst angenommen wurde, erweisen sich die nach Entwicklungsprozeß und Formen verschiedenen Zonen der t) Man vergleiche die Karte des Erschließungszustandes des trockenen Westens von Nordamerika (in meiner »Politischen Geographie« S. 484), die A. Weihl im Anschluß an seine Arbeit: »Die Höhengrenzen der Siedlungen in Nordamerika im Vergleich mit europäischen Gebirgen, Dias. Frankfurt a. M. 1923, entworfen hat.
Zur Geographie der Kulturlandschaft. Zonen
Polarkappen Gebiete der arktischen Trift Subpolare Wiesenländer . Tundraländer Waldländer der kalten Zone Waldländer der gemäßigten Zone Waldländer der subtropischen Zone
Frühe oder spite Entwicklung vom geschichtlichen Standpunkt ans
spät Bpät spät spät
Art dea Fortschritte
steril ! Stillstand auf Naturvolkstufe Allochthone Fortschritte Schwache, doch kontinuierliche Entwicklung Stillstand auf Naturvolkstufe Stillstand auf Naturvolkstufe Allochthone Fortschritte
relativ früh
Kontinuierliche Entwicklung
früh
Kontinuierliche Entwicklung mit Neigung zum Stillstand sich steril Stillstand auf Halbkultuntufe Kontinuierliche Entwicklung, doch mit Neigung zur Unterbrechung im allgemeinen Stillstand auf der Halbkulturstufe — Allochthone Weiterentwicklung Stillstand auf der Naturvolk- oder Halbkulturstufe — Allochthone Fortschritte
Wüstenländer Inselhafte O a s e n . . . . Oasenländer
An relativ früh sehr früh
Steppenländer
relativ früh
Savannenländer
relativ spät
Trockenwaldländer.... Regenwaldländer der Tropen
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spät spät
(
Stillstand auf der Naturvolkstufe, allochthone Fortschritte
Kulturlandschaft tatsächlich an die Zonen der Naturlandschaft gebunden; und zwar sind die im Naturlandschaftsbild durch die verschiedene Ausbildung der Pflanzendecke charakterisierten Klimazonen die Träger und Anreger alles Lebens auf der Erde. Die durch Lage und Geomorphologie bedingten Modifikationen sind dabei nicht zu übersehen. Wie groß diese Einflüsse sind, zeigt der isolierende Lageimpuls der Halbinselstellung der beiden Amerika und Australiens innerhalb der Ökumene vor der Entdekkungszeit. Die Übereinstimmung von Naturlandschafts- und Kulturlandschaftszonen kann nicht ihren Grund in der bewußten Anpassung der Kultur an die physischen Bedingungen haben; denn die Abhängigkeit des Kulturwerks von den physischen Bedingungen ist auf der Reflex- und Instinktstufe menschlichen Schaffens größer als später. Die Kulturkräfte sind hingegen selbst naturgebunden, gleichgültig ob sie als autochthone oder allochthone wirken, ob sie im letzteren Falle einem dem Ansatzfeld wesensverwandten oder wesensfremden Räume entstammen. Zur kraftvollen Wirkung müssen sie anpassungsfähig den Vorgang der »Akkulturation« erfolgreich durchlaufen können. Die physischen Räume erscheinen darum nicht nur als Betätigungsfelder der Kultur, sondern sie wirken als physische Kraftfelder; sie sind als solche die Nährböden und Entwicklungsräume der Kultur.
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Der Mensch, obgleich er zunächst der mehr triebmftßige, dann bewußte Schöpfer und Träger aller Kultur ist, verliert damit die ihm auch in der Geographie noch vielfach zugedachte Rolle des »Gegenspielers« gegenüber den Naturkräften der Erde; denn sein vollkommenstes »Gegenspiel« erschöpft sich in der wissenschaftlich tief fundierten Ausnutzung und Beherrschung der Naturkräfte. In demselben Maße schwindet der zunächst der analytischen Betrachtung noch scheinbar anhaftende Dualismus von Natur und Kultur bzw. Mensch und tritt das Forschungsobjekt der Geographie, die Landschaft in ihren Gestaltungsformen, in seiner vollen Einheit in den Vordergrund. Zur Erreichung dieser Einheit im wissenschaftlichen S y s t e m der Geographie bedarf es vor allem aber einer auf der Geographie der Naturlandschaft basierten Geographie der Kulturlandschaft. Erläuterungen
zu d e n
Bildbeilagen:
Tai. 1, Abb. 1. R o d u n g s i n s e l im T r o p e n w a l d d e s b r a s i l i a n i s c h e n K ü s t e n w a l d g e b i r g e s in E s p i r i t o S a n t o . Wirtschafts- und Siedlungsraum zeigt Wasserlage, liegt am Guandü, einem rechten Nebenfluß des Rio Doce. Der den inselhaften Lebensraum mit den Nachbarzellen verbindende Pfad folgt dem Tal. Die Hausformen spiegeln europäischen Einfluß. Die Anbaufl&che tragt Kaffee-, Mais-, Bananen- und Apfelsinenanpflanzungen, daneben Weide. Taf. 1, Abb. 2. E r e r b t e S i e d l u n g s f o r m in einenl d u r c h R a u b w i r t s c h a f t e r s c h ö p f t e n e h e m a l i g e n K a f f e e a n b a u g e b i e t . Einstige Kaffeefazenda, heutige Viehzuchtsfazenda im Weideland des nach Norden hin niederbiegenden brasilianischen Küstenwaldgebirges im östlichen Teil des Staates Rio de Janeiro. Taf. 2, Abb. 3. V i c t o r i a , d i e H a u p t s t a d t d e s S t a a t e s E s p i r i t o S a n t o , a l s B e i s p i e l e i n e r f r ü h e n F r e m d f o r m m i t t e l m e e r i s c h e n E i n f l u s s e s in der Tropenwaldzone. Taf. 2, Abb. 4. D i e A v e n i d a B r a n c a in R i o de J a n e i r o a l s B e i s p i e l d e r v ö l l i g e n U m k e h r e i n e r t r o p i s c h e n K ü s t e n l a n d s c h a f t i n e i n e moderne Weltstadtlandschaft. Taf. 3, Abb. 5. R o d u n g s i n s e l im T r o c k e n w a l d O s t - B o l i v i e n s . Siedlung halbzivilisierter Indianer. Taf. 3, Abb. 6. G e w i n n u n g v o n K u l t u r l a n d d u r c h A b b r e n n e n auf d e r S a v a n n e von Süd-Goyaz.
Die wirtschaftsgeographische Stellung des Thüringer Landes in seiner mitteldeutschen Umgebung. Von
ALBRECHT BURCHARD. Die Thüringer Landkarte hat lange Zeit die ganze politische Zerrissenheit unseres deutschen Vaterlandes widergespiegelt. Wie das bunte Kleid eines Landsknechts sah sie aus, in das durch Fehden und Erbhände] nicht nur böse Löcher gerissen, sondern aus dem auch ganze Fetzen herausgeflogen waren. Selbst die jüngste, nach Einheitlichkeit drängende Zeit hat das Gewand noch nicht ganz heilflicken können. Ist so das politische Kleid Thüringens noch immer bunt genug, so weist das wirtschaftliche Leben in ihm viele Züge der Einheitlichkeit auf. Die Zeiten, wo jeder kleine deutsche Landesfürst seinen Staat mit Zollgrenzen umgeben konnte, sodaß sich innerhalb dieser Grenzen das Wirtschaftsleben in einer gewissen Sonderung abzuspielen vermochte, sind heute längst vorbei. Das Spiel der Kräfte innerhalb der Reichsgrenzen ist freier geworden, so frei, daß es wohl sehr schwer sein wird, Deutschland jemals in eine Anzahl unter sich streng unterschiedener Wirtschaftsbezirke zu teilen. Wenn nun auch diese Arbeit einer solchen Einteilung recht unfruchtbar zu sein scheint, so gibt es doch innerhalb der Reichsgrenzen Gebiete, die wegen ihres eigenartigen Gepräges eine gesonderte wirtschaftsgeographische Darstellung ohne größeren Zwang vertragen. Eine solche wirtschaftsgeographische Sonderstellung kann man Thüringen einräumen genau so wie seiner größeren mitteldeutschen Umgebung, deren Entwicklung in mehi oder weniger selbständiger Bahn weiterschreitet. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei der folgenden Untersuchung thüringischer und mitteldeutscher Fragen politische Grenzen eine geringe Bedeutung haben. Diese Bedeutung wird nur künstlich dadurch etwas gesteigert, daß sich die statistischen Angaben, deren Heranziehung unerläßlich ist, auf politische Räume beziehen. So ist es dann zweckmäßig, für diese Arbeit besonders das statistische Material des Landes Thüringen zu benutzen. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, daß eine sachliche Abtrennung der eingesprengten oder fremden, namentlich preußischen Landesteile nicht gut angeht. Als natürliche Landschaft Thüringen kann man das Gebiet zwischen Thüringer Wald einschließlich und Harz ausschließlich bezeichnen. Die Ost- und Westgrenze sind schwankend. Da aber auch die natürlichen Grenzen, die für die deutschen Gaue gezogen werden, trotz ihres Namens oft recht künstlich sind, so daß auch das Wirtschaftsleben in einer bestimmten Eigenart nur in seltenen Fällen gerade an ihnen eine Unstetig-
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keitsstelle zeigt, so soll hier auf eine genaue Abgrenzung verzichtet werden. Für unsere Zwecke genügt es vollkommen, wenn wir im Auge behalten, daß die thüringische Eigenart außer in dem genannten Kerngebiet noch in der Gegend der oberen Werra und in den südwestlichen Teilen des Regierungsbezirks Merseburg zuhause ist. Ostthüringen greift in die Leipziger Bucht hinein, doch läßt es sich schon aus Gründen der Statistik nicht aus unserer Betrachtung teilweise herausnehmen. Nicht einmal der Bevölkerung nach ist der kleine Thüringer Staat einheitlich. Der Unterschied zwischen den Thüringern im Hauptteile des Gebietes und den Franken im Süden und Südwesten hat sich auch heute noch nicht verwischt. Der Wirtschaftsgeograph verfällt sehr leicht in den Fehler, zu viele Züge des Wirtschaftslebens aus der Landesnatur erklären zu wollen. Wenn in dieser Beziehung eine deutsche Landschaft zur Vorsicht mahnt, so ist es Thüringen. Das gilt besonders für den heutigen Zustand. Die Wurzeln der geographischen Bedingungen des thüringischen Wirtschaftslebens greifen tief in die Geschichte hinein, in eine Zeit, wo die Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch noch weniger verwickelt waren. Die neueste Zeit bringt in Thüringen notwendigerweise eine immer stärker werdende Loslösung von den Gaben der Natur. Diese Tatsache ist aber nicht zu verwechseln mit einer mangelhaften Beherrschung der Natur. Thüringen, durch den Fortschritt der zur Naturbeherrschung drängenden Technik ein reiches, viele Menschen ernährendes Industrieland, wäre arm, wenn sich nicht die Loslösung von den natürlichen Gegebenheiten seiner Wirtschaft dort vollzogen hätte, wo sie notwendig war. Die Landwirtschaft spielt in unserm Gebiete wie in den meisten stark bevölkerten Gegenden Deutschlands nicht mehr die ausschlaggebende Rolle. Über sie mögen einige wenige Angaben genügen. Je tiefer wir vom Gebirge heruntersteigen, desto fruchtbarer wird im allgemeinen das Land. Die Niederungen des Erfurter Beckens und die Goldene Aue sind am ergiebigsten. Der Landesnatur Thüringens entsprechend, außerdem durch viele Erbteilungen begünstigt, sind mittlere und kleine Betriebe namentlich in den bergigen Landesteilen vorherrschend. Von der landwirtschaftlichen Fläche des Landes kamen im Jahre 1907 23,5% auf Wirtschaften von 20—100 ha, nur 10,8% auf Betriebe von mehr als 100 ha, die übrigen i j a der Fläche aber auf die kleinen Betriebe von weniger als 20 ha. Die Erzeugung von Lebensmitteln reicht nicht für den eigenen Bedarf. Nur 27% der Bevölkerung waren im Jahre 1919/20 Selbstversorger mit Lebensmitteln. Der weitaus größere Teil mußte seinen Unterhalt in nicht landwirtschaftlichen Berufen erwerben. Das geht aus der Berufszählung von 1907 deutlich hervor. Land Thüringen: Landw. Bev. Anzahl 368 900
24,5
Indaat. Bev. Anzahl 1 •/«
Bernfsanf :. von Handel n. Verkehr Anzahl
Sonstige Bev. Anzahl V.
769 783
163 169
183 174
51,9
11,1
12,6
Insgesamt 1 466 026
Die wirtschaftsgeographische Stellung des Thüringer Landes usw.
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Von 1882—1907 hat sich verändert die Bevölkerung in Land- und Forstwirtschaft um —12,7%, in Industrie und Bergbau um -f- 51,8%, in Handel und Verkehr um -4-82,6%. Diese Zahlen zeigen deutlich, wie schnell die Industrialisierung des Landes fortgeschritten ist. Thüringen ist immer mehr Zuschußgebiet für die Erzeugnisse der Landwirtschaft geworden. Immer mehr gibt ihm die Industrie mit ihren vielseitigen Beziehungen zum In- und Auslande das Gepräge. Hier sollen die Beziehungen zum nächstliegenden Inlande Gegenstand der Untersuchung sein. Zu diesem Zwecke müssen wir uns die thüringischen Industrien etwas genauer ansehen. Die nächste Frage wäre da, wie es um die Standorte der Gewerbetätigkeit steht. Nach Weber 1 ) verstehen wir „unter einem Standortsfaktor einen seiner Art nach scharf abgegrenzten Vorteil, der für eine wirtschaftliche Tätigkeit dann eintritt, wenn sie sich an einem bestimmten Ort, oder auch generell an Plätzen bestimmter Art vollzieht. Einen .Vorteil', d. h. eine Ersparnis an , Kosten' und also für die Standortslehre der Industrie eine Möglichkeit, dort ein bestimmtes Produkt mit weniger Kostenaufwand als an anderen Plätzen herzustellen; noch genauer gesagt: den als Ganzes betrachteten Produktions- und Absatzprozeß eines bestimmten industriellen Produkts nach irgend einer Richtung billiger durchzuführen als anderswo." Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt, die Standorte der Industrien einzelner Produkte, denn nur um diese kann es sich nach der reinen Theorie Webers handeln, für Thüringen zu betrachten. Der Satz Webers sollte nur gleichsam zu Anfang des Untersuchungsweges als Warnungstafel aufgestellt werden, um nicht geographische Einflüsse zu ungunsten der rein wirtschaftlichen zu überschätzen. Industrien können ihre Standorte wählen mit Rücksicht auf die Rohstofflager, auf die Verkehrsgunst, auf die Verbraucher und schließlich auf die Arbeitsbedingungen. Welche Ansatzflächen bot oder bietet nun Thüringen durch seine Rohstoffe für die Entstehung von Industrien ? Als leicht zu verarbeitend und als Heizstoff zunächst allein in Frage kommend, bot sich früh das Holz der Waldbäume zur Verwertung durch den Menschen an. In den Gebirgsgegenden war es sicherlich noch lange nach dem Aufkommen einer geregelten Forstwirtschaft als „Ubiquität" zu betrachten, d. h. es war nach dem Ausdrucke von Weber 2 ) „praktisch" überall da. Was Wunder, daß man sich seiner nicht nur als Brennstoff, sondern auch als Verarbeitungsmaterial bemächtigte. Hier liegen die Wurzeln der thüringischen Spielwarenindustrie 3 ). Im Meininger Oberland wurden einst den durchreisenden Nürnberger Kaufleuten von den Landeseinwohnern einfache, aus Holz geschnitzte Gegenstände des täglichen Bedarfs zum Kauf angeboten. Die Nürnberger erkannten die Bedeutung ») Über den Standort der Industrien. I. Tubingen 1909, S. 16 ») Ebenda, S. 61. a ) E. K ö h l e r , Die Beziehungen der thüringischen Industrien zum Weltmarkt. Jena 1920, S. 2 ff. D r y g a l s k l , Festgabe. 3
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dieser Waren für den Massenumsatz und sorgten dafür, daß die Meininger regelmäßig in ihren Häusern die Herstellung von Gegenständen der Holzschnitzerei betrieben. Damit war die Sonneberger Hausindustrie gegründet. Schon vor dem Dreißigjährigen Kriege stand sie, auch „Nürnberger Spielwaren" in Menge herstellend, in großer Blüte. Es trat nicht nur eine örtliche Verbreitung dieses wichtigen Produktionszweiges in Thüringen ein, sondern es kamen auch immer neue Rohstoffe für die Verarbeitung hinzu. Heute ist diese Industrie nicht mehr rohstofforientiert. In bezug auf den Rohstoff wäre es ziemlich gleichgültig, ob und wo im Lande sie sich niederließe. Was das Nutzholz angeht, so sind die alten Waldbestände stark durchforstet; es muß viel Nutzholz eingeführt werden, trotzdem Thüringen verhältnismäßig waldreich ist (33,4% Waldfläche). Als Brennstoff ist in der Industrie das Holz durch die Kohle verdrängt worden. Die thüringischen Steinkohlenvorkommen sind kaum erwähnenswert 1 ). Es arbeiteten 1921 nur 30 Mann in einer kleinen Grube nahe Crock bei Eisfeld. Die Fördermenge betrug 26431, hätte sich also gut auf drei Güterzüge verladen lassen. Noch kleinere Betriebe sind der Konkurrenz der leistungsfähigen Reviere Deutschlands erlegen. Viel wichtiger als die Steinkohle ist für Thüringen die Braunkohle geworden. Aus dem in der Hauptsache dem Paläozoikum und der Trias angehörigen Aufbau des Landes geht hervor, daß die Braunkohle in Randgebieten zu suchen ist. Die Förderung in der Rhön ist unbedeutend. Nur dem Umstände, daß das Staatsgebiet in der Altenburger Gegend in die reichen Vorkommen des mitteldeutschen Braunkohlenreviers hineinreicht, ist es zu danken, daß die thüringische Statistik so stattliche Fördermengen aufweist (5% der reichsdeutschen). Die Bedeutung dieses Tiefland anteils ergibt sich aus den folgenden Zahlen: Bezirk
Zabi der Betriebe 1021
Meuselwitz-Rositz. . . dgL Abraumbetriebe . Treben Übriger Osten . . . . Rhön
20
Thüringen
Mittlere Belegschaft
Geforderte Kohlenmenge 1921 in t
5 271 224
4 10 1
8 631 1007 1815 338 22
41
11813
6 413 190
6
—
1 051 102 90 223 641
Die wirtschaftsgeographische Spannung, die sich aus der peripheren Lage der wichtigsten Braunkohlengruben ergibt, so daß der Hauptbezug von außerhalb des Staatsgebietes stammt, ist später noch näher zu besprechen. Die Bedeutung der Kohle für thüringische Standortsfragen ist noch im Wachsen. Anders steht es um die Eisengewinnung, die früher eine weit x ) Diese und die folgenden Angaben über den Bergbau nach J . Müller, Bergbau und Steinbruchindustrie in Thüringen. Vierteljahresbericht des Thür. Stat. Landesamts. 1922, Nr. 4.
Die wirtsohaftsgeographische Stellung des Thüringer Landes usw
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beträchtlichere Rolle spielte. Sie gründete sich auf die Erzvorkommen des Thüringer Waldes, wo das heute preußische Suhl um das Jahr 1600 herum durch eine rein bodenständige Industrie eine „Rüst- und Waffenkammer und ein Zeughaus für ganz Europa" 1 ) sein konnte. Heute betr> die thüringische Eisenerzförderung nur noch 1%% der reichsdeutschen. Von den 6 in Betrieb befindlichen Gruben liegen je eine bei Altenstein, Oberwellenborn und Schmiedefeld im Meiningischen, eine im Kreise Schleiz nahe der bayerischen Grenze und 2 bei Könitz in der früheren rudolstädtischen Oberherrschaft. 1921 hatten diese 6 Gruben und 9 andere, in denen man Untersuchungen anstellte, 475 Mann durchschnittliche Belegschaft und eine Förderung von 116272 t Eisenerzen. — In demselben Jahre wurden südlich von Ohrdruf 4137 t Manganerze gefördert. Alle diese Erzmengen reichen natürlich nicht aus, um in Thüringen eine umfangreiche Schwerindustrie aufkommen zu lassen. In der Kaligewinnung steht das Land Thüringen nach Preußen mit l j 6 —7« der Gesamtmenge an zweiter Stelle im Reich. Dieses günstige Verhältnis beruht darauf, daß es sowohl am Südharzrande als am Werragebiet politischen Anteil hat. Auch die Fundstätten dieses zweitwichtigsten Bergbauerzeugnisses Thüringens liegen wie die der Braunkohle merkwürdigerweise peripher, so daß von ihrem wirtschaftsgeographischen Einfluß im Kerngebiete nur wenig zu merken ist. Die Fördermengen verteilen sich auf die beiden Fundgebiete, im mittleren Kreise Eisenach einerseits, im Kreise Sondershausen, in den Bezirken Allstedt und Büttstedt anderseits, ziemlich gleichmäßig. Für 1921 werden angegeben: 18 Betriebe mit Förderung, 6952 Mann mittlere Belegschaft (einschließlich der angeschlossenen chemischen Werke) und 16207211 Förderung. Steinsalz wird als Nebenprodukt gewonnen (1921: 66798 t). In der Industrie der Steine und Erden haben für Thüringen ganz besondere Bedeutung die Dach- und Tafelschiefer sowie die Griffelschiefer. Der Schieferabbau wird hauptsächlich im ehemaligen Herzogtum Meiningen betrieben. Die Grenzen hier werden etwa durch Steinach, Lehesten und Saalfeld angegeben. Dazu kommt noch ein östlicher Ausläufer in dem Kreise Schleiz. Die Dach- und Tafelschiefer einerseits, die Griffelschiefer anderseits gehören verschiedenen geologischen Formationen des Paläozoikums an, woraus sich auch ihre geographische Verteilung erklärt — die Dach- und Tafelschiefer liegen im Osten, die Griffelschiefer im WeBten. Im Jahre 1921 hat der Dach- und Tafelschieferabbau in 35 Betrieben mit 2123 Arbeitern 291001 Schiefer gewonnen. In 36 Griffelschieferbetrieben waren 596 Arbeiter beschäftigt; die Erzeugung wird auf 250 bis 300 Millionen Griffel veranschlagt. Von den übrigen Erzeugnissen aus der Gruppe der Steine und Erden sollen hier nur noch die Porzellansande erwähnt werden, um von vornherein dem Irrtume zu begegnen, als sei die thüringische Porzellanindustrie mit Rohstoff aus nächster Nähe reichlich versorgt. Im Kreise Sonneberg waren 1921 5 Porzellansandgruben in Betrieb, aus denen 22 Mann 10200 t E. Köhler, a. a. O., S. 9.
3»
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förderten. Diese Menge verschwindet gegen den Gesamtbedarf Thüringens. Auch die Porzellanindustrie hat in bezug auf ihren wichtigsten Rohstoff den Boden unter den Füßen verloren. Erwähnen wir noch kurz unter den landwirtschaftlichen Erzeugnissen besonders die verhältnismäßig starke Schafwollerzeugung in Ostthüringen, fügen wir noch die Weidenbestfinde der Flußauen hinzu, so dürften die wichtigsten Rohstoffe genannt sein, über die Thüringen für „bodenständige" Industrien verfügte oder verfügt. Ihre heutigen Wirkungen sind gering. Wie steht es nun um den Verkehr und seine Wirkungen ? Thüringen nimmt seiner Lage nach eine Vermittlerstellung zwischen Norden und Süden, Osten und Westen ein. Aus dieser Mittellage geht noch nicht ohne weiteres hervor, daß das Land — wie etwa die Schweiz — den Verkehr an sich gezogen haben müßte. Das hängt vielmehr davon ab, wie groß das Bedürfnis für durchgehenden Verkehr ist und in welchem Maße Naturlinien dem Verkehr die Wege weisen oder, im umgekehrten Falle, wieweit dem Verkehr Naturhindernisse sich entgegenstellen. Das wichtigste Problem ist für den thüringischen Durchgangsverkehr die Verbindung von Nordund Süddeutschland, die Überwindung der Mittelgebirgsschwelle. Gegen dieses Problem tritt die Frage der Verkehrsgestaltung in der Ost-Westrichtung entschieden zurück; denn der große Verkehr in dieser Richtung kann immer leichter in der norddeutschen Tiefebene stattfinden. Die besten Eisenbahnverbindungen zwischen Frankreich und selbst S ü d r u ß l a n d biegen weit von der geraden Linie nach Norden ab; der Umweg wird durch die Verkehrsgunst des norddeutschen Tieflandes wieder ausgeglichen. Thüringen liegt, um auf die Frage der Überwindung der Mittelgebirgsschwelle zurückzukommen, nicht günstig zu einer der großen Pforten, die von Natur den großen Verkehr zwischen dem Norden und dem Süden vermitteln. Es ist hier kein großer Flußdurchbruch vorhanden wie der des Rheins oder der Elbe, und von den sonstigen größeren Breschen, die das deutsche Mittelgebirge durchsetzen, liegt die Lücke zwischen Thüringer Wald und Rhön zu sehr randlich, um dem Hauptteil des Landes zugute zu kommen. Dennoch ergab sich aber schon früh die Notwendigkeit, über den Thüringer- und Frankenwald hinweg Wege nach dem Süden zu suchen. Einmal führt im thüringisch-sächsischen Gebiet eine für den Verkehr günstige Tieflandbucht weit nach Süden. Zum andern drängen die weit nach Nordwesten vorspringenden Ecke der Gebirgsumwallung Böhmens und das Vogtland, das, wie schon Cotta 1 ) richtig gesehen hat, mit seinen in „allen Richtungen von vielen stark gewundenen Tälern durchschnittenen Plateaus" trotz seiner geringen absoluten Höhe nicht leicht zu überwinden ist, den Verkehr in den thüringischen Abschnitt hinein, wobei man zunächst natürlich nicht den Maßstab moderner Verkehrstechnik anlegen darf. So überstieg denn schon der mittelalterliche Karren- und Wagenverkehr vielfach den Thüringer- und den Frankenwald, wenn auch an manchen Stellen mühsam genug. Thüringen wurde zu einem wichtigen >) Deutschlands Boden. Leipzig 1864, S. 317.
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Paßlande. Das wirtschaftliche Aufblühen mancher seiner Städte beruht letzten Grundes auf diesem Landverkehr. Als Beispiel dafür mag die „natürliche" Hauptstadt Thüringens gelten, Erfurt. Im ausgehenden Mittelalter zählte diese Stadt dank ihrem Handel und Verkehr zu den bedeutendsten Orten Deutschlands. Allerdings darf auch nicht die Fruchtbarkeit des Erfurter Beckens bei der Anführung der diesem Gedeihen günstigen Umstände vergessen werden; denn die Ernährung einer volkreichen Stadt, sofern sie nicht am Meere oder an einer leistungsfähigen Binnenwasserstraße lag, war damals nur aus landwirtschaftlichen Betrieben in der Nähe möglich. Der Landverkehr konnte eben Massengüter, wie etwa Getreide, nur in geringem Umfange bewältigen. Die Umgegend lieferte der Stadt auch ein beliebtes Handelsprodukt, den Waid, der erst zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges durch den über See eingeführten Indigo verdrängt wurde. Im Bilde der Erfurter Landstraßen spiegeln sich die natürlichen Verkehrsrichtungen Thüringens wieder. Letzten Endes kommen alle namhaften, die Stadt berührenden Straßenzüge aus Süddeutschland und führen in die norddeutsche Tiefebene. Die wichtigsten sind die folgenden: 1 ) die Königs- oder Hohe Straße (Frankfurt, Eisenach, Gotha, Erfurt, von dort aus wegen der Versumpfung der Saale bei Kösen den Fluß auf einem Höhenwege über Buttelstedt, Eckartsberga erreichend), und die Nord-Südlinie (für Erfurt vorgezeichnet durch den Unstrutdurchbruch an der Sachsenburg: Rednitz, Gera, Sachsenburg, dort sich zwecks Umgehung des Harzes im Osten und Westen aufteilend). Die Königsstraße ist sehr alt. Sie war wohl schon zur Zeit Karls d. Gr. vorhanden, als die Hauptrichtung hier in dem Grenzlande gegen die Slaven nach Osten gerichtet war und Erfurt, zurückgezogen von der Saalelinie, den Hauptstapelplatz bildete 2 ). Das Verkehrsbedürfnis für die Erfurter und andere thüringische Straßen wurde besonders groß, als sich die norddeutschen Häfen als Konkurrenten gegen die durch den Aufstand der Niederlande leidenden flandrischen Häfen aufschwangen. Für Erfurt besonders fördernd war das in die Stadt gelegte Hauptgeleit der sächsischen Fürsten 3 ). Erst im 17. Jahrhundert verlor der thüringische Hauptort sein Verkehrsmonopol. Die bisher durch den Straßenzwang zusammengehaltenen Wege zerflatterten in viele Richtungen. Schon früher hatte sich Leipzig, entsprechend der wachsenden Bedeutung des kolonialen Ostens, unter Ansaugung alter Straßen in das deutsche Haupt Verkehrsnetz eingeschoben, mit der schon früh durch ihr Salz berühmten Stadt Halle nun Erfurt überholend und dem Saalewege eine besondere Bedeutung verleihend. Der Erfurter Verkehr vollzog sich nur auf der Landstraße. Das war, so vielseitig er sein mochte, an sich nicht günstig. Sobald die Versendung *) A. K i r c h h o f f : Die LagenVerhältnisse von Erfurt. Jahrb. Kgl. Ak. Erfurt. XXI. 1895, S. 11 ff. *) Ebenda, S. 13. ') F. Rauers: Zur Geschichte der alten Handelsstraßen in Deutschland. Pet. Mitt. 1906, S. 50.
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schwerer Güter in großen Mengen in Betracht kam, wurden die Frachten zu teuer. Es fehlte wie in ganz Thüringen die belebende schiffbare Wasserstraße. Dieser Mangel hat sich auch im Eisenbahnzeitalter nicht ganz ausgleichen lassen. Erfurt hat nie eine so bedeutende Schwerindustrie entwickeln können wie etwa Magdeburg an der Elbe oder selbst Halle an der Saale, dem allerdings auch noch die Braunkohlen in der Nähe zugute kommen. Daher auch das Bemühen in der thüringischen Großstadt, durch möglichst starken, auch geistigen Arbeitsaufwand aus dem oft von weither geschafften Rohstoffe hochwertige Produkte herzustellen, die den Aufwand an Frachtkosten lohnen, wie in der chemischen Industrie oder bei der Herstellung von Instrumenten aller Art, Porzellan-, Glas-, Leder- und Schuhwaren. Daher mit vielleicht auch das Bestreben, schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, analog die Gunst von Boden und Klima aufs peinlichste für die Entwicklung der Kunst- und Handelsgärtnerei auszunutzen1). Diese Betrachtung gilt in entsprechender Anwendung für ganz Thüringen; sie gilt wie für Erfurt und andere Städte ebenso gut für die Dörfer des verkehrsreichen Thüringer Waldes. Der Verkehr war vielseitig und hat dieses Erbteil in die neueste Zeit mit herübergerettet. Er hat zum Aufblühen der Gewerbe mit beigetragen. Für den großen Massenverkehr aber, wie ihn viele heutige Industriezweige fordern, ist Thüringen etwas abgelegen. Jedenfalls würde man heute kaum Industrien in großer Zahl in Thüringen gründen wegen der Verkehrsverh<nisse. Nur kurz zu berühren ist die Frage, ob die Standorte der thüringischen Industrien etwa nach den Orten stärksten Verbrauches ihrer Erzeugnisse orientiert seien. Wer das Thüringer Land auch nur oberflächlich gesehen hat, wird diese Frage, allgemein gestellt, verneinen, auch wenn er die folgenden Zahlen nicht kennt2). Danach betrug vor dem Kriege der Anteil des Auslandabsatzes am Gesamtabsatze in der Porzellanindustrie 65%, der Schiefergriffelindustrie 80%, der Steinnußknopfindustrie 63%, der Phantasiewirkwarenindustrie 38%, der Korbwarenindustrie 60% und der Spielwarenindustrie 80%. Nimmt man noch die Feststellung hinzu, daß die Hälfte aller thüringischen Industrien 50% und mehr Auslandsabsatz hatte, und stellt man sich weiter vor, wieviel vom Rest noch an das übrige Deutschland abgegeben wird, so wird klar, daß eine Konsumorientierung für Thüringen oder gar für einen einzelnen Ort im Lande kaum in Frage kommt. Es bleibt also als Antwort auf die Frage nach dem Standorte der thüringischen Industrie in ihrer Gesamtheit, soweit die Frage in dieser Form überhaupt gestellt werden darf, nur die Arbeitsorientierung übrig. Sie ist in der Tat heute für das Land wesentlich. In der Wirtschaftsgeschichte Thüringens mögen Rohstoff- und Verkehrsorientierung eine gewisse Rolle gespielt haben; heute aber ist vor allem wichtig die Güte und technische Besonderheit der Arbeit, die die thüringischen Erzeugnisse auf dem Inland*) W. Horn: Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart. Jena 1904, S. 13 ff. «) E. Köhler, a. a. O., S. 64.
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und Weltmarkte konkurrenzfähig erhält. Dazu kam vor dem Kriege noch die geringe Lohnhöhe in Thüringen, leider nun einmal eine Tatsache von nicht zu unterschätzender Bedeutung und geographischer Auswirkung. Die Menschenmengen, die sich besonders auch in den verhältnismäßig kargen Gebirgsgegenden aufgesammelt hatten, durch Generationen hindurch in hochwertiger gewerblicher Tätigkeit geschult, gehören zu den größten Reichtümern des Landes. Die Fähigkeit, in gewerblicher Tätigkeit Hervorragendes zu leisten, ist geblieben, wenn auch die Entziehung der Naturgrundlagen manche ursprünglich als bodenständig angelegte Industrien zum Erliegen gebracht oder zur Umstellung gezwungen hat. Was die allerjüngste Zeit nach dem Weltkriege angeht, so haben die zuweilen ungünstigen Verhältnisse gerade die älteren, erprobten Erwerbstätigen nicht der Heimat entziehen können. Das ist zum Teil zurückzuführen auf die Schwierigkeiten, die der Auswanderung aus dem Reich entgegenstehen, anderseits aber auch auf die Wohnungsnot in Deutschland, die notwendigerweise die gesetzlich bestehende Freizügigkeit praktisch stark unterbindet. Wirtschaftsgeographisch im Sinne des Zusammenhanges von Erdraum und Wirtschaft lagen in früherer Zeit die Verhältnisse jedenfalls einfacher als heute; heute sind sie ohne Besinnung auf die Geschichte nicht zu verstehen. Das gilt im besonderen von der älteren thüringischen Industrie, als deren wichtigste Vertreter etwa die Spielwarenindustrie, die Waffenund Wollwarenherstellung gelten mögen. Die heutige Industrie hat viele Zweige neu aufgenommen, deren Aufzählung an dieser Stelle nicht nötig ist. Für das Verständnis des heutigen vielseitigen Getriebes darf aber auch die wirtschaftsgeographische Betrachtung nie außer Acht lassen als wichtig: den Mangel an heimischen Rohstoffen, die Entlegenheit Thüringens für den Transport von schweren Massengütern und die Einstellung einer hochwertigen Gewerbetätigkeit auf den Weltmarkt. Auch vom geographischen Standpunkte auB wäre es zu begrüßen, wenn immer möglichst scharf unterschieden würde zwischen eigentlichen Rohstoffen, die zur Weiterverarbeitung dienen, und solchen, die dem Arbeitsprozeß die Energie liefern. Das Holz war in der früheren Industrie beides. Heute hat es bei uns wenigstens seine Rolle als massenhafter Brennstoff ausgespielt. Die Kohle, früher nur Brennstoff, hat umgekehrt heute auch eine große Bedeutung als Rohstoff im eigentlichen Sinne. Sie steht einmal in einer Reihe mit Holz, Wolle, Metallen usw., in einer andern aber auch mit dem Wasser als Energieträger, das ihr auch in Thüringen an manchen Orten den Rang streitig macht oder in noch stärkerem Maße streitig machen wird. Mit der vollen Ausnutzung der Wasserenergien wird vermittels der Elektrizität mit ihrer leicht möglichen flächenhaften Verbreitung manch neuer Zug in die Standortsverteilung der Industrien kommen. An und für sich eignet das großstadtarme Thüringer Land sich ohnehin für eine solche flächenhafte Verbreitung der Industrien in nicht allzu ferner Zeit. Die heutige wirtschaftliche Stellung Thüringens in seiner Umgebung hängt nicht nur zusammen mit der geschichtlichen Entwicklung in älterer
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oder jüngerer Zeit, sondern sie Bteht auch sehr stark unter geographischen Einflüssen. Wir sahen schon in der Einleitung, daß die Wirtschaftsentwicklung schon längst nicht mehr an den innerdeutschen Landesgrenzen Halt macht. Vielmehr sondern sich mit der Zeit ohne Rücksicht auf den politischen Zustand Gebiete besonderen wirtschaftlichen Gepräges aus. Man scheut sich mit einem gewissen Rechte, ihnen die Bezeichnung „Wirtschaftsprovinzen" beizulegen, wenn auch wenig logische Köpfe gerade in unserer Zeit mit ihren schwankenden Zuständen solche Einteilungen schnei] zur Hand haben. Die Gründe für die Ablehnung der Bezeichnimg „Wirtschaftsprovinz" sind in der Hauptsache die folgenden: Sollte die Bezeichnung berechtigt sein, so müßte es, um bei Deutschland als Beispiel zu bleiben, möglich sein, das ganze Reich in nebeneinander bestehende Wirtschaftsprovinzen von je bestimmter Eigenart einzuteilen. Ob das jemals gelingen wird, ist recht zweifelhaft. Dazu ist vor allem die Grenzziehung äußerst schwierig, namentlich in den Landstrichen, wo zwei große Wirtschaftsarten, etwa Landwirtschaft und Industrie, um den vorwiegenden Einfluß streiten. Möglich ist es dagegen, aus dem Ganzen innerhalb der deutschen Zollgrenzen gewisse Kernzonen herauszugreifen, die deutlich den Eindruck bestimmter großer Wirtschaftszweige tragen. Am deutlichsten haben diese Prägung die großen Industriereviere, etwa das oberschlesische, das niederschlesische und das Ruhrgebiet. An ihnen findet man nicht nur die Anzeichen eines äußeren, sondern auch eines inneren Wachstums. Von ihren durch natürliche Verhältnisse bedingten Innenbezirken stärkster Industrialisierung, die aber auch mit der Änderung der Naturgrundlagen eine gewisse Beweglichkeit zur Schau tragen, strecken sie ihre Fühler über die jeweiligen Ränder vor, die Industrialisierung immer weiter tragend. Zwischen zwei solchen Gebieten liegende industrieärmere Streifen können überwachsen werden. So schließen sich einzelne betriebsame Gaue zu einheitlichen Industriegebieten zusammen. Gefördert wird dieser Prozeß des Zusammenwachsens durch geographische Verhältnisse. Eine solche fördernde Rolle hat beispielsweise der Niederrhein mit seinen Nebenflüssen gespielt. So wird auch die Oder zu einem einigenden Bande zwischen Ober- und Niederschlesien; sie wird es vielleicht mit der Zeit ermöglichen, die durch die Polen gefährdete Grenzlage der schlesischen Eisenindustrie durch Verlegung mehr nach dem Innern zu mildern 1 ). Einen solchen Prozeß des Zusammenwachsens können wir auch im mitteldeutschen Elbgebiet verfolgen. Drei Gaue werden hier mit der Zeit zusammengefaßt: das Harzgebiet mit seinem Vorgelände, Thüringen und Obersachsen. Eine genaue Abgrenzung ist nicht möglich. Etwa randlich gehören die folgenden Städte dem Gesamtgebiete an: Dresden, Magdeburg, Braunschweig, Göttingen, Meiningen, Sonneberg und Markneukirchen. Nur die Grenze Sachsens ist als Zollgrenze wirtschaftlich scharf definiert. Jeder der drei Gaue umfaßt außer tiefem Lande auch einen Mittelgebirgs*) Vgl. R. R a s s m a n n : Das Auswanderungsproblem der oberschlesischen Schwerindustrie. Breslau 1922.
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anteil. Die sächsischen und thüringischen Mittelgebirge haben eine Randlage; der Harz ragt als Insel auf. Eine Bevölkerungskarte Deutschlands zeigt das Gebiet als volkreichen Streifen, der ohne Unstetigkeit nach Schlesien und Böhmen weitergeht. Die Abtrennung Böhmens vom Gebiet ergibt sich aus in der Wirtschaft starken politischen Gründen; aber auch Schlesien mit dem Wasserwege der Oder entwickelt sein Wirtschaftsleben unter Sonderbedingungen. Oberharz, Thüringer Wald und Erzgebirge sind sich in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung im historischen Verlaufe zunächst ähnlich. Ihre Besiedlung beruhte anfangs auf dem Vorkommen von Erzen und auf der Nutzbarmachung des Waldes. Schon vor dem Dreißigjährigen Kriege stand der Bergbau in allen drei Gebirgen in Blüte. Nach den Verwüstungen des großen Religionskampfes konnte er sich nie wieder zu der alten Bedeutung aufschwingen. Daran war nicht nur das hier und da geringere Fließen des Bergsegens schuld, sondern nach und nach besserten sich die Verkehrsverhältnisse so, daß das Ausland mit den deutschen Produkten erfolgreich konkurrieren konnte. Zum Ersätze trat eine stärkere Entwicklung der Hausindustrie ein unter teilweiser Benutzung der Wasserkräfte. Sie erzog die Menschen für die heutige Entwicklung der Industrie, wie das für Thüringen schon näher ausgeführt worden ist. Wenn der Oberharz in dieser Entwicklung hinter den beiden anderen Gebirgen zurückgeblieben ist, was ja auch in seiner geringen Volksdichte gegenüber dem Thüringer Walde und dem Erzgebirge zum Ausdruck kommt, so mag das auch daran liegen, daß er vom großen Verkehr umgangen wurde und wird. Er wird heute noch von keiner Vollbahn gequert. Der Unterharz mit seinen nicht unwichtigen Kupfererzvorkommen gehört zu einer andern Gattung von Gebirgsgegenden, in denen der ausgesprochene Hochebenencharakter und die geringe Höhenlage schon früh die landwirtschaftlichen Siedler anlockten. Diese Gegenden einer verhältnismäßig frühen Rodetätigkeit bilden den Übergang zu den tiefer gelegenen Landstrichen, die als Hügel- oder welliges Flachland mit geringerer oder stärkerer Lockerbodenbedeckung von jeher dem Landmanne günstige Bedingungen boten. Je weiter wir von den Platten der triassischen Gesteine ins Tiefland hinunter steigen, desto fruchtbarer wird in der Regel der Boden. Außer dem schon erwähnten Erfurter Becken und der Goldenen Aue sind sicherlich die sächsische Tieflandsbucht und die Magdeburger Börde mit den westlich davon liegenden Strichen des Magdeburger Bezirks Sitze sehr alter Landwirtschaft. In allen diesen Landstrichen hat lange Zeit der Landbau die wirtschaftlich ausschlaggebende Rolle gespielt, bis der Bergbau, seinem Namen untreu werdend und seine alten Stätten im Gebirge zumeist verlassend, in die Ebenen hinunterstieg und sich der Braunkohlenund Kalischätze bemächtigte. Die letzteren, hier und dort chemische Industrien erzeugend, riefen trotz der Reichtümer, die sie ins Land zogen, wohl kaum eine solche Wirtschaftsentwicklung ins Leben wie die Braunkohlenschätze, mit denen unser Gebiet geradezu vollgestopft ist. Daneben ist die Steinkohlenförderung nur im Freistaate Sachsen wichtig. Das Kochsalz, früher ein sehr wichtiges Handelsprodukt der Stadt Halle und anderer
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Orte, ist in seiner Bedeutung sehr stark hinter die früher verachteten Abraumsalze zurückgetreten. So ist denn heute die Kohle, insbesondere die Braunkohle, der wirksamste Energieträger der mitteldeutschen Industrie. Die Abhängigkeit von der Braunkohle, einem Stoffe, der heute wegen der schwierigen Verhältnisse in den größten deutschen Steinkohlenrevieren noch an Bedeutung gewinnt, schlingt ein einigendes Band um das mitteldeutsche Wirtschaftsgebiet. Thüringens Stellung zu dieser Versorgung ist schon angedeutet worden (S. 188). An und für sich genügend Braunkohle fördernd, sind die thüringischen Werke für den größten Teil des Landes zu abgelegen. Sie kommen mehr für die Versorgung der Leipziger Gegend mit in Betracht, während Thüringen selbst seinen Bedarf hauptsächlich dem Halle-Weissenfelser Revier entnimmt. Dadurch schon wird eine starke verkehrsgeographische Bindung nötig. Ist somit Thüringen durch seinen Kohlenverbrauch und durch seinen Kohlenversand an andere Teile des Mitteldeutschen Industriereviers gebunden (der Bezug sächsischer Steinkohle kommt in dieser Hinsicht noch hinzu), so ist doch auch eine Art der Energiegewinnung hier vertreten, die berufen ist, in Zukunft noch mehr Wert zu gewinnen: die Ausnutzung der Wasserkräfte. Dadurch nimmt Thüringen eine Art Übergangsstellung nach Süddeutschland ein, wo die Umwandlung der in den Gewässern ruhenden Energievorräte von noch größerer Wichtigkeit ist. Es wäre nun zu untersuchen, ob die Bindung Thüringens an seine nördlichen und östlichen Nachbargebiete hinsichtlich der Energiegewinnung durch das Nutzbarmachen der Gewässer gelöst werden kann. Nach den Angaben von Herbst1) stellte sich 1923 die Thüringer Elektrizitätsversorgung (ohne genaue Innehaltung der Landesgrenzen) in Kilowatt wie folgt: gedeckt durch 1. Wasserkräfte 2. Dampfkraftanlagen
5000 57000 Summe 62000
Die Zusammenstellung zeigt, daß zur Zeit die Energiegewinnung aus der Braunkohle, die als Feuerung der Dampfkessel hauptsächlich in Betracht kommt, durchaus noch überwiegt. Das Ziel der Energiewirtschaft des nächsten Jahrzehnts ist aber, die in den süddeutschen Gewässern und in den mitteldeutschen Braunkohlenlagern schlummernden Kräfte für ein großes einheitliches Leitungssystem nutzbar zu machen. Thüringens Stellung in dem geplanten Ausbau zeigt wohl die Grenzen, bis zu denen seine Naturgaben in dieser Richtung vorerst ausgenutzt werden können. Der thüringische Elektrizitätsbedarf in Kilowatt würde gedeckt werden durch *) Moderne Masse nkraftversorgung. Elektro- Großwirtschaft. Die Energiewirtschaft der Braunkohle und Wasserkraft in Mitteldeutschland. Industrie- und Handelszeitung der Mitteldeutschen Zeitung. Erfurt, 26. Juli 1023.
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A. Wasserkräfte: 1 . vorhandene Wasserkräfte für öffent- l.Anaban 1027 2. Anibtu 1933 liehe Elektrizitätsversorgung . . . . 5000 5 000 2. neu zu errichtende Wasserkraftwerke: Saale 22500 42500 Werra und Elster — 7500 Summe der Wasserkräfte: 27500 65000 B. Dampfkraftanlagen: 1. vorhandene Werke 2. neu zu erriohten C. Strombezug: von Sachsen-Anhalt von Bayern Insgesamt:
37000 10000
43000 10000
10000 10000 94500
15000 15000 138 000 l )
Es wird ersichtlich, wie stark sich die Wasserkr&fte auf Kosten der Kohle nutzbar machen lassen. Nach dem ersten Ausbau würde sich verhalten die Elektrizitätserzeugung durch Wasserkraft zur Elektrizitätserzeugung durch Dampfkraft wie rund 3:5, nach dem zweiten Ausbau würden aber die Wasserkräfte die Dampfkräfte um ein Weniges überholt haben. Wir sehen, daß selbst dann, wenn ein Teil der elektrischen Energie aus altenburgischen Kohlen hergestellt werden sollte (was natürlich in gewissem Umfange auch heute schon geschieht), bleibt trotz weitestgehendem Ausbau der Wasserkräfte noch viel Kohle aus den Nachbargebieten Thüringens allein schon für den Zweck der Elektrizitätsversorgung zu liefern. Der Hauptfluß des Landes auch hinsichtlich der Energielieferung ist die Saale. Er würde nach dem zweiten Ausbau das Sechsfache liefern wie Werra und Elster zusammen. Die Nutzbarmachung der Gewässer wird sich nicht nur auf die Erzeugung von Elektrizität beschränken, sondern es werden damit auch Schifffahrtsfragen zusammenhängen. Leider wird das Thüringer Land wohl kaum in absehbarer Zeit von einem Schiffahrtskanal durchschnitten werden; denn auf den Bau einer Verbindung zwischen der zu kanalisierenden Werra und dem Main ist wohl zunächst nicht zu rechnen. Thüringen wird vielmehr zunächst bei den großen Ausbauten, die im Anschluß an den Mittellandkanal ausgeführt werden müßten, in der Hauptsache der gebende Teil insofern sein, als seine großen Talsperrenbauten der Regulierung des Wasserstandes im System des Rheinelbekanals mit dienen müßten. Doch weisen auch diese wirtschaftlichen Möglichkeiten auf eine enge Verknüpfung mit dem benachbarten Norden hin, auf eine Verknüpfung, die durch die Hydrographie des Landes ja auch durchaus angezeigt ist. Ein gewisser verkehrsgeographischer Vorteil würde sich bei weiterem Ausbau der Saale aber doch ergeben. Weite Teile Thüringens, besonders der Osten und die Mitte, finden den Anschluß an den Welthandel durch Verfrachtung ihrer Güter über Hamburg. Der Umschlag der Güter, für die der gemischte Land-Wasserweg gewählt wird, ') Additionsfehler im Original richtiggestellt.
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Albrecht Bnrchard.
findet in Halle oder in einem Elbehafen statt (meist wohl Wallwitzhafen). Nach dem Ausbau würde man wohl den südlichsten Saalehafen oder Leipzig als Umschlagsplatz wählen und dadurch die Frachtkosten jedenfalls verringern können. Wie dem auch sei, auf alle Fälle ist der Thüringer Massenverkehr schon heute auf das nördliche und das östliche Nachbargebiet vorzugsweise verwiesen. Diese Tatsache findet ihren Grund darin, daß der wichtigste Energielieferer, die Kohle, aus dieser Nachbarschaft bezogen wird, und zum andern darin, daß kraft der Hydrographie Thüringens Hamburg das wichtigste Ausfalltor für die meisten thüringischen Welthandelsbeziehungen sein muß. Für Mittel- und Westthüringen kommt natürlicherweise noch Bremen in Betracht. Die teilweise Bevorzugung des Rheinweges vor dem Kriege war geographisch nicht gerechtfertigt, sondern auf verkehrspolitische Gründe zurückzuführen 1 ). Hinsichtlich der Versorgung mit Kohle ist Westthüringen am schlechtesten im Lande gestellt. Sollte die schon einmal erwähnte Möglichkeit der Werrakanalisierung zur Wirklichkeit werden, so könnte die Bindung an das mitteldeutsche Braunkohlenrevier noch inniger werden. Nur käme dann nicht mehr die Gegend von Halle und Weißenfels für die Lieferung in Betracht, sondern der nördlichste, braunschweigische Teil, der seine Kohle mit Hilfe des Mittellandkanals hierher verfrachten könnte. Allerdings wäre dann auch eine stärkere Konkurrenz der Steinkohle von der Ruhr zu erwarten. Der Eisenbahnverkehr hat die altvorgezeichneten Richtungen des Landverkehrs in Thüringen oft als Erbe übernommen. In ihm sind zwei verkehrsgeographische Ziele zu erkennen. Einmal ist auch für diese Verkehrsart das Thüringer Land wichtiges Durchgangsgebiet, und zwar besonders in der Verbindung zwischen Nord- und Süddeutschland. Dieser Verkehrsrichtung dienen vor allem die Strecken Berlin—Halle—Erfurt und von dort einerseits über Eisenach nach Frankfurt und anderseits über Meiningen nach Stuttgart, sowie der Schienenweg, der in Halle abzweigt und über Jena—Probstzella die Verbindung mit Bayern schafft. Bezeichnenderweise geht kein D-Zugverkehr in der Ost-Westrichtung durch Thüringen mit Ausnahme eines Zugpaares Leipzig—Köln. Die D-Züge Köln—Eger fahren nicht mehr. Die großen Strecken Berlin—Nordhausen und Fraustadt, Halle—Kassel berühren auch das natürliche Gebiet Thüringens nur am Rande. Die Abzweigung Corbetha—Leipzig dient ebenfalls dem Durchgangsverkehr nach Frankfurt. Thüringen wird eben ') E. K ö h l e r , a. a. O., S. 180ff. S. a. Bericht der Handels- und Gew.-Kammer zu Sonneberg S.-M. auf das Jahr 1913. S. 6ff. Die Preußische Staatsbahnverwaltung hatte die Absicht, die Ausfuhr von Porzellanwaren über Hamburg und Bremen zu fördern, indem sie Ausnahmetarife nach diesen Häfen gewährte. Es zeigte sich, trotzdem die deutschen Nordseehäfen bedeutend näher liegen als etwa Rotterdam, daß die Verkennung des billigen Wasserweges die Maßnahmen der preußischen Verwaltung zunichte machte. Die bayerische Staatsbahnverwaltung konnte durch eine günstige Gestaltung ihres Tarifs den Verkehr von Thüringisch-Franken nach Mannheim und Frankfurt ablenken. So können künstliche Maßnahmen zu einer Verkehrsgestaltung führen, die den geographischen Verhältnissen durchaus widerspricht.
Die wirtschaftsgeographische Stellung des Thüringer Landes usw.
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durch seine geographische Lage stark in die Nord-Südrichtungen des großen Verkehrs hineingedrängt. Das andere verkehrsgeographische Ziel spricht sich in dem überaus starken Verkehr mit den Bezirken Halle und Westsachsen aus. Man kann den Schienenweg von Erfurt über Halle nach Magdeburg mit seinen Abzweigungen nach Leipzig geradezu als die Hauptschlagadern im Verkehrsnetze des mitteldeutschen Wirtschaftsgebietes bezeichnen. Die wirtschaftsgeographische Bindung Thüringens spricht sich auch sehr gut in den früheren Besitzverhältnissen der Eisenbahnen aus. Überwiegend gehörten die Schienenwege dem preußischen Staate; weniger waren die sächsischen, nur gering, die bayerischen Staatsbahnen beteiligt. Auch hier ist die Neigung zur Bindung an die übrigen Teile des mitteldeutschen Wirtschaftsgebietes unverkennbar. Nicht unerwähnt darf die bindende Kraft der Leipziger Messe bleiben, zu der gerade die eigenartigen mitteldeutschen Industriezweige, insbesondere auch die thüringischen, eine unverhältnismäßig große Zahl von Besuchern stellen. Leipzig hat eben nicht nur eine deutsche, sondern auch auf Grund der natürlichen Verhältnisse eine besonders mitteldeutsche Handelsbedeutung. Wie Klammern greifen die Hauptwirtschaftszweige des mitteldeutschen Elbegebietes nach Thüringen hinüber, es immer mehr in das große zukunftsreiche Revier einbeziehend. Wir haben gesehen, wie das durch die Braunkohle geschieht. Auch die Kaliindustrie iBt eng an die des Harzgebietes verknüpft, wo j a ihr Schwerpunkt schlechthin liegt. Die thüringische Textilindustrie ist eng benachbart und verbunden mit der sächsischen. Die auf der landwirtschaftlichen Erzeugung beruhenden Industrien, insbesondere die Zuckerfabrikation, klingen in den Fruchtebenen Thüringens aus. Der Verkehr zieht diese Klammern um so fester an. Jedenfalls erweisen sich auch hier die Naturgegebenheiten als stark genug, um in vielem der Wirtschaft die Wege zu weisen.
Die Entwicklung des nordwestlichen Thüringer Waldes zur Kulturlandschaft. Von
NIKOLAUS CEEUTZBURG. Diejenigen Landschaften, die vom Menschen als Wohn- und Wirtschaftsrftume okkupiert worden sind, haben durch die menschliche Beeinflussung in stärkerem oder schwächerem Maße und in verschiedenster Art und Weise eine Veränderung ihrer Physiognomie und ihres Charakters erfahren. Naturlandschaften haben sich zu Kulturlandschaften gewandelt1). Die Entwicklung zur Kulturlandschaft bedeutet nun nicht eine Veränderung der Landschaft in ihrer Gesamtheit, sondern nur eine Veränderung bestimmter Landschaftselemente, d. h. bestimmter physiognomisch wichtiger Erscheinungsgruppen; und zwar vollzieht sich diese Entwicklung unter dem unveränderten Bestehenbleiben der Landschaftselemente der Oberflächenformen und der Gewässer, unter der Abwandlung eines anderen Landschaftselementes: der Vegetation, und unter dem Hinzutreten neuer Landschaftselemente: der menschlichen Wohnstätten, einzeln oder zu Ortschaften aggregiert, der gewerblichen Produktionsstätten, isoliert oder den Ortschaften eingegliedert, und der Verkehrswege und Verkehrsanlagen. Die kulturellen Landschaftselemente können als veränderliche Elemente den festen, unveränderten Elementen gegenübergestellt werden; und der Vorgang der Entwicklung zur Kulturlandschaft ist nichts anderes als die Entwicklung des Komplexes der veränderlichen Landschaftselemente. Im Vorliegenden ist der Versuch gemacht, das Werden einer Kulturlandschaft von starker physischer und kultureller Eigenart, des nordwestlichen Thüringer Waldes, zu verfolgen und die historische Entwicklung der kulturellen Landschaftselemente zu skizzieren. Als eine ca. 70 km lange und durchschnittlich 15 km breite Gebirgshalbinsel springt der nordwestliche Thüringer Wald aus breiter Basis im Südosten landzungenartig zwischen umgebenden Tiefländern nach Nordwesten vor. Nach Form und Aufbau ist er als ein stark zerschnittenes Rumpfschollengebirge von mittleren absoluten und relativen Höhenausmaßen zu charakterisieren, zusammengesetzt aus Sedimenten und Eruptivgesteinen des Paläozoikums, insbesondere des Rotliegenden, umsäumt x
) Unter einer Kulturlandschaft ist hierbei eine »natürliche Landschaft« verstanden, die sich nicht im unberührten Naturzustande befindet, sondern die durch die Eingriffe des Menschen eine ganz bestimmte Beeinflussung der ihr von Natur aus innewohnenden Beschaffenheit erlitten hat, die also ganz oder zum Teil Kulturland geworden ist.
Die Entwicklung des nordwestlichen Thüringer Waldes zur Kulturlandschaft.
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und von den umliegenden Triaslandschaften geschieden durch einen schmalen, randlichen Zechsteinstreifen. Den Grundzug der Oberflächengestaltung bildet eine zonale Gliederung der Formelemente in vertikaler Richtung, eine Gliederung in eine oberste, je weiter nach Nordwesten, desto stärker aufgelöste und zerstörte Hochflächenzone von 700 bis 900 m absoluter Höhe, über die sich nur einige kuppenartige Aufragungen um geringe Beträge erheben, weiter in eine mittlere Zone der steileren Talgehänge und schließlich in die tiefste Zone der flachen Talsohlen. Die Regelmäßigkeit in der Anordnung der Formelemente wird dort unterbrochen, wo dem Gebirge — an Stellen abweichender Gesteinsbeschaffenheit — muldenartige Depressionen eingesenkt sind. Im Nordwesten wird durch einen längsgerichteten Tiefenzug eine kleine Teillandschaft, eine schmale, hügelige Buntsandsteinvorzone vom Gebirge abgegliedert, die tektonisch wie morphologisch eine Zwischenstellung zwischen Gebirge und Ebene einnimmt. Die klimatischen Verhältnisse sind durch mittlere Jahrestemperaturen gekennzeichnet, die am Gebirgsrand um fast 2°, auf der Hochflächenzone um rund 4° gegen die Jahresmittel des Thüringer Beckens zurückbleiben (Erfurt 8,2°); ferner durch die Kürze der Vegetationsperiode (Inselsberg 107 Tage im Jahr mit einem Mittel von über 10°) und durch starke Niederschläge, die in den Randzonen im Jahresmittel ca. 900 mm, auf der Hochfläche 1200 mm erreichen. Das Flußnetz des nordwestlichen Thüringer Waldes ist infolge der starken Reliefierung und des Niederschlagsreichtums sehr dicht; die Wasserläufe, die von der in der Längsrichtung durchlaufenden Hauptwasserscheide nach beiden Seiten den Gebirgsrändern zustreben, sind jedoch nur kurz und besitzen mäßiges Gefälle, die Wasserführung ist nicht bedeutend. Die Erzlagerstätten sind in der Hauptsache auf die Randzonen beschränkt; am wichtigsten sind die Eisen- und Kupfererzvorkommen des randlichen Zechsteinbandes. A. Die e r s t e B e e i n f l u s s u n g der N a t u r l a n d s c h a f t d u r c h den Menschen. Um eine Vorstellung von der Landschaft in ihrem Urzustände zu gewinnen, ist es notwendig, das Bild des ursprünglich vorhandenen Vegetationselementes zu rekonstruieren. Über den Zustand des Waldes, so wie er unmittelbar vor der ersten, historisch verbürgten Besiedlung gegeben war — also in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends — sind historische Überlieferungen nicht vorhanden. Es orientieren jedoch Moorfunde über die Verhältnisse einer sehr viel früheren Epoche, die ersten historischen Nachrichten über die des frühen Mittelalters. Die Vegetationsreste der Moorfundstätten 1 ) lassen den Schluß zu, daß der Thüringer Wald während der trockenwarmen Periode der Post') L. G e r b i n g , Die frühere Verbreitung von Laub- und Nadelwald im Thüringer Wald. Mitt. d. Ver. f. Erdk. zu Halle a. S., 1000, S. 6/6.
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glazialzeit eine ausschließliche, dichte Laubbewaldung getragen hat, in der die Eiche stark vorherrschte. Erst während und nach der folgenden Klimaverschlechterung, dem Übergang zu den klimatischen Verhältnissen der historischen Periode, drangen allmählich Buche und Fichte vor. Es ist anzunehmen, daß die Verteilung von Laub- und Nadelwald während des Naturzustandes der Landschaft in der oben angegebenen zeitlichen Abgrenzung annähernd die gleiche gewesen ist, wie sie nach den Untersuchungen L. G e r b i n g s 1 ) noch im 16. Jahrhundert herrschte: ein westlicher Laubholzabschnitt, etwa bis zum Inselberg reichend, ein östliches Gebiet vorwiegenden Nadelholzes, von einer Linie Tambach-Steinbach-Hallenberg an, und eine Übergangszone gemischter Bestände in der Mitte. Über das Bild des Urwaldes im einzelnen lassen sich nur Vermutungen äußern. Es ist sehr die Frage, ob die Altersklassen der Bäume, wie es gewöhnlich dargestellt wird, wirr durcheinander gemengt waren, oder ob sich nicht doch stellenweise gleich alte und gleich hohe Bestände entwickeln konnten 2). Sicherlich aber war für den Urwald das dichte Unterholz von Sträuchern, wie Schlehen, Weißdorn usw., vor allem aber von Haseln charakteristisch. Mit einer dichten Strauchvegetation, Auenwäldern und Buschwerk waren namentlich die vielfach versumpften Talsohlen bedeckt, noch mehr verwachsen und unzugänglich wie die Wälder der Höhenzonen. Am Rande des Gebirges, besonders am Austritt der Flüsse in das Vorland, waren versumpfte Gebiete häufig. Die mit -ried und -rieden zusammengesetzten Namen, der Name Suhl u. a. sind dafür bezeichnend. Die Tierwelt der Urlandschaft dürfte ebenfalls im großen und ganzen ähnlich zusammengesetzt gewesen sein wie im frühen Mittelalter: Bär und Luchs häufig in den Wildnissen des Gebirges, der Wolf weniger im Inneren als in den Vorbergen, das Wildschwein hauptsächlich in der Laubwaldregion des Nordwestens, der Biber an den Flußläufen, Hirsch- und Rehwild über das ganze Gebiet verstreut. Das Gesamtbild der Landschaft kann kein einheitliches gewesen sein: im Westen das sommerliche Hellgrün der Laubwälder abwechselnd mit dem kahlen Braun des Winters; nach Osten zu diese Färbung immer mehr untermischt von dunkleren Flecken; und schließlich die Nadelholzzone Sommer wie Winter beherrscht von Dunkelgrün, unterbrochen von helleren Laubholznuancen. Darauf, daß das Gebirge bereits v o r der historischen Besiedlung gelegentlich vom Menschen betreten worden ist, deuten prähistorische — neolithische und bronzezeitliche — Funde an mehreren Stellen des Gebirgsrandes'). Feste Siedlungen sind für diese Periode jedoch nicht nachge1
) L. G e r b i n g a. a. O. ) H. H a u s r a t h , Pflanzengeographische Wandlungen der deutsohen Landschaft. Leipzig und Berlin 1011, S. 164. •) A. G ö t z e , P. H ö f e r , P. Z s c h i e s c h e , Die vor- und frühgeschichtliohen Altertümer Thüringens. Würzburg 1909, S. 229ff., und archäologische Karte. 2
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wiesen, und zu irgendwelchen Beeinflussungen der Landschaft haben diese, wohl nur vorübergehenden Besuche jedenfalls nicht geführt. Während der nordwestliche Thüringer Wald in der vorchristlichen Zeit den Kern einer breiten, zusammenhängenden Waldzone bildete, die die Kulturen der Besiedelungsinseln voneinander schied, ein Rückzugsgebiet, das nur gelegentlich einmal aufgesucht wurde, wenn in den offenen Landschaften Völkerverschiebungen vor sich gingen oder wenn irgendein, vielleicht jagdlicher Anreiz wirkte, so wurde in der römischen Kaiserzeit — vielleicht noch früher — die Verkehrsspannung zwischen der dichtbesiedelten Thüringer Triasmulde und der Kulturinsel des Grabfeldes im Süden so stark, daß Durchbrechungen der Waldzone durch einen, wohl zunächst unregelmäßigen Verkehr erfolgten. Den Beweis dafür bildet der Fund eines römischen Kasserollengriffs bei Oberhof 1 ), er läßt vermuten, daß in Richtung der sog. Waldstraße Suhl-Oberhof-Crawinkel, einer der aus dem Mittelalter bekannten, den Wald querenden Hochstraßen, bereits in römischer Zeit ein zeitweilig benutzter Verkehrsweg bestand. Weiterhin sind auf der Steinsburg auf dem kleinen Gleichberg bei Römhild, dem strategischen Mittelpunkt des keltischen Befestigungssystems im südlichen Thüringer Wald-Vorland, Mühlsteine aus einem Porphyr gefunden worden, der mit dem des im ganzen Mittelalter bis in die Neuzeit hinein ausgebeuteten Bruches am Borzel bei Frankenhain am Nordrand identisch sein soll2). Das würde ebenfalls auf einen sehr frühen Verkehr in der gleichen Richtung wie auch auf das hohe Alter dieses Steinbruchbetriebes hindeuten. Als erstes in die Landschaft eindringendes Kulturelement sind also Verkehrswege anzunehmen, und daran knüpften sich vermutlich bergbauliche Produktionsstätten. Das Alter der ersten Bergbauversuche auf dem nordwestlichen Thüringer Wald steht nicht fest. Der Sage nach soll bereits im Jahre 385 n. Chr. am Stahlberg nördlich Schmalkalden Eisenbergbau getrieben worden sein*). Es ist klar, daß die Lager des sehr begehrten Eisenerzes früh zur Ausbeutung gereizt haben müssen und daß gelegentliche Schürfungen auf Erze im Gebirge schon weit vor der Zeit der ersten urkundlichen Erwähnung des Bergbaus — 900 n. Chr. — stattgefunden haben. Mit der Errichtung fester Siedlungen war der erste primitive Bergbau nicht verbunden. Das Gewerbe war noch nicht ortsbeständig, sondern gewissermaßen nomadisierend, es wurde von den sog. Waldschmieden, Bergleuten und Eisenschmelzern in einer Person ausgeübt, die ihren Bergbau in Form oberflächlichsten Tagebaus an den erzfündigen Stellen im Wald betrieben, ihre kleinen Schmelzherde, die Luppen- oder Rennfeuer unmittelbar am Ort des Abbaus errichteten und das für den Schmelzprozeß erforderliche Holz im Umkreis schlugen. Lohnte der Abbau nicht mehr, so wurden andere Plätze aufgesucht. >) Götze usw. a. a. 0 . , S. 229. ) H. He 6, Siedelungen und Wüstungen im vormaligen Hzgt. Gotha. Mitt. d. Ver. f. Goth. Gesch.- u. Altertumsforschung. 1920/21. S. 42. •) L. B e c k , Geschichte des Eisens. 1884-1903. I.S. 817, II., S. 763. J
D r y g a l s k l , Festgabe.
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Nikolaus Creutxburg.
Die Einwirkung auf die Landschaft war also gering und noch nicht dauernd, da die kleinen, durch diesen Betrieb entstandenen Blößen bald wieder zuwuchsen. Auch die Holzentnahme zu Bau- und Brennzwecken, die durch das frühe Bestehen markgenossenschaftlicher Rechte der altgermanischen Dörfer des Thüringer Beckens im Gebirge1) bereits für die Zeit vor der Besiedlung des Waldes wahrscheinlich ist, vermochte noch keine wesentlichen Veränderungen im Waldbild hervorzurufen. Gegen Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrtausends sind bereits mehrere Verkehrswege quer über den Wald hinüber nachzuweisen 2 ). Diese Verkehrswege waren durchweg Hochstraßen, sie benutzten nicht die gänzlich unwegsamen versumpften Talsohlen, sondern sie schraubten sich am Gebirgsrand zunächst steil in die Höhe und bedienten sich zur Überquerung des Gebirges der durchlaufenden, hohen Seitenkämme; sie verließen die Kammzone nur dort, wo sie die Muldengebiete berührten 3 ). Einen Wendepunkt auf dem Wege der Entwicklung des Gebirges zur Kulturlandschaft bildet das Seßhaftwerden der Gewerbe und die hauptsächlich damit in Zusammenhang zu bringende erste Besiedlung. Der Übergang der vordem herrenlosen Wälder in grundherrlichen Besitz macht der Freizügigkeit des Bergbaugewerbes, der unbeschränkten und freien Holzentnahme ein Ende, führt zur Erteilung bestimmter Konzessionen und damit zur Ortsbeständigkeit der Produktionsstätten. Das Landschaftselement der festen Siedlung beginnt sich geltend zu machen. Dem Charakter nach sind die ersten Ansiedlungen Bergbausiedlungen oder auch Verkehrssiedlungen, in ihrer Entstehung an die Straßenzüge und an die feste Niederlassung von Fuhrleuten usw. geknüpft; vermutlich etwas später entstehen auf der Nordseite einige Klostergründungen und weilerartige Ansiedlungen. Weiter erforderte das Interesse der Grundherren die Anlage befestigter Burgen und Edelsitze, sowohl in der Randzone wie auch nach dem Inneren des Waldes zu vorgeschoben. Diese Burgen, deren Gründung etwa in das 11. und 12. Jahrhundert fällt, führten gleichfalls in einigen Fällen zum Entstehen von Ansiedlungen an ihrem Fuß und in ihrem Schutz. Die urkundlichen Nachrichten weisen, wenn auch nicht mit völliger Sicherheit, auf das Bestehen einiger weniger Siedlungen bereits vor dem Jahre 1000 hin 4 ), eine weitere kleine Anzahl ist zwischen 1000 und 1100 urkundlich bezeugt 5 ). Um das Jahr 1000, vereinzelt wohl schon früher, beginnen also die ersten Besiedelungsinseln innerhalb des Waldgebirges sich zu entwickeln, zuerst klein und nur aus wenigen Wohnstätten bestehend. In ihrem Umkreis wird der Wald etwas zurückgedrängt, sei es durch gering ausgedehnte ») H. Heß, Der Freiwald bei Georgenthal. Zeitschr. d. Ver. f. Thür. Gesch. u. Altertumskunde, Neue Folge Bd. X, Jena 1807, S. 305. ») F. R e g e l , Die Entw. der Ortsch. i. Thür. Wald. Pet. Mitt., Erg.-H. Nr. 76, 1886, S. 11 ff. ') Vgl. die Karte bei Regel. 4 ) F. Regel a. a. O., Vesser 900, Suhl, Zella, Mehlis 944, Hof Wallenburg 974. ») Ebenda. Altenbergen 1044, Brotterode 1039, Ernstroda 1039, Catterfeld 11. Jahrhundert, daneben einige Wüstungen.
Die Entwicklong des nordwestlichen Thüringer Waldes zur Kulturlandschaft.
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Rodungen zum Zweck der Ackerlandgewinnung, wie bei den Kloster* gründungen, sei es durch Holzschlag zum Zweck gewerblicher Tätigkeit, wobei auf den entstandenen Blößen wohl stets auch etwas Feldbau versucht wurde, um den nötigsten eigenen Bedarf zu decken 1 ). Auf den Anhöhen heben sich vielfach feste Burgen über den Wald heraus, ohne daß es aber gerade hier zu größeren Waldrodungen kommt, denn die Interessen der Grundherren gehen nach ganz anderer Richtung. Viele der Edelsitze entwickeln sich zu Raubburgen, und ein großer Teil von ihnen wird bereits Ende des 13. Jahrhunderts zerstört 2 ). In der Periode der ersten Besiedlung verschwinden die sporadisch eindringenden Kulturelemente also noch vollkommen in der Naturlandschaft; maßgebend für den Landschaftscharakter ist immer noch die verhältnismäßig unberührte Decke der Naturvegetation. B. Die W a n d l u n g d e r L a n d s c h a f t v o m 12. b i s z u m 15. J a h r hundert. Wesentlich stärker sind die menschlichen Beeinflussungen der Landschaft in der folgenden Periode vom 12. bis 15. Jahrhundert gewesen; sie äußern sich in der Gründung zahlreicher Ortschaften, in dem Eindringen der Kulturvegetation in die Talsohlenzone und teilweise auch in die Muldengebiete, in der raubhaften Lichtung der Urwaldbestände und in dem Erstehen vieler einzelner gewerblicher Produktionsstätten. Die erste urkundliche Erwähnung des größten Teils der Thüringer Wald-Ortschaften, einschließlich der Wüstungen, fällt in diesen Zeitabschnitt 3 ), und aus dem zeitlich ziemlich übereinstimmenden ersten Auftauchen einer größeren Zahl von Ortschaften kann der Schluß gezogen werden, daß die tatsächliche Gründung auch nicht weit hinter der ersten urkundlichen Erwähnung zurückliegt. Kleinere Ackerfluren und Dorfgärten entstanden namentlich bei den Siedlungen der Muldengebiete und der langgestreckten Depressionszone Tabarz-Friedrichroda-Catterfeld, sowie bei den Randsiedlungen. Während die meisten Siedlungen lange Zeit klein und unbedeutend blieben, teilweise im Lauf der Zeit auch zu etwas größeren Orten verschmolzen, entwickelten sich einige der günstig gelegenen randlichen Ortschaften so rasch, daß sie bereits im 14. Jahrhundert Stadtrecht erlangten und mit Mauern umgeben wurden 4 ). Die große agrare Kolonisation, *) Es ist im einzelnen schwer zu entscheiden, was in jedem Fall das Motiv zur Gründung der ersten Ansiedlungen — auch derer der späteren Periode — gewesen ist. Jedenfalls hat der nordwestliche Thüringer Wald, wie Rottst&dt (Besiedelung und Wirtschaftsverfassung des Thüringer Waldes im engeren Sinne, München und Berlin 1914) gezeigt hat, keine planmäßige Agrarbesiedlung erlebt, es kommen vielmehr alle die erwähnten Motive in Betracht. *) R o t t s t ä d t a. a. O. S. 13. s ) Vgl. Regel a. a. O. 4 ) Regel a. a. 0., Schmalkalden im 13. Jahrhundert- Stadt, 1314 Befestigungen; Waltershausen und Ilmenau im 14. Jahrhundert Städte; Suhl 1527, Friedrichroda '597 Stadtrecht. 4«
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die ihren Höhepunkt in Deutschland im 12. und 13. Jahrhundert erreicht, drang nur an einer Stelle in die Landschaft des nordwestlichen Thüringer Waldes ein, und zwar bezeichnenderweise in den Landschaftsteil, der sich durch Bodenbau und sanftere Reliefformen von dem Waldgebirge abhebt: in die nördliche Buntsandsteinvorzone. Hier sind einige typische Waldhufendörfer angelegt worden 1 ). Im 12. Jahrhundert beginnt ein weiterer wichtiger Fortschritt in der Kulturtätigkeit sich anzubahnen: die Urbarmachung und Trockenlegung der versumpften Talsohlen. Ein wesentlicher Anteil an dieser Tätigkeit fällt den Rodeklöstern zu, von denen Reinhardsbrunn 1086, Georgenthal um 1140 gegründet wurde 2 ). Die Talsohlen wurden allmählich der Wiesenkultur dienstbar gemacht, und der Verkehr stieg, wenn auch die alten Hochstraßen noch lange weiter benutzt wurden, wenigstens teilweise in die Täler herab. Der Vorgang der Kultivation der Talsohlen ist von großer Bedeutung für die Gestaltung des Landschaftsbildes. Vorher hatten nur einzelne, unregelmäßige Kulturflecken das Waldgebirge durchsetzt. Jetzt werden die Talsohlen und die Muldengebiete die natürlichen kulturellen Zentren, die Ausgangspunkte für das planmäßige Eindringen der Kulturelemente, für das Ausstrahlen der Kulturtätigkeit nach allen Seiten. Dazu kommt im 14. Jahrhundert ein Moment, für dessen Auswirkung im Landschaftsbild die Kultivation der Talsohlen die Voraussetzung bildet: die Ausnutzung der Wasserkraft. Sie setzt vielleicht schon im 13. Jahrhundert ein, sicher ist sie jedoch im 14. Jahrhundert nachzuweisen. Sie bewirkt gewaltige Veränderungen im Aussehen der gewerblichen Produktionsstätten, sie führt erstens einmal zu einer räumlichen Trennung des Bergbaubetriebes vom Verhüttungsprozeß, sie schafft weiter das wichtige, im Landschaftsbild stark hervortretende Element von gewerblichen Produktionsstätten, die nicht der Urproduktion, sondern der Weiterverarbeitung, und zwar mit maschinellen Hilfsmitteln, dienen. An Stelle der alten Rennherde erstehen größere, gemauerte sog. Schachtöfen, und zwar unten in den Tälern an den Wasserläufen, daneben Hammerwerke, Schleifkothen, Schneidemühlen. Voraussetzung für die starke Vermehrung der gewerblichen Produktionsstätten war natürlich der immer mehr steigende Bedarf an Metallprodukten und an Holz; die Erkenntnis des wirtschaftlichen Wertes des Gebirges. Auch die Zahl der bergbaulichen Öetriebe erfuhr in jener Zeit eine starke Zunahme, hier blieb die alte Betriebsform der Tagebaue noch bis zum 15. Jahrhundert erhalten und wurde erst dann durch den Schachtund Stollenbaubetrieb ersetzt; sicherlich waren gerade im 14. Jahrhundert die Beeinflussungen des Landschaftsbildes durch die zahlreichen offenen Wunden der Tagebaue besonders groß. Erst später, mit verbesserter Technik, konzentrierte sich der Bergbau mehr auf einzelne, besonders ergiebige Punkte oder Zonen. R e g e l a. a. O., Langenhain 1296, Sondra 1313, Deubach 1438. ) R e g e l a. a. O. S. 42 u: 36.
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An das Entstehen gewerblicher Produktionsstätten knüpfte sich naturgemäß die Errichtung von Wohnbauten. Besonders der Bergbau hat eine ortschaftenbildende Wirkung ausgeübt, während die Hammerwerke, Schneidemühlen usw., abgesehen von einigen Ausnahmen, mehr zur Herausbildung von gewerblichen Einzelsiedlungen führten. Gerade im 14. Jahrhundert entsteht in den Kupfer- und Eisenbergbaugebieten des äußersten Nordwestens eine größere Zahl von kleinen Ortschaften, von denen aber nur wenige Bestand gehabt haben 1 ). Hütten- und Hammerwerke zogen in einzelnen Fällen, bei besonders günstiger Lage, auch die Gründung von Ortschaften nach sich 2 ), in anderen Fällen entstanden sie innerhalb oder in unmittelbarer Nähe schon bestehender Ortschaften, in der Hauptsache aber bleiben sie als gewerbliche Einzelanlagen außerhalb der Ortschaften, in bestimmter linienhafter Anordnung, entsprechend der im Vorhandensein der Wasserläufe gegebenen linienhaften Lokalisation ihrer Kraftgrundlage. Ein weiteres Moment, das nunmehr beginnt, landschaftsumgestaltend zu wirken, ist die immer stärker werdende Holzentnahme. Der Prozeß der Eisenverhüttung, die Errichtung von Wohnund Wirtschaftsbauten, vom 15. Jahrhundert an auch der Stollenbau der Bergwerke erforderte den Entzug immer größerer Holzmengen aus den Wäldern, und besonders in der südlichen Bandzone wurden die Bestände erheblich gelichtet. Die Form der wirtschaftlichen Nutzung des Waldes, die in der frühesten Zeit reine Sammelwirtschaft gewesen war und am Naturzustand der Landschaft sehr wenig geändert hatte, artete naturgemäß bald in Raubwirtschaft aus. Die menschlichen Einwirkungen auf die Landschaft sind also doppelte: zerstörende und aufbauende, negative und positive 8 ). Negativ wirkten die Eingriffe in die Waldbestände und die Bergbautätigkeit, positiv die Einführung der Wiesenkultur in den Talsohlen und — in geringen Ausmaßen — der Feldbaukultur, die Errichtung von gewerblichen Produktionsstätten, das Entstehen der Siedlungen. Im 13. und 14. Jahrhundert gewannen diese Einwirkungen derart an Intensität, daß das Landschaftsbild den Charakter der Unberührtheit, der Ursprünglichkeit allmählich einbüßte. Wenn die Beeinflussungen auch gleichzeitig negativer und positiver Art waren, so darf man doch wohl annehmen, daß im Gesamteindruck das positive Element überwog; man wird also von dieser Periode an mit einem gewissen Kulturzustand der Landschaft in seinem ersten, frühesten Stadium zu rechnen haben. Das Maß der Einwirkungen war natürlich regional verschieden; die Beeinflussungen waren am stärksten in den Randzonen, und auch hier nicht ganz gleichmäßig; in der südlichen wesentlich intensiver als in der nördlichen. Die geringste Umgestaltung erfuhr der innere Höhengürtel. ») Regel a. a. O. S. 69. *) Regel a. a. 0. S. 74, z. B. Herges, 1348. ') Unter negativen Einwirkungen sind dabei nur die d a u e r n d negativen verstanden, abgesehen davon, daß, wenigstens in einem ursprünglichen Waldgebiet, jeder positiven Einwirkung eine negative vorausgeht.
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Es ist nun weiter anzunehmen, daß die Wunden im Vegetationskörper noch frisch und unvernarbt erschienen, daß die unvermittelt inselartig in die Naturumgebung hineingestellten Siedlungen als Fremdformen in der Landschaft hervortraten, d a ß die Übergänge vielfach noch schroff und die Gegensätze unausgeglichen waren. Das 15. Jahrhundert bringt keine wesentlich neuen Züge in die Landschaft hinein, es bedeutet nur eine rasche, sich stetig steigernde Entwicklung aller Kulturelemente in den vorher angebahnten Richtungen, es führt namentlich zu einer starken Vermehrung von gewerblichen Produktionsstätten, sowohl außerhalb von Ortschaften, wie auch besonders — durch das Aufkommen des Waffen- und Messerschmiedehandwerks und die Ausbreitung der handwerksmäßigen Holzverarbeitung — innerhalb der dörflichen und städtischen Siedlungen; es sieht infolgedessen ein Aufblühen vieler dieser Ortschaften, anderseits ein immer stärkeres Zurückdrängen der veränderlichen Naturelemente der Landschaft. C. D e r C h a r a k t e r d e r L a n d s c h a f t i m H ö h e p u n k t d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n B l ü t e p e r i o d e d e s 15. J a h r h u n d e r t s . Der Höhepunkt der mittelalterlichen Kulturentwicklung und damit auch ein Höhepunkt in der Entwicklung der mittelalterlichen Kulturlandschaft des Thüringer Waldes wurde im 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg erreicht. In der Artzusammensetzung des Waldes hatte sich gegenüber dem Naturzustand noch nicht viel geändert, so daß die Verteilung von Laubund Nadelwald noch die charkteristische, querverlaufende Zonengliederung in ein westliches Laubholzgebiet, ein mittleres Gebiet gemischten Bestandes und ein östliches Gebiet vorwiegenden Nadelwaldes aufwies, so wie sie auf L. G e r b i n g s 1 ) Karte zum Ausdruck kommt. Über den Zustand des Waldes im 16. Jahrhundert hat H. H e ß 2 ) auf Grund alter Waldbeschreibungen und Forstberichte ein lebendiges Bild entworfen; eine Darstellung des gesamten Forstwesens Thüringens im 16. Jahrhundert h a t , auf archivalischen Quellen fußend, 0 . K i u s 8 ) gegeben. Nach diesen Schilderungen waren die Hauptmerkmale des Waldes im 16. Jahrhundert einmal, daß geschlossene Bestände einzelner Holzarten, selbst in den Laubwaldgebieten, kaum vorkamen, daß vielmehr eine bunte Durcheinandermischung der Arten statt h a t t e ; d a ß ferner Mittel- und Niederwald durchaus vorherrschte. Dabei trug der Wald in allen seinen Teilen die Züge sorglosester Zerstörung, rücksichtslosester Ausnutzung, mit nur ganz geringen Ansätzen zu erhaltender Forstkultur. Lücken mitten im Walde waren häufig, sei es durch Windbruch oder Waldbrände — »1540 brannte der Thüringer Wald 4 Wochen und konnte L. Gerbing a. a. O., Karte. *) H. Heß, Der Thüringer Wald in alten Zeiten. Gotha 1898. ') O. Kius, Das Forstwesen Thüringens im 16. Jahrhundert. Jb. f. Nat.-Ök. u. Statistik, hrsg. v. B. Hildebrand, Bd. X, Jena 1868.
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niemand löschen«1) —, sei es durch ausgedehnte Holzschläge. Infolge der Überlassung großer Waldteile an die Eisengewerke zu unkontrollierter, unbeschränkter Ausnutzung konnte es vorkommen, daß in der Nähe der Stätten der Eisenindustrie ganze Abhänge oder ganze Berge im Laufe weniger Jahre von oben bis unten abgetrieben waren. Die Gipfel der Berge waren häufig abgekohlt. Um den Nachwuchs kümmerte man sich anfänglich nur insofern, als man beim Abtrieb einer Fläche immer in gewissen Abständen einzelne hochragende Bäume — sog. Scher- oder Scharbäume — zur natürlichen Besamung stehen ließ. Da aber eine unbeschränkte Triftgerechtigkeit für alle im und am Thüringer Wald gelegenen Dörfer herrschte, und Viehzucht in den Walddörfern bei den geringen Ackerbaumöglichkeiten in relativ starkem Maße betrieben wurde, auch herrschaftliche Stuten-, Fohlen- und Rinderherden vielfach zur Weide in den Wald getrieben wurden, so wurde der junge Nachwuchs meistens so stark vom Vieh verbissen, daß sich nur Gestrüpp und Niederwald entwickeln konnte. Die Gebiete vorherrschenden Eichenbestandes im Nordwesten wurden als Schweinemastwälder genutzt. Auch die überall entstandenen Schneidemühlen trugen durch ihren starken Holzverbrauch zur Waldverwüstung bei; alles Holz, das für Schneidezwecke nicht brauchbar war, Äste und Gezweig, blieb dabei liegen und verfaulte. Im einzelnen brachten ferner die Kohlenbrennerei und die Waldnebennutzungen, das Loheschälen und die Harzgewinnung bemerkenswerte Züge in das Bild des Waldes hinein. Die weiche Laubholzköhle war für die Zwecke der Eisenverhüttung besonders geschätzt, und aus diesem Umstand erklärt sich zum guten Teil der starke Rückgang der Laubholzbestände. Das Loheschälen setzte besonders den Eichenwäldern zu, daB Harzen gehörte dagegen zu den Hauptschädigungen der Nadelwaldgebiete. Kohlenmeiler, Pech- und Kienrußhütten, in denen das Harz zu Pech ausgekocht bzw. zu Kienruß verbrannt wurde, waren die kleinen, zwar nicht besonders hervortretenden, aber in großer Zahl verbreiteten Produktionsstätten inmitten des Waldes. Am extremsten trug der Wald natürlich in den Randgürteln die Spuren der Zerstörung, in der innersten Zone war das Bild der Verwüstung nicht derartig ausgeprägt. Hier unterbrachen nur vereinzelte Blößen und die wenigen kleinen Sumpf- und Bruchflächen mit ihrer niederen Buschvegetation die zusammenhängende Walddecke. Den Übergang von dem reinen Raubsystem zu einer geregelteren Forstwirtschaft bildete der Plänter- oder Femelbetrieb, ein Forstbetrieb, in dem alle Altersklassen auf der gleichen Fläche enthalten waren. Wenn die Anfänge dieser Wirtschaftsform auch bereits in das 15. Jahrhundert fallen 2 ), so vermochte sie sich doch auch im 16. Jahrhundert noch nicht derartig durchzusetzen, daß sie das Bild des Waldes bereits wesentlich im positiven Sinne modifiziert hätte. ») H. H e ß a. a. O. S. 7. ') F . R e g e l , Der Thüringer Wald und seine Forstwirtschaft. D. geogr. Bl., Bd. V, 1892, S. 107.
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Im Gegensatz zu den verwüsteten, ungepflegten Waldgebieten der Höhen- und Gehängezone waren die Talsohlen völlig Kulturland geworden, mit Wiesen bedeckt und als Viehweide genutzt. Namentlich in den randnahen Teilen der Talzüge reihten sich Hütten- und Hammerwerke, Pochwerke, Schleifkothen, Schneidemühlen in dichter Folge aneinander, Werkkan&le und künstliche Teiche waren zur besseren Ausnutzung der Wasserkraft angelegt worden. Die dörflichen Siedlungen waren meist noch klein und unbedeutend, zum Teil nur aus wenigen Häusern bestehend, mit kümmerlichen Gärten. Nur in den erwähnten Langdörfern der nördlichen Buntsandsteinvorzone zeigte sich die charakteristische, streifenförmige Flureinteilung der Waldhufendörfer, in den übrigen Ortschaften lagen die wenigen, steinigen Ackerfluren unregelmäßig um den Ort herum, wo die Geländeform es am besten gestattete. Die Wohnstätten waren einstöckig, durchweg aus Holz erbaut, mit Schindeln gedeckt und hoben sich durch ihre Farbe wenig aus der Umgebung heraus. Mehr hervortretend waren die stattlicheren Geleitsund Amtshäuser sowie die gewerblichen Produktionsstätten. Vor allem die Waldortschaften der Nordseite mit ihrer vorwiegenden Holzhandwerkerbevölkerung besaßen einen ärmlichen Charakter, etwas stattlicher und größer waren die Orte im Eisenindustriegebiet der Südseite. Die kulturellen Mittelpunkte bildeten die enggebauten Randstädte Suhl, Schmalkalden, Eisenach, Waltershausen, Friedrichroda, Ilmenau. Die Städte hoben sich schon durch ihre feste Mauerumgrenzung, ihre Tore und Türme als eigene, abgeschlossene Landschaftsbestandteile heraus. Dem Charakter nach waren Suhl und Schmalkalden blühende Industrieplätze, Hochburgen des Zunfthandwerks — Suhl gilt im Mittelalter als das »Zeughaus Europas« —, Waltershausen, Friedrichroda und Ilmenau mehr Handels- und Verkehrsplätze. Im Gesamtbild der Landschaft war das Leben, die vielen sinnlich wahrnehmbaren Daseinsftußerungen des Menschen, ein wichtiger Faktor. Überall waren die Zeichen eines tätigen Wirtschaftens bemerkbar: in dem Rauch der Kohlenmeiler, in der Tätigkeit der Bergleute, der Holzhauer, Harzer, Holzleser, Holzflößer, in dem ununterbrochenen Gang der Hammerund Sägewerke, in dem starken Verkehr, der über die Straßen des Thüringer Waldes flutete, dem Troß der Frachtwagen, Kaufleute, Reisenden und Geleitsmannschaften. Viehherden waren überall im Wald anzutreffen; wochenlange, mit größtem Aufwand durchgeführte Jagden der fürstlichen Herren waren keine Seltenheit. Zweifellos war das Leben in der Landschaft damals weit intensiver, viel mehr unmittelbar hervortretend als heute in einer Periode der Mechanisierung, der Zusammendrängung allen Lebens in wenige Zentren. Vom Stadium der unberührten Naturlandschaft hat sich der nordwestliche Thüringer Wald über das Zwischenstadium der sporadisch kulturbeeinflußten Landschaft zu einer Landschaft entwickelt, deren wirtschaftliche Kräfte nunmehr voll, dem kulturellen und technischen Niveau der Zeit entsprechend, d. h. noch nicht rationell, ausgenutzt werden. In fast allen ihren Teilen trägt die Landschaft den Stempel dieser
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wirtschaftlichen Nutzung, des endgültigen Eindringens der Kulturelemente. Allerdings in verschiedenen Formen und in verschiedenem Maße: anders in den Hochgebieten als wie in den Tiefgebieten. Die Tiefgebiete sind gewissermaßen das Rückgrat der kulturbeeinflußten Landschaft, hier hat die Kulturtätigkeit durchweg aufbauend, neue Kulturformen schaffend, gewirkt. In den Landschaftsteilen der Hochgebiete herrscht dagegen noch die negative, zerstörende Tätigkeit vor, erst Ansätze zum Aufbau lassen sich erkennen. Der rein physiognomischen Bedeutung nach überwiegen vielleicht quantitativ die Spuren der zerstörenden Tätigkeit; qualitativ, für die Erfassung des Landschaftscharakters, sind die Zeichen aufbauender Tätigkeit jedoch weitaus höher zu werten. D.
Die
E n t w i c k l u n g der L a n d s c h a f t vom D r e i ß i g j ä h r i g e n K r i e g b i s z u m B e g i n n des M a s c h i n e n z e i t a l t e r s . Das äußere Ereignis, das die kulturelle Blüteperiode des nordwestlichen Thüringer Waldes plötzlich abschnitt, im äußeren Bild der Landschaft vielfach Spuren der Zerstörung hinterließ und vor allem eine Änderung im Charakter der Landschaft anbahnte, war der Dreißigjährige Krieg 1 ). Dem nordwestlichen Thüringer Wald wurde dabei die günstige Verkehrslage, das Netz der über das Gebirge führenden Hauptverkehrsstraßen zum Verhängnis. Der Krieg lähmte das wirtschaftliche Leben des Gebirges, die Viehbestände wurden durch Requisitionen dezimiert, Handel und Gewerbe gingen stark zurück. Suhl, der bedeutendste Industrieplatz, wurde 1634 zerstört und bis auf wenige Reste niedergebrannt; in der Umgebung Schmalkaldens wurde durch Plünderungen und Brandschatzungen fast die gesamte Eisenindustrie vernichtet, der Bergbau zum großen Teil stillgelegt. Die verkehrsabgelegenen Waldortschaften waren weniger direkt betroffen, aber sie litten unter der allgemeinen Not und Verarmung. Auswanderung war eine häufige Erscheinung. Wenn auch die zerstörte Wirtschaft zum Teil bald wieder aufgebaut wurde, so konnte doch der frühere Umfang nicht wieder erreicht werden, und die alten bodenständigen Gewerbe gewährten der Bevölkerung nicht mehr ausreichende Beschäftigung. Das wurde der Anlaß zu einer Veränderung der Formen des gewerblichen Lebens, deren sichtbare Spuren im Landschaftsbild zunächst noch ganz unbedeutend waren, die aber den Charakter der Landschaft im Laufe der späteren Entwicklung völlig umgestaltete. Diese neuen Formen gewerblicher Tätigkeit waren die Hausindustrien, in ihren ersten Anfängen schon bis ins Ende des 16. Jahrhunderts zurückreichend, aber erst durch die Folgezustände des großen Krieges weiter ausgebreitet, zu ihrer vollen Entwicklung allerdings erst über 100 Jahre später durch das Hinzutreten noch anderer, sie begünstigender Momente gelangt. Diese Hausindustrien, zuerst Textilge werbe, bezogen ihre Rohstoffe von außerhalb des Thüringer Waldes gelegenen 1
) Vgl. O. K i u s , Statist. Mitteilungen aus Thüringen und dem angrenzenden Franken auf> dem Dreißigjährigen Krieg. Hildebrands Jahrb. f. Statistik u. Nat.-Ök. Bd. XIV, 1870.
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Gebieten, sie standen in keiner direkten Beziehung mehr zu den Naturgrundlagen der Landschaft, sie waren nicht mehr bodenständig. Gewerbliche Produktionsstfitten und Wohnstätten der arbeitenden Bevölkerung fielen bei den Hausindustrien zusammen; und darum war die Ausbreitung der Hausindustrien eine der Ursachen dafür, daß sich das gewerbliche Leben immer einseitiger auf die Ortschaften konzentrierte. Wenn der Zeitraum nach dem Dreißigjährigen Krieg auch im allgemeinen eine Periode der Rückentwicklung ist, mit nur geringer sichtbarer Umgestaltung des Kulturlandes in positivem Sinne, so lassen sich doch in jener Zeit auch einige neue Beeinflussungen des Landschaftsbildes, neue Ortschaftsgründungen, erkennen. Sie sind verursacht durch das Aufkommen der auf der Ausnutzung des Holzreichtums basierenden Glasindustrie. Spuren einer zeitweilig betriebenen Glasindustrie lassen sich ebenfalls schon viel früher, im 14. und 15. Jahrhundert, nachweisen, aber erst im 17. Jahrhundert faßte diese Industrie im nordwestlichen Thüringer Wald festen Fuß, und zwar im zentralen Gebirgsteil des Südostabschnitts, dessen Holzbestände noch nicht in dem Maße wie in den Randzonen infolge einer jahrhundertelangen Auswüstung durch die Eisenindustrie gelichtet waren. Den ersten Anfang zur kulturellen Erschließung der zentralen Waldgebiete bildete zumeist die Errichtung isolierter gewerblicher Produktionsstätten, der Glashütten. Die kleine Rodungsinsel mitten im Walde vergrößerte sich allmählich, einige Wohnstätten kamen dazu, und es kristallisierte sich um die Glashütte schließlich die Ortschaft herum 1 ). Die Entwicklung der bodenständigen Eisenindustrie bewegte sich auch im 18. Jahrhundert in stetig absteigender Linie. Neben neuen von außen kommenden Beeinflussungen durch die kriegerischen Ereignisse zu Anfang des 18. Jahrhunderts und im Siebenjährigen Krieg waren dafür in erster Linie innere, in der allmählich zu Tage tretenden Begrenztheit der natürlichen Hilfsmittel liegende Gründe maßgebend. Die Waldverwüstung war bis zu einem Grade gediehen, daß die Regierungen nunmehr die energischsten Maßnahmen zur Einschränkung des Holzverbrauchs ergriffen. Dazu zeigten sich auch Symptome einer Erschöpfung der Erzlager: 1726 bereits war der Stahlberg, das wichtigste Eisenerzlager, großenteils abgebaut 2 ), und kurz nach der Mitte des Jahrhunderts kam der Suhler Bergbau zum Stillstand*). Die Folgen aller dieser Erscheinungen für die Entwicklung des Landschaftsbildes waren tiefgreifendster Art. Im 17. Jahrhundert vollzog sich die wichtigste physiognomische Charakteränderung in den räumlich ausgedehntesten Landschaftsteilen, den waldbestandenen Hochgebieten. Durch die immer intensiver betriebene Forstkultur verwandelte sich der wüste, ungepflegte Wald der Hochgebiete allmählich in kultiviertes Waldland. Freilich änderte diese Forstkultur viel an der ursprünglichen Art') Gründung der Glashütten: Gehlberg 1641, Stützerbach 1666, Allzunah 1698, Neustadt a. R. 1698. Vgl. R e g e l , Entw. der Ortschaften im Th. W., S. 54, 58, 93. ») Beck, Geschichte des Eisens, III., S. 851. *) v. F r e y b e r g , B. Erz- u. Minerallagerstätten des Th. W. Berlin 1923, S. 101.
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Zusammensetzung, sie begünstigte die Ausbreitung des schneller wachsenden, widerstandsfähigen Schwarzholzes, sie schenkte dagegen der Pflege des Nachwuchses an Laubholzbest&nden nur wenig Aufmerksamkeit. Die Form der Forstkultur war zunächst noch der Plänterbetrieb, der die Wälder infolge der bunten Mischung aller Altersabstufungen, dem nur vereinzelt, aber über die ganze Fläche hin erfolgenden Abtrieb der schlagreifen Bäume von der Ferne betrachtet als einheitliche, ohne Unterbrechung die Rücken des Gebirges überziehende Decke erscheinen ließ, im einzelnen aber wegen des Durcheinanders der Altersklassen ein mannigfaltiges Bild gewährte. Die Viehtrift im Walde wurde sehr stark eingeschränkt, teilweise gänzlich aufgehoben. Vermutlich begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts die stellenweise Einführung der Kahlschlagwirtschaft, die die letzte Etappe in der Kultivation des Waldes bedeutet, regelmäßige, geschlossene, gleichaltrige Bestände einer Holzart entstehen läßt, die Entwicklung des Hochwaldes begünstigt und, im Gegensatz zum Plänterbetrieb, den Wald von ferne her ungleichmäßiger, differenzierter, in der Nähe aber einheitlich, gleichförmig gestaltet. Bei Durchführung der Kahlschlagwirtschaft wurden auf den ebeneren Raumteilen, namentlich in der Hochflächenzone, regelmäßig umgrenzte, häufig viereckige Waldlücken ausgespart und der Wiesenkultur zugänglich gemacht. Teilweise sind diese Wiesen als offene Flächen bereits sehr alt und aus trockengelegten und kultivierten Sumpf- und Moorflächen der Hochzone entstanden 1 ). Die Verkehrswege der Waldzone, die alten Hochstraßen, veröden mehr und mehr, der Verkehr benutzt in steigendem Maße die bequemeren, allmählicher ansteigenden Tiefstraßen in den Talzügen. In den Tiefgebieten sind die Veränderungen der Landschaft demgegenüber — abgesehen von dem allmählichen Wachsen der Ortschaften, das durch die natürliche Bevölkerungsvermehrung bedingt ist — wesentlich negativer Art. Viele gewerbliche Produktionsstätten werden stillgelegt und verfallen. Die Bergwerke werden zum großen Teil auflässig — Ende des 18. Jahrhunderts finden sich erheblich mehr alte Bergbauspuren erwähnt, als noch im Betrieb befindliche Bergwerke. Hütten- und Hammerwerke verschwinden eines nach dem anderen aus den Waldtälern *), zum Teil werden Schneidemühlen an ihrer Stelle errichtet. Der Schneidemühlenbetrieb erfährt bezeichnenderweise mit der rationeller werdenden Waldkultur und der sich mindernden Holzabgabe an die Eisenwerke im 18. Jahrhundert, besonders in dessen zweiter Hälfte, eine starke Vermehrung, doch steht diese Zunahme an Produktionsstätten in keinem Verhältnis zu der gewaltigen Abnahme der Betriebsstätten des Eisengewerbes. Im ganzen genommen ist das Zurückgehen der raubhaftenUrproduktion und der unmittelbaren Weiterverarbeitung der Urprodukte das wesent') Z. B. die Ebertswiese auf dem Gebirgakamm westlich Tambach, 1039 als »Everhardesbracchont bezeichnet. Vgl. R e g e l a. a. O., S. 16. ') Nach 1760 gehen in Schmalkalden wie im Gothaischen fast alle privaten Schmelzhutten und Hämmer ein und werden durch einige wenige herrschaftliche ersetzt. Vgl. R o t t s t ä d t a. a. O., S. 36.
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lichste, die Landschaft beeinflussende Moment. Die Ursachen des Rückgangs sind doppelte: einmal, wie bereits erwähnt, die Erschöpfung der natürlichen Hilfsquellen in absolutem Sinne, dann aber auch das immer schärfer hervortretende Mißverhältnis der nicht weiter steigerungsfähigen Rohstoffproduktion des Gebietes zu dem mit wachsender Ausdehnung des wirtschaftlichen Lebens steigenden Rohstoffbedarf, und damit die zunehmende Unrentabilität des Betriebs. Von diesen Rückgangserscheinungen wurde natürlich indirekt auch die auf die Ortschaften lokalisierte Eisenfertigbearbeitung — also die Suhler Waffen-, die Schmalkalder Kleineisen-, die Ruhlaer Messerindustrie, zum großen Teil Ende des 17. Jahrhunderts und im Verlauf des 18. Jahrhunderts in die hausindustrielle Betriebsform hineingeraten — betroffen. Sie machte darum vielfach anderen, bodenfremden, meist gleichfalls hausindustriell organisierten Industriezweigen Platz. Ihr Rückgang schuf einem starken Wachstum des Textilgewerbes, das ja bereits den äußeren Eingriffen des Dreißigjährigen Krieges in die Wirtschaft seine Ausbreitung verdankte, den günstigsten Nährboden 1 ). In Ruhla machte die bodenständige Eisenverarbeitung, aus dem Waffenschmiedehandwerk des frühen Mittelalters zur Messerschmiederei des 17. Jahrhunderts übergegangen, eine merkwürdige Metamorphose über die Pfeifenbeschlägefabrikation zur gänzlich bodenfremden Meerschaumpfeifenindustrie des 18. Jahrhunderts durch. Die Glashütten hielten sich bei der Holzknappheit schlecht und recht, die Holzhandwerker litten unter den Einschränkungen der Holzabgabe, sie wandten sich stellenweise der Sieb- und Besenmacherei oder der Feuerschwammindustrie zu. Neu entstand — anfänglich ganz geringen Umfanges — die Porzellanindustrie der Ilmenauer Gegend. Alles in allem: eine sichtbare Vergrößerung der Ortschaften mehr infolge der natürlichen Vermehrung einer durch die mittelalterliche Blüte des Eisengewerbes angezogenen Bevölkerung, als durch ein aus sich selbst emporblühendes gewerbliches Leben. Die Gewerbe selbst: die notwendige Erwerbsquelle einer nun einmal vorhandenen Bevölkerung, nicht mehr die unbeschränkte Nutzung der Reichtümer der Natur. Das sinnlich wahrnehmbare Leben und Wirtschaften außerhalb der Ortschaften erstirbt immer mehr. E. Der C h a r a k t e r
der
L a n d s c h a f t zu A n f a n g des hunderts.
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Für die Zeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts sind wir in der glücklichen Lage, in dem Werk von Hoff und J a c o b s 2 ) eine ganz ausgezeichnete Landeskunde des Thüringer Waldes zu besitzen. Die Physiognomie der Landschaft zu jener Zeit läßt sich nicht besser schildern als mit den Worten dieser zeitgenössischen Beobachter. x
) Anfang des 19. Jahrhunderts waren in Suhl mehr Arbeitskräfte in der Barchentweberei beschäftigt als in der Eisenindustrie. l ) A. v. Hoff u. C. W. J a c o b s , Der Thüringer Wald. 2 Bde., Gotha 1807-1812.
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gl
Über die Zusammensetzung des Waldes schreiben H. und J. ): »Der größte Teil der die Thüringer Berge bedeckenden Waldung besteht aus Schwarzholz, Fichten oder Rothtannen machen die Hauptgattung desselben aus . . . Dieses Schwarzholz erstreckt sich vom östlichen Grenzpunkt des Gebirges . . . bis in die Gegend des Inselsbergs, und bis dahin finden sich in dem Verhältnis zu demselben nur sehr geringe Flächen von Laubholz an verschiedenen einzelnen Punkten zwischen ersteren. Erst in der Gegend des Inselsbergs gewinnt das Laubholz die Oberhand und erstreckt sich westlich von demselben bis zur äußersten Grenze des Thüringer Waldes . . . « Die Bewirtschaftung des Waldes geschieht zum Teil noch vermittelst des Plänterbetriebs, zum Teil bereits nach dem Kahlschlagsystem, und dementsprechend variiert der Anblick des Waldes im einzelnen. Die Täler mit dem Hellgrün ihrer Wiesen stehen in Kontrast zu den dunklen Wäldern, sie sind durch einzelne Hämmer und Eisenwerke anmutig belebt; kleine künstliche Floß- und Fischteiche sind zwischendurch in die Wiesen eingebettet. Über das Aussehen eines Walddorfes der Höhenzone heißt es 2 ): »Das kleine Dörfchen Oberhof . . . liegt auf einer ausgebreiteten Fläche, nahe an dem Rücken des Gebirges: es gewährt mit seinen einzelnen zerstreuten Häusern einen ganz eigenen Anblick. Diese Häuser sind ganz von Holz, mit Brettern überzogen und mit Schindeln gedeckt, ganz grau und im Sonnenschein silberfarben schimmernd. Umgeben sind sie von Wiesen von dem schönsten Grün und diese von schwarzen Fichtenwäldern eingefaßt, durch deren Öffnungen man hier und da ein Stückchen des entfernten Landes und blaue Gebirge gewahr wird.« Anders die Industrieortschaften der Randzone, z. B. Kleinschmalkalden besitzt 8 ) »vom Kohlenstaub geschwärzte Häuser, kleine Gärten«. Wieder anders die Städte. Suhl 4 ): »Am Fuße des Dombergs erweitert sich das Thal und mit ihm die Stadt, die in dieser Gegend durch mehrere wohlgebaute Straßen, einen offenen, heiteren Marktplatz und viele ansehnliche Gebäude geziert ist. Der klärste Waldbach durchströmt sie und treibt mehrere Hämmer und Mühlen in- und außerhalb der Stadt, deren unteres Ende von trefflichen und mit Bäumen eingefaßten Wiesen umgeben ist.« Zella'): »Wunderbarer ist der Anblick bei Nacht, wenn von den Schmelzöfen und Hämmern große Feuermassen in Form glühender Garben hoch in die Luft wirbeln.« »Die Stadt Schmalkalden ist jetzt die größte und volkreichste Stadt im Thüringer Wald. . . . Sie ist mit einer doppelten Mauer umgeben, hat drey Thore und vor jedem derselben eine beträchtliche Vorstadt«'). Tritt in diesen Schilderungen auch die unmittelbare Naturgebundenheit der kulturellen Erscheinungswelt noch stark hervor, so darf doch nicht vergessen werden, daß diese sichtbaren Zeichen eines naturgebundenen Wirtschaftens nur Reste früher viel ausgedehnterer Erscheinungen sind, *) I., S. 239 f. - ») II., S. 472. ') II., S. 661. — •) II., S. 583/84.
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) II., S. 605. -
*) II., S. 677.
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daß sich die bodenständigen Gewerbe nur mehr kümmerlich am Leben erhalten, daß daneben, der unmittelbaren Wahrnehmung durch Einkapselung in die Wohnstfitten der Ortschaften entzogen, andere, nicht direkt mit den natürlichen Grundlagen verknüpfte, sondern bodenfremde Gewerbe existieren. Die Zeit ist nicht die einer wirtschaftlichen Blüte, sondern die einer Abwärtsentwicklung, und in der Landschaft herrscht, rein aus den Verhältnissen des vergangenen Kulturzeitraums heraus betrachtet, die Tendenz zu einem immer weiter gehenden Verfall der Kulturelemente — mit Ausnahme des Elements der Kulturvegetation. Bodenbau, Bodenform und Klima bilden nicht mehr die obersten, alles Leben und Wirtschaften beherrschenden Grundgesetze. F. Die E n t w i c k l u n g d e r L a n d s c h a f t w ä h r e n d d e s M a s c h i n e n zeitalters. Der Eintritt der gewaltigen wirtschaftlichen und technischen Umwälzungen, die sich kurz durch die Schlagworte: kapitalistische Wirtschaftsorganisation, moderne Maschinentechnik und rationelles Wirtschaftsprinzip kennzeichnen lassen, der damit in Zusammenhang stehende Beginn einer neuen Kulturperiode — des Maschinenzeitalters — ließ die Landschaft in verschärfter Weise sich nach der Richtung weiterentwickeln, die bereits im 18., in den allerersten Anfängen schon im 17. Jahrhundert angebahnt worden war. Die Hausindustrien werden als die Vorläuferformen des kapitalistischen Systems angesehen, in ihnen sind gleichzeitig die ersten Ansätze zu der grundlegenden Änderung im Charakter der Kulturelemente der Landschaft erkennbar, die sich nunmehr im 19. Jahrhundert durchgreifend vollzieht. Das Aufkommen der Kahlschlagwirtschaft bedeutet die Durchführung des modernen, rationellen Prinzips in der Forstwirtschaft; auch hier liegen die Anfänge bereits im 18. Jahrhundert. Die Umgestaltung des Waldbildes vollzieht sich im 19. Jahrhundert in ruhiger, gleichmäßiger Entwicklung, die bereits früh, etwa um die Mitte des Jahrhunderts, abgeschlossen ist. Die Entwicklung der gewerblichen Produktionsstätten verläuft dagegen zunächst noch weiter in absteigender Linie, und erst um die Mitte des Jahrhunderts greift die Um- und Neubildung überall Platz, beginnt die große aufsteigende Bewegung. In der ersten Jahrhunderthälfte wirken die gleichen Momente, die schon im 18. Jahrhundert maßgebend gewesen waren, fort: Holznot, zunehmende Bedeutungslosigkeit der Rohstofflager, gesteigertes Arbeitsbedürfnis. Die bodenständigen Kulturelemente gehen immer weiter zurück. Die bereits früher eingedrungenen bodenfremden Kulturelemente zeigen eine langsame, vielfach wechselnde Weiterentwicklung, denn die Folgeerscheinungen der Napoleonischen Kriege — Kontinentalsperre I — ferner zollpolitische Momente, Konkurrenzerscheinungen bedingen starke Schwankungen gerade bei den bodenfremden, auf auswärtigen Rohstoffbezug angewiesenen Gewerben. Die Textilindustrie erliegt diesen Beeinflussungen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts. Neue, bodenfremde Kulturelemente entstehen dafür, wenn auch vereinzelt: Produktionsstätten der
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Spielwarenindustrie, die um 1816 in der Gegend von Walterehausen Eingang findet. In den 40er Jahren hat die Krisis der bodenständigen Gewerbe ihren Höhepunkt erreicht: die modernen Methoden sind anderwärts bereits in der Durchführung begriffen, die Konkurrenz wird nicht mehr tragbar. Die Bevölkerungszahl ist aber gerade in der ersten Jahrhunderthälfte stark gestiegen, das Arbeitsbedürfnis wächst immer mehr. Da setzt um die Mitte des Jahrhunderts die große Umstellung auf die modernen Wirtschaftsprinzipien ein, und damit eine grundlegende Veränderung im Charakter der Gewerbe, eine ungemein starke Ausdehnung der »modernen« Kulturelemente, der gewerblichen Produktionsstätten, Siedlungen und Verkehrswege. Die Produktionsstätten des Bergbaus, der Roheisenerzeugung und -bearbeitung verschwinden endgültig bis auf ganz unbedeutende Reste. Soweit die früher bodenständigen, einheimische Roh- und Kraftstoffe verwendenden Industrien erhalten bleiben, stellen sie sich auf den Bezug auswärtiger Rohprodukte und von Stein- bzw. Braunkohlen zur Krafterzeugung um, sie werden damit bodenentfremdet. So die Eisenfertigwarenproduktion, die Glas- und Porzellanindustrie. Sie gewinnen in kurzer Zeit bedeutend an Umfang, differenzieren und spezialisieren sich in hohem Maße. Neue Industrien treten hinzu: vor allem die verschiedensten Zweige der Metallindustrie, dazu eine Vielzahl kleinerer Industrien. Alle diese Industrien lokalisieren sich auf bestimmte Räume und kombinieren sich zum Teil miteinander. Die Einführung des Fabrikbetriebes gestaltet das Kulturelement der gewerblichen Produktionsstätte völlig um, verleiht ihm eine viel größere physiognomische Bedeutung. In der Form von Manufakturen hatte der Fabrikbetrieb zwar schon seit dem 18. Jahrhundert in der Porzellanindustrie bestanden, war aber physiognomisch kaum ins Gewicht gefallen. Von den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts an entstehen jedoch Fabriken in rasch wachsender Zahl, meist innerhalb der Ortschaften, und sie werden zu einem charakteristischen Element der »modernen« Kulturlandschaft. Die Siedlungen wachsen infolge des Emporblühens der Industrien in raschem Tempo, ihr Aussehen und Charakter variiert unter dem Einfluß der jeweils dominierenden Industrie. Neue Formen von Siedlungen resp. von Wohnstätten resultieren aus dem Aufkommen des Kurortbetriebes und der starken Zunahme des Fremdenverkehrs. Durchgreifende Veränderungen erfährt das Kulturelement der Verkehrswege. Waren die Straßen schon während und kurz nach der Napoleonischen Zeit in moderne Kunststraßen umgewandelt worden, so beginnen von 1870 an die Eisenbahnen in den nordwestlichen Thüringer Wald einzudringen, zuerst in Form radialer Zweigbahnen in das Gebirge hineingreifend, später es mehrfach querend. Die Eisenbahnen ziehen allmählich den gesamten Fernverkehr an sich, teilweise auch den Lokalverkehr, und die Straßen bewahren ihre Bedeutung nur für einen Teil des Lokalverkehrs.
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Nikolaus Creutzburg. G. D e r C h a r a k t e r d e r L a n d s c h a f t i n d e r
Gegenwart.
Das äußerlich hervorstechendste physiognomische Merkmal der Landschaft in der Gegenwart ist immer noch dasjenige, das schon im Namen des Gebirges zum Ausdruck k o m m t : der Wald. Nur im eigentlichen Gebirge ist der Wald noch zusammenhängend und nur unterbrochen von dem weitverzweigten Netz der schmalen Wiesentäler und von den wenigen offenen Feldbauinseln der Muldengebiete. Am nördlichen Gebirgsrand endet der Wald in verhältnismäßig glatter Linie; die lange randliche Depressionszone Seebach-Catterfeld ist fast waldfrei, und die Buntsandsteinvorzone trägt wieder größere, aber unzusammenhängende Waldteile. Gegen den südlichen Gebirgsrand zu ist der Wald viel stärker aufgelöst und zerlappt. Der Artzusammensetzung nach ist der Nadelwald stark vorherrschend, und zwar bildet die Fichte die bei weitem dominierende Baumart. Edeltannen sind vereinzelt vorhanden, die wenigen Kiefernbestände der nördlichen Grenzzone treten wenig hervor. Einige geschlossene Laubwälder — meist Buchen — unterbrechen zwar auch die Nadelwaldregion des östlichen und des zentralen Gebirgsabschnitts — Nebentäler der Ilm, wildes Geratal u. a. —, größere Ausdehnung gewinnt der Laubwald aber erst westlich einer Linie etwa von Schmalkalden nach Friedrichroda. Nadelwälder beherrschen also das Bild der Landschaft. Diese Nadelwälder sind aber in sich keine homogene Masse, sondern an den dunklen, stillen, sauber ausgeputzten Hochwald grenzen die belebten, braungelben, sonnigen Lichtungen der Kahlschläge und der jungen Kulturen; auf diese folgen die lebhaft grünen halbhohen Fichtendickungen, und nach weiteren Abstufungen beschließt endlich wieder der Hochwald die Reihe, mit seiner gleichmäßigen, dunkelgrünen Wipfelfläche, mit dem feierlichen Dunkelbraun seines Inneren, das hier und da von den grünen Farbflecken der Moose und des niederen Blaubeergebüschs durchsetzt ist. Geradlinige, einander schneidende Waldschneisen trennen vielfach die verschiedenen alten Bestände voneinander. Wo sich an den Lichtungen ein Ausblick eröffnet, treten die bläulichen Farbtöne der fernen Wälder zu dem vielfach abgestuften Grün und dem stumpfen Braun hinzu. Grün, Braun und zartes Blau in ihren mannigfachen Übergängen und Abstufungen sind die Farben, die die Landschaft beherrschen. Der Wald macht in allen seinen Teilen den Eindruck sorgfältigsten Gepflegtwerdens, einer häufig geradezu geometrischen Regelmäßigkeit, und innerhalb der einzelnen gleich alten Bestände der größten Gleichmäßigkeit. Gerade Grenzlinien fallen überall ins Auge, die Stämme sind von annähernd gleicher Höhe, gleichabständig und in regelmäßigen Reihen angeordnet. Trotzdem ist das Bild keineswegs einförmig: die Geradlinigkeit der Anlage ist gemildert durch die Reliefformen, durch den wellenförmigen Verlauf der geraden Trennungslinien und der Reihen der Baumbestände, auf und ab über Gipfel und Rücken, durch Senken und Talmulden. Selten erscheint, von Ferne gesehen, die Waldsilhouette des Horizontes ganz gleichmäßig: mag sie, im ganzen genommen, eine unregelmäßig gewellte Linie sein, wie im nordwestlichen Abschnitt, oder fast
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horizontal verlaufen, wie von der Höhenzone im zentralen und südöstlichen Teil aus gesehen, immer zeigt die Konturlinie im einzelnen in gewissen Abständen die charakteristischen bajonettförmigen Knickungen, die durch das Gingreifen der Kahlschl&ge in den Hochwald hervorgerufen sind. Hochwald, Dickungen, Kahlschläge bedingen einen stetigen Wechsel in der Waldphysiognomie; helle, lichte Laubwaldbestände schalten sich zwischen die Nadelwälder ein und verleihen vor allem dem nordwestlichen Gebirgsteil ein ungemein wechselvolles Aussehen. Sehr oft sind auch vereinzelte Laubbäume — Eichen, Buchen, Ebereschen — entlang den Waldstraßen, an Wegekreuzungen, an Wiesenrändern in die Fichtenbestände eingestreut. Eine besondere Eigenart des nordwestlichen Thüringer Waldes bildet sein Wiesenreichtum. Von den Talsohlen der Haupttäler ziehen sich in kleinen Nebentälchen Talwiesen als schmale, von dunklem Hochwald eingefaßte, hellgrüne Streifen weit in das Innere des Gebirges hinein. Kleinere oder größere Hochwiesen, eckig umgrenzt, sind in großer Zahl mitten in den Wald eingesprengt. Der häufige Wechsel von Wiesengrün und Waldesdunkel, die reizvolle Farbenabstimmung, die Vielförmigkeit der Waldphysiognomie, das Vorherrschen sanfter, gerundeter Konturlinien — alles das hat der Landschaft des nordwestlichen Thüringer Waldes mit Recht das ästhetische Attribut der Lieblichkeit eingetragen. Nur wenig macht sich das Tierleben im Walde bemerkbar, etwas leblos wirken vor allem die glatten Hochwälder. Anders schon die Lichtungen mit ihrem reich entwickelten Insektenleben. Reh- und Hirschwild ist in der neuesten Zeit sehr spärlich geworden, es verbirgt sich unter Tags in den schwer durchdringlichen Dickungen und tritt nur am späten Abend und am frühen Morgen auf die Wiesen hinaus. Kuhherden werden im Sommer auf die Wald wiesen getrieben. So sehr auch überall in jede geringfügigen Einzelheit die Einwirkung des Menschen zu spüren ist, so selten ist, abgesehen von den ortschaftsnahen Zonen, den Zielpunkten des Touristenverkehrs und den größeren Verkehrswegen der Mensch selbst im Walde geworden. Die wirtschaftliche Tätigkeit im Walde — Holzfällen, Holzlesen, Holzfahren, Pflanzen usw. — erfordert und beschäftigt bei dem heutigen rationellen Forstbetrieb so wenig menschliche Arbeitskraft, daß das menschliche Wirtschaften im Walde der sinnlichen W a h r n e h m u n g — im ganzen genommen — fast ganz verloren geht. Die Unterbrechungen der Walddecke sind punkthafte, linienhafte und flächenmäßige; sie bringen lebhaftere Farbennuancierungen in die Grundfarben der Landschaft hinein. P u n k t h a f t sind die Unterbrechungen durch die isolierten gewerblichen Produktionsstätten, die hellrötlichen Flecke der Steinbrüche, die spärlichen Stätten des Bergbaus mit ihren hellen Gesteinshalden, ferner die isolierten Einzelsiedlungen (Forst- und Jagdhäuser, Touristenhotels). Linienhaft die sich verzweigenden Talzüge mit ihren hellen Farbtönen, dem lebhaften Grün der Wiesen, den weißen Streifen der Kunststraßen, dem Bunt der Ortschaften. Flächenhafte Drygalski, Festgabe. 5
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Unterbrechungen sind die offenen, waldlosen Inseln der Muldengebiete. Die Farbe ist hier ebenfalls beherrscht durch das Hellgrün der Wiesen, dann durch die von Braun über Grün nach Gelb wechselnde F&rbung der FeldbauflSchen, und aus alledem leuchten, selbst eingerahmt und durchsetzt vom dunkleren Grün der Gärten, die bunten Farbflecken der Ort-, schatten heraus, das Hellrot und Braunrot der Ziegeldächer, das schmutzige Rot der Fabrikanlagen, das stumpfe Blaugrau der schieferbekleideten Hfiuser. Nur wenige Siedlungen liegen als isolierte Einzelwohnstätten mitten im Wald, meiBtens Forsthäuser mit einem für Touristen berechneten Wirtschaftsbetrieb (Neues Haus bei Tambach, Heuberghaus, Nseselberghaua u. a.). Diese Forst- und Wirtshäuser sind vielfach noch schindelund bretterverkleidet, grau und unscheinbar, oft auf Wiesen hinausblickend, sie fügen sich harmonisch dem Bild des Waldes ein, sie sind noch Relikte der früheren Kulturperiode. Ganz anders, als störende Fremdformen moderner Kultur wirken dagegen die völlig auf den Fremdenverkehr eingestellten isolierten Hotelpaläste, meist in der Nähe von alten Forstund Jagdhäusern gelegen (Gabelbach bei Ilmenau, Spießberghaus u. a.). Die gleichen Unterschiede zeigen auch die wenigen isolierten gewerblichen Produktionsstätten. Wohl sind in den Waldtälern noch Sägewerke, öl- und Papiermühlen mit Werkkanälen und Wasserrad betrieb vorhanden, in ihrer Form der Landschaft angepaßt, aber auch hier sind häufig moderne Anlagen hinzugetreten, meist mit Dampfbetrieb, häufig größten Ausmaßes, wie in der Ilmenauer und Amt Gehrener Gegend die riesenhaften, schornsteinüberragten Bauten moderner Großsägewerke. Als Reste der mittelalterlichen Kulturperiode treten auch noch die kleinen Stauteiche hervor, die entweder als Fischteiche oder als Ausgleichsweiher für die Betriebe zur Wasserkraftausnutzung dienten. Die dörflichen Siedlungen des nordwestlichen Thüringer Waldes sind mit wenigen Ausnahmen keinem bestimmten Typ zuzurechnen, sie sind in Form und Ausdehnungsrichtung durchaus den Oberflächenformen angepaßt. Ausnahmen bilden nur die Waldhufen typen in der nördlichen Vorzone: Dcubach und Sondra reine, Seebach, Kahlenberg, Langenhain mehr oder weniger modifizierte Langdörfer. Die übrigen Dorfsiedlungen lassen sich ihrer Lage nach einteilen in Hochflächendörfer, Muldendörfer, Taldörfer und Randdörfer. Unter den Hochflächendörfern ist Oberhof nur von wenigen freien Wiesenflächen umgeben, Frauenwald und Neustadt a. R. von etwas ausgedehnterem Wiesen- und Ackerareal. Die Ortschaften sind etwas weitläufig gebaut, die Wohnstätten entlang den sich kreuzenden Straßenzügen angeordnet. Am größten ist der offene, waldlose Umkreis um die Ortschaft herum — die Feldbau- und Wieseninsel — bei den enger gebauten Muldendörfern (Brotterode, Finsterbergen, Altenbergen, Catterfeld, Tambach usw.), die entsprechend der Geländegestaltung einen ganz unregelmäßigen, rundlich-ovalen oder mehr langgestreckten Umriß besitzen. Die Taldörfer sind vollkommen in die Täler hineingeschmiegt, gedrängt gebaut, häufig in Seitentäler hineingreifend, sie sind darum schmal und sehr langgestreckt — das beste Beispiel bietet das fast 4 km lange Ruhla, weiter Kleinschmalkalden, Ober- und
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Unterschönau, Stützerbach u. a. Die Wohn- und Produktionsstätten grenzen oft unmittelbar an den tief hinunterreichenden Wald der Talflanken. Doch sind bei den meisten Taldörfern größere oder kleinere Teile der Talgehfinge waldfrei und, häufig terrassiert, mit dürftigen Äckern bestanden. Die Randdörfer (Schönau v. d. W., Ernstroda, Georgenthal, Gr&fenhain, Frankenhain, Arlesberg, Steinbach, Seligenthal, Schnellbach u. a.) sind teilweise dem Taldorftyp angenähert, nur breiter entwickelt, teilweise liegen sie bereits außerhalb der Gebirgsgrenze, in die Ebene ausgebreitet, nur mit einer Seite an den Wald angelehnt. Sie sind aber trotzdem noch als organisch dem Gebirge zugehörende, gleichsam angehängte Landschaftsteile zu betrachten. Die Zusammensetzung und damit der Charakter der dörflichen Siedlungen variiert mit Art und Grad der Industrialisierung sowie mit der verschieden starken Ausprägung des Kurortbetriebes. Das individuelle Bild des Dorfes entsteht hauptsächlich durch die Mischung heterogener Elemente: agraren Zwecken dienender Baulichkeiten, gewerblicher Produktionsstfitten, Wohnstätten der industriellen Bevölkerung und dem Kurortsbetrieb dienenden Gebäuden. Ortschaften, die nur ein Element rein entwickelt zeigen, sind selten (reine Agrarsiedlungen in der nördlichen Vorzone; ausschließlich Kurort: Oberhof); in den meisten dörflichen Siedlungen dominiert das industrielle Element, aber es ist immer durch gewisse agrare Beimischungen modifiziert. Dazu tritt, mehr akzessorisch, das städtisch wirkende Kurortelement. Die Hausformen zeigen dementsprechend wenig charakteristische Züge. In manchen Orten sind noch Reste der Bauweise der früheren Periode erhalten. Fränkische Gehöftanlagen gehen nur bis zu den Randdörfern, im Gebirge sind sie nicht vertreten, ausgeprägte Bauernhäuser sind selten. Typisch und fast überall vorherrschend ist das »Industriehaus«, nüchtern, unoriginell, charakterlos, meist eins dem andern gleichend; in weitläufig gebauten Ortschaften einzelstehend, vielfach schieferbekleidet, von kleinen Wirtschaftsgebäuden umgeben, in eng gebauten Ortschaften mehrstöckig, in geschlossener Front nebeneinandergebaut. Seiner Zweckbestimmung nach ist es Wohnstätte, in Hausindustrieortschaften auch Arbeitsstätte der industriell beschäftigten, aber nebenbei meist auch etwas in Feldbau und Kleinviehzucht tätigen Bevölkerung. Die gewerblichen Produktionsstätten der Fabrikindustrie sind teilweise ähnlich neutral-geschmacklos nüchternen Stiles wie die Industriehäuser, nur viel ausgedehnter, teilweise sind sie ausgesprochen moderne, geräuschvolle großstädtische Fabrikkomplexe. Zu alledem treten noch die »Kurortgebäude« hinzu, mit Kurhäusern, modernen Hotelpalästen, verandabesetzten Pensionshäusern, deren Stillosigkeit durch Einbettung in parkartige Gärten nur wenig gemildert wird. Nach dem Charakter der dörflichen Siedlungen lassen sich folgende Typen unterscheiden: 1. Reine Agrarsiedlungen. Waldhufendörfer mit streifenförmiger Flureinteilung (Deubach, Sondra). ß»
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2. Industriell modifizierte Agraraiedlungen. Entweder modifizierte Waldhufendörfer (Mosbach, Seebach, Langenhain) oder modifizierte Randdörfer unregelmäßigen Grundrisses (Schönau v. d. W., Ernstroda, Nauendorf, Gräfenhain u. a.). Der Grundcharakter bleibt noch agrar, die industrielle Modifikation ist nicht erheblich, zumal wenn es sich um Hausindustrie handelt. 3. Rein oder vorwiegend Hausindustriesiedlungen. Industriecharakter äußerlich wenig hervortretend. Gleichmäßig aus nüchternen, meist einzelstehenden Industriehäusern zusammengesetzt, keine oder wenig auffallende Fabrikgebäude. Geringer agrarer Einschlag (Schmerbach, Altenbergen, Catterfeld u. a.). 4. Hochindustrielle Siedlungen. Industriecharaktcr stark hervortretend. a) Metallindustrietyp. Enggebaute Häuser, fremdartig wirkende, modern großstädtische Fabrikgebäude. (Ruhla, die meisten dörflichen Siedlungen des Südwestrandes bis nach Suhl herunter.) b) Glasindustrietyp. Weitläufig, einförmig, graublaue Schieferverkleidung der Häuser, Fabrikgebäude meist im gleichen Stil. (Gehlberg, Manebach, Stützerbach, Frauenwald u. a.) 5. Reine Kurortsiedlungen. Oberhof. Sehr weitläufig, Villen, Pensionshäuser, gepflegte Anlagen, luxuriöse, modernste Hotelbauten. 6. Kurortmäßig modifizierte Haus- und hochindustrielle Siedlungen. Hausindustrielle Siedlungen mehr vom Kurortelement durchsetzt (Finsterbergen, Gr.-Tabarz u. a.), hochindustrielle mit abgesonderten Kurort vierteln. (Tambach.) Die Städte des nordwestlichen Thüringer Waldes 1 ) liegen durchweg in der Randzone: Suhl und Ilmenau unmittelbar am Austritt von Flußtälern aus dem Gebirge; Zella-Mehlis in der großen, randlichen Granitmulde; Friedrichroda in dem längsgerichteten, Gebirge und nördliche Vorzone trennenden Tiefenzug, Waltershausen an den äußeren Rand der Vorzone angelehnt; Schmalkalden in einer Depression vor dem südlichen Gebirgsrand. Die Städte des Südrandes sind ausgesprochene Hochindustrieplätze, und zwar tragen sie das charakteristisch geräuschvolle Gepräge von Metallindustriestädten. Suhl: ein rauchiges, rötliches Häusermeer mit zahllosen Schloten, voll von rasselnden Fabriken. Zella-Mehlis: ein weitläufiger, allmählich zusammenwachsender Doppelort, ebenfalls stark fabrikdurchsetzt. Schmalkalden: mit altem, modernisiert-kleinstädtischem Stadtkern und peripherischem Fabrikgürtel. Bei den Nordrandstädten ist der Industriecharakter nicht so ausgeprägt, der Habitus 1
) Eisenach, organisch weniger dem Gebirge verbunden und mehr in eine Reihe mit den Städten des Thüringer Beckens zu stellen, soll hier außer Betracht bleiben; dagegen Schmalkalden, obwohl etwas außerhalb des Gebirges gelegen, noch der Landschaft hinzugerechnet werden.
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der Fabrikgebäude ist ein anderer, milderer. Dazu sind diese Städte mehr als Handelsplätze bzw. als Kurorte entwickelt. Ilmenau: im Stadtkern noch viele Reste alter Bauart; randlich dominieren auf der einen Seite graubeschieferte Glasfabriken, rötliche Fabrikkästen und Glashütten, auf der anderen Villen und Kurortanlagen. Friedrichroda: in fast seiner ganzen Ausdehnung stillosester Kurort, nahezu jedes Haus auf Fremdenverkehr und Fremdenindustrie berechnet, Industriebauten kaum bemerklich. Waltershausen: ohne Fremdenverkehr, starker Handelsplatz, von Fabrikgebäuden durchsetzt, viel Hausindustrie. Der Kulturcharakter der Landschaft wird noch wesentlich verstärkt durch das dichte Netz von Verkehrswegen. Die hellen, breiten Streifen der baumbesetzten Kunststraßen ziehen sich durch die Talsohlen fast jedes größeren Tales und auch durch die zusammenhängenden Wälder der Hochgebiete. Schienenstränge begleiten beide Gebirgsränder etwas außerhalb des Gebirges, queren das Gebirge zweimal im Südosten (GräfenrodaSuhl und Ilmenau-Schleusingen), einmal im äußersten Nordwesten (Eisenach-Epichnellen) und erreichen als Stichbahnen an mehreren Stellen die Industrieplätze des Inneren (Ruhla, Brotterode, Tambach). Eine physiognomische Besonderheit bildet das langgezogene, ein stilles Waldtal erfüllende, künstliche Seebecken der Tambacher Talsperre, die zur Trinkwasserversorgung der Stadt Gotha dient. Diese Talsperre wirkt als Fremdkörper in der Landschaft; sie bringt einen fremden, dem Thüringer Wald nicht eigenen Charakterzug in die Kulturlandschaft hinein. Der Gesamteindruck der Landschaft des nordwestlichen Thüringer Waldes ist kein einheitlicher. Ein nach der Höhe zu flach abgeschnittenes Mittelgebirge von sanften Reliefformen, mit einer gepflegten, dichten Waldvegetation überkleidet, von freundlichen Wiesentälern durchsetzt — und darin schroff und unvermittelt modern städtische Elemente, einerseits Industrieplätze neuzeitlicher Maschinenkultur, anderseits Hotelpaläste und Pensionshäuser von internationalem Normaltyp. Der Gegensatz von Hochgebieten und Tiefgebieten ist auch in der modernen Kulturlandschaft des nordwestlichen Thüringer Waldes noch maßgebend. Die Hochgebiete, den größten Flächenraum einnehmend, fast durchgängig als Waldflächen bewirtschaftet, mit kaum nennenswerten Bevölkerungsanteilen. Die Tiefgebiete, räumlich wenig ausgedehnt, der Wiesenkultur und in geringem Maße dem Feldbau zugänglich gemacht, aber Sitz fast sämtlicher Siedlungen, Sitz der gesamten industriellen Betätigung, extrem dicht bevölkert, der Raum des Verkehrs, mit einem W o r t : der Raum, in dem das Leben der Landschaft aufs intensivste konzentriert ist. Aber die Hochgebiete und die Tiefgebiete ergänzen sich nicht mehr in unmittelbarer Weise, sie durchdringen sich nicht mehr, wie es bei dem mittelalterlichen Entwicklungszustand der Landschaft der Fall war, sondern sie haben nichts mehr miteinander zu tun, jede der beiden Gruppen von Landschaftsteilen besteht unabhängig neben der anderen und wirtschaftet einseitig für sich allein.
Der Ölbaum in Griechenland und seine wirtschaftliche Bedeutung. Von
EDWIN FELS. Mit Tafel 4.
Unter der reichen Fülle mediterraner Vegetation findet man keine Pflanze, die für die Mittelmeerlftnder charakteristischer ist als der Ö l b a u m . Man hat ihn daher mit vollem Recht zu ihrer Abgrenzung herangezogen: Soweit die Olive reicht, soweit gehen mediterrane Einflüsse. Mag auch die Rebe an wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung die erste Rolle spielen, so folgt ihr doch unmittelbar der Ölbaum. Aber an c h a r a k t e r i s t i s c h e r E i g e n t ü m l i c h k e i t ist er zweifellos im Bilde einer Mittelmeerlandschaft weitaus die eindrucksvollste Pflanze. So auch in Griechenland. Wer könnte sich Hellas vorstellen ohne den Ölbaum ? Wollte man ihn aus dem Landschaftsbild entfernen, so würde man es um einen der wesentlichsten Züge berauben, die seine Eigenart ausmachen. Ganz unbedenklich kann man den Ölbaum als den Fruchtbaum Griechenlands s c h l e c h t h i n bezeichnen. R i k l i (13, S. 55)1) z. B. erscheint er als so wichtige Kulturpflanze, daß er bei der Einteilung der Mittelmeerflora in Höhenstufen die immergrüne mediterrane Stufe geradezu als „ O l i v e n g ü r t e l " bezeichnet. Den Ölbaum im ganzen Mittelmeergebiet schildert uns in glänzender Darstellung Th. Fischer(2). Zusammenfassungen für engere Räume und mehr ins einzelne gehende Studien fehlen uns wie von den anderen Mittelmeerländern so auch von Griechenland. So mag eine Betrachtung des Ölbaums in Griechenland und eine Würdigung seiner wirtschaftlichen Bedeutung wohl gerechtfertigt erscheinen. Glücklicherweise stehen uns hiefür ziemlich reichliche und gute Einzelangaben zu Gebote, so daß es vielleicht gelingen dürfte, im Verein mit der eigenen Kenntnis des Landes ein übersichtliches Bild zu entwerfen. Vor allem P h i l i p p s o n (9,10,11,12) hat große Teile Griechenlands bereist und bringt reiches Material bei über den Peloponnes, über Thessalien und Epirus sowie über die griechische Inselwelt. Die jonischen Inseln haben P a r t s c h (5, 6, 7, 8) und L e o n h a r d (4) eingehend studiert und von Kreta liegen uns F a b r i c i u s ' (1) Berichte vor. Spärlicher fließen die Nachrichten über Makedonien und Thrakien, wo C v i j i c , ö s t r e i c h , S t r u c k und S c h a f f e r gereist sind, aber in pflanzengeographischer Beziehung wenig Material beigebracht haben. — Über das Gesamtgebiet Griechenlands finden wir vor allem 1 ) Die Zahlen der Literaturangaben gelten für die Nummern des Verzeichnisses auf S. 86.
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wertvolle Angaben bei Th. F i s c h e r (2). Die übrigen Darstellungen, z. B. die von S t r u c k , H e i s e n b e r g und M a u l l erwähnen nur in aller Kürze einige Tatsachen, die für eine ins einzelne gehende Betrachtung kaum besonders in Frage kommen können. Zunächst seien kurz einige Bemerkungen vorausgeschickt über die L e b e n s b e d i n g u n g e n , die der Ölbaum zu seinem Gedeihen und zur Entwicklung guter Früchte braucht. Vor allem sind es einige k l i m a t i s c h e Voraussetzungen. Der Winter und das Frühjahr müssen durch große Milde ausgezeichnet sein. In erster Linie bestimmt die Winterkälte, der gegenüber er auf die Dauer sehr empfindlich ist, die Polargrenze sowohl wie die Höhengrenze des Ölbaums. Dazu soll noch ein stattliches Maß von Feuchtigkeit treten, doch kann viel eher Trockenheit als Kälte ertragen werden. Im Sommer und Herbst andererseits sind Hitze und Trockenheit von Nöten, ohne die der Baum seine Früchte überhaupt nicht oder nicht bis zur Reife entwickeln kann. Ist auch der Ölbaum gegen klimatische Einflüsse sehr empfindlich, so bewahrt er andererseits unter günstigen Verhältnissen eine Lebenskraft, die praktisch unbegrenzt ist (2, S. 31). Bäume von vielen Hunderten, ja tausend Jahren und mehr sind keine Seltenheit. Mag der Stamm vom Sturm gebrochen werden, mag er vom Blitz zerschlagen sein, so sprießen doch nach kurzer Frist aus dem Strunk frische Zweige auf, die bald einen neuen Baum bilden. R i k l i (13, S. 76) schildert diese Zählebigkeit mit beredten Worten. Jene klimatischen Bedingungen, welche nur das mediterrane Klima in seinen tieferen Regionen in ausgeprägtem Maße aufweist, werden in Griechenland überall erfüllt, wo das Land sich nicht mehr als etwa 700 m über den Meeresspiegel erhebt oder wo nicht starke Winterkälte ein Ziel setzt. Das erstere trifft nur in kleinen Teilen von Hellas zu, denn dieses ist ein Gebirgsland und Tiefebenen treten sehr in den Hintergrund. Das zweite, die Winterkälte, hindert namentlich in den nördlichen Landesteilen, so z. B. in dem großen Tieflandsbecken T h e s s a l i e n s den Olivenbau. So zeigt sich der Ölbaum fast immer in einem dem Meere entlangziehenden Streifen, so daß schon oft die Behauptung aufgestellt worden ist, daß sein Vorkommen von der Meeresnähe abhängig sei. Diese Abhängigkeit ist aber nur eine scheinbare, sie ist vielmehr klimatisch und bodenplastisch bedingt, denn man findet anderwärts Ölbäume in Hunderten von Kilometern Entfernung vom Meere. Weit geringere Ansprüche als an das Klima stellt der Ölbaum an die Bedingungen seines S t a n d o r t s . Er ist durchaus nicht wählerisch und gedeiht fast auf allen Bodenarten, auf lockeren, fetten und feuchten ebenso wie auf festen, mageren und trockenen. Sein Wuchs wird zwar erheblich beeinflußt, indem er z. B . auf Alluvialböden weit üppiger und größer wird als auf festem Kalkgestein; andererseits aber soll die Güte des Öls um so höher sein, auf je kargerem Boden die Olive wächst. Kalkboden soll die ölreichsten Oliven hervorbringen. Sicher ist jedenfalls, daß der Ölbaum die lockeren, feuchten, an sich höchst fruchtbaren Schwemmlandböden nicht liebt, sich deshalb stets an die trockenen Ränder der Tiefebenen zurückzieht, wo die Gerölle gröber werden, und von hier aus auf
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die Hänge des anstehenden Gesteins hinaufklettert. Ganz zweifellos gibt es kaum einen anspruchsloseren Fruchtbaum als die Olive, denn sie ermöglicht die lohnendste Nutzung von Böden, die jede andere Kultur in gleicher Intensität völlig ausschließen würden. An diese Grundtatsachen müssen wir uns erinnern, wenn wir nun die K u l t u r des Ölbaums in Griechenland betrachten. Die Anpflanzung junger Ölbäume geschieht meist in der Weise, daß Wurzelschößlinge alter Bäume, wenn sie etwa 1 — i y 2 m hoch sind, im Winter abgeschnitten und verpflanzt werden. Der Boden muß vorher gründlich umgearbeitet und gelockert werden, damit er fähig für genügende Wasseraufnahme wird. In der Ebene braucht es weiter keine Vorbereitungen, wohl aber in hügeligem oder bergigem Gelände, das für die Pflanzungen bevorzugt wird. Da legt man mit großem Fleiße Terrassen an, die sich entlang den Hängen hinziehen; in schwierigerem, steinigem Gelände wird gar für jeden einzelnen Baum eine kleine Terrasse gebaut, indem man eine Steinmauer errichtet und hinter ihr das mühsam zusammengetragene Erdreich einbettet. So sind z. B. auf Korfu weite, steile Berghänge bepflanzt worden, die sonst für jede andere Kultur allein wegen ihrer Steilheit unbrauchbar gewesen wären. Die Pflänzlinge brauchen in den ersten zwei Sommern reichliche Bewässerung. Mit welchen Schwierigkeiten das oft verbunden ist, weiß nur der, der die Kostbarkeit des Wassers in Griechenland kennt. Eine weitere Schwierigkeit ist die, daß die jungen Pflanzungen vor dem nagenden Zahn der Ziegen geschützt und mit Einzäunungen umgeben werden müssen. Aus allem erkennt man, wie schwierig, zeitraubend und mühsam das Anlegen von Olivenpflanzungen ist. Unter solchen Umständen ist es begreiflich, daß neue Ölbaumbestände vielfach nach einem weit müheloseren Verfahren gewonnen werden. Es beruht auf der Kultivierung des wild wachsenden O l e a s t e r s , der häufig in dem dichten, oft gänzlich undurchdringlichen, stachlichten Buschwerk der Macchie zu finden ist. Der Bauer rodet das Gestrüpp in harter Arbeit und läßt die schönsten und kräftigsten Oleaster stehen. Diese bedürfen keiner besonderen Pflege oder Bewässerung, da sie in dem kargen Felsboden, der die Macchie trug, schon völlig festen Fuß gefaßt haben. Oft auch findet man mitten in der Macchie die Ölbäume wie Oaseninseln stehen; das Gestrüpp ist in etwa 10 m Umkreis um den Baum gerodet und von einer Insel zur anderen führt ein schmaler Pfad, der gerade für einen Menschen Raum gibt, durch das dichte oft über mannshohe Gestrüpp. In beiden Fällen jedoch, beim Pflänzling wie beim Oleaster, ist eine V e r e d e l u n g mit dem Reis des Ölbaums nötig. Im Frühjahr wird das wilde Stämmchen in ca. 1 y 2 m Höhe glatt abgeschnitten. Das edle Reis wird eingesetzt und befestigt und um das ganze werden die üppig wuchernden Blätter der Meerzwiebel (Urginea maritima) gebunden, welche lange die Feuchtigkeit zu halten vermögen. Auf diese Weise sah ich in Korfu auf manchem Berghang junge Kulturen entstehen, die weiter keine besondere Arbeit mehr machen, es sei denn, daß ein Wiederaufsprießen der zähen Macchie verhindert werden muß. Im allgemeinen wird in der Ölbaumzucht in Griechenland der Veredelung des Oleasters der Vorzug gegeben,
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da so weit bessere und kräftigere Bäume erzielt werden als bei der Veredelung der Wurzelschößlinge edler Bäume. Der junge Ölbaum beginnt nach etwa 3 Jahren Früchte zu tragen und gibt nach 8—10 Jahren bereits guten Ertrag (vgl. 2, S. 31). Um diesen zu halten und bis zur Grenze des Möglichen zu steigern, bedarf es freilich guter P f l e g e . Das Olivengelände muß im Herbst umgegraben werden, damit es reichlich Wasser aufsaugen kann; auch gedüngt sollte es werden. Alle paar Jahre müssen die Bäume gesäubert und gründlich zurückgeschnitten werden, damit sie nicht zu sehr ins Kraut schießen und damit Luft und Sonne überall reichlich eintreten können. Von alledem merkt man in Griechenland nicht allzuviel, eine rationelle Olivenkultur ist dort noch ziemlich unbekannt oder wird zum mindesten vernachlässigt. Der Bauer tut schon viel, wenn er etwa alle 10 Jahre die Bäume beschneidet oder wenn er um jeden Ölbaum einen kleinen Erdwall aufschüttet, hinter dem sich das vom Berg abfließende Wasser sammelt. Zumeist aber sind die Bäume ganz sich selbst überlassen und der Mensch rührt keinen Finger zu ihrer Pflege. Der Anbau des Ölbaums in Griechenland unterscheidet sich recht erheblich von dem anderer hochkultivierter ölländer. In Italien z. B. werden die Ölbäume von vornherein in Reihen und in sehr weiten Abständen gepflanzt und zwischen ihnen gedeiht Wein, ja mancherorts gar Wein und Getreide auf einer Flur. Die Bäume selbst werden kurz gehalten und erreichen selten mehr als 6—8 m, so daß man die Früchte mit Leitern abnehmen oder mit Stangen herunterschlagen kann. In Griechenland aber stehen die Bäume meist ganz regellos und viel zu dicht. Man läßt sie wachsen, wie sie wollen, so daß sie in die Höhe und Breite schießen und ganz merkwürdige, gespenstische Gestalt und äußerst malerisches Aussehen annehmen. Bäume von 20—25 m Höhe sind z. B. auf Korfu sehr häufig und kleinere als 10 m wird man selten finden. Da ist natürlich vom Abnehmen der Früchte keine Rede mehr. Die mächtigen Kronen der Bäume schließen sich zu einem einheitlichen Blätterdach zusammen, unter dessen dichtem Schatten andere Kulturen nicht gedeihen können. Es wächst nur Gras, das im Frühjahr und Herbst üppig emporschießt, im Sommer aber ganz vertrocknet; oder der Boden bedeckt sich mit immergrünem Unterholz oder wucherndem Farngestrüpp, das vor jeder Ernte mühsam entfernt werden muß. All das geht natürlich auf Kosten des Ertrags. Gefördert durch solch geringe Pflege entsteht so die für Griechenland charakteristische K u l t u r f o r m a t i o n des ö l w a l d s , die landschaftlich und ästhetisch einen bezaubernden Eindruck hervorzurufen und in der immergrünen Region die verwüsteten und in die Gebirge zurückgedrängten Wälder vielerorts zu ersetzen vermag (vgl. 2, S. 17). Sie trägt wesentlich dazu bei, daß der Mangel an Wäldern nicht allzuschroff empfunden wird. Man vergißt tatsächlich in solchen Anpflanzungen, die sich oft Kilometer und stundenweit über das Land hin erstrecken, vollkommen, daß man sich in Hainen zahmer Ölbäume befindet und könnte sie leicht für ursprüngliche Wälder halten. Ihr Hervortreten im Landschaftsbild ist meist viel zu wenig gewürdigt worden. Auf jeden Fall muß man die ölhaine bei der Dar-
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Stellung der Waldverhältnisse Griechenlands mit in Betracht ziehen und darf sie nicht völlig vernachlässigen, wie es z. B. Chloros 1 ) tut. Auch nach ihm haben die wenigsten Schilderer Griechenlands gerade auf die waldbildende Eigenschaft des Ölbaumes Rücksicht genommen, die m. E. stark betont werden muß, da hierdurch ein richtiger Ersatz für den Mangel an ursprünglichen Wäldern geschaffen wird. Auch Rikli (13, S. 75) weist darauf mit vollem Recht hin. — Die Abbildung Taf. 4 gibt eine äußerst eindrucksvolle Vorstellung eines ölwaldes auf Korfu, wie man ihn charakteristischer sich kaum denken kann. Freilich bedeutet diese Olivenwald-Formation alles andere als einen wirtschaftlichen Vorteil. Der Ertrag sinkt sehr erheblich durch die geringe Pflege, die Engständigkeit und das seltene Beschneiden der Bäume. Diese verlieren die Kraft, jedes Jahr Frucht zu tragen, sie brauchen ein Jahr der Ruhe zwischen zwei Fruchtjahren und nur selten gibt es wirklich außerordentlich gute Erträge. So berichtet P a r t s c h (5, S. 90) von Korfu, daß nach der Meinung von Sachkennern bei sorgfältiger Pflege des beibehaltenen Bestandes die Ölbäume der Insel leicht auf die Hälfte oder noch weniger vermindert werden könnten, ohne daß der Gesamtertrag an öl irgendwie geschädigt würde. Und ähnlich dürfte es in vielen Teilen Griechenlands sein, wo solch waldartige, engständige Pflanzungen die Regel sind. Die Blüte des Ölbaumes fällt in Griechenland in den Monat April und die erste Hälfte des Mai. Sie dauert nur kurze Zeit. Besonders erwünscht ist gegen das Ende der Blütenperiode ein frischer Wind, der die Blütenblätter rasch abschüttelt und die sich entwickelnde Frucht säubert. In solchen Tagen gleicht der Boden unter einem ölwald einer leicht mit frischem Schnee bedeckten Landschaft. Die E r n t e fällt in den Winter. Daß man bei guter Pflege und sorgfältigem Beschneiden des Baums sehr wohl alle Jahre auf eine Ernte rechnen kann, ist in andern Ländern sicher festgestellt. Besonders das sorgsame Beschneiden scheint hiefür wichtig zu sein, da der Ölbaum nach Fischer niemals an derselben Zweigstelle zweimal Früchte trägt (vgl. 2, S. 32, 34). Daß in Griechenland nirgends eine alljährliche normale Ernte zu verzeichnen ist, wurde vorhin bereits erwähnt, vielmehr ist dort die Regel eine Ernte in zweijährigen Abständen. Dies liegt einmal an der mangelhaften Pflege der Bäume und daran, daß sie kaum oder nicht rationell beschnitten werden; zum andern aber hauptsächlich daran, daß kaum irgendwo in Griechenland wegen der Höhe der Bäume die Früchte sorgsam abgenommen oder mit Stangen heruntergeschlagen werden können. Sie bleiben vielmehr hängen, bis der Wind sie herunterschüttelt oder bis sie überreif abfallen. So dauert eine Olivenernte, die normalerweise im November beginnen kann, bis in den April hinein und es ist klar, daß bei diesem Verfahren der Baum die Kraft verliert, im nächsten Jahre gleich wieder reichliche Frucht zu tragen. Er braucht nach solcher Kraftvergeudung eine Ruhezeit. Er treibt im Fehljahre zwar Blüten und es bilden sich Früchte, die aber zum größten Teil in unreifem Zustande abfallen. Der Ertrag ist im Fehljahre meist ganz ') C h l o r o s N., Waldverhältnisse Griechenlands. Dias. München 1884.
Der Ölbaum in Griechenland und seine wirtschaftliche Bedeutung.
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geringfügig; gute und schlechte Ernten wechseln so regelmäßig ab, daß man die Erträge von Grundstücken nicht in einjährigen, sondern nur in zweijährigen Leistungen ausdrückt (2, S. 34, 35). In Korfu z. B. tragen die Ölbäume im Fehljahre überhaupt nicht. Das Merkwürdige hiebei ist, daß in Griechenland zumeist sich die Bäume einer Gegend ganz gleichmäßig verhalten und daß nicht der eine Baum in diesem, der andere in jenem Jahr eine gute Ernte gibt. Vielmehr bleiben diejenigen Bäume, die sich nicht der Regel einzufügen verstehen, auf Jahre, ja Jahrzehnte hinaus ohne Ertrag, bis sie sich wieder der allgemeinen Ordnung eingepaßt haben (vgl. 5, S. 89). Doch auch die Jahre der Leistungsfähigkeit geben sehr ungleiche Beträge, was mit klimatischen Störungen oder mit Krankheitserscheinungen in Zusammenhang zu bringen ist. Niederschläge zu unrechter Zeit können mit einem Schlag alle Aussichten vernichten. Ein heißer Scirocco vermag die ganze ölblüte welken zu lassen oder die Früchte vorzeitig zum Abfallen zu bringen. Der Ölbaum ist eben, obwohl ein äußerst zähes und ausdauerndes Gewächs, doch eine Pflanze, die gegen geringe schädliche Einflüsse ungemein empfindlich ist. Dazu kommen noch die S c h ä d l i n g e , unter denen besonders die ölfliege zu erwähnen ist. Diese ist ein Insekt, das in den ersten Tagen des August Eier in die Oliven legt. Aus dem Ei entwickelt sich ein Würmchen, das sich von dem Fleisch der Olive nährt, wodurch die Früchte entweder abfallen oder minderwertig werden. Eine Brutstätte für die ölfliege sind die Abfallstoffe der Ölpressen, das abfließende ölwasser und die meist ohne jede Sorgfalt beseitigten Rückstände, ferner die in den ölfehljahren abfallenden und faulenden Früchte. Man sieht eben immer wieder, daß nur größte Sorgsamkeit, peinlichste Reinlichkeit und beste Pflege den Ölbaum zu guten Erträgen veranlassen können. Aber das sind Eigenschaften, die vorerst in Griechenland noch äußerst selten anzutreffen sind. Versuchen wir nun, uns ein Bild von der V e r b r e i t u n g des Ölb a u m s in G r i e c h e n l a n d zu machen. Diese hat im Laufe der Zeiten erheblich gewechselt. Zweifellos standen im Altertum manche ölhaine an Stellen, wo heute Weinbau getrieben wird oder wo nur die Macchie üppig wuchert. Aber der umgekehrte Fall ist doch die Regel und wir können überall eine starke Zunahme des ölbaus seit dem Altertum feststellen. Im späteren Mittelalter erfuhr der Anbau namentlich durch die Venezianer eine gewaltige Förderung, die z. B. auf den Jonischen Inseln Prämien für die Pflanzung von Bäumen aussetzten. Auch die Türkenherrschaft gab den Anlaß zu sehr erweitertem ölbau, da der Koran den Wein verbietet und die Rebkulturen keinen Gewinn mehr brachten. Wirtschaftliche Erwägungen und Krisen spielten des öftern eine große Rolle. So berichtet P a r t s c h (5, S. 90) von Korfu zu Ende des vorigen Jahrhunderts von einem Zurückdrängen der Olive durch den Weinbau. Dies war wohl die Einleitung der Bewegung, die man um die Jahrhundertwende allgemein in Griechenland beobachten konnte. Damals erfuhr der Weinbau einen gewaltigen Aufschwung, als im übrigen Europa die Rebkrankheit der Peronospera wütete. Als aber mit der Zeit die Krankheit auch in Griechen-
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land eindrang, trat immer mehr wieder der ölbau in seine Rechte. Heute stehen wir zweifellos in einer Zeit der Z u n a h m e u n d d e s e n e r g i s c h e n Ausbaues. Während F i s c h e r (2, S. 61) die Zahl der Ölbäume am Ende der griechischen Freiheitskriege im Königreich mit 2,3 Millionen angibt, ist diese Zahl in 50 Jahren bis 1882 allerdings auch durch Gebietserweiterungen auf II 1 /* Millionen auf einer Fläche von ca. 1700 qkm gestiegen. Wieviel man heute in ganz Griechenland veranschlagen muß, entzieht sich meiner Kenntnis, doch dürften 20—25 Millionen eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein, da Statesman's Yearbook 1924 das Olivenareal zu rd. 3000 qkm angibt. Betrachten wir aber nun kurz die einzelnen Landschaften und beginnen in Nordgriechenland. Während in Albanien die ölbaumgrenze nur in geringem Abstand parallel zur Küste läuft, dringt sie in Epirus bereits tiefer ins Land ein (2, S. 58). Die westepirotische Hauptkette, die sich bis 1500 m hoch in 20—25 km Entfernung von der Küste hinzieht, kann im allgemeinen als Binnengrenze angesehen werden. An ihren Westhängen steigt die Olive bis 600 m hinauf (11, S. 269). Trotzdem Epirus geeignet wäre, reicheren ölwald zu tragen, sind die Bestände doch nur geringfügig und in der Hauptsache auf die Ebenen beschränkt. Das mag wohl auf die Jahrhunderte lange Türkenwirtschaft und auf die geringe Bevölkerung zurückzuführen sein. Massenhafte ölwaldbestände umgeben aber den Golf von Arta (11, S. 269). östlich 4er westepirotischen Kette fehlt der Ölbaum so gut wie ganz und auch in dem zwar sehr fruchtbaren, aber rauhen Hochbecken von Jännina kann er nicht gedeihen (2, S. 58; 11, S. 202). An den Westhängen des Pindos-Hauptkammes finden sich nur im südlichen Teile hin und wieder bis 500 m Ölbaumkulturen (2, S. 58; 11, S. 388). P h i l i p p s o n (11, S. 269) stellt in Epirus von der Höhenlage abgesehen eine Abhängigkeit des Ölbaums von der Meeresnähe fest, wofür er die Ursache in den starken Winterfrösten des Binnenlandes sucht. In Thessalien fehlt der Ölbaum völlig, was eine Folge der heftigen Winterkälte der Tiefebene ist. Nur an der Küste des Golfs von Völos vermag er zu gedeihen (11, S. 90). Das Thessalien im Süden abschließende Othrys-Gebirge trägt auf der Nordseite keinen einzigen Ölbaum, während sein Südfuß bis zu 450 m hinauf von den prächtigsten Hainen bestanden ist. Erst von Lamia westlich landeinwärts verlieren sich die Oliven allmählich (11, S. 89). In Makedonien, dessen große Becken klimatisch z. T. sehr wohl in Frage kommen könnten, tritt der Ölbaum vollkommen gegenüber dem Tabak zurück. Nur um den Golf von Saloniki und auf der Halbinsel Chalkidike finden sich größere Bestände, weiter nach Osten aber werden die Haine spärlicher und gedeihen nur an den Südhängen (z. B. bei Kawäla). Die Insel Thäsos ist reich an Ölbäumen und auch Samothräki hat ausgedehnte Haine (2, S. 58). Im griechischen Thrakien kommt der Ölbaum so gut wie nicht vor, da dieses ganz unter dem Einfluß der rauhen N-Winde steht; nur am Küstensaum sind einzelne Bestände zu erwähnen (2, S. 58\.
Der Ölbaum in Griechenland und seine wirtschaftliche Bedeutung.
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In Mittelgriechenland begegnet uns der Ölbaum in ausgedehntem Maße in Akarnanien und Ätolien. Dann zieht er in einem schmalen Streifen am SüdfuQ der Gebirge am Golf von Korinth entlang und dringt nur in einzelnen Talauen wie bei Delphi tiefer ins Land ein, wo er in geschützter Lage bis 750 m ansteigt (2, S. 27). In der z. T. vom ehemaligen Kopais-See eingenommenen fruchtbaren Landschaft Böotien fehlt der Ölbaum trotz geringer Meereshöhe fast völlig, da in dem von den Seewinden abgeschlossenen Land sehr extreme Temperaturen herrschen (11, S. 18. vgl. auch 2, S. 59). Erst in Attika wird er wieder häufiger und bildet da und dort waldartige Bestände. Über den Peloponnes haben wir durch P h i l i p p s o n vortreffliche, in einer übersichtlichen Vegetationskarte niedergelegte Angaben (10). Die Halbinsel Argolis trägt im Innern beträchtliche ölhaine, besonders aber sind die Küsten vor allem gegenüber der Insel Hydra ausgezeichnet. In der fruchtbaren Ebene von Argos weicht der Ölbaum dem Getreide und dem Weinstock und bildet nur an ihrem Rande gegen das Gebirge hin größere Wälder. Im hohen und rauhen, von großen Temperaturgegensätzen beherrschten Arkadien gedeiht die Olive nur vereinzelt an besonders geschützten Stellen, nirgends aber geht sie höher als 600 m hinauf. An der wilden Küste der Kynüria ist der Ölbaum das einzige Baumgewächs. Er gedeiht bis 600 m Höhe namentlich da, wo Glimmerschiefer ansteht, immer aber nur in spärlichen Beständen. Zu reicher Entfaltung kommt die Olive in den südpeloponnesischen Niederungen. In der Eurötas-Talebene, die wie kaum eine „andere Gegend Griechenlands das Ideal südlicher Üppigkeit der Vegetation verwirklicht" (9, S. 213), finden wir weitgedehnte Haine. Die Stadt Sparta liegt inmitten eines mächtigen Waldes von Fruchtbäumen und an der rechten Talseite begleitet auf etwa 30 km ein zusammenhängender Streifen von Baumkulturen den Fuß des Taygetos. Fast ebenso reich ist die messenische Seite des Gebirges, wo die Neogenhügel der Landschaft M&ni dichtgedrängte Wälder tragen und ganz vorzügliche Frucht liefern (9, S. 243). Üppigste Fülle erreicht der Ölbaum auch in der unteren messenischen Ebene, wo die besten Olivensorten Griechenlands gezogen werden. Auch die messenische Halbinsel trägt ausgedehnte ölhaine, namentlich überall dort, wo Neogen ansteht. In den übrigen Teilen des Peloponnes ist die Zucht des Ölbaums entweder wegen des gebirgigen Charakters ausgeschlossen oder sie ist völlig von der Korinthe verdrängt. An den Ufern des Golfs von Korinth finden sich nur vereinzelte größere Pflanzungen, nirgends aber steigt der Ölbaum höher als 400 m an (9, S. 265). Ebenso selten ist er in Achaia und Elis, wo überall der Acker- und Korinthenbau herrschend ist (9, S. 275). Wir sehen so den Peloponnes in zwei Teile zerfallen entlang einer Linie, die man etwa von der Bucht von Korinth nach Südwesten ziehen kann. Südöstlich davon haben wir reiche Ölbaumzucht und viele mächtige zusammenhängende Bestände, nordwestlich davon tritt sie ganz in den Hintergrund. Das liegt aber nicht so sehr in der Natur des Landes begründet
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als in der menschlichen Wirtschaft, die der Korinthenkultur den Vorzug gegeben hat. Im allgemeinen kann man die Höhengrenze im Peloponnes bei 600 m setzen, stellenweise auch bei fast 700 m. Unterhalb 600 m kann man den Ölbaum vereinzelt überall und ohne erkennbare Abhängigkeit vom Meere finden (9, S. 544). In der Inselwelt der Kykladen und nördlichen Sporaden spielt der Ölbaum kaum eine Rolle. Die Inseln könnten von Natur aus wohl üppigen Baumwuchs tragen, aber sie sind durch die anhaltenden Eingriffe des Menschen fast völlig entwaldet, und das spülende Wasser zusammen mit den stark wehenden Etesien verhindert die Wiederaufforstung. * So ist auch das Kulturland auf kleine Flecken beschränkt und für den Ölbaum ist meist kein Platz. Garten- und Weinbau herrschen durchaus vor (12, S. 155f.). Die kleinasiatischen Inseln haben mit Ausnahme deB überhaupt baumlosen Lemnos (2, S. 58) alle mehr oder weniger reichen öl waldbestand. Eine wahre Oliveninsel ist Lesbos, auf dem namentlich die tief einschneidenden Golfe von ungeheuren Hainen umsäumt sind. Chios, Samos und Rhodos erzeugen kaum über den eigenen Bedarf hinaus (2, S. 63, 64). Ganz ausgezeichnet gedeiht die Olive auf Kreta. Dort sind die Ölbäume von mächtiger Größe und prächtiger Schönheit und alles irgend geeignete Land ist mit Oliven bepflanzt. Früher überwog weitaus der Weinbau und erst mit der türkischen Eroberimg ist eine Wendung gekommen. Allerdings ist das Kreta-Öl infolge gänzlich rückständiger Verarbeitungsmethoden recht schlecht (1, S. 427—30). Ein hochbedeutsames ölproduktionsgebiet sind die Jonischen Inseln. Vor allem Korfu ist mit ungeheuren ölwäldern von seltener Schönheit bestanden. Nur zu geringen Teilen als hohes Gebirge aufragend ist über die Hälfte der Insel von ölwald besetzt, der im Durchschnitt bis etwa 400 m ansteigt. Die Insel macht den Eindruck eines grünen Waldgebirges und der Ölbaum ist die durchaus vorherrschende Kulturpflanze (5, S. 88). In Levkäs tritt schon mehr der Korinthenbau in den Vordergrund, Ölbäume gedeihen aber bis zu 400—450 m Höhe aufs beste (6, S. 27). Auf Kephallinia und Ithäki sind die Bemühungen der Venezianer weit weniger von Erfolg begleitet gewesen als auf Korfu. Hier herrschen Weinstock und Korinthe vor, aber weite Strecken sind auch von ölwäldern besetzt, die hier bis 560 m hinaufreichen (7, S. 98). Auf der vorzugsweise Korinthen bauenden Insel Zäkinthos ist die Ölproduktion noch geringer als auf Kephallinia (vgl. 8, S. 174). Kythira endlich ist reich an öl, das einen guten Ruf hat (4, S. 39). Wenn wir die Ölbaumkultur ins Gesamtbild der griechischen Landschaft einreihen, so sehen wir, daß trotz der großen, oft waldartigen Bestände natürlich keine Rede sein kann von einer flächenhaften Bedeckung in großem Ausmaß. Der Laie stellt sich Griechenland meist sehr falsch vor, sozusagen als einen Fruchtgarten von südlicher Üppigkeit, während die Wahrheit die ist, daß das dürftige, vegetationsarme, oft kahle Gelände durchaus vorherrscht und daß Waldbestände und mit ihnen auch der Ölbaum immer mehr nur oasenhaft das Landschaftsbild beleben. Von diesen
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Verhältnissen gibt Philippsons Peloponnes-Karte (10) eine sehr gute korrigierende Vorstellung. Die flftchenhafte Verbreitung des Ölbaums in Großgriechenland veranschlagt Statesman's Yearbook 1924, wie schon einmal kurz bemerkt, auf rund 3000 qkm, d. i. etwa die Hälfte der Rheinpfalz. Die Olive steht unter den Kulturgewächsen an 2. Stelle hinter dem Weizen. Wertvolle Fingerzeige für die Verteilung des Ölbaums auf die einzelnen Provinzen und eine Ergänzung der vorhin gegebenen allgemeinen Übersicht erhalten wir durch die ölertragsangaben für 1919, die ich nach Großlandschaften ordne:
Makedonien
Tonnen
500, alles bei Saloniki und auf der Chalkidike Nordgriechenland 2850 Mittelgriechenland . . . . 2900, davon 2100 in Attika und Böotien Peloponnes 10700, davon 4500 in Lakonien, 2200 in Messenien, 2700 in Argolis und Korinth, also 9400 in den südöstlichen Landschaften Jonische Inseln 18600, davon 16000 auf Korfu und Levk&s Kykladen 50 Kleinasiatische Inseln . . . 6500, davon Lesbos 5400 Kreta . . 13100 Summe 55200, davon 34500 in den 3 Hauptproduktionsgebieten Korfu, Kreta und Lesbos. Von dem Gesamtertrag von 55200 t entfallen auf das Festland . . . 169501 auf die Inseln . . . . 382501. Wir ersehen aus diesen Angaben die überragende Bedeutung der griechischen Inselwelt in der Ölkultur, ebenso die einzelner Landschaften wie Korfu, Kreta, Lesbos, Lakonien, Argolis und Messenien. Für die H ö h e n g r e n z e des Ölbaums in Griechenland lassen sich keine festen Gesetze aufstellen, da diese je nach Breiten- und Längenlage, je nach der Exposition und nach den lokalen Verhältnissen topographischer und petrographischer Art sehr wechselt (vg. 13, S. 77). Außerdem liegen hier noch viel zu wenig Beobachtungen vor und es wären sehr ins einzelne gehende Studien nötig. Ich kann deshalb hier Koch durchaus nicht beistimmen, der aus kaum 10 Angaben eine Mittelhöhe von 520 m konstruiert, noch dazu, ohne selbst Kenner des Landes zu sein (3, S. 148, 268). Die Höhengrenze steigt und fällt mit der immergrünen mediterranen Vegetation, die ja erheblichem Wechsel unterworfen ist. Es ist auch durchaus nicht sicher, ob der Ölbaum als Kulturgewächs überall bis an die Grenze des Möglichen gepflanzt ist, was ich stark bezweifle, da hiebei oft noch ganz andere Gründe mitsprechen. Der Wahrheit kommen wir in Griechenland nahe, wenn wir sagen, daß die Grenze im allgemeinen gegen Süden an Höhe gewinnt und zwischen 400 und 700 m liegt.
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Mag man auch eine absolute Abhängigkeit des Ölbaums vom Meere nicht zugestehen, so ist es doch in Griechenland auffallend, daß er den Küsten mehr oder weniger folgt und nur da und dort tiefer ins Land eindringt. Wie ein immergrüner Kranz legen sich die Oliven um die Gestade des Jonischen und Ägäischen Meeres herum. Ich erwähnte schon, daß die Ölbaumkultur heute in einem Stadium kräftigen Ausbaus ist. Fragen wir uns nach den M ö g l i c h k e i t e n , die hier offenstehen, so ist zu sagen, daß die Grenzen noch sehr weit gesteckt sind. Es gibt noch genug Gebiete, wo nur die Macchie üppig wuchert, in der aber allenthalben der Oleaster vorkommt. Alle diese Landstriche könnten mit der Zeit für die Ölbaumkultur gewonnen werden. Wo freilich die seit Alters her geübte Entwaldung eine völlige Verödung des Bodens herbeigeführt hat, da wären neue Anpflanzungen mit unsäglichen Mühen und mit wenig Aussicht auf Erfolg verknüpft. Aber auch für die Rodung der Macchie in größerem Umfang fehlt es zunächst an Kräften und Mitteln. Auf jeden Fall ruhen hier noch genug Schätze, die eine zielbewußte Regierung mit der Zeit sehr wohl zu heben und zum Nutzen des Landes zu verwerten imstande wäre. Die G e w i n n u n g d e s O l i v e n ö l s steht in Griechenland meist noch auf einer recht niedrigen Stufe. Die Oliven samt den Kernen werden in den von Pferden getriebenen Ölmühlen zu einem Brei zermalmt, welcher in primitiven Pressen ausgepreßt wird. Fast jedes Dorf hat verschiedene solche Mühlen, die aber nie zur raschen Bewältigung der Ernte ausreichen. So liegen die ohnehin oft schon überreif abgefallenen Oliven noch wochenlang herum, ehe sie zur Verarbeitung gelangen. Da und dort machen sich freilich Verbesserungen geltend. So wird von Lesbos berichtet, daß bereits um 1890 über ein Drittel der Ölpressen Dampfbetrieb hatten (2, S. 39). Auch in Korfu mehren sich die Fortschritte. Unternehmende Großbesitzer haben Mühlen und Pressen mit Motorbetrieb errichtet, was zur Folge hat, daß sie die ganzen Oliven der Umgebung zur Verarbeitung erhalten, und daß die kleinen Mühlen immer mehr verschwinden. Die Besitzer nehmen als Lohn einen bestimmten Teil des ausgepreßten Öls. Auch Genossenschaften haben sich schon gebildet. Die überwiegend primitive Art der Verarbeitung hat zur Folge, daß das griechische Ol nicht gerade zu den besten zählt und im Welthandel weit geringer als andere Sorten gewertet wird 1 ). Es gibt freilich auch Ausnahmen wie z. B. das öl von Samos, das man zu den besten des Orients rechnet. Die Ursachen liegen z. T. in der Kultur und in der Art der Ernte, z. T. in der wenig sorgfältigen Herstellung und der schlechten Aufbewahrung, die das öl manchmal auch ranzig werden läßt. Doch ist zweifellos auch hierin eine zunehmende Besserung festzustellen und mancher fortschrittlich gesinnte Grundbesitzer vermag öle herzustellen, die mit den besten wetteifern können. Zumal die zu Beginn der Ernte gepreßten Oliven geben vorzügliches öl, demgegenüber das etwa von März bis Mai gewonnene weit zurücksteht. l
) Vgl. die Tabelle auf S. 85.
Der Ölbaum in Griechenland und seine wirtsohaftliohe Bedeutung.
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Aus den Rückständen der Olivenpressung wird vielfach noch durch Extraktion mit Schwefelkohlenstoff das sog. Sulfuröl oder Olivenkernöl1) gewonnen. Oft werden die Reste auch nur als Dünger oder als Brennstoff verwertet oder es werden Ölkuchen zur Viehfütterung hergestellt. Ein sehr großer Teil der Ölfrucht wird in Griechenland auch als Speiseoliven verwertet. Sie werden getrocknet oder eingesalzen oder in Ol eingemacht und dienen als wichtiges Nahrungsmittel. Als feine Tafeloliven berühmt sind die von Kalämä in Messenien. Auch das Holz des Ölbaums ist in dem holzarmen Griechenland ungemein geschätzt (2, S. 36). Gesunde Bäume werden selten gefällt, aber gestürzte Stämme und die Abfälle beim Beschneiden dienen als Brennholz und besonders zur Herstellung von ausgezeichneter Holzkohle. Der Krieg mit seinem Kohlenmangel hat eine vorher kaum geübte Verwertungsart gezeitigt, nämlich die Herstellung von Leuchtgas aus Olivenholz. Das Gas, welches einen stark öligen Geruch hat, kann sich freilich mit dem Kohlengas nicht messen, aber es brennt gut und hell; in Korfu z. B. deckte die Gasanstalt damit lange Zeit den Bedarf der ganzen Stadt, als während und nach dem Krieg die überdies sehr teure englische Kohlenzufuhr stockte. Sehr geschätzt ist das Holz für feine Tischler- und Drechslerarbeiten und für Schnitzereien. Jeder Griechenlandfahrer kennt die Stockverkäufer, die sofort nach der Ankunft in einem Hafen an Bord kommen. Aus allen diesen Bemerkungen ist auch immer wieder die große w i r t s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g des Ölbaums für Griechenland hervorgegangen, die nun noch durch einige besondere Angaben zu ergänzen ist. Aus Ausfuhrstatistiken allein würde man nie ein vollständiges Bild erhalten, da ja weitaus der größte Teil der Oliven und des erzeugten Öls — mindestens das 4—5 fache des zur Ausfuhr gelangenden — im Lande selbst verbraucht wird (vgl. 2, S. 42). Das Öl und die Olive bilden einen Hauptbestandteil der N a h r u n g des so überaus genügsamen und bescheidenen griechischen Volkes, das zufrieden ist, wenn es nur ein Stück Brot in öl tauchen oder zum Brot eine Hand voll Salzoliven essen kann. Butter und animalische Fette sind so gut wie unbekannt und alle Speisen werden mit Olivenöl zubereitet. In vielen Provinzen bildet der Ölbaum den ausschließlichen Besitz des Bauern. Nach ihm wird der Reichtum eines Landmanns bemessen, denn die Zahl der Bäume sagt hier mehr als sonst Angaben über die Größe des Besitzes. Der Wohlstand der Bevölkerung hängt in weiten Teilen Griechenlands allein von den ölernten ab. Auf Korfu kann man es deutlich verfolgen, wie es in reichen öljahren den Bauern gut geht, wie sie kaufkräftig sind, alles mögliche und unmögliche erwerben und ihre Frauen mit Schmuck behängen. In den Fehljahren aber geht das meiste wieder verloren, Armut und Hunger schleichen durch die Dörfer und gar mancher gerät in drückende Schulden. Das ist die Schattenseite einer in vielen Gegenden Griechenlands fast an Monokultur grenzenden Wirtschaftsweise, aber auch die Schattenseite der Ernten in zweijährigen Abx ) Diese geringen öle werden in der deutschen Statistik als Lavat- und Sulfatöle geführt. Drygalskl, Festgabe. 0
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ständen; die Unregelmäßigkeit, die Fülle im einen, der Mangel im andern Jahre, erzieht zu einer gewissen Unbeständigkeit und zerstört den Sinn fürs Sammeln und Sparen. Von der Nahrung abgesehen spielt das ö l als B e l e u c h t u n g s m i t t e l eine bedeutende Rolle, trotzdem sich die größeren Städte immer mehr mit elektrischem Licht oder Gas versorgen. Da aber ein Ausbau von Wasserkräften mit Ausnahme von Makedonien für Griechenland nicht in Frage kommt, wird das ö l als Leuchtmittel nicht so rasch verdrängt werden. In der I n d u s t r i e kommt das Olivenöl in seinen schlechteren Sorten vor allem als Sulfuröl für die Seifenfabrikation in Betracht. Die mindesten Sorten finden als Schmieröle Verwendung. Ein wesentliches wirtschaftliches Moment ist der Umstand, daß die Gebiete intensiven ölbaus in Griechenland wie überhaupt im Mittelmeergebiet auch solche einer besonderen V e r d i c h t u n g d e r B e v ö l k e r u n g sind. Im einzelnen diese Zusammenballungen ziffernmäßig festzustellen, ist bisher noch nicht unternommen worden. Ohne weiteres deutlich aber tritt die Bevölkerungsverdichtung z. B. auf Korfu hervor, das wir als Oliveninsel kennengelernt haben und wo günstige topographische und petrographische Verhältnisse hinzutreten. Dort steht eine Dichte von 155 gegenüber der Durchschnittsdichte von 38 in ganz Griechenland. Die W i r t s c h a f t s w e i s e der Bevölkerung wird durch den Ölbaum in hohem, in mancher Hinsicht ungünstigem Maße beeinflußt. Es gibt Gebiete, wo die Ölbäume so vorherrschen, daß jede andere landwirtschaftliche Arbeit außer ihrer Pflege wenig in Betracht kommt. Diese ist aber, wie wir sahen, meist auf ein Minimum beschränkt, da der Baum auch trotzdem noch seinen Besitzer zu ernähren vermag. Zumal im Fehljahre ruht die Arbeit ganz und nur im Fruchtjahre müssen sich zur Erntezeit die Hände regen. Eine derartige Monokultur des Ölbaums, in unrationeller Weise betrieben, ist natürlich dazu angetan, die Bevölkerung der Arbeit zu entwöhnen und sie lässig und faul zu machen. P a r t s c h hebt solche Schattenseiten von Korfu hervor, aber ich möchte glauben, daß er doch etwas zu schwarz gesehen hat, wenn auch der wahre Kern gewiß zuzugeben ist (5, S. 90). Fleißige und unternehmungslustige Menschen wird aber ein solcher nicht vollbeschäftigter Zustand auf die Dauer nicht befriedigen. Er regt zur A u s w a n d e r u n g an, die ja in der T a t in Griechenland eine ungeheuer große Rolle spielt. Für den g r i e c h i s c h e n A u ß e n h a n d e l ist der Ölbaum von einschneidendster Bedeutung, wie ein Blick auf die Ausfuhrstatistik der Jahre 1905 bis 1913 zeigt (vgl. 15). Die hier angegebenen Werte sind untereinander einwandfrei vergleichbar, da weder ein Gebietszuwachs noch die Kriegskonjunktur sich in ihnen ausdrückt. Die im Balkankrieg gewonnenen Gebiete würden ohnedies wegen ihres geringen Olivenreichtums das Bild kaum verschieben. Die Zahlen der Tabelle zeigen besser als alle Worte, wie einerseits sich ein ständiges Auf und Ab in zweijährigen Perioden vollzieht, entsprechend den eigenartigen Bedingungen, denen die Ölbaumkultur in Griechenland unterworfen ist; anderseits aber auch, wie sehr selbst in den guten Jahren die
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Griechische Gesamt- Davon ausfuhr Produkte Mill. Mill. Hill. Hill. des Mill. GoldGoldGoldGoldÖlbaums Tonnen drach- Tonnen drach- Tonnen drach- Tonnen drachGoldmen men drachmen men men Oute Olivenöle
3100 15900 7600 15300 2200 12400 4000 16400
6000
2.2 13.7 6.5 13.1 1.9 17.5 4.1 15.3 4.7
Speiseoliven
Olivenkernöl
Summe der 01baumprodukte
3200 4700 5400 5900 4400 7700 7400 8400 7900
1100 2300 2800 3800
7400 3.6 22900 17.3 15800 10.8 25000 18.6 7200 4.9 23100 25.2 13200 9.4 30100 21.7 13900 8.9
1.1
2.9 3.4 3.7 2.7 5.4 4.0 3.9 3.7
600
3000 1800 5300 1000
0.3 0.7 0.9 1.8 0.3 2.3 1.3 2.5 0.5
88.7 123.5 117.6 110.7 101.7 144.< 140.9 146.1 119.0
ölerträge und ihr Wert großen Schwankungen unterliegen. In den Angaben aus der Kriegs- und Nachkriegszeit mit ihren Ausfuhrbeschränkungen und -verboten ist jene zweijährige Periode kaum mehr wahrnehmbar, sie wird aber bei der Rückkehr normaler Verhältnisse sofort wieder sich bemerkbar machen. Besonders scharf drückt sie sich bei den guten ölen aus, in weit schwächerem Maße beim Olivenkernöl. Die Speiseoliven weisen nicht nur beständigere Werte auf — wohl eine Folge der besseren Pflege dieser Bäume und des sorgfältigen Abpflückens der Frucht mit der Hand — , sondern es scheint überhaupt ihre Kultur in steter Zunahme begriffen zu sein. Man darf dies wohl aus den Ausfuhrzahlen schließen, da die Ernte an Speiseoliven fast ausschließlich für die Ausfuhr bereitgestellt wird; 1919 z. B. belief sich ihre Gesamternte auf 7600 t, während die Ausfuhr auf 6900 t bewertet wurde. Auf jeden Fall ist es der ölhandel, der die G e s a m t a u s f u h r Griechenlands in maßgebendster Weise beeinflußt. Das geht klar aus den beiden letzten Spalten der Tabelle hervor. In schlechten öljahren, z. B. 1905, fällt die Gesamtausfuhrziffer in erschreckender Weise, in guten Jahren aber, wie z. B. 1910, erhebt sie sich zu stolzer Höhe. In guten Jahren beträgt der Anteil der Ölbaumprodukte an der Ausfuhr etwa rd. 1 / 7 , während er in schlechten bis auf 1/Ä> und weniger sinken kann. So kann man die Ausfuhr an Produkten des Ölbaums geradezu als einen Barometer betrachten, der in untrüglicher Weise über die jeweils herrschende Wirtschaftslage Griechenlands raschen Aufschluß gibt. Wenn wir nach den B e s t i m m u n g s l ä n d e r n fragen, nach denen die griechische ölausfuhr sich richtet, so müssen wir unterscheiden zwischen den Staaten, die selbst keine ölproduzenten sind, und solchen, bei denen Olivenöl ebenfalls zu den wichtigsten Erzeugnissen und begehrtesten Bedürfnissen des Volkes gehört. In der ersten Gruppe stand in normalen Friedensjahren stets Rußland an der Spitze, wo besonders in der Fastenzeit eine starke Nachfrage nach pflanzlichen Fetten herrschte. Die übrigen Länder folgten in weitem Abstand und in wechselnder Reihenfolge: 6»
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Österreich, Amerika und Ägypten verdienen besondere Hervorhebung. Deutschland bezog meist nur wenig. In der zweiten Gruppe kommen Italien und Frankreich in Betracht, wohin die Ausfuhr starkem Wechsel unterlag, je nachdem, ob dort bei guten oder schlechten Ernten geringer oder großer Bedarf herrschte. 1911 z. B. nahmen Italien und Frankreich je 1 / 10 der Ausfuhr an guten ölen für sich in Anspruch, während 1912 Italien fast die Hälfte, Frankreich fast % bezogen. — Gleichbleibendere Werte werden bei den Speiseoliven verzeichnet. Davon nahm' Amerika meist fast die Hälfte auf, was wohl sehr auf Rechnung der zahlreichen dort ansäßigen Griechen und Italiener zu setzen ist, 1 / t Ägypten, je x / 10 Rußland und die Türkei. Deutschland kam hiefür überhaupt kaum in Frage. — Das Olivenkernöl ging meist zu je etwa % nach Amerika und Österreich. Deutschland nahm davon nur etwa % auf. — Diese hier dargestellten Verhältnisse haben sich in der Nachkriegszeit stark verschoben. Rußland ist als Konsument völlig ausgeschieden, Amerika dagegen ist in allem an die Spitze getreten; es bezog z. B. 1921 31,3% der Ausfuhr an guten Olivenölen. Von einigem Interesse ist es auch, zu sehen, wie die Statistik die griechische ölausfuhr auf die A u s f u h r h ä f e n verteilt, weil man daraus Rückschlüsse auf die Produktionsgebiete und auf die Qualität ihrer Erzeugnisse ziehen kann. In guten Olivenölen marschiert weitaus Kor fu an der Spitze, das stets y 3 —y 2 , ja manchmal 2 / a der Gesamtölausfuhr bestreitet. Dann folgen die Häfen von Kreta und Lesbos, während alle übrigen eine ganz untergeordnete Rolle spielen. In Speiseoliven haben vor allem Vólos und Galaxidi, der Hafen von Delphi, Bedeutung, die beide ziemlich gleichbleibend bzw. y 3 ausführen; alle andern kommen dagegen nicht in Betracht. Vom Olivenkernöl verschifft stets Piräus gut die Hälfte, dann folgen Zàkynthos und Korfu. In der Einfuhr griechischer Ölbaumprodukte nach D e u t s c h l a n d spielten vor allem die in der Statistik des Deutschen Reiches als Lavatund Sulfatöle bezeichneten technischen öle eine Rolle, die mit dem Olivenkernöl gleichzusetzen sind. Der Bedarf an Speiseöl, das ja bei uns nicht für die Küche verwendet wird, war geringer. Ganz in den Hintergrund trat die Einfuhr griechischer Speiseoliven, In einer weiteren Tabelle ist die gesamte Olivenöleinfuhr Deutschlands für 1913 zusammengestellt, die deshalb von Interesse ist, weil man daraus allgemeine Schlüsse auf die Güte des griechischen Öls im Vergleich mit anderen und auf seine B e w e r t u n g auf dem W e l t m a r k t ziehen kann. Freilich weisen die deutschen und die griechischen statistischen Angaben recht erhebliche Differenzen sowohl ziffernmäßig wie nach der Art der Aufschreibung auf, aber das spielt für die Beurteilung der Frage keine wesentliche Rolle. Während bei den geringen ölen keine Preisunterschiede vorhanden sind, sieht man, daß das französische Speiseöl weitaus das feinste, geschätzteste und teuerste ist, dem dann das italienische und mit weitem Abstand erst das griechische folgen. Letzteres wird mit dem spanischen gleich gewertet. Werfen wir noch rasch einen Blick darauf, wie gewaltig sich
Der Ölbaum in Griechenland and seine wirtschaftliche Bedeutung.
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O l i v e n ö l e i n f u h r n a c h D e u t s c h l a n d im J a h r e 1913 (vgL 14). 0 ute Olivenö le Einheitswert 1000 Tonnen Goldmark pro Tonne Goldmark
Italien . . . Frankreich . Griechenland Tttrkei . . . Spanien . . Portugal . . Tunis . . . Summe1) • .
. . . . . . .
Lav at- und Sulfatole Elnbeltfr1000 wert Tonnen Goldmark pro Tonne Goldmark
944 837 346 99 52
1416 1548 346 99 52
1500 1850 1000 1000 1000
1698 205 277
1078 131 178
635 640 640
143 99 59
92 65 37
645 650 630
2285
3469
1520
2483
1582
640
die in der vorstehenden Tabelle zum Ausdruck kommenden Verhältnisse in der Nachkriegszeit gewandelt haben 1 Deutschland bezog aus Griechenland im Jahre 1922 nur 1.3 Tonnen gutes Olivenöl und überhaupt kein geringes öl. Seine Gesamteinfuhr im Zeitraum Januar bis Juli 1924 (7 Monate bei stabilisierter Währung!) betrug in guten ölen 641, in in geringen 1069 Tonnen. Diese Zahlen zeigen einerseits die ungeheure Verarmung Deutschlands, dem das Olivenöl ein Luxusgegenstand geworden ist; sie zeigen aber auch weiterhin, wie sehr Griechenland, welches auf die ölausfuhr so stark angewiesen ist, unter der Weltkatastrophe und Weltkrise zu leiden hat. 1 ) Wenn wir die Haupttatsachen kurz überblicken, so sehen wir, daß der Ölbaum in Griechenland als Kulturgewächs der Anbaufläche nach unbestritten an 2. Stelle steht. Mag er auch in der Produktionsmenge an die 4. bis 6. Stelle gerückt werden, so gleicht sich das dadurch wieder aus, daß sein Produktionswert ihn wiederum an den 2. Platz stellt. Daß das zweitw i c h t i g s t e Volksnahrungsmittel in der Ausfuhr nicht so weit vorne steht, vielmehr der Korinthe und dem Tabak den Vorrang läßt, ist verständlich. Daß die Produktion sowohl wie die Ausfuhr großen Schwankungen regelmäßiger und unregelmäßiger Art unterworfen ist, liegt an der durch die geringe Pflege bedingten zweijährigen Periode der Ernte und an den mancherlei schädlichen Einflüssen, denen der ungemein empfindliche Ölbaum unterworfen ist. Auch die Güte des Öls, die nach den natürlichen Verhältnissen eine vorzügliche, keinem anderen Mediterranlande nachstehende sein könnte, leidet unter jener Vernachlässigung. Nur wenige scharf hervortretende Züge konnten hier vorgetragen werden, welche die gewaltige wirtschaftliche Bedeutung des Ölbaums für Griechenland erweisen sollten. Daß er auch sonst eine immer wieder und überall sich auswirkende Rolle spielt, im Leben und Empfinden *) Die ganz unbedeutenden Einfuhrländer, wie z. B. Algerien, Marokko, Österreich-Ungarn, sind nicht aufgeführt. *) Vgl. Statistik des Deutschen Reiohs, Band 310. VI. Berlin 1924, ferner: Monatliche Nachweise über den auswärtigen Handel Deutschlands. Juli 1924.
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Edwin Fels, Der Ölbaum in Griechenland usw.
des Volkes, in seinen Gewohnheiten und Sitten, mag hier nur eben erwähnt werden. So begreifen es auch wir Nordländer, die wir uns zumeist keine rechte Vorstellung von alledem machen können, wenn wir die Schönheit einer griechischen Landschaft noch nicht geschaut haben, daß ein alter Schriftsteller schon den Ölbaum als den ersten unter allen Bäumen pries (2, S. 3). Und wir verstehen den Sinn der alten Sage, nach der „Minerva im Wettbewerb der olympischen Götter um das wertvollste Geschenk, das die Götter den Menschen machen können, den Sieg davontrug, indem sie den Ölbaum aufsprießen ließ, der ihr fortan heilig blieb". Griechenland und der Ölbaum — das sind zwei Begriffe, die nicht zu trennen sind und die der Geograph nur in engstem Zusammenhang betrachten darf. V e r z e i c h n i s der w i c h t i g e r e n
Spezial-Literatur.
1. F a b r i c i u s E., Die Insel Kreta. Geogr. Zeitschr. 3. 1897. S. 361-380, 425 bis 442, 4 8 9 - 507. 2. F i s c h e r Th., Der Ölbaum. Pet. Mitt. Erg.-H. 147. Bd. 31. 1904. 87 S. 3. K o c h M., Beiträge zur Kenntnis der Höhengrenzen der Vegetation im Mittelmeergebiet. Diss. Halle 1910. 310 S. 4. L e o n h a r d R., Die Insel Kythera. Pet. Mitt. Erg.-H. 128. Bd. 27. 1899. 47 S. 5. P a r t s c h J., Die Insel Korfu. Pet. Mitt. Erg.-H. 88. Bd. 19. 1887/88. 97 S. 6. P a r t s c h J., Die Insel Leukas. Pet. Mitt. Erg.-H. 95. Bd. 21. 1889/90. 29 S. 7. P a r t s c h J., Kephallenia und Ithaka. Pet. Mitt. Erg.-H. 98. Bd. 21. 1889/90. 108 S. 8. P a r t s c h J., Die Insel Zante. Pet. Mitt. 37. 1891. S. 161—174. 9. P h i l i p p s o n A., Der Peloponnes. Berlin 1892. Friedländer. 643 S. 10. P h i l i p p s o n A., Zur Vegetationskarte des Peloponnes. Pet. Mitt. 41. 1895. S. 273-279. 11. P h i l i p p s o n A., Thessalien und Epirus. Berlin 1897. Kühl. 422 S. 12. P h i l i p p s o n A., Beiträge zur Kenntnis der griechischen Inselwelt. Pet. Mitt. Erg.-H. 134. Bd. 29. 1901. 172 S. 13. R i k l i M., Lebensbedingungen und Vegetationsverhältnisse der Mittelmeerländer und der atlantischen Inseln. Jena 1912. Fischer. 171 S. 14. Statistik des Deutschen Reiches. Auswärt. Handel im Jahre 1913. Bände 270, 271, 271 B. Berlin 1914. 15. Statistique du commerce special de la Grèce avec les pays étrangers. Athen.
Politische Erdkunde und Geopolitik. Von KAHL
HAUSHOFER.
Politische Erdkunde, die Lehre von der Verteilung der staatlichen Macht über die Räume der Erdoberfläche und ihrer Bedingtheit durch deren Form und Unterlage, Klima und Bedeckung, und Geopolitik, die Wissenschaft von der politischen Lebensform im natürlichen Lebensraum, die sie in ihrer Erdgebundenheit und ihrer Bedingtheit durch geschichtliche Bewegung zu erfassen sucht — sind sie heute noch, sind sie künftig mit dem majestätischen, freilich auch dualistisch verworrenen, durch Stoffülle überlasteten Bau der allgemeinen Geographie vereint zu pflegen, oder drohen sie die alte Form mit neuem Lebensrecht zu sprengen ? Wenn auch die Pflege beider Wissenszweige eine unabweisbare Forderung scheint, ganz besonders in dem eingeengten und verstümmelten mitteleuropäischen Lebensraum, den wieder zu erweitern und herzustellen sie unserm Volk vornehmlich dienen sollten, so dürften doch ihre Vorkämpfer nie vergessen, daß sie Zweige eines ehrwürdigen alten Stammes sind, die ohne diesen nicht leben können. Wie weit ist es richtig, daß der Schwede Kjellen, der die Forderung einer geopolitischen Wissenschaft am schärfsten umrissen erhob, der aber doch so sehr auf die Arbeit deutscher politischer Geographen von Ritter bis Ratzel aufgebaut hat, der Wissenschaft der politischen Erdkunde ihren besten Sinn entrissen und sie zu einem dienenden Grundstein im Neubau der Geopolitik gemacht habe — wie weit steht also politische Erdkunde mit der Geopolitik in einem Kampf um den Vorrang, der die eine oder die andere als selbständiges Schaffensgebiet einschränken oder entwerten würde ? Oder hat im Gegenteil die neu auftretende Geopolitik dazu beigetragen, der politischen Erdkunde neue Antriebe zu geben ? Lassen sich beide versöhnen, gemeinsam treiben und harmonisch ausgestalten, zur Erweiterung der Erkenntnis und zum praktischen Nutzen unseres Volkes, das vor dem Weltkrieg trotz glänzender allgemein geographischer und landeskundlicher Einzelleistung seine Umwelt viel weniger gekannt hat, als diese seine eigenen Schwächen, das also allen Grund hat, kein irgendwie taugliches Mittel für seinen Wiederaufbau unverwertet zu lassen ? Auf der Suche nach gemeinsamen Wegen auf einer ehrwürdigen Spur zurückgehend, könnten wir fragen, ob nicht die Problemstellung Kjellens ursprünglich eine solche von Kant war, schon angeschlagen in der Vorrede zur „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", über die Problemstellung der Weltkenntnis. Denn die Forderung der Kantschen Anthropologie ist viel we'ter, als die der Anthropologie von heute, und die
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Karl Hauahofer.
Verbindung dessen, was er von der physischen und pragmatischen Anthropologie verlangt, ist den Forderungen der Geopolitik nach Kjellön nahe verwandt. Jedenfalls hat der bisweilen weltfremd gescholtene Philosoph als Voraussetzung dessen, was er „Weltkenntnis" nannte, und vom gebildeten Menschen forderte, mehr Geographie und Geschichte, um nicht zu sagen Geopolitik verlangt, als heute noch vom Staatslenker und den zur Vorbereitung auf seine Tätigkeit berufenen Anwärtern, oder gar vom Staatsbürger verlangt wird, der doch durch Mißbrauch seines Wahlrechts die eigene Lebensform gefährden kann. Auch von seiten der Historiker sind ähnliche Forderungen erhoben worden, am schärfsten vielleicht von Jakob Burckhardt, der es als spezielle Pflicht des Gebildeten bezeichnet, daß er sein Weltbild in Ordnung halte; was ohne Kenntnis der geographischen Unterlage dieses Weltbilds unmöglich ist. Freilich gab es und gibt es keinen unbestrittenen und selbstverständlichen Weg zur Erlangung eines solchen Weltbildes. Auch nach dem Erscheinen von Ratzels Standwerken war die Wissenschaft der politischen Erdkunde keineswegs festgefügt in Lehrweise und Umgrenzung. Der Dualismus der Erdkunde, der Gegensatz zwischen ihrer natur- und geisteswissenschaftlichen Seite, ihrer allgemeinen und speziellen angewandten Betriebsweise übertrug sich natürlich auch auf ihren politischen Zweig, und vermehrt die Schwierigkeit der Zusammenfassung der Fülle von Ergebnissen, die in gleichem Maß von Natur- und Geisteswelt zuströmen. Lord Bryce, einer der erfolgreichsten politischen Geographen Englands, vergleicht die Geographie ebenso zutreffend wie schön mit der Zentralhalle des wissenschaftlichen Gesamtbaues von heute (ein Vergleich, der dem Briten aus der Rolle der Hall im englischen Edelsitz nahe lag), die den Zugang zu allen Wissensgebieten vermittle, wenn auch keines ganz umschließe. Damit ist eine der schwierigsten, aber auch dankbarsten Aufgaben der Erdkunde richtig gezeichnet: die, als stärkster Träger allgemeiner Bildung unserer spezialisierten Zeit eine Übersicht über das Gesamtgebäude der Kultur auf der kulturveränderten Erdoberfläche zu vermitteln, das Weltbild als Ganzes aufzureißen, und zwar nicht als atomisiertes Nebeneinander, sondern als Kosmos, im Zusammenhang der Gesamtheit seiner Lebensformen. Innerhalb dieser mit Belegstücken und Trophäen überfüllten Eingangshalle der allgemeinen Erdkunde die Zugänge zur politischen Geographie und Geopolitik klar zu erhalten, ist eine wichtige Ordnungsfrage innerhalb unserer Wissenschaft. Denn wenn wir sie nicht innerhalb unseres geographischen Lehrgebäudes und mit unseren angestammten Methoden lösen, so tun es die Politiker, die im Drang der Ereignisse nicht warten können, mit unzulänglicheren Mitteln von außen her, häufig ohne Kenntnis des reichen Stoffes, den die Erdkunde der Politik tatsächlich zu bieten hat, ja, unter Mißachtung oder gar Zerstörung kostbarer Vorarbeit. Denn dann erfolgt der Durchbruch vielleicht gewaltsam, auf Wegen, die sich schon aus Kjellöns „Staat als Lebensform" erraten lassen, und von solchen Leuten, die nicht, wie Kjell6n es konnte, die klärende Vorarbeit der politischen
Politische Erdkunde und Geopolitik.
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Geographie an der Geopolitik dabei auch nur zu übersehen, geschweige denn zu verwerten imstande sind. Es besteht Gefahr, daß dann wieder, ähnlich wie bei den Staatswissenschaften unter der Firma Soziologie, ein bodenfremdes, statt eines bodenwüchsigen Gebäudes entsteht. Wenn die Bauherren den Baugrund außer acht lassen zu dürfen glauben, dessen richtige Kenntnis ihnen eben doch nur die Wissenschaft von der Erdoberfläche liefern kann, so wird man ihnen den gleichen Vorwurf machen können, den Ratzel gegen die Staatswissenschaften erhebt: den Bau in die Luft, auf Papier, statt auf den Boden gesetzt zu haben. Solche Bauten laufen Gefahr, bald wieder einzustürzen, denn so entstehen Staatsromane, nicht Lebensformen, Luftschlösser für politische Träumer, nicht Grundmauern für Reichserbauer. Man kann eben nicht Staatenkunde treiben, ohne in der Erdkunde gründlich geschult zu sein, und nicht als Gesellschaft sinnvoll ein Haus bewohnen, dessen natürliche Raumeinteilung und wichtigste Tragteile man nicht kennt, noch weniger es umbauen und willkürlich solche wichtige Tragteile auswechseln. Schon darum sollte, wie es Kjellön fordert, unsere geographische Gesamtwissenschaft das Bestreben haben, in einer so wichtigen Entwicklungsfrage mehr „Generaldirektor", als bloßer „Registrator" zu sein. Eine solche Angelegenheit ist aber die späte, immerhin für das Gesamtgleichgewicht ihres Wachstums noch ausgleichbare Hinneigung der Geographie zu ihrer politischen Seite, wie sie unter dem Druck der Not, freilich leider zu spät, der Weltkrieg und die ihm folgende Weltwirtschaftskrise erzwungen haben. Dieser verspätete Versuch, die zur rechten Zeit unterlassene Ausbildung des Volkes und seiner Führer zu großräumiger und bodenfühliger Weltbetrachtung nachzuholen, darf unter dem Druck der Kriegsnachwirkungen und seiner Entmutigung erst recht nicht aufgegeben werden; er kann sich, nachdrücklich gefördert, als eines der wirksamsten Mittel zur Wiedervereinigung der Volkheit erweisen, als ein Mittel, das der Erneuerung ihrer darniederliegenden politischen Geltung zugrunde liegen sollte. Dazu gehört volle Erkenntnis ihrer unvergänglichen und unzerstörbaren geopolitischen Machtunterlagen, aber nicht weniger ihrer schwachen und gefährdeten Stellen und ihres höchst labilen Machtgleichgewichts. Eine solche aus der Raumeinsicht erwachsende Erkenntnis der Lebensbedingungen eines Lebensraumes ist gleich richtig und gleich wichtig für alle seine Bewohner, unabhängig von ihrer Gruppen- und Parteizugehörigkeit. Welches sind nun, auf die kürzeste Form gebracht und in den Rahmen eines Druckbogens gepreßt, die Forderungen des Tages im Dienste der bedrohten Volkheit, denen beide vor allem genügen müssen, sowohl Geopolitik als politische Geographie, und nach deren Erfüllung sie sich erst auf getrennten Wegen ihren besonderen Aufgaben zuwenden dürfen ? Das Programm der politischen Geographie ist durch Ratzel, seither durch seine Nachfolger immerhin so fest umschrieben, daß es hier als bekannt vorausgesetzt werden kann; anders das der Geopolitik, deren bloßer Name schon neu, ungewohnt und noch umstritten ist.
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Karl Haushofer.
Geopolitik ist kein ganz neues Wort, aber doch erst in jüngster Zeit zu seiner jetzigen Bedeutung gelangt, und mag sich deshalb zunächst zu rechtfertigen haben, warum es schon in den Werken Kjellens unübersetzbar schien, und immer häufiger in politischen und geographischen Schriften auftritt. Leider gibt es keine völlig sinngetreue prägnante deutsche Übersetzung, und anscheinend auch keine Übertragungsmöglichkeit weder für Politik, noch für die Vorsilbe, die den erdgegebenen, erdgebundenen Zug darin bedeutet. Das Fremdwort hingegen ruft sofort einen klar geschlossenen Vorstellungskreis und eine ganze Gedankenfolge wach. Wenn auch sicher schon früher gebraucht, ist es meines Wissens zuerst in seiner heutigen Bedeutung als Forderung von Kjellön geprägt worden, und zwar in dem Werk „Der Staat als Lebensform", das den deutschen Lesern 1917 zugänglich gemacht wurde. In der neuen Zeitschrift für Geopolitik, die dieses Grenzgebiet zwischen Geographie, Geschichte und Politik pflegen soll, ist sie definiert als „die Wissenschaft von der politischen Lebensform im Lebensraum, in ihrer Erdgebundenheit und Bedingtheit durch geschichtliche Bewegung". Ihre Grundlagen wurden gelegt von Herder, Ritter, Ratzel und Kjellen; ihre Empirie aber, ihre praktische Anwendung, das instinktive Feingefühl für geopolitische Voraussetzungen dauernden politischen Wirkens reicht in der Geschichte fast so weit zurück, als uns überhaupt durch Überlieferung die Kenntnis von Zusammenhängen in Ursachen und Wirkungen erschlossen ist. In allen Führern der Menschheit auf neuen geopolitischen Wegen, besonders in allen bedeutenden Staatengründern mußte solches instinktive Feingefühl lebendig sein, denn ohne es wären nur Gewaltakte und Willkürhandlungen ohne bleibenden Wert entstanden, denen gegenüber die dauernden Bedingungen der Erdoberfläche, des Klimas und der Pflanzendecke sich wieder durchsetzen und den geopolitischen Willkürakt entweder mit Staub, Schutt und Vergessenheit bedecken, oder als Fehlschlag überliefern. Wohl wissen wir, daß der gewaltige Wille des einzelnen großen oder starken Menschen auch Massen und Völker zeitweilig über die Erdbedingungen empor in andere, als die ursprünglich naturbestimmten Bahnen reißen kann; aber auch die Folgewirkungen solcher Taten sinken zuletzt doch wieder auf ein mittleres Maß und eine mittlere Leistung im Verlauf des ganzen geschichtlichen Geschehens zurück, indem sich die dauernden, erdgebundenen Züge mit einem beträchtlichen Anteil durchzusetzen pflegen. Wenn aber an einem sonst unberechenbaren Ganzen auch nur ein Bruchteil berechenbar, wissenschaftlicher Erkenntnis zu einer gewissen Vorausbestimmung zugänglich ist, dann scheint es wohl doch der Mühe wert, diesen Anteil eingehender und planmäßiger zu erforschen, als es die Menschheit und vor allem ihre diplomatischen Führer bisher für nötig gehalten haben. So dürfte die Menschheit mit Recht fordern, daß ihre Staatsmänner und Leiter zuerst das Erforschliche sich zu eigen machen — und zwar auf allen Gebieten, nicht nur dem des Rechts und der Staatswissenschaften, sondern auch der Erdkunde und Geschichte — ehe sie die Geschicke von Staat und Gesellschaft in den Nebel des Unerforschlichen
Politische Erdkunde und Geopolitik.
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hineinsteuern; daß sie also wenigstens ausnahmslos die handwerkliche Voraussetzung zur Kunst des Möglichen in der Politik mitbringen, die sich auf dem Wege geopolitischer Studien zweifellos erwerben läßt. Das ist kurz gesagt die praktische Forderung der Geopolitik; sie ist der einer angewandten politischen Geographie verwandt, doch nicht ganz dieselbe. Ihre Einzelheiten finden sich für den, der zunächst nach der näheren Vorgeschichte der geopolitischen Forderung fragt, in der recht guten deutschen Übersetzung von Kjelläns „Staat als Lebensform". Man sieht auch dort, daß es etwa ein Jahrhundert, von 1817 (Klüber) bis 1917 gedauert hat, bis sich die Forderung zur geopolitischen Synthese über der These der alten, allzusehr durch Papier und Theorie bestimmten Staatswissenschaft und der Antithese einer nicht genug mit dem Menschen und seinen Lebensformen rechnenden und arbeitenden Geographie als Bedürfnis einer erneuten Staatswissenschaft gestalten konnte. Aber jetzt ist diese Forderung einer biogeographischen Ergänzung einseitig bodenfremder Staatslehren einmal aufgestellt, und die Autorität der alten Staatswissenschaften ist nach ihrer negativen Leistung während des Weltkrieges und nachher nicht mehr mächtig genug, um sie autoritär zum Schweigen zu bringen. Gewiß wäre es denkbar, in einer reformierten Staatenkunde, einer Erfassung des gesamten staatlichen Lebens nach großen biologischen Gesichtspunkten, auch die Forderung der Geopolitik fast vollständig unterzubringen. Ebenso könnte eine weitherzige wissenschaftliche Vorbereitung für politische Erziehung des Einzelnen und der Massen für ihre Wahlmacht im demokratischen Staat auch die Forderung der Geopolitik miterfüllen, ja, sie müßte es eigentlich tun. Im Vorwort zu seiner politischen Geographie fragt Ratzel mit Recht: „Sollte man nicht glauben, die Staatswissepschaft müsse diese (geographische) Aufgabe mitübernehmen ?" Aber Kjellön kann etwas boshaft hinzufügen: „Da jedoch die Staatswissenschaftler damit zufrieden seien, daß ihr Gegenstand in der Luft schwebe, so müsse die Geographie die leere Stelle ausfüllen." In der T a t : solange noch von seiten der Staatswissenschaft her ein junger Mann mit einem Brevet zur Staatsleitung in der Tasche auf die dadurch oft recht gefährdete Lebensform seines Volkes losgelassen wird, ohne ein Weltbild zu haben, ohne die Ahnung von Erdkunde, von der wirklichen Beschaffenheit seines eigenen und fremder Lebensräume und ihrem Werdegang, solange müssen Erdkunde und Geschichte zusammen die Sorge für die Ausfüllung der Lücke übernehmen, — und darum ist mit Bedacht der „Politik" die kleine, aber vielsagende und viel verlangende Vorsilbe „Geo" vorangestellt worden. Denn diese Vorsilbe verbindet die Politik mit dem festen Boden, stellt sie vom Papier und von der Phraseologie, wo sie so leicht zum utopischen Staatsroman wird, auf die ruhende Erde. Sie zeigt die Abhängigkeit alles politischen Geschehens von dauernden Bedingungen der Bodengestalt, wie das z. B. vorbildlich geschieht in Ratzels „Alpen inmitten der geschichtlichen Bewegung" oder „Vom Wasserhaushalt", oder in Krebs ausgezeichneten „Beiträgen zur politischen Kompetenz der Klimatologie", wo er den Zusammenhang zwischen Regenausfall, Dürren, politischen und sozialen Unruhen in Ostasien enthüllt; oder in
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Karl Haoahofer.
Kjell6ns „Problem der Drei Flüsse" (Rhein, Donau, Weichsel), wo er aus dem Lauf der großen Ströme das zerrissene Schicksal Mitteleuropas herleitet. Oder man kann, wie es G. E. Mackinder in seinem „Geographical pivot of history" versucht hat, die ganze Erde in großer Übersicht geopolitisch betrachten und im Jahr 1904 bis zu einem hohen Grad vorhersagen und deuten, was sich zwischen 1914 und 1924 begeben würde. Warum aber sahen die führenden Staatsmänner nicht, was dieser Geopolitiker schon 1904 erkannte und prophetisch niederschrieb ? Vielleicht doch aus Mangel an geopolitischer Schulung, da ihnen trotz aller Feinheit juristischer Ausbildung und innerpolitischer Erfahrimg naturwissenschaftliche Methoden zur gesetzmäßigen Erfassung politisch-geographischer Vorgänge fremd geblieben waren. „Unendlich groß sind die Kosten geographischer Unwissenheit", sagt warnend Sir Thomas Holdich, einer der geschicktesten englischen Grenztheoretiker und praktischen Grenzenmacher 1 Wie hätte sich die Ausgabe für geopolitische Ausbildung z. B. bei Bethmann-Hollweg und seinen Leuten bezahlt gemacht! Die Beweise dafür, daß sich die neue Grenzwissenschaft werde behaupten können, und daß sie sich im wesentlichen auf richtigen Wegen entwickelt, entnehmen wir aus der Tatsache, daß sich die erfolgreiche Verbreitung angewandter Geopolitik auf der Erde immer deutlicher verfolgen laßt, daß auch die Bestrafung vernachlässigter Rücksicht auf sie immer empfindlicher wird. Es ist ferner Tatsache, daß es weitsichtige Arbeiten geopolitisch geschulter Männer der Wissenschaft gegeben hat, die Aussagen über kommende Entwicklungen zu machen wußten, daß einige Völker auf diese warnenden oder mahnenden Stimmen rechtzeitig gehört haben, daß aber andere bei ihren Landsleuten kein Gehör fanden, wie Ratzel und Richthofen, die ja vor Jahrzehnten ihre Völker vor gefährlichen Richtungen in der Politik und vor dem Beschreiten falscher Wege vergeblich warnten. Endlich lassen sich zweifellos kleinere und größere Erfolge unmittelbar auf verwertete geopolitische Vorarbeit zurückführen, so die geschickte Wahl der englischen Stützpunkte Hongkong, Singapore oder Penang, die Neuorganisation des Australischen Bundes und die Neugründung seiner Bundeshauptstadt Canberra nach vorwiegend geographischen Gesichtspunkten; auch die Wahl von Tsingtau war eine glückliche, wenn man absieht von der bestreitbaren geopolitischen Zweckmäßigkeit einer Festsetzung in China überhaupt. Zweifellos werden in neuen Ländern politische Fragen seltener ohne jede geopolitische Vorprüfung der Verhältnisse entschieden, wofür es manches Beispiel gäbe. Freilich ist diese Entwicklung noch bei weitem nicht abgeschlossen, kaum daß stellenweise Anfänge gemacht und Grundsteine gelegt sind, um die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisströme, vor allem der Geschichte, mit den jungen naturwissenschaftlichen Erfahrungstatsachen der Biogeographie und Rassenlehre und mit der Empirie der Staatswissenschaften in ein gemeinsames Bett zu leiten, in dem sich so ungleiche Bewegungen vereinen ließen. In Banses neuem Geographischen Lexikon wird Geopolitik erklärt als ein neuer, während des Weltkrieges geprägter Begriff für die Anwendung
Politische Erdkunde und Geopolitik.
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der Gesetze der politischen Geographie auf die Politik, der aber noch eines festumrissenen Inhalts entbehre; und dann in geistreicher Weise im Zusammenhang mit der in den Daseinsgrundlagen eines jeden Staates verkörperten politischen Idee gebracht, die scharf erkennen zu lehren eine Hauptaufgabe der Geopolitik sei. Unter den Quellen sind die Werke von Kjellen genannt, aber gerade das Werk fehlt, in dem die Theorie der Geopolitik am klarsten entwickelt ist, nämlich: Der Staat als Lebensform. Mit Recht ist auf die geopolitischen Arbeiten von Dix und Schöne hingewiesen, die auf den Schultern von Ratzel stehen; sowie der starke Einfluß Ratzels auf einen Teil der angelsächsischen Geographenschule betont, von der namentlich seine Schülerin Miß E. Semple Zeugnis ablegt. Ausgesprochen geopolitischer Art, wenn auch den Namen noch nicht verwendend, sind vor allem die Arbeiten des Engländers Mackinder und der Amerikaner Mahan und Brooks Adams. Vereinzelt wurde das Thema von deutschen Forschern, auch von Spezialisten aufgegriffen, so von der klimatologischen Seite von W . Krebs schon 1892 und 1895, von der überaus fruchtbaren pflanzengeographischen Seite von Scharfetter, von der rassenbiologischen von W . Schallmayer. Die ganze Verlagstätigkeit von Oldenbourg in München bewegt sich seit einiger Zeit zunehmend in geopolitischer Richtung, wovon außer den bei Banse erwähnten Werken u. a. zeugt die Neuschöpfung der politischen Geographie mit geopolitischem Ziel von Dix, Wütschkes „Kampf um den Erdball", und früher schon die Betonung der Geistbeckschen Auffassung der Staatenkunde in dessen Lehrbüchern. Krebs, Sapper, Sieger und Maull wendeten schon vor dem Krieg geopolitische Methoden an, Penck und Wegener gelangten während des Krieges dazu, ohne sie aber zunächst aus dem politisch-geographischen Arbeitsfeld unter eigener Betonung loszulösen. All diesen Bestrebungen liegt die Einsicht zugrunde von der Notwendigkeit, den Rechts- und Staatswissenschaften endlich Erkenntnisse zuzuführen, die ihr zum schweren Schaden Mitteleuropas besonders in unserem Erdraum fremdgeblieben waren, namentlich die reichen Arbeitsleistungen der Naturwissenschaft, soweit sie die Erdkunde zum Nutzen der Staatenkunde und Staatenführung zusammenfassen konnte, und zwar um so mehr, als sie weit hinter der naturwissenschaftlichen und technischen Leistung innerhalb der staatlichen Lebensformen zurückgeblieben waren, und dennoch darin den uneingeschränkten Anspruch auf deren Führung und Leitung erhoben. So will denn Geopolitik zunächst nichts anderes als Dienerin jener politisch führenden Kräfte sein, sie will aber wenigstens den Anspruch anmelden, mit greifbaren Tatsachen und erweisbaren Gesetzen vor sie treten zu dürfen und von ihnen gehört und berücksichtigt zu werden. Das muß nun endlich auch bei uns geschehen, in einem Stil und Umfang, wie es bei politisch erfolgreicheren Staatswesen tatsächlich längst geschehen ist. Die Politik muß lernen, sich wenigstens aller erreichbaren wissenschaftlichen Hilfsmittel zu bedienen in einem Kampf ums Dasein, der durch das gesteigerte Mißverhältnis zwischen Ernährungsgrundlage und Volksdichte der politischen Räume nicht leichtere, sondern immer schwerere Formen annehmen muß.
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Diesen Erziehungszweck aber können politische Geographie und Geopolitik noch geraume Zeit mit ähnlichen Mitteln und gleichen Zielen verfolgen. Freilich müßte man, um zu erklären, warum die politische Geographie mit ihren bisherigen Methoden allein dafür nicht ausreichte, ihre Entwicklung seit Ratzel verfolgen und prüfen, warum ihre Führung so auffallend nach den Angelsachenländern (Mackinder, Curzon, Semple, P. M. Roxby, Mahan, Brooks, Bowman u. a. neue Amerikaner), und auch nach den romanischen (Brunhes, Vallaux) hinübergleiten konnte, wo die Anregungen des großen deutschen Anthropogeographen auf fruchtbareren Boden fielen, als im Heimatlande, und vor allem viel bewußter in den Dienst der Machtausbreitung gestellt wurden. Eine rühmliche Ausnahme machte die Belebung durch die betonte Pflege der Meereskunde, ausgehend von Richthofen und Drygalski, die Flottenbewegung und die Kolonial- und Übersee-Entwicklung; sie alle aber vermochten nur einsichtige und hochstehende Minderheiten zu erfassen, und ihre Wirkung ging nicht genug in die Breite, um die politisch-geographische Trägheit der Massen, auch der Gebildeten zu überwinden. Weitere Gründe für die Verzögerung und Ablehnung der angestrebten großräumigen Erziehung müssen wir als Folge eines eingewurzelten Ressortgeistes und der ganz bodenfremden, rein juristischen Ausbildung aller leitenden Reichsbeamten erkennen, aber auch vielfach der sogenannten Wirtschaftsführer als Nachwirkung der bodenfeindlichen, raumengen Kameralistik, die vom Kanzleibedarf der kleinen Territorialstaaten herkam, im Gegensatz zur großräumigeren englischen und französischen Staatswissenschaft. Die angelsächsische hat immer den Erziehungswert der großen Räume in der Praxis zur Verfügung gehabt; die französische hat die theoretische politische Ausbildung in Verbindung mit den Ergebnissen der modernen politischen Geographie in den Vordergrund gestellt, zum Beispiel im Institut und der Ecole de politique. Die deutsche amtliche politische und staatswissenschaftliche Ausbildung hatte, schon von der Mittelschule an, die geographische Erziehung ignoriert und zurückgesetzt; sie erhielt die Quittung für eine falsche Methode im Versagen ihrer amtlichen Führung und öffentlichen Meinung gerade auf geopolitischem Gebiet, im Zusammenbruch und der Schöpfungsunfähigkeit ihrer politischen Theorie, noch lange vor der Erschöpfung der Praxis der wohlgefügten, aber raumblinden Wehrressorts. Zugegeben muß allerdings werden, daß auch für solche, denen die amtlichen Nachrichtenquellen neben dem wissenschaftlichen Stoff zugänglich waren, die rechtzeitige politisch-geographische Orientierung von Mitteleuropa aus nicht leicht blieb; dazu trug bei, daß viele wissenschaftliche Führer, wenn auch früher als die amtlichen Stellen, sich doch erst unter dem Eindruck der außenpolitischen Katastrophe zu einer späten Pflege der Voraussetzungen bekehrten, die eine solche wenigstens in diesem furchtbaren Ausmaß hätte verhindern können. So spiegelte zum Beispiel das anthropogeographische und politische Arbeitsfeld Ostasien (dem mich frühe Neigung für die politisch-geographischen und wehr-geographischen Probleme der uralten Kulturlandschaften Süd- und Ostasiens im Verein mit einem günstigen militärisch-politischen Zufall zugeführt hatten) im
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Kleinen den zwiespältigen Aufgabenkreis im großen und ganzen. Das zeigte sich vor allem darin, daß es weder für die Monsunländer als Ganzes, noch für Einzelgebiete eine landeskundliche oder gar politisch- oder wehrgeographische Synthese gab, daß physische Erdkunde, Biogeographie, Anthropogeographie, Anthropologie, Staatswissenschaften, Soziologie und Kulturgeographie, Kunst- und Sprachwissenschaft kein Bedürfnis nach Zusammenarbeiten zu empfinden schienen, sondern getrennt ihre Äcker pflügten, ohne sich des gemeinsamen Urgrundes bewußt zu werden. Einzelne wichtige und aufschlußreiche Wissenszweige, besonders die linguistisch und ästhetisch eingestellten, schlössen geradezu die Augen vor einer wissenschaftlich und künstlerisch weniger befriedigenden Gegenwart, und hielten deutschen Leserkreisen ein Bild vor Augen, das ausschließlich vergangene Kulturperioden spiegelte und von einer längst nicht mehr vorherrschenden Mentalität, z. B. in Indien, China und Japan ausging. So wurde geradezu ein falsches Bild geschaffen, das die direkte Verständigungsschwierigkeit mit den betreffenden Völkern erhöhte, und die Neigung europäischer Großmächte, uns durch ihre Brille sehen zu lassen, geradezu unterstützte. Vergeblich kämpfte ein kleiner Kreis dagegen an, wie z. B. Richthofen und Francke für China, Nachod u. a. für Japan. Der Deutsche, der Geopolitik treiben mußte, weil er verkehrstechnisch, wehrgeographisch und wirtschaftlich zu beobachten, zu berichten und zu handeln hatte, fand so gerade bei der Wissenschaft, die ihn zunächst hätte beraten sollen, nicht den vorbereiteten, verarbeiteten und synthetisch verbundenen Wissensstoff, den er dort hätte vermuten können. Einzelne Beobachter aus benachbarten Arbeitsgebieten sprangen freilich aushelfend ein: so kann man z. B. aus dem Werk von Doflein, dessen Ostasienfahrt eigentlich der Erforschung der Meeresfauna galt, als bloße Nebenfrucht seiner ausgezeichneten Beobachtungsfähigkeit wertvollere Bausteine zur Landeskunde und Biogeographie von Japan finden als in den meisten Aktenschätzen der amtlichen Berichterstattung, wenn sie auch der politische Geograph erst aus dem ozeanographischen Rahmen herauslösen muß. Der Typ des regelmäßig für fast alle sie interessierenden Erdräume erscheinenden Standwerks, oder des Gazetteers, wie ihn die Angelsachsen überall bereit haben, blieb für die Deutschen ein frommer Wunsch, trotz allen wertvollen Vorarbeiten auf unzähligen Einzelgebieten, in denen wir vielfach die andern weit übertrafen. Noch mehr aber fehlte uns das unmittelbar für den geopolitischen Zweck gearbeitete Hilfsbuch, wie es die französische Ecole de politique in so großer Zahl hervorbrachte; die Schaffung solcher wertvoller wissenschaftlicher Hilfsmittel war unseren Staatswissenschaften wegen ihrer mangelnden Verbindung mit der praktischen Erdkunde nicht gelungen, trotz ihrer bedeutenden Stellung in der Weltstatistik und Kunst der Registrierung vor dem Kriege. Es konnte sich auch in Deutschland kein politisch-wissenschaftlich mit fast unbeschränkter Autorität bekleideter und dennoch gewissermaßen außer Verantwortung stehender, außeramtlich als Senat beratender Körper für Geopolitik und Außenpolitik bilden, wie ihn andere Reiche besassen: England in der Royal society und ihrer diskreten Verbindung mit dem Oberhaus, Frankreich in der des Instituts de France
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und der Ecole de politique mit dem auswärtigen Ausschuß, Japan in dem geheimen Rat, der halb verfassungsmäßig, halb hinter den Kulissen die Außenpolitik nach großen Zügen lenkt, wie ihn sich auch Sowjet-Rußland zu schaffen bestrebt ist, wie ihn also alle großen Lebensformen anscheinend für nötig halten, die in und nach dem Weltkrieg erfolgreich Außenpolitik getrieben haben. Auch die Vereinigten Staaten besitzen ähnliche Einrichtungen in statu nascendi (Kongreßbibliothek in Washington, politischer Einfluß der politischen Professuren der Universitäten, Wilson, B. Haie. Reinsch u. a.). Ein bei der Raumenge notwendig unvollständiger Versuch, die der politischen Geographie und Geopolitik gemeinsamen Aufgaben in eine gewisse Ordnung zu bringen und durchzugliedern, soll eine Übersicht über das Arbeitsfeld anbahnen: um sie zu gewinnen, ist zunächst eine theoretisch-didaktische Aufgabe zu lösen: ihre Eingliederung in den Gesamtbau der Erdkunde. Sie wird dadurch erschwert, daß schon die politische Geographie sämtliche Gebiete der Geographie des Menschen: Siedelungs-, Verkehrs-, Wehr- und Wirtschaftsgeographie durchdringt, und in der Geopolitik gerade auf dem Grenzrain zur Staatswissenschaft einen neuen eigenwilligen Schoß getrieben hat; gewiß hegt schon in der Zweckbestimmung beider, die gewonnene Raumerkenntnis auf die Erlangung, Erhaltung, Umschichtung der Macht im Räume einzustellen, soweit sie von der Erdoberfläche bestimmt wird, eine gewisse Gefahr, gerade in politisch stark bewegten Zeiten, ihren Rahmen zu sprengen, wie ein Baum die zu enge Bank, die um ihn errichtet wurde. Dann ließen sich die wichtigsten weiteren Arbeitsziele etwa in neun große Gruppen ordnen. I. Als erste, praktisch wichtige Forderung stände voran, im Sinne auch der „Angewandten Geographie" (Grothe), der Sonderbände von 1922 zum Manchester Guardian von John Maynard Keynes, Lebensdrang (Volksdruck) und Lebensraum in ihrem gegenseitigen Verhältnis zum Gegenstand politisch-geographischer Erziehung zu machen, die Übervölkerungsfrage einiger wichtiger Erdräume, wie Deutschland, Japan, Italien, die tatsächlich im Mittelpunkt des politischen Handelns steht, auch in den Mittelpunkt vorbeugender Betrachtung zu rücken, die Beziehung von Lebenswille, Raumvorstellung und daraus erwachsenden Schranken auch wirklich zum Massengut der schicksalbestimmenden Volksmengen zu machen. Nur in einem geopolitisch so unbegabten und unerzogenen Volk wie dem unsern, höchstens noch in Indien, kaum in Hellas wäre es möglich gewesen, ein Werk über „die Welt als Wille und Vorstellung", ohne jede Beziehung zum Lebensraum und seinem Einfluß auf den Lebenswillen der ihn bewohnenden Menschen, als Erklärung für alle Daseinsphänomene bieten zu wollen. Daß bei uns niemand diese Grundlage zu vermissen schien, zeigt, wie sehr uns eine Ergänzung in dieser Richtung nottut. II. War bei der ersten Gruppe politisch-geographische Betrachtungsweise führend, geopolitische folgend und sich anpassend zu denken, so wird es bei der II. umgekehrt sein müssen, der das Verhältnis von Ideologie und Lebensraum als weiteres Problem zufallen könnte; und zwar gibt es dabei
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nicht nur eine Geopolitik bestimmter Erdräume (Land- und Seeräume), die analog der länderkundlichen Behandlung durchzuführen wäre, sondern auch eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Geopolitik und politischen Ideologien anzustellen: z. B. der Selbstbestimmung, des aktiven und passiven Widerstandes, des Landflucht-(Urbanismus)Problems, des Wehrgedankens und Wehrwertes. Auch die Wehr-Geographie (viel besser so, als Militär-Geographie benannt) ist im Zusammenhang mit Geopolitik noch einer außerordentlichen Durchbildung und Höherentwicklung fähig und bedürftig; gerade weil sie möglichst allgemeiner Volks- und Menschheitsbesitz in ihren wichtigsten Erkenntnissen werden müßte, schon um die im letzten Jahrzehnt erlebten Möglichkeiten der Massenbelügung auszuschließen oder doch innerhalb bestimmter Grenzen zu halten. Im engen Zusammenhang mit der unter II erhobenen Forderung stehen dann die zu III und IV. Die I I I . Gruppe entspricht einem Wunsch der Untersuchungsweise, der aus volkswirtschaftlichen und staatswissenschaftlichen Kreisen vielfach an die Erdkunde herantritt (Zwiedineck u.a.), die Lebensräume als rassenbildende, als klassenbildende und klassenscheidende Faktoren zu prüfen, ihre Bedeutung als Ideologie-bildendes Kraftfeld, damit schlechthin als menschliches Einzel- und Massenschicksal bildend, mehr herauszustellen. Denn die Ideologie der Bewohner eines Lebensraumes bedeutet doch weit mehr sein Schicksal als die Wirtschaft, —eine Erkenntnis, die Napoleon im Gegensatz zu Rathenau zum Aphorismus prägte, wenn er einmal die Politik, ein anderesmal die Geographie das Schicksal nannte. Gemeinschaftsarbeit mit Gruppe I ergibt sich dann ganz zwanglos aus dem gleichfalls geäußerten Wunsch, positive, aus dem Antlitz der Erde beweisbare Ergebnisse möglichst weiten Kreisen begreiflich zu machen, worin politische Geographie und Geopolitik einig gehen können. Eine IV. Gruppe hätte als Hauptziel, in Umkehrung die umgestaltende Einwirkung von Lebensräumen auf die sie durchschreitenden Ideologien zu prüfen, nicht nur auf die darin erwachsenen und die darüber verbreiteten, — etwa in der Art, wie Dr. Wüst das für den Buddhismus in seiner Wanderung aus den nordindischen Ebenen durch die nördlichen Hochländer durchführt (Z. f. Geop., 1.5). Das Verhältnis der gegenseitigen Durchdringung von Boden und darauf wachsender Idee, mit Willen zu ihrer Verwirklichung, wie auch von den diesen Boden überwandernden, an ihm haftenden, abgleitenden oder umgewandelten Ideen zu prüfen, ist natürlich für Geopolitik weit mehr Daseinszweck als für politische Geographie, die sich auf diesem heiklen Felde weit mehr mit bloßer „Registrator"-Tätigkeit zufrieden geben kann, freilich nicht zufrieden geben sollte. Das Verhältnis von Lebensraum zu übervölkischen Lebensformen, die sich mit den Grenzen natürlicher Landschaften nicht decken, wäre dann ein weiteres Untersuchungsziel. Lebensraum und Kirchen, wie Weltanschauungslehren überhaupt, aber auch verneinenden, rein diesseitigen, materialistischen: ihnen allen ist das geographisch erfaßbare Inkarnationsbedürfnis im Raum gemeinsam, sobald sie Lehrform gewinnen. Sie schaffen dann Kirchenstaaten, wie den mittelländischen, oder den hochasiatischen (Lhassa, Urga), oder kommunistische Bildungen, wie die Bodenreform Taikwa in Japan, die D r y g a l B k i , Festgabe.
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Experimente Wangs in China, oder die Sowjets, gleichviel, ob sie sich pandemisch an alle, oder an bestimmte Rassen vorzugsweise werden, wie der Islam, und so geographische Bindungen mit dem „Colour"-Problem eingehen (Lothrop Stoddard: Rising tide of Colour against white supremacy, u. New World of Islam I). Auch die Selbstverwirklichung von Raumvergrößerungstendenzen und Raumgedanken gehört in dieses Gebiet, in dem die Ideologie der reichsbildenden Kräfte, des Imperialismus, der Rassenvorherrschaft geographisch nicht anders zu behandeln ist als die anderer Ideologien auch. Pan-asiatische, pan-pazifische, pan- amerikanische Ideen in ihrer geographischen Auswirkung gehören hierher; auch das Spielen mit eurasischen Zusammenhängen ist hier zu untersuchen. Das geographisch Fruchtbare und Erweisbare an der Kulturkreislehre, der Kulturmorphologie, der auf der Erdoberfläche in Karten darstellbaren Wirksamkeit kulturkreisbildender Kräfte wäre dieser Gruppe einzuordnen. Von ihren Aufgaben finden politische Geographie und Geopolitik sich unmittelbar weiter zu einer V. Gruppe: Zusammenspiel, Scheidung, Trennung der Lebensräume der Erde, Neueinteilung, wenn sie geboten scheint (Banse), ist ihr engeres Arbeitsgebiet. Die Durchprüfung des kontinental-ozeanischen Gegensatzes staatlicher Lebensformen — der von Ratzel als der größte gekennzeichnet wird, der im Völkerleben vorkomme — wird hier leitender Gesichtspunkt für Scheidungen sein müssen, mit den potamischen, litoralen, insularen Zwischenstufen, die er mehr andeutet als aufstellt. Die Ideen von Mackinder (Geographical pivot of history, London 1904) lassen sich hier dem Gesamtgefüge einordnen. Aber auch alle, die gezeichneten Gegensätze überwindenden, verbindenden Mittel großen Stiles können dabei Behandlung finden: Geopolitik von Eisenbahnzonen, wie Linien, ganzer Eisenbahnnetze, so weitausschauender Verkehrsideen, wie des indischen Eisenbahnentwurfs aus der Mitte des X I X . Jahrhunderts, Verkehrsgeographie der Weltverkehrsbänder, großer Kanalideen, vor allem aber die politische Ozeanographie, die Anthropogeographie der Meere, die weit hinter ihrer staunenswerten physischen und biogeographischen Entwicklung zurückgeblieben sind; denn die Meere sind doch das in erster Linie verbindende Mittel. Es bliebe also eine Geopolitik der Binnenmeere, Randmeere, Mittelmeere, Ozeane auf die Höhe ihrer anorganischen, wie biogeographischen Erkenntnis mit politisch-geographischen, zunächst anthropogeographischen Methoden nachzuführen. Andere verbindende Mittel, die Steppe in ihrer Bewegungsfreiheit als festländisches Gegenstück zum Wanderfeld der Ozeane, auch die Schneedecke in ihrer verkehrsfreundlichen Seite wären geopolitisch zu würdigen. Die Hemmungen der Hochländer, der Beckenlandschaften, der Plateauränder sind zu untersuchen. Die Geopolitik von Strömen und Stromsystemen spielt hier herein, wie sie Kjellin in dem Problem der drei Ströme (Rhein, Donau, Weichsel) hat anklingen lassen, wie alle Stromstaatsbildungen, das Stromgegenspiel von Indus und Ganges, von Hwangho und Yangtse, das Stromnetz der Mandschurei anregen. Als V I . Gruppe bedarf das Wissen von der Grenze, — wie es als Einzelpersönlichkeiten namentlich Sieger und Solch (Südmark), Sapper
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(Vogesen) seit Jahren, unter dem Druck schwerer politisch-geographischer Notlagen Penck (Polen) und Volz (Oberschlesien) bei uns pflegten — gemeinsamer politisch-geographischer wie geopolitischer Vertiefung. Die Forderung eines viel bewußteren Verhältnisses zum Saum der staatlichen Lebensform und Volksheit richtet sich hier auf, mit der weiteren nach suggestiver Kartographie und geopolitischer Werbekraft. So trostlose Äußerungen über die Vernachlässigung unserer Grenzlandschaftskunde, wie die von Braun, müßten tiefe Wirkung tun! Beschäftigt sich die VI. Gruppe mit der politisch-geographischen und geopolitischen Verfeinerung des peripherischen Gefühls (für dessen Erziehung man von den Japanern manche Winke gewinnen kann: Uyehara, Pol. Development of Japan, Einleitung I), so die VII. Gruppe mit der Herausarbeitung des Begriffs lebenswichtiger Landesteile, der Herz- und Kern-Landschaft, der Bildung geographischer und geopolitischer Bewußtseinszentren. Die furchtbar drohende Frage der Amputierbarkeit lebenswichtiger Landesteile ist durch seine Erfahrungen mit der Saar-Oberschlesischen-Ruhr-Landschaft, die der Lähmung geographischer Bewußtseinszentren, der Verlagerung des Bevölkerungsgleichgewichts von Kernlandschaften ist doch gerade für den Deutschen vordringlich genug geworden. Übersichten, wie sie J. Bowman in The New World, Problems of pol. Geography, London-Sidney 1922 gibt, sind hier eine nützliche Einführung. Städtebilder mit politisch-psychologischer Vertiefung (v. Hofmann I), die Ausbildung der neueren Städtegeographie überhaupt geben Anhaltspunkte, in welcher Richtung die Entwicklung drängt (Arbeiten über den Urbanismus). In voller Breite behandelt Australien vor der geographischen Öffentlichkeit seine Hauptstadtwahl, und mit ihr die Grundlagen seiner Geopolitik (Gregory und Griffith Taylor), wenn auch hier die zuerst so üppigen Blütenträume der konstruierten, nicht gewachsenen, gewordenen Stadt sehr langsam reiften. Bestimmte mitteleuropäische Probleme (Berlin, Wien, Hamburger Erweiterung) drängen zu Lösungen, pazifische Sonderformen, Tendenz zur Trennung politischer von wirtschaftlichen Brennpunkten, Pendelung (Japan, China, Indien) bei bestimmter Bedeutungs-Wiederkehr gewisser Kernlandschaften scheinen erkennbar zu werden. Banses Forderungen künstlerischer Behandlung, Pontens kunstgeographische Anregungen könnten hier vielleicht zu allererst geopolitische und politischgeographische Auswertung finden. Aber— und das kann ein VIII. Arbeitskreis enthüllen: das Verhältnis von Kultur- und Kunst-Geographie zur politischen ist überhaupt enger geworden. Ich erinnere nur an Pontens baustoffgeographische Anregungen über das Einzugsgebiet der großen Dome z. B.; Passarges letzte landschaftskundliche Anregungen zeigen, wie unabweisbar für politische Geographie und Geopolitik eine Auseinandersetzung mit der Umwandlung und Auswirtschaftung der Kulturlandschaft ist. Sie einzuleiten, ist die Geographie mehr als alle anderen Wissenschaften berufen, aber die Vorhand entgleitet ihr, wenn sie nicht dauernd dabei führt. Damit stehen wir vor der IX. und letzten Forderung, die wieder zum Ausgangspunkt zurückwendet. Die Ideologie der Geopolitik ist wie ein Kristall im Zusammenschießen begriffen, und im wesentlichen doch — 7•
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trotz allen weiteren Zuschüssen aus Staatswissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie und Geschichte, die man bei Kjellen findet — aus der Mutterlauge der Geographie, und zwar der politischen Geographie. Durch ihr geographisches Grundelement hat sie es in der Hand, die Gefahren exzessiver Bildungen dabei zu vermeiden; wenn auch die Prophetie, die nun einmal im Charakter einer überreizten Zeit liegt, diesem Arbeitsfelde nahe steht. Solche Gegenpole, wie die doch sehr stärk geographisch beeinflußten und mit geographischem Stoff arbeitenden Werke von Spengler und Keyserling rufen den politischen Geographen zwar zur Mitarbeit, aber auch zur Wache auf. Schärfste, sich scheidende intellektuelle Selbstbehauptung und einfühlende Hingebung stehen sich bei Abwägung ihrer geographischen StoffVerwertung gegenüber, z. B. im „Untergang des Abendlandes" und im „Reisetagebuche eines Philosophen"; in dem sich ein proteus-artiger Geist dem jeweils durchfahrenen Erdraum hingibt, während sich der autonome Intellekt kühl im Untergang des Abendlandes, im Einsturz des Erdkreises nach für die Weiterfahrt brauchbaren Trümmern umsieht. Die notwendige Einstellung zu beiden Werken ruft sofort Verkehrs-, wehr- und wirtschaftsgeographische Forderungen, Fragen, Probleme wach, wie selbstverständlich solche der Siedlungs-Geographie, der Geographie des Menschen und der Kultur-Geographie als Voraussetzung zu Werturteilen. Die unsicher gewordene Zeit sucht mindestens Aushilfs-Antworten, zunächst in politischgeographischer, geopolitischer Sammelarbeit: Tatsachen, Erdgegebenes, Beweisbares und Greifbares, um sich den großen Worten gegenüber behaupten zu können. Auch die zur Wiedereinrenkung von Europa bestimmten Zusammenstellungen von Keynes in den Sonderheften des Manchester Guardian von 1922, ein Symptom der Wiederkehr des angelsächsischen Wirtschaftsverstandes nach der Psychose, sind doch eigentlich im Grunde nichts anderes als Zusammenfügung wesentlicher Zahlen mit angewandter Geographie und Bevölkerungslehre. Die Vielen, die auf solche Einzelarbeiten als Erlösung starren, wissen bis jetzt nur zum Teil, daß sie alle praktische Geopolitik treiben, und auf den von Kjellen gezeichneten Linien zum Zusammenschluß, zur Synthese kommen können. Es ist unsere Sache als Geographen, ob wir sie wollen, die wir allein den Baugrund dazu besitzen, die Erdoberfläche, auf der alles ruht, deren Bewohner ihren Mangel an wissenschaftlicher Organisation fühlen, und aus dem Chaos des Weltkriegs und des Versailler Vertrages wieder zum Kosmos gestaltet werden wollen. Die Hauptschwierigkeit für uns Geographen liegt aber nicht in der Bewältigung der praktischen, leicht in der vorgeschlagenen Weise oder anders zu gliedernden Aufgaben, wie es auch alle unsere großen führenden Systematiker, voran H. Wagner richtig empfunden haben. Sie liegt vielmehr darin, in den Bau der Geographie des Menschen (in dem sich Siedelungs-, Verkehrs-, Wehr- und Wirtschaftsgeographie organisch übereinander legen, wie zuletzt die Kulturgeographie) die politische Geographie und ihre Tochterwissenschaft, die Geopolitik, die von allen diesen etwas erfaßt und verarbeitet, in ihren Beziehungen zur Rechts- und Staatswissen-
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schaft und zur Soziologie aber über den Rahmen der Gesamtgeographie hinausreicht, in die Gesamtwissenschaft richtig einzufügen. Die Aufgabe als solche ist nicht mehr zu leugnen; bestritten könnte nur werden, aber zum Schaden des Ganzen, daß sie in erster Linie der Erdkunde zufällt. Denn die Geopolitik ist tatsächlich d a ; und es sind, seit Kjellén ihr einmal die ersten Begriffe geprägt hat, zweifellos Geographen gewesen, die am meisten Positives für sie getan haben. Kjellén hat diese Begriffsprägungen auf Ratzels Spuren vorgenommen ; Mackinder hat einige großartige Zusammenfassungen rein geopolitisch gefügt; Sieger hat systematisch, namentlich in seinen Grenzarbeiten, Krebs systematisch und chorologisch, namentlich in seinem Süddeutschland, Vogel mehr historisch in seinem Neuen Europa und seiner politischen Geographie, Bowman in The New World für die ganze Welt geopolitisch Stoff gesichtet; Dix und Wütschke haben ihn politisch belebt, Unold und Schallmayer biologisch ; die technische Form der Kurvenmethode hat Glockenmeier, die kartographische vor allem die Wiener Schule (Peucker), aber auch die deutsche Grenzlandarbeit praktisch aufgefrischt. Die Sammlungen von Grothes angewandter Geographie, die Veröffentlichungen von John Maynard Keynes und einige der neueren Teubnerschen Landeskunden bewegen sich in geopolitischer Richtung, ebenso wie die kleinen Ausgaben der Jedermann-Bücherei von Hirth, die sich — wie die ausgezeichnete Darstellung des griechischen Lebensraums von Maull — so selbstverständlich dem neuen Bau einfügen lassen, weil sie schon vorahnend in seinem Geist errichtet und zugerichtet sind. Trotzdem scheint es für einen Versuch zusammenfassender Systematik in der Geopolitik noch zu früh zu sein, die freilich immer umstritten und umstreitbar sein wird. Bieten doch Ratzel und Kjellén zunächst noch unverarbeiteten Stoff, nachzuprüfendeTheorie genug ! Auf ihren Grundrichtungen werden nun zunächst ausbauend anzusetzen haben: erweiterte Einzelausarbeitungen, Länderkunden mit geopolitischem Zug, Darstellungen von Meeresräumen und ihren Uferlandschaften (bis einmal z. B. alle Mittelmeere ähnlich durchgearbeitet sein werden, wie das romanische von Philippson), und andererseits durchbildende, vorbereitende Behandlung von Einzelfragen der allgemeinen Geopolitik, wie sich das die Zeitschrift für Geopolitik zunächst zum Ziel gesetzt hat (Lautensach). Dabei wird die gleichgerichtete Leistung im Ausland sorgfältig zu beachten sein und darf zukünftig nicht so unbemerkt mitteleuropäischer Beobachtung entschlüpfen, wie etwa die Schriften von Chéradame, der schon 1902 die Vernichtung der österreichisch-ungarischen Monarchie in der école de politique akademisch lehrte, wie sie sich nachher von 1914 bis 1919 vollzog. Man darf sich auch nicht von geopolitischer Gegenarbeit überraschen lassen, wenn sie in so monumentalen Leistungen, wie in der Encyclopaedia britannica auftritt und bei Lord Bryce kommende Kulturgemeinschaften angelsächsischer Weltzusammenhänge mit gewaltiger politischer Tragweite ankündigt. Aus einer doppelten Einsicht, daß bei uns in Deutschland die schöpferische, geistige Vorarbeit in einem ganz ungeahnten Umfang tatsächlich schon geleistet ist, daß aber nicht wir, sondern praktischer veranlagte
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Fremdvölker bisher die Früchte dieser Vorarbeiten im Verein mit eigener, zielbewußter T&tigkeit geerntet haben, entspricht für uns die Forderung: Die allgemeine Geographie müsse die junge Geopolitik als eine Fortbildung der politischen Geographie in ihrem Bau zulassen; sie müsse sogar ihr Grundrecht auf den Ableger behaupten, indem sie in wissenschaftlich vollendeten und womöglich auch künstlerisch reizvollen Formen ausgezeichnete Gesamtdarstellungen einzelner Erdräume (Länder, Reiche) und größere Zusammenfassungen (Mittelmeergebiet, Monsunländer, Tropen, Ozeane usw.) in geopolitischer Beleuchtung bringt. Denn sie behauptet ihr Recht am besten, wenn andere Wissenszweige, wie Staatswissenschaft und Recht, für den p r a k t i s c h e n Gebrauch des politisch Schaffenden nichts besseres zubringen vermögen, ganz einfach deshalb, weil keine andere Wissenschaft über eine so sichere Grundlage des Erdbildes und der darin dauernd wirksamen Einflüsse verfügt, keine so, wie sie, beide Quellströme, den geistes- und naturwissenschaftlichen ineinander leiten kann. Wir brauchen für unsere zukünftige außenpolitische Wiederaufbauarbeit das geopolitische Standwerk, von überlegener Landeskenntnis und gründlicher wissenschaftlicher Schulung zugleich geschaffen, wie es (wenn auch ohne eigentlich geopolitische Etikettierung), die Angelsachsenwelt hervorgebracht hat, wenn auch in einseitiger Zweckbestimmung, wie es Frankreich zunehmend anstrebt und auch das östliche Inselreich schon hervorzubringen beginnt. Es muß auf landeskundlichem Boden erwachsen; wer es schafft, sollte „vom Bau" der allgemeinen Erdkunde sein, mindestens mit ihren Methoden und ihrer Fachsprache vertraut, und auf der anderen Seite praktisch bewährt, durch produktive oder Organisationsarbeit, sowohl in dem zu schildernden als in dem zu belehrenden Erdraum. Diese Art Standwerk ist es, was wir neu schaffen und stets auf dem Laufenden erhalten müssen, mehr als bisher dabei dem Bedarf der Gegenwart, wie der zu gestaltenden Zukunft dienend. Bisher standen wir, als ein vorwiegend von Juristen regiertes Volk, zu sehr unter dem Bann der lex lata, dachten mehr philologisch und historisch als naturwissenschaftlich in politischen Dingen, und blickten zu viel zurück, statt vorwärts. Darüber haben wir um die Jahrhundertwende den Anschluß an die Zukunft der sich neu organisierenden Welt verloren, weil wir mehr retrospektive als prophylaktische Politik trieben. Solcher Einstellung gegenüber gilt aber leider: Ducunt volentem, nolentem trahunt fata! Wir haben es erfahren Wie wir nun aus dem verengten Lebensraum weltüber wieder Freifahrt gewinnen, mit welchem Wissen und Können dafür durch unser Weltbild ausgestattet, das haben wir schließlich auch heute noch in der Hand. Neben dem geopolitischen Schrifttum für die einzelnen wichtigen Lebensund Wanderräume der Erde muß vor allem das Wissen von der Grenze aus dem allgemeinen geopolitischen Fragenkreis herausgehoben und nachdrücklich fortentwickelt werden, ebenso die Voraussetzungen der Selbstbestimmung in Volksdruck und Lebensraum, ländlicher und städtischer Siedelungsverschiebung, in sorgfältiger Beobachtung aller Vorgänge von Machtverlagerung rings um die Erde.
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J e enger der Boden eines Volkstums wird, um so weitsichtiger muß man Wacht für das Wenige halten, um so sicherer muß das Verhältnis zu ihm durch Bewußtheit und Erkenntnis werden; desto dringender nötig ist auch Kenntnis der andern Lebensräume zum immerwährenden, mahnenden Vergleich, zum Erspähen jeder Möglichkeit der Wiederausdehnung, wenigstens der erhaltenden und erwerbenden Arbeit. Intensiver, nicht extensiver (wie z. B . unsere Landwirtschaft tatsächlich leider wurde, trotz allem Sozialgesetzgerede und Salonbodenreformertum derer, die in Wirklichkeit die schwere, zwölf- und mehrstündige Landarbeit scheuten!) muß vor allem die geographische und geopolitische Arbeit mit dem verstümmelten Heimatboden werden. „Vertiefung" in ihn ist nötig, so wie sie Ratzel versteht, schmerzhaftes, trotziges Festklammern an das Verbliebene, damit nicht außer dem Straßburger Dom und den oberschlesiBchen Industriebauten auch noch Köln und Trier und die Rührwerke verloren gehen, und wir schließlich nur mehr Ostjudenfilter zwischen Romanentum und Slawenwelt bleiben 1 „Fremde Völker zu sehen, wie sie wirklich sind, nicht, wie man sie sich träumt" und durch kluge und tapfere Wahrnehmungen der Daseinsmöglichkeit zwischen ihnen dem heiligen Heimatboden künftig zu ersparen, „was zu allen Zeiten als schmählich gegolten h a t " — ohne alle Zukunftsfragen tollkühn auf eine Karte zu setzen, ohne sich auf Gedeih und Verderb Mächten zu verbinden, die andere aus geopolitischer Prüfung schon ein halbes Jahrhundert vorher mit ihrem hippokratischen Zug erkannt hatten — aus diesen zwei gelegentlich hingeworfenen Worten von Drygalski sind mir zwei erste Richtfeuer zu dieser geopolitischen Arbeit aufgeflammt. Sehr bescheidene für den Anfang weitausschauender Fahrt: „Sehen, was i s t " — aber auch „Fernhalten von allem, was Volksehre nicht ertragen darf" — dennoch fehlt es noch weit, daß der Kurs unseres Staatsschiffes zwischen beiden hohe See gewänne. Aber: „Material, Munition, Cadres, Instruktion, alles fehlt uns, wir haben nichts als unsere V a t e r l a n d s l i e b e . . . " so schrieb, am 21. 10. 1870, in verzweifelter Lage der künftige Kommandant der französischen Nordarmee an den Chef seinér Landesverteidigung, siegreiche Gegner vor sich, neutrales Land auf Schußweite hinter sich, und ein halbes Jahrhundert später standen seine Enkel östlich des Rheins in einem entwehrten Deutschland mit dem drittgrößten Kolonialreich der Erde — und dazwischen liegt die Entwicklungsperiode der politischen Geographie und der Geopolitik in Frankreich!
Zur politischen Geographie der deutschen Minderheiten. Von
HERMANN RÜDIGER. Die Feststellung der Tatsache, daß sich die geographische Forschung und Literatur hinsichtlich der Erkundung und Behandlung des Auslanddeutschtums bis vor kurzem fast durchweg gleichgültig, wenn nicht ablehnend verhalten hat, ist als eine wichtige Selbsterkenntnis und damit vielleicht auch als der erste Schritt zur Besserung zu bewerten 1 ). Es sei gleich von vornherein anerkannt, daß sich in der neuesten schulgeographischen Literatur das heiße Bemühen zeigt, hierin nachzuholen, was früher versäumt wurde. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß die geographische Erforschung des Auslanddeutschtums von der Schule wohl wertvolle Anregungen erfahren, aber niemals auf eine feste wissenschaftliche Grundlage gestellt werden kann. Daß die Einführung des Begriffs »Auslanddeutschtum« in die Geographie etwas absolut Neues zu sein scheint, mag vielleicht überraschen. R a t z e l kennt ihn nicht, obgleich er an zahlreichen Stellen seiner »Anthropogeographie« von der deutschen Auswanderung, von den Deutschen in Nordamerika, in Osteuropa, in Ungarn spricht und hervorhebt, daß sich Deutsche und Deutschland nicht decken. In seiner »Politischen Geographie« 2 ) stehen Boden und Raum durchaus im Vordergrund, das Volk tritt ganz zurück und daher naturgemäß auch das deutsche Volkstum im Ausland. Ratzel hebt einmal 3 ) die 200000 Deutschen in Siebenbürgen, die 2500 in der Dobrudscha besonders hervor, nennt sie »eine körperliche Darstellung der Volkskraft ihres Mutterlandes« und spricht von dem »Gewebe von geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ausgewanderten und Zurückgebliebenen«, aber zu einer systematischen Betrachtung dringt er nicht vor. Und was wir bei Ratzel vergeblich suchen, das vermissen wir genau so in einem ganz modernen Werk wie Ewald B a n s e s »Lexikon der Geographie« (1923), trotzdem wir gerade Banse nicht eine einseitige Einstellung auf Raum, Boden und Staat nachsagen können; hebt er doch an einer anderen Stelle 4 ) ausdrücklich hervor, Vgl. „Der A u s l a n d d e u t s c h e " , Jahrg. VI, Nr. 17 (Stuttgart 1923), „Geographie und Auslanddeutschtum", insbesondere die Aufsätze von H e t t n e r und Rüdiger. *) R a t z e l , Politische Geographie, 3. Aufl., München und Berlin 1923, z. B. S. 25. ») R a t z e l , a. a. O. S. 312. 4 ) „Neue Geographie", Jahrg. III, Heft 9, S. 14 (Braunschweig 1924).
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daB R a s s e u n d V o l k s t u m gewiß nur « i n e Seite unserer Aufgabe sind, aber die g r u n d l e g e n d e , aus der sich die anderen ergeben. Erst A. H e t t n e r 1 ) h a t zuerst Leitlinien zur geographischen Auffassung des Auslanddeutschtums aufzustellen versucht. Er sieht die geographische Aufgabe gegenüber dem Auslanddeutschtum darin, »die Auswanderung und die Ausbildung eines besonderen Volksstammes in Beziehung zur Landesnatur zu setzen, aus der Landesnatur heraus zu verstehen und ihre Rückwirkung auf die Landesnatur zu würdigen«. Hettner fordert die Untersuchung »jedes einzelnen deutschen Siedlungsgebiets in seinen geographischen und zwar sowohl physisch-geographischen wie Verkehrs-, wirtschafts- und politisch-geographischen Bedingungen. Knüpfen wir an diese klar formulierte Forderung Hettners an, so gelangen wir zu der Frage, inwieweit die Begriffe » A u s l a n d d e u t s c h t u m « und » j e d e s e i n z e l n e d e u t s c h e S i e d l u n g s g e b i e t « übereinstimmen, ob mit der geographischen Erforschung der einzelnen deutschen Siedlungsgebiete das ganze Auslanddeutschtum erfaßt wird und ob sich überhaupt das ganze Auslanddeutschtum geographisch erfassen läßt. Dafür ist es notwendig, zunächst darüber Klarheit zu gewinnen, was wir unter A u s l a n d d e u t s c h t u m verstehen. Daß dieser Begriff geschichtlichen und politischen Veränderungen unterworfen ist, ist selbstverständlich, kann aber hier außer acht gelassen werden. Nehmen wir zunächst die schematische Gliederung des deutschen Volkes, wie sie z. B. F i t t b o g e n 2 ) gibt: Deutsches Volk
Reichsdeutsche
Inlanddeutsche
Nicht- Reichsdeutsche (Auslanddeutsche im weiteren Sinne)
AuslandReichsdeutsche
Grenzdeutsche
Auslanddeutsche
Zum Auslanddeutschtum gehören also nach diesem Schema drei verschiedene Gruppen: a) A u s l a n d - R e i c h s d e u t s c h e , das sind die Bürger des Deutschen Reiches, die außerhalb der politischen Grenzen des Deutschen Reiches wohnen, aber staatsrechtlich Angehörige des Reiches sind. Sie nennen sich selbst vielfach Auslanddeutsche und werden auch von anderen so genannt. Ihre Kinder besitzen häufig eine doppelte Staatsangehörigkeit, weil sie nach den Gesetzen des Landes, in dem sie geboren sind und wohnen, auch dessen Staatsbürgerschaft erlangt haben. ») „Der Auslanddeutsohe", Jahrg. VI, S. 474 f. ') Verein für das Deutschtum im Ausland, Jahrbuch für 1922, S. 216 (Berlin).
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Hermann Rädiger.
b) G r e n z d e u t s c h e sind — nach Fittbogen u . a . — die Bewohner der Gebiete, die durch die Friedensverträge von Versailles und St. Germain vom Deutschen Reich und von Österreich abgetrennt wurden, die zum g e s c h l o s s e n e n d e u t s c h e n S p r a c h g e b i e t M i t t e l e u r o p a s gehören. Sie sind, wie Fittbogen ganz richtig sagt, rein logisch genommen, jetzt Auslanddeutsche. c) A u s l a n d d e u t s c h e sind demnach alle übrigen, die außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes von Mitteleuropa wohnen und nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die Anführung und Definition dieser drei Gruppen zeigt, daß sie begrifflich schwer voneinander zu trennen sind. A u s l a n d - R e i c h s d e u t s c h e und A u s l a n d d e u t s c h e sind nur staatsrechtlich voneinander verschieden, räumlich sind sie nicht scheidbar. Die Scheidung von G r e n z d e u t s c h e n und A u s l a n d d e u t s c h e n scheint in geographischer Hinsicht glücklicher zu sein, aber in Wirklichkeit erzeugt sie nur Verwirrung. So rechnet N a w i a s k y 1 ) zum Gürtel der Grenzdeutschen auch die Bewohner der Sprachinseln, die unmittelbar dem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet vorgelagert sind — daraus ergibt sich, wie wenig feststehend die Grenze zwischen beiden Gruppen ist. Ja, er zählt auch die Bewohner des S a a r g e b i e t e s zu den Grenzdeutschen, obgleich kein Zweifel darüber herrscht, daß sie staatsrechtlich zu den Reichsdeutschen gehören. Überhaupt ist die Bezeichnung » G r e n z d e u t s c h e « oder » G r e n z l a n d d e u t s c h e « in wissenschaftlicher Hinsicht nicht exakt genug, da sie ohne weiteres auch auf die Reichsdeutschen an den Grenzen i n n e r h a l b des Reiches anwendbar ist. Die Unterscheidung von Grenz- und Auslanddeutschen mag vom n a t i o n a l p o l i t i s c h e n S t a n d p u n k t aus ihre Berechtigung haben, indem jene zumeist den Wunsch haben, mit dem Reich politisch vereinigt zu werden, während diese nur das unpolitische Interesse der Pflege des Volkstums erfüllt. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die obige Gliederung für die geographische Forschung keine brauchbare Grundlage bildet. Für sie genügt zunächst die einfache Scheidung: Deutsche im Reich = Inlandd e u t s c h e , Deutsche außerhalb des Reiches = A u s l a n d d e u t s c h e . Sind nun die Auslanddeutschen in ihrer Gesamtheit und in ihren einzelnen räumlich getrennten Gliedern gleichermaßen O b j e k t d e r g e o g r a p h i s c h e n F o r s c h u n g ? Die etwa 4500 Deutschen in Finnland und die vielleicht 100000 Deutschen in Holland genau so wie die Millionen Deutsch-Amerikaner, die mehr als 3 Millionen Deutsche in der Tschechoslowakei, die Hunderttausende in Ungarn, Südslawien, Rumänien und anderen Staaten ? Sie statistisch zu erfassen, sie kartographisch darzustellen, besteht — abgesehen natürlich von zahlreichen praktischen und theoretischen Schwierigkeiten — überall die wissenschaftliche Möglichkeit, ja es ist sogar eine durchaus notwendige Pflicht, dies zu tun. Aber einen geographischen Faktor stellen die Deutschen z. B. in Finn') H. Nawiasky, Gesamtüberblick über das Deutschtum außerhalb der Reichsgrenzen, München 1922, S. 7.
Zur politischen Geographie der deutschen Minderheiten.
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land und Holland nicht dar, so groß ihre kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung auch sein mag. Um für die geographische Behandlung des Auslanddeutschtums festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, scheint es mir notwendig, einen neuen Begriff auch in die geographische Betrachtungsweise einzuführen, einen Begriff, der den Staatswissenschaften, der Statistik und der Rechtslehre schon durchaus geläufig ist, den der v ö l k i s c h e n M i n d e r h e i t . Ganz allgemein versteht man unter Minderheiten oder Minoritäten »die Menschengruppen, welche einer Rasse, einer Religion angehören oder eine Sprache besitzen, die von derjenigen der Majorität des betreffenden Landes verschieden ist«. Selbstverständlich h a t es solche Menschengruppen immer gegeben, und H e l m e r R o s t i n g 1 ) , dem wir die angeführte Definition verdanken, weist darauf hin, daß die Geschichte des Fremdenrechts bis auf die ursprünglichen Rechte der Gastfreundschaft im Altertum zurückgeht, und daß auch der Kampf der Menschheit um ihre Gewissensfreiheit, und daß die Geschichte der religiösen Toleranz eng mit der Geschichte der Minoritäten verbunden ist. Wenn Rosting die Minderheiten in zwei Kategorien einteilt, in Staatsangehörige einer fremden Macht und in Staatsangehörige desselben Landes, so ist diese Zweiteilung an sich durchaus richtig, aber für unsere Zwecke nicht von ausschlaggebender Bedeutung. In der Begriffsbestimmung, die H. W i l l ms 2 ) gibt, fehlt diese Zweiteilung auch bewußt. Seine Definition lautet: »Völkische (oder nationale) Minderheiten sind Staatsangehörige Personengruppen, welche nach ihrer völkischen Eigenart, die durch Abstammung, Sprache, Bekenntnis, Geschichte, Recht und Sitte bestimmt wird, nicht zu dem eigentlichen Staatsvolke oder den anderen im Staatsverbande vereinigten Völkern gehören.« Hier ist also ausdrücklich nur von »Staatsangehörigen Personengruppen« die Rede. Demgegenüber finden wir in anderen Definitionen — Th. N i e m e y e r , P h . Z o r n , F. B o r d i h n 3 ) — wieder die Einschränkung: Personengruppen, die die Staatsangehörigkeit besitzen o d e r doch dauernd im Staatsgebiet wohnen, aber lediglich diese Einschränkung, ohne daß deswegen eine Zweiteilung formuliert wird. Und das scheint mir das Richtige zu sein. Nur ein Gesichtspunkt ist bei Willms zu wenig oder gar nicht berücksichtigt, je nachdem, ob das von ihm angeführte » B e k e n n t n i s « als r e l i g i ö s e s oder v ö l k i s c h e s Bekenntnis zu verstehen ist. Gerade das völkische Bekenntnis ist aber von ausschlaggebender Bedeutung, sowohl beim Einzelindividuum wie bei Szagunn, Forderungen und Anklagen völkischer Minderheiten im neuen Europa, Berlin 1923, S. 6 ff. l ) P o l i t i s c h e s H a n d w ö r t e r b u c h , Leipzig 1923, Bd. II, S. 121 ff. 3 ) Th. N i e m e y e r , Der Völkerbundsentwurf der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Berlin 1919. (Monographien zum Völkerbund, Heft 1.) S. 142. Ph. Zorn, Der Völkerbund. Berlin 1919. (Monographien zum Völkerbund, Heft 5.) S. 56. F. Bordihn, Das positive Recht der nationalen Minderheiten. Berlin 1921. (Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, Heft 2.) S. 83/84.
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Hermann Rüdiger.
der Gesamtheit einer Minderheit; zum Beispiel: Ein einzelner, der einen slawischen Namen hat und slawischer Herkunft ist, kann sich trotzdem als Deutscher bekennen; eine ganze Generation, die andersnational erzogen wurde und ihre deutsche Muttersprache kaum noch beherrscht, kann sich trotzdem wieder zum Deutschtum bekennen. Also nicht nur die v ö l k i s c h e E i g e n a r t , sondern auch das völk i s c h e B e k e n n t n i s , d. i. der Wille, ein völkisches oder nationales Eigenleben zu führen, sind von ausschlaggebender Bedeutung 1 ). Und endlich genügt der Wille allein noch nicht, er muß in die T a t umgesetzt und zur Wirklichkeit werden, er muß lebendigen Ausdruck finden im Zusammenschluß, in der O r g a n i s a t i o n . Diese theoretische Auseinandersetzung war notwendig; denn erst wenn man über den Begriff der Minderheit im klaren ist, kann man überhaupt an eine geographische Betrachtung der deutschen Minderheiten herangehen. Die Einführung des Minderheitenbegriffs auch in die Geographie hat zunächst den einen großen Vorteil, daß man die Staaten, die eine deutsche Mehrheit haben, klar von denen scheiden kann, die nur eine deutsche Minderheit besitzen. Für die Geographie der Minderheiten scheiden also von vornherein die Staaten aus, in denen die Deutschen die M e h r h e i t bilden: das Deutsche Reich, Deutsch-Österreich und die Schweiz, ferner Danzig, Liechtenstein und Luxemburg. Und einen zweiten Vorteil bietet die Einführung des Minderheitenbegriffs. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns über die bisher allein übliche bevölkerungsund siedlungsgeographische Betrachtung des Auslanddeutschtums zu erheben, nicht mehr die auslanddeutschen Siedlungsgebiete lediglich als ein Anhängsel an die Länderkunde irgend eines Landes oder Staates zu behandeln, sondern bis zu einer politischen Geographie der einzelnen deutschen Minderheit als eines Ganzen oder doch als Teil eines Ganzen vorzudringen. Um nun für die politische Geographie der deutschen Minderheiten eine brauchbare Grundlage zu finden, ist es notwendig, festzustellen, wo zunächst rein zahlenmäßig deutsche Minderheiten leben und wo diese auf Grund ihres völkischen Willens, der in ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisationen zum Ausdruck kommt, auf die Bezeichnung »deutsche Minderheit« Anspruch erheben können. Die folgende t a b e l l a r i s c h e Ü b e r s i c h t , deren Zusammenstellung meines Wissens bisher noch nirgends versucht bzw. veröffentlicht wurde, soll dazu die Möglichkeit bieten (S. 110—114). Die Zahlen für die Landeseinwohner sind abgerundet angegeben. Die Zahlen der Deutschen beruhen zumeist auf Schätzungen und geben daher nur die mutmaßliche Stärke der Deutschen an. Wo neue Volkszählungsergebnisse mit Angabe der Nationalität vorliegen, ist der Wert derselben meist zweifelhaft, da die Staatsnation, die die Zählung veranlaßt und durchführt, in den meisten Fällen kein besonderes Interesse an der objektiven Feststellung der Stärke der deutschen Minder1 ) Edmund S c h m i d , Wie können nationale Minderheiten geschützt werden? Berlin 1920. (Schriften über Minderheitenschutz, Heft 1.) S. 11 u. a. F. Bordihn, a. a. O. S. 78.
Zur politischen Geographie der deutschen Minderheiten.
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heit hat. Einwandfreie Ergebnisse werden sich erst nach Einführung des freiwilligen oder zwangsmäßigen nationalen Katasters erzielen lassen, der wiederum von der Gewährung politischer oder doch zum mindesten kultureller Selbstverwaltung (Autonomie) abhängig ist. Die Hauptarbeit der tabellarischen Übersicht steckt in der Feststellung der einzelnen Organisationen. Diese Arbeit war nur möglich mit Hilfe der mir zur Verfügung stehenden umfangreichen Archive und Sammlungen des Deutschen Ausl a n d - I n s t i t u t s in S t u t t g a r t . Die Tabelle stellt einen ersten Versuch in dieser Richtung dar und weist naturgemäß Lücken und Fehler auf; für sachliche Berichtigungen und ergänzende Angaben bin ich stets dankbar. Oft war es außerordentlich schwierig zu entscheiden, welche Organisationen aufzunehmen und welohe fortzulassen sind; auch die Einordnung mancher Organisationen in die eine oder andere der drei Spalten ist nicht immer leicht zu entscheiden. Im allgemeinen wurden nur Kopf- oder Spitzenorganisationen aufgenommen; nur wo diese fehlen, mußten ausnahmsweise auch andere aufgeführt werden. Im ganzen bietet die Tabelle eine b r a u c h b a r e G r u n d l a g e f ü r e i n e G l i e d e r u n g der d e u t s c h e n M i n d e r h e i t e n . Die e r s t e G r u p p e umfaßt die Minderheiten, die p o l i t i s c h organisiert sind, die ihre eigenen parlamentarischen Vertretungen haben und die daneben auch mehr oder weniger geschlossene und umfassende Organisationen auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete besitzen. Hierzu gehören die deutschen Minderheiten der folgenden Staaten: D ä n e m a r k (d. h. in Nordschleswig), I t a l i e n (d. h. in Südtirol), E s t l a n d , L e t t l a n d , L i t a u e n (Memelgebiet und Altlitauen), P o l e n , T s c h e c h o s l o w a k e i , R u m ä n i e n , S ü d s l a w i e n . Ebenfalls hierher zu rechnen ist R u ß l a n d , wenn auch nicht in seinem ganzen Umfang, wo von Staatswegen die Autonome Republik der Wolgadeutschen und auch in der Ukraine autonome deutsche Bezirke geschaffen wurden. Die z w e i t e G r u p p e umfaßt diejenigen Minderheiten, die zwar zum Teil umfassender oder lokaler Organisationen nicht entbehren, aber politisch n i c h t organisiert sind. In U n g a r n und in S ü d w e s t a f r i k a (letzteres heute Mandatsgebiet der Südafrikanischen Union) ist zweifellos, nachdem kulturelle Zentralorganisationen nunmehr im Entstehen sind, die politische Organisierung nur noch eine Frage der Zeit. Schwieriger in dieser Hinsicht liegen die Verhältnisse in F r a n k r e i c h (d. h. Elsaß-Lothringen), in B e l g i e n (Eupen-Malmedy und Altbelgien), in den V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a , in B r a s i l i e n und C h i l e . Der m a n g e l n d e p o l i t i s c h e E i n f l u ß dieser Minderheiten ist ihr gemeinsames Kennzeichen und unterscheidet sie von der ersten Gruppe, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß Bestrebungen im Gange sind, wie sie z. B. vor den jüngsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen in die Erscheinung traten, die in dieser Hinsicht Änderungen hervorrufen können. Zu der d r i t t e n G r u p p e gehören alle übrigen deutschen Minderheiten, die zwar im einzelnen wohl noch gute Organisationsformen aufweisen können, aber im großen und ganzen w e i t v e r s t r e u t sind oder n u r l o k a l e B e d e u t u n g haben. Man kann im Zweifel sein, ob man A r g e n t i n i e n zu dieser Gruppe rechnen soll. Doch stelle ich es deswegen hierher, weil, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eigentliche deutsche Siedlungen,
Hermann Rüdiger.
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Bergschrund und Randkluft. Von
LUDWIG DISTEL. Mit Tafel 5. Neben den Gletscherspalten im engeren Sinn treten in vereisten Gebirgen mit großer Regelmäßigkeit zwei Arten von Klüften auf, der Bergschrund und die Randkluft. An ihr Vorhandensein knüpfen sich formengestaltende Wirkungen, welchen in jüngster Zeit wieder etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Erörterungen darüber lassen aber zuweilen die nötige Klarheit vermissen, da die beiden Begriffe öfters nicht genügend getrennt werden. Bereits Mousson (Die Gletscher der Jetztzeit, S. 74—77) scheidet scharf zwischen Bergschrund oder „Randkluft der Firnmulden" und Randkluft des Gletschers, leistet aber durch das Synonymaetzen von Bergschrund mit Randkluft der Firnmulden einer Verwechslung, vor welcher er selbst warnt, Vorschub. Heim (Handbuch der Gletscherkunde, S. 199) spricht von Bergschrund oder Randkluft der Firnmulden auch dann, wenn die eine Kluftwand von Firn, die andere von Fels gebildet wird. Bei Heß (Die Gletscher, S. 159 f.) wird Randkluft im Sinne von Bergschrund gebraucht. Auch in der morphologischen Literatur werden beide Ausdrttoke als Bezeichnungen für verschiedene Erscheinungen nicht immer auseinandergehalten. Ohne das weitschichtige Schrifttum in dieser Beziehung durchsehen zu wollen, sei nur daran erinnert, daß E. Richter in seinen morphologischen Beobachtungen aus Norwegen (S. 166, 157) und in seinen geomorphologischen Untersuchungen in den Hochalpen die Randkluft mit Bergschrund bezeichnet (S. 8), trotzdem er sich über das Wesen des letzteren vollkommen im klaren ist (S. 58). In welchem Sinn W. T. Johnson, Th. C. und B. T. Chamberlin die Bezeichnung Bergschrund fassen, konnte ich nicht einwandfrei ersehen. W. M. Davis (Die erklärende Beschreibung der Landformen, S. 419) meint anscheinend die Randkluft, wenn er von Bergschrund spricht. Sölch (Kendes Handbuch, S. 201) setzt Randkluft gleich Bergschrund; in einer späteren Veröffentlichung (Zeitschr. f. Gletscherkde. XII, 1921, S. 29) weist er auf den schwankenden Sprachgebrauch hin, hält aber im folgenden an einer strengen Unterscheidung nicht fest. Diese Beispiele, die sich vermehren ließen, mögen die eingangs aufgestellte Behauptung begründen, daß vielfach eine Unsicherheit in der Terminologie besteht, die zu Irrtümern und Verwechslungen Anlaß geben kann. Es sollen daher zunächst die Begriffe festgestellt und erläutert werden. Der B e r g s c h r u n d kommt überall da zur Ausbildung, wo mächtigere, in Bewegung geratene Firnmassen sich von weniger mächtigen, am felsigen Untergrund haftenden losreißen. So ist besonders der Übergang von den mäßig geneigten Firnmulden zu den steilen firnbedeckten Hinterund Seitengehängen regelmäßig durch einen fortlaufenden Bergschrund D r y g a l s k l , Festgabe. 16
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Ludwig Distel.
markiert 1 ), welcher, aus der Ferne gesehen, die Umrisse der aus den Firnmulden aufragenden Gipfel und Grate abzeichnet 2 ). Stets befindet sich der Schrund etwas oberhalb der stumpfwinkeligen Verschneidung der Gipfelwände mit dem Boden der Firnmulden. Der bergwärts gelegene Kluftrand liegt beträchtlich höher und hängt in der Regel etwas über, da die obersten Schneelagen der Firnwand nachsacken (vgl.Taf. 5, Abb. 2). öfters ist nicht e i n Schrund vorhanden, sondern mehrere übereinander gelegene'). Eine R a n d k l u f t kann überall da zur Ausbildung kommen, wo Firn oder Eis an aperes (firn- und eisfreies) Gehänge grenzt. Jeder Lawinenrest, jeder den Sommer überdauernde Firnfleck von einiger Mächtigkeit ist im Herbst nicht selten durch eine mehr oder weniger breite und tiefe Randkluft vom schneefreien Gehänge getrennt. Es zeugt von einer außerordentlichen Regelmäßigkeit der Ursachen, daß perennierende Firnflecke in verschiedenen Jahren zu etwa gleichen Zeitpunkten bis in Einzelheiten die gleichen Umrisse besitzen. Nachdem mir schon öfters derartiges aufgefallen war, ohne daß mangels bildlicher Festhaltung aus früheren Jahren ein überzeugender Vergleich möglich gewesen wäre, wurde ich durch zwei für andere Zwecke in den Jahren 1903 und 1011 von ungefähr gleichem Standpunkt aus im zentralen Kaukasus aufgenommene Photographien geradezu überrascht. Als weiteres allgemein nachzuprüfendes Beispiel sei die Darstellung des Südabhanges der Zugspitze auf der Karte 1 : 10000 des Topographischen Bureaus in München genannt. Die photogrammetrischen Aufnahmen der Felsumrahmung des „Platts" gingen im August 1892 vor sich. Mitte August 1916 waren (von der westlichen Plattspitze gesehen) die auf der Karte eingetragenen Firnflecke nicht nur der Zahl nach vorhanden, sondern die einzelnen zeigten genau die gleichen Umrisse. Auf diese wunderbare Regelmäßigkeit sei die Aufmerksamkeit gelenkt, um zu zeigen, daß an solchen Vorkommen Jahr für Jahr die Randkluftbildung an den gleichen Stellen vor sich geht und daher die allenfalls von ihr ausgehenden gestaltenden Wirkungen sich summieren. Im z u s a m m e n h ä n g e n d e n F i r n g e b i e t tritt die Randkluft da auf, wo die Wände, welche aus den Firnmulden aufsteigen, so steil sind 4 ), daß es nicht zu dauerndem und zusammenhängendem Schneebelag kommen kann. Neuschnee, der besonders, wenn er naß fällt, in dünner Schicht auch an sehr steilen Hängen haften kann, gleitet in kurzem als Lawine zu Tal. U n t e r h a l b d e r S c h n e e g r e n z e begleitet die Randkluft gegen Ende der warmen Jahreszeit die Ufer der Gletscherzungen'), soweit nicht ineinander übergehende Ufer- und Seitenmoränen, sowie Gehängeschutt ihre Ausbildung verhindern; auch dem Eis entragende Felsinseln werden *) Vgl. u. v. a. Nordwand des Hochgall, Zeitschr. d. D. u. Ö. Alpen-Vereins 1911, S. 236; Thurwieserspitze, »Erschließung der Ostalpen«, Berlin 1894, Bd. 2, S. 132. 2 ) Wildspitze, »Erschließung der Ostalpen«, Bd. 2, S. 266. 3 ) Abhandlungen des Hamburger Kolon.-Inst., 22. Bd., 1914, Taf. 17, Abb. 32. 4 ) Das Weißhorn vom Matterhorn. Zeitschr. d. D. u. ö . Alpen-Vereins 1899, S. 168; die Meije von Süden, a. a. 0., 1903, Titelbild. •) Karies- und Mittelbergfemer, a. a. O., 1906, S. 264: Blaueis am Hochkalte!', a. a. O., 1915, S. 172.
Bergschrund und Bandkluft.
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gewöhnlich von Randklüften umgürtet sein. Die Randkluft entsteht im allgemeinen durch Abschmelzen des Eisrandes infolge Wärmestrahlung des aperen Gesteins. Als vorübergehende Erscheinungen treten Bergsehründe und Randkltifte im Winter und Frühjahr auch in unvergletscherten Gebieten, selbst in den Voralpen auf. Zu bergschrundartig'en Z e r r e i ß u n g e n kann es eben auf jedem Schneehang kommen, wenn die Massen mächtig genug sind, um in Bewegung zu geraten. Unter zahlreichen anderen örtlichkeiten sind mir durch wiederholte Besuche besonders die Erscheinungen in der Umgebung des Risserkogels bei Tegernsee (Ostabhang des Rötenstein und Ostabhang des Kammes zwischen Setzberg und Grubereck, vgl. Topographischer Atlas von Bayern 1 : 50000, Nr. 91, Ost) gegenwärtig, die in dem sohneereichen Winter 1907 zu außergewöhnlicher Ausprägung kamen. Es waren bis 5 m klaffende und bis auf den Untergrund gehende Zerreißungen vorhanden, welche eine Schneemächtigkeit von 3—4 m erkennen ließen; etwa 30 m unterhalb eines Abrisses warfen die abgesessenen Massen da und dort einen etwa parallel dem Abriß streichenden Wulst auf. Der Grund der Schründe zeigte, daß durch das Absitzen der Schneemassen die Grasnarbe nur wenig leidet. Wenn man trotzdem an den zeitweise schneebedeckten Osthängen der Voralpen weitgehende Zerstörung der Alpenmatten antrifft, so kommen dafür andere Ursachen in Betracht, auf welche in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden kann. Daß R a n d k l ü f t e nach einer Reihe sonniger Tage in den felsigen Revieren der winterlichen Voralpen sich bilden, besonders am Fuße von Wandpartien, die nach Süden und Westen ausliegen, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Eine Randkluft kann nie zu einem Bergschrund werden, da die über ihr aufragenden Felsen zu steil sind, um einem dauernden Schneebelag Halt zu gewähren. Manche Bergsehründe aber können zeitweise als Randklüfte zu charakterisieren sein, wenn nämlich die über ihnen aufragenden firn- und eisbedeckten Wände ausapern. In besonderem Grade war dies seit Menschengedenken in den Alpen gegen Ende des ausnehmend warmen und trockenen Sommers 1911 der Fall. Selbst nach Norden sehende Firn wände, z. B. des Thurnerkamp und Hochfeiler in den Zillertaler Alpen, des Hochgall in der Rieserfernergruppe, sollen damals ausgeapert und damit der Bergschrund an ihrem Fuß vorübergehend zu einer Randkluft geworden sein. An vielgegliederten Bergflanken mit häufigem Böschungswechsel können Randkluft und Bergschrund auf kurze Entfernung in horizontaler Richtung miteinander wechseln (vgl. Taf. 5, Abb. 1). Zuweilen trifft man ü b e r dem Bergschrund eine Randkluft, nämlich dann, wenn der Hang über dem Schrund steiler und steiler wird, so daß der Firnbelag schließlich auskeilt. Auch diesen Fall zeigt Abb. 1. Man kann der Mannigfaltigkeit in der Natur mit Worten nur unvollkommen gerecht werden, aber die vorausgehenden, an einfache Verhältnisse anknüpfenden Bemerkungen mögen im Verein mit den Hinweisen auf gute bildliche Darstellungen und der beigegebenen Tafel das Wesen und die Beziehungen der beiden Kluftarten klargelegt haben. Ob es zur Ausbildung der einen oder anderen kommt, hängt somit im allgemeinen vom Neigungswinkel des Gehänges ab. Die maximale Böschung für firnbedeckte Abhänge liegt um 50°, nur ausnahmsweise wird an erheblich 15*
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Ludwig Distel:
Bergachrund und Randkluft.
steileren Wänden noch dauernder und zusammenhängender Firnbelag angetroffen. Bergschrund und Randkluft werden bei Bergbesteigungen nach Möglichkeit gemieden, m ü s s e n sie passiert 1 ) werden, so bilden sie nicht selten bedeutende Hindernisse, deren Überwindung die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß über die Beschaffenheit in der touristischen Literatur wenig verlautet; denn man sucht über die kritischen, häufig auch von Steinschlag und Lawinen bestrichenen Stellen so rasch wie möglich hinwegzukommen. Nur bei besonderen Anlässen, die längeres Verweilen erzwangen, wurden ab und zu Einzelheiten über Ausmaße und andere Merkmale bekannt, Beobachtungen über die Vorgänge im Bereiche dieser Klüfte wurden in den Alpen aber meines Wissens bis vor dem Kriege nicht angestellt, man beschäftigte sich wesentlich nur deduktiv mit mutmaßlich vorhandenen morphologischen Wirkungen. Erst die harten Notwendigkeiten des Stellungskrieges im Hochgebirge brachten eine ungeahnte Gelegenheit, mit dem Wesen rezenter Bergschründe etwas näher vertraut zu werden 2 ). Im Herbste 1924 konnte ich Beobachtungen an Randklüften und ehemaligen Bergschründen nachgehen, deren Mitteilung zur Erklärung auffälliger Züge in zeitweise verfirnten und ehemals verfirnten Alpengebieten beitragen kann. *) Die trefflichen Zeichnungen E. T. Comptons in der Zeitsehr. des D. u. ö . Alpen-Vereins, 1894, S. 160—163 bringen gleichzeitig den Unterschied zwischen beiden Kluftarten aufs klarste zur Anschauung. 2 ) Zeitsehr. für Gletscherkunde XI, 1920, S. 156 f.
B e m e r k u n g e n zur Tafel 5. Abb. 1 gibt einen Ausschnitt aus der Umrahmung des Krimmler Keeses in der Venediger Gruppe (Hohe Tauern) nach einer Skizze von Dr. R. Haff gezeichnet von E. Platz. Abb. 2 zeigt einen der unteren Bergschründe unter dem Crestagüzza-Sattel (Berninagruppe). Die Aufnahme gehört dem Film: »Im Reiche der ewigen Wunder« an, der vom Internationalen Forschungsinstitut für wissenschaftliche Kinematographie hergestellt wurde.
Bodenflußerscheinungen im Frankenwald und im Vogtland. Von
ERICH MARTIN. Mit Tafel 6.
Mit besonderem Eifer hat eine Reihe von Geographen auch in den niedrigeren deutschen Mittelgebirgen nach Spuren einer eigenen diluvialen Vereisung gesucht. Zwischen dem riesigen nordischen Inlandeis und den Vorlandgletschern der Alpen vermutete man auch eine s e l b s t ä n d i g e E i s b e d e c k u n g d e r d e u t s c h e n M i t t e l g e b i r g e . Aber nur für einige der höchsten unter ihnen ließen sich einwandfreie Beweise erbringen (Kare mit Seen, Moränen). Für die Geschichte der morphologischen Forschung ist es übrigens interessant, daß noch im Jahre 1882 kein Geringerer als Jos. Partsch in seiner Arbeit über »Die Gletscher der Vorzeit in den Karpathen und den Mittelgebirgen Deutschlands« eine dicke selbständige Inlandeisdecke auf der im Durchschnitt 600 m hohen Rumpffläche des Frankenwaldes annahm. Die Beschreibung von zwei merkwürdigen Blocklehmablagerungen bei Wurzbach und bei Saalburg (Dathe im Jahrbuch der Preuß. Geol. Landesanstalt) verleitete Partsch zu dieser Stellungnahme. Andere Kenner glazialer Erscheinungen wie A. Penck und die kartierenden Geologen v. Gümbel und E. Zimmermann verneinten aber später die Möglichkeit glazialer Entstehung der fraglichen Erscheinungen. Ernstlich diskutiert wurden jedoch späterhin mutmaßliche Spuren lokaler Gletscher im Harz, Thüringer Wald, in der Rhön, auch im Rheinischen Schiefergebirge, Fichtelgebirge, Erzgebirge. Für den Thüringer Wald brachten Untersuchungen des Geographischen Institutes der Universität Jena im Sommer 1917 schließlich eine befriedigende Aufklärung: Die »Moräne« im Schneeti'egel am Fuße des Schneekopfes erwies sich nach den angestellten Grabungen als eine Bergschlipfmasse. Nun ist diese Stelle am Nordhange des Gebirges in der Nähe der höchsten Punkte (annähernd 1000 m) gerade besonders begünstigt, so daß für den Thüringer Wald und seine niedrigere Umgebung die Möglichkeit einer eigenen diluvialen Gletscherbedeckung als ausgeschlossen gelten dürfte. Nach der Feststellung auch anderer negativer Befunde ist nun leider für viele Geographen das bisher so rege Interesse an der eiszeitlichen Morphologie der betreffenden Gebiete erloschen. Das ist sehr zu bedauern; denn nun muß ja erst die Hauptfrage gestellt werden: Welche Kräfte haben die Landschaftsformen der Mittelgebirge während der Eiszeit umgestaltet ?
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Erich Martin.
Wenn wir versuchen wollen, eine Antwort zu geben, müssen wir einen Blick werfen auf Beobachtungen, welche man in Gebieten angestellt hat, die unter ähnlichen Verhältnissen stehen. Ich meine die u n v e r g l e t s c h e r t e n p o l a r e n L ä n d e r . Im reinen Felsgebiet spielt hier eine große Rolle die durch den Spaltenfrost hervorgerufene Zertrümmerung des Gesteins, »die periglaziale Fazies der m e c h a n i s c h e n V e r w i t t e r u n g « v. Lozinskis. (Bericht des 11. internationalen Geologentages. Stockholm, 1912). Der Nachweis dieser Erscheinung ist für die Mittelgebirge durch die Schriften des genannten Forschers gebracht worden; eine systematische Durchforschung der betreffenden Landschaften steht allerdings noch aus. Wo sich aber neben den Felsen Erdboden bilden kann oder ein solcher Boden vorhanden ist, zeigt sich eine andere Erscheinung, deren Übertragung auf unsere Gebirge bisher nur angedeutet worden ist. Es ist die Steigerung der Bodenversetzung zum B o d e n f l u ß (Solifluktiori). J. G. A n d e r s s o n : Solifluction, a component of subaerial denudation. The Journal of Geology, XIV, Chicago 1906. — S a p p e r : Erdfließen und Strukturboden in polaren und subpolaren Gebieten. Geolog. Rundschau, IV, 1913. — H ö g b o m : Über die geologische Bedeutung des Frostes. Bull, of the Geol. Institution of the University of Upsala, XII, 1913/14.
In den subpolaren Gebieten bleibt auch nach der Schneeschmelze der Untergrund des Bodens gefroren. In der kurzen frostfreien Zeit taut nur die alleroberste Bodenschicht auf. So ist der Boden Spitzbergens bereits in y 2 m Tiefe gefroren. E. v. Drygalski berichtet von einer Temperatur von —1° in einem Kohlenstollen Spitzbergens an einer Stelle, welche 200 m unter dem Berggipfel liegt (Die Zeppelinstudienfahrt nach Spitzbergen. Zeitschr. d. Ges. f. Erdk. z. Berlin, 1911). Eine gewaltige feste Unterlage dehnt sich also unter der auftauenden Bodenschicht aus. Der gefrorene Untergrund, der Eisboden oder die »Tjäle«, verhindert nun das tiefere Eindringen der Schmelz- und Regenwässer; der starkdurchtränkte, breiartige Bodenschutt muß daher auf dieser widerstandsfähigen Unterlage auch bei geringer Böschung ins Gleiten kommen. Auch große Blöcke, welche als Rückstände der chemischen Zersetzung oder als Teilstücke der von der mechanischen Verwitterung zersprengten Felsen in dem Schutt liegen, werden bei dem Bodenfließen mitgezogen. Durch ihre Schwere erreichen diese größeren Bestandteile vielleicht eine bedeutendere Geschwindigkeit, und durch das Auftauen und Gefrieren des Bodens werden die in der Erde liegenden Steine stets in die an der unteren Seite entstandenen Hohlräume sinken. Das transportierte Material kommt schließlich in Vertiefungen in Form von gletscherähnlichen Anhäufungen zur Ablagerung (Steinströme auf den Falklandinseln). Auch in unseren Breiten können solche Erscheinungen beobachtet werden. Wenn nach einer Frostperiode die oberste Bodenschicht auftaut, bildet sich ein loser Erdbrei, der schon bei geringer Nachhilfe leicht auf seiner eisigen Unterlage verschiebbar ist. Oft quillt dann auch der tauende Boden auf und bildet flache Buckel. Dies war recht deutlich beim Tauwetter im März 1924 nach einer außergewöhnlich langen Frostzeit zu sehen.
Bodenflußerscheinungen im Frankenwald und im Vogtland.
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Wie leicht feuchter Boden durch einen belastenden Druck in Bewegung gesetzt werden kann, zeigen ja die »Kuhgangeln« auf den alpinen Matten, besonders in ihren feuchteren Teilen. Im allgemeinen verhindert nun die Pflanzendecke, welche sich über der Bodenschicht ausspannt, ein nennenswertes Abwärtsrücken. An steilen Hängen aber können ganze Bodenstücke ins Rutschen kommen, so im Paßtale des Brenners auf der westlichen Seite südlich des Bahnhofes; die Grasdecke ist hier an verschiedenen Stellen gerissen, und an der unteren Grenze haben sich kleine Schuttgletscher gebildet. Es treten auch solche Erscheinungen auf, wenn eine natürliche oder künstliche Verletzung der Bodenschicht stattgefunden hat (an Prallhängen, bei Steinbrüchen und Straßeneinschnitten). Das Widerlager der unten liegenden Bodenmassen ist beseitigt, und die losen Massen müssen dann in Bewegung kommen. Unter äußerst günstigen petrographischen Verhältnissen kommt in den waldarmen Apenninen der Boden bei der geringsten Durchfeuchtung in Bewegung (Unglück von Amalfi 1924). Auch Götzingers Beobachtungen über das »Gekriech« im Wiener Walde erstrecken sich auf besonders geeignete Gesteine. — Wesentlich anders aber liegen die Verhältnisse in den meisten d e u t s c h e n M i t t e l g e b i r g e n . Von besonderen Umständen, wie Gleiten auf schlüpfriger Gesteinsunterlage (Schloß Banz), wollen wir hier absehen. In der Regel bilden nämlich die Gesteine einen festen unverrückbaren Block, und auch die Verwitterungsböden sind meist so fest gelagert, daß besondere Kräfte zu ihrer Fortbewegung gehören. Im bayerischen Frankenwald habe ich in einem sehr steilen Tälchen am Rodachsrangen bei Schwarzenbach am Wald eine interessante Beobachtung machen können. In 600 m Höhe sickert hier am Talbeginn in einer Breite von mehreren Metern das Wasser aus dem Boden. Bei dem langsamen Heraustreten ist das Wasser nicht imstande, den völlig durchnäßten Schutt mitzureißen. Er sammelt sich deshalb zu einem leicht rutschenden Brei, der beim Überschreiten unter den Füßen rasch abwärts gleitet. Sobald sich unterhalb das Wasser zu einem kleinen Bachlauf gesammelt hat, besitzt es an dem etwa 35 % geneigten Hange Kraft genug, das Zerstörungsmaterial mitzunehmen. — Für die Talhänge aber bin ich der gleichen Ansicht wie Passarge (Morphologie des Meßtischblattes Stadtremda. Hamburg, 1914). Unter der Vegetationsdecke ruht heute die Verwitterungsschicht. Passarge fand bei Stadtremda im Gehängeschutt unzerdrückte zartschalige Lößschnecken. Am Fuße der steilen Hänge der Täler im Schiefergebiet fehlen an der scharfen Grenze zwischen ihnen und dem flachen Talboden jegliche Schuttanhäufungen, welche der heute noch tätige Bodenfluß unter allen Umständen schaffen müßte. In einer vegetationslosen Zeit, während welcher der Boden dauernd oder zeitweise von Wasser durchtränkt war, muß aber die Bodenbewegung stattgefunden haben, auf welche das Hakenschlagen der in den Verwitterungsschutt übergehenden Schichten oder Schieferplatten zurückzuführen ist. Während der Eiszeit waren solche Verhältnisse gegeben. Nur kurze Sommer konnten die schneereichen Winter unterbrechen, und in ihnen füllte sich die aufgeweichte Bodendecke mit einer gewaltigen Wassermasse. Nach den tiefsten Stellen, also nach den Tälern hin, richtete sich die Be-
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Erich Martin.
wegung des Bodens, und dort muß sie schließlich zum Stillstand gekommen sein und ihre Ablagerungen hinterlassen haben. Wo fester Felsen noch über die Tjäle in den Verwitterungsschutt hineinragte, war er den gleitenden Massen sehr stark ausgesetzt, und die Schicht- und Schieferplattenköpfe konnten dann zu Haken umgebogen werden. Diese Deduktionen können durch eine Reihe von Funden gestützt werden. Schon 1916 hat Salomon auf »die Bedeutung der Solifluktion für die Erklärung deutscher Landschaftsformen« hingewiesen (Geolog. Rundschau VII) und Beobachtungen aus dem Odenwald mitgeteilt. Hier sollen nun S p u r e n e i s z e i t l i c h e n B o d e n f l u s s e s a u s d e m F r a n k e n w a l d u n d d e m V o g t l a n d beschrieben werden. Diese beiden Gebirge bilden geologisch und morphologisch eine Einheit, können also als ein einheitliches deutsches Mittelgebirge betrachtet werden. Es handelt sich um eine durch viele Täler gegliederte Rumpffläche, die sich vorwiegend aus Schiefern und Diabasen zusammensetzt, eine durchschnittliche Höhe von 600 m hat und in den höchsten Punkten noch nicht 800 m erreicht. In der Reihe der Mittelgebirge kann sie also als ein normales Glied gelten, so daß die Ergebnisse dieser Arbeit einer gewissen Verallgemeinerung fähig sind. Morphologische L i t e r a t u r Uber den Frankenwald und das Vogtland: Brönner: Beiträge zur Morphologie des ostthüringischen Schiefergebirges (Mitt. d. Geogr. Ges. Jena, 1914). — Martin: Beiträge zur Morphologie des Frankenwaldes (Geograph. Anzeiger, 1923). — Wohlrab: Das Vogtland als orographisches Individuum (Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, 1899). K a r t e n : Karte des Deutschen Reiches 1:100000, Bl. 466 Rudolstadt, 467 Greiz, 468 Zwickau, 491 Lobenstein, 492 Hof. Die dazu gehörigen preußischen, bayerischen und sächsischen Meßtischbl. sind sämtlich erschienen, desgleichen die preußischen und sächsischen g e o l o g i s c h e n Spezialkarten 1:25000 mit Erläuterungen. Im bayerischen Frankenwald ist die Umgebung von Bad Stebenim Maßstab 1:25000 von Karl Walther kartiert worden (Gerognost. Jahreshefte, XX, München, 1908).
Im Fichten- und Tannenwald versteckt fand ich im Frankenwald in einigen Kerbtälern in der Talmitte auffallende Schuttsammlungen, so im Quelltale der Lamitz in 600 m Höhe und in einem benachbarten, aus dem Kammerholz kommenden Quellgrunde der Langenau im bayerischen Frankenwalde in 570 m Höhe. Der letzte Schuttstrom ist 23 m lang und in seinem unteren Teil 7 m breit. Dem starken Gefälle des Tales entsprechend ist dieses untere breitere Ende stirnartig steil geböscht, während das obere viel weniger geneigt ist und schließlich in einer Spitze in der Talmitte ausläuft. Nach der petrographischen Beschaffenheit der Umgebung besteht der Schutt — soweit sich aus den völlig glatten Formen der Oberfläche und einigen Schürfungen Schlüsse ziehen lassen — aus einer ziemlich homogenen Verwitterungsmasse des kulmischen T o n s c h i e f e r s . Der Bachlauf des Tälchens beginnt erst unterhalb der Schuttanhäufung, so daß also ihre Erhaltung verständlich ist. Die Talkante ist am Talbeginne abgerundet, eine Erscheinung, die man übrigens bei vielen anderen typischen Kerbtälern beobachten kann. Nur in den steilen Tälern, in welchen die Tätigkeit des fließenden Wassers die Formen bis zum Talschluß beherrscht,
Bodenflußerscheinungen im Frankenwald und im Vogtland.
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haben wir scharf ausgebildete Kerbtäler mit deutlichen Talkanten. In unserem Tälchen aber muß eine flächenhaft wirkende Kraft die steile Mulde des Talendes geformt haben. Nun ist der Bodenfluß eine solche Kraft. Ich bin der Ansicht, daß die oberen, abgerundeten Bodenformen der Arbeit des Bodenflusses zugeschrieben werden müssen, während die scharfen Kerbformen ihre Entstehung der Erosion des gesammelten Wassers zu verdanken haben. Die Erdmassen, welche der Bodenfluß in das Tal drückte, gerieten aber nun sofort in den Bereich der fortspülenden Wirkung des abfließenden Wassers; sie mußten also unter gewöhnlichen Umständen von ihm rasch wieder entfernt werden. Nur ganz besonders günstige Verhältnisse haben uns einige der jüngsten dieser »Schuttgletscher« erhalten. Zu sehen aber sind noch heute an vielen Talschlüssen die vom Bodenfluß veränderten Gehänge. Kaum merklich gehen manchmal die Bergformen in die Hänge der Täler über, es fehlen jegliche Spuren der Tätigkeit des fließenden Wassers; aber der Bodenfluß, welcher gleichzeitig am Bergeshang und im Tale wirkte, gibt uns eine Erklärung für die Formen, welche als gemeinsame Gebilde den Übergang vom Berg zum Tal vermitteln. Auch muldige Formen über den seitlichen Talkanten können als Reste ehemaliger Bodenflußarbeit erklärt werden. Die aus dem Frankenwald angeführten Beispiele stammen aus dem Schiefergebiet, das einen äußerst gleichmäßigen Verwitterungsschutt liefert. Alle Bestandteile der Bodenmasse konnten also leicht wieder abtransportiert werden. Günstigere Bedingungen für die Erhaltung aber bieten solche Stellen, an denen sich ungleichmäßige Verwitterungsprodukte bilden. Den stärksten Widerstand gegen die chemische Zersetzung leisten die Q u a r z e . Gangartig durchsetzen sie besonders die Schiefergesteine. Während nun die umliegenden Schiefer schnell zu Lehm verwittern, bleiben die Quarze fast vollständig erhalten. Wo einzelne schwere Blöcke im Lehm lagen, konnte wohl später die feine Erde fortgespült werden, aber die Quarze konnten kaum von der Stelle gerückt werden. Jedoch konnte eine Bodenflußmasse Quarz und Lehm mit kleineren Verwitterungsrückständen fortbewegen; in dem zur Ruhe gekommenen Bodenstrom aber leisteten die Quarze einen energischen Widerstand gegen die weitere Abtragung, so ragen sie jetzt wie Findlinge aus ihrer Umgebung hervor. So erklärt sich die gelegentliche Anhäufung großer Quarzblöcke in breiten Talmulden, besonders in Talschlüssen, ebenso auch in den kleinsten Kerbtälern (Kugelgraben zwischen Irchwitz und Greiz-Aubachtal). Auf der preußischen Spezialkarte sind die Fundstellen manchmal durch ein rotes Kreuz eingezeichnet. Vor allem aber liefert der Grünstein ( D i a b a s ) einen sehr ungleichmäßigen Verwitterungsboden. Er kann selbst sehr verschiedenartig ausgebildet sein, als dichter oder körniger Diabas, als Mandelstein, Breccie, Konglomerat oder Tuff. Oft wechselt auch die Beschaffenheit auf kleinstem Raum. Nur selten verwandelt er sich in einen dunkelgelben Lehm, oft ragen wilde Felsen aus der Erde heraus und dies nicht nur an den Talhängen mit besonders starker Abtragung, sondern auch auf der Hochfläche. Der Spaltenfrost sprengte große und kleine Trümmer von diesen
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Erich Martin.
Felsen, welche in den lehmigen Verwitterungsboden der Umgebung fielen oder erdlose S t e i n h a u f e n eckiger Sprengstücke bildeten, so daß manche Felsen zu einem Blockfeld oder Block»meer« wie auf dem Lobensteiner K u l m aufgelöst w u r d e n . So e n t s t a n d »die periglaziale Fazies der mechanischen Verwitterung«. Die rezente Weiterbildung ist a u c h an den hervorragend günstig gelegenen Felsenhängen des Höllentales bei Bad Stehen oder des oberen Saaletales n u r ganz gering. Die Blocklehmbildung ist leicht verständlich bei den Mandelsteindiabasen, deren Kugeln auch in Steinbrüchen sich sichtlich aus dem Gesteinsverbande loslösen. Wie aber auch körnige Diabase in ungestörter Lagerung tiefgründig zu einem Blocklehm verwittern k ö n n e n , zeigt recht anschaulich ein Aufschluß im Frankenwald rechts des Weges, der vom Dörfchen Schlegel nach der K r ö t e n m ü h l e f ü h r t . — Verwitterungsrücks t ä n d e des Grünsteins findet m a n nun häufig auf s e k u n d ä r e r Lagerstätte. In vielen flachen Mulden, besonders in Talschlüssen, liegen weit von ihrem felsigen Ursprungsort e n t f e r n t einzelne große Diabasblöcke. Sie fallen auf, weil sie den lehmigen Boden ihrer Umgebung ü b e r r a g e n ; noch mehr Blöcke aber mögen unter den sumpfigen Wiesen dem oberflächlichen Blicke entzogen sein. Der Boden dieser Talschlüsse b e s t e h t in der Regel aus mehr oder weniger tief zersetztem anstehendem Gestein, über welches sich ortsfremdes Material in breiter Ausdehnung lagert. In der flachen Quellmulde des Saubachtales zeigte 1919 eine A u s s c h a c h t u n g bei einem H a u s b a u am NO-Ausgange des Dorfes Schlegel über v e r w i t t e r t e m Tonschiefer eine etwa 1 m dicke Schicht von Diabasblocklehm. Bei der Kartierung war n u r die Bodendecke der morphologisch d u r c h nichts ausgezeichneten Stelle b e k a n n t , und so sehen wir hier auf B l a t t Lobenstein der Spezialkarte die F a r b e des Diabases eingetragen. Auch einem zufälligen Aufschluß v e r d a n k e ich die Kenntnis einer anderen solchen ortsf r e m d e n Deckschicht. Neben den Diabasbrüchen am B a h n h o f e N e u m a r k im sächsischen Vogtlande bei Zwickau liegt über Schiefer eine auch etwa 1 m mächtige Diabesblocklehmpackung, welche in ihrem G e s a m t e i n d r u c k an eine Moräne erinnert. Die Schieferunterlage ist in ihrem obersten Teil zerpreßt und in schön ausgebildeten H a k e n in der Bewegungsrichtung der Bodenflußmasse umgebogen worden (Taf. 6). Auch hier ist die Oberfläche des Bodens am Talhange n u r ganz wenig geneigt, u n d keine auffälligen Oberflächenformen lassen solche Bodenbewegungen ahnen, da die Blockgröße hier wie auch bei Schlegel nur eine geringe ist. N u n h a n d e l t es sich in den a n g e f ü h r t e n beiden Fällen um beliebig herausgegriffene Stellen. Man k a n n also annehmen, d a ß der Bodenfluß sich auf die g a n z e U m g e b u n g erstreckte. Die sekundäre N a t u r der Lagerung des V e r w i t t e rungsschuttes wird uns denn auch f ü r diejenigen Talhänge wahrscheinlich, welche einen geologischen U n t e r g r u n d aus gleichen Gesteinen besitzen. Große Gebiete des Gebirges, welche sich auch über flachem Gehänge ausdehnen, müssen also durch den Bodenfluß u m g e s t a l t e t w o r d e n sein, w ä h r e n d in den Talfurchen mit steilen Hängen das fließende Wasser Steine u n d Erde fortriß. An den Schichtgrenzen kann n a t ü r l i c h das E r gebnis der Bewegung am klarsten e r k a n n t werden, und weitere Beob-
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achtungen müssen gerade an solchen Stellen vorgenommen werden. — In diesem Zusammenhange finden die Datheschen »Moränen« bei Wurzbach und Saalburg (siehe S. 229 dieser Abhandlung) als zur Ruhe gekommene Bodenflußmassen ihre einfachste Erklärung, wie dies auch schon von Brönner (Zur Frage der Vergletscherung des Frankenwaldes. Jena, 1916) für den Wurzbacher Fund angedeutet worden ist. In den größeren T ä l e r n mußte es nun zu besonders starken Ablagerungen kommen. Zwar mußten die feineren Bestandteile der angehäuften Massen bald ein Opfer des fließenden Wassers werden, aber die zurückbleibenden Blöcke mußten sich doch unter besonderen Umständen häufen können. Nun finden wir auffallend viel solcher Blöcke in dem weiten Talschluß des Gemäßgrundes, der wegen seiner besonderen Form auch einen anderen Namen führt wie das Tal des Sieglitzbaches, in das er übergeht, und ebenso in den benachbarten Quelltälern der Thüringischen Moschwitz am Lobensteiner Kulm. Unterhalb der Quellmulden werden diese Blöcke im Moschwitztal immer zahlreicher und bilden schließlich zwei große Blockfelder am Übergange des Muldentales in das Sohlental an der K r ö t e n m ü h l e und weiter abwärts im Sohlentale 800 m unterhalb des ersten Feldes zwischen der Krötenmühle und der Buttermühle in Höhenlagen von 520 m und 500 m. Auch noch weiter talab finden wir auffallend viele große Blöcke. Die Bodenflußmassen brachten hier ganz ungewöhnlich große Trümmer in das Tal, so daß also das Wasser des Baches sie nicht beseitigen konnte, was möglich gewesen wäre, wenn es allein die Trümmer der Felsen transportiert hätte. In den Erläuterungen zu Blatt Lobenstein-Titschendorf der Geolog. Spezialkarte wurden diese seltsamen Erscheinungen 1911 von Emst Zimmermann zuerst beschrieben, ihre Erklärung wurde aber im Zusammenhang mit der Eiszeit nur unbestimmt angedeutet. — Rud. H u n d t brachte 1913 in einem Aufsatze im Zentralbl. f. Mineral, über »Die Eiszeit im Frankenwalde« einige Abbildungen; er versuchte, die besonderen Talformen und die Blockanhäufungen durch Nivation zu erklären.— Brönner (a.a. O., S. 232 dieser Abhandlung) verneint zwar die diluviale Vergletscherung des Frankenwaldes, nimmt aber zur Erklärung der Funde im Gemäßgrunde ein Firnfeld als Gleitfläche für die Blöcke zu Hilfe, bedenkt dabei aber nicht, daß die Neigung hierzu viel zu gering ist und daß die Blöcke auf dem langen Wege in den Firn gesunken wären. Die Felder an der Krötenmühle führt er auf besondere petrographische Verhältnisse zurück, welche die Blockbildung veranlaßten. — Ebert (Beiträge zur Kenntnis der prätertiären Landoberfläche im Thüringer Wald und imFrankenwald. Jahrbuch d. Preuß. Geol. Landesanstalt für 1920) bringt Abbildungen vom Gemäßgrund auf S. 416 und Tafel 22, außerdem eine stereophotogrammetrische Aufnahme im Maßstab 1:4500. Im Gemäßgrund sieht er eine prätertiäre Talform, leider geht er auf die Frage der diluvialen Weiterbildung nicht ein; auch der Bodenfluß ist ihm ein Hilfsmittel zur Erklärung der prätertiären Formen, während m. E. die Eiszeit für die erhaltenen Spuren von Bodenfluß verantwortlich zu machen ist.
Wer das Tal hinaufwandert, wird die Blockmassen oberhalb der Buttermühle als eine ungewohnte Erscheinung empfinden, da der Talboden bis zu dieser Stelle eine glatte Wiesenaue bildet und auch die Talhänge rechts und links weder Felsen noch Unebenheiten zeigen. Ein ganz anderes Bild wird man aber haben, wenn man sich der Krötenmühle von oben her
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Erich Martin.
nähert. In den Tälern und an den Hängen finden wir schon häufig Blöcke liegen, welche sich nach der Krötenmühle zu immer stärker vermehren. Besonders viel große Steine liegen in einem Nebentälchen, das von dem Dorfe Schlegel aus in südlicher Richtung nach der Krötenmühle neben einem Paläopikritzug entlang läuft, welcher wegen seiner Härte wie eine Teufelsmauer herauspräpariert ist. Die große Anzahl von Steinen verringert natürlich den wirtschaftlichen Wert des Wiesenbodens. In dem Tälchen sind sie zwischen den einzelnen Grundstücken von den Besitzern zu Mauern aufgetürmt, so daß man beim Anblick des dazwischen weidenden Viehs an alpine Landschaftsbilder erinnert werden kann. Eine Säuberung der Wiesenfläche aber war nicht mehr möglich auf der breiten Schuttmasse, welche sich südlich in das Haupttal hinunterschiebt und wie ein großer Schuttkegel bei der Mühle den Lauf des Baches an die entgegengesetzte Talseite drängt. Hier liegen Blöcke bis zu 2y 2 m Länge, sie sind weit entfernt vom festen Felsen und nur umgeben von lehmigem Verwitterungsschutt. Wohl sind Versuche gemacht worden, die großen Steine zu sprengen, wie man an manchen Bohrröhren erkennen kann; doch der allgemeine Charakter der Umgebung der Krötenmühle ist dadurch nicht beeinträchtigt worden: ein breites Blockfeld überzieht den Talboden. Vielleicht ist aber — wie Brönner annimmt — der freie Raum im Sohlental zwischen den beiden Steinfeldern auf die Beseitigung der Steine durch Menschenhand zurückzuführen. Jedenfalls ist das Bachufer an dieser Stelle von aufgeschichteten Steinen eingefaßt. Über die sekundäre Lage der Blöcke kann hier kein Zweifel mehr herrschen. Die Diabase des unteren Feldes liegen bereits auf fremdem geologischen Untergrund (Phykodenschiefer). Auch einen Block silurischen Quarzits (»Hauptquarzit«, s ^ " der preußischen Aufnahme) sah ich hier; er steht zwischen den beiden Blockfeldern an. Übrigens ist die Aufschüttung des Moschwitztales auch noch unterhalb der Buttermühle an einigen Stellen mit großen Steinen durchsetzt. An der Dorschenmühle bei Lichtenberg liegt ein 1,20 m langer Paläopikritblock, also über 3 km vom Ausgangsort entfernt. Hochwässer können hier mitgewirkt haben, vielleicht auch beim Transport der Steine bis zur Buttermühle, weil sich dies Blockfeld auf den Talboden beschränkt. Ausgeschlossen ist aber die fluviatile Entstehung des zentralen Steingebietes an der Krötenmühle. Es greift vom Talboden aus weit in die Berghänge zurück und ist mit dem Verwitterungsschutt der Entstehungsorte noch organisch verbunden. Das linear wirkende fließende Wasser kann für diese flächenhafte Abtragung nicht in Frage kommen. Nach allen Kriterien kann es sich hier nur um Bodenflußerscheinungen handeln. Dieser Bodenfluß muß also die Landschaft in breiter Fläche abgeräumt haben. Nun fallen uns oberhalb der Blocklager besonders weite Muldentäler und Talschlüsse auf. Auch der Gemäßgrund und weite Talenden an der Main-Saale-Wasserscheide bei Bad Stehen zeigen auffällige Verbreiterungen. Es liegt daher nahe, diese besonderen Formen mit den gefundenen Ausräumungsmassen in Verbindung zu bringen und dem Bodenfluß die Ausarbeitung dieser Muldenformen zuzuschreiben. M. E. sind diese Mulden-
Bodenflußerecheinungen im Frankenwald und im Vogtland.
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stücke nicht »vortertiär«, sondern alte flache Talbildungen sind während der Eiszeit durch den Bodenfluß verändert worden. Von den erwähnten Nachbartälern hat das Tal des Stebenbaches unterhalb der großen Quellmulden einen richtigen Blockwall, der das Tal quert. Er liegt zwischen dem Bad und dem Höllental in 520 m Höhe und erscheint im Längsprofil des Tales als eine deutliche Stufe. In der breiten Wanne des Lohbaches zwischen Gerlas und Bobengrün überwiegen kulmische Schichten, deswegen finden wir hier keine Blockfelder. Die großartige Ausbildung aber an der Krötenmühle ist bedingt durch die Ausdehnung besonders geeigneter Diabasmassen. Sie werden zudem noch von dem harten Paläopikritzug durchsetzt, und so ist es nur natürlich, wenn neben der Bodenflußbildung hier außerdem der rückschreitenden Erosion ein starkes Hindernis in den Weg trat. Darauf ist auch der Formenwechsel der Täler zurückzuführen, weil das fließende Wasser die Formen oberhalb des Diabasriegels nicht beeinflussen konnte. Lokale Verhältnisse geologischer Art spielen hier also wohl eine Rolle, sie erklären aber nicht die Wanderung der Blöcke, sie gaben jedoch die Bedingungen für die Erhaltung der Ablagerungen des Bodenflusses, während diese an anderen Stellen längst ein Opfer der weiteren Abtragung geworden sind oder nicht in dieser schönen Weise ins Auge fallen. Diesem wundervollen Beispiel von der Wasserscheide des Frankenwaldes sollen nur noch einige andere an die Seite gestellt werden, um zu zeigen, daß es sich nicht etwa um vereinzelte Erscheinungen lokaler Natur handelt, sondern daß dem Bodenfluß als ehemalig abtragendem Faktor in den Mittelgebirgen tatsächlich eine allgemeinere Bedeutung zukommt. In dem nördlich an den Frankenwald grenzenden ( r e u ß i s c h e n ) V o g t l a n d e findet man in einem Tälchen unterhalb G r ä f e n w a r t h (Meßtischblatt Schleiz) eine ganz ähnliche Anhäufung von Grünsteinblöcken. Auch die Talformen sind hier entsprechend: oberhalb muldig, unterhalb scharfkantig. Und dann möchte ich noch auf eine Stelle im s ä c h s i s c h e n V o g t l a n d hinweisen, sie liegt im Elstergebiet oberhalb Plauen zwischen den Ruderitzbergen und dem Dorfe K r e b e s . Die geologische Umgebung der flachen Täler besteht hier aus Diabaskonglomeraten und -Breccien, welche auf den Ruderitzbergen und bei den Burgsteinruinen Felsen bilden. Auf den Wiesen von zwei flachmuldigen Talböden dehnen sich die Blockfelder aus — in ähnlicher Weise, aber nicht so großartig wie an der Krötenmühle. Die über die Talaue ausgestreuten Steine haben wohl auch mit beigetragen, die Phantasie des gemütvollen Malers Hermann Vogel anzuregen, welcher in Krebes lebte und auch dort begraben liegt. Auffallend ist die gleiche Meereshöhe wie im Frankenwald (500 m-Linie); vielleicht hängt sie — wie es Hundt (siehe S. 235 dieser Abhandlung) für den Frankenwald hervorgehoben hat — mit einer eiszeitlichen Schneegrenze zusammen. Eine weitere Aufgabe wird es nun sein, Diabasgebiete in anderen ähnlichen Gebirgen zu untersuchen, und auch noch andere blockbildende Gesteine müssen in die Beobachtungen einbezogen werden.
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Erich Martin: Bodenflußerscheinungen im Frankenwald und im Vogtland.
Für den Basalt des V o g e l s b e r g e s ist das bereits geschehen. Prof. Hermann (Meyer-) H a r r a s a o w i t r beschreibt »Blockfelder im östlichen Vogelsberg« (Berichte über die Versammlungen des Niederrhein, geol. Vereins, 1916), welche man nach seiner Darstellung sehr wohl mit den Funden im Frankenwald parallelisieren kann. Er erklärt ihre Entstehung gleichfalls durch eiszeitlichen Bodenfluß. Um die Frage nach dem Anteil des diluvialen Bodenflusses bei der Abtragung der deutschen Mittelgebirge einer weiteren Klärung zuzuführen, wäre es sehr wünschenswert, wenn die Durchforschung der deutschen Mittelgebirge nach alten Bodenflußmassen systematisch fortgesetzt würde.
Die Gegend um Drygallen. Von
FRIEDRICH LEYDEN. Mit Karte 1 und Taf. 7.
Im Jahre 1798 wurde Johann Christian D r y g a l s k i , Herr auf Drygallen, Renten und Gronden und Erb- und Gerichtsherr dieser Güter, gelegentlich der Huldigung in Königsberg von König Friedrich Wilhelm III. in den erblichen Adelsstand erhoben. Der Familienname Drygalski ist räumlich eng begrenzt. All seine verschiedenen Zweige führen letzten Endes auf die gleiche Wurzel zurück, und diese hat im Herzen von Masuren ihren Ursprung. Unter den klugen Geistlichen, welche zu Anfang des 18. Jahrhunderts ihre masurische Heimat mit scharfer Beobachtungsgabe schilderten, war auch ein Drigalski, der 1726 eine Schrift über die »Merkwürdigkeiten des Kuttischen Kirchspiels« veröffentlichte. Unzweifelhaft geht der Name Drygalski zurück auf den Ort Drygallen, er diente in den Nachbarorten zur Unterscheidung für denjenigen, welcher von Drygallen herstammte. Dieser Ort Drygallen, heute in einem der entlegensten und unbekanntesten Teile unseres deutschen Vaterlandes gelegen, bietet in jeder Hinsicht ein bezeichnendes Beispiel für die Kolonistensiedlungen des deutschen Ostens. Er hat alle Wandlungen derselben mitgemacht. Der heutige Name Drygallen erinnert freilich nicht mehr an den rein deutschen Ursprung des Ortes. In der Grenzwildnis, welche infolge der Eroberungszüge des Deutschen Ordens im Gebiete der Sudauer oder Jadwinger, also im heutigen Masuren, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden war1), gründete ein gewisser Martin Drigal im Jahre 1438 den Ort. Nach den Vornamen seiner Brüder, Matzke und Girke, läßt sich annehmen, daß Drigal aus Niederdeutschland stammte 2 ). Der Ort wurde nach dem Gründer »Drigelsdorf« genannt und mit 85 Hufen besetzt. Die demselben verliehene »Handfeste« oder Grundverfassung hielt in eigenartiger Weise die Mitte zwischen den Verfassungen für die Dörfer und für die Städte; so durften die Einwohner ihre Güter mit Einwilligung ihres Herrn verkaufen, auch sollte im Orte ein »Krezem« (Krug oder Wirtschaft) sowie eine gemeinsame Brauerei angelegt werden3). *) Vgl. H. Mortensen, Die völkischen Verhältnisse der Ostseerandgebiete zwischen Weichsel und finnischem Meerbusen. Geogr. Zeitschr. XXX, 1924, S. 177 (181, 183). 2 ) Gütige Mitteilung von Herrn Professor R. T r a u t m a n n in Königsberg i. Pr. 3 ) Über die geschichtlichen Einzelheiten vgl. M. T o e p p e n , Geschichte Masurena. 1870. S. 107, 134, 165, 219.
Friedrich Leyden.
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Mit dem Verfall des Ordens trat der deutsche Grundzug der Siedelung allmählich zurück. 1480 erhielt Drigelsdorf eine eigene Pfarre, aber der Geistliche war ein Pole. Hundert Jahre später ist auf der preußischen Landtafel des verdienstlichen H e n n e b e r g e r 1 ) der deutsche Ortsname Drigelsdorf bereits verschwunden und an seine Stelle die Bezeichnung »Trigal« getreten. Unter Anpassung an die nicht seltenen preußischlitauischen Ortsnamen auf -gallen 2 ) hat der Ort die verundeutschte Namensform bis heute bewahrt 3 ). Lage und Grundriß des Ortes sind überaus bezeichnend. Die niedrigen, einstöckigen Häuser ziehen sich zeilenförmig an der großen Überlandstraße entlang, welche von Bialla heranführt und gerade hier eine Gabelung nach Arys und Lyck aufweist. Die Straße folgt einer Tiefenlinie inmitten der unruhigen Kuppen der umgebenden Moränenlandschaft. Aber neben diesem lang hingezogenen Straßendorfe erhebt sich die stattliche Kirche auf einer östlich aufragenden, etwa 5 m höheren Kuppe, den Ort beherrschend und zugleich ein geeigneter Platz für Verteidigung und Umschau über das Gelände. Diese seitliche und erhöhte Lage der Kirche kann man auch anderwärts beobachten, auch in den größeren Städten wie z. B. in Angerburg. Die Häuser richten in malerischer Unregelmäßigkeit bald die Längsund bald die Giebelseite nach der Straße, von der sie durch freundliche Vorgärten getrennt sind. Zwei bescheidene »Krüge«, in welchen der 1
) Kaspar H e n n e b e r g e r , Große Landtafel von Preußen. (1676.) Neuausgabe der Physik.-ökon. Ges. zu Königsberg 1863. 2 ) Bezüglich dieser Namen sei hier eine nähere Erklärung gestattet, da durch O. S c h l ü t e r (Wald, Sumpf und Siedelungsland in Altpreußen vor der Ordenszeit. 1921. S. 23) leider eine ganz abwegige Deutung des Anonymus »R. J.« in der Altpreußischen Monatsschrift XVIII, 1881, S. 40ff. (42), in die geographische Fachliteratur Eingang gefunden hat. Die Endung -gallen bezieht sich nicht, wie dort angegeben, in gleicher Weise wie diejenige auf -kallen (z. B. Pillkallen = »Burgberg«) auf Hügel oder Erhebungen, sondern auf ein »Ende«, also den äußersten Band oder ein äußerstes Vorkommnis: z. B. Eszergallen (sprich Eschergalien) = »Ende eines Sees«, Sausgallen = »trockenes Ende« (an einem Fluß), Laukogallen = »Feldende«, Blindgallen = »Weidenende«, Schillgallen = »Fichtenwaldende«, Gudgallen = »Polen-Ende« (äußerster Vorposten der polnischen Besiedelung) u . a . m . (Siehe hierzu A. T h o m a s , Sammlungen und Beiträge zur Etymologie geographischer Namen. XXX. Jahresprogramm der städt. Realschule Tilsit, 1874, S. 10 u. 12. F. H o p p e , Orts- und Personennamen der Provinzen Ost- und Westpreußen: I. Altpreußische Monatsschrift XII, 1875, S. 289 (290, 294); II. ebenda XII, 1875, S. 548 (654, 561, 563, 564); III. ebenda XIII, 1876, S. 563 (668, 584); IV. ebenda XIV, 1877, S. 38; V. ebenda XIV, 1877, S. 399; VI. ebenda XV, 1878, S. 578; VII. ebenda XVIII, 1881, S. 245 (270).) Das von »R. J.« und S c h l ü t e r angeführte Beispiel Rogallen ist doppelt verfehlt, da es sich hier wie bei Drygallen um die Ableitung von einem (in diesem Falle polnischen) Personennamen Rogal handelt. Vielleicht spielt bei dem heutigen Namen Drygallen auch eine litauische Volksetymologie mit, da die Bezeichnung »trigalis« = dreiendig (vgl. Fr. K u r s c h a t , Wörterbuch der litauischen Sprache, Teil II, 1883, S. 463) sehr wohl auf den Grundriß des Ortes mit seinen drei Enden oder Ausgängen bezogen werden kann. 3 ) Der Familienname weist ebenso wie der Ortsname eine schwankende Schreibung mit -y- und -i- auf (Drygallen neben Drigallen usw.).
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Fremde erhebliche Verwunderung erregt, laden kaum zu längerem Verweilen, eher schon das stattliche Gut der Domäne mit einer ansehnlichen Brennerei. Das heutige Bild des Ortes ist kaum 200 Jahre alt. Nach dem Dreißigjährigen Kriege ist das Dorf mitsamt dem Glockenturm bei den Einfällen der Tataren im Jahre 1656 in Feuer aufgegangen. Das gedrungene Zwiebeldach der wuchtigen Backsteinkirche erinnert an zahlreiche ähnliche Bilder in den Dörfern der Mark Brandenburg und ist mit diesen auch gleichaltrig: auf der Wetterfahne liest man über der Jahreszahl 1732 die Buchstaben F W R zur Erinnerung an den Preußenkönig, unter dessen Regierung die Kirche aufs neue erstand. — Im letzten Kriege ist trotz der Russeneinbrüche kein nennenswerter Schaden entstanden. •
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Die »Gegend um Drygallen«, das ist Masuren, das Land der Seen. Ein Land ungelöster Probleme und wichtiger Aufgaben, auch für den Geographen. An-diesen Seen hatte Erich v o n D r y g a l s k i vor bald vier Jahrzehnten gewichtige Einwände gegen die Auffassung von A. P e n c k gewonnen, wonach die nordische Vereisung infolge ihrer Anziehung der Wassermassen eine nennenswerte Geoiddeformation zur Folge gehabt habe 1 ). Einzelne der größten Seen hat wenig später W. Ule einer überwiegend messenden Untersuchung unterworfen 2 ). Aber später ist hier nur wenig geschehen. Ein großer Teil auch der masurischen Seen ist heute noch in den Tiefenverhältnissen unbekannt, und zwar nicht nur unbedeutende Gewässer, sondern auch so stattliche Bildungen wie der Deyguhnensee zwischen Lotzen und Raatenburq. Gänzliche Unkenntnis herrscht hier auch noch bezüglich des tieferen Untergrundes: nirgends in ganz Masuren ist das Diluvium durchsunken, nirgends Lage und Gestaltung seiner Unterfläche bekannt. Man weiß nur, daß am Bahnhof in Lotzen, also fast unmittelbar über dem Spiegel des Mauersees, eine Bohrung mit 178 m das Quartär nicht durchteuft hat; dies ist die größte, bisher bekannte Mächtigkeit des Quartärs in Ostpreußen überhaupt und läßt darauf schließen, daß im Bereiche des Mauersees auch die vorquartäre Oberfläche besonders tief liegen muß 3 ). T o r n q u i s t rechnet Masuren zum baltischen Schild, wo bei annähernd ungestörter Lagerung der älteren Schichten Verwerfungen von über 100 m Sprunghöhe nicht mehr vorkommen sollen 4 ); solange man jedoch über die tatsächlichen Verhältnisse hier gar nichts weiß, ist dieser aus den Nachbargebieten gewonnene Analogieschluß unsicher. ') E. v. D r y g a l s k i , Die Geoiddeformationen der Eiszeit. Zeitschr. d. Ges. f. Erdk. Berlin XXII, 1887, S. 169 (235). ') W. UJe, Die Tiefenverhältnisse der Masurischen Seen. Jahrb. Kgl. Preuß. Geol. L.-A. X, 1889 (1892), 2. Teil, S. lff. und Tafel V I - I X . *) F. W a h n s c h a f f e u. F. S c h u c h t , Geologie und Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes. Forsch, z. Dtsch. Landes- u. Volksk. VI/1, 4. Auflage, 1921, S. 41. 4 ) A. T o r n q u i s t , Geologie von Ostpreußen. 1910. S. 154, 220. D r y g a l s k i , Festgabe.
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Immerhin legt die gewaltige Mächtigkeit der quartären Ablagerungen die Auffassung nahe, daß die Formen der heutigen Oberfläche zu dem vorquartären Untergrunde kaum noch in unmittelbaren Beziehungen stehen können. Ja bei der überwiegend schüttigen Beschaffenheit der Grundmoränenablagerungen sind selbst mittelbare Beziehungen wenig wahrscheinlich. Man könnte also zunächst annehmen, daß die beiden Hauptfragen jeder formenkundlichen Seenbetrachtung, nämlich nach der Entstehung der Seen und nach den etwaigen Schwankungen ihres Wasserspiegels, sich auf die oberflächlich wirkenden Kräfte der Abtragung durch Eis und Wasser würden zurückführen lassen. Zum Verständnis der Entstehung der Seen ist zunächst eine eingehende Berücksichtigung ihrer Form erforderlich. Die landläufigen Unterscheidungen trennen die langgestreckten und schmalen Rinnenseen von den unregelmäßig geformten Moränenseen; erstere sollen überwiegend auf die Schmelzwasser der schwindenden Vereisung, letztere lediglich auf eine durch den Grundwasserspiegel bedingte Überflutung der tieferen Hohlformen einer gewöhnlichen Moränenlandschaft zurückgehen. Die Grenzen zwischen beiden Hauptgruppen sind aber nicht scharf, und wenn man mit B r a u n 1 ) in weitere Einzelheiten sich einlassen will, gerät man rasch ins Uferlose. Die beiden erwähnten Haupttypen der Seen in der Aufschüttungslandschaft des norddeutschen Flachlandes sind in Masuren leicht zu erkennen. Eindringlich treten sie vor Augen, wenn man die lange Dampferfahrt von Angerburg über Lotzen und Nikolaiken nach Rudczanny zurücklegt. Dabei ist für den Beobachter allerdings eine Täuschung leicht möglich: bewaldete Ufer erscheinen unwillkürlich steiler und höher als unbewaldete, und die Eigenschaft einer flußtalartig schmalen Rinne ist z. B. beim bewaldeten Beldahnsee erheblich größer als am unbewaldeten Tirklosee oder Talter-Gewässer. Umgekehrt können auch die Rinnenseen manchmal stattliche Breite erreichen, und dann sind sie ebensowenig wie die eigenartigen, kesselartig runden Vertiefungen etwa des Biallolafker- oder Kesselsees oberflächlich von benachbarten seichten Wannen zu unterscheiden. Eine Wanderung am Ostufer des Spirdingsees zeigt keinen Unterschied zwischen Sextersee und Biallolafkersee, beide haben stark verschilfte Ufer inmitten einer flachwelligen Moränenlandschaft, aber der erstere ist nur 7 m, der letztere dagegen 35 m tief. Sicherlich ist das weite Becken des Spirdingsees nichts anderes als eine ertrunkene Moränenlandschaft. Das geht schon aus den Verhältnissen der Fischerei hervor: manche Teile sind wegen der »Steine « nicht befischbar, es treten eben hier, wie in der Nachbarschaft, die groben Geschiebe massenhaft hervor. Aber schon beim Mauersee wird eine Einordnung schwieriger. Wohl trennen Moränenwälle die verschiedenen, scharf unterscheidbaren Becken, aus denen er sich zusammensetzt; aber z. B. die tiefe G. Braun, Ostpreußens Seen. Schriften der Physik.-ökon. Ges. zu Königsberg XLIV, 1903, S. 33 (79ff.).
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Senke des eigentlichen Mauersees bei Angerburg weist eine recht eigenartige, schmale und langgestreckte Entwicklung auf, sie wirkt fast wie eine besonders tief versenkte und samt ihrer Nachbarschaft ertrunkene Rinne. Zwei Merkmale sind bei den Rinnenseen wichtig: ihre erhebliche Tiefe in unmittelbarer Nachbarschaft ausgedehnter, seichter Grundmoränenwannen und ihre bei allen Windungen im einzelnen doch in der großen Gesamtanordnung fast geometrisch geradlinige Erstreckung. Auf der beigefügten Kartenskizze ist es leicht, eine Reihe von unter sich gleichgerichteten, derartigen geometrischen Leitlinien anzudeuten. Sie entsprechen bemerkenswerterweise durchaus nicht jenen Richtungen, wie sie sich a u s der Bewegung des nordischen Inlandeises ergeben müßten. Wie B r a u n mit Recht hervorgehoben hat, muß für Masuren mit einer annähernd nordsüdlichen Eisstromrichtung gerechnet werden; die Anordnung der Endmoränenwälle ist dagegen im wesentlichen westöstlich oder südwestnordöstlich. In diesen Richtungen sind Rinnenseen geradezu eine Ausn a h m e ; so kann man u. a. den Muckersee oder Warnoldsee oder einen Teil des Beldahnsees zur ersteren, den Roschsee und die tiefste Wanne des Spirdingsees zur zweiten Gruppe rechnen. Aber die vorherrschende Richtung ist diagonal dazu, sie entspricht durchaus dem variszischen wie auch dem herzynischen Streichen. E s ist nun überaus lehrreich, zum Vergleich eine ähnliche, wenn auch viel kleinere Seengruppe aus einer ganz anderen Gegend Norddeutschlands heranzuziehen. Die westliche Nachbarschaft von Berlin ist hierzu gut geeignet. In eindringlicher Weise zeigt die ausgezeichnete Tiefenkarte von G. H e n n i n g 1 ) , wie die geometrisch schnurgerade Rinnenreihe der Seen von Sakrow und Groß-Glienicke mit ansehnlicher Tiefe in unmittelbare Nachbarschaft der überwiegend seichten Havelseen heranreicht; und wenn hier gemäß der Eisstromrichtung eine nordost-südwestliche Erstreckung vorherrscht, so beweist doch der Griebnitzsee und seine Verlängerung im Jungfern- und Weißensee bei Potsdam mit der lang in nordwest-südöstlicher Richtung gestreckten Form, daß auch hier variszisch-herzynische Leitlinien eine wesentliche Rolle spielen, welche aus den Verhältnissen der Vereisung allein nicht verständlich sind. J a selbst in Einzelheiten lassen sich hier Gleichsetzungen treffen: dem Niedersee in Masuren, der in weit geschwungenem Bogen aus der herzynischen in die variszische Richtung umbiegt, entspricht bei Berlin die Rinne zwischen Wannsee und Potsdam mit dem fast rechtwinkligen Knie des Griebnitzsees. Die Tiefe der Rinnenseen als solcher darf nicht überschätzt werden, sie ist j a nur eine Funktion des umgebenden Grundwasserspiegels. Die nur von seichten Gewässern erfüllte, aber scharf in ihre Umgebung eingesenkte Rinne nördlich von Arys zwischen Ublick- und Aryssee ist ihrer Formenbedeutung nach nicht weniger bezeichnend als etwa ihr märkisches Gegenstück vom Lietzensee über Hundekehle und Schlachtensee nach Wannsee» E s sind gleichsam verkleinerte Ausgaben der großen und tiefen Rinnen, !) G. Henning, Kliffe der Havel. 1:5000. 1920/21. Handschriftliche Doppelkarte im Geogr. Institut der Universität Berlin. 16*
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und mit ihren schärfer ausgeprägten, flußtalartigen Windungen lassen gerade sie die auffallende geometrische Gesamterstreckung weniger zur Geltung kommen. — Daß es übrigens auch bei Berlin nicht an Rinnen in der Richtung der Eisrandlagen fehlt, beweist jener Tiefenzug, welcher vom einstigen Schöneberger See1) über den Wilmersdorfersee und die ausgesprochene Rinne südlich des Neuen Botanischen Gartens in Dahlem bis zu den Grunewaldseen sich erstreckt. Wenn auch die Form der Seen demnach keinen Zweifel an ihrer erosiven Entstehung zuläßt, so weist ihre Anordnung und Erstreckung daraufhin, daß auch andere Umstände hier noch eine wesentliche Rolle mitgespielt haben. Will man die Seen als besondere Eintiefungen der ostpreußischen Moränenlandschaft verstehen, so darf man an deren besonderen Aufragungen nicht achtlos vorübergehen. Was schon die schöne Übersichtskarte von B l u d a u 2 ) ahnen läßt, zeigt in eindringlicher Weise die Umschau von den Seesker Bergen nahe der Reichsgrenze. Von hier aus erkennt man, daß Masuren und seine Nachbarschaft gegliedert wird durch eine regelmäßige Aufeinanderfolge von meridional verlaufenden Höhen- und Tiefenzügen: an die Sensburger Höhen grenzt das halb so hoch gelegene breite »Seental«, an dieses schließt sich ostwärts mit fast dreifach so beträchtlicher Aufragung der Zug der Goldap-Seesker Höhen, dann folgt der Tiefenzug Marggrabowa-Rajgrod und hierauf abermals ansehnlichere Erhebungen, an welchen die Reichsgrenze verläuft. Ob diese klar erkennbare Gliederung im großen auch im kleineren wiederkehrt, wie man nach den Verhältnissen zwischen Johannisburg und Bialla annehmen könnte, wage ich nicht zu entscheiden. Neben dieser großräumigen Gliederung, welche zwar ungefähr der Eisstromrichtung entspricht, aber ihrem ganzen Wesen nach sich nach den jetzigen Kenntnissen nicht allein aus der Inlandvergletscherung als solcher erklären läßt, sind auch Einzelheiten der Formengestaltung gerade in den besonders hoch aufragenden Erhebungen der Seesker Berge von eigenartiger Bedeutung. Insbesondere der Goldaper Berg, kaum eine Stunde südlich von Goldap gelegen, verdient nähere Beachtung. Von weitem sieht man ihn als Wahrzeichen und Landmarke sich erheben, sowohl aus der Romintener Heide wie etwa von der Eisenbahn zwischen Grabowen und Goldap. Er zeigt von Westen die Form eines langgestreckten, sargförmigen Höhenzuges, von Norden dagegen zwei steil aufragende Doppelkuppen. In der Tat bildet er eine in der Eisstromrichtung, also meridional langgestreckte Erhebung, mit ungewöhnlich steilen Flanken; die östlichere Kuppe ist durch ein schmales, ebenfalls steil eingeschnittenes Tälchen von der Haupterhebung getrennt. Mit diesen schroffen Abfällen ist die Anhöhe der rings umgebenden Moränenlandschaft, die zudem nördlich von Goldap ihren ') Vgl. E. N a s s e , Die Urlandschaft Berlins. Mitt. d. Ver. d. Stud. d. Geogr. an der Univ. Berlin, Heft 2, 1918, S. 7. *) A. B l u d a u , Die Oro- und Hydrographie der preußischen und pommerachen Seenplatte, insbesondere im Stromgebiet der Weichsel. Peterm. Mitt. Erg.-Heft 110, 1894.
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Endmoränencharakter verliert und in flacheres Grundmoränengelände übergeht, unvermittelt aufgesetzt und überhöht dieselbe um rund 30 m, was ihr im Verein mit den ungewöhnlich steilen Formen durchaus den Eindruck eines Berges verleiht. Steht man oben, so sieht man rings die weit gespannten, flach gewölbten Bögen der Endmoränenzüge unter sich, welche nach Norden zu zum Tal der Goldap und der dahinter beginnenden flachen Romintener Heide absinken, während sie gegen Süden hin größere Höhen erreichen, innerhalb welcher die beiden anderen Haupterhebungen der Seesker Berge, der Friedrichower und eigentliche Seesker Berg, durchaus keine besonders auffallende Erscheinung darstellen. Der Goldaper Berg bietet in gewisser Hinsicht ein Spiegelbild zu den Rinnenseen, welche ja auch mit auffallend steilen Flanken um meistens etwa 30—40 m in ihre Umgebung schmal eingesenkt sind, während er sich in entsprechender Weise darüber erhebt. Es soll natürlich nicht der Versuch gemacht werden, beide Formen auch ursächlich einander gleichzusetzen. Aber bei ihrer Ausgestaltung scheinen doch ähnliche Umstände mitgewirkt zu haben. In dem überwiegend schüttigen bis steinigen Material der Moränen, aus denen sich der Goldaper Berg aufbaut (wie aus mehrfachen Aufschlüssen zu ersehen ist), sind die heutigen steilen Formen für ein nacktes Gelände unverständlich. Ohne das schützende Pflanzenkleid könnten sie sich nicht erhalten, sondern wären raschem Ausgleich durch sanftere Böschungen unterworfen; dies gilt sogar in solchem Umfange, daß sich die Frage erhebt, ob diese Formen überhaupt je in nacktem Moränenschutt vorhanden waren. Gerade hier scheint in der Tat einer jener Fälle vorzuliegen, wo die heutigen Formen ohne die Annahme von Resten toten Eises vor dem zurückweichenden Inlandeisrande kaum zu verstehen sind. Man könnte annehmen, daß solche toten Eisreste erst ausschmolzen, als die Oberfläche der Moränenlandschaft längst mit einer schützenden Grasdecke überzogen war; und diese Grasdecke ermöglichte erst nach dem Ausschmelzen jener toten Eiskörper die Entstehung so auffallend steiler Formen, wie sie heute tatsächlich zu beobachten sind. Und solche toten Eisreste wird man auch bei der Entstehung mancher Seen kaum außer acht lassen können. Weniger die langgestreckte Form der Rinnenseen als vielmehr die oft ganz unvermittelt auch in den Wannenseen einsetzenden erheblichen Tiefen weisen in dieser Richtung. Gerade die sonderbaren südöstlichen Anhängsel des Spirdingsees, der Biallolafker und Kesselsee (letzterer freilich heute nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang), mit ihren fast kreisrunden, tiefen »Ausstrudelungen« neben dem ganz seichten Sextersee können hier angeführt werden. Die geradezu unmotivierten, tiefen Löcher im südlichen Teil der Havelseen bieten ein märkisches Gegenbeispiel. Die Vorstellung wirklicher Ausstrudelung etwa im Sinne riesiger Gletschermühlen wird man um so mehr ausschalten müssen, als derartige Bildungen, wie etwa der Goldapgar-See lehrt, recht stattliche Ausmaße erreichen können. Innerhalb einer Endmoränenlandschaft, wie sie in Masuren vorliegt, dürfte das häufigere Vorkommen mehr oder weniger ausgedehnter toter
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Eisreste vor dem zurückweichenden Hauptinlandeise nichts besonders Erstaunliches darbieten. So lassen sich also die masurischen Seen in ihrer Entstehung vielleicht auf vier verschiedene, in ihrer Wirkung sich teilweise steigernde Umstände zurückführen: Erstens auf die unregelmäßige Moränenaufschüttung des Eises und die damit verbundene Entstehung ausgedehnter, flacher Wannen; zweitens auf die subglazialen Schmelzwässer, welche nahe dem Eisrand die flußartig gewundenen, schmalen Rinnen schufen, in welchen durch das Wechselspiel mit der Moränenaufschüttung geschlossene Wannen entstanden; drittens auf nichtglaziale Einflüsse, welche in ihrer großräumigen Gesetzmäßigkeit kaum anders als tektonisch gedeutet werden können; endlich viertens auf das nachträgliche Ausschmelzen toter Eisreste. Von diesen Umständen ist der dritte, tektonische bisher offenbar zu wenig beachtet worden. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der präglaziale Untergrund mit mehreren 100 m diluvialer Aufschüttung überkleistert ist, so ist man zunächst wenig geneigt, in dieser letzteren andere als rein glaziale oder postglaziale Wirkungen zu vermuten. Aber das streng gesetzmäßige Vorherrschen der variszischen und herzynischen Streichrichtung in der Gesamtanordnung der Rinnenseen läßt sich nicht auf diesem Wege erklären. Wird es in der Mark durch das Zusammenfallen der variszischen Richtung mit der Eisstromrichtung großenteils verdeckt, so tritt es in Masuren um so klarer hervor und gestattet nun auch, umgekehrt die auffallenden Abweichungen von der Eisstromrichtung in der Mark richtig zu würdigen. Allerdings ist es wieder nicht einfach, diese tektonisch gedeuteten Ursachen auch in ihrer wirklichen Auswirkung zu begreifen. Es verbietet sich, an echte Verwerfungen oder ähnliches zu denken, zumal solche Erscheinungen in dem meist rein schüttigen Moränenmaterial rasch wieder verwischt werden dürften. Indessen ist der Umstand des Eisdruckes hier vielleicht mit Nutzen heranzuziehen. In letzter Zeit sind ja weitgehende Schlußfolgerungen aus den isostatischen Gleichgewichtsstörungen durch die diluvialen Inlandeismassen abgeleitet worden 1 ). Auf diese stark hypothetischen Auseinandersetzungen soll hier nicht eingegangen werden. Es darf aber wohl bemerkt werden, daß wenn überhaupt der diluviale Eisdruck sich in Massenverschiebungen des Untergrundes geäußert hat, daß dann derartige Krustenbewegungen an den uralten und immer wieder auflebenden Narben und Schwächelinien besonders stark zur Geltung gekommen sein müssen. In diesem Sinne ist es vielleicht zu deuten, wenn solche längst voreiszeitlichen Schwächelinien des Untergrundes nun auch in der Anordnung der Rinnen in den mächtigen quartären Aufschüttungen wiederzuerkennen sind 2 ). *) Vgl. A. P e n c k , Glaziale Krustenbewegungen. Abhandl. Preuß. Akad. d. Wissenseh., Physik.-mathem. Klasse XXIV, 1922, S. 305. 2 ) In diesem Zusammenhang ist auch beachtenswert, daß gerade Ostpreußen ein Gebiet besonderer magnetischer Störungenist; vgl. Fr. E r r u l a t , Die erdmagnetische Aufnahme des westlichen Samlandes (Geol. Archiv II/5,1923, S. 219 (239)) und vor allem die Tafel bei Ad. S c h m i d t , Die magnetische Deklination in West- und Ost-
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Wenn man das Bild der heutigen Seen verstehen will, darf man an ihren früheren Hochständen nicht achtlos vorübergehen. Solche sind freilich in dem flachwelligen Gelände von Masuren nur mit Schwierigkeit zu unterscheiden. K a u n h o w e n und K r a u s e haben rings um den Mauersee zwei alte Uferlinien in Gestalt ausgeprägter Terrassen wiederzuerkennen geglaubt 1 ), von denen die untere 4 m, die obere 15 m über dem heutigen Seespiegel liegen soll. Die obere ist bereits von W a h n s c h a f f e 2 ) angezweifelt worden, der darin nur den Rand der umgebenden Grundmoränenlandschaft anerkennen wollte. Diese ablehnende Auffassung ist durchaus zutreffend. Es gibt in der Tat am Mauersee keine wirkliche 15 m-Terrasse. Die umgebende Moränenlandschaft reicht bis an den See heran und weist hier wie überall in verschiedenen Höhen Verflachungen auf, welche rein örtliche Bedeutung besitzen und nichts mit einem alten Hochstand der Seen zu tun haben. Es ist auch gänzlich unverständlich, wo die Ufer eines derartigen, über große Teile des Landes in ununterbrochenem Zusammenhange stehenden Riesensees gelegen haben sollten; selbst wenn man im Norden den Rand des zurückweichenden Inlandeises dafür annehmen will, so fehlt doch vor allem jede Begrenzung gegen Süden, wo in der Höhe von rund 130 m weite Breschen ins Weichselgebiet hineinführen. Aber auch die tiefere Terrasse, 4 m über dem heutigen Wasserspiegel, verdiente einmal genauere Nachprüfung. Die Darstellung der vom nördlichen Teil des Mauerseegebietes erschienenen geologischen Meßtischblätter, die zudem fast 30 Jahre alt sind, ist gänzlich irreführend. Hier ist in der angenommenen Terrassenhöhe, also 120 m über N. N., einfach die fragliche Isohypse stark ausgezogen und so der Anschein erweckt, als ob hier eine weithin zusammenhängend erhaltene Bildung vorliege. Davon kann keine Rede sein. Gewisse Verflachungen, welche mit steilerer Böschung an die umgebende Moränenlandschaft anstoßen, sind bei Lotzen nicht zu verkennen, aber im übrigen so mangelhaft zu unterscheiden und räumlich so weit voneinander getrennt, daß ihre wirkliche Bedeutung als alte Uferlinie nur durch den Nachweis von Muschelresten auf ihnen festgelegt werden kann. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um nichts anderes als um gewöhnliche Kliffs, welche die umgebende Moränenlandschaft gegen die Seen hin abstutzen und sehr häufig sich in der Höhe von 4—6 m halten. Auch ein Seenhochstand in 120 m stößt auf die Schwierigkeit seiner südlichen Begrenzung. Und wenn am Mauersee selber vielleicht wirklich eine alte Uferlinie 4 m über dem heutigen Seespiegel zu erkennen ist, so gilt dies nicht für die unmittelbare Umgebung. Die alte Wasserscheide an der Brücke Kulla, welche den Soitensee, den südlichsten Ausläufer des preußen (Veröffentl. d. Preuß. Meteor. Inst. Nr. 318, Abh. VII/4, 1922), ferner für die regionalen Zusammenhänge K. H a u ß m a n n , Übersichtskarte der magnetischen Deklination in Deutschland mit der Epoche 1921 (Jahresmittel) in Peterm. Mitt. LXVIII, 1922, S. 177 und Tafel 17. *) Pr. K a u n h o w e n u. P. G. K r a u s e , Beobachtungen an diluvialen Terrassen und Seebecken im östlichen Norddeutschland und ihre Beziehungen zur glazialen Hydrographie. Jahrb. Kgl. Preuß. Geol. L.-A. XXIV, 1903 (1907), S. 44(X 2 ) F. W a h n s c h a f f e a. a. O. S. 295f., 301.
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Löwentinsees, vom Jagodnensee und damit das Einzugsgebiet der Pregel von demjenigen des Pissek und der Weichsel trennte, ist durch den Schifffahrtskanal kaum 3 m tief zerschnitten; und ebensowenig sind die Einschnitte der Kanalstrecken zwischen Schimonsee-Großem KolleckseeTaltowiskosee-Talter Gewässer irgendwo so hoch wie jene 4 m-Terrasse des Mauersees. Es müßte also zur Zeit, welcher diese Terrasse entspricht, abermals eine sehr ausgedehnte Wasserverbindung des Mauersees mit den genannten Seen und durch diese (zum Teil auch über das Taltener Bruch) mit dem Spirdingsee bestanden haben. Demgegenüber ist nachdrücklich festzustellen, daß westlich von Schimonken überhaupt keine Andeutungen einer derartigen 4 m-Terrasse zu finden sind. Sie fehlen an dem gesamten Talzug der langgedehnten Rinne Rheiner See-Talter Gewfisser-Nikolaikcr See-Beldahnsee und ebenso durchaus in der gesamten Umrahmung des Spirdingsees. Was hier dagegen überall vorkommt, sind steile, vielfach noch frische Kliffs, welche in der hier sehr flachwelligen Morfinenlandschaft öfters den Eindruck von Terrassen hervorrufen; höhere Übersichtspunkte, wie etwa der weitragende Kirchturm von Nikolaiken, erwecken erst recht die Vorstellung ausgedehnter Verflachungen, — aber bei näherer Prüfung erweisen sich alle diese Vorkommnisse als Trugbilder, es ist immer nur die von Kliffs unterschnittene flache Moränenlandschaft, und von wirklichen Terrassen ist keine Rede. Die Frage eines so beträchtlich höheren und daher ungeheuer ausgedehnteren Wasserstandes im Mauerseegebiet, wie sie sich aus der Annahme des Vorkommens einer alten Uferlinie in 4 m Höhe über dem heutigen Wasserspiegel ergibt, muß also mindestens als gänzlich ungeklärt bezeichnet werden und verdiente eine sorgfältige neuerliche Nachprüfung. Dabei soll hier nicht einmal die Frage nach der Begrenzung im Süden als ausschlaggebende Schwierigkeit betrachtet werden. In diesem Zusammenhange sind nämlich gewisse rückläufige Gewässerstrecken in der Umgegend von Johannisburg bemerkenswert, vor allem der südnördlich gerichtete Baldersgraben und die. Nachbarschaft des Pogobiensees, aber, wie ein Blick auf die in dieser Hinsicht besonders eindrucksvolle Karte von B l u d a u lehrt, eigentlich das ganze westlichere Einzugsgebiet des Pissek überhaupt. Man könnte hieraus den Eindruck gewinnen, als ob hier die ursprüngliche Wasserscheide südlicher, noch mehr am äußersten Rande des Endmoränengebietes, gelegen habe und erst später durch rückwärtige Ausbreitung des Narew- d. h. Weichselgebietes an ihre heutige Stelle gelangt sei. Dies wäre aber nur denkbar, wenn südlich von Johannisburg, in der Gegend der Reichsgrenze, das Gelände ursprünglich höher gelegen hätte als heute, was freilich abermals nur durch inzwischen erfolgte Krustenbewegungen zu erklären wäre. Indessen soll auf diese sehr unsicheren Möglichkeiten kein allzu großes Gewicht gelegt werden; sie wurden nur erwähnt, weil in einem solchen Falle auch der Abschluß eines gegenüber den heutigen Verhältnissen um 4 m höher gestauten Seengebietes nach Süden hin verständlich wäre. Wie gering die heutigen Höhenunterschiede sind und wie vorsichtig man gegenüber alten, hochgelegenen Uferlinien an einzelnen Seen sein muß,
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lehrt auch die Wasserscheide zwischen Pissek und Beldahnsee im Gebiet der Johannisburger Heide, welche durch die Schleuse des Kanals von Guszianka bei Rudczanny mit ihrer Stauhöhe von 1,75 m deutlich veranschaulicht wird. Ein gegenüber dem heutigen höherer Wasserstand ist indessen an einem der Seen, und zwar an dem größten, dem Spirdingsee, in eindeutiger Weise zu erkennen. Es handelt sich hier freilich nicht um Terrassen von der fragwürdigen Natur derjenigen im Mauerseegebiet, sondern um einen alten Strandwall, welcher in geringer Höhe über dem heutigen See an den geschützteren Stellen des Ufers deutlich wahrzunehmen ist. Weder das Mauerseegebiet noch auch der Rinnenzug vom Rheinersee bis zum Niedersee hat dagegen etwas Derartiges aufzuweisen. Die ungeheure Fläche des Spirdingsees zeigt eine sehr eigenartige Uferentwicklung. Man kann hier geradezu von Gleit- und Prallhängen sprechen. Die Gleithänge sind dadurch ausgezeichnet, daß sich entweder die höhere Moränenumrahmung mit flacher Böschung vom Gestade entfernt und dieses von dem genannten Strandwall begleitet ist oder daß alte, steile Kliffs unter dichter Bewaldung und Bewachsung ihren fossilen Charakter dartun; jedenfalls aber ist in allen solchen Fällen eine ungewöhnlich breite Verschilfungszone vorhanden, welche mitunter mehrere 100 m weit in den flachen See hinausreicht, teilweise auch von Streifen offenen Wassers unterbrochen wird. An den Prallhängen dagegen ist von Verschilfung keine Rede, steil fallen die vielfach noch gegenwärtig in der Fortbildung begriffenen Kliffs unmittelbar zur Wasserfläche ab, und von ihrer Höhe aus kann man auf ansehnliche Erstreckung die grobsteinige Beschaffenheit des seichten Seebodens überschauen. Hell leuchten weithin die frischen Anrisse der jungen Kliffs am Nordufer bei Zollerndorf und am Ostufer südlich des Abbaus von Quicka, während weder am West- noch am Südufer etwas Entsprechendes zu beobachten ist. Für die erloschenen Kliffs, welche unter dichter Baumbewachsung sich über einem breiten, unwegsamen Schilfgürtel erheben, bietet sich dagegen weder an der Nord- noch an der Ostseite des Sees ein Beispiel, wohl aber an seiner Westseite auf dem Ostrande der Halbinsel Kussenort bei Diebowen, unmittelbar nördlich jenes schmalen Durchlasses, welcher den Spirdingsee mit der Rinne des Nikolaikersees verbindet. Der erwähnte fossile Strandwall dagegen kehrt in allen Gleithängen des Ufers mit großer Regelmäßigkeit wieder. Dies gilt nicht nur von der Westseite, wo er südlich von Lucknainen gegen Diebowen sich hinzieht und die Quartärinsel von Kussenort erst landfest gemacht hat, sondern auch von den Ausbuchtungen der Nord- und Ostseite; er bedingt die Abschnürung des Tirklosees (dessen Südende er in besonders schöner Ausbildung umspannt) vom Spirdingsee bei Eckersberg wie diejenige des Riallolafkersees bei Wiska-Krug und begleitet auch den Sextersee südlich von Sdorren. Auf der landwärts gelegenen Seite dieses im günstigsten Fall bis etwa 100 m breiten, flach gewölbten Walles finden sich fast regelmäßig sumpfige Niederungen oder Torfbrüche; da er infolgedessen als trockene Aufragung allein für Fahrwege in Frage kommt, wird er durch diese nicht
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selten besonders stark hervorgehoben. Sein Aufbau ist sehr einheitlich: mehr oder weniger reiner Feinsand mit beigemischten kleineren Gerollen und zahlreichen Muschelbruchstücken, welche gelegentlich in ihrer Häufigkeit zurücktreten, aber nie ganz fehlen. Auf den Meßtischblättern ist dieser alte Strandwall dadurch deutlich zu erkennen, daß er durch die immer wieder vorkommende Höhenzahl 117,2 gekennzeichnet ist, welche fast überall wiederkehrt, wo die steilen Kliffs aussetzen. Damit liegt er gut 2 m über dem Normalpegelstand des Spirdingsees 1 ). Für sein Alter läßt sich eine annähernde Mindestgrenze bestimmen. Der naheliegende Gedanke, daß er etwa auf eine ganz junge Senkung des Seespiegels im Zusammenhang mit der Anlage des masurischen Schiffahrtsweges zurückgehen könnte, wie dies für den Buwelno- und Aryssee im ganz gleichen Ausmaße mit Sicherheit feststeht 2 ), muß sofort aufgegeben werden angesichts der geschichtlichen Unterlagen. Schon Ende des 16. Jahrhunderts berichtet nämlich H e n n e b e r g e r 8 ) über Eckersberg, daß der Ort eine »schöne lange Brücken vber ein ort des grossen Sees Spirding genannt« besitze. Das setzt voraus, daß bereits damals die schmale Rinne des Tirklosees im heutigen Umfange vom eigentlichen Spirdingsee durch jenen alten Strandwall abgeschnürt war. Dieser Strandwall muß also älter sein als die geschichtlichen Veränderungen der Gegend, es handelt sich um einen vorgeschichtlichen, nacheiszeitlichen Hochstand des Spirdingsees um 2 m gegenüber dem heutigen Wasserspiegel. B r a u n 4 ) hat hervorgehoben, daß der Roschsee bei Johannisburg ehedem eine erheblich größere Ausdehnung als heute besessen und mit dem Spirdingsee in unmittelbarem Zusammenhang gestanden habe. Die Landtafel H e n n e b e r g e r s läßt erkennen, daß noch gegen 1600 eine einheitliche Wasserverbindung den Roschsee mit dem Kesselsee und Biallolafkersee und damit auch mit dem Spirdingsee verband. Die seither erfolgte Trennung geht aber kaum auf eine Senkung des allgemeinen Wasserspiegels zurück, sondern ist nur eine Folge der fortschreitenden Verschilfung und Versumpfung, welche den flachen Grund zwischen der Rinne des Roschsees und den eigenartigen tiefen Kesseln des Kessel- und Biallolafkersees hat landfest werden lassen. Tatsächlich führt auch am Westende des Biallolafkersees die Brücke von Wiska-Krug heute nur über einen schmalen Wassergraben, so daß auch hier der Zusammenhang mit dem Spirdingsee bereits unterbrochen ist. Will man das heute ausschließlich an der Nord- und Ostseite des Spirdingsees vorkommende Auftreten frischer Kliffs mit dem Vorherrschen der westlichen und südwestlichen Winde in Zusammenhang bringen, so bleiben ') Nach: Höhen über N.N. von Festpunkten und Pegeln in Ostpreußen. X I X , 1922. 2 ) Vgl. H. K e l l e r , Memel-, Pregel- und Weichselstrom, ihre Stromgebiete und ihre wichtigsten Nebenflüsse. 1899. Bd. II, S. 303; Bd. IV, S. 151. s ) Kaspar H e n n e b e r g e r , Erklärung der Preussischen Landtafel oder Mappen, 1576/1595, S. 112. (Vgl. Anm. 1 auf 8. 2-5), welche sich aber nur auf die eigentliche Tafel, nicht auf den Text bezieht.) 4 ) G. B r a u n a. a. O.. S. 79f.
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jene alten, heute fossilen Kliffs auf der Westseite unverständlich. Darüber hinaus aber ist das Bild der Tiefenkarte des Sees sehr eigenartig. Gering ist der Umfang der tiefsten Wanne in der Mitte des Sees, in ungewöhnlichem Ausmaße begleitet ganz seichter Seegrund die Ufer, und bei näherer Betrachtung bemerkt man in diesem seichten Seegrund eine Anzahl kleiner, vereinzelter Vertiefungen, welche durchaus dieselbe Erscheinung zeigen wie die Solle der Nachbarschaft. Es ist, als ob eine normale Moränenlandschaft mit einer beschränkten Seewanne "nachträglich unter den Grundwasserspiegel geraten und somit weithin ertrunken sei. Dieser Eindruck findet seine merkwürdige Bekräftigung durch die Nachrichten, welche von einem gegenüber dem heutigen nennenswert tieferen Stande der masurischen Seen noch in geschichtlicher Zeit zu berichten wissen. Ein unbefangener Angerburger Geistlicher, H. Braun, hat vor mehr als einem Menschenalter alle diesbezüglichen Mitteilungen zusammengestellt. Er schreibt 1 ): »Der Mauersee hat in alten Zeiten einen weit niedrigeren Wasserstand gehabt als heute. Große Flächen, die heute mit dem See bedeckt sind, waren Land. Was man heute Mauersee nennt, ist ursprünglich . . . . wirklich gar kein allgemeiner See gewesen, sondern bestand aus einzelnen Teilen: aus dem 1340 erwähnten Mabrow und Swokisken und den 1514 genannten Lappinge und Theruse. — Man ging früher trockenen Fußes von Kehlen über Thiergarten nach Engelstein zur Kirche auf einem Wege, der heute Seegrund ist. Von 60 Hufen, die Kehlen ursprünglich besessen, sind 5 verschwunden, indem sie unter Wasser gesetzt wurden und schon unter dem 5. Juni 1781 im Grundbuch abgeschrieben sind. Der StobberWerder (Insel Upalten) war vormals keine Insel, sondern nur eine Halbinsel, eine Landzunge, wohin man zu Fuß von Steinort gehen konnte. Im 16. Jahrhundert wahrscheinlich ist das Wasser um die Höhe einer Lanze gestiegen Die künstliche Anstauung des Wassers durch hochaufgeschüttete Dämme, wie mit H e l w i n g auch T o p p e n annimmt, ist zu unwahrscheinlich. Der Mauersee hängt mit 77 anderen Seen Preußens zusammen, auch diese haben alle eine Hebung des Wasserspiegels erfahren. Bei Nikolaiken war der See vormals so schmal, daß man mit einem Stein bequem da hinüberwerfen konnte, wo jetzt die lange Brücke steht. Mit dem Spirdingsee ist dasselbe geschehen, hier sind ca. 100 Hufen ehemaligen Waldes vom See bedeckt, und können diese Stellen wegen der vielen und großen Stubben auf dem Seegrunde nicht befischt werden. Ähnlich ists mit dem Löwentinsee, an welchem früher vom Schloß zu 1
) H. Braun, Alte und neue Bilder aus Masuren. 1888. S. 16f. Dieses Buch ist ein lehrreiches Beispiel dafür, welche wertvollen Bausteine die volkstümliche Heimatkunde aus der Feder unvoreingenommener Beobachter auch für die Wissenschaft zu liefern vermag. Im Gegensatz dazu vermißt man in den zahlreichen, seit Kriegsbeginn erschienenen Darstellungen über Masuren, welche für dieses nunmehr zu weltgeschichtlicher Bedeutung gelangte Land nur die bisherigen Veröffentlichungen verwerten, irgendwelche neue Einzelheiten; dies gilt z. B. auch für die fraglichen Abschnitte in F. Mager, Ostpreußen (Veröffentl. d. Geogr. Inst. d. Albertus-Univ. zu Königsberg IV, 1922).
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Lotzen nach Biestern der W e g gerade aus hinter der S t a d t ging. Die Ortschaft Willkassen verlor eine ganze Insel im Löwentin, auf der sie Heu geerntet hatte, dadurch, daß diese Insel vom Wasser bedeckt wurde. Die großartige mit allen masurischen Seen geschehene Änderung des Wasserstandes ist daher nicht auf die Anlegung eines von Angerburg aus bewirkten Dammes, sondern auf eine andere, bisher u n b e k a n n t e natürliche Ursache zurückzuführen.« Diese höchst bemerkenswerten Ausführungen lassen sich freilich bei genauerer Nachprüfung nicht in allen Einzelheiten aufrechterhalten. Es ist eine oft gemachte Erfahrung, daß tatsächlich erfolgte Naturvorgänge in der Überlieferung eine erhebliche Verzerrung und Übertreibung erleiden. Die Erhöhung des Mauerseespiegels um »eine Lanzenlänge« geht auf den Pfarrer H e l w i n g zurück 1 ), auf dessen Schilderung und ähnlichen Andeutungen bei H e n n e b e r g e r der größte Teil der Darstellung H. B r a u n s beruht. Setzt man diese Lanzenlänge reichlich mit rund 2 m an, so ergibt sich in der Tat, daß bei einer entsprechenden Senkung des Mauerseespiegels dieser »in plures minores divisus« erscheinen würde; insbesondere würden dann die seichten Durchlässe beiderseits des Kirsaitensees landfest, welcher als kleiner Tümpel auf einer Landenge zwischen dem eigentlichen Mauersee und der großen Fläche des Dargainensees vereinzelt bliebe. Um jedoch zu F u ß von Steinort unmittelbar nach der heutigen Insel Upalten gelangen zu können, wäre eine Senkung des Seespiegels nicht nur um 2 m, sondern um weit über 10 m notwendig; und dies erscheint nach Lage der Dinge ziemlich ausgeschlossen. Wohl mag, entsprechend der »Lanzenlänge«, die Insel Upalten auf ihrer Westseite mit dem Seeufer bei Stobben zusammengehangen haben; der Fußweg von Steinort nach der heutigen Insel braucht durchaus nicht die unmittelbare Luftlinie zu bedeuten, sondern kann auch einen Umweg über Stobben durchaus einbegreifen. Ebenso braucht die heute verschwundene Landverbindung zwischen Kehlen und Thiergarten nicht geradlinig gewesen zu sein, sondern kann mit einer gewissen Abschwächung einen ähnlichen Verlauf wie das heutige Ufer besessen haben. All diese Nachrichten sind mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen. Vor allem aber ist zu beachten, daß auf der Karte von H e n n e b e r g e r , also im Jahre 1576, der Mauersee bei aller auffälligen Verzeichnung doch durchaus als ein einheitliches Gebilde im heutigen Umfange erscheint. Die bedeutende Erhöhung des Wasserspiegels war also bereits zu dieser Zeit abgeschlossen. Anderseits gehen die Kirch- und deutschen Ortsgründungen der ganzen Gegend nicht über 1400 hinauf. Wie soll innerhalb von noch nicht zwei Jahrhunderten eine derartige großartige Erscheinung erklärt werden? H. B r a u n hat zweifellos recht, daß dieselbe nicht ausschließlich auf die Errichtung eines künstlichen Staudammes bei Angerburg zurückgeführt werden darf. Dieser »agger partim ad oppugnationem arcis impediendam, partim ad molae utriusque tarn frumentariae quam trusatilis usum promovendum« kann nicht erheblich ansehnlicher gewesen sein als ') G. A. H e l w i n g , Lithographia Angerburgica.
1717/1720.
§5, S. öff.
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jener noch heute am Ausfluß der Angerapp befindliche, dem Aalfang dienende Kasten, der das Wasser des Flusses um höchstens 1 m staut. Ganz ist seine Wirkung allerdings auch nicht auszuschalten, die sich nach H e l w i n g s anschaulicher Darstellung darin äußerte, »ut adhuc in dies ejus littora. crescentibus fluctibus magis magisque elui & quasi demergi deprehendantur« Dieser Vorgang mag zur Überschwemmung manches Uferweges geführt haben, und tatsächlich sind ja auch vor Willkassen im Löwentinsee Stubben ertrunkenen Waldes vorhanden 1 ). Und diese Vorkommnisse können im Bewußtsein der Uferbevölkerung die Erinnerung an längst verschollene Vorgänge ähnlicher Art wachgerufen haben, welche in der Überlieferung der Einheimischen von den eindringenden Eroberern vorgefunden wurden. In welche Zeit die eigentliche, nicht auf künstliche Eingriffe zurückgehende Steigerung des Wasserspiegels zu setzen ist, lehrt das südlich vom Mauerseegebiet im ursprünglichen Einzugsgebiet des Pissek gelegene Dorf Schimonken am Großen Henselsee, dem Südzipfel des Jagodnensees. Hier liegen Pfahlbauten aus vorgeschichtlicher Zeit unter dem heutigen Wasserspiegel2). Es ist eine allgemeine Erscheinung, daß die Kunde von »versunkenen« Orten sich in der Umgebung der in Frage kommenden Seen und Gewässer mit erstaunlicher Beharrlichkeit jahrhundertelang erhält. Den Fischern des Mauerseegebietes war zudem die scharfe unterseeische Gliederung des Mauersees in einzelne tiefe Becken wohl bekannt; noch heute leben ja die zahlreichen selbständigen Namen für die einzelnen Teile des Sees auch auf den amtlichen Karten fort. Gerade die Pfahlbauten von Schimonken beweisen, daß tatsächlich an einem früheren Tiefstand der Seespiegel nicht zu zweifeln ist; und senkt man den Grundwasserspiegel um den durch diese Pfahlbauten sichergestellten Betrag, so wird der Mauersee (Mabrow) vom Dargainensee durch eine Landenge getrennt. Daß die *) Freundliche Mitteilung von Herrn cand. G. H e n n i n g , dem ich auch sonst für manchen anregenden Hinweis zu danken habe. ') J. H e y d e c k (Pfahlbauten in Ostpreußen. Sitzungsber. d. Altertumsges. Prussia für 1900-1904, XXII, 1909, S. 194 (199 f.)) verlegt den Pfahlbau von Schimonken allerdings ins 11. bis 12. Jahrhundert. Aber die von ihm angewandte Methode zur Altersbestimmung ist von E. Wahle (Ostdeutschland in jungneolithischer Zeit. Mannus-Bibliothek Nr. 15, 1918, S. 153 und vor allem Fußnote zu S. 148) mit Recht scharf angefochten worden. Schon lange vorher hatte B a l d u h n (Die Pfahlbauten bei Arys gehören der Steinzeit an. Altpreußische Monatsschr. XI, 1874, S. 180) gegenüber ähnlichen Zweifeln von Toeppen an dem neolithischen Alter dieser Funde festgehalten. Die Unsicherheit der Altersbestimmung hebt auch H. Bonk (Die Städte und Burgen in Altpreußen (Ordensgründungen) in ihrer Beziehung zur Bodengestaltung. I. Altpreußische Monatsschr. XXXI, 1894, S. 320 (Fußnote 3 zu S. 334)) hervor. — Für die gesamten Zusammenhänge ist es wesentlich, daß auch die Pfahlbauten bei Arys erst erforscht werden konnten, als infolge der Meliorationen jener Gegend die betreffenden Seespiegel gesenkt worden waren; sie lagen, wie der Pfahlbau von Schimonken, etwa 1 bis 2 m unter der ursprünglichen Wasserfläche, und für sie kam jedenfalls eine etwaige künstliche Erhöhung des Grundwasserspiegels wie am Mauersee nie in Frage. Es wäre dringend zu wünschen, daß die Frage der ostpreußischen Pfahlbauten eine eingehende und sorgfältige Gesamtnachprüfung erführe!
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Seebezeichnungen der alten Urkunden heute nicht mehr durchweg wiederzufinden sind, braucht noch nicht im Sinne T o e p p e n s auf entsprechende Veränderungen in der Verteilung von Wasser und Land zurückzugehen 1 ). Erwähnt sei übrigens, daß bei einer Senkung des Seespiegels um 3 in auch der Dobensee zu einem selbständigen Seebecken würde. Für den Spirdingsee sind diese Verhältnisse wenig geklärt. Die Angaben von H. B r a u n über die ausgedehnten Stubben und Reste versunkener Wälder habe ich an Ort und Stelle nicht bestätigt finden können. Den heutigen Fischereipächtern des Spirdingsees ist von solchen unterseeischen Stubben nichts bekannt. Hier könnten wohl nur langwierige Forschungen zu einem besseren Ergebnisse führen. Aber wie bereits betont, zeigt das ganze Bild der Tiefenkarte des Spirdingsees so eigenartige Züge, daß sich unwillkürlich die Vermutung einer nachträglichen Ertränkung der Moränenlandschaft mit ihren Sollen und Wannen infolge eines Steigens des Grundwasserspiegels aufdrängt. Auch hier ist wieder das Pfahlbaudorf bei Schimonken wichtig, weil es ja gleichfalls im Pissekgebiet gelegen ist. Zur Zeit seiner Besiedelung muß auch der Spiegel des Spirdingsees mehrere Meter niedriger gestanden haben als heute. Das bestätigt jene eben erwähnte Vermutung. So ergibt sich also als Schlußfolgerung, daß mindestens am Spirdingsee zwei von dem heutigen erheblich verschiedene Lagen des Wasserspiegels in einer ferneren Vergangenheit nachzuweisen sind. Die tiefere Lage, mit erheblich geringerer Ausdehnung des Sees, hat anscheinend noch bestanden, als der Mensch diese Gegenden bewohnte. Der Vergleich mit den Verhältnissen der Seen des Alpenvorlandes ist überaus schlagend: auch hier setzen die Pfahlbausiedelungen, wie jüngst G a m s und N o r d h a g e n eingehend nachgewiesen haben 2 ), einen gegenüber dem heutigen niedrigeren Wasserstand voraus. Ob jene höhere Lage, welche durch den 2 m über dem gegenwärtigen Seespiegel gelegenen alten Strandwall bezeichnet wird, älter oder jünger ist als jener vorgeschichtliche Tiefstand, kann nicht entschieden werden. Sie muß aber, wie die Verhältnisse bei Eckersberg lehren, jedenfalls mindestens auch älter sein als die Besiedelung der Gegend durch den Deutschen Orden. Wäre sie älter als jener Tiefstand der Pfahlbauzeit, so würde sie auf säkulare Schwankungen des Grundwasserspiegels hinweisen, welche bei der geringen Reliefenergie des Landes jedesmal zu weitgehenden Verschiebungen zwischen Wasser und Land führen mußten. Auch dieses würde in bemerkenswerter Übereinstimmung zu den von G a m s und N o r d h a g e n vertretenen Auffassungen stehen und jedenfalls die hier nicht zu erhärtende Ansicht überflüssig machen, als ob etwa in diesen Schwankungen des Grundwasserspiegels eine Wirkung glazialisostatischer Krustenschwingungen zu erblicken sei, wie 1
) M. Toeppen a. a. O. S. 65 (Fußnote 3 zu S. 64). ) H. Gams u. R. Nordhagen, Postglaziale Klimaänderungen und Erdkrustenbewegungen in Mitteleuropa. Mitt. Geogr. Ges. München XVI, 1923, S. 13 (268 f., 296). 2
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dies für andere Gebiete der diluvialen Vereisung neuerdings verfochten wird Überhaupt ist bisher noch keinerlei Anhaltspunkt dafür zu erkennen, daß diese merkwürdigen Veränderungen im masurischen Seengebiet irgendwie mit Bewegungen des Untergrundes in Zusammenhang stehen. Die Entstehung des breiten »Seetales« als solchen legt derartige großräumige Bewegungen, wie oben ausgeführt wurde, nahe. Wem das Bild benachbarter Flußgebiete vor Augen steht, etwa das tief eingeschnittene Tal des Pregel bei Insterburg oder gar die schönen und ungewöhnlich hohen Terrassen an der Angerapp bei Darkehmen oder an der Alle bei Alienstein, der wird freilich auch hierin Auswirkungen von Bodenbewegungen zu erkennen glauben, welche das südliche Gebiet gegenüber dem Norden gehoben haben; ganz in Übereinstimmung mit den erwähnten Anzeichen, welche im engeren Bereich des Pissek auf eine nachträgliche Senkung hindeuten. Es darf hier nicht übersehen werden daß die eigentliche »Sattellinie« von Masuren wieder fast genau im variszischen Streichen verläuft. Aber alle diese Mutmaßungen stehen vorläufig auf ganz schwankem Boden und bedürfen sorgfältigster Nachprüfung in allen Einzelheiten. Es konnte nicht Aufgabe der vorliegenden Ausführungen sein, endgültige neue Ergebnisse auszubreiten. Das Ziel muß vorläufig noch erheblich bescheidener gesteckt werden. Noch fehlt es ja sogar für einen nicht unerheblichen Teil des masurischen Seengebietes überhaupt an den kartographischen Unterlagen der Meßtischblätter; nur aus dem Mauerseegebiet besitzen wir eine — vielfach veraltete — geologische Aufnahme; eine ganz erkleckliche Anzahl der Seen ist hinsichtlich ihrer Tiefenverhältnisse noch unbekannt; nirgends wissen wir bisher etwas über Lage und Gestaltung des vorquartären Untergrundes. Der ganze Boden, auf dem sich die Forschung zurzeit noch bewegt, kann nicht als genügend gesichert gelten. Gleichwohl darf das kein Hinderungsgrund sein, um nicht auch jetzt schon den größeren Zusammenhängen und Fragestellungen nachzuspüren. Es kommt darauf an, darzulegen, daß Masuren nicht nur mit einer schlagwortartig einfachen wissenschaftlichen Umschreibung abzutun ist, daß es sich nicht lediglich um ein gewöhnliches Glied der nordeuropäischen Endmoränenlandschaft mit Wannen- und Rinnenseen, mit Sollen und Sanderflächen handelt, sondern daß in dem allem eine Fülle schwierigster Probleme steckt, denen man nur mit sorgfältiger Beobachtung näherzukommen vermag, die aber dann dem Lande über das Schema der »Glaziallandschaft« hinaus erhöhte Bedeutung zu verleihen vermögen 2 ). A. Penck a. a. O. (s. Anm. 1 auf S. 246), ferner: Gekippte Seen, in Ztschr. Ges. f. Erdk. Berlin 1924, S. 249 (mit Schlußfolgerungen, die bezüglich des Spirdingsees ganz unbewiesen sind!). *) Vgl. E. K r a u s , Der Abschmelzungs-Mechanismus des jungdiluvialen Eises im Gebiet des ostpreußischen Mauersees. Jahrb. Preuß. Geol. L.-A. XLIV, 1923 (1924), S. 221. Hier werden von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend recht ähnliche Schlußfolgerungen gezogen!
Beiträge zur Kenntnis Armeniens. Von
ULRICH FREY. Mit Karte 2.
Unsere wissenschaftliche Kenntnis von Armenien ist in jeder Beziehung noch recht dürftig und ungeklärt. Trotzdem das armenische Hochland seit undenklichen Zeiten in der Geschichte der Völker des nahen Orients stets eine bedeutsame Rolle gespielt hat, als Völkerbrücke zwischen Europa und Asien, als Durchgangsland von Nord und Süd, von Ost und West und umgekehrt, als Schauplatz gewaltigen Völkerringens bis in die neueste Zeit hinein, ist es noch heute ein Land voller Rätsel, in geographischer, geologischer und anthropogeographischer Beziehung. Auch seine von Sagen umwobene Geschichte, die in vielen Denkmälern und Inschriften noch heute zu uns spricht, ist nicht geklärt, und wir können von Ausgrabungen und Forschungen in diesem uralten Kulturlande noch Überraschungen gewärtigen, ähnlich denen, die uns seit 1906 die Auffindung der Hethiterhauptstadt auf dem benachbarten anatolischen Hochlande gebracht hat. Lag doch nach dem Glauben und der Überlieferung der ältesten christlichen Staatskirche auf dem zentralen armenischen Hochplateau, am Bingöl-Dagh in über 3000 m Seehöhe, sogar die Stätte des biblischen Paradieses, dessen Topographie nach der Genesis für dort besonders überzeugend zu belegen versucht wird! Die nachfolgenden Ausführungen haben den Zweck, auf einige der noch ungelösten Probleme hinzuweisen und Interesse für das (von der systematischen Forschung am meisten gemiedene) Land vor den Toren Europas zu erwecken, das nicht verdient, eine terra incognita zu sein. I. Schon die Bestimmung des Begriffs Armenien ist schwierig und unsicher, weil jahrhundertelange Aufteilung in mindestens drei Nachbarstaaten und geflissentliche Begriffsverschiebung dabei eine Rolle spielen. So liegt z. B. das bekannteste und am längsten überlebende selbständige armenische Staatsgebilde des Mittelalters, das Königreich »Klein-Armenien«, gänzlich außerhalb des geographischen Armeniens überhaupt (nämlich in Kilikien), und auch die neue Schöpfung des Völkerbundes, die mit viel Sentimentalität ins Leben gerufene heutige »selbständige« (Sowjet-) Republik Armenien umfaßt nur einen kümmerlichen Zipfel des armenischen Hochlandes am entgegengesetzten Ende. Eine klare Begriffsbestimmung erscheint also notwendig. Da, wo im Osten die iranischen Gebirgsketten, im Westen die pontischen und taurischen Bögen Anatoliens sich wieder enger zusammen-
Beiträge zur Kenntnis Armeniens.
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.schließen, hat sich dazwischen ein ungeheures vulkanisches Hochplateau von durchschnittlich 1650 m Höhe, aber im Norden und Süden bis über 4000 ansteigend, aufgetürmt, mit großen und kleinen abflußlosen Seen und eingeklemmt zwischen die mesopotamische Tafel im Süden und den uralten Meskischen Horst im Norden. Das ist Armenien; und die Zusammenschnürung seiner Gebirgsketten in der Nord-Südrichtung ist noch weit inniger als die analoge Erscheinung in Hochasien, am Halse von Kabul. Sie beträgt wenig mehr als 400 km und entspricht somit etwa der Entfernung von München nach Genua. Schwierig, wie die Orientierung in dem unübersichtlichen Lande, ist auch die nach der Karte. Orographisch und hydrographisch wird Armenien wie folgt begrenzt: Im S ü d e n durch die langgezogene Taurische Scholle (früher armen. Tauros genannt); im W e s t e n durch das Euphrattal, die Senke von Ersingan und das Tschoroktal; im N o r d e n durch die achalzische Kette, das Seenplateau von Achalkalaki, den Schach-Dagh und den Karabagh; im O s t e n durch das Plateau des Urmiasees und die persisch-türkischen Randketten (also ohne Aserbeijdschan mit Täbris). Es ergibt sich somit ein großes Trapez, das sich leicht nach den wenigen größeren Orten der Randlandschaften bestimmen läßt, und in dessen Mitte, auf dem Schnittpunkt der Diagonalen, der Ararat liegt, das Wahrzeichen ganz Armeniens. Die vier Eckpunkte des Trapezes sind: A c h a l z i c h im Norden, S c h u c h a (am Karabagh) im Osten, U r m i a im Süden und E g i n (am Euphrat) im Westen. Alle größeren Siedlungen Armeniens liegen auf oder in der Nähe der vier Seiten des Trapezes; im Innern liegt nur Kars, in der Nähe der alten Hauptstadt Ani, mitten auf dem Vulkanplateau, das gleichfalls ein Viereck darstellt, zwischen meist parallelen Vulkanreihen. Parallel verlaufen auch alle die zahlreichen langgestreckten Senken, die das Vulkanplateau durchziehen (s. Karte). Innerhalb der angegebenen Grenzen stellt Armenien eine durchaus selbständige geographische Einheit dar, und es ist verständlich, daß auch die Ansichten der Forscher über seinen Aufbau stark voneinander abweichen, je nachdem sie einen unmittelbaren Übergang des taurischpontischen in das iranische Gebirgssystem annehmen oder verneinen zu müssen glauben. Schon Sueß hatte das Umbiegen der iranischen Ketten nordwestlich des Göktschasees (Pambak, Besobdal) in eine westlichere Richtung und ihr Verschwinden unter den vulkanischen Massen des Zentralplateaus erkannt, ohne jedoch einer direkten Vereinigung beider Gebirgssysteme in Armenien das Wort zu reden. Naumann hält eine solche für erwiesen, verlegt sie aber eigentümlicherweise nicht auf oder unter das vulkanische Zentralplateau, sondern ganz außerhalb desselben, an die Westgrenze Armeniens, in die Linie Trapezunt-Ersingan-Charput, also an das Euphrattal. Friedrichsen wiederum spricht von einer Vereitelung der erstrebten Vereinigung beider Gebirgssysteme. Der Russe Gukasoff tritt wieder für eine tatsächliche Verbindung ein, sowohl im äußersten Norden (achalzisch-imeretisch-thrialetische Kette), als auch im äußersten Süden (Gekkiarskische Berge, südl. des Wansees) und sogar in der Mitte (Aghridagh, nordwestl. vom Ararat). Der Engländer Lynch läßt in ähnD r y g a l s k i , Festgabe.
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Ulrich Frey.
licher Weise die Zagrosketten einerseits direkt in den Amanos, anderseits über den Aghridagh und Palandökendagh in den Antitauros übergehen, die nordiranischen Ketten aber direkt in die pontischen. Demgegenüber bestreitet v. Zahn wiederum kategorisch jeden direkten bogenförmigen Übergang sowohl der nördlichen wie der südlichen Ketten und kommt zu dem Schlüsse, d a ß man in dem zentralen Teile des armenischen Hochlandes drei organisch ganz verschiedene Zonen unterscheiden müsse, je nachdem in dem Einbruchsgebiet zwischen den westlichen und östlichen Gebirgssystemen, das heute von vulkanischen Massen erfüllt ist, noch Spuren von Beeinflussung durch das benachbarte Gebirgssystem erkennbar sind oder nicht. Er unterscheidet also: 1. ein südwestliches, anatolisch beeinflußtes Z e n t r a l p l a t e a u , 2. ein südöstliches, iranisch beeinflußtes Z e n t r a l plateau und 3. ein nördliches, neutrales Zentralplateau (ohne erkennbares Grundgebirge) von Kars und Agmangan, am Riesenvulkan Alagös. Alle drei stoßen bei A l a s c h k e r t zusammen, am Südhang des iranischen Charakter tragenden Aghridagh, des einzigen innerarmenischen Gebirgszuges, der nicht von vulkanischen Massen bedeckt ist. (Die Ausdehnung des Vulkanbodens bezeichnet ein Rechteck von abflußlosen Seenplateaus: Seen von A c h a l k a l a k i im Norden, G ö k t s c h a s e e im Osten, W a n s e e im Süden und B i n g ö l (»1000 Seen-«)-Plateau im Westen (südl. Erzerum).) Im Gegensatz hierzu vertritt der englische Forscher Oswald, wohl der maßgebendste Kenner Armeniens, wieder die frühere Anschauung, daß ein harmonischer Übergang und Zusammenhang zwischen den westlichen und östlichen Gebirgssystemen im zentralen Armenien vorhanden aber unter den Lavamassen begraben ist. Er hebt das »zentrale Rückgrat« im Zuge des Musurdagh (am Euphratknie) -Palandökeken- und Schatindagh bis zum Zagros mitten durch Armenien von West nach Ost streichend hervor, und auch Banse spricht von der »Scharung« beider Gebirgssysteme im armenischen Hochlande. Wir sehen also die Ansichten zwischen beiden Auffassungen hin und her pendeln, und nur eine gründliche geographische und geologische Erforschung kann Klarheit bringen. Bisher ist nur der Osten Armeniens geologisch einigermaßen erschlossen. Es dürfte aber kaum zweifelhaft sein, d a ß die Entscheidung nicht nur zugunsten des mittleren, kwenlunartig langgezogenen, gefalteten Rückgrates in Armenien fallen wird, sondern auch für je eine südliche und nördliche Verbindung, im Zuge der Taurischen Scholle und der nördlichen Randschollen Armeniens. In ähnlicher Weise h a t man früher auch jede Beziehung der pontischen Ketten zum kaukasischen Gebirgssystem geleugnet, während der Augenschein schon einen solchen Zusammenhang im meridional verlaufenden Meskischen Gebirge lehrt und doch anzunehmen ist, daß dieselbe gebirgsbildende Kraft aus Nordosten, die den Kaukasuswall zu 5000 m aufgetürmt hat, auch auf die Bildung des armenischen Hochlandes von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Zweifellos war sie auch bei der senkrechten Schollenbewegung
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im armenischen Zertrümmerungsgebiete mit im Spiele, worauf die schon erwähnte auffallende Parallelität der abgesunkenen Schollen und langgestreckten Senkungsebenen, die alle mit dem Kaukasus gleichlaufen, schließen läßt. Auffallend ist auch die Tatsache, daß die beiden großen meridional verlaufenden armenischen Vulkanreihen, beiderseits des Meskischen Gebirges nach Norden verlängert, fast genau die kaukasischen Riesenvulkane Elbrus und Kasbek treffen, so daß man sie wohl ohne Übertreibung zum armenischen Vulkansystem rechnen kann. Dieses erstreckt sich dann fast geradlinig vom Elbrus bis zum Wansee über 500 km und vom Kasbek über den Ararat zum Rowandusdagh sogar über mehr als 600 km (entsprechend der Entfernung München—Korsika). Eine dritte, ebenfalls über 500 km lange, schnurgerade Vulkanreihe läuft vom Karadagh (bei Diarbekr) gerade über die höchsten und zum Teil noch aktive Tätigkeit 1 ) verratenden Vulkane — Nimrud, Sipan, Tandurek. Ararat — zum Akdagh am Göktschasee, unterbrochen nur durch die Tigris- und Mittelaraxesebenen. Diese das meridionale Vulkansystem im Ararat schneidende Reihe von Vulkanriesen bezeichnet ungefähr die Trennungslinie zwischen antitaurischer und iranischer Faltung. Auf ihr liegt auch, bei Bajasid, die nach Oswald e i n z i g e geologische Überschiebung im armenischen Hochlande. Nirgends sonst, auf dem eurasischen Kontinent, findet sich eine ähnliche Anhäufung von Vulkanen. II. Auch die k l i m a t i s c h e n Verhältnisse Armeniens sind noch wenig erforscht und haben im Weltkriege zu den unangenehmsten Überraschungen geführt. Trotz mehrfacher Versuche erwies sich ein Winterfeldzug als praktisch unausführbar und führte nur zu enormen Einbußen an Menschen und Kriegsmaterial, wozu natürlich auch die ganz ungenügenden Verpflegungs- und Verkehrsverhältnisse beitrugen. Da der Winter von Oktober bis Mai dauert und ungemein streng ist, gewähren bei dem großen Mangel an Brennstoffen nur unterirdische Behausungen einigermaßen Schutz gegen die eisigen Winde, die dauernd über die tiefverschneiten Hochebenen fegen. (Selbst die Armee-Oberkommandos konnten nicht immer genügende Mengen von getrocknetem Tiermist aufbringen, um auch nur die Führer vor dem Erfrieren von Gliedmaßen zu schützen.) Von den wenigen im Kriege eingerichteten Feldwetterstationen kann man sich immerhin ein Bild der gewaltigen Temperaturunterschiede Armeniens machen. Die Station M e s e r e bei C h a r p u t , in windgeschützter, südlicher Lage und nur 1080 m Seehöhe, hat ein Januarmittel von unter —6°, und im Dezember 1917 fiel das Thermometer sogar auf — 20°. Im März 1918 wurden noch — 7,5° gemessen. Das Julimittel ') Die vulkanische Tätigkeit schien lange zu ruhen — bis auf die Solfatarentätigkeit des Tandurek —, da vernichtete das f u r c h t b a r e E r d b e b e n v o m S e p t e m b e r 1024 mitten auf dem Zentralplateau zwischen Erzerum und Eriwan Hunderte von Ansiedlungen und Tausende von Häusern völlig. Die letzten vulkanischen Katastrophen waren 1441 der Ausbruch des Nimrud und 1840 der Schlammstrom vom Ararat (infolge Gletschererschütterung) gewesen. 17*
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von Mesere bei Charput ist etwa + 25°. Die Hauptstadt E r z e r u m , in 2032 m Seehöhe, hat etwa den gleichen Winter, aber einen um ca. 6° kühleren Sommer. K a r s , auf dem Zentralvulkanplateau in 1740m Seehöhe, hat einen mehr als doppelt so kalten Winter und etwa gleich kühlen Sommer. E r i w a n , die Hauptstadt der neuen armenischen Sowjetrepublik, in nur 984 m Seehöhe, ist in jeder Beziehung eine Ausnahme (reicher Obst- und Weinbau) mit einem Jahresmittel von + 11°, einem Sommer wie Mesere bei Charput ( + 25°) aber einer Januartemperatur von nur — 0,3°. Alexandropol, jetzt Gümri, größte Stadt der Republik, hat dagegen nur + 5° Jahresmittel; der Ararat bei Eriwan nur + 0°! Dahingegen hatte die Station M a r d i n in Kurdistan, südlich von Armenien, an der Bagdadbahn (in 1115 m Seehöhe) noch vom Dezember 1917 bis zum März 1918 K ä l t e g r a d e , bis zu —5,6°, aufzuweisen, also noch vier Monate vollen Winter. Interessant wären auch Vergleiche der Luftdruck-, Windrichtungs- und Niederschlagsverhältnisse, aber das einwandfreie amtliche Material vom eigentlichen zentralen Hochlande ist noch gleich Null. Auffallend genug waren die Windverhältnisse in Mesere bei Charput, wo vom November bis zum März überwiegend W i n d s t i l l e gemessen wurde, im Dezember sogar fast ausschließlich (71 Messungen von 90), während der Januar hauptsächlich Winde aus dem nördlichen Quadranten brachte, aus dem im übrigen Hochlande die eisigen Winde vorherrschend oder dauernd wehen. Eine weitere Anomalie sei noch kurz hier erwähnt: Während dieselbe Station (Mesere bei Charput) nur 80,0 mm Niederschlagsmenge im Winter 1917/18 hatte, wies das soviel südlichere M a r d i n , am Rande der Wüste, die ungeheuere Menge von 327,1 mm auf und im Norden der Haupthafen Armeniens, Trapezunt, vergleichsweise 245,0 mm, der bekanntlich die höchste, fast tropische Jahresniederschlagsmenge von 875,0 mm am ganzen Pontus hat. Im Sommer und Herbst weist Mesere noch weniger (65) auf als im Winter, Trapezunt dagegen noch mehr als im Winter und Mardin 0,0 mm! (Gegen seine 327,1 mm im Winter s. o.) Aus dem Angeführten mag wenigstens hervorgehen, wie nötig auch auf klimatischem Gebiete eine systematische Erforschung Armeniens ist. III. Schließlich sei noch kurz der nicht minder interessanten anthropogeographischen und anthropologischen Fragen gedacht, deren endgültige Klärung für Armenien auch noch bevorsteht und von großer Bedeutung ist. Statt der anfangs erhofften Aufklärung über vorderasiatische Völker-, Sprachen- und Rassefragen hat uns die Entzifferung der Boghazköitexte bisher nur neue Verwirrung und Unklarheit gebracht, wenn auch von der Zukunft noch viel zu erwarten steht. Aber für das autochthone Volk der Armenier scheint doch nach v. Luschans Feststellungen schon so viel unwidersprochen festzustehen, daß sie jedenfalls m i t d e n U r - H e t h i t e r n i d e n t i s c h sind, deren Rassenmerkmale sie in unverfälschter Reinheit bis zum heutigen Tage bewahrt haben. Sprachlich haben sie sich allerdings mehrfach dem Zwange oder der Beeinflussung der zahlreichen Eroberer,
Beiträge zur Kenntnis Armeniens.
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die von Norden, Osten, Westen und Süden in ihr Land kamen, gefügt. Während das noch heute als Kirchensprache gebrauchte Altarmenische eine rein indogermanische Sprache ist, muß die neuarmenische Staatssprache als ein mehr kaukasisches Idiom angesehen werden. Wenn nun auch in dem Sprachenbabel des aufgefundenen hethitischen Staatsarchivs von Chatti-Boghazköi neun Zehntel aller Schriftstücke in einer rein arischen Sprache, dem sogenannten Kanesisch, geschrieben sind, ist das doch nicht die ursprüngliche Sprache der hethitischen Armenier, die keinesfalls Indogermanen waren. Vielmehr haben wir in dem gleichfalls aufgefundenen und entzifferten Proto-Hattischen, einer schon im 2. Jahrtausend vor Christus toten präfigierenden Sprache die armenische Ursprache zu sehen. Der Vorgang der Umwandlung ist dann etwa so zu denken, daß die uralte armenisch-protohethiiische Kultur durch indogermanische Eroberer, die das Halysland überrannt hatten, von Boghazköi aus durchtränkt wurde, wobei die Sprache selbst zwar eingebüßt, das morphologische Knochengerüst der Sprache aber gerettet wurde. Daher sind auch alle Herrschernamen, die uns von den Armeno-Hethitern überliefert sind, durchaus u n arisch. Soweit der Anatolisierungsprozeß, dem viele ähnliche folgten. Kamen doch aus dem Norden die blauäugigen, blonden K u r d e n , die heute Südarmenien und Kurdistan bewohnen, jahrhundertelang die nomadisierenden Henker und Blutsauger der ackerbautreibenden Armenier des Hochlandes. Es kamen die Semiten aus dem Süden, die turkmenischen Mongolen aus dem Osten ins Land. Noch heute zeigen Wasserleitungen, Bauten und Inschriften am Wansee an, daß dort lange Zeit die Sommerresidenz der Assyrerkönige war (Semiramissagen). Aber unverkennbar zeigen uns auch die ägyptischen Reliefs der Gefangenen aus den Hethiterkriegen, die zahlreichen Königsbilder an den Felsen im Großhethiterreiche selbst und die anthropologische Untersuchung der heutigen Armenier im Lande wie in der Diaspora, daß die somatischen Eigenheiten und Merkmale der Armenier durch Jahrtausende dieselben blieben: der hyperbrachykephale und hypsikephale Kurzschädel, die fliehende Stirn, die hohe Turmnase, die auffallende Planokzipitalität usw. Mit Recht ist der in der Welt so arg verfemte Armenier stolz auf seine uralte Geschichte und Kultur, auf seine erste christliche Staatskirche, auf seine Sprache und Literatur und nicht zum wenigsten auf sein theoretisches Recht auf Autonomie im eigenen Lande, das er jedoch, infolge mangelnden kriegerischen und praktisch-politischen Sinnes, nur selten in Wirklichkeit umzusetzen vermochte. Es ist hier nicht der Ort, die Armenier gegen das vielfach an ihnen verübte Unrecht in Schutz zu nehmen, denn es lag an ihnen, als einem überaus begabten und fleißigen Volke, sich selbst ihr Schicksal rechtzeitig anders zu gestalten, aber soviel sei doch erwähnt, daß die oft gehörten absprechenden Urteile durch bloße Wiederholung nicht wahrer werden. Die wahrheitsliebenden Türken und Russen denken auch gar nicht daran, zu leugnen,daß die Armenier b r a u c h b a r e und s c h ä t z e n s w e r t e Mitbürger sein können. Ein Beweis hierfür sind die zahlreichen Armenier, die namentlich in der Türkei zu den aller-
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Ulrich Frey.
höchsten Ämtern nicht nur zugelassen, sondern geflissentlich protegiert wurden, ganz abgesehen von der langen Reihe trefflicher Kaiser, die Armenien dem Byzantinischen Reiche früher gestellt hatte. Wenn die in der D i a s p o r a lebenden Armenier aber auch geschäftstüchtiger wären als die Griechen oder die spaniolischen Sephardim, so wäre es mindestens unlogisch, wenn man d a f ü r die zu 85°/o nur ackerbautreibende, arme und in unterirdischen Behausungen ein kümmerliches Dasein fristende L a n d b e v ö l k e r u n g hätte büßen lassen. IV.
Auch d i e s e r Punkt bedarf einmal der Aufklärung, weil durch das Gehenlassen immer noch ein großer Teil der Schuld an der gänzlichen Ausrottung d i e s e r Armenier aus ihrem Lande uns Beutschen zugemessen wird. Die Armenier waren auch nicht türkenfeindlicher als beispielsweise die Griechen oder andere Fremdkörper in der Türkei. Während diese aber wirksamen Schutz in Stambul und in der ganzen Welt genossen, die Griechen sogar durch »Seine göttlichste Allheiligkeit« den ökumenischen Patriarchen, saß der armenische Papst völlig machtlos jenseits der hermetisch abgeschlossenen russischen Grenze im Kloster Etschmiadsin, wo der Katholikos auch heute noch residiert. Sein Vertreter in Konstantinopel wurde nie gehört und sogar vor dem Kriege eigens nach Jerusalem »versetzt«, wo er von jeder Verbindung mit der Hauptstadt abgeschnitten war. Warum v e r t r i e b man nun die Armenier aus Türkisch-Armenien ? Lediglich aus großzügigen, wenn auch grausamen politischen Rücksichten: man schaffte sich beizeiten in dem (rechtzeitig als aussichtslos erkannten) Weltkriege die nötige R ü c k e n d e c k u n g in der nationalen Bewegung des »Turanismus«, des Zusammenschlusses aller turkotatarischen, also rasse-, sprachen- und glaubensverwandten Völkerschaften Asiens, Kaukasiens und des europäischen Rußlands, während man die feindlichen arabischen Provinzen leichten Herzens opferte — trotz deutscher Hilfe. Der inselartig nach Westen vorgeschobene kriegerische Osmanenstamm konnte aber diese große Rassengemeinschaft weder anstreben noch aufrechterhalten, wenn in seinem Rücken das geistig überlegene, widerstrebende, zäh an seiner alten christlichen Kirche, Sprache und Kultur festhaltende Armeniervolk die einzige Verbindungsstraße mit den Volksgenossen dauernd sperrte! Dazu kam, daß Rußland s e i n e Armenier stets besonders verwöhnt hatte, und daß sie daher gern für Rußland kämpften. Gleiches k o n n t e die Türkei nie riskieren, und es i s t k l a r , d a ß sie n a c h d e m verloren gegebenen Weltkriege mit einem selbständigen Arm e n i e n als F e i n d im R ü c k e n zu r e c h n e n h a t t e u n d n i e d i e G r i e c h e n h e e r e u n d d i e E n t e n t e a u s d e m L a n d e zu j a g e n v e r m o c h t h ä t t e . Dieser Kampf um die Existenz des Staates rechtfertigt vollauf die t o t a l e Säuberung des Landes Armenien, wenn auch nicht gerade die von den Türken hierbei verwendeten Methoden. Die Türkei hatte sich von Anfang an keine uferlosen Kriegsziele gesteckt, aber immer ganz offen und ehrlich d a s Kriegsziel betont, daß der Krieg wenigstens die Befreiung von der armenischen Rückengefahr
Beiträge zur Kenntnis Armeniens.
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bringen m ü s s e . Weil sie hier rücksichtslos durchgriff von Anfang an, hat die Türkei als einzige von den Mittelmächten i h r Kriegsziel gewonnen. Denn auch der klägliche russische »autonome« Armenierrest (um die beiden einzigen Städte Eriwan und Alexandropol) kann sich, nachdem das ganze armenische Zentralplateau von Kars und Ardahan wieder dem osmanischen Reiche einverleibt wurde, nicht wirklich selbständig machen. Es sitzt in den eisernen Fesseln von Moskau und ist fast ringsum von turkotatarischem, mohammedanischem Gebiet umgeben. Es wird von den halbautonomen Staatsgebilden des russischen und persischen Aserbeijdschan im Rücken umklammert, und selbst die armenische Bahn nach der persischen Grenze bei Dschulfa hat man Armenien genommen und Aserbeijdschan gegeben, also in Feindeshand. Zudem erstreckt sich heute ein ganzer Gürtel mehr oder weniger selbständiger stammverwandter turkotatarischer oder uraltaltaischer Sowjetstaaten vom Kaukasus über die Wolga zum Eismeer, im Rücken Moskaus, und ein anderer über Zentralasien und Sibirien bis zur stammverwandten Jakutenrepublik am Stiller Ozean! Das i s t d i e S c h w ä c h e R u ß l a n d s u n d d i e S t ä r k e den n e u e n T ü r k e i , von deren Gnade einzig und allein die weitere Scheinexistenz der neuen »armenischen Republik« abhängt, wohl des traurigsten Gebildes, das der Völkerbund geschaffen und mit viel Trara unter seinen »Schutz« genommen hatl Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.
Das Ob-Irtysch-System. Von PAUL
FICKELER.
Mit Taf. 8 u. 9 und 2 Textfiguren.
Die Mitte des ostsibirischen Tafellandes bildet als Höhenlinie eine Wasserscheide, von der die Flüsse zentrifugal zum Meer oder gegen E und W zu Jenissei und Lena abfließen, so daß diese H a u p t a d e r n der N-Abdachung des asiatischen Gebirgsdreiecks dem Tafellande gegenüber die Merkmale von Randflüssen einnehmen. Im Gegensatz dazu durchfließt der O b - I r t y s c h d i e T i e f e n l i n i e der von jungen Sedimenten bedeckten größten Ebene der Welt, Westsibirien, und führt zentripetal die Niederschläge eines e i n z i g e n in s i c h g e s c h l o s s e n e n Sammelgebictes zum Meer. Das Ob-Irtysch-Systeni, das durch seine regelmäßige Anlage dem des Mississippi oder Nil gleicht, steht mit einem Strombecken von 2950000 k m 2 auf der Erde an fünfter, mit einer Längenentwicklung von 5300km, dem Irtysch nach gemessen, an vierter Stelle. R . P o h l e hat kürzlich den Ob-Irtysch im Zusammenhang mit der westsibirischen Ebene trefflich charakterisiert 1 ). Vorliegende Skizze will unter Berücksichtigung der physiogeographischen Verhältnisse des Quellgebietes, besonders des Klimas, das auf Grund der Annalen des Physikalischen Zentral-Observatoriums, St. Petersburg, bearbeitet wurde and zusammen mit ersteren an anderer Stelle eingehende Behandlung fand 2 ), in erster Linie den W a s s e r h a u s h a l t des Ob-Irtysch untersuchen. Das Quellgebiet des Ob deckt sich im wesentlichen mit dem Russischen Altai, innerhalb dessen sich natürlich begrenzte Gebirgseinheiten herausschälen lassen, die mit den Einzugsgebieten der Hauptquellflüsse zusammenfallen. So deckt sich das Quellgebiet des K a t u n mit dem Zentral-Altai. des B i j a mit dem Ost-Altai und des T o m u n d T s c h u l y m mit dem Nord-Altai. Der Süd- und Südwest-Altai bildet dagegen schon das Durchzugsgebiet des I r t y s c h , während das eigentliche Quellgebiet des letzteren ganz zum S-Hang des westlichen Mongolischen Altai gehört. Die einzelnen Einzugsgebiete wurden im Zusammenhang mit dem hydrographischen Netz an anderem Ort eingehend dargestellt, so daß hier nur darauf hingewiesen werden kann 3 ). Aus dem Klima des Quellgebietes seien hier nur einige für den Wasserhaushalt wichtige Züge herangezogen. Wie auf Tab. 1 (Taf. 9) ersichtlich, ») (26). •') (30). 3 ) (30) 138—43, 146—53, 154—56, 41—44, 131 — 35 und Karte 1. Die eingeklammert« Zahl bedeutet die N u m m e r d e s L i t e r a t u r v e r z e i c h n i s s e s , die darauf folgende nicht eingeklammerte Zahl die S e i t e des betreffenden Werkes.
Das Ob-Irtysch-System.
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herrschen im Altai in echt kontinentaler Weise Sommerniederschläge vor. Die Zahl der N i e d e r s c h l a g s t a g e im J a h r n i m m t von N (Tomsk 202) n a c h S (Saissan 69) bedeutend a b . Jedoch steigert die Höhe die Regenhäufigkeit k r ä f t i g . Die Zahl der Niederschlagstage erreicht f ü r viele Stationen sogar ein zweites M a x i m u m im W i n t e r . Der Tiefstand f ü r fast alle K u r v e n (1904—08) fällt in den F e b r u a r . F ü r die N i e d e r s c h l a g s m e n g e n im Quellgebiet des K a t u n im hohen Zentral-Altai liegen zwar keine Messungen vor, doch läßt sich aus den
Altais
Fig. 1.
koe,
UAoM
Jährlicher Gang der mittleren Niederschlagsmenge (mm) für das Quellgebiet des Ob. (Fünfjährige Periode 1904—08.)
Schnee Verhältnissen auf ausgiebige Niederschläge auf den weiten Hochflächen, die den Altai so ungemein charakterisieren, schließen. Diese hochgelegenen T u n d r e n kontrastieren s t a r k mit den trockenen steppenartigen Talebenen. Mindestens so feucht, w e n n nicht noch feuchter, ist das Quellgebiet des B i j a . Bei Andobinski Priisk im Ost-Altai wurde das Maximum von 938 m m f ü r den gesamten Russischen Altai gemessen. Aber auch das Quellgebiet des T o m mit über 800 m m im Abakan-Gebirge und Kusnezker A l a t a u , die ähnlich dem deutschen Schwarzwald, senkrecht zur vorherrschenden W i n d r i c h t u n g streichen, zeigt sich als sehr wasserreich. Das Quellgebiet der Flüsse des NW-Gebirgsfächers, der Nord-West-Altai,
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Paul Fickeler.
hält sich mit rund 500 mm in mittleren Grenzen, wie die nördliche TaigäZone. Über die Niederschlagsmengen des I r t y s c h - Q u e l l g e b i e t e s liegen Messungen nicht vor. Aber der Habitus der Gegend gibt eine Vorstellung seiner Feuchtigkeit. Die schluchtartigen und tiefen Täler zeigen frischen peripheren Charakter. Nadelwald bekleidet die Hänge bis hoch hinauf von 1 0 0 0 — 2 6 0 0 m Höhe (Taf. 8, Abb. 2). Alpenmatten und Waldgrasflächen vergrünen die Täler ähnlich wie im Katun-Gebirge im Russischen Zentral-Altai (Taf. 8, Abb. 1). Die N - S streichenden hohen Gebirgsrippen, die von 4 9 ° bis 4 6 ° n. B r . und von 8 7 ° bis 9 2 ° ö. L . kulissenartig sich nach S E in die halbzentrale Dsungarei vorschieben, wirken wie mächtige Kondensatoren für die rechtwinklig auf sie treffenden S W - und W - W i n d e . Hier läßt sich ein Jahresmittel von 5 0 0 mm und mehr annehmen. Das Saissan-Becken mit 254 mm (Saissansk) ist relativ trocken. Im Durchzugsgebiet des Irtysch nimmt die Niederschlagsmenge von 500 mm in der Höhe auf 300 mm in den Tälern des Süd-Altai ab und ähnelt hiermit den trockenen Steppen im Westen des Altai (Tab. 1, T a f . 9). Die j a h r e s z e i t l i c h e V e r t e i l u n g d e r Niederschlagsmengen ist aus dem Kurvenbild (Fig. 1) zu ersehen. Von T o m s k im N bis Saissansk im S springt das s o m m e r l i c h e M a x i m u m (Mai-Juni) in die Augen, dem ein sekundäres im Oktober folgt. F ü r den Wasserhaushalt des Ob-Irtysch ist nicht nur die Niederschlagsmenge und jährliche Verteilung, sondern auch ihre F o r m von Bedeutung. In diesem kontinentalen Gebiet sind rund 5 0 % aller Niederschlagstage (Tab. 1, Kol. 7) Schneetage, die von 121 Tagen im N auf 2 6 im S abnehmen. Kolumne 8 bis 10 (Tab. 1) geben die m i t t l e r e S c h n e e h ö h e in cm für einige tiefergelegene Altai-Stationen an 1 ). Hiermit ist die Höhe der ständigen Schneedecke, aus der Summe aller bis dahin gefallenen, gemeint. Das Mittel ist gewonnen durch Division durch s ä m t l i c h e Monatstage. Aus der Aufspeicherung sämtlicher Winterniederschläge erklären sich die relativ beträchtlichen Schneehöhen, die vom N (Tomsk 5 0 cm, AbakanGebirge 8 0 cm) nach S (Saissan 14 c m ) s e h r abnehmen. Die tiefliegenden Täler innerhalb des Russischen Altai sind, infolge orographischer Austrocknung, sehr schneearm. Aber die weiten gehobenen Abtragungsflächen in 2 — 2 4 0 0 m Höhe tragen bis weit in den Sommer gewaltige Schneedecken, die höchstens zwei bis drei Monate völlig verschwinden und somit für das K l i m a des Gebirges von größter Bedeutung sind. F ü r die Wasserführung der Flüsse ist der Beginn der s t ä n d i g e n S c h n e e f ä l l e i m H e r b s t sowie der der S c h n e e s c h m e l z e i m F r ü h j a h r wesentlich (Tab. 1, Kol. 6). Während in den tiefen Lagen im September Schneefälle selten sind, fallen im O k t o b e r schon 7 5 % aller Niederschläge in fester Form und sicherlich 1 0 0 % in der Höhe. |Im N gilt letzteres für a l l e Lagen. So bildet sich gegen den 20. O k t o b e r ( K o l . 8) d i e e r s t e d ü n n e S c h n e e d e c k e , die, schnell wachsend, im März ihr Maximum *) Die Schneehöhen gemessen am f e s t e n Pegel auf e b e n e r , vor Wind geschützter Fläche oder mit beweglichem Pegel als Mittelwert aus verschiedenen Punkten. Wegen der örtlichen und zeitlichen Verschiedenheiten der Messungen sind die Zahlen nur als grobe A n n ä h e r u n g s w e r t e zu betrachten.
Das O b- Irtysoh - System.
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erreicht, im April mit steigender Temperatur rasch sinkt und A n f a n g v ö l l i g v e r s c h w u n d e n ist (Fig. 2). Auf den hochliegenden Plateaus höheren Gipfeln bleibt die Schneedecke beträchtlich länger liegen überdauert nach schneereichen Wintern oft den Sommer. Zusammen X
W
fO 2030
fO 20 JB iO 20 30 10 20 30 fO 20 30 1020 JO n 2030
M
I
T
M
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Mai und und mit
F~ 102030
cm 75 70 65
60 55 50 45 40 35 30 25
20 15
10 5
——
TomsA, Ma/sAoe,
ffeosAiJ.
Pn/sAt UAoA.
——
J&i'ss&rrsA,
Fig. 2. Winterlicher Gang der mittleren Schneedeckenhöhe (cm) für Dekaden (je 10 Tage) für das Quellgebiet des Ob. (Beobachtungszeit 1899—1908.)
dem Sommerregen bildet sie die Hauptquelle für den gleichmäßigen sommerlichen Hochstand der Quellflüsse des Ob-Irtysch. Die in rund 2500 (N-Seite) bis 3000 m (S-Seite) Höhe liegende Schneegrenze bewirkt in Verbindung mit der Orographie eine V e r g l e t s c h e r u n g , die im Quellgebiet des K a t u n von der Bjelucha, von der 6 bis zu 9 km lange, in 2000 m endigende Talgletscher radial abströmen, nach E über
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Paul Fickeler.
die südliche hohe Tschuja-Kette reicht, deren zahlreiche bis zu 8 km lange Gletscher nach N bis zu 2200—2700 m hinabströmen. In der dritten Gruppe am Ukok-Plateau endigen die Eisströme erst in 2700 m. Dem Einzugsgebiet des Bija und Tom fehlen Gletscher. Im Quellgebiet des I r t y s c h entwickelt der 4000 m mittelhohe Knoten des Tabyn-bogdo-ola eine noch größere Vereisung von 170 qkm Gesamtfläche. Ihre Schmelzwasser aus 20 kleineren und größeren Gletschern kommen allerdings nur zur Hälfte dem Schwarzen Irtysch durch den Burtschum zugute. Im Durchzugsgebiet des Irtysch erweist sich die, besonders von W. R j e s n i t s c h e n k o 1 ) erforschte, starke Vergletscherung des hohen östlichen Süd-Altai für den Wasserhaushalt als sehr bedeutsam. Über 90, meist kleinere Gletscher, führen hier ihr Schmelzwasser durch die Flüsse K a b a und B u c h t a r m a zum Irtysch. Als klimatisch bedingter und rückwirkend bedingender Faktor spielt die V e g e t a t i o n s d e c k e , besonders der Wald als regulierender Wasserspeicher, für das Quellgebiet eine hervorragende Rolle. Die Kiefernwaldungen dringen von 350 m bis zu 700 m Höhe vor und unterscheiden sich von den europäischen durch d i c h t e s U n t e r h o l z . Oberhalb 700 m bildet die Sibirische Lärche den altaischen Bergwald bis zu 2000 m. Wo in engen und feuchten Tälern noch Fichten und sibirische Tannen sich dazu gesellen, ist der Boden mit einer g e w a l t i g e n H o c h g r a s d e c k e bewachsen, die ebenso wie das Unterholz einen wichtigen Feuchtigkeitsbinder darstellt. Die obere Waldgrenze geht im Quellgebiet des K a t u n fast nirgends unterhalb 2000 m herab. Ihre obere Grenze liegt hier nach Saposhnikow 2500 m, im B i j a - G e b i e t 2 0 0 0 m ; im Gebiet des T o m dagegen, im Kusnezker Alatau nach Tolmatschew 1100—1400 m. Im Quellgebiet des I r t y s c h liegt die u n t e r e G r e n z e in 1000 m, die obere in 2600 m. Infolge der Wirkung der austrocknenden Steppenwinde sind im Russischen Altai die nach S schauenden Hänge viel waldärmer als die nordschauenden. Die hochliegenden Plateaus und Talebenen sind waldlos. In horizontaler Erstreckung ist am waldreichsten das Einzugsgebiet des Tom und Tschulym, das fast ganz von der Taiga überflutet wird, die vom nördlichen (300—500 mm Niederschlag im Jahr) Waldgürtel bis weit in die Täler des B i j a - S y s t e m s in den Ost-Altai eindringt und den Zwischenraum bis zum K a t u n - F l u ß im W erfüllt. Die Hochflächen ragen mit ihren Tundren gerade darüber hinaus. Im Einzugsgebiet des K a t u n beherrscht Wald nur die engen tiefen erosiven Schluchttäler (Abb. 1) während die Talebenen, Steppen und die Hochflächen Tundren entwickeln. Sehr waldarm, ja stellenweise wüstenhaft ist der ganze West-Altai, ebenso wie der Süd-Altai, mit Ausnahme einiger Tal-Oberläufe wie z. B. des Buchtarma. Das Saissan-Becken zeigt nach der Vegetationskarte S a p o s h n i k o w s und S c h i s c h k i n s sporadisch Wald an NW-schauenden Hängen im S und am See Marka Kul. In den feuchteren Tälern des IrtyschQuellgebietes nimmt die Bewaldung in oben angeführtem Ausmaße wiedrr kräftig zu und erstreckt sich bis 92° ö. L. nach E (Taf. 8, Abb. 2). ') (20) Karte.
Daa Ob-Irtysch-System.
269
Als Ganzes betrachtet ist das Quellgebiet des Ob von dem des Irtysch recht verschieden. Das E i n z u g s g e b i e t des Ob im niederschlagsreichen Zentral-, Ost- und Nord-Altai besitzt in der reichen Waldbedeckung der engeren Täler und des Mittelgebirges einen Regenförderer und regulierenden Speicher. Die darüber sich weitenden tundrenartigen Hochflächen bilden vorzügliche Auflagerungsflächen des Schnees für Dreiviertel des Jahres. Im Quellgebiet des Katun führen die darüber hinaus sich schwingenden alpinen Ketten die Schneemassen vielfach als Gletscher zu Tal und geben ihre Schmelzwässer im Sommer allmählich ab. Das E i n z u g s g e b i e t des I r t y s c h liegt zwar am feuchten S-Hang des westlichen Mongolischen Altai mit ausgiebiger Bewaldung; vom Burtschum ab tritt sogar noch Speisung durch Gletscher hinzu. Aber der ganze Flußlauf in der Dsungarischen Steppenwüste und im Saissanbecken unterliegt stärkster Verdunstung. Auch sein Durchzugsgebiet im Süd-Altai — abgesehen vom gletscherund waldreichen Buchtarmatal — ist niederschlags- und waldarm. D a s g r o ß f l ä c h i g e E i n z u g s g e b i e t des r e i c h v e r w u r z e l t e n Ob ü b e r t r i f f t a u ß e r d e m d a s j e n i g e des s c h m a l s t r e i f i g e n Irtysch, der f a s t s ä m t l i c h e größere Nebenflüsse von N e m p f ä n g t , u m d a s D r e i - b i s V i e r f a c h e . So wird ohne weiteres klar, daß die Wassermenge des Ob schon im Quellgebiet die des Irtysch bedeutend übertrifft. Der jahreszeitliche Gang der Wasserführung hängt ganz von der Verteilung der Niederschlagsmengen und deren Konsistenz ab. Im FebruarMärz hat das eisbedeckte Stromsystem infolge der winterlichen Aufspeicherung sämtlicher Niederschläge in fester Form seinen tiefsten Wasserstand. Wenn aber in typisch kontinentaler Weise die Temperaturkurve von rund — 10° C im März auf 0° C im April ansteigt, beginnt Anfang April im ganzen Quellgebiet die Schneedecke rasch zu schmelzen, um am 20. April schon um ein Drittel zu sinken (Fig. 2). Dann steigt der Wasserstand, und der Druck der Schmelzwasser bricht vom Quellgebiet ab nach der Mündung zu die Eisdecke auf. Am 20. April ungefähr gehen Ob (Barnaul) und Irtysch (Semipalatinsk) gleichzeitig auf. Dies ist aber gleichbedeutend mit dem E i n s e t z e n des H o c h w a s s e r s , das Anfang bis Mitte Mai seinen Höhepunkt erreicht. Es gibt wohl keinen sinnfälligeren Eindruck dieses ruckartigen Überganges vom kontinentalen Winter zum Sommer — bei kürzestem Frühling — als der Gegensatz des erstarrten Stromes zu dem plötzlichen gewaltsamen Aufbrechen und Eisschollentreiben auf dem zu äußerster Lebendigkeit erwachten Hochwasser. Ende April ist die Schneedecke in den unteren Lagen auf über die Hälfte gesunken und wird im Mai völlig weggeschmolzen. Zu gleicher Zeit aber setzen die kontinentalen Sommerregen in steigendem Maße ein und vereinigen sich mit der Schneeschmelze zu gemeinsamer Wirkung. Nach Saposhnikow steigt dann der Katun in der Uimonsteppe im Frühling um mehrere Meter, wobei er kaum aus den steilen Ufern heraustritt 1 ). Der T s c h u j a braust dann nach H. C o n s t e n als 800 m breiter >) (7) 125.
270
Paul Fiokeler.
reißender Strom durch die Kurai-Steppe 1 ). Ende Mai (1901) stellte I g n a t o w 2 ) auch im Bija-System a m T e l e z k e r S e e ein Steigen des Wasserspiegels bis Mitte Juni fest, darauf ein schnelles Sinken bis 6. Juli, das später langsamer verlief und im S e p t e m b e r mit unverändertem Niveau aufhörte. Der größte N i v e a u - U n t e r s c h i e d , zwischen 9. Juni und 27. September, betrug rund 2 m. Dieses starke Ansteigen der 2 5 0 qkm großen Fläche steht mit den ausgiebigen Niederschlägen im Ost-Altai in bestem Einklang. Über die Hochwasserverhältnisse des Ob liegt scheinbar wenig veröffentlichtes Beobachtungsmaterial vor. R. P o h l e 3 ) zitiert nach Semenow 4 ), daß der Ob bei Barnaul (22jähr. Mittel) zweimal im Jahr steige: im F r ü h j a h r u m 3 , 3 0 m und im S o m m e r u m 3 , 1 0 m, und daß nach O. F i n s c h 5 ) „dem ersten Hochwasser ein zweites folge, das bei Barnaul im Juni, am unteren Ob im Juli einzutreffen pflege". Nach P o h l e war i. J . 1913 das Wasser bei Obdorsk bis zum 15. Juli gestiegen, von dann an bis zum 23. August um 70 cm gefallen und darauf täglich um etwa 18 cm pro Tag weiter gesunken. Zwei Breitengrade südlicher bei Beresow war jedoch das Wasser noch bis zum 31. Juli gestiegen und fiel in der letzten Dekade des August täglich um etwa 7 cm. In Kondinsk war das Hochwasser am 17. August um 6 m gefallen. Die letzten Angaben deuten alle auf ein relativ schnelles Sinken des sommerlichen Hochstandes. In Beresow pflegte nach Erkundigungen P o h l e s das Sommerhochwasser alle zwei bis drei Jahre bis in den August anzuhalten und in jedem Jahrzehnt einmal sogar bis zum September 6 ). Die Höhenangaben für Hochwasser sind in dieser größten Stromebene der Welt ohne genaue orographische Beschreibung der Beobachtungsstellen natürlich nur von relativem W e r t , da die ungeheuren überschwemmten horizontalen Flachufer 7 ) die Wassermassen aufnehmen, die zwischen Steilufern der Vertikalen zukämen. Die Trennung in Frühjahrs- und Sommerhochwasser könnte leicht zur Vorstellung eines zweimaligen, durch dazwischen liegenden Tiefstand getrennten starken Schwellens führen. In Wirklichkeit scheint aber das F r ü h j a h r s hoch wasser, durch Eisstauungen noch lokal verstärkt, nach geringem Sinken sich u n m i t t e l b a r in den sommerlichen Hochstand fortzusetzen. Denn während ersteres sich wesentlich aus der Schneeschmelze der tieferen Lagen rekrutiert, die ja Ende Mai beendet ist (Kurve 2) hat die Kurve der Sommerregen im Mai schon kräftig angezogen und im Nord-Altai (Kurve 1, Neoshid. Pr.) schon ihr erstes Maximum erreicht. Der sommerliche Hochstand sinkt dann allmählich, nach regenreichen Sommern erst im September, und erreicht nach Erkundigungen R. P o h l e s im März, unter dem Eise, wieder seinen tiefsten Stand. Wenn dem sommerlichen Hochstand in der Literatur so wenig Beachtung geschenkt wurde, so ist dies ein Zeichen für die große Regelmäßigkeit dieser Erscheinung, die der sichtbarste Ausdruck des kontinentalen Sommers ist, genau wie der starre Eispanzer im Winter. Zwi*) H. Consten, Weideplätze der Mongolen. Berlin 1919, I, p. 55. 2 ) (8). ') (26) II, 401. 4 ) Semenows Geogr. Stat. Lexikon des rassischen Reiches (russ. Bd. III, 1867, p. 586). 6 ) O. Finsch, „Reise nach Westsibirien i. J. 1876". Berlin 1879. •) (26) I, 36, 37, 46, 47. 7 ) (29) 127.
Das Ob-Irtysch-System.
271
sehen diesen beiden Extremen gibt es kein Mittelding. Die Sorbildungen und ihre Deutung hat P o h l e eingehend berücksichtigt, worauf hier besonders hingewiesen sein soll1). Mit Recht macht Pohle für den sommerlichen Hochstand des Ob die Schneeschmelze im Altai verantwortlich. Nach unseren klimatologischen Ausführungen hängt die gleichbleibende Wasserführung im Sommer in erster Linie von der S c h n e e s c h m e l z e auf den a u s g e d e h n t e n hochliegenden mesozoischen R u m p f e b e n e n d e s A l t a i u n d v o n d e n G l e t s c h e r w a s s e r n ab. D a z u k o m m e n d a n n die reichlichen Sommerregen vom Mai bis August. Das zweite Ansteigen der Niederschlagsmengenkurve im Oktober geschieht schon in fester Form (Tab. 1, Kol. 6 u. 8) und kommt somit der Wasserführung desselben Jahres kaum mehr zugute. Auch der Irtysch schwillt am Saissan-See nach S j e d e l n i k o w 2 ) Anfang Mai, Mai und Juni, wobei sein Spiegel um 1,50 bis 2,00 m, in manchen Jahren aber um 3 bis 3,5 m steigt. Dann steht ein großer Teil des Deltas unter Wasser. Der Rückgang beginnt gewöhnlich Ende Juli und dauert bis Mitte August. Vor dem Zufrieren sinkt er von neuem. Wie stark die Verminderung der Wassermenge des Irtysch durch Verdunstung in dem heißen Saissan-Becken ist, beweist die Tatsache, daß nach Sjedelnikow der Schw. Irtysch mit rund 540 sec/cbm das versumpfte Delta des Saissan-Sees betritt, um beim Austritt nur noch 430sec/cbm zu führen. Dieser Verlust von 110 sec/cbm ist für die starke Verdunstung des flachen Steppensees in der Verdunstungspfanne des Wüstenbeckens bezeichnend und macht auch die Abflußlosigkeit des Uljungur, bei dem Zufluß und Verdunstung sich das Gleichgewicht halten, verständlicher. Der Spiegel des Saissan-nor steht am E-Ende daher auch 35 cm höher als am W-Ende dieses „ W ä r m e s c h a l t e r s " . Auch die Flüsse des Süd-Altai, wie Kurtschum, Narym, Buchtarma und Uba steigen von April bis Juni bis zu 4 m und mehr 3 ). Wasserstandsangaben über den unteren Irtysch sind mir nicht bekannt. Nach Pohle liegen am Pegel abgelesene Daten über den Wasserstand der Irtysch-Mündung bei Samarowo vor 4 ). Doch läßt sich mit Bestimmtheit aussprechen, daß sowohl nach Größe wie klimatischen Verhältnissen des Quellgebietes der Irtysch v i e l w e n i g e r W a s s e r führt als der Ob, der obendrein im Waldgürtel und nördlich davon (Tomsk 38 heitere Tage gegen 126 (Saissan) und 84 (Semipalatinsk) Tab. 1, Kol. 2) längst nicht soviel durch Verdunstung verliert wie ersterer, dessen sommerlicher Hochstand nach F i n s c h und P o h l e nicht nur auf seine kleineren Nebenflüsse, sondern auch auf den I r t y s c h eine k r ä f t i g e S t a u w i r k u n g ausüben soll5). Nach Pohle sind die bräunlich gefärbten Fluten des Ob viel durchsichtiger als die helleren fast milchig-trüben Wasser des Irtysch 8 ). Uber die Strömungsgeschwindigkeit wissen wir nur wenig. In der morpholog.-hydrographischen Einzelbeschreibung wurden häufiger Angaben gemacht. Im gebirgigen Quellgebiet stürmen die Hauptadern mit großer (26) II, 403ff. ») (14). •) (9) 37. «) (26) II, 401 (bisher noch nicht veröffentlicht). ») (26)1, 9, II, 408 und O. Finsoh, „Reise nach Westsibirien". Berlin 1879, S. 360, 353. «) (26) I, 8.
Paul Fickeler.
272
Geschwindigkeit dahin; und selbst der obere Ob unterhalb Biisk soll, besonders nach anhaltendem Regen, in schmalem Tal am N-Rand des NW-Altai, zwischen Steilufern noch große Schnelligkeit entwickeln, ebenso wie der Irtysch im Durchbruchstal des Süd-Altai. Sjedelnikow gibt für den Schw. Irtysch, 20 km oberhalb des Uljungur 25 m/Min., unterhalb des Kabaflusses 88 m/Min. an 1 ). Aber von dem nur 120 m über dem Meere liegenden Spiegel des Ob bei Barnaul ab und dem rund 200 m hohen Spiegel des Irtysch bei Semipalatinsk ab, kann auf der 3467 km langen Strecke, bei einem Gefälle von 1:28891, des ersteren, die Geschwindigkeit eine ganz minimale sein. P o h l e gibt sie nach Wilkizki zwischen Mündung und Samarowo auf 1 bis 2 Knoten in der Stunde an 2 ). Die T e m p e r a t u r v e r h ä l t n i s s e der Quellflüsse des Ob sind stark durch die Schmelzwasser der hoch liegenden schneebedeckten Fjelde und der Gletscher beeinflußt. Nach Saposhnikow beträgt daher die Wassertemperatur des Katun im Sommer höchstens 10°—14° C (ausnahmsweise 17° C, Juli 1895)3). Die tiefe Temperatur des Wassers des Telezker Sees im Bijasystem, das sich im Sommer nur langsam erwärmt — bis Mitte Juni (1901) schwankte die oberste Schicht zwischen 3° und 4° C, trotzdem im Mai die Luft oft über 20° C besaß — stieg Mitte Juli, zugleich mit der höchsten Lufttemperatur, auf 12—16°C. Dies erklärt I g n a t o w , im Gegensatz zu v. Helmersen 4 ), der dafür die kalten Schmelzwasser der Zuflüsse verantwortlich machen wollte, e r s t e n s durch die große Tiefe des Sees bis dicht zum Ufer und z w e i t e n s durch den im W i n t e r ständig von S wehenden kräftigen antizyklonalen Bergwind (russ. „Werchowka"), der aus dem Tschulyschmantal in der über 50 km langen gradlinigen Hohlform mit ungebrochener Kraft stürmend einen derartigen Wellengang erzeugt, daß die Bildung einer Eisdecke, trotz der tiefen Lufttemperatur des kontinentalen Winters, nicht zustande kommt. Nur der geschützte N-Teil friert im W regelmäßig jeden November zu. Setzt der Bergwind nur stundenweise aus, so wird die sofort gebildete dünne Eisdecke vom neu einsetzenden Sturm gleich wieder zertrümmert und in förmlichen'Eisschollenwällen an das Ufer getrieben. Läßt aber ein längeres Aussetzen des Beigwindes eine stärkere Eisdecke entstehen, so hält sie sich siegreich bis A n f a n g A p r i l . Das kommt in 7 Jahren aber höchstens einmal vor. Die durch den Wind nach N geführten tief abgekühlten Oberflächenschichten werden am N-Ende in die Tiefe geführt, so daß eine dynamisch bewirkte tiefe Durchkühlung des ganzen Bassins unterhalb 4° C, bis zu 2,9° C Bodentemperatur, stattfindet 5 ). Obige Tatsache zusammen mit den 2000 m hohen N—S str. Schatten werfenden Uferwänden machen die tiefe Sommertemperatur dieses „ K ä l t e s c h a l t e r s " verständlich. Die Q u e l l f l ü s s e d e s S c h w a r z e n I r t y s c h , die aus ihren oberen schlucht- und waldreichen Tälern mit tiefer Temperatur herabkommen, erwärmen sich auf ihrem Unterlauf in der Wüstensteppe ziemlich stark. So stellte Saposhnikow die Wassertemperatur des B a l a - I r t y s s (Neben(14) 40.
2
) (26) II. 396ff.
») (7) 125.
4
) (1) 67.
«) (8) 103.
Das Ob-Irtysch-System.
273
fluß des Kara-Irty8S unter 47% n. Br. und 89% ö. L.) am 5. August 1906 zu 19° C fest1). Nach S j e d e l n i k o w betrug die Temperatur in den Oberläufen des K a b a - F l u s s e s 7,5—9° C und bei dessen Mündung in den Irtysch rund 16—18° C (Gletscherquellen). Der weiter westlich fließende kleine B e l e s e k - F l u ß (86 ö. L.) steigert seine Temperatur an der Mündung auf 21° C. Der Grenzfluß A l k a b e k erwärmt sich nach dem genannten Forscher auf eine Strecke von 50—60 km um 3—6° C im Juli und mündet mit 22° C in den Irtysch. Der K a l d s h i r verläßt den hochtemperierten Alpensee Marka-kul (1484 m) — Temperatur der Wasseroberfläche im Juli 1906 bis zu 20°C — mit rund20°C und mündet mit 21,5°C (bei 22,5° C Bodentemperatur in 3 m Tiefe) in den Schw. Irtysch, der selbst mit einer mittleren Temperatur von 21°—22°G im Juni/Juli in den See S a i s s a n nor 2 ) (387 m) eintritt. Die Temperaturverhältnisse des letzteren sind für die Sommermonate Juni und Juli (1905/06) aus der ausgezeichneten Monographie A. N. S j e d e l n i k o w s bekannt8). Nach Letztgenanntem besitzt die Oberflächenschicht des Saissan-nor im Juni-Juli eine Mitteltemperatur von 22° C, bei einer mittleren Tagestemperatur (gemessen 7a, lp, 9p) von 23° C und täglichen Amplitude der Uferzone von 5—6,2° C bei klarem und ruhigem und von nur 2° C bei stürmischem Wetter 4 ). Im Gegensatz zu anderen Seen sind die Oberflächentemperaturen der pelagischen Zone im Mittel um 1,5—2° C wärmer als die der Uferzone, wobei sich dort die Temperatur des Wassers oft der der darüber lagernden Luft näherte. Sjedelnikow stellte maximale Wassertemperaturen (Juli 1910) bis zu 32° C fest. Die Temperatur beträgt in 0,35 m Tiefe 21° C, in 0,35—3,5 m 20,8° C und von 3,5—£,5 m 20,5° C8). Diese ziemlich h o h e M i t t e l t e m p e r a t u r rückt den See zum gemäßigt-warmen Typus. Die minimale Abnahme der Temperatur von 0,5—1° C bis zum Boden erinnert stark an die gleichen von L. S. Berg festgestellten Temperaturverhältnisse des Balchasch-Sees. C h a r a k t e r i s t i s c h für das g a n z e W a s s e r b e c k e n i s t die w e n i g d i f f e r e n z i e r t e a u ß e r o r d e n t l i c h g l e i c h f ö r m i g e T e m p e r a t u r in h o r i z o n t a l e r wie v e r t i k a l e r E r s t r e c k u n g — eine natürliche Folge der breiten nur 4 m mitteltiefen Wannenform, die in einem offenen heißen Wüstenbecken liegt und von einem völlig vorgewärmten Wüsten-SteppenFluß in 6 Monaten völlig durchströmt wird. Die stets wehenden W- und SW-Winde und Miniatur-Zyklonen, die dieses „Zugloch" Asiens durchwehen, erhöhen noch durch mechanische Durchmischung die Isothermie. Diesen „ W ä r m e s c h a l t e r " verläßt der Irtysch mit rund 23° C. Die kühlen Wasser des Kurtschum drücken seine Temperatur um 1° C herab, ja der wasserreiche teilweise von Gletschern gespeiste und durch ein kühles Waldtal (Oberlauf) herabkommende Buchtarmä (16° C) vermag die Wassertemperatur des „Schnellen Irtysch" von 23° auf 20° C herabzudrücken6). Die frischeren Waldtäler des Süd-Altai vermögen mit ihrer sommerlichen Wassertemperatur von 12—14° CT) die Temperatur des Irtysch nur wenig zu beeinflussen. Beim Austritt aus dem Altai steigt in *) (16) 126. >) (14) 145, 146. «) (14) 146. ' ) (9) 39. D r y g a l s k l , Festgabe.
>) (14) 118ff.
*) (14) 123.
») (14) 133. 18
Paul Fickeler.
274
der heißen Steppe seine Mitteltemperatur rasch wieder auf 23—24° C im Juni/Juli. Bis zum Einfluß des Ischim durchfließt der Strom ohne größere Nebenflüsse die trockenen Steppen und betritt dezimiert und erwärmt den nördlichen niederschlagsreichen Waldgürtel (300—500 mm jährlicher Niederschlag). Infolge seines kleineren Sammelgebietes ist der Irtysch nicht nur wasserärmer sondern infolge der südlicheren Lage v i e l w ä r m e r als der Ob, in einer Breite, in der letzterer noch von kräftigen Gebirgsflüssen aus E verstärkt und gekühlt wird. Auf Grund der Annalen des Phys. Zentral-Observatoriums wurden die mittleren Daten des Auf- und Zugangs des Systems für die 10jährige Periode 1899—1908 für ein erweitertes Stationsnetz, besonders für das Q u e l l g e b i e t , neu berechnet. Hierbei fällt die relativ geringe Abweichung unserer Daten von den in M. R y k a t s c h e w s grundlegendem Werk mitgeteilten auf. (Tab. 4). Nach R y k a t s c h e w kann der Normaltag des Z u g a n g s für die Mehrzahl der Stationen Westsibiriens bis auf e i n e n Tag Genauigkeit aus nicht weniger als 50jährigen Beobachtungen bestimmt werden1). Tab. 2 gibt die Abweichung des 10-bis 30 jährigen Mittels vom Normaltag des Auf- und Zuganges des Ob bei B a r n a u l an. Tabelle
2.
(Nach Rykatschew.)
l Aufgang Maximale Mittlere Abweich, Abweich, in Tagen in Tagen
Ob (Barnaul)
10 jähr. Mittel . . 20 jähr. Mittel . . 3 0 jähr. Mittel . .
+
1,9
± U ±0,8
+ 5 — 3 2
2 Zugang Mittlere Abweich.
Maximale Abweich.
+ 2,7 ±2,1 + 1,3
— 8 + 4 — 4
3 Eisfreie Mittlere Abweich; + + +
2,9 2,1 2,1
Tage Maximale Abweich. — + ±
12 4 4
Hieraus ist weiter ersichtlich, daß bei gleicher Anzahl Beobachtungsjahre am zuverlässigsten der Aufgangstag, weniger genau das Zugangsdatum und am unsichersten die Bestimmung der eisfreien Tage ist. Allgemein kann aber aus 10jährigen Mitteln der Normaltag für den Aufgang mit einem mittleren Fehler von 2y 3 Tagen bestimmt werden, während für den Zugang für die gleiche Wahrscheinlichkeit 20 Jahre und für die eisfreien Tage eine noch größere Zahl erforderlich wären. Im westlichen Rußland wären statt 30 sogar mindestens 50 Beobachtungsjahre für das Aufgangsdatum nötig und im ozeanisch gemäßigten Westeuropa noch viel mehr. Umgekehrt ist aber die Zahl der Beobachtungen für die monatliche Mitteltemperatur (0,1° C) für Westsibirien nach Hann viel größer 2 ). Aber die erstere Tatsache beleuchtet die r e l a t i v g r o ß e K o n s t a n z des E i n t r i t t s des J a h r e s z e i t e n w e c h s e l s im k o n t i n e n t a l e n Klima b e s o n d e r s des W i n t e r s zum F r ü h l i n g . In unserer 10jährigen Periode sind aber auch manche, meist neuere, Stationen mit noch weniger Beobach!) (2) 23.
2)
H a n n , Handbuch der Klimatologie. 3. Aufl., Bd. I, S. 21.
Das Ob-Irtysch-System.
275
tungsjahren vertreten, so daß daher das Material als sehr i n h o m o g e n nur in weiten Grenzen miteinander vergleichbar ist. Da der Auf- und Zugang wesentlich von der Lufttemperatur abhängt, so ist die Feststellung der Anzahl der Tage des Auf- und Zuganges n a c h dem Tage, an dem die Lufttemperatur an dem Beobachtungsort zum erstenmal (24 Std.) im Mittel 0,0° C betrug, sehr interessant. R y k a t s c h e w hat die Berechnung für mehrere hundert Stationen durchgeführt, von denen die für unser Gebiet in Betracht kommenden in Tab. 3 wiedergegeben sind. T a b e l l e 3. Mitt]. Datuni Fluß und Beobachtungs-Ort Aufg.
Zug.
(Nach Rykatschew.)
Mittl. Zahl der eisfreien Tage
Datum, an dem die Lufttemp. 0« C betrug
i Ob (Barnaul . . . IV. 26. XI. 9. „ (Obdorsk). . . IV. 4. X. 28. I r t y s c h (Semipal.) IV. 16. XI. 16. (Tobolsk). V. 2. XI. 7.
197 146 215 189
IV. 14. j X.21. V.21.:IX.26. IV. 6. X. 25. IV. 13.! X. 16.
Differenz zwischen den
Zahl der Tage vou 0,0'C Allig.-Tag Zug.-Tag und Tag und Tag (Frühjahr) mit Temp. mit Temp. bis 0,0'C (HerbBt) 0'C 0* C
[-12 -14 -10 H9
19 -32 -22 - 22
h
190 128 202 186
H i e r a u s f o l g t , d a ß d a s g a n z e S y s t e m 20 b i s 30 T a g e n a c h d e m D u r c h g a n g der m i t t l e r e n L u f t t e m p e r a t u r d u r c h d e n N u l l p u n k t am B e o b a c h t u n g s o r t z u f r i e r t . Allgemein gehen im Mittel die Seen schon 7, die kleinen Flüsse 17, und die großen Ströme erst 24 Tage nach dem Datum mit 0° C Lufttemperatur zu. Das Z u f r i e r e n d e s O b - I r t y s c h geschieht mit abnehmender Breitenlage von der Mündung zum Quellgebiet. Ende Oktober ist der Ob von der Mündung bis zum Ort Surgut — mit Unterbrechung bei Kondinsk — schon eisbedeckt. Darauf friert das System in 10 Tagen schnell bis zum Rand des Altai weiter. Im Gebirgsinnern bedecken sich die Quellflüsse infolge der größeren Wassergeschwindigkeit und höherer Lufttemperatur, wie z. B. der obere T o m , K a m e n k a , Pestschanaja und Katun (von letzterem nur eine einzige Angabe, 1905) beweisen, erst 10 bis 15 Tage später. Der Irtysch beginnt am 6. November an der Mündung bei S a m a r o w o zu erstarren, erreicht mit seiner Eisdecke in 5 Tagen den Süd-Altai, wobei die Gebirgsflüsse, wie U b a , genau wie die Flüsse im N, sich v e r s p ä t e n , was also nicht nur durch südliche Lage sondern durch die erwähnte relativ größere Wärme des Gebirges in Verbindung mit der größeren Wassergeschwindigkeit bedingt ist. Nach v. H e l m e r s e n friert zwar der Buchtarma bei strengerer Kälte gleich zu; aber bei gelinderem Wetter entsteht sogleich „ A u f - W a s s e r " 1 ) . Im winterkalten Saissan-Becken bedeckt sich der Kokpektinka-Fluß und Saissan-See g l e i c h z e i t i g mit der IrtyschMündung (i. d. Ob) mit Eis; denn hier herrscht der Strahlungsfrost der ») (1) 88.
18*
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asiatischen Antizyklone schon mit ganzer Kraft. Nach Sjedelnikow muß der Zugang des Saissan-nor infolge des Einflusses des schneller erkaltenden Irtysch von dessen Delta bis zum Ausfluß fortschreiten, an den Ufern schneller, in der Mitte langsamer vorrücken und zuletzt am Ausfluß an den (S. 285) „dampfenden" Eislöchern überhaupt nicht zufrieren. Der Schw. Irtysch friert in der Regel 3—4 Tage nach dem Zugang des Sees zu. Die mittleren Zugangsdaten beider schwanken in weiten Grenzen 1 ). Die winterlichen Eisverhältnisse des Quellgebietes im westlichen Mongolischen Altai sind nicht bekannt; doch werden sie von denen des Russischen Altai nicht sehr verschieden sein. So reicht der starre Panzer des Ob-Irtysch vom Nördlichen Eismeer durch die weite westsibirische Ebene ohne Unterbrechung bis nach Zentralasien hinan. Aber auf den lebhafteren Gebirgsflüssen wird er weiter aufwärts immer mehr durch offene Stellen unterbrochen. Meist begleitet ein schmaler oder breiterer Eissaum beide Flußufer, der oft von beiden Seiten zu einer Decke verwachsen kann und einen wichtigen Schlittenverkehrsweg bildet 2 ). Auf den kleinen Wildbächen nimmt die Eisdecke ein Ende. Hier überflutet das stürmische Wildwasser, besonders an ruhigeren Stellen, immer wieder das vom Rande und vom Roden aus gebildete Eis, das sich nun schichtweise absetzt und den Bachlauf immer mehr einengt. Oft sollen sich regelrechte bis zu 2 m hohe Eiswälle bilden, über die das Wasser in Kaskaden herabstürzt 3 ). „ N ä k i p " , d . h . „ A n s a t z " nennt sie der Russe. Diese Erscheinung erinnert an das von E. v. D r y g a l s k i aus Grönland beschriebene B a c h e i s im K o m e - T a l 4 ) . „Da der Frost in Grönland," schreibt letzterer, „scharf einsetzt und die Bäche nur flach sind, hat das von der Oberfläche ausgehende Wachstum der Eisdecke in kurzer Zeit den Grund erreicht und den Bach bis unten hin zum Stillstand gebracht. Bei vielen Bächen hört jedoch das Nachströmen nicht auf, teils weil sie aus Gletschern hervorrieseln, in denen den ganzen Winter hindurch die Schmelztemperatur erhalten ble ; bt, teils weil sie auf Felsstufen am Fuße der dazu abstürzenden Steilwände entspringen und so aus tieferen Felsschichten herkommen, die schwerer durchkühlt werden. Das nachrieselnde Wasser findet den Bachlauf mit Eis erfüllt und den Weg versperrt, so daß es gestaut wird, bis es über die Oberfläche des Eises abfließen kann. In viele einzelne Fäden zerteilt und deshalb in jedem ohne erhebliche Wassermenge und Kraft, erstarrt es bald und bildet dem nachströmenden ein neues Hindernis. So geht das Wachstum der Eisdecke von der Oberfläche des ursprünglichen Baches v o n u n t e n n a c h o b e n weiter. Das Eis wächst über die Unebenheiten des Bodens und dann über die Ufer hinaus und erfüllt allmählich das Tal in größerer Breite und Tiefe durch eine Eisüberschwemmung 6 )." Diese Taleisbildungen in Grönland, deren Bildung schon Ende August und deren Auflösung Anfang April beginnt, können nach H. R i n k unter veränderten klimatischen Bedingungen jedes Jahr weiter wachsen, durch Überquellen der Talscheidewände ein riesiges Gebiet mit Eis über(14) 141. ! ) Miindl. Mitt. des Herrn Dr. H. J o h a n s e n , der dort zwei Winter zubrachte. ») (9) 78 und (10) 96. 4) (3) 57 und (5) 23 ff. ') (5) 408.
Das Ob-Irtysch-System.
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schwemmen und von unten nach oben wachsend als Inlandeis einheitlich überziehen 1 ), v. D r y g a l s k i nimmt aber in Anbetracht der gleichen Strukturen des Bach- und Schnee-Eises eine kombinierte Bildung durch S c h n e e i s a u s der H ö h e und W a s s e r e i s a u s d e r T i e f e h e r a n , die beide nebeneinander gebildet und vermengt das Inlandeis aufbauten. Dagegen hält letzterer das sibirische Steineis, das E. v. T o l l nach seiner Schneeis-Struktur als Reste eines Inlandeises deutete, hauptsächlich für W a s s e r e i s , besonders da es an den Mündungen der großen Flußtäler vorkommt 2 ). Während in Grönland nach v. D r y g a l s k i einige Bäche auch im Winter nicht versiegen 3 ), hört das Fließen des Schmelzwassers auf der Antarktis, bei noch ausgesprochenerer kontinentaler Polarnatur nach Erstgenanntem im Winter völlig auf 4 ). Bacheisbildungen sind aber auch aus O s t s i b i r i e n bekannt, wo sie „ N ä l e d j " , d . h . „ A u f - E i s " genannt werden®) und die den grönländischen sehr ähneln. Auch vom Südrand der Gobi hat v. L o c z y ausgedehnte winterliche Bacheisbildungen beschrieben, die dort im März kilometerbreite dicke Eisdecken erzeugen und deren Aufgang im warmen kontinentalen Frühling nach J. W a l t h e r durch Gesteinstransport morphologisch bedeutsam ist*). Im Altai hängen diese Bacheisbildungen, die vielleicht auch bei der beträchtlichen diluvialen Vereisung mitgewirkt haben mögen 7 ), im einzelnen vom Zusammenwirken der verschiedensten ö r t l i c h e n F a k t o r e n ab. In den Altai-Tälern erreichen sie längst nicht die Ausmaße wie in Grönland und wenn sie dort schon im Sommer meist wieder völlig verschwinden, so zehrt sie die Hitze des kontinentalen sibirischen Sommers im Altai bald wieder auf. Wo auf den hohen kalten Plateaus die Wasserläufe ruhig hinschlängeln, sind Bäche und Seen (Ukok) auch wieder mit geschlossener Eisdecke bedeckt, sogar noch früher als an der Obmündung selbst (Tab. 4). Im Ob-Irtysch-System lassen sich also d r e i Zonen der Vereisung unterscheiden: 1. die Z o n e d e r u n u n t e r b r o c h e n e n E i s d e c k e auf langsam fließendem Wasser, die von der Oberfläche zur Tiefe wächst und vom Meer bis ins Gebirge reicht, 2. die Z o n e d e r u n t e r b r o c h e n e n E i s d e c k e auf schnell fließendem Wasser im Gebirgsinnern und 3. die Z o n e d e r o f f e n e n s t ü r m i s c h e n G e b i r g s b ä c h e , die ü b e r dem Eise fließen, das von seitwärts und von u n t e n n a c h o b e n wächst und somit dem beschriebenen Polartypus ähnelt. Eine Begrenzung dieser drei Zonen ist wegen zu geringen systematischen Beobachtungsmateriais nicht möglich. Ihre Grenzen unterliegen sicherlich räumlichen wie zeitlichen Schwankungen. Während das Stromsystem auf der weiten H o r i z o n t a l i t ä t Westsibiriens — auch auf den Plateauflächen des Quellgebietes — in der kontinentalen Winterkälte zu Eisesruhe erstarrt, ist das Quellgebiet in den tieferen Teilen des Gebirges nur in Halbschlaf versunken und erwacht M (5) 23— 28 und A. v. E t z e l , „Grönland". Stuttgart 1860, S. 88 und 136. ) (5) 604. *) (5) 410. *) (27) 399, 629, 694. «) W. K ö p p e n , Die NaledjErscheinungen Ostsibiriens. G. Z. 1906, S. 166. •) J. Walther, „Das Gesetz, der Wüstenbildung". 4. Aufl., 1924, S. 42. ') (30) 31—34, 123—30, 175. 2
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s Nord-Altai überwältigt hat und der Irtysch bei Semipalatinsk erstarrt S o n d e r - T a b e l l e 4a. Irtysch
Ob
Jahr 1905 1906 1907 1908 Mittel
Obdorak Aufg. Zug.
Surgut Aufg. Zug.
Kondlnak Aufg.
Zug.
Samarowo Aufg. Zug.
V. 22 XI. 1 V. 18 XI. 9 V. V. 3 X. 31 V. 1 XI. 7 IV. V. 31 X. 26 V. 6 X. 27 V. 7 X. 31 V. V. 28 X. 29 V. 12 X. 30 V. 10 XI. 6 V. V. 30 X. 28 V. 11 X. 30 V. 9 XI. 6 V. —
—
12 28 2 4 8
XI. 10 XI. 8 XI. 1 XI. 12 XI. 8
Tobolsk Aufg. Zug.
V. 8 IV. 20 IV. 29 IV. 29 IV. 29
XI. 10 XI 6 XI. 1 XI. 13 XI. 8
280
Paul Fickeler.
ißt, hat die Vereisungswelle auch den NE des europäischen Rußlands ergriffen, die nun ihrerseits von NE nach SW bis zum 12. Dezember das ganze Reich bis zur oberen Weichsel erfaßt. Über den Mechanismus des Zugangs des Ob-Irtysch ist uns wenig bekannt. C. F. v. L e d e b o u r gibt indes schon vor 100 Jahren (1829) folgende anschauliche Beschreibung des Vorganges: „Bei dem raschen Lauf des Irtysch bei Ust-Kamenogorsk bildet sich auf ihm sowie auf den anderen schnellfließenden Flüssen dieser Gegend das Eis im Winter gleich anfangs n i c h t auf d e r O b e r f l ä c h e d e s W a s s e r s s o n d e r n auf d e m G r u n d e , von wo es sich dann losreißt und auf die Oberfläche kommt. Bei größerer Menge der Eisschollen und bei zunehmender Kälte schieben sich die Eisstücke unter und übereinander, frieren zusammen und bilden so eine Eisdecke von bedeutender Stärke 1 )." Dies deckt sich fast wörtlich mit modernen Schilderungen der Vereisung wie sie z. B. in dem deutschen amtlichen Monumentalwerk „ D e r O d e r s t r o m " 2 ) und von H. G r a v e l i u s 3 ) beschrieben wird. Über die Frage der Bildung von G r u n d e i s in F l ü s s e n u n d Seen hat neuerdings W. J. A l t b e r g erfolgreich gearbeitet 4 ). Für den Aufgangstag der Eisdecke des Ob-Irtysch-Systems an irgendeinem Beobachtungsort genügt nach R y k a t s c h e w , im Gegensatz zum Zugangsdatum, für einen Tag Genauigkeit schon ein 30 jähriges Mittel. Tab. 2 (Kol.l) beweist ferner, daß das lOjährigeMittel für das Aufgangsdatum weit sicherer als das des Zugangs ist. Tab. 3 zeigt auch deutlich, daß der Aufgang schon 10 bis 20 Tage nach dem Datum der mittleren Lufttemperatur von 0° C erfolgt, d . h . also v o l l e 10 T a g e f r ü h e r a l s d i e e n t s p r e c h e n d e Z e i t s p a n n e b e i m Z u g a n g . Diesmal gehen im asiatischen Rußland dagegen die Seen im Mittel erst 24, die großen Flüsse 13, die kleinen Flüsse 12 Tage später als das Datum mit der Lufttemperatur 0° C auf 8 ). Das Aufgehen geschieht diesmal umgekehrt mit zunehmender Breitenlage von der Quelle zur Mündung. Mitte April beginnt mit der ersten Schneeschmelze das Hochwasser im ganzen Quellgebiet mit dem Aufbruch der Decke. Am 22. April wird Barnaul erreicht, 10 Tage später Kolywan und Tomsk, Mitte Mai Surgut und Ende Mai Obdorsk. Dabei muß der noch geschlossene Eispanzer des Ob die Wasser seiner schon aufgegangenen Nebenflüsse stauen, denn wie aus Tab. 4 ersichtlich, ist der Tom bei Tomsk schon am 28. April auf, wenn der Ob — bei gleicher Zeitspanne — weiter s ü d l i c h bei Kolywan noch volle 4Tage später geschlossen ist, worauf auch die auffällig vielen Tage des „Verschwindens der Eisdecke" bei Tomsk hindeuten. Zu gleicher Zeit wie beim Ob beginnt der Kokpektinka am Saissan-See sich zu öffnen, der See selbst folgt 10 Tage später, wobei der Irtysch schon bis Pawlodar aufgegangen ist. Ende April ist Tobolsk erreicht und am 7. Mai die Mündung bei Samarowo. Wie beim Zugang fällt auch hier wieder ') C. F. v.Ledebour, „Reise durch das Altai-Gebirge". Berlin 1830, Bd. I, S. 98. ») (4) I, 204. ») (23) 173 u. Z. f. Gewäss.-Kunde, 1902, Bd. IV, S. 103. «) Referat von F. Loewe in der Z. G. E, 1924, S. 53, mit Literaturangaben. Siehe auch A. S c h m a u ß , „Über Grundeisbildung", Met. Z. 1924, Bd. XLI, S. 116. 6) (2) 51.
Das Ob-Irtysch-System.
281
K o n d i n s k auf, dessen Aufgangsdatum an das von Samarowo glatt anschließt (Tab. 4, Kol. 2). Das beweist, daß der I r t y s c h m i t s e i n e n S c h m e l z w a s s e r n m i n d e s t e n s e i n e W o c h e f r ü h e r ein L o c h i n d e n E i s p a n z e r d e s Ob s t ö ß t 1 ) . Während der Zugang von Obdorsk bis Biisk in 10 Tagen erfolgt, braucht der Aufgang für die gleiche Strecke genau die v i e r f a c h e Z e i t . Diese auffällige Tatsache deutet schon darauf hin, daß der Mechanismus des Aufgangs von dem des Zugangs verschieden ist. Während der schnelle Zugang im Herbst ein überwiegend t h e r m i s c h e r Prozeß bei s i n k e n d e m Wasserspiegel ist, erweist sich der Aufgang im Frühjahr als ein t h e r m i s c h e r u n d d y n a m i s c h e r Akt bei s t e i g e n d e m Wasserspiegel. Bei letzterem bereitet der thermische Prozeß den Aufgang zunächst nur v o r , indem er eine relativ dünne oberflächliche Eisschicht verflüssigt und das Eisgefüge lockert und zermürbt, während die eigentliche Arbeit des Aufbrechens zum Teil eine dynamische Wirkung des vom südlichen Quellgebiet kommenden Schmelzwassers ist, das weit voraus eilend als leichtbewegliches, über 50 cm tiefes „Auf-Wasser", russisch „Nälith", gleichsam als zweiter Fluß über dem erstarrten Fluß abwärts strömt, durch seine höhere Temperatur das Eisgefüge noch mehr lockert und schließlich durch Druck und Auftrieb das Eis mit kanonenschußartigem Krachen zerbricht und als Schollen an die Oberfläche treibt. F. O s s e n d o w s k i gibt in seinem wissenschaftlich sonst belanglosen Buch eine anschauliche Schilderung des Aufgangs des mittleren Jenissei im Frühling 1920 aus der Siwkowagegend, zwischen Minussinsk und Krasnojarsk (55° n. Br.), die prinzipiell auch für den Aufgang des Ob-Irtysch gelten wird: „Ich wartete nur, bis der Jenissei seine massive Eisdecke verloren haben würde, die ihn n o c h l a n g e Z e i t v e r s c h l o ß , nachdem die k l e i n e r e n F l u ß l ä u f e b e r e i t s o f f e n s t a n d e n und die Bäume bereits ihr Frühlingslaub erhalten hatten. Eines Morgens hörte ich einen ohrenbetäubenden Krach, der wie ein furchtbarer Kanonenschuß klang. Ich lief hinaus und fand, daß der Fluß seine mächtige E i s m a s s e g e h o b e n h a t t e u n d d a n n d u r c h g e b r o c h e n war, um sie in Stücke zu reißen. Der Fluß hatte die große Eismenge heruntergeschwemmt, die im Süden losgebrochen war, und schleppte sie in nördlicher Richtung u n t e r dem dicken Lager, das ihn hier noch teilweise verdeckte. Ihr Druck zerbrach schließlich diesen Winterdamm des Nordens und machte so die ganze große Masse zu einem letzten Ansturm nach dem Eismeer frei. Von Zeit zu Zeit stockte der freie Abfluß des Stromes. Dann entstand ein Gebrüll. Die großen Eisfelder wurden gequetscht und häuften sich auf, manchmal bis zu einer ') Aus dem letzten Heft der Isw. r. g. Ges., 1923, ersehe ich eben, daß auch W. W. S a p o s h n i k o w , der sich 8Tage in S a m a r o w o aufhielt (29) S. 129, bestätigt, daß hier der I r t y s c h 1919 am 2. Mai, der Ob dagegen nach der Irtysch-Mündung erst am 15. Mai aufging. Er bemerkt, daß dort der Irtysch in der Regel 8 bis 12 Tage vor dem Ob aufgehe, was er ebenfalls aus der meridionalen Stromrichtung des Irtysch in den wärmeren Steppen im Vergleich zu der kälteren Waldregion und ost-westl. Richtung des Ob erklärt.
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Paul Fiokeler.
Höhe von 3 0 F u ß (10 m). Sie bildeten so gegen das hinter ihnen befindliche Wasser einen D a m m , so daß dieses schnell höher und höher stieg, an n i e d r i g e n U f e r s t e l l e n ü b e r t r a t und g r ö ß e r e E i s m e n g e n auf d a s L a n d w a r f . Dann jedoch eroberte die Gewalt der verstärkten Wasser den sperrenden Eisdamm und riss ihn mit dem Klirren brechenden Glases in Stücke. An den Flußkrümmungen und an den großen Felsen entstand ein schreckliches Chaos. Ungeheure Eisblöcke drängten sich dort und tanzten wild umher, bis sie hoch in die Luft geschleudert wurden, gegen andere Eisblöcke stießen oder g e g e n d i e K l i p p e n d e s U f e r s s c h m e t t e r t e n , wo sie G e r ö l l , E r d e und B ä u m e h e r a u s r i s s e n . Das ganze U f e r e n t l a n g häufte dieser Naturriese mit einer ungeheuren Plötzlichkeit eine g r o ß e , f ü n f z e h n b i s z w a n z i g F u ß h o h e M a u e r auf, die von den Bauern „ S ä b e r e g a " genannt wird und durch die sie nur an den Fluß gelangen können, in dem sie sich eine Straße hindurchschlagen 1 )." W i c h t i g wären statistische Beobachtungen über die Zeit zwischen dem Ankommen des Auf-Wassers und dem eigentlichen Aufbrechen, zwei Erscheinungen, die scharf zu trennen sind. In den kalten Frühjahrsnächten tritt häufig vorübergehendes Gefrieren des Aufwassers ein. Durch die an Mäandern mit kleinem Radius leicht eintretenden Eisversetzungen werden oft gewaltige Stau-Hochwasser erzeugt, die also weniger durch die Überfülle der Schmelzwasser bedingt sind als durch die orographische Konfiguration sowie durch die erwähnten Beziehungen zwischen Haupt- und Nebenström. Diese Stau-Hochwasser sind natürlich größtem zeitlichem und räumlichem Wechsel unterworfen und hängen von dem komplizierten Ineinandergreifen vieler Faktoren ab. Der Aufgang ist also ein fortschreitendes gewaltsames Aufbrechen des Eispanzers bis zur Mündung und scheint mit der Hochwasserwelle zu wandern. Die Stauwelle läuft daher meistens rasch ab und die z e r t r ü m m e r t e E i s d e c k e a n e i n e m O r t s o w i e d i e j e n i g e d e s O b e r l a u f e s w i r d d u r c h s c h n i t t l i c h in 4 b i s 6 T a g e n a b w ä r t s g e d r i f t e t (Tab. 4, Kol. 2 u. 6). Beim Aufgang muß also sozusagen das relativ schnell und fast gleichzeitig zugefrorene Stromsystem der weiten sibirischen Ebene, das in seinem Eispanzer die ganze Kälte des harten kontinentalen Winters durch Wachstum von oben nach unten aufspeicherte, t h e r m i s c h u n d d y n a m i s c h i n z e i t l i c h e m N a c h e i n a n d e r g e s p r e n g t w e r d e n , w o z u es v i e r m a l s o v i e l Z e i t a l s b e i m Zugang gebraucht. Uber das weitere Schicksal der wegtreibenden Schollen wären Beobachtungen sehr erwünscht. Wahrscheinlich werden sie bald abgeschmolzen, da man sich sonst die schnelle Eisfreiheit an einem Ort schwer erklären könnte. W e n n der aufbrechende Irtysch am 7. Mai den noch geschlossenen Ob erreicht, ist auch dort ein großes Stau-Hochwasser des Irtysch, ähnlich dem im Sommer durch den Hochstand des Ob bewirkten (S. 271) zu erwarten. ') F. Ossendowski, „Tiere, Menschen und Götter", übersetzt von W. v. Dewall. Frankfurt 1923. S. 37ff., 6. Kap.: „Ein FluB in Gärung". Siehe auch S. 96. Die Sperrung ist von mir.
Das Ob-Irtysch-Syateui.
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Das Auftreten des Auf-Wassers im Frühjahr vor dem endgültigen Aufgang ist auch bei den Quellflüssen des Irtysch im Süd-Altai eine allgemeine Erscheinung 1 ). Ja, selbst mitten im Winter kommt dies zuweilen vor. Auch ist ein ein- bis mehrmaliger Aufgang mit bald folgendem Zugang, besonders im Herbst selbst für Seen — der Saissan-nor ging z. B. am 11. November 1906 wieder auf und fror am 18. von neuem zu — keine Seltenheit. Dies ist im großen auch von der Angara bei Irkutsk bekannt, wo W. A. Obrutschew Ende Dezember (1892) eine Überschwemmung erlebte. H. v. F i c k e r 2 ) hat kürzlich diese interessante Durchbrechung des kontinentalen Winters durch abnorm hohe Temperaturen im südlichen gebirgigen Quellgebiet, die durch W ä r m e w e l l e n bedingt waren, zu erklären vermocht. Diese Wellen, die auch in Barnaul wirksam waren, und die besonders mit der Höhe zunehmen, werden wir auch für winterliche Aufwasserbildungen im Quellgebiet des Ob-Irtysch verantwortlich machen müssen. Die bis zu 1 m dicken Eisschollen des von E nach W aufgehenden Saissan-Sees werden nach Sjedelnikow im Frühjahr nicht vom „Schnellen Irtysch" weggedriftet, sondern tauen in dem rasch sich erwärmenden Becken an Ort und Stelle3), was auch aus der relativ großen Zahl der Tage (13) des Verschwindens der Eisdecke hervorgeht (Tab. 4, Kol. 6). Dies bewirkt aber zugleich auch eine Erniedrigung der Luft- und Wassertemperatur. Aus allem ist ersichtlich, daß der Zugang im wesentlichen durch die S i b i r i s c h e E b e n e , der Aufgang dagegen durch die E b e n e u n d d a s G e b i r g e bestimmt wird. Nach obigen Ausführungen ist nun der Grund für die größere Konstanz des Aufgangs im Vergleich zum Zugangsdatum — zur Bestimmung des ersteren genügen, wie S. 274 erwähnt, halb so viel Jahre wie für letzteres — im W e s e n d e s A u f g a n g s p r o z e s s e s s e l b s t zu s u c h e n : eben in der M e h r h e i t d e r i h n b e s t i m m e n d e n F a k t o r e n (Thermik und Dynamik) auf größerem und orographisch vielgestaltigerem Raum (Ebene und Gebirge). Durch dieses Zusammenwirken kommen die klimatischen Besonderheiten des g a n z e n g r o ß e n Raumes gleichmäßiger und ausgeglichener zur Geltung und konzentrieren sich durch F e r n w i r k u n g , vermittels der beweglichen Schmelzwasser, punktartig auf die jeweilige Aufbruchstelle. H i e r d u r c h w i r d d e r l o k a l e K l i m a f a k t o r d u r c h die A u s g e g l i c h e n h e i t eines g r ö ß e r e n K l i m a g e b i e t s ü b e r l a g e r t und ü b e r w ä l t i g t und d a d u r c h jene K o n s t a n z des A u f g a n g s d a t u m s g a r a n t i e r t , die den s c h l a g a r t i g e n Eint r i t t d e s k o n t i n e n t a l e n F r ü h l i n g s so u n g e m e i n b e z e i c h n e t , v i e l m e h r n o c h als der m e h r t h e r m i s c h u n d l o k a l b e s t i m m t e Z u g a n g im H e r b s t . Im R a h m e n E u r a s i e n s hält das Ob-Irtysch-System beim Aufgang, im Gegensatz zum Zugang, diesmal mit Ostsibirien fast gleichen Schritt, wobei die Lena-Mündung etwas später folgt. ') (9) 78.
2
) Met. Z. 1921, S. 218.
s
) (14) 157.
284
Paul Fickeler.
Aber wenn die Linie gleichen Aufgangs, die „Isotake" des 21. April den Irtysch bei Pawlodar schneidet und den Ob noch nicht berührt hat, ist schon das ganze Flußnetz des südwestlichen europäischen Rußlands, südlich der Linie Petersburg—Kasan, das am 12. März aufzugehen beginnt, eisfrei. Von da ab hält letzteres mit ganz Sibirien gleichen Schritt. Während also beim Zugang zuerst die Flüsse Ostsibiriens, dann Westsibiriens und schließlich des europäischen Rußland in z e i t l i c h e m N a c h e i n a n d e r erstarren, geschieht der A u f g a n g für Nord-Ost-Europa und ganz Sibirien nahezu g l e i c h z e i t i g . Im ersten Fall liegt das Ob-Irtysch-System zeitlich als vermittelndes Übergangsglied zwischen dem Osten und Westen Eurasiens eingeschaltet, im letzteren Fall hält es mit seinen Nachbarn gleichen Takt. Die aulfällig scharfe Biegung der Aufgangskurve nach S am Irtysch zwischen 70° und 80° ö. L. ist durch die relative Kälte dieser Gegend im Frühjahr bedingt. Die — 10°-Isotherme zeigt hier im M ä r z e i n e t i e f e Ausbuchtung von 60° bis 52° n. Br. 1 ), was durch starke Frühjahrsfröste, die den Aufgang verzögern, bedingt ist. Auch zeigen die Isanomalen zwischen Aral-See und Altai hier bedeutende Anomalien. Der Grund für dieses verschiedene Verhalten im Herbst und Frühjahr ist in dem v e r s c h i e d e n a r t i g e n W e s e n d e s E n t s t e h e n s u n d V e r g e h e n s d e r a s i a t i s c h e n A n t i z y k l o n e bzw. d e s i h r z u g r u n d e l i e g e n d e n T e m p e r a t u r g e b ä u d e s zu s u c h e n . In der Tat ist der Verlauf der Vereisung ein getreues Abbild von letzterem im großen. Nach dem Atlas Climatologique 2 ) berührt die 0°-lsotherme im S e p t e m b e r die Mündung der Lena und des Jenissei-Ob-Busens. Im O k t o b e r schneidet sie schon die L e n a - Q u e l l e n , berührt den Baikal-N-Rand, durchschneidet den J e n i s s e i unter 57° n. Br., den Ob an der Tschulym-Mündung und in Europa die Kola-H.I. Im N o v e m b e r ist die 0 ° - l s o t h e r m e weit nach S (Balkasch-See, Kaspi-N-Ende, Finnischer Busen) gewandert und die —10°I s o t h e r m e folgt ihr im E am 50° n. Br., schneidet den Ob am 55° n. Br., den Irtysch an der Tobol-Mündung und in Europa die Petschora-Mündung. Die — 2 0 ° - I s o t h e r m e schneidet die Lena im 60°, den Jenissei in 65° und den Ob-Busen unter 67°n. Br., während die — 3 0 ° - I s o t h e r m e Werchojansk ringförmig umkreisend bis zum 62° n. Br. hinabgeht. D e r A u f b a u dieses Gebäudes t i e f s t e r T e m p e r a t u r beginnt also im E z u n ä c h s t m i t e i n e r k e i l a r t i g e n V e r t i e f u n g in S ü d r i c h t u n g und sucht von dort aus seitliche Verlängerung nach W. Daher das z e i t l i c h e N a c h e i n a n d e r des ihm mit Verspätung folgenden Zuganges. Der A u f g a n g ist eine getreue Kopie der Auflösung des Isothermenbildes vom Winter zum Sommer über ganz Nord-Eurasien. Im A p r i l ist die OMsotherme, die im M ä r z noch unter 45° n. Br. lag, über das ganze Quellgebiet der sibirischen Ströme hinaus 10 Breitengrade weiter nach N gerückt — in Europa bis zur S-Küste des Weiß. Meeres — und schreitet im Mai in breiter Front mit nach S konvexer sanfter Ausbuchtung bis rund 65° n. Br. weiter 3 ). Ihrem zeitlichen Nebeneinander in breiter OstWest-Front folgt in gleicher Weise mit Verspätung der Aufgang. ') (6).
s
) (6) Nr. 24 bis 26.
') (6) Nr. 18 bis 20.
Das Ob-Irtysch-System.
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Das Zugangs- und Aufgangsdatum gibt zugleich die Dauer der Eisbedeckung an (Tab. 4, Kol. 5). Diese dauert am längsten an der Ob-Mündung mit 210 ( R y k . 220) Tagen. Bei Surgut sind es schon 30, ja bei K o n dinsk durch den E i n f l u ß des I r t y s c h , w i e bei S a m a r o w o , s o g a r m e h r als 40 T a g e w e n i g e r . Bei Barnaul ist der Ob nur noch 165 Tage, der Bija bei Biisk 150 Tage, ja die Gebirgsflüsse im Innern nur noch rund 140Tage und weniger mit Eis bedeckt. Das bedeutet eine Spannung von über 80 Tagen von der Quelle bis zur Mündung. Auf den kalten Hochflächen (Ukok 2400 m ) herrschen dagegen mit 210 Tagen wieder die gleichen Verhältnisse wie an der Ob-Mündung. I m Rahmen Eurasiens nördlich 50° n. Br. vermittelt das Ob-IrtyschSystem (230—150 Tage) in bezug auf die Dauer der Eisdecke zwischen Ostsibirien (290—150 Tage) und dem Eurpäischen Rußland (230—70 Tage). Die Linien gleicher Eisdauer, die sog. „ I s o p a g e n " , haben im allgemeinen dieselbe Richtung wie die entsprechenden Zu- und Aufgangskurven und liegen bedeutend dichter beieinander als letztere. Für die Mechanik und Statik der Eisdecke wären Beobachtungen über ihr Wachstum und Mächtigkeit — bei deutschen Strömen bildet sich in strengen Wintern bis 30 cm, ausnahmsweise aber auch 60 cm starkes Kernels 1 ) — von der Quelle bis zur Mündung in Abhängigkeit von regionalen und lokalen Faktoren sehr wichtig. Sjedelnikow gibt für den SaissanSee eine Eismächtigkeit bis zu 1 m an. Die Erscheinung des „ S a m o r " haben R. P o h l e und A . S c h u l t z beschrieben. Beobachtungen über Wasserstand und -geschwindigkeit u n t e r der Eisdecke, besonders beim größten Tiefstand im Februar/März wären von großem Interesse, wobei besonders auf die T e k t o n i k d e r E i s d e c k e , auf Hohlraumbildungen zwischen ihr und dem Wasser, sowie dadurch ausgelöste V e r l e g u n g e n , Sackungen oder Einbrüche zu achten wäre. Sjedelnikow betont für die Eisdecke des Saissan-Sees w i n t e r l i c h e R i ß b i l d u n g e n über der Mittelaxe von E nach W , sowie nordsüdliche Querrisse zwischen den Kaps im SW-Teil und bringt diese mit periodischen Erwärmungen von Bodenwasser aus, das hauptsächlich vom Schw. Irtysch geliefert wird, in Zusammenhang. 2 ) Am Ausfluß des Sees deuten nach Erstgenanntem die eisfreien von Wasservögeln belebten „dampfenden" Stellen, die, nach Aussagen der anwohnenden Fischer, nie zufrieren und das winterliche Klima der benachbarten Ufer wärmer machen, ebenfalls auf Einwirkung des durchwandernden (6 Monate) Irtysch-Wassers. das am W - U f e r noch nicht bis zu 4° C erkaltete. 1 ) Das Studium dieser Fragen wäre bei den Flüssen des kontinentalen Klimas besonders wünschenswert, ebenso wie eine synoptische Darstellung des Wasserhaushaltes für ein bis zwei Jahre im Zusammenhang mit dem Gang der meteorologischen Elemente des gesamten Einzugsgebietes. Wenn wir zum Schluß noch einmal O b u n d I r t y s c h zusammenfassend vergleichen, so ergibt sich in knappen Zügen folgendes Bild. Räumlich fällt das Quellgebiet des O b fast ganz mit dem Russischen Altai zusammen, das an Ausdehnung mindestens viermal größer als das des Irtysch ' ) (4).
») (14) 140.
») (14) 142.
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Paul Fickeler.
ist. Sein Quellgebiet erstreckt sich von 49° n. Br. sieben Breitengrade nach N und liegt ganz innerhalb des aufgelösten peripheren Gebietes der asiatischen Randumwallung, das als Ganzes in nach W geöffnetem Bogen zwischen 82° und 90° ö. L. in flächenhafter Massenausdehnung entwickelt ist und eben dadurch bei vorherrschenden regenbringenden W-Winden reichliche Niederschlagsmengen (500—1000 mm) empfängt. Die fast drei Viertel des Jahres mit Schnee bedeckten tundrenhaften Hochflächen, die das Quellgebiet in ausgedehntem Maße charakterisieren, dienen zusammen mit dem Gletscherreichtum der mittleren Hauptkette des ZentralAltai als ungemein wichtige Wasserspeicher und -regulatoren. In gleichem Sinne wirkt die reiche Waldbedeckung im N o r d - und O s t - A l t a i und in den engeren Tälern des Z e n t r a l - A l t a i . Im Gegensatz dazu fällt das kleinere schmallange Quellgebiet des I r t y s c h mit dem Süd-Altai und S-Abdachung des westlichen Mongolischen Altai zusammen, reicht noch drei Grade südlicher von 49° n. Br. und greift von allen Strömen, die die Nordabdachung des asiatischen Gebirgsdreiecks entwässern, am weitesten durch die zerbrochene Gebirgsumwallung nach S in Z e n t r a l a s i e n hinein. Zwar wird er durch die reichlichen Niederschläge, an den langen und hohen, vom H a u p t k a m m des Mongolischen Altai nach S abstreichenden kulissenartig angeordneten Gebirgsästen, in W a l d t ä l e r n kräftig ernährt, ja durch Burtschum, Kaba und Buchtarmä reich lieh mit Gletscherwasser versehen, doch unterliegt er in der dsungarischen Steppenwüste und besonders im Saissan-Becken stärkster Erwärmung und Verdunstung, die durch den abflußlosen Uljungur an zentrale Verhältnisse gemahnt. Auch der aride und waldarme westliche Süd-Altai und SW-Altai vermögen die Menge und Temperatur seiner Wasser wenig zu ändern. Beide Ströme, die mit minimalem Gefälle die Tiefenlinie der größten Ebene erfüllen, tragen deutlich den Stempel ihres Ursprungslandes. Da ihr Quellgebiet dem gleichen Westwind-Gebiet mit kontinentalem Sommerregen angehört, führen sie beide gleichzeitig Sommerhochwasser, das vom Schnee- und Gletscherschmelzwasser, besonders beim Ob, verstärkt wird. Telezker See und Saissan-nor steigen beide im Mai um 2—3 m. Der Hochstand hält sich im Sommer bis Juli/August am unteren Ob (Beresow), um im September wieder kräftig zu sinken. Das größere und niederschlagsreichere Quellgebiet verleiht dem Ob einen weit reicheren Hochwasserstand als dem aus kleineren und wärmeren südlichen Steppen kommenden Irtysch, so daß die Wasser des letzteren an der Mündung vom Ob g e s t a u t werden. Die tiefere Wassertemperatur des nördlichen Ob — K ä l t e s c h a l t e r d e s T e l e z k e r S e e s — im Vergleich zur höheren des südlichen Irtysch —W ä r m e s c h a l t e r d e s S a i s s a n - S e e s — zeigt sich am deutlichsten bei der Vereisung darin, daß der w ä r m e r e I r t y s c h mindestens eine Woche später zu- und früher aufgeht als der k ä l t e r e O b , ja, daß der Irtysch an seiner Mündung ein Loch bis mindestens 250 km abwärts bei Kondinsk in den Eispanzer des Ob schlägt und hier die Dauer des letzteren im ganzen über 14 Tage verkürzt. Wie der 4 bis 5 Monate dauernde Hochstand mit der ganzen Lebendigkeit des Flüssigen der adaequate Ausdruck des kurzen
Das Ob-Irtysch-System.
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aber wirksamen kontinentalen Sommers ist, so bildet der 5 bis 7 Monate dauernde Tiefstand mit der toten Ruhe des starren Eispanzers, bei dem wir d r e i Z o n e n unterscheiden konnten, der sichtbarste Ausdruck des langen und harten kontinentalen Winters. So spiegelt das Ob-IrtyschSystem in seinen denkbar größten jahreszeitlichen Extremen die ganze Gegensätzlichkeit des kontinentalen Klimas wieder. Aus dem Vergleich beider Ströme ist ohne weiteres ersichtlich, daß seinem hydrographischen Habitus nach der Ob m i t R e c h t a l s H a u p t s t r o m angesehen werden muß, trotzdem ihn der Irtysch an Länge übertrifft. Für die Anlage dieses Riesenstromsystems war der Entwicklungsraum der nordasiatischen Abdachung gewiß eine wichtige Vorbedingung. Aber seine herrschende Stellung verdankt das System, insbesondere der Ob, zum anderen Teil dem Ineinandergreifen der gesamten physiogeographischen Faktoren seines vielgestaltigen Quellgebietes.
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Neuere Anschauungen über den geologischen Bau der Colonia Eritrea. Von
CARL RATHJENS. Mit Karte 3 und vier Textskizzen.
Je mehr wir in der Kenntnis des geologischen Baus des afrikanischen Kontinents fortschreiten, um so mehr erkennen wir, daß die Annahme eines einfachen gleichartigen Aufbaus über das ganze Gebiet hin von den besser bekannten Gebieten aus immer mehr auf die nur notdürftig bekannten weiten Länderstrecken des Erdteils beschränkt wird. Je mehr wir Afrika geologisch eingehender kennen lernen, um so klarer wird es, daß wir es mit einem ziemlich komplizierten Aufbau zu tun haben. Die Colonia Eritrea ist durch die Arbeiten italienischer Reisender, vor allem des Geologen Dainelli und des Geographen Marinelli, in ihren mittleren Teilen ziemlich gut bekannt geworden. Bei der Vergleichung dieser Forschungsergebnisse mit den aus den umliegenden Ländern bekannten Tatsachen ergibt sich, daß wir unsere Ansichten über die geologische Geschichte des Gebietes erheblich revidieren müssen. Stratigraphie. S t r a t i g r a p h i s c h (siehe Karte 3) müssen wir in der Eritrea eine kristalline, eine sedimentäre und eine vulkanische Formation unterscheiden. Die Altersbeziehungen dieser Formationen zueinander sind teilweise feststellbar, während die absolute Altersbestimmung wegen des Mangels an Versteinerungen oft nicht möglich ist. Die k r i s t a l l i n e F o r m a t i o n bildet das Grundgebirge in der Eritrea wie über weite Strecken der Nachbargebiete in Libyen, dem Sudan und Abessinien. Sie bildet auch im größten Teil unseres Gebietes die heutige Oberfläche. Ihre größte Höhe erreicht sie bei Halai im Berge Ad-Hannes mit 2859 m. Sie setzt sich aus den verschiedensten altkristallinen Gesteinen zusammen, die man wieder nach Massengesteinen, wie Granit und Diorit, kristallinischen Schiefern, wie Gneis, Glimmerschiefern, Hornblende-, Serizit-, Quarzit- und Chloritschiefern, Graphitschiefern und Kalkschiefern oder Marmoren und Ganggesteinen, wie Pegmatiten und Porphyriten trennen kann. Die Lagerungsverhältnisse dieser oft wechselnden und ineinander übergehenden Gesteine sind sehr kompliziert. Das Streichen scheint im Süden und Norden, d. h. auf der Hochfläche und im Ansebatal ein vorwiegend nordsüdliches zu sein, während in der Mitte in der Umgebung von Keren eine mehr ostwestliche Richtung vorherrscht. Die Angaben über das Fallen schwanken, doch sind nirgends D r y g a l s k i , Festgabe.
19
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C. Rathjens.
größere Einfallswinkel als 30 bis 40° b e o b a c h t e t worden. Ob die Granite u n d Diorite Kerne oder Intrusionen sind, ist nicht festgestellt. Wir haben es also m i t einem alten Faltengebirge zu t u n , das aus verschiedenen granitisch-dioritischen Massen besteht, die von einem Gürtel von m e t a m o r p h e n Gesteinen umgeben sind. Die Streichrichtung dieses Gebirges war im Süden südnördlich, im Norden südsüdost-nordnordwestlich u n d dazwischen westöstlich. Sowohl die Massen wie die Zonen der kristallinen Schiefer sind von Spalten u n d Gängen durchsetzt, die mit Eruptivgesteinen, wie P e g m a t i t e n oder P o r p h y r i t e n , oder m i t Quarz ausgefüllt sind. Die Quarzgänge, die wegen der in ihnen e n t h a l t e n e n Mineralien (Gold) wichtig sind, bevorzugen ebenfalls vorwiegend eine nordsüdliche Richtung, außer in der Gegend von Keren, wo sie eine ostwestliche oder südostnordwestliche R i c h t u n g einhalten (10). Sie bilden also ein Sprungsystem, das überall in der R i c h t u n g der F a l t u n g v e r l ä u f t . Man k a n n in Eritrea bisher vier Granitmassen unterscheiden und k e n n t bisher zwei Dioritmassen (14. 9. 27). Die Verbindung dieser Massen mit den kristallinen Schiefern ist noch u n b e k a n n t . Letztere sind weit verbreitet. So b e s t e h t das ganze Gebiet zwischen dem oberen Mareb und dem Ostrande der Hochfläche und der östliche A b h a n g bis zum Flusse Aligede aus Phylliten und Glimmerschiefern, in die sich Zonen von Kalkschiefern und Marmoren einschalten. Die U m g e b u n g von A s m a r a besteht aus grünen Schiefern, Chloriten, Amphibolitschiefern, auch chloritischem Epidotgneis. Andere Schiefergebiete liegen im oberen A n s e b a t a l bei Keren, wo es sich zur H a u p t s a c h e um Amphibolite u n d Muskovit-BiotitGneise handelt, und im oberen Barkatal (5). Kristalline Kalkschiefer, die teilweise in Marmor umgewandelt sind und d a n n wirtschaftliche Bed e u t u n g haben, finden sich im ganzen Gebiete. Sie beweisen ebenso wie die Graphitschiefer, die häufig mit den Kalkschiefern vergesellschaftet sind, d a ß es sich nicht um ein Gebirge archäischen Alters h a n d e l t , sondern d a ß man seine E n t s t e h u n g in eine Zeit zwischen dem K a m b r i u m u n d dem Devon verlegen m u ß . Von dem Küstengebiete wissen wir nur, d a ß dort isolierte Stöcke altkristallinen Gesteins aus der sedimentären u n d der vulkanischen F o r m a t i o n herausragen, z. B. der Berg Gedern, die Halbinsel Buri, die Insel Dissei sowie wahrscheinlich große Teile des K ü s t e n gebirges südlich von E d d . Das kristalline Grundgebirge wird diskordant von der S e d i m e n t ä r F o r m a t i o n überlagert. Die Oberfläche zeigt dort, wo sie von den horizontalen Schichten der Sedimentär-Formation überlagert wird, eine Verebnungsfläche; diese weist eine Neigung von Osten nach W e s t e n auf, welche auf einer Strecke von rund 100 km nur etwa 700 m, d. h . noch nicht 1° b e t r ä g t . Die S e d i m e n t ä r - F o r m a t i o n setzt mit einem mächtigen Sandstein ein, der im Liegenden mit einer Breccie b e g i n n t ; diese besteht aus Q u a r zen u n d anderen Gesteinen, auf denen sie r u h t . Das Korn dieser Breccie ist u n t e n sehr grob u n d wird nach oben zu feiner. Die Grundmasse ist o f t quarzitisch, oft aber auch tonig und zuweilen eisenschüssig. Das Material, aus dem der Sandstein besteht, ist nur dem Untergründe, d . h . dem
Neuere Anschauungen über den geologischen Bau der Colonia Eritrea
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Grundgebirge oder der kristallinen Formation entnommen und enthält keinerlei fremde Bestandteile. In seiner typischen Ausbildung ist der Sandstein von weißer oder hellbrauner, oft auch violetter Farbe. Er ist in seiner ganzen Masse ungeschichtet, doch kann man an den Verwitterungswänden, besonders in den liegenden Teilen, einzelne Bänke von gröberem Korn, oft richtige Konglomerate, aus der aus Quarzen und Feldspaten gebildeten Grundmasse hervortreten sehen. Lokal kann die Bindemasse tonig entwickelt sein. Zuweilen reichern sich Eisenkonkretionen zu Bänken an, die dann bei der Wandverwitterung ein eigenartiges zelliges Aussehen verursachen. Die Mächtigkeit der Sandsteine ist im Gebiete verschieden; sie schwankt zwischen 250 m im Osten und 50 m im Westen. Versteinerungen sind in ihnen auf unserem Gebiete noch nicht gefunden worden. Wir sind also in der Zeitbestimmung darauf angewiesen, ähnliche Bildungen in der weiteren Umgebung zu suchen, und zu sehen, was über ihnen liegt. Die Verbreitung in Eritrea beschränkt sich bisher südlich einer Linie Gasch—Ambessa—Adi Ugri—Halai, nach Osten bis zum Hochlandsrand, nach Westen etwas über den Hochlandsrand hinausragend. Wie schon bemerkt, scheint der Sandstein nach Westen zu auszukeilen, denn er hat seine größte Mächtigkeit im Osten mit 250 m, während er im Westen auf der Hochfläche von Adi Quala nur eine Mächtigkeit von 50 m besitzt, die aber weiter westwärts wieder ansteigt (80 m). Seine Höhenlage nimmt ebenfalls von Osten nach Westen ab. Die Oberfläche liegt im Soira in 3013 m, auf der Hochfläche von Adi Quala nur noch in 1700 m. Er bildet keine zusammenhängende Decke, ist vielmehr in einzelne Teile aufgelöst, die oft nur noch die Gipfel der Berge bilden. Der Sandstein in Eritrea, den wir in der Folge als Eritreasandstein bezeichnen wollen, ist bisher mit dem Adigratsandstein in Abessinien (6) und dem nubischen Sandstein in Nubien sowie den Sandsteinen in Kordofan und in Süd-Arabien identifiziert worden und von Passarge mit den südafrikanischen und mittelafrikanischen Sandsteinen zu dem sogenannten Afrika-Sandstein zusammengefaßt worden. Der Adigratsandstein wird in Abessinien von dem Antalokalkstein, der bestimmt jurassischen Alters ist, überlagert, der aber in Eritrea nirgends über dem Eritreasandstein festgestellt ist. Aubry (2) berichtet nun in Schoa von folgendem Profil: Adigratsandstein, 400 m kompakter Kalk (Antalokalk), 20 m Gips, 10 m Kalk, 40 m Gesteine verschiedener Ausbildung, 200 m Sandsteine. Wir haben es hier also mit zwei verschiedenen Sandstein-Horizonten zu tun. Von dem nubischen Sandstein berichtet Hume (27) bei Assuan, d a ß »at their junction with the igneous rock a crush conglomerate cemented by cilica" vorkomme. Auch Stromer (41) fand an der Basis der Sand19*
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C. Rathjens.
steine bei Assuan eine Breccie, in der einige Dezimeter dicke, kaum abgerollte Quarzbrocken durch ein kaoliniges Bindemittel verbunden sind. Dieser Sandstein findet sich bis Suakin, im Westen bis Kordofan, ebenso an der ganzen Südwest-Ecke Arabiens. Während also der Adigratsandstein im Süden älter als der Antalokalkstein, also vorjurassisch ist, sind die ganzen Sandsteine im Norden und in Arabien kretazisch. Die Konglomerat-Bildung an der Basis des Eritreasandsteins sowie des nubischen Sandsteins, ferner die Wechsellagerung von Sandstein mit den vulkanischen Decken im Hangenden des Eritreasandsteins läßt vermuten, daß wir den Eritreasandstein in die Kreide setzen müssen und ihn mit den oberen Sandsteinen des Aubryschen Profils in Schoa identifizieren können. Weiter müssen wir annehmen, daß der Eritreasandstein eine Meeresablagerung ist, daß das Basiskonglomerat im Liegenden eine Transgressionsbreccie ist. Die nächsten Glieder der Sedimentär-Formation in Eritrea sind die die Küste begleitenden Schichten tertiären Alters. Es sind Sandsteine, Mergel und Korallenkalke, die mit vulkanischen Gesteinen wechsellagern und ihrer Entstehung nach teils mariner, teils kontinentaler Bildung sind. Baldacci (3) stellt bei Massaua folgendes Profil auf: 1. Graue oder weißliche Mergel, 2. erdige Sandsteine, grün oder dunkelgrau mit Gips, 3. sandige Tone mit Kalkkonkretionen und mit Gips, 4. gelbe oder rotbraune Sande, 5. Konglomerate mit Gerollen der kristallinen Formation und tonigem Zement mit Glimmer, 6. Korallenkalk. Man kann eine untere Abteilung, die gestört ist (Schiefstellung bis 30°), und eine obere Abteilung, die diskordant in horizontalen Schichten darüber lagert, und zu der die vier oberen Schichten Baldaccis, die wenig verfestigt sind, gehören, unterscheiden. Im Dankaliagraben geben Marinelli und Dainelli (19) folgendes Profil: 1. marine Sande geschichtet, 2. Sande und Konglomerate fluviatilen Ursprungs, gebankt, wechsellagernd mit vulkanischen Schichten, 3. Gipse und Salze mit vulkanischen Gesteinen wechsellagernd, 4. Alluvien und Flugsand. Hier sind nur die marinen Sande gestört, während alle anderen Ablagerungen ungestört zum Salzbecken in Terrassen abfallen. Die Verbreitung dieser Küstensedimente, deren Alter zwischen dem Miozän und dem Postpliozän angesetzt wird, die aber bis ins Alluvium hineinreichen, beschränkt sich auf die Küstenplatte und die Inseln. Sie reichen nach Baldacci (3) bei Massaua nicht über Saati hinaus, haben in der Dankalia aber zwischen dem Hochlandsrand und dem Küstengebirge und an der Küste des Küstengebirges eine weite Verbreitung. Die Wechsellagerung, soweit bekannt nur der oberen ungestörten Schichten, mit vulkanischen Gesteinen erschwert eine Gliederung dieser Formation ungemein.
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Die v u l k a n i s c h e F o r m a t i o n erfordert eine Zweiteilung und ist beidmalig in die Glieder der Sedimentär-Formationen eingeschaltet. Die untere Serie liegt zeitlich über und zum Teil in den Schichten des Eritreasandsteins, die zweite Serie wurde zugleich mit oder nach den tertiären und quartären Sedimenten der Küstenzone abgelagert. Schon Blanford (6) unterscheidet diese beiden Serien, die er Trappserie und Adenserie nennt, und von denen die erste nach ihm nur auf der Hochfläche, die andere nur in der Dankalia und der Küstenzone vorkommt. Blanford (6) teilt in Abessinien die Trappserie wiederum in die Aschangiserie und in die Magdalaserie, von denen die erstere, ältere, vorwiegend aus Doleriten und Basalten, die mit vulkanischen Aschen und Breccien wechsellagern, die letztere aus Trachyten und Doleriten in horizontaler Lagerung mit eingelagerten Trachyt-Tuffen und tonigen und sandsteinartigen Schichten besteht. Die stockförmigen Trachyte der Berge von Senate nehmen nach ihm eine Sonderstellung ein. In der Eritrea sind nur die Aschangiserie und die Trachyte von Senate vorhanden und zwar beide isoliert, ohne Verbindung miteinander. Die Aschangiserie besteht vorwiegend aus Basalten (nach Manasse (31) Olivin-Doleriten) wechsellagernd mit Tonen und Tuffen, vor allem LiparitTuffen, deren säulenförmige Struktur aufweisende Schichten horizontal gelagert sind. Man kann daher, ebenso wie aus der Wechsellagerung mit den oberen Sandsteinschichten, wie Dainelli und Marinelli (18) östlich von Adi Ugri feststellen, sowie aus der vollkommenen Konkordanz der Sandsteine und Basalte, auf eine Ablagerung der Basalte unter dem Meere schließen. Die Basaltdecke ist ebenso wie die Sandsteine und das kristalline Grundgebirge von Basaltgängen durchsetzt, in denen die Basaltsäulen entsprechend der Abkühlungsflfiche meist in horizontaler Lage liegen. Wir können das Alter der Basaltdecke nur relativ angeben, als älter als der Eritreasandstein. Die Verbreitung der Dolerite beschränkt sich auf die Hochfläche, im Bogen des Mareb. Die Mächtigkeit übersteigt z. B. im Takarä nicht 500 m, ist aber meist viel geringer. Ihre Oberfläche senkt sich von den Bergen Takarä (2579 m) und Aratö (2574 m), die isolierte Stöcke oder Amben bilden, nach Norden bei Asmara auf 2300 m, nach Süden und Westen bei Adi Quala und Tukul auf 2000 m. Die Senafe-Gruppe besteht aus feinkörnigen Trachyten, einem Riebeckit-Trachyt in der Amba Kaschäd (35), einem Liparit-Felsit des Kaschasse-Passes (31), der auch mit Liparit-Tuffen vergesellschaftet ist. Die Trachyte treten im Gegensatze zu den Basalten stockförmig auf und bilden isolierte Amben innerhalb der Sandsteine oder des Grundgebirges. Die Säulen der ungeschichteten Massen sind meist senkrecht. Nur in der Amba Tarika nordwestlich von Senate scheint die Lagerung deckenförmig zu sein. Auch das Alter der Trachyte läßt sich nur relativ bestimmen. Ihre Verbreitung beschränkt sich auf eine Berggruppe nördlich von Senate sowie auf drei isolierte Vorkommen parallel dem oberen Komäile, zwei östlich von Senate, zwei südlich (Amba Seim), eines westlich (Amba Kaschäd) und zwei weiter entfernt, westlich von Barakit und im Marebtal
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bei Kenafenä (s. Fig. 1). In Abessinien sollen die Berge von Fokada und die Berge von Adua dieselbe Zusammensetzung haben. Die Mächtigkeit der Trachyte übersteigt, soweit feststellbar, wohl nirgends 300 m. Ihre größten Höhen liegen in der Amba Tarika (2775 m), Amba Seim (2737 m) und Amba Kaschäd (2745 m). Der Tokule (s. Fig. 1) h a t eine Gipfelhöhe von 1973 m, er erhebt sich etwa 450 m über die Umgebung, wobei sein F u ß aus altkristallinen Gesteinen besteht, und unterscheidet sich in der Höhenlage auffallend von den übrigen Stöcken, die alle auf einer Grundfläche von 2300 bis 2400 m sich erheben. Die Adenserie unterscheidet sich nach Blanford (6) und nach Marinelli und Dainelli (18) zeitlich wie räumlich von der Trappserie, indem die letztere auf die Hochfläche, die erstere auf die Küstenzone und das Küsten-
Fig. 1.
Der Tokul6.
gebirge und höchstens auf den Fuß des Abhangs beschränkt ist. Die Gesteine der Adenserie, mit denen wir entgegen Marinelli und Dainelli (18), nur die vulkanischen Gesteine bezeichnen wollen, bestehen zur H a u p t sache aus Basalt- und Trachyt-Laven, die mit Tuffen wechsellagern. Ferner sind beschrieben worden: Liparite, Feisite, Obsidiane, Porphyrite und Andesite (Dazite), Basalte, Dolerite mit ihren entsprechenden Laven u n d Tuffen. Das Alter der Serie entspricht der oberen ungestörten Abteilung der tertiären Sedimentär-Gesteine, mit denen sie wechsellagert, u n d setzt sich bis in die Quartär- und Jetztzeit hinein fort. Die Lagerungsform ist schichtförmig in den älteren Teilen, stromförmig in den jüngeren Schichten, in den jüngsten Gliedern sind noch völlig erhaltene Vulkane, die teilweise t ä t i g sind, vorhanden. Die Verbreitung beschränkt sich in der Küstenzone auf bestimmte Gegenden, z. B. östlich von Saati, südlich des Berges Gedern und nach Marinelli und Dainelli (18) auf zwei Gebiete am Hochlandsrande, am unteren Aligede in 500 bis 800 m Höhe und auf der Hochfläche von Agametta in 900 m Höhe. Ihio größte Ver-
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breitung hat die Adenserie im Dankaliagraben, wo die jüngsten Ablagerungen mit vielen Vulkanen, deren größte der Jaluà und der Alid sind, und vielen Vulkan-Embryonen den Boden des Grabens ausfüllen, und im Küstengebirge, das geologisch aber noch fast unbekannt ist. Auch einige dem Küstengebirge vorgelagerte Inseln, z. B. in der Bucht von Hauakil gehören hierher. Es ist noch eines interessanten Vorkommens Erwähnung zu tun, eines Laterit ähnlichen Gebildes, das an bestimmte Gesteine gebunden zu sein scheint und das diesen Gesteinen entsprechend eine verschiedene Zusammensetzung aufweist. Es bildet in der Gegend von Asmara die Oberfläche der Hochebene und zeigt dort folgendes Profil: 1. 2,5 m ziemlich feste rote Masse mit roten Konkretionen (Oxyde und Hydroxyde), 2. 3 m tonige teils rote, teils weiße Breccien ähnliche Masse, 3. 10 bis 45 m rötliche, noch die Struktur des Muttergestein's zeigende Masse. Dieser Laterit ist das Lateritisierungsprodukt verschiedener Arten kristalliner Schiefer, scheinbar vor allem grüner Schiefer, während andere Schiefer und die Massengesteine eine Kaolinisierung, verbunden mit einer Opalisierung erfahren haben. Beide Gebilde kommen nur nebeneinander vor, ihre Mächtigkeit schwankt zwischen 20 und 50 m, und der Laterit liegt unter der vulkanischen Decke, der Kaolin unter dem Eritreasandstein. Sie sind als Verwitterungsprodukte eines feucht-heißen Klimas anzusehen. Die Annahme von Marinelli und Dainelli (18), daß die Terrassen, die der Laterit bei Asmara bildet, bereits vor der Ablagerung der Sandsteine und Basalte bestanden hätten, daß sie nach ihrer Annahme bereits prätriadisch, nach unserer Annahme präkretazisch sind, läßt sich wohl kaum halten. Stromer (41) beschreibt unter dem nubischen Sandstein bei Assuan ähnliche Kaolinablagerungen; in Abessinien kommen mächtige Laterit ähnliche Ablagerungen, z. B. im nördlichen Tigré, in Semién und Woggera vor. Tektonik. (S. Fig. 2.) Wir sahen, daß in der Eritrea ein Faltengebirge mit im Norden und Süden nordsüdlichem, in der Mitte vorwiegend ostwestlichem Streichen, welche Erscheinung sich auch in den Quarzgängen wiederholte, das eine vollständige Einebnung erfahren hat, das Grundgebirge bildet. Dieses eingeebnete Faltengebirge dehnte sich bis in den Sudan, nach Nubien und Kordofan sowie nach Abessinien und nach Arabien hinein aus. Wir können weder sagen, wann diese Einebnung vollendet war, noch ob sie durch Abrasion oder Abtragung entstanden ist. Sicher ist nur, daß der Eritreasandstein, der über der Einebnungsfläche liegt, eine Meeresablagerung ist und im Liegenden mit einer Transgressions-Breccie beginnt. Diese Transgression ist wahrscheinlich von Süden aus fortgeschritten. Hennig (23) nimmt ein triadisches, vielleicht bereits vortriadisches Meer
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an, das vom Indischen Ozean aus einen Arm über die Somali-Halbinsel, Mittelabessinien und das Gebiet der Zuflüsse des Bahr el Ghasal sandte, um sich über dem Kongo-Becken zu einem Binnenmeer zu erweitern. Man m u ß also annehmen, daß in ganz Ostafrika im ganzen Mesozoikum bis zur oberen Kreide eine Tendenz des Absinkens großer Ländermassen unter den Meeresspiegel zu erkennen war. In Abessinien müssen wir in der Jurazeit ein tieferes Meeresbecken, in dem der Antalokalkstein abge-
lagert wurde, annehmen. Daß die Verbindung mit dem Kongo-Binnenmeere bereits im J u r a abgebrochen wurde, ist nicht anzunehmen. In der Kreide (30) n a h m die Meeresbedeckung in Ostafrika noch zu, wir müssen die Verbindung eines Flachmeeres von Süden bis nach Ägypten hin annehmen. Auf dem Grunde dieses Meeres fanden die ersten Eruptionen s t a t t , die die Zeit der Hebungen in Ostafrika einleiteten und das Meer überall zum Rückzüge zwangen. In der oberen Kreide verlief die Küste des Meeres vermutlich durch die Somali-Halbinsel. Die Zeit der Ablagerung der Trappserie kann also zwischen untere und obere Kreide gelegt werden. Es scheinen epirogenetische Bewegungen gewesen zu sein, die die Verteilung der Meeresrfiume in Ostafrika bestimmt haben. Die heutige
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Neigung der Verebnungsfläche des Grundgebirges von Osten n a c h Westen u n d von Süden nach Norden ist sicher erst d u r c h die großen Verwerfungen, die nach der Zeit der E r u p t i o n e n eintraten, b e d i n g t worden. Der Eritreasandstein reicht bis zu einer Linie Halai-Adi Ugri u n d wird westlich des Mareb von der Basaltdecke überlagert. Nördlich d a v o n liegt der Basalt direkt auf d e m Grundgebirge u n d ist von diesem durch eine mächtige Lateritschicht g e t r e n n t . Das l ä ß t den Schluß zu, d a ß zur Zeit der Ablagerung der Basalte bei Adi Ugri eine K ü s t e zwischen einem Flachmeere u n d einem niedrigen F e s t l a n d e mit feuchttropischem Klima verlief. Nichts spricht f ü r die A n n a h m e MarinelliDainellis (18), d a ß das kaolinisierte V e r w i t t e r u n g s p r o d u k t u n t e r dem Sandstein mit dem Laterit gleichaltrig ist, es ist vielmehr a n z u n e h m e n , d a ß die Bildung des Laterits zwischen die Zeit der A b l a g e r u n g des Eritreasandsteins und der T r a p p d e c k e zu setzen ist. Hennig (23) n i m m t an, d a ß bereits n a c h Ablagerung des Adigratsandsteins durch eine Aufbiegung des ganzen nordöstlichen A f r i k a s eine T r e n n u n g des Kongo-Beckens vom indischen Ozean erfolgt sei, und d a ß die großartigen vulkanischen Ergüsse in Ostafrika entweder gleichzeitig oder infolge dieser Aufbiegung erfolgt wären. W i r wissen, d a ß bei Antalo die obersten Schichten des Kalkes mit vulkanischen Ablagerungen wechsellagern, d a ß also bereits im J u r a unterseeische E r u p t i o n e n s t a t t f a n d e n . Die vulkanischen Decken erreichen in Abessinien b e d e u t e n d e Mächtigkeit, und ihre Ablagerung d e h n t e sich sicher über eine große Zeitspanne aus. Es scheint ferner eine zeitliche Aufeinanderfolge der vulkanischen Ergüsse von Süden nach Norden sowie eine A b n a h m e der I n t e n s i t ä t nach Norden s t a t t g e f u n d e n zu h a b e n . Man k a n n daher wohl die Ansicht v e r t r e t e n , d a ß die vulkanischen Ergüsse die A b t r e n n u n g des KongoBeckens bewirkten und d a ß die Aufbiegung von Ostafrika erst n a c h der Ablagerung der vulkanischen Decken, also nicht vor der Mitte der Kreide, erfolgte. Die Aufbiegung u m f a ß t e ein sehr großes Gebiet, reichte von Syrien bis Südafrika und bildete einen ganz flachen Sattel zwischen dem Nilgebiet und dem Kongo-Becken im Westen u n d Mittelarabien, der Somali-Halbinsel und dem Indischen Ozean im Osten. Auf die Zeit, in der die schiebenden, aufbiegenden K r ä f t e t ä t i g waren, folgte eine Zeit, wo diese von zerrenden K r ä f t e n abgelöst w u r d e n . Die Folge w a r , d a ß ganz Ostafrika von Brüchen zerrissen wurde, die teilweise Grabenbildungen, teilweise einseitige Verwerfungen waren. W a n n diese Zeit e i n t r a t , ist ungewiß, es ist aber anzunehmen, d a ß die ostafrikanischen Brüche in einer langen Zeitspanne in einzelnen Phasen e n t s t a n d e n . Der Rote-Meerbruch ist nicht als einfacher G r a b e n b r u c h zu b e t r a c h t e n , sondern aus geologischen, morphologischen und zoogeographischen Gründen ist a n z u n e h m e n , d a ß er in zeitlich und örtlich unterschiedlichen Staffeln abgesunken ist. Da die ältesten Meeresablagerungen am Boden dieses Grabens miozän oder pliozän sind, so müssen wir den Beginn der Brüche jedenfalls als älter ansetzen. Der G r a b e n b r u c h des Roten Meeres h ä n g t e n g mit den ganzen ostafrikanischen Brüchen zusammen (29, 42, 43, 34). Blankenborn (7) möchte
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auch einen Zusammenhang mit einem Senkungszirkus konstruieren, der ganz Syrien, Arabien und Mesopotamien umfaßt, und in dessen Zentrum der Einbruch des Persischen Golfes und des Stromlandes liegt. Das Zusammenwirken beider Ursachen hat wohl dazu geführt, daß der RoteMeerbruch ein so viel gewaltigeres Ausmaß hat, als alle anderen Grabenbrüche. Vielleicht haben diese Ursachen auch zeitlich hintereinander gewirkt, denn der Rote-Meergraben war bereits lange vorher vorhanden, ehe eine Verbindung mit dem Indischen Ozean eintrat, und zwar scheint dieser Graben mit dem südabessinischen Graben zusammengehangen zu haben, während der Einbruch des Meeres erst durch den Einbruch des Golfs von Aden ermöglicht wurde. In der Zone, wo beide Bruchsysteme sich trafen, also in der Dankalia und dem Gebiete des südlichen Roten Meeres, sehen wir eine besonders lebhafte vulkanische Tätigkeit. Bisher nahm man an, daß die gesamten ostafrikanischen Brüche relativ jung sind, daß der Rote Meergraben Jungtertiär ist. Man muß aber unbedingt damit rechnen, daß der Beginn der Einbrüche bereits viel früher stattfand. In Ostafrika hat Frech (20) dieselben Zweifel erhoben, und die Einheitlichkeit der Brüche bestritten. In Eritrea fehlen bisher die exakten geologischen Tatsachen für ein genaues Alter der Brüche. Es ist hier bisher nicht festgestellt, daß die über dem Grundgebirge lagernden Schichten des Sandsteins und der Trappdecke auch auf dem Boden des Roten-Meergrabens vorhanden sind. Diese Schichten sind aber weiter südlich, dort wo der abessinische Graben in die Dankalia eintritt, auf dem Boden und auf den Staffeln der Seitenbrüche des Grabens festgestellt worden (1). Es ist möglich, daß der Verlauf der Brüche im gesamten abessinischen Gebiet durch die mächtige Trappdecke beeinflußt worden ist, und daß die Brüche nur am Rande dieser Trappdecke vorbeistreichen. Ob es sich bei den beiden Vorkommen von Basaltdecken auf halber Höhe des östlichen Abhanges, am Aligedö in 500 bis 800 m Höhe, bei Agametta in 900 m Höhe, um Gesteine der Adenserie, wie Marinelli und Dainelli (18) annehmen, oder der Trappserie, wie ihre Lage in der Landschaft vermuten läßt, handelt, muß noch festgestellt werden. Von dem Eintritt des südabessinischen Grabens in die Dankalia an verläuft der äußerste Westrand des Roten-Meergrabens ziemlich genau nach Norden und damit fast parallel dem östlichen Grabenrand vom Bab el Mandeb bis zur Höhe von Abu Arisch. Von hier an biegt der Graben nach Nordwesten um, sich weiter im Norden allmählich verschmälernd. Der Drehpunkt dieser Richtungen liegt in Eritrea in dem Gebiete vom Südende des Golfs von Sula bis nördlich Massaua, oder auf der Hochfläche von Adigrat bis Asmara. Von Asmara an streicht der Bruchrand nordnordwestlich, springt an der Mündung des Barka ein Stück nach Westen ab, um dann zuerst nordnordwestlich und später nordwestlich zu streichen. Eine spiegelbildliche Erscheinung sehen wir am östlichen Grabenrand im Gebiete um Mekka. Die Zone der Umbiegung der Streichrichtungen der Brüche in Eritrea zeigt ziemlich komplizierte Verhältnisse. Nach der topographischen Karte
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scheint der Bruchrand auf kurzer Strecke hier Ostwestrichtung anzunehmen. Nördlich vor dieser Strecke liegt der 925 m hohe, südnördlich langgestreckte altkristalline Horst des Gedern. Die Hydrographie dieser ganzen Gegend zwischen Massaua, Asmara, Senafe und dem Golf von Sula ist südnördlich orientiert und südlich von ihm auf der Hochfläche, in der Verlängerung des südnördlich verlaufenden Haddastales liegt die Gruppe der Trachytstöcke von Senafe. Alle diese Erscheinungen, die in dem Gebiete liegen, wo die Streichrichtung des Grundgebirges aus der südnördlichen in die ostwestliche übergeht, deuten auf ein kompliziertes Bruchsystem hin. Bereits Blanford (6) hat erkannt, daß die beiden Quelltäler des Haddas südlich von Adi Kajeh durch südnördliche Brüche bestimmt sind. Er nahm einen langgestreckten abgesunkenen Riedel zwischen stehengebliebenen Plateauflächen an, während Marinelli und Dainelli (18) nach genaueren Aufnahmen feststellen, daß es sich nur um einen einfachen Bruch handelt, bei dem der östliche Flügel gegenüber dem westlichen um einen nach Norden sich vergrößernden Betrag gehoben ist. In der Verlängerung dieses Bruches nach Süden liegen die Trachytstöcke von Senafe. In der Verlängerung nach Norden liegt die Ostseite der Basalttafel des unteren Aligede und noch weiter nördlich ein vulkanisches Gebiet der Adenserie östlich von Saati. östlich des Haddastales fließt das Komäiletal, ebenfalls in ausgesprochener südnördlicher Richtung. In der Verlängerung dieser Richtung nach Norden liegt ein vulkanisches Gebiet der Adenserie am unteren Quertal des Haddas in der Gegend des Brunnens Ue-aä und noch weiter nach Norden der Westrand des Gedern. Dasselbe Bild bietet der Fluß Selima, dessen Verlängerung mit jungvulkanischen Gesteinen am unteren Komailetal und mit dem Ostrand des Gedemhorstes zusammenfällt. Westlich des Haddastals verlaufen noch zwei Täler in ausgesprochen südnördlicher Richtung, von denen das eine in seiner Verlängerung ebenfalls auf eine jungvulkanische Zone bei Big-Bigta trifft. Der Verfasser (36) nahm früher an, daß an dieser Stelle eine Reihe von Staffeln von Süden heranstreichen, die sich nach Norden allmählich erniedrigten, während sich weiter westlich neue Staffeln bildeten, die in nordnordwestlicher Richtung weiter streichen. Diese Annahme ist durch die neueren geologischen Untersuchungen bestärkt worden. Über die Ursachen dieser komplizierten Brüche können wir nur Vermutungen öußern. Man kann annehmen, daß die Änderung im Streichen des Grundgebirges oder die jetzt einen Eckpfeiler bildenden Trachytstöcke von Senate die Ablenkung verursachten oder daß der mächtige Trappschild von Abessinien, der hier auskeilte, die gesamten Bruchlinien in Ostafrika zu einem Ausbiegen nach Osten zwang, die jetzt wieder in ihre normale Richtung zurückkehren. Im Gebiete von Tokar an der Mündung des Barkatales sehen wir ein nochmaliges Abspringen des westlichen Bruchrandes nach Westen. Blankenhorn (7) betrachtet das Barkatal als Grabenbruch, und die morphologische Betrachtung dieses Gebietes bestätigt diese Ansicht. Geologische
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Beweise liegen aber bisher n i c h t vor. Auch der Barkatalgraben, der nach Süden zu bei E i n t r i t t in d a s Gebiet des Trappschildes erlischt, würde in das Bild der Beeinflussung der Bruchlinien durch letzteren passen. Auch f ü r die A n n a h m e eines Bruchrandes im Westen von Eritrea und Abessinien, den der Verfasser (36) aus morphologischen Gründen angen o m m e n h a t , liegen bisher e x a k t e geologische Beweise nicht vor. Aber noch immer ist f ü r diesen u n v e r m i t t e l t e n Steilhang von oft über 1000 m , dessen vorgelagerte Inselberge bei weitem nicht die Höhe der Hochfläche erreichen, keine andere E r k l ä r u n g zu geben. Der Rand der Hochfläche wird zum Teil von Ablagerungen der Trappserie gebildet, die im Wolkait, südlich des Setit, auf d e m Grundgebirge zu liegen scheint. Dainelli und Marinelli (17) lassen den Sandstein unter der Trappdecke auskeilen und letztere mit dem R a n d e der Hochfläche enden. Dagegen ist in Kordofan der nubische Sandstein, der m i t dem Eritreasandstein zu identifizieren ist, nachgewiesen. Außerdem h a t Heuglin (24) in der Gegend westlich von Gedaref und bei G a l a b a t am Fuße des westlichen Abhangs von Abessinien basaltische Gesteine erwähnt, deren Vorhandensein allerdings von Marinelli u n d Dainelli (18) ohne Angabe von Gründen bezweifelt wird. Die Bestätigung dieser Basalte und das Vorkommen des nubischen Sandsteins am F u ß e des Randes würden den Bruchcharakter des westlichen Abhanges sichern. Der Boden des Roten-Meergrabcns ist nicht eben, sondern zeigt ebenfalls sehr komplizierte Verhältnisse. Es ist schon früher darauf hingewiesen, d a ß der heutige Graben in zeitlich auseinanderliegenden Perioden e n t s t a n d e n ist. Issel (28) sucht zu beweisen, d a ß während der Pliozänzeit das Meer noch nicht in den Graben eingedrungen war, sondern d a ß der Boden des Grabens durch mehrere Seen, deren größter der »Lacus Arabicus« im Norden war, eingenommen wurde, und d a ß die Rinnen, die im Boden des Roten Meeres festgestellt sind, durch große Flüsse ausgegraben wurden, vor allem durch seinen alten Nil, der in den »Lacus Arabicus« m ü n d e t e , und einen anderen Fluß, der das südliche Becken des Roten Meeres ausgegraben habe. D a n a c h m ü ß t e der Rote-Meergraben zu jener Zeit das Aussehen des Zentralafrikanischen Grabensystems heute g e h a b t h a b e n . Man k a n n aber wohl den Flüssen k a u m die Rolle zuschreiben, die Issel ihnen gibt, m u ß vielmehr auch hier zur E r k l ä r u n g die A n n a h m e von Grabenbrüchen hinzuziehen. Der Boden des Roten-Meergrabens zeigt mehrere in ihn eingesenkte Gräben. Der Dankaliagraben v e r l ä u f t in nordnordwestlicher-südsüdöstlicher Richtung parallel dem Verlaufe des Küstengebirges, das wir mit seinen parallelen Rändern u n d seiner altkristallinen Basis als Horst auffassen müssen. In der Salzebene des Alel Bad t r e n n t sich ein Ast ab, der parallel dem Hochflächenrande in nordsüdlicher Richtung über das Becken von Rorum mit der größten Tiefe des Depressionsgebietes (—120 m) über das abflußlose Becken des Golima, den südnördlich fließenden Unterlauf dieses Flusses und den südnördlich verlaufenden Unterlauf des Hawasch in den Südabessinischen Graben weiterführt. Der südöstlich verlaufende Graben t r i f f t auf die Depression des Assalsees (—170 m) u n d auf
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die innerste abgeschnürte Bucht des Golfs von D j i b u t i , der seinerseits in der Verlängerung des Adengrabens liegt und sich landeinwärts über das Gebiet, wo der untere Hawasch versiegt, ebenfalls zum Südabessinischen Graben hin fortsetzt. Diese Bruchlinien der Dankalia werden überall von tätigem oder erloschenem Vulkanismus begleitet, von denen nur der Vulkan J a l u ä , südlich des Golfs von Sula, der Alid, i n m i t t e n einer Unmasse von V u l k a n e m b r y o n e n , nördlich des Alel Bad, der Maraho in der Badda
und der Afdera zwischen Alel Bad und Assalsee, ferner der Erta-ale in dem Winkel mit dem Golimagraben e r w ä h n t werden mögen. Das Küstengebirge der Dankalia scheint d u r c h eine Reihe von Querbrüchen betroffen zu sein, auf denen ebenfalls vulkanische Ergüsse s t a t t gefunden h a b e n , z. B. a m Nordrand des Golfs v o n Djibuti, ferner zwischen Beilul u n d E d d , bei Anfila u n d in der B u c h t von Hauakil. Der Dankaliagraben setzt sich nach Norden in der Bucht von Sula fort, in deren Verlängerung wir auf eine grabenförmige Vertiefung des Meeresbodens von bis zu 600 m innerhalb der n u r bis 100 m tiefen Küstenplatte treffen (s. Fig. 3), die wiederum in den zentralen Graben des Roten
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Meeres übergeht, der an dieser Stelle aus seiner im Süden grabenförmigen Gestalt eine beträchtlich breitere Beckenform annimmt. Der zentrale Graben verläuft in nordnordwestlicher Richtung und ist in der Küstenplatte mit Tiefen bis zu über 1000 m eingesenkt. Der Bruchcharakter dieses Grabens wird durch die vulkanischen Inseln, die teilweise mitten aus den größten Tiefen des Grabens, wie der Djebel Tair, hervorwachsen, bestätigt. Kleinere grabenförmige Einsenkungen sind auch noch innerhalb der Küstenplatte vorhanden, die aber 200 m Tiefe nicht übersteigen. Ein schmaler Graben verläuft an der Ostseite der Halbinsel Buri parallel zum Küstenbruch. Eine eigenartige Bildung (s. Fig. 4) ist die in gleicher Richtung gestreckte 200 m tiefe Bucht an der Südwestseite der großen Dahalakinsel, die außer einem schmalen Ausgange von Land umgeben ist, während der Meeresboden im ganzen Umkreis der Insel keine 100 m tief ist. Ein weiteres grabenförmiges Gebilde verläuft mit 200 m Tiefe an der nördlichen Küste der Eritrea in der Richtung des Dankaliagrabens, und eine Tiefenzone von 600 m Tiefe, die durch eine Schwelle von 400 m Tiefe vom zentralen Graben getrennt ist, setzt den Barkagraben unterseeisch nach Norden fort und sendet zwei Ausleger von 600 m Tiefe nach Port Sudan und Suakin und einen nach Osten. Hieher verlegt Blankenborn (7) die Grenze zwischen seinen beiden zentralen Becken. Es sind also in unserem Gebiete verschiedene ausgesprochene Bruchrichtungen vorhanden. Die vorherrschende ist die südsüdöstlich-nordnordwestliche oder südostnordwestliche. Sie wechselt ab mit der südnördlichen, und beide werden geschnitten von einer vorwiegend ostwestlichen Richtung. Vulkanismus. Im Gebiete der Eritrea kommen alle Abstufungen vulkanischer Tätigkeit von der heutigen Aktivität bis zum Stadium der Fumarolen und heißen Quellen vor (s. Fig. 2). Diese vulkanische Tätigkeit ist aber auf das Küstengebiet, d. h. auf den Boden des Roten-Meergrabens beschränkt. Heute noch tätige Vulkane mit beobachteten Ausbrüchen sind der Dubbi und der Afderä, beide in der Dankalia gelegen. Der Dubbi (ca. 40 km von Edd landeinwärts) hatte seinen letzten Ausbruch am 7. Mai 1861, der nach Heuglin (25.5.23 u. 40) zehn Tage dauerte. Er wurde durch Erdbeben und Explosionen eingeleitet, denen große Lavaergüsse folgten, die nach Mercalli (32) mehrere Dörfer zerstörten und 106 Personen das Leben kosteten. Die Eruption lebte im September desselben Jahres wieder auf und überschüttete die Stadt Edd mit Lapilli und Aschen. Große Lavaströme ergossen sich gegen das Meer. Nach Bottego (8) liegt der Dubbi auf einer Hochfläche und hat eine Höhe von 1200 m . Zichy (46) gibt die Höhe der Hochfläche mit 600 bis 900 m an. Der Afderä liegt auf dem Schnittpunkt des Dankaliagrabens mit einer Bruchlinie (18), die das Küstengebirge in der Richtung des Adengrabens schneidet, und auf der auch der Dubbi liegt. Der letzte Ausbruch fand nach Erkundigungen bei Eingeborenen (44) im Juli und August
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1907 statt, wurde durch Erdbeben eingeleitet und öffnete an der Westflanke des Berges, dessen Höhe auf 2225 m angegeben wird, einen Krater, dem Lavaströme entflossen. Im Fumarolen-Zustand befinden sich der Alid und der Erta-ale. Der Alid liegt im Dankaliagraben, zwischen der großen Depression und dem Golf von Sula. Er bildet keine Pyramide, sondern eine ostwestlich, in der Adenrichtung gestreckte unregelmäßige Hochfläche, deren höchster Punkt
Fig. 4.
Skizze der Dahalak-Inseln, ca. 1: 750000. Tiefenlinien im Abstand von 25 m.
mit 910 m im Nordosten liegt. Der Boden des Kraters, der 1 km Durchmesser besitzt und etwa 100 m tief am Westrande der Hochfläche eingesenkt ist, hat nur eine Meereshöhe von 561 m. Die erste Fumarole, die fast geruchlose weiße Dämpfe ausstößt (76°), liegt an der westlichen Innenflanke des Kraters, der aus Liparitbreccie besteht (18). Die zweite Fumarole, deren Dämpfe Schwefelwasserstoff enthalten, liegt in einem Tal auf der Hochfläche und ist mit heißen Quellen von einer Temperatur bis zu 98°, in denen Ammoniak-Bisulfat und Eisensalze gelöst sind, verbunden (21). Die dritte Fumarole liegt am Nordhang des Berges in 510 m Höhe mit Schwefelwasserstoffgas und heißen Quellen (82,5°). Auffallend ist das fast gänzliche Fehlen von Chlor. Die Basis des Alid bis zu einer Höhe von 150 m besteht nach Marinelli und Dainelli (15) aus Glimmer-
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schiefer und einem Glimmersandstein von rotbrauner Farbe mit weiß gefärbten Schichten von Gips und Kalzit, die mit vulkanischen Ablagerungen wechsellagern. Man muß also den Alid als einen Horst auffassen, der quer über den Dankaliagraben an Brüchen in Adenrichtung aufgebaut ist. Dafür sprechen auch die in gleicher Richtung zonenartig angeordneten kleinen Vulkanembryonen von durchschnittlich 50 m Höhe und 200 m Durchmesser an der Basis, mit wohlausgebildeten Kratern, die sich nördlich und südlich des Horstes innerhalb des Grabens ausbreiten. Der Erta-ale (14) liegt südlich des Alel-Badbeckens, im spitzen Winkel zwischen dem Dankalia- und Golimagraben. Der Kegel, dessen Fuß 75 m unter Null, und dessen Gipfel auf 550 m liegt, wird von Hildebrandt (26) als im Fumarolen-, und zwar Pozzuoli-Zustande befindlich angenommen, wegen der weißen Dampfwolke, die ständig über seinem Gipfel liegt. Er scheint nur ein Teil einer sich nach Süden zu fortsetzenden Vulkanreihe zu sein. Heiße Quellen finden sich im ganzen Küstengebiet und in der Dankalia. Es seien unter anderen erwähnt die Quelle von Hueitö (45), die nördlichste im Küstengebiet auf etwa 17° nördlicher Breite, die Quelle von Ernoli (45), etwas südlicher, als Heilquelle benutzt, die Quelle von Ailet (37 u. 11) westlich von Massaua (50° bis 67°), die Quelle bei Dongollo (45), östlich von Ghinda, ferner im Dankaliagraben die Quelle von Asfät (11) mit 43°, die Quelle von Aräfali (26 u. 9) mit 50 bis 67°. Überhaupt besitzt das Grundwasser im Gebiet zwischen Massaua und Sula eine übernormale Temperatur, die bereits von den Engländern 1868 (6) festgestellt wurde. Eine Bohrung bei Monkulu (9) ergab bei 26 m 35°, bei 165 m 45° Temperatur. Über siedende Salzquellen mit erstickenden Schwefeldämpfen in drei bis vier Fuß hohen tulpenförmigen Bassins von gelber Farbe (Salz) die als Schlammvulkane gedeutet werden müssen, berichtet Zichy (46) von Dellöl nördlich des Alel-Bad, Schimper (38) von der Salzebene selbst und Dulio (19) aus der Gegend des unteren Hawasch. Sie lassen darauf schließen, daß man die Salzebene als Reste einstiger Meeresrfiume zu betrachten hat. Die Abtrennung dieser Meeresbucht, die die innere Dankalia ausfüllte, und die bereits Munzinger (33) über die Bucht von Hauaki] hin annahm, muß durch eine Hebung des Gebietes des Küstengebirges in der Gegend dieser oder der Bucht von Anfilö erfolgt sein. Vielleicht bestand eine solche Meeresverbindung auch über den nördlichen Dankaliagraben und wurde durch die Heraushebung des Horstes des Alid getrennt. Erdbeben. In der ganzen Eritrea ist die seismische Tätigkeit ziemlich bedeutend. Man wird das Küstengebiet und die Dankalia wohl als ein Hauptschüttergebiet bezeichnen müssen. Marinelli und Dainelli (18) nehmen zwei seismische Regionen in dem Gebiete an, eine mit häufigen Perioden von geringer Intensität und lokaler Bedeutung im Küstengebiet und eine Region verhältnismäßig seltener aber kräftiger Beben auf der Hochfläche. Auch
Neuere Anschauungen über den geologischen Bau der Colonia Eritrea.
305
auf der abessinischen Hochfläche, z. B. 1845 in Gondar, kommen bedeutendere Beben vor. 1921 zerstörte ein großes Beben in mehreren Perioden von August bis September die Stadt Massaua. Den Zusammenhang, den man zwischen den Beben und den Winterregen an der Küste festzustellen vermeint hat (18), wird man kaum aufrechterhalten können.
Säkulare Bodenbewegungen. Man kann im ganzen Gebiete des Roten Meeres Zeugnisse einer jungen Hebung in Gestalt von Korallenriffen in beträchtlicher Höhe über dem heutigen Meeresspiegel feststellen. An der Küste von Kosseir im nördlichen Roten Meere fanden Barron und Hume (4) zwei Stockwerke, das obere in einer Höhe von 115 bis 170 m (im Golf von Sues sogar in 230 bis 240 m), das untere in 25 m Höhe. Während die oberen Korallen als postpliozän angesehen werden, sind die unteren rezent. Zwischen beiden lag eine Zeit, die Pluvialzeit, in der für Korallen ungünstige Lebensbedingungen vorhanden waren. In der Gegend von Massaua sind von Baldacci (3) ebenfalls zwei Höhenlagen festgestellt worden, die eine in rd. 100 m, die andere wenige Meter über dem Meere. Die heutige Lage der Ruinen von Adulis (37) in einer Entfernung von einigen Kilometern von der heutigen Küste läßt ebenfalls auf eine negative Strandverschiebung schließen.
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306
C. Rathjens: Neuere Anschauungen Uber den geologischen Bau usw.
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Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas. Von
KARL TROLL. Mit 10 Textskizzen.
Ein breiter einheitlicher Gürtel von Waldländern, das sog. eurasiatischsilvestre Vegetationsreich, durchspannt das ganze gemäßigte Eurasien von Ozean zu Ozean als das ausgedehnteste unter den großen Vegetationsräumen der Erde. Seine Wälder reichen im Norden bis zur arktischen Tundra und bilden die polare Baumgrenze. Im Süden verlieren sie sich im Innern des Kontinents in den Steppenländern des großen Trockengürtels, während sie gegen seine Ränder zu einerseits im Bereich der mediterranen Sommerdürre sich in die kühleren und feuchteren Regionen der Gebii-ge zurückziehen, anderenteils im Osten, wo der Trockengürtel aussetzt, über die Parklandschaften des Amurgebietes lückenlos in die chinesischen Monsunwälder überleiten. Unabhängig von der Einteilung des ganzen Reiches in drei Florenprovinzen, die sich durch die meridionalen Gebirgsscheiden des Ural und des Werchojangebirges ergeben 1 ), lassen sich auch nach der Physiognomie seiner V e g e t a t i o n drei ungleiche Teile auseinanderhalten: 1. das südwestliche Gebiet der europäischen Laub- und Mischwälder, jenseits einer Linie von Südskandinavien zum Südende des Ural, 2. ein kleineres Mischwaldgebiet im südlichen Osten (Kamtschatka und Amurland) und 3. das große zentrale Nadelwaldgebiet, das nach Nordwesten und Nordosten, über die ersteren übergreifend, an das Meer herantritt. Die sommergrünen Laubwälder sind ein Ausdruck für die Ozeanität des Klimas und der Gegensatz der Ost- und Westseite des Kontinents spiegelt sich in ihrer verschiedenen Ausdehnung wieder. Bestimmend ist dabei in erster Linie die längere Vegetationsperiode in den küstennahen Gebieten. Weil diese einerseits gegen den Pol, andererseits gegen den Kontinent abnimmt, sehen wir die Linien gleicher Vegetationsdauer von NW nach SO durch Rußland streichen, dementsprechend auch die Nordgrenzen der wichtigsten Laubbäume 2 ) und der europäischen Laubwaldzone überhaupt.*) 1 ) R i k l i . M . , Florenreiche, in: Handwörterbuchd. Naturwissenschaften Bd. IV. Jena 1912. *) Vgl. R u b i n s t e i n , E u g e n i e , Beziehungen zwischen dem Klima und dem Pflanzenreich. Meteorol. Zeitschr. 1924, Bd. 41. E n q u i s t , IST., Sambandet mellan climat og växtgränser. Geol. Fören. Förhandl. 46, 1924. *) Das für die Laubhölzer Gesagte gilt aber nur für die sog. edlen Laubbäume, vor allem Eichen, Rot- und Weißbuche, Linden, Ahorne und Ulmen, nicht aber für die härteren kleinsamigen Kätzchenträger, Birken, Erlen, Weiden und die Zitterpappel, welche auch das nördliche Nadelwaldgebiet durchsetzen. Umgekehrt sind die beiden edlen Nadelhölzer, Edeltanne und Eibe, auf den Laubwaldbereich beschränkt (s. u.).
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Karl Troll.
W o sich letztere mit der von S W n a c h N O verlaufenden kontinentalen Trockengrenze des Waldes schneidet, e t w a a n der u n t e r e n K a m a , h a t der europäische Laubwaldkeil sein E n d e (vgl. Fig. 9). Innerhalb dieses L a u b - u n d Mischwaldbereiches, den man als im weitesten Sinn ozeanisch beeinflußt ansprechen k a n n , sind aber noch eine ganze Reihe von A b s t u f u n g e n zu u n t e r s c h e i d e n , wie a u c h umgekehrt die kontinentalen Einflüsse erst Schritt f ü r S c h r i t t gegen den Ozean verschwinden. Wie sich nun solche ozeanische u n d k o n t i n e n t a l e Züge im mitteleuropäischen Pflanzenkleid gegenseitig d u r c h d r i n g e n u n d v e r z a h n e n und wie sie dabei von den klimatischen und Bodeneinflüssen beherrscht sind, soll Gegenstand der folgenden A u s f ü h r u n g e n sein. Das Vegetationsbild als Ganzes k a n n uns bei der Frage nach der O z e a n i t ä t u n d K o n t i n e n t a l i t ä t nur teilweise den W e g weisen. Gerade die feineren Unterscheidungen werden erst d a n n erkennbar, wenn wir die V e r b r e i t u n g einzelner charakteristischer Pflanzenarten berücksichtigen und d u r c h Vergleich ihrer Areale „Vegetationslinien" herausschälen. Dazu h a b e n uns G r i s e b a c h 1 ) und d e C a n d o l l e 2 ) als erste die Wege gewiesen. F ü r Grisebachs „Westliche P f l a n z e n g r u p p e " h a t sich später der Begriff des „Atlantischen Florenelements" eingebürgert und m a n faßte d a r u n t e r alle jene Pflanzen zusammen, die den A t l a n t i s c h e n Ozean a n seiner europäischen Küste begleiten u n d d u r c h ihr Areal die G e b u n d e n h e i t an eine gewisse K ü s t e n n ä h e b e k u n d e n . Die A b g r e n z u n g der atlantischen wie auch der sog. „ s u b a t l a n t i s c h e n " , mehr k o n t i n e n t a l w ä r t s vordringenden Gruppe blieb dem persönlichen Ermessen u n d der Willkür der einzelnen Autoren vollständig überlassen. E r s t in allerneuester Zeit w u r d e von B r a u n B l a n q u e t 3 ) der verdienstvolle Versuch u n t e r n o m m e n , das atlantische Florenelement schärfer zu präzisieren. B r a u n gibt zunächst dem oftmals mißbrauchten Begriff des „ E l e m e n t s " seinen ursprünglichen, von H . C h r i s t eingeführten rein geographischen Sinn zurück und verwendet ihn ausschließlich für Formen von b e s t i m m t u m g r e n z t e m A r e a l , ungeachtet ihrer H e r k u n f t u n d E i n w a n d e r u n g , a u c h ihrer K l i m a a n s p r ü c h e , also völlig dem entsprechend, was J . R e i c h e r t 1921 4 ) als „ K o m p o n e n t e " bezeichnete. Folgerichtig b e s c h r ä n k t er daher das atlantische E l e m e n t auf solche Pflanzen, die ausschließlich den europäisch-atlantischen Bezirk bewohnen oder ihn nur u n b e d e u t e n d oder ausnahmsweise überschreiten, während er alle sonstigen Arten, die ihr Areal n a c h irgendeiner R i c h t u n g weiter ausdehnen oder sich auch a b g e t r e n n t in anderen Erdteilen wiederfinden, als „ p s e u d o a t l a n t i s c h " ausscheidet. Dem von B r a u n festgelegten Atlan') Grisebach, A., Über den Einfluß des Klimas auf die natürliche Begrenzung der Floren. 1838. Über die Vegetationslinien des nordwestlichen Deutschlands. Göttingen 1847. 2 ) Candolle, A. de, Géographie botanique raisonnée. Paris 1855. •) B r a u n - B l a n q u e t , J., L'origine et le développement des flores dans le Massif Central de France, Paris-Zürich 1923. ') Vgl. P o d p é r a , Jos., Geobotanical analysis of the plant-areas in the steppes adjacent to the Ural Mountains. Pubi. Fac. d. se. de l'Univers. Masaryk, Brünn, 1923.
Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas.
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tischen Bezirk gehört von Mitteleuropa lediglich die nordwestdeutsche Moor- und Heideniedcung, Schleswig-Holstein und das festländische Dänemark an, welche in den nördlichen seiner drei in meridionaler Richtung unterschiedenen Sektoren, den nordatlantischen, fallen. Da zudem das atlantische Florenelement sein ausgesprochenes Massenzentrum in Südwesten hat — was sowohl genetisch wie ökologisch begründet ist — r haben wir für Mitteleuropa von vornherein nur mit einer sehr beschränkten Auswahl der atlantischen Flora zu rechnen. Wenn ich hier nicht von atlantischen, sondern ozeanischen Gruppen spreche, so verstehe ich darunter Pflanzen von ozeanischen Klimaansprüchen, also nicht eine genetische, sondern eine ö k o l o g i s c h e G r u p p e . Damit ist der Rahmen der Betrachtung viel weiter gezogen. Indem das atlantische Element, soweit es für Mitteleuropa in Frage kommt, darin in corpore enthalten ist, ist stillschweigend die Annahme gemacht, daß die Arealbegrenzung innerhab des Florenreiches im ganzen klimatisch bedingt sei. Tatsächlich können wir unter der Voraussetzung, daß die Ausbreitung der betreffenden Arten im großen abgeschlossen sei, aus dem heutigen Areal der Pflanzen, besonders unter Berücksichtigung der Verbreitungslücken, sehr weitgehend auf seine klimatische Bedingtheit schließen, wie es auch seit G r i s e b a c h von jeher geschehen ist. Aber immerhin ist bei solchen Annahmen hohe Vorsicht geboten und in bestimmten Fällen sind sie überhaupt nicht zulässig. Letzteres gilt z. B. von Pflanzen mit spezifischen Bodenansprüchen (z. B. Halophyten) oder von Formen sehr junger Entstehung (besonders hybridogenen Arten). Auch solche Arten sind aber vorläufig in der folgenden Zusammenstellung unter Anmerkung mit aufgenommen. A. Die ozeanischen Florenbestandteile. Für die Einteilung der ozeanischen Pflanzen Mitteleuropas lege ich ihr e u r o p ä i s c h e s Areal zugrunde und komme zu drei großen Gruppen, der Atlantischen Gruppe von rein westlichem Areal, der Atlantischmediterranmontanen Gruppe von westlicher und südlich-montaner Verbreitung und der Atlantisch-subarktischen Gruppe. Nach dem Grade der Ozeanität und dementsprechend der Lage ihrer Kontinentalgrenze können wir in allen drei Gruppen eine e u o z e a n i s c h e und s u b o z e a n i s c h e 1 ) Untergruppe auseinanderhalten (vgl. S. 308). Die Grenzzone des euozeanischen Bereiches lasse ich dabei bis Italien, bis zum Schweizer Jura, Schwarzwald, Spessart, zur Lausitz und nach Pommern reichen, also etwas weiter als Brauns atlantischen Bezirk, die des subozeanischen bis ins westliche Rußland (s. Karte Fig. 9). Der restliche Teil des Mischwaldgebietes, der mittelrussische Keil, würde als e u r y o z e a n i s c h anzugliedern sein, für Mitteleuropa aber außer Betracht bleiben müssen. Pflanzen, die zugleich außereuropäische Areale haben, werden den einzelnen Gruppen angegliedert. ') Korrekter wäre es, im Hinblick auf den vielgebrauchten Begriff „subarktisch" statt von einer „subatlantischen" von einer „mesoatlantischen" Untergruppe zu sprechen.
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L Atlantische Gruppe (dem atlantischen „ E l e m e n t " entsprechend). 1. E u o z e a n i s c h e
U n t e r g r u p p e (vgl. Fig. 1).
Deschampsia discolor R. S. Magelhäensstraße), Koeleria albescens DC., Carex ligerica G a y n 1 ), Carex trinervis Degl.,
(auch
Hierher gehören:
Carex laevigata S m i t h s 1 ), Carex binervis Smith, Gagea spathacea Salisb., Narthecium ossifragum Huds., Atriplex Babingtonii Woods, n,
Fig. 1. Atriplex glabriuscula E d m . n, Cerastium tetrandum Curt., Sinapis Cheiranthus Koch s, B r a y a supina Koch, Ranunculus hederaceus L.,
Ranunculus hololeucus Lloyd, Corydalis claviculata DC., Cochlearia danica L . n, Rubus Selmeri Lind, n, Sedum elegans L e j . s,
Die beigefügten Buchstaben n oder s bedeuten vorwiegend oder rein nördliche, bzw. südliche Verbreitung innerhalb des atlantischen Bezirkes.
Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas.
Genista anglica L., Ulex europaeus L., Vicia Orobus DC., Hypericum helodes L. Carum verticillatum Koch s, Conopodium denudatum Koch, Oenanthe peucedanifolia Poll, s,
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Apium inundatum Rchl. Erica cinerea L., Erica tetralix L., Cicendia pusilla Gris. s, Scrophularia acpiatica Huds. s, Anarrhinum bellidifolium Desf. s, Wahlenbergia hederacea Rchb.,
Ferner als junge Unterarten oder Hybriden: Deschampsia Wibeliana Pari, n, Orchis maculatus L. ssp. helodes Atriplex roseum L. ssp. arenarium (Gnis.) n, Woods n, Equisetum trachyodon Auct. n Bromus hordeaceus L. ssp. Tho(nach Samuelsson 1922 ein minii (Hard.), Bastard). Als „hyperozeanische" Untergruppe könnte man eine Reihe von Pflanzen zusammenfassen, die nur die feuchtesten Küstenstriche Westeuropas, von Portugal, Irland und England, Südwestnorwegen (z. T. auch Ligurien) sporadisch bewohnen, wie Scilla verna Huds., Sedum anglicum L., Erythraea capitata Willd., Asplenium lanceolatum Huds. und marinum L., Hymenophyllum tunbrigense Sm. et Sow. und peltatum Desv., Spiranthes Romanzoffiana Cham., Sisyrinchium anceps Cav., Eriocaulon septangulare With., Pleurozia purpurea S. 0 . Lindb., Anastrophyllum Donianum Spruce, Saccogyna viticulosa Dum. Mit Ausnahme der vier erstgenannten sind ihre europäischen Wohngebiete nur Vorposten von größeren Arealen in den temperierten Regengebieten anderer Erdteile, vor allem der südlichen Hemiphäre und nur zwei von ihnen, Hymenophyllum tunbrigense und Asplenium lanceolatum haben in Mitteleuropa an lokal ausnehmend begünstigten Standorten weit vorgeschobene Vorpostenstellungen (s. S. 330). 2. S u b o z e a n i s c h e U n t e r g r u p p e (vgl. Fig. 2 und 3). Hierher gehören, mit verschieden starkem ozeanischem Einschlag und daher verschieden weit vorgeschobener Ostgrenze: Pilularia globulifera L., Polygala serpyllacea Weihe, Alisma natans L., Polygala calcarea F. Schultz s, Echinodorus ranunculoides Engelm. Hypericum pulchrum L., Scirpus multicaulis Smith, Helosciadium nodiflorum Koch s, Aira praecox L., Helosciadium repens Koch, Mibora minima Desv., Oenanthe Lachenalii Gm., Dianthus caesius Smith, Meum athamanticum Jacq., Sagina subulata Torr. u. Gray, Pulmonaria tuberosa Sehr, s, Illecebrum verticillatum L., Teucrium Scorodonia L., Helleborus foetidus L. s, Galeopsis dubia Leers., Sorbus scandica Fries n(hybridogen), Scutellaria minor L., Chrysosplenium oppositifolium L., Digitalis purpurea L., Genista pilosa L., Digitalis lutea L. s, Sarothammus scoparius L., Pedicularis silvatica L.,
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Euphrasia nemorosa Pers. n, Orobauche Rapum Genistae Thuill., Galium saxatile L.,
Jasione perennis Luck., Utricularia ochroleuca R. Hartm. n, (wohl ein Bastard).
Ferner in sehr weitem Sinn: Rhynchospora fusca R. u. Sch., Hydrocotyle vulgaris L.,
Litorella lacustris L., Centaurea nigra L.
Fig. 2. Potamogeton polygonifolius Pour., Scirpus fluitans und Sphagnum molluscum haben neben ihrem subatlantischen Areal in Europa auch Areale in fremden Erdteilen. II. Atlantisch-mediterranmontane Gruppe. Die Vertreter dieser Gruppe verhalten sich im atlantischen Bereich wie die der ersten, dringen aber zugleich im Mediterrangebiet weit nach Osten vor. G r i s e b a c h (a. a. O.) h a t als erster auf sie hingewiesen. Im Mittelmeergebiet gehören sie aber n u r zum geringen Teil der sommertrokkenen Tiefenregion, dem Olivengürtel, sondern vorwiegend und z. T . ausschließlich dem Bergwald der s u b m o n t a n e n , m o n t a n e n und subalpinen Stufe (Eichen-Kastaniengürtel und Buchen-Tannengürtel), also ebenfalls dem mitteleuropäischen Klima an. Sie h a b e n d a n n eine untere Grenze,
Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas.
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welche s ü d w ä r t s höher ansteigt und sich im Norden, meist schon in Norditalien, m a n c h m a l aber a u c h erst jenseits der Alpen ins Tiefland herabs e n k t u n d das Meeresniveau erreicht. Infolgedessen dürfen sie nicht verwechselt werden m i t echt m e d i t e r r a n e n P f l a n z e n , die ebenfalls unter d e m E i n f l u ß des milden Ozeanwinters westlich der Alpen weit nach Norden, bis D e u t s c h l a n d u n d E n g l a n d , sich ausbreiten können, wenn auch eine scharfe Grenze zwischen ihnen nicht zu ziehen ist. An die Gebirge g e b u n d e n , folgen sie dem südasiatischen Hochgebirgsgürtel nach Osten,
Fig. 3. bis d o r t h i n , wo ihn die große Trockenzone quert, also bis Armenien und Masenderan. Die ü b e r f e u c h t e n L a n d s c h a f t e n von Kolchis einerseits, von L e n k o r a n , Talysch, Gilan, Masenderan u n d Asterabad andererseits verbürgen ihnen in ihren triefenden Regenwäldern nochmals ein besonders günstiges Gedeihen. Manche t a u c h e n d a n n jenseits des abflußlosen Gebietes, im Himalaya, j a selbst in China und J a p a n , wieder auf. Häufiger aber werden sie in Vorderasien von v e r w a n d t e n , ökologisch gleichwertigen Formen abgelöst. Die euozeanischen V e r t r e t e r halten sich im Westen und Süden an die Meeresnähe, h a b e n also einen Knick in ihrer kontinentalen Grenze, ein westliches u n d südliches Areal (Stechpalmen-Typus), die subozeanischen
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dagegen breiteil sich auch über Mitteleuropa bis zu einer einheitlichen Nordostgrenze aus, die von der Ostsee zum Schwarzen Meer verläuft (Rotbuchen-Typus). 1. E u o z e a n i s c h e Fig. 4).
Untergruppe
(Stechpalmen-Typus,
vgl.
A m weitesten nach Norden, auf dem Kontinent mindestens bis Nordwestdeutschland, dringen die folgenden Arten v o r :
Fig. 4. Phleum arenarium L., Carex strigosa Huds., Carex punctata Gand., Luzula Forsten DC., Tillaea muscosa L., Rosa arvensis Huds., Helianthemum g u t t a t u m Mill.,
Epilobium lanceolatum Seb. Mauri, Isnardia palustris L., Ilex aquifolium L . , Primula acaulis J a c q . , Anagallis tenella L . , Cicendia filiformis Del., Orobauche Hederae Duby.
u.
Formen mit größerem Wärmebedürfnis, die infolgedessen nur bis ins südwestliche Deutschland reichen, nähern sich Schritt für Schritt dem rein
Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas.
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mediterranen Element. Stark ozeani hen Einschlag tragen immerhin noch die folgenden: Asplenium Ceterach L., Helleborus foetidus L., Carex depauperata Good. (auch in Daphne Laureola L., Buxus sempervirens L., Kamtschatka), Acer Monspessulanum L., AJopecurus utriculatus Pers., Tamus communis L., Verbascum pulverulentum Will. Castanea sativa Mill.,
ì/erùre/fung von Hederj tfe/ix L. (Rotbuchen - 7ypus)
Fig. 5.
2. S u b o z e a n i s c h e U n t e r g r u p p e ( R o t b u c h e n - T y p u s , vgl. Fig. 5). Scolopendrium vulgare Sm., Quercus sessiliflora Sal. (nach H. Taxus baccata L., Gams eine hybridogene Art), Corynephorus canescens P. B., Corrigiola litoralis L, (auch in Juncus capitatus Weig. (auch in Abessinien), fremden Erdteilen), Potentilla sterilis Ehrl. Juncus obtusiflorus Ehrl. Mit der Rotbuche (Fagus silvatica L.) gehört hierher auch fast die ganze Schar der spezifischen Buchenwaldpflanzen, wenn auch das Zu-
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sammenfallen des Verbreitungsareals kein so ausgesprochenes ist, wie es nach den Darstellungen von F. H ö c k 1 ) und H. W i n k l e r 2 ) scheinen könnte. Als wichtigste seien g e n a n n t : Melica uniflora Retz, Festuca silvatica Vill., Elymus europaeus L. Carex pendula Huds.,
Arum maculatum L., Luzula silvatica Gand., Allium ursinum L., Cephalanthera grandiflora Bab.,
Fig. 6.
Anemone Hepatica L., Ranunculus lanuginosus L., Corydalis cava Schwgg. u. K., Dentaria bulbifera L., Hypericum montanum L.,
Circaca intermedia Ehrk., Hedera Helix L., Lysimachia nemorum L., Melittis melissophyllum L., Phyteuma spicatum L.
Abies alba Mill. und Vinca minor L. haben eine sehr beschränkte Verbreitung gegen Norden innerhalb des Buchenareals aufzuweisen. 1 ) H ö c k , F., Laubwaldflora Norddeutschlands. Forsch, z. d. Land- u Volksk. VII, 4. Stuttgart 1893. 2 ) W i n k l e r , H., Pflanzengeographische Studien über die Formation des Buchenwaldes. Diss. Breslau 1901.
Ozeanische Züge im Pflanzenkleid Mitteleuropas. I I I . Atlantisch-subarktische
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Gruppe.
Als G e g e n s t ü c k zur zweiten G r u p p e verbreiten sich die wenigen, hier z u s a m m e n g e f a ß t e n Pflanzen von i h r e m n o r d a t l a n t i s c h e n , b z w . s u b a t l a n t i s c h e n Areal aus zugleich im s u b a r k t i s c h e n E u r o p a , S k a n d i n a v i e n , F i n n l a n d und N o r d r u ß l a n d . Die meisten erlangen sogar eine zirkumpolare V e r b r e i t u n g , in dem sie auch in N o r d a m e r i k a und z. T . in Sibirien wiederkehren.
1. E u o z e a n i s c h e U n t e r g r u p p e (vgl. F i g . 6 und 7 ) : S p a r g a n i u m diversifolium G r b . (auch Nordasien u. N o r d a m e r i k a ) , M y r i c a Gale L . (zirkumpolar, ferner Tennessee u. Nyassaland), Cochlearia anglica L . (auch s u b a r k t i s c h e s Asien und A m e r i k a ) , Cornus suecica L . (auch K u r i l e n ) , L o b e l i a D o r t m a n n a L . (dem e c h t a t l a n t i s c h e n E l e m e n t n a h e s t e h e n d ) . 2. S u b o z e a n i s c h e
Untergruppe
S p h a g n u m molle (auch
(Fig. 8 ) :
Amerika),
Isoetes l a c u s t r e L . (auch N o r d a m e r i k a ) , Isoetes echinosporum D u r . (auch Island und Grönland), L y c o p o d i u m i n u n d a t u m L . (auch Nordamerika),
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Fig. 8.
Sparganium affine Schnizl. (ob noch subozeanisch ?), Myriophyllum alterniflorum DC., Schistostega osmundacea Mohr (auch Amerika, J a p a n ) .
B. Die regionale Gliederung des Gebietes. Versuchten wir nun die Verbreitung der a u f g e f ü h r t e n Pflanzenarten kartographisch wiederzugeben, so sähen wir mit aller Deutlichkeit zwei Zonen in die Erscheinung treten, in denen sich ihre Verbreitungsgrenzen, die „Vegetationslinien", auffallend verdichten. Eine westliche Grenzzone dieser Art v e r l ä u f t von der mecklenburgisch-pommerschen Küste nach Südwesten zum Zentralplateau u n d zum W e s t r a n d der Alpen u n d umschließt den euatlantischen Bezirk. Im Mittelmeergebiet werden wir diese Zone vorteilhafterweise mit Ausläufern bis in die feuchtesten Striche Italiens (Insubrien, Piemont, Ligurien, Toskana) reichen lassen. F ü r einen Teil endigt sie im westlichen Mittelmeerbecken, für einen anderen aber ä n d e r t sie plötzlich ihre Richtung und folgt, diesseits oder jenseits der Alpen, dem südeuropäischen Gebirgsgürtel nach Asien hinein. Eine zweite Grenzzone zieht von Südschweden und der preußisch-baltischen Ostseeküste nach SSO zu den K a r p a t h e n und zum Schwarzen Meer und umgrenzt die sub-
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atlantische Provinz. Ihnen wäre eine dritte Grenzzone, die Laub- und Mischwaldgrenze Mittelrußlands, von Südskandinavien in ostsüdöstlicher Richtung zum Südural verlaufend, anzugliedern. Die drei Zonen konvergieren also gegen das südliche Norwegen, wo ihnen der an das Meer herantretende eurosibirische Nadelwaldgürtel ein Ende bereitet und alle drei werden im Süden vom afrikanisch-asiatischen Trockengürtel abgeschnitten. Die Ostgrenzen von drei klimatisch charakteristischen Holzarten, von Stechpalme, Rotbuche und Stieleiche, fallen in die genannten Grenzzonen, wonach wir zweckmäßig das ganze europäische Laub- und Mischwaldgebiet in drei Regionen, die Hex-, Fagus- und Quercus-Region, einteilen. Die genannten Übergangszonen mögen dann etwa als „ w e s t b a l t i s c h - b u r g u n d i s c h e r " und „ o s t b a l t i s c h - p o n t i s c h e r " G r e n z s t r e i f e n bezeichnet werden. Als Grenzsäume der Vegetation sind sie von klimatischen Linien bestimmt. Sie sind aber nicht ein reiner Ausdruck der Kontinentalität, sondern stellen eine Resultante dar aus Kontinentalität und Breitenlage, den beiden großen klimatischen Koordinaten. Im ozeanischen Teil des Kontinents verlaufen sie meridional bzw. küstenparallel, weil hier die Ozeanität die Breitenlage überstimmt, gegen das Innere nehmen sie mit dem zunehmenden Einfluß der Breitenlage immer mehr äquatoriale Richtung an. Die Konvergenz der Grenzlinien gegen Südnorwegen ist darin begründet. C. Die ozeanischen Yegetationsformationen und Lebensformen. 1. S o m m e r g r ü n e W ä l d e r . „Unter allen die Physiognomie der Landschaft bestimmenden Waldbäumen" — sagt Grisebach — „ist die Buche der vollkommenste Ausdruck für den klimatischen Einfluß des Seeklimas in Europa." Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Buche in den westlichen Gebieten, in Irland, Schottland, fast ganz Norwegen und in Portugal-Galicien fehlt und von der Eiche (Stiel- oderTraubeneiche) ersetzt wird, die auch sonst gerne Standorte von stark ozeanischem Anstrich einnimmt, vorausgesetzt, daß ihr die Höhenlage genügend Sommerwärme verbürgt. Der R o t b u c h e n w a l d ist die bezeichnende Waldformation sowohl der subatlantischen Provinz Europas wie der montanen (und z. T. subalpinen) Stufe des nördlichen Mediterrangebietes, sei es im Reinbestand oder in Mischung mit anderen Laub- und Nadelhölzern. Unter ihnen ist die Edeltanne, soweit ihr Areal reicht, ein sehr häufiger Begleiter und steht der Buche auch nach ihren Klimaansprüchen besonders nahe; an sonstigen Holzgewächsen wären auch Eibe und Efeu zu nennen. Im Norden eine Formation des Tieflandes, steigt der Buchenwald nach Süden in die niedere Hügelregion und die montane Stufe an, aber doch nur so langsam, daß seine untere Grenze erst innerhalb und jenseits der Alpen in die Erscheinung treten kann. 2. L o r b e e r g e h ö l z e . Der Typus der Sommerwälder bleibt, abgesehen von den höheren Gebirgen, von lokal bedingten Föhrenwaldgebieten und von künstlichen Eingriffen, bis an die Ozeanküste herrschend. Mit zu-
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nehmender Ozeanität aber stellen sich in ihrem Unterwuchs eine Reihe immergrüner, lorbeerblättriger Holzarten ein. Sie steigern sich noch ganz besonders, wenn wir dann der Küste nach Süden folgen, bis schließlich im Wolkengürtel der makaronesischen Inseln aus der Mischung der beiden sich reine Lorbeergehölze herausschälen 1 ) als die typische Gehölzformation für die niederschlagsreichen, luftfeuchten und gleichmäßig temperierten Subtropen. Lorbeerblättrige Hölzer, wie Arbutus Unedo, Buxus sempervirens, Daphne Laureola, Rhododendron ponticum, gedeihen noch auf den Britischen Inseln im Schutze der Eichenwälder in üppigster Weise. Das Paradebeispiel für Mitteleuropa kann auch hierfür die Stechpalme mit ihrem ideal ozeanischen Areal abgeben. In dem immergrünen Laub von Efeu, Tanne und Eibe in unseren subozeanischen Wäldern sehen wir schließlich einen letzten Anklang an lorbeerartige Lebensformen. Denn es ist wohl kein Zufall, daß gerade Eibe und Tanne, die beiden breitblfittrigen Koniferen unserer Flora, stark ozeanischen Charakter tragen 2 ). Reine Bestände der Weißtanne finden sich als ursprünglich nur im Nordwesten ihres Areals (Pyrenäen, Zentralplateau, Westalpen, Faltenjura, Vogesen, Frankenwald) z. T. über der Höhengrenze der Buche. Stechpalme, Eibe und Efeu nehmen von der atlantischen Küste, wo sie in staunenswerter Üppigkeit und ungewohnten Dimensionen gedeihen, gegen Osten immer kümmerlichere Formen an, bis schließlich der Efeu im Baltikum und in Litauen nur mehr steril auftritt und unter der Schneedecke dem Boden angedrückt den Winter überdauert. 3. H e i d e n . Eine leitende Formationsgruppe für die feuchtesten Küstenstriche der kühlgemäßigten Zone, aber nur auf nährstoffarmen Böden, stellen die Heidegebüsche oder S t r a u c h h e i d e n , auch kurzweg „Heiden" genannt, dar. Das Wort Heide ist dabei in seinem streng pflanzengeographischen Sinn als Strauch- und Zwergstrauchheide (Calluna-, Tetralix-, Empetrum- oder Sarothammusheide) zu nehmen, die von den charakteristischen Heidemooren und Heidetümpeln durchsetzt werden. Sie kann nicht streng genug geschieden werden von den gleichfalls unter dem Namen „Heide" kursierenden Heidewiesen Süddeutschlands, einer Ausbildungsform der Gradmannschen „Steppenheide", die mit ozeanischen Einflüssen nichts zu tun haben, sondern im Gegenteil von kontinental-pontischen und mediterranen Typen und einer eigenartigen Beimischung alpiner Elemente getragen werden. Große Areale hat die echte Heide an der französischen Küste (Departement „Landes"), auf den Britischen Inseln, in Südwestschweden 3 ), Jütland 4 ) und besonders im nordwestlichen Deutsch') R u b e l , E., The killarney Woods. The Internat. Phytogeogr. Excurs. in the British Isles, Nr. V. The New Phytologist X, 1912. *) Vgl. B r o c k m a n n - J e r o s c h , St., Baumgrenze und Klimacharakter, Zürich 1919, S. 239. s ) S c h o t t e , G., Ljunghedarnas geografiska utbredning och produktionsmöjligheter. Kungl. Landbruksakad. Handl. och Tidssk., Stockholm 1921. (Mit Verbreitungsskizze !) ') B a r t h , J. B., De danske heder og deras danneise. Nordisk Universit. Tidsskr. I, 3. D r y g a l s k l , Festgabe. 21
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land, wo sie eine zusammenfassende Dastellung durch ihren besten Kenner P a u l G r a e b n e r erfahren hat 1 ). Die Charakterpflanzen der Heideformation rekrutieren sich in gleicher Weise aus Sand-, Moor- und Wasserpflanzen. Unter den Holzgewächsen, die auch bei der Heide für die Physiognomie den Ausschlag geben, sind zwei sehr markante Lebensformen vertreten: die ericoiden Sträucher und die Besen- oder Rutensträucher. Die ersteren sind charakterisiert durch sehr kleine, aber wie die Lorbeersträucher derbe, immergrüne Blätter u n d daher imstande, die milden Ozeanwinter für die E r n ä h r u n g auszunutzen. Bei den Rutensträuchern wird dasselbe auf andere Weise, nämlich durch die grüne, assimilierende Rinde, erreicht. Die tonangebenden Sträucher und Zwergsträucher der Heide, Calluna vulgaris, Erica Tetralix und cinerea, Empetrum nigrum einerseits, Sarothamnus scoparius, Ulex europaeus, Genista pilosa und anglica andererseits verteilen sich auf diese beiden Typen. Auf nährstoffreichen Böden t r i t t an die Stelle der Heide normalerweise der Wald. Aber es gibt Ausnahmen. Auf den am weitesten vorgeschobenen, windgepeitschten und infolgedessen überhaupt waldfreien Inseln des westnorwegischen Schärenhofes z. B., welche auf ihrem Urgesteinsboden typische atlantische Heiden tragen, stellt sich auf kalkreichem Grnnd regelmäßig eine üppige, blumenreiche W i e s e n f o r m a t i o n (mit atlantischen Kräutern) ein, für die die Insel Mögster das Paradebeispiel abgeben kann (nach J. H o l m b o e s in Vorbereitung befindlicher Monographie). 4. K ü s t e n s t e p p e . Unmittelbar an den Küsten ist schließlich auf große Strecken als besondere Vegetationsform die Küstensteppe entwickelt, im Gegensatz zur kontinentalen Steppe nicht klimatisch, sondern edaphisch bedingt teils durch den Salzgehalt des Bodens (Salzwiesen), teils durch die Beweglichkeit des Substrates (Dünen). Es ist natürlich nicht angängig, solche edaphische Spezialisten, wie es die Leitpflanzen der Küotcnfoi mationen sind, wegen ihrer Küstentreue als ozeanisch zu bezeichnen, zumal viele von ihnen im Binnenland an Salzstellen völlig disjunkt wieder aufzutreten vermögen 2 ). In das obige Verzeichnis sind nur solche Halophyten aufgenommen, die sich auf die Westküsten Europas beschränken, dagegen wurden die auch den Mittelmeerküsten folgenden außer acht gelassen. Was die Bodenökologie unserer ozeanischen Vegetation überhaupt anlangt, so ist eine seit langer Zeit bekannte Erfahrungstatsache die, daß bei den atlantischen und subatlantischen Pflanzen die Kalkfeindlichkeit (nach P. Graebner nur Vorliebe für nährstoffarmen Boden oder Oligotiophie) eine ganz unverhältnismäßig große Verbreitung besitzt. Für ihre Verteilung über das geologisch so vielgestaltige Mitteleuropa muß das von gleich ausschlaggebender Bedeutung wie das Lokalklima werden. Zur ') G r a e b n e r , P., Die Heide Norddeutschlands, Vegetation der Erde V. Leipzig 1901. 2 ) S c h u l z , A., Die Verbreitung der halophilen Phanerogamen in Mitteleuropa nördlich der Alpen. Forsch, z. d. Land. u. Volksk. XIII, 4.
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1
E r k l ä r u n g wurde darauf hingewiesen ), d a ß Vorliebe für Kiesel- und Sandböden ein E r b s t ü c k der kühlozeanischen Pflanzenwelt deshalb sein müsse, weil unter solchen Klimabedingungen ganz allgemein s t a r k ausgelaugte, kalkarme, podsolige Böden vorherrschend sind. Tatsächlich existieren derartig enge Z u s a m m e n h ä n g e zwischen Klima, Boden und Vegetation und wenn wir R a m a n n s Gliederung der europäischen Bodenzonen vergleichen, so werden wir finden, d a ß seine a t l a n t i s c h e n u n d westgermanischen Podsolboden in ihrem Areal ziemlich genau dem entsprechen, was B r a u n - B l a n q u e t als atlantische Provinz lediglich auf Grund der P f l a n z e n v e r b r e i t u n g abgegrenzt h a t , und d a ß die Braunerden in ähnlicher Weise die A u s d e h n u n g des europäischen Laubwaldgebietes nach Osten bezeichnen. In ganz demselben Sinne und in noch stärkerem Grade als die Bodenchemie w i r k t bei den L a n d p f l a n z e n aber auch die Physik der Böden. Allgemein sind die Silikatböden d u r c h ihren Feuchtigkeitsgehalt und den großenteils d a d u r c h bedingten T e m p e r a t u r g a n g als maritim gekennzeichnet und wie einesteils feuchter Sandstein die denkbar besten Voraussetzungen für ozeanische A n s p r ü c h e erfüllt, ist andernteils der durchlässige, sonnendurchglühte Kalk m i t seinen tiefen W i n t e r t e m p e r a t u r e n ein ganz e x t r e m kontinentales Substrat. 1 ) Ganz entsprechendes gilt übrigens auch für die Wasserpflanzen. F ü r Pflanzen m i t südatlantischer V e r b r e i t u n g werden dagegen andere Voraussetzungen gelten müssen, da j a in südlicheren Breiten das ozeanische Klima bei der erhöhten solaren W ä r m e u n d dem d a d u r c h veränderten Regenfaktor sich anders auf die Bodenbildung auswirken m u ß . F ü r die Ausstrahlung solcher südlicher Pflanzen nach Mitteleuropa, wie Buxus, T a m u s , Digitalis lutea, Helleborus foetidus, Pulmonaria tuberosa u. a. sind deshalb wie klimatisch, so auch edaphisch andere Grundlagen gegeben. D. D i e Verbreitung der ozeanischen Flora und Vegetation in Mitteleuropa. Es wäre nun eine lockende Aufgabe, auf G r u n d der gewonnenen allgemeinen Gesichtspunkte zu untersuchen, wie die ozeanische Pflanzenwelt in Mitteleuropa nach Klima und Boden im einzelnen ihr Gedeihen und ihre Grenzen findet. Hier k a n n das nur in kurzen Strichen angedeutet werden. I. Das norddeutsche Tiefland und die Heide. In ihrem geschlossenen Areal reicht die nordwestdeutsche Heide etwa bis Braunschweig und Mecklenburg (P. G r a e b n e r , a. a. O.). Ihre Ausdehnung bezeichnet dort die Grenze für den atlantischen Bezirk und zugleich für eine ganze Reihe von Leitpflanzen der Heideformation. Aber auch für solche, die die Heidegrenze nicht erreichen oder, wie die Mehrzahl, noch ein Stück weit nach Osten überschreiten, verlaufen die Kontinentalgrenzen, l
) Eichler, J., Gradmann, R. u. Meigen, W., Ergebnisse der pflanzengeographischen Durchforschung von Württemberg etc. Beil. z. Jahresh. Ver. vaterl. Naturkunde Württembergs 1912, 68. *) Kraus, G., Boden und Klima auf kleinstem Raum, Jena 1914 und die dort angeführte bodenmeteorologische Literatur von H o m é n und S c h u b e r t . 21»
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wie schon G r i s e b a c h e r k a n n t h a t , fast ausnahmslos dazu parallel, wie auch umgekehrt die V e r t r e t e r des pontisch-kontinentalen Elements von südöstlicher Verbreitung an solchen südwest-nordöstlichen Linien ihre Grenze finden. Die letzteren setzen besondere Formationen im östlichen Norddeutschland, die sog. „ P o n t i s c h e n Hügel", zusammen. Die Abhängigkeit dieser Vegetationslinien v o m Klima ist bei der geringen Reliefierung Nord deutschlands besonders klar ersichtlich, denn in gleicher Weise wie die Vegetation s t u f t sich auch der K l i m a c h a r a k t e r nach K o n t i n e n t a l i t ä t bzw. Ozeanit ä t von Nordwest nach Südost ab. Die Linien gleicher J a h r e s s c h w a n k u n g der T e m p e r a t u r , gleicher J a n u a r t e m p e r a t u r , Regenmenge, relativer L u f t feuchtigkeit und Bewölkung, welche in erster Linie diesen Charakter zum Ausdruck bringen, aber a u c h die Kontinentalitätslinien Gorczynskis, mit denen vor kurzem der aus T e m p e r a t u r a m p l i t u d e und Breitenlage errechnete Grad der K o n t i n e n t a l i t ä t zur Darstellung gebracht wurde 1 ), verlaufen dort im großen den Vegetationslinien parallel. Daß für den Bestand der Heide in Norddeutschland die Feuchtigkeit von der ausschlaggebendsten B e d e u t u n g ist, d ü r f t e wohl mit G r a e b n e r allgemein a n e r k a n n t werden, nur bleibt es zunächst noch eine offene Frage, welcher Anteil dabei der faktischen Regenmenge und dem Feuchtigkeitsgehalt der L u f t zuzuerkennen ist. Von den A u s l ä u f e r n d e r H e i d e v e g e t a t i o n ist zunächst eine schmale Zone zu erwähnen, die k a u m 20 k m breit, der mecklenburgischen und pommerschen Küste bis Westpreußen folgt, unterbrochen vom niederschlagsarmen Mündungsbereich der Oder und Weichsel. Diesem Streifen gehören auch die charakteristischen Heidemoore der Ostseeküste an, in ihrer klassischen, von H . P r e u ß 2 ) beschriebenen Ausbildung in den Kreisen Putzig und N e u s t a d t (Bielawabruch und Wierschutziner Moor). Geschlossen oder sprungweise folgen ihm zahlreiche Heidepflanzen, z. B. Erica Tetralix, Myrica Gale (Fig. 6), Helosciadium i n u n d a t u m , Myriophyllum alterniflorum, Pilularia globulifera, Sparganium diversifolium, Cornus suecica, Galium saxatile, Echinodorus ranunculoides usw. Im Kreise Putzig finden viele mit dem geschlossenen Heidestreifen ihre Ostgrenze. Wie aber die Heide auch noch weiter östlich an der baltischen Küste inselartig wieder zu finden ist, vor allem in den mit Calluna und Erica Tetralix bestandenen „ G r i n i e n " zwischen Libau und W i n d a u , so auch viele ozeanische Pflanzen, die sonst längst ihre Ostgrenze gefunden haben. Eine ganze Reihe ist noch auf ösel, Dago, Aland und an der finnischen Südwestküste anzutreffen. An der schwedischen Küste liegen die Verhältnisse sehr ähnlich'), ja m a n k a n n sagen, d a ß fast die ganze Ostsee von einem schmalen, wenn auch vielfach unterbrochenen Gürtel ozeanischer Vege') Gorcynski, L., Sur le calcul du degré du continentalisme et son application dans la climatologie. Geografiska Annaler II, 1922. *) P r e u ß , H., Die Vegetationsverhältnisse der weatpreußischen Ostseeküste. Jahr.-Ber. Westpr. Bot.-zool. Vereins XXXIII, 1910. Ders., Die Vegetationsverhältnisse der deutschen Ostseeküste. Sehr. Naturf. Ges. Danzig, N. F. XIII, 1911/12. a ) Vgl. darüber: Hârd af Segerstad, Fr, Södra Sandsjö sockens fanerogamer. Ett bidrag tili kännedoraen om den pontiska och nordatlantisk växternas
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tation eingesäumt ist. Es sind aber nicht nur Heidepflanzen, sondern auch viele subozeanische Waldpflanzen, die sich am Ostseegestade viel weiter als im Binnenlande vorschieben, wo ihnen schon der strenge polnische Winter eine Grenze setzt. Die Vegetationskarte der baltischen Länder von R. R. K u p f f e r 1 ) zeigt das z. B. für Eibe und Efeu ausgezeichnet. Daß dafür da» lokale Küstenklima verantwortlich ist, liegt klar auf der Hand. Es reichen z. B. nach M. K a i s e r 2 ) auch die täglichen Seewinde der Ostsee etwa 20—30 km in das Land hinein. Im Binnenland sind die Bedingungen für ein so weites Vordringen der Heidevegetation auch lokal nirgends gegeben. Immerhin hat das norddeutsche Flachland in vorgeschobener Lage zwei namhafte Heideoasen aufzuweisen, in der Prignitz und in der Lausitz. Die Heideexklave der P r i g n i t z liegt noch in solcher Nähe des geschlossenen Heideareals, datt das konzentrierte, teilweise inselartige Auftreten von Heidepflanzen nicht besonders auffällig erscheint. Anders aber bei der Heideinsel der Lausitz, die zu den interessantesten Phänomenen im Vegetationsbild Mitteleuropas zählt. 200 km von der nordwestdeutschen Heide entfernt, hat sich hier in völlig isolierter Lage die Heidegenossenschaft nochmals fast vollzählig zusammengefunden. Zwar spielt neben ihr der Föhrenwald, und nicht wie dort die Eiche, eine führende Rolle in der Gesamtvegetation, aber R a m a n n nimmt daran wohl mit Unrecht Anstoß, wenn er deshalb den Heidecharakter des Lausitzer Gebiets bezweifelt. Für uns ist es von größerer Wichtigkeit zu konstatieren, daß die Bedingungen für das Auftreten der Heidevegetation, sowohl der Sandheide wie der Heidemoore, schon in geognostischer Hinsicht die denkbar günstigsten sind. In der Fortsetzung des Fläming zieht sich durch die schlesische Lausitz ein ausgedehntes Wald^ebiet, ein breiter Streifen magerer Föhrenforste, hier wie so häufig als „Heide" bezeichnet, in seiner breitesten Entfaltung im Südosten als Muskauer, Saganer und Göilitzer Heide allgemein bekannt. Tiefgründige diluviale Sandfelder, auf denen sich gewaltige Binnendünen Bogen an Bogen aneinanderreihen, bilden ihre Grundlage. In der Tiefe steht das tonige Braunkohlentertiär, und wo es im Süden, z. T. auch im Norden, an die Oberfläche tritt, breiten sich die großen Weiherplatten der Lausitz aus, vor allem im Umkreis von Hoyerswerda, Wittichenau und Uhyst, östlich bis über die Neiße reichend. In ihnen kommen die Heidemoore zur Entwicklung, die vorzüglichsten Anziehungspunkte der ozeanischen Flora. Für nicht weniger als 19 dem Nordwesten Deutschlands angehörige ozeanische Pflanzen stellt die Lausitzer Heide eine weit ins Binnenland vorgeschobene Exklave dar. Es sind: gränslinier i sydöstra Sverige. Arkiv f. Botanik XI, 8. Uppsala-Stockholm 1912; ferner Du R i e t z , G. E., Det Uppländska skargärdshavet och dess framtid. Sveriges Natur, Svenska Naturskyddels fören. Àrsskr. 1923, vor allem aber die in Vorbereitung befindliche Monographie Härds über die Flora von Südschweden. ') K u p f f e r , R. R., Baltische Landeskunde, Riga 1910. l ) K a i s e r , M., Die Land- und Seewinde an der deutschen Ostseeküste. Annal. f. Hydrographie u. marit. Meteorol. 35, 1907.
326 P o t a m o g e t o n polygonifolius, S p a r g a n i u m affine, S p a r g a n i u m diversifolium, A e r a discolor, S c i r p u s multicaulis, Scirpus fluitans, C a r e x ligerica, Myrica Gale, R a n u n c u l u s hederaceus, Genista anglica,
Karl Troll. Ulex europaeus, H y p e r i c u m helodes, Ilelianthemum guttatum, I s n a r d i a palustris, Helosciadium i n u n d a t u m , Cicendia filiformis, S c u t e l l a r i a minor, Galeopsis d u b i a , U l t r i c u l a r i a ochroleuca,
also zum w e i t a u s überwiegenden T e i l B e w o h n e r der Heidemoore, des f e u c h t e n Heidesandes und der H e i d e t ü m p e l . Dazu k o m m e n n o c h eine R e i h e v o n L e i t p f l a n z e n der Heide, die sich in der L a u s i t z zwar n i c h t insela r t i g , a b e r doch auffallend k o n z e n t r i e r t f i n d e n : P i l u l a r i a globulifera, Lycopodium inundatum, Alisma natans, Corrigiola litoralis, R h y n c h o s p o r a fusca,
Juncus capitatus, J u n c u s squarrosus, Illecebrum verticillatum. H y d r o c o t y l e vulgaris, Erica Tetralix.
D e r G r u n d für die Heidebildung in der L a u s i t z kann schwerlich, wie es G r a e b n e r a n z u n e h m e n s c h e i n t , in e r h ö h t e n Niederschlägen ges u c h t w e r d e n . Die L a u s i t z e r Heide m ü ß t e dann a u c h gleichzeitig eine Regeninsel sein, was aber n i c h t der F a l l ist und n a c h den orographischen G r u n d l a g e n a u c h früher n i c h t der F a l l sein k o n n t e . Die a u s n e h m e n d g ü n s t i g e n B o d e n v e r h ä l t n i s s e , der s c h a r f e G e g e n s a t z von w a s s e r t r a g e n d e m , teich- und m o o r b i l d e n d e m U n t e r g r u n d und dürrer S a n d ü b e r d e c k u n g , ist sicher n i c h t zu u n t e r s c h ä t z e n . Die T e i c h e und Moore dürften sodann a b e r a u c h ihrerseits n i c h t ohne E i n f l u ß auf das L o k a l k l i m a , speziell die L u f t f e u c h t i g k e i t , bleiben. V i e l l e i c h t liegt hier ein F a l l v o r , wo uns einmal u m g e k e h r t wie gewöhnlich die V e g e t a t i o n Fingerzeige für k l i m a t i s c h e F e i n h e i t e n geben k a n n , die dem registrierenden Meteorologen entgehen k ö n n e n . Denn d a ß nicht allein die B o d e n v e r h ä l t n i s s e und das durch sie b e d i n g t e A u f t r e t e n von T e i c h e n , Mooren und D ü n e n f l u r e n , im Spiele sind, d a f ü r e r s c h e i n t mir eine andere T a t s a c h e Beweis zu sein, d a ß n ä m l i c h im L a u s i t z e r G e b i e t neben den ökologischen Spezialisten der Heideformation a u c h andere ozeanisch a b g e s t i m m t e T y p e n , eine R e i h e subozeanischer B e r g w a l d p f l a n z e n , offenkundig günstige B e d i n g u n g e n finden, so L y s i m a c h i a n e m o r u m , T e u c r i u m S c o r o d o n i a , H y p e r i c u m p u l c h r u m , a u c h die im F l a c h l a n d fast gänzlich fehlende E u p h r a s i a n e m o r o s a . Das A u f t r e t e n der F ö h r e a b e r bzw. ihr Fehlen im Nordwesten, ist n i c h t von F e u c h t i g k e i t s v e r h ä l t n i s s e n b e s t i m m t , sondern von der W ä r m e v e r t e i l u n g . Die F ö h r e b r a u c h t als F r o s t k e i m e r eine lange winterliche Frostperiode und F r . E n q u i s t 1 ) hat j ü n g s t gezeigt, d a ß sie gerade in den G e b i e t e n W e s t e u r o p a s ') E n q u i s t , F r . , Sambandet mellan klimat och viixtgränser. Förenings i Stockholm Förhandlingar, 46, 1924.
Geologiska
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fehlt, die jährlich über 275 Tage eine Minimaltemperatur von 0° nicht erreichen. Zu ihnen gehört Nordwestdeutschland, aber nicht die Lausitz. Zur Bekräftigung des Gesagten können vor allem auch einige T a t sachen dienen, die sich auf die Vegetation süddeutscher Lokalitäten beziehen. In der bayerischen O b e r p f a l z schaltet sich zwischen das Urgebirge und dem Rand der Juratafel eine Zwischenzone von komplizierter E n t stehung ein, in der neben anderen Formationen hauptsächlich Keupersandsteine zutage treten. Es sind denkbar unwirtliche, von Kiefernforsten und Heiden eingenommene Landstriche, die in gleicher Weise durch einen enormen Reichtum an Weihern ausgezeichnet sind. Die Weiher sind in grellem Gegensatz zu den öden, stellenweise von Dünen begleiteten Sandflächen von Mooren eingefaßt. Sie charakterisieren den Keupergrund — vermutlich durch wassertragende Horizonte verursacht — z. B. die Umgebung von Parkstein, Eschenbach, Grafenwöhr, Hirschau, Bodenwöhr. Förmliche Weiherplatten aber entstehen dort, wo sich im Gebiete von Schwandorf die tonigen, braunkohleführenden Tertiärschichten darüberbreiten. Es sind nun auch diese Gebiete, die Weiherplatte von Schwandorf und die Heide von Grafenwöhr, augenfällige Sammelpunkte für eine Reihe charakteristischer Heidepflanzen. Die Reichhaltigkeit der Lausitzer Heide wird zwar nicht entfernt erreicht, rein atlantische Heidepflanzen gehen in dieser Lage überhaupt völlig ab. Soviel sich bei unserer lieutigen Kenntnis der Oberpfälzer Vegetation, die erst allmählich den Charakter einer terra incognita zu verlieren beginnt, sagen läßt, t r e t e n hier Litorella uniflora, Rhynchospora fusca, Drosera intermedia und Sphagnum molle in isolierten Arealen auf, dazu entdeckte ich 1918 auf der Heide von Grafenwöhr auch Illecebrum verticillatum inmitten mehrerer aus Norddeutschland bekannter Begleiter, wohl an die 200 km von seinem nächsten Standort entfernt. Viele andere Glieder der Heideflora, die aber auch sonst in Bayern da und dort auftreten, kommen ebendort zu üppiger Entfaltung, z. B. Hydrocotyle vulgaris, Juncus capitatus u n d squarrosus, Sphagnum imbricatum, Lycopodium inundatum, Pilularia globulifera, auch zwei Sandpflanzen, Genista pilosa und Aera praecox. Eine T e i c h l a n d s c h a f t ganz ähnlich der von Schwandorf, aber von noch viel größeren Ausmaßen, birgt auch das Innere des Böhmischen Massivs, das Gebiet v o n B u d w e i s - W i t t i n g a u . Dasselbe braunkohlenführende, teilweise sandüberdeckte Tertiär wie in der Lausitz und bei Schwandorf, bildet auch hier die geologische Unterlage. Und es ist eindrucksvoll zu sehen, wie sich auch dort dieselbe Heidevegetation der Callunaheiden, Sandfluren, Kiefernheiden, Heidemoore und der sandigen Teichränder eingefunden hat. K. D o m i n s 1 ) Monographie entwirft uns von ihr ein anschauliches Bild. Um einige bemerkenswerte Arten herauszugreifen, sei wieder Illecebrum verticillatum genannt (nächste Vorkommen über 200 km entfernt bei Grafenwöhr und in der Lausitz), ferner Utricularia ochroleuca, Litorella uniflora, Lycopodium inundatum, Coleanthus subtilis ') D o m i n , K., Die Vegetationsverhältnisse des tertiären Beckens von Veseli, Wittingau und Gratzen in Böhmen. Beih. z. Bot. Ctrbl. 16, 1904.
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Seidl, Hydrocotyle vulgaris, Rhynchospora fusca, J u n c u s c a p i t a t u s und squarrosus, Genista pilosa, Aera praecox, also fast dieselben A r t e n wie in der Oberpfalz. Von hohem Interesse für das ganze Problem ist D o m i n s Angabe, d a ß das Teichgebiet von W i t t i n g a u auch klimatisch durch eine e r h ö h t e L u f t f e u c h t i g k e i t u n d s t a r k e T a u b i l d u n g u n t e r dem Einfluß der Weiheransammlungen steht. A u c h die f r ä n k i s c h e K e u p e r p l a t t e bietet in den weiten Sandflächen ihres östlichen Teiles ein recht günstiges Siedlungsland für westliche Pflanzen, zumal in der großen W e i h e r p l a t t e zwischen Aisch u n d Rezat, der a u c h die b e r ü h m t e n Dechsendorfer Weiher angehören. Es sei aus der reichen Flora der dortigen Teichböden u n d Heidemoore nur auf das Vork o m m e n folgender Arten hingewiesen: Scutellaria minor (als weit vorgeschobene Exklave), Pilularia globulifera, Lycopodium i n u n d a t u m , Potamogeton polygonifolius, Rhynchospora fusca, Sagina subulata, Hydrocotyle vulgaris, Litorella uniflora. Abgesehen davon birgt das Sandgebiet von Spalt als besondere Merkwürdigkeit zwei aus fernen Arealen hierher versprengte echt atlantische T y p e n : Erica Tetralix und A n a r r h i n u m bellidifolium. Weiter gegen Westen, mit der A n n ä h e r u n g an den atlantischen Bezirk t a u c h e n d a n n häufiger, aber wieder mit Vorliebe in Sandsteingebirgen, Moorgründe auf, die durch ihre Vegetation stark an Heidemoore erinnern. Ich n e n n e davon nur die sog. W'estpfälzische Moorniederung, das „ L a n d s t u h l e r G e b r ü c h " , wo auf Torf- und Bleichsandböden und in Tümpeln Pilularia globulifera, J u n c u s c a p i t a t u s , Lycopodium i n u n d a t u m , Drosera i n t e r m e d i a , Myriophyllum alterniflorum und P o t a m o g e t o n polygonifolius gedeihen, ferner die moorigen Wiesengründe im Spessart, wie den S o m m e r k a h l e n G r u n d u . a., m i t Hypericum helodes, Scutellaria minor, Isnardia palustris, Drosera intermedia, Lycopodium i n u n d a t u m , Hydrocotyle vulgaris. U n d schließlich ist hier noch der Moore u n d S u m p f g r ü n d e zu gedenken, welche den Lauf des Oberrheins von Basel bis Mainz zu beiden Seiten des Stroms, vor allem im Bereich seiner jungen Verlegungen, Abschnürungen u n d Korrektionen begleiten. Zum Teil in ihnen, zum Teil a u c h mehr abseits in riedartigen Niederungen (wie an der L a u t e r oder bei Waghäusl) m a c h t sich eine auserlesene westliche Flora b r e i t 1 ) : Scutellaria minor, Anagallis tenella, Hypericum helodes, Galeopsis dubia, Isnardia palustris, Wahlenbergia hederacea, Alopecurus utriculatus, Carum verticillatum, B r a y a supina, Helosciadium nodiflorum, Oenanthe peucedanifolia und Lachenalii, Ranunculus hederaceus, Hydrocotyle vulgaris, E q u i s e t u m t r a c h y o d o n (letzterer als Charakterpflanze der sandigen Rheinufer) mögen als Zeugen davon g e n a n n t sein. II. Die deutschen Mittelgebirge. Z u m großen Teil sind die Leitpflanzen der nordwestdeutschen Heide f o r m a t i o n s t r e u oder sie finden wenigstens in der Heide des Tieflandes ihr ausgesprochenes E n t w i c k l u n g s o p t i m u m und Verbreitungszentrum. 1 ) Vgl. Lauterborn R., Die geographische und biologische Gliederung des Rheinstroms II. Sitz.-Ber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., math.-naturw. Kl. 1917.
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Die mitteldeutschen Waldgebirge werden von ihnen dann mehr oder weniger scheu gemieden. Nun ist aber der Klimacharakter gerade dieser Waldgebirge nach den Feuchtigkeitsverhältnissen und der Temperaturverteilung zweifellos dem ozeanischen nahe verwandt, wenn natürlich auch noch wesentliche Unterschiede zwischen montanem Klima und ozeanischem Küstenklima, besonders hinsichtlich der Wärmesummen, bestehen bleiben. Besonders klar wird aber die Ähnlichkeit, wenn man die Gebirge in Gegensatz stellt zu den trocken kontinentalen Becken zwischen ihnen (vor allem dem Thüringer Becken, dem Mainzer Becken, dem nordböhmischen Becken und der fränkischen Muschelkalkplatte), die denn auch umgekehrt hervorragende Sammelzentren und Oasen für pontische und mediterrane Einstrahlungen abgeben 2 ). Die Mittelgebirge sind, zumal in ihrer nordwestlichen Hälfte, ein Laubwaldgebiet ersten Ranges und waren es vor Jahrhunderten, vor der künstlichen Verunstaltung unseres Waldbildes, noch viel mehr als heute. Buche und Eiche, nach Höhenlage und Boden verteilt, beherrschen den natürlichen Wald. Nach Osten und Süden, längs einer der Küste parallelen Linie (Zentralplateau — Vogesen — Schlesien) treten Tanne und Fichte mit der Buche zu dem gemischten Bergwald zusammen. Abgesehen aber von der Buche und ihrem reichen Anhang von ähnlich subozeanischer Vei breitung sind die westdeutschen Mittelgebirge das vornehmliche Entwicklungsgebiet für eine Gruppe im engeren Sinne ozeanischer Bergwaldpflanzen, als deren Typen die „montanatlantische" Digitalis purpurea gelten kann (Fig. 2). Daß mehrere solche montane Formen schon in Norddeutschland und in Britannien Tieflandsbewohner werden, -wie auch der Buchenwald, und als solche in die Heideformation eintreten, hat seinen Grund in dem allgemeinen Sinken der Tiefengrenzen und dem stärkeren der Höhengrenzen gegen Norden und Nordwesten. Charakteristisch ist wie für die Heidepflanzen auch für fast alle Vertreter dieser Gruppe die Vorliebe für kalkarmes (bzw. nährstoffarmes) Substrat, weshalb ihnen die kristallinen und die Sandsteingebirge ihre Hauptwohnplätze bieten. Vogesen, Pfälzerwald, Schwarzwald, Odenwald und nicht als letzter der Spessart sind deswegen Hochburgen ozeanischer Vegetation, wegen ihrer westlichen Lage auch viel eher dazu bestimmt als etwa Böhmerwald, Erzgebirge, Elbsandsteingebirge. Wie innerhalb eines solchen Gebirges auch der Gegensatz von feuchter Wetterund trockener Leeseite in der Flora zum Ausdruck kommen kann, wurde bisher nur für den Schwarzwald durch die genauen Standortserhebungen von E i c h l e r — G r a d m a n n — M e i g e n (a.a.O.) aufgedeckt. Die genannte subatlantisch-montane Gruppe rekrutiert sich aus folgenden Arten: Chrysosplenium oppositifolium, Sarothammus Scoparius, !
Genista pilosa, Hypericum pulchrum,
) Vgl. T r o l l , W., Die Zuwanderung des xerothermen Florenelementes nach Mitteleuropa. Natur, XIII. Jg., Heft 18, 1922, und S ü s s e n g u t h , A., Ideen zur Pflanzengeographie Unterfrankens. Ber. Bayer. Bot. Ges. XV, 1915, und besonders G r a d m a n n , Rob., Beziehungen zwischen Pflanzengeographie und Siedlungsgeschichte. Geogr. Zeitschr. XII, 1906.
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Pedicularis silvatica, Polygala serpyllaceum, Galium saxatile, Meum a t h a m a n t i c u m , Teucrium Scorodonia, Jasione perennis, Euphrasia nemorosa, Centaurea nigra. Digitalis p u r p u r e a , Das Buntsandsteingebirge des S p e s s a r t , ein besonderes Eldorado atlantischer Vegetation, birgt überdies eine ganze Reihe euozeanischer T y p e n an isolierten V o r p o s t e n s t a n d o r t e n , so Cicendia filiformis, Hypericum helodes, Vicia Orobus, I s n a r d i a palustris, dazu Galeopsis dubia und Scutellaria minor, von denen die beiden erstgenannten als typische Heidepflanzen sogar dem linksrheinischen Buntsandsteingebiet abgehen. Auch die beiden exotischen „ J u w e l e n " der deutschen Sandsteingebirge, die darin n u r in ganz vereinzelten exquisit günstigen Winkeln ihr Dasein fristen, H y m e n o p h y l l u m tunbrigense ( L u x e m b u r g e r Sandstein, Vogesensandstein, Elbsandstein) u n d Asplenium lanceolatum ( H a a r d t ) ist hier zu gedenken. In gleicher Weise wie die g e n a n n t e n Bergwaldpflanzen kann man eine Reihe von W a s s e r b e w o h n e r n zu einer subozeanisch-montanen Gruppe zusammenfassen. Die hierher gehörenden 7 A r t e n : Isoetes lacustre und echinosporum, Myriophyllum alterniflorum, Sparganium diversifolium und affine, Utricularia ochroleuca und z. T . Litorella lacustris folgen in Mitteleuropa demselben Verbreitungsprinzip, indem sie einerseits im Norden die Seen und Teiche der K ü s t e n p r o vinzen bewohnen, zum Teil als Charakterpflanzen u n d t r e u e Begleiter der Heidetümpel, daß sie aber gegen Süden in die Mittelgebirge aufsteigen und in den Urgebirgen Mittelu n d Süddeutschlands, in hochgelegenen Seen, vor allem in den Karseeri der Vogesen, des Schwarzwaldes, Böhmerwaldes und Riesengebirges 1 ), oft in auffallender Vergesellschaftung, wiederkehren. Sie sind ausgesprochen kalkscheu (außer Litorella) u n d es ist S a m u e l s s o n 2 ) n u r zuzustimmen, wenn er ihre sporadische V e r b r e i t u n g diesem edaphischen F a k t o r zuschreibt, aber doch wohl n u r im R a h m e n des subozeanischen Klimabereiches. I h r geringes W ä r m e b e d ü r f n i s g e s t a t t e t es ihnen, einesteils hoch in die Gebirge anzusteigen, anderenteils in der subarktischen Zone weite Verbreitung zu erlangen (am wenigsten gilt beides für die zwei letztgenannten), m . Die Alpen. Weit besser als für die übrigen Teile Mitteleuropas sind wir heute über die Pflanzenklimate der Alpen u n t e r r i c h t e t durch die neueren Arbeiten über die W a l d s t u f e n der Schweizer Alpen, welche von H . B r o c k n i a n n J e r o s c h 3 ) für die W a l d - u n d Baumgrenzen, von H. G a r n s 4 ) jüngst für die ') Seen von G6rardmer, Longemer und Retournemer (Vogesen). Feld-, Titiund Schluchsee (Schwarzwald), Schwarzer Teich, Plöckensteinsee, Teufelsseen (Böhmerwald), Großer Teich (Riesengebirge). 2 ) S a m u e l s s o n , G., Zur Kenntnis der Schweizer Flora. Vierteljahrsschr. Naturf. Ges. Zürich 67, 1922. 3 ) B r o c k m a n n - J e r o s c h , H., Baumgrenze und Klimacharakter. Beitr. z. geobotan. Landesaufnahme VI, Zürich 1919. *) G a m s , H., Die Waldklimate der Schweizer Alpen, ihre Darstellung und ihre Geschichte. Festband Hermann Christ. Verh. Naturf. Ges. Basel 35, 192H.
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W a l d k l i m a t e ü b e r h a u p t ausgebaut und z u s a m m e n g e f a ß t wurden. In den von G a m s vorgeschlagenen Benennungen des penninischen, helvetischen u n d insubrischen Klimas u n d in ihrer anschaulichen Darstellung in „ H y o h y p s o g r a m m e n " k o m m t der Gegensatz des ozeanischen Nord- und S ü d r a n d e s u n d der kontinentalen Zentralzone vorzüglich zum Ausdruck. Auf dem ebendort gegebenen neuen Querprofile durch die Alpen ist desgleichen zu sehen, wie die ozeanische B u c h e n - W e i ß t a n n e n s t u f e , der gemischte Bergwald, vom Nordrand der Alpen gegen den Südrand erheblich ansteigt, unter völligem Aussetzen in der zentralen, kontinentalen Föhrenregion, wie sich gleichzeitig im Süden unter sie die insubrische Eichen-Kastanienstufe einschiebt, die n a c h Norden n u r vereinzelt über die F ö h n k a n ä l e vordringt, und wie u m g e k e h r t über ihr die subalpine F i c h t e n s t u f e n a c h Süden auskeilt. D a ß die innersten Alpentäler, wo heute im Wallis die kontinentale B a u m g r e n z e wenigstens beinahe erreicht ist, ozeanischen Einstrahlungen d e n k b a r abhold sind, d a ß sie für den Buchenwald eine ähnliche Verbreitungslücke wie die pannonische Tiefebene, für das sarmatische E l e m e n t aber günstige Rettungsinseln bilden, k a n n nicht sehr verwunderlich erscheinen. Von BraunB l a n q u e t 1 ) wurde aber auch darauf hingewiesen, d a ß die Alpen als Ganzes, einschließlich ihrer feuchteren Teile, a u s n e h m e n d arm an atlantischen Formen sind, die nördlich u n d z. T . südlich der Alpen weiter nach Osten vordringen, so d a ß ihr Areal einen augenfälligen „ A l p e n h i a t u s " aufzuweisen h a t (vgl. Fig. 3). Seinen Versuch, ihn durch A n n a h m e von nicht abgeschlossenen W a n d e r u n g e n zu erklären, k a n n ich zwar nicht für einleuchtend erachten, gerade wegen der T a t s a c h e des Hiatus. Es d ü r f t e n doch wohl auch d a f ü r heutige Klimaverhältnisse u n d nicht florengeschichtliche Momente verantwortlich zu m a c h e n sein, so groß die Bedeutung ist, die auch für unsere Fragen der Vergangenheit z u e r k a n n t werden muß. Es fehlt den Alpen einerseits so g u t wie vollständig das eigentliche a t l a n t i s c h e Element, auch in seiner s u b a t l a n t i s c h e n Erweiterung, m i t s a m t der e r w ä h n t e n m o n t a n e n Gruppe, anderenteils aber erfahren, wie schon B r a u n nicht entgangen ist, doch eine ganze Reihe o z e a n i s c h e r Typen auch am nördlichen und südlichen Alpenrand eine besondere Begünstigung. Es sind nur Arten von a t l a n t i s c h - m e d i t e r r a n m o n t a n e r Verbreitung, also der eingangs ausgeschiedenen G r u p p e II. E n t w e d e r dehnen sie sich von ihrem westdeutschen Areal aus nördlich der Alpen plötzlich nach Osten aus (Ilex-Typus), entlang ihrem A u ß e n r a n d , aber unter Vermeidung ihres Zentrums, oder sie sind über Mitteleuropa ü b e r h a u p t verbreitet (Fagus-Typus) und genießen nur mit der Z u n a h m e des ozeanischen Charakters gegen den Gebirgsrand besonders günstige Bedingungen. Es sind einerseits Ilex aquifolium, Primula acaulis, Rosa arvensis u n d Carex strigosa, anderenteils Abies alba, T a x u s baccata, Hedera Helix, Lysimachia nemorum, Potentilla sterilis und viele andere Buchenbegleiter. Am bayrischen Alpenrand z. B. sind die Buchen-Fichten-Tannenwälder von
') B r a u n - B l a n q u e t , a . a . O . , ferner: Über die Genesis der Alpenflora. Festband Hermann Christ. Verh. Naturf. Ges. Basel, 35, 1923.
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ozeanischem Charakter mit ihren zahlreichen Eibenkolonien auf das Molassevorgebirge u n d den Flyschgürtel b e s c h r ä n k t u n d n a c h u n t e n gegen die Hochebene sehr deutlich begrenzt. In den Alpen selbst suchen sich viele solche Pflanzen mit Vorliebe lokalklimatisch begünstigte Stellen, Seeufer, Nebelgürtel u. dgl. auf. Im Alpenvorland m a c h e n sich gegen das D o n a u t a l hin zunehmend kontinentalere Züge geltend, sowohl im Klima wie im Pflanzenkleid. Denn die pontischen Vegetationsinseln, die von der D o n a u heraufgewandert sind, v e r a r m e n Schritt f ü r S c h r i t t u n d erreichen u m g e k e h r t noch im Vorlande ihr E n d e . Und wenn wir schließlich im oberen u n d feuchteren Teil der Hochebene in den Mooren eine Reihe von Pflanzen wiederfinden, die wir als Heidemoorpflanzen aus N o r d d e u t s c h l a n d und aus den heideartigen Inseln Mitteldeutschland kennen, die aber mit Ausn a h m e der beiden letzten den mitteldeutschen Bergmooren fehlen, nämlich Lycopodium i n u n d a t u m , Rhynchospora fusca, Drosera i n t e r m e d i a , H y d r o cotyle vulgaris, J u n c u s squarrosus und Polygala serpyllacea, so ist das mit dem Moorreichtum der oberen Hochebene allein sicher noch n i c h t befriedigend erklärt. Daß der S ü d r a n d der westlichen Alpen, P i e m o n t u n d Insubrien mit seinem überfeuchten, unter der W i r k u n g der italienischen Sonne treibhausartigen Klima, den H e r m a n n C h r i s t m i t berechtigter Begeisterung als „schweizerischen H i m a l a y a " preist, auch dem atlantischen Element und der ozeanischen Vegetation ü b e r h a u p t ihren g e b ü h r e n d e n P l a t z einräumt, ist um so mehr verständlich, als gerade auf dieser Strecke der der atlantischen Flora abholde Kalkgebirgssaum aussetzt. Das isolierte Vorkommen kalkscheuer Arten, z. B. der drei subozeanischen Bewohner des Lago Maggiore: Isoetes echinosporum, Myriophyllum alterniflorum und P o t a m o p t o n polygonifolius, ferner von Archidium phascoides ist n u r so verständlich. Auch der A l p e n f ö h n als lokaler Klimabeherrscher ist n i c h t ohne Einfluß auf die Ausbreitung der ozeanischen Pflanzenwelt geblieben. Es sind zwar in erster Linie wärme- und trockenheitsliebende m e d i t e r r a n e F o r m e n , die seinen Bahnen durch die Alpen nach Norden gefolgt sind. Da seine Trockenheit aber immer nur eine vorübergehende W i r k u n g darstellt und für die Gesamtfeuchtigkeit nicht ausschlaggebend ist, u n d andererseits sein enorm mildernder E i n f l u ß , z. B. hinsichtlich der Frostverhältnisse 1 ), a u c h der ozeanischen Vegetation höchst förderlich ist, können wir es verstehen, d a ß auch ozeanische Pflanzen, zumal solche von südlicher V e r b r e i t u n g , aus ihm Nutzen ziehen können. Besonders ist das d a n n der Fall, w e n n die Föhnkanäle nach Norden auf Alpenrandseen a u s m ü n d e n , die groß genug sind, um ihrerseits einen mildernden und feuchtenden E i n f l u ß auf ihre U m g e b u n g auszuüben. Nicht u m s o n s t spricht schon H. C h r i s t in seinem unvergänglichen Pflanzenleben der Schweiz von einer „ F ö h n - u n d Seezone" am Nordrand der Alpen. Als der T y p u s der ozeanischen F ö h n t a l p f l a n z e n mag die Kastanie (Castanea sativa) gelten, welche in der Schweiz in evi') A l t , E., Frostgrenzen und Frosthäufigkeit in Süddeutschland. Mitt. Geogr. Ges. München, 7, 1912.
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denter Weise fast nur die Seen umsäumt ). Aber auch andere ozeanische Typen, Tamus communis, Asplenium Ceterach, Daphne Laureola, Primula acaulis, lassen dasselbe erkennen. Ohne scharfe Abgrenzung leiten sie zu den viel zahlreicheren rein mediterranen Föhntalpflanzen über, aber auch zu einer besonderen Gruppe von A l p e n r a n d p f l a n z e n , die nach ihrem Areal z.T. als präalpin, z. T. auch als „submediterran", nach ihren Klimaansprüchen aber auch als subozeanisch zu bezeichnen wären, nämlich Evonymus latifolia L., Galium aristatum Auct., Euphorbia amygdaloides L., Cyclamen europaeum L., Helleborus niger L. und Cardamine trifolia L., die letzten drei vielleicht nicht umsonst immergrüne Arten. Hier wäre auch der Platz auf das verschiedene Verhalten der Gebirgspflanzen im ozeanischen und kontinentalen Klima bei ihrem Vordringen in tiefere Regionen einzugehen. Darüber wird aber von G. E. Du R i e t z für die skandinavischen Gebirge, von mir selbst für die Alpen gesondert zu berichten sein. IV. Südwestliche Einwanderer. Die Erscheinung, daß sich ozeanische Pflanzen mit mediterranen vergesellschaften, ist keineswegs auf die Föhnkanäle beschränkt. Sie gilt allgemein für ozeanische Pflanzen von südlicher Verbreitung und ist in ihrem Wärmebedürfnis und ihrer nahen Verwandtschaft mit dem rein mediterranen Element von selbst begründet. Wir begegnen beiden daher auch sonst in Mitteleuropa auf den gleichen Wanderwegen. In Mitteleuropa sind weitaus die meisten südlich-ozeanischen Pflanzen nur bis in das südwestliche Deutschland vorgedrungen. Mehr gegen Westen zu treffen wir sie aber auch weiter nördlich, und zwar um so mehr, je mehr wir uns dem Ozean nähern, zunächst in Nordfrankreich oder Belgien, sodann auf den britischen Inseln. In ähnlicher Weise dringen auch viele mediterrane Pflanzen unter dem Einfluß des milden Küstenklimas bis England und Irland nach Norden vor. Ihre Vegetationslinien von England über Belgien nach Südwestdeutschland bilden eine sehr markante Vegetationsgrenze. Sie sind ein vollständiger Ausdruck für die Abnahme der Wintertemperatur nach Nordosten auch in den küstennahen Provinzen und sind den ähnlich verlaufenden Linien im östlichen Europa vergleichbar. In Südwestdeutschland steht für solche Pflanzen die erforderliche Wärme im allgemeinen nur mehr in den tiefen Lagen, in der Weinregion, in den Tälern des Rheins und seiner Nebenflüsse zur Verfügung, wo gleichzeitig auch die Frostgefahr auf ein Minimum herabgesetzt ist (vgl. A l t , E., a. a. 0.). Immer und immer wieder stoßen wir bei Verbreitungsangaben über südwestliche Einwanderer auf die Angabe: Rhein-, Mosel-, Nahe-, Saar und Glantal, zuweilen auch noch Main- und Neckartal. Sie sind geradezu als s ü d w e s t l i c h e T a l w a n d e r e r zu bezeichnen. Dabei standen ihnen mehrere Anmarschwege zur Verfügung. Sie führen entweder über Lothringen ins Moseltal (vgl. Fig. 9), oder durch die Burgunder Pforte ins Oberrheintal. Viele mögen ') E n g l e r , A r n o l d , Über Verbreitung, Standortsansprüohe und Geschichte der Castanea vesca Gärten mit bes. Beriioks. d. Schweiz. Ber. Schweiz. Bot. Ges. XI, 1901.
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aber auch vom Genfer See her den steilen Innenrand des Schweizer Jura, der für südliche Wärmepflanzen wie eine gewaltige natürliche Spalierwand wirkt, gefolgt und so gleichfalls an den Oberrhein gelangt sein. Soweit es sich um streng ozeanische Arten handelt, gehören zu dieser Gruppe südwestlicher Talwanderer: Luzula Forsteri, Digitalis lutea, Braya supina Koch, Scrophularia aquatico, Carum verticillatum, Orobanche Hederae. Anarrhinum bellidifolium,
Fig. 10. Acer Monspessulanum L. Seine Verbreitung in Frankreich und seine Einwanderung in die Täler Süd Westdeutschlands (südwestlicher Talwanderer).
Die meisten aber neigen nach ihrer horizontalen Verbreitung und nach ihrer vertikalen im Mediterrangebiet schon stark zur mediterranen Gruppe: Asplenium Ceterach, Helleborus foetidus, Sinapis Cheiranthus, Buxus sempervirens, Alopecurus utriculatus, Daphne Laureola, Carex depauperata, Acer monspessulanum, Tamus communis, Verbascum pulverulentum, Castanea sativa, und nur noch ein Schritt f ü h r t zu rein mediterranen Wärmepflanzen ganz ähnlicher Verbreitung, wie Carex alpestris, Aceras anthropophorum, Iberis amara, Trinia glauca und viele andere.
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Bei den vorstehenden Ausführungen wurde jeweils n u r auf das heutige Pflanzenkleid und bei den ursächlichen Erklärungen n u r auf die gegenwärtige K l i m a k o n s t i t u t i o n Rücksicht genommen. Nun wissen wir heute auch f ü r Mitteleuropa mit Bestimmtheit, d a ß Klima u n d Vegetation auch noch in junger Zeit Veränderungen unterworfen waren, bei denen es sich auch ganz besonders um ein Schwanken zwischen ozeanischem und kontinentalem Klimaeinschlag h a n d e l t . Es h ä t t e weit über den hier gegebenen R a h m e n hinausgeführt, h ä t t e n auch noch fossile u n d subfossile Pflanzenfunde u n d florengeschichtliche Tatsachen zum W o r t e k o m m e n sollen. Es mag sehr wohl sein, d a ß auf das heutige Antlitz der Vegetation manche Züge d a v o n ü b e r k o m m e n sind u n d d a ß vieles n u r historisch zu erklären ist. Da es sich dabei aber in der H a u p t s a c h e n u r u m graduelle Unterschiede gegenüber dem heutigen Vegetationskleid handeln d ü r f t e , um Verschiebungen der Vegetationsgrenzen, nicht u m Ä n d e r u n g ihres Wesens, so werden die Beziehungen zwischen Klima, Boden und Pflanzenkleid, die ich hier aufzudecken u n d auf k n a p p e m R ä u m e zu skizzieren versucht habe, davon nicht betroffen werden.
Beiträge zur geographischen Erfassung der alpinen Pflanzendecke aus Karwendel und Schieferbergen. Von
LUDWIG KOEGEL. Die vorliegende Arbeit stellt eine Weiterführung der Gedankengänge dar, welche in meiner Abhandlung „Die Pflanzendecke in ihren Beziehungen zu den Formen des alpinen Hochgebirges" 1 ) erstmalig hervortraten. Damals war ich bestrebt auf verhältnismäßig beschränktem, aber sorgsam ausgewähltem Beobachtungsraume eine möglichst erschöpfende Summe von Einzelerscheinungen zu sammeln; ein außerordentlich dichtmaschiges Netz ins einzelne gehender Geländeerkundung mit zahllosen genauen Messungen war erforderlich als Grundlage einer aussichtsreichen, scharfen Fassung der Probleme. War die Ausführung meiner Pläne während der ersten Nachkriegsjahre in den Ammergauer Bergen schon vielfach stark erschwert, so gestaltete sich die Weiterführung meiner Studien in größeren Alpenräumen vor allem unter dem Drucke der wirtschaftlichen Notlage unseres Vaterlandes zu einem täglich aussichtsärmeren Beginnen. Sollten die im Ammergau, einem typischen Waldgebirge der Vorbergzone, begonnenen Untersuchungen nicht auf voraussichtlich lange Zeiträume völlig unterbrochen werden, so gab es nur den einzigen Ausweg einer mehr behelfsmäßigen Arbeitsmethode. Gleichwohl mußte auch diese Methode gestatten, Beziehungen zwischen Pflanzendecke und Formen, ähnlich den im Ammergau erkannten, in anders gearteten Gebirgsteilen möglichst fehlerfrei zu verfolgen, denn erst durch weiträumige Vergleiche konnte es gelingen, allgemeine Gesetzmäßigkeiten von örtlichen Erscheinungen zu unterscheiden. Die vorliegende Studie stellt den ersten Schritt auf diesem Wege dar. Dem Typus der hohen, großenteils aus Hauptdolomit aufgebauten Vorbergzone, den die Ammergauer Berge vertreten, wurde hier zunächst der Typus eines beträchtlich höher aufragenden Kalkketten-Gebirges mit seiner weit spärlicheren Pflanzendecke gegenübergestellt, das Hochkarwendel; dann in zwei Ausschnitten aus den Schieferbergen ein wesentlich neuer Typus, den die einheimische Bevölkerung sehr mit Recht als den der Grasberge gekennzeichnet hat. Die Schieferberge machen zwar mit ihrem Mattenreichtum, der hoch hinauf zur Viehweide genutzt wird, keinen so wilden Hochgebirgseindruck wie die Steilmauern der Kar') Ammergauer Studien 1. Ostalpine Formenstudien Abt. 1, Heft 5. (Bornträger) 1923.
Berlin
Beiträge zur geographischen. Erfassung der alpinen Pflanzendecke usw.
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wendelfluchten, doch überragen sie in ihren höchsten Erhebungen die Karwendelberge sogar noch stellenweise. Das bedeutend weitmaschigere Routennetz dieser neuen Begehungen gestattete nur eine weit kleinere Zahl von Messungen, ein viel ausgedehnterer Gebrauch des Horizontglases mußte Beobachtungen von Gegengehängen zuhilfe nehmen. Da zudem die Karten auf österreichischem Gebiete an Güte weit hinter den bayerischen Positionsblättern zurückbleiben, so konnte häufig nur eine runde Höhenangabe für vegetative Grenzwerte erzielt werden. Schon aus den angeführten Gründen war große Sorgfalt bei Auswertung des Beobachtungsmateriales erforderlich, das sich nicht immer lückenlos aneinanderreihen ließ; der Gefahr der Überinterpretation meines Materiales durch den Leser suchte ich auch dadurch zu begegnen, daß ich in den Tabellen einwandfreie Messungen, denen des Ammergaues vergleichbar, von gerundeten Höhenangaben „r." (meist durch Nahvisierungen gewonnen) unterschied, denen schließlich ganz rohe Schätzungen mit dem besonderen Zusatz „s.r." dort gegenübergestellt wurden, woselbst die Fehlerquellen 20—30 m möglicherweise noch überbieten. Unter Berücksichtigung dieser Beschränkungen glaube ich aber auch für die Ergebnisse jener mehr übersichtsweise durchgeführten Begehungen Vertrauen beanspruchen zu dürfen.
Aus dem Hochkarwendel. In der Tabelle wurden die von mir festgestellten Grenzhöhen der Vegetationsdecke, wesentlich die südlicheren Gebiete der hohen Karwendelketten betreffend, übersichtsweise zusammengestellt, und zwar im großen von Nord nach Süd, innerhalb der einzelnen Ketten von West nach Ost fortschreitend. Die Tabelle bietet ein, wenn auch nicht lückenloses, so doch die Hauptzüge scharf skizzierendes Abbild des Vegetationskleides dieser weitgehend kahlen Felsbauten, an denen die einzelnen, höher und höher ansteigenden Komponenten der Pflanzenwelt sich bis zu den angegebenen Höchststandorten aus vegetationsfreundlicheren Tälern emporgekämpft haben. Wenn dergestalt die Zahlen der Tabelle (ergänzt durch Angabe der jeweiligen Exposition, durch Randbemerkungen und Hervorhebung besonders wichtiger Extremwerte mittels Fettdruck) schon an sich eine klare Sprache sprechen, so werden einige Erläuterungen doch noch eindringlicher das innige Anschmiegen der grünen Decke an die wechselvolle Formwelt des Gebirges vergegenwärtigen. Von besonderem Interesse ist hier das Beispiel der geschlossenen Flucht großer Kare, die stets in gleicher Südexposition in die Hintere Karwendelkette eingesenkt sind. Über ihre formengeschichtliche Entwicklung hat Herr Dr. Fels Spezialstudien angestellt, hier sei das Augenmerk auf das Pflanzenkleid dieser Formen gelenkt. Wollte man dies Gebiet zu Untersuchungen über die obere Grenze des Koniferenwaldes, ja auch nur der einzelnen hochstämmigen Baumtypen Drygalski, Festgabe.
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verwenden, so wäre hierbei zu berücksichtigen, daß von vornherein rein klimatisch bedingte Höchstgrenzen nicht erwartet werden dürfen. Außerordentliche Schroffheit der Wandbildung, sogar in unmittelbarer Nachbarschaft des Isartales selbst, ließ es so gut wie nirgends zu einigermaßen gleichmäßiger Hangentwicklung kommen; ja das Innere der gewaltigen Wannenformen mit flachen Böden und übersteilen Rück- und Seitenwänden bietet so gut wie keine Entwicklungsmöglichkeit für höher ansteigende Hochwaldbekleidung. So trifft man denn nur da und dort kleinere, man möchte fast sagen schüchterne Versuche der hochstämmigen Waldbäume, von der Flucht des Isartalbodens aus an den breiteren Stellen der Rückenformen aufwärts zu streben und in die meist recht steilen Mündungstrichter der Kartälchen einzudringen. Diese Vorstöße, an denen neben der Fichte auch die Lärche sich beteiligt, haben aber nur recht engräumige Vorpostenstellungen in runden Höhen von etwa 1700 m, wie Tabelle zeigt, erzielt. Manchmal, wie z. B. am Gr. Heißenkopf (T. I. 6a), haben hierbei in tieferen Lagen gealterte und so gefestigte Schutthalden den Bäumen das Höherstreben unter unersteiglichen, nackten Kalkmauern erleichtert; klimatische Höchstgrenzen wurden weder auf Fels noch auf Altschutt an dieser Südkarflucht jemals auch nur angenähert erreicht 1 ). Eigneten sich somit die lokalen Verhältnisse dieses Gebietes durchaus nicht für Untersuchungen über die klimatische Höchstgrenze hochstämmigen Baumwuchses, so gilt das nicht in gleicher Weise für das Krummholz, die Legföhre. Besonders lehrreich ist in dieser Richtung eine Besteigung des SuntigerGipfels. Was in den niedrigeren Ammergauer Bergen nicht möglich war, nämlich die Auffindung der lediglich klimatisch bedingten Höchstgrenze der Legföhre, hier drängt sich diese Scheidelinie dem Beobachter förmlich auf 2 ). Lassen wir das mit dem Horizontglase bewaffnete Auge an der langen Reihe von Rücken und Spornen entlang gleiten, die Hinterkar, Breit-Grießkar, die ödkare, Birkkar, Rauhkar, Moserkar und Roßloch voneinander scheiden, so finden wir allüberall die höchsten Ausläufer des Legföhrenwuchses dortselbst in annähernd der gleichen Höhenlage endigen. Unsere Tabelle, die auf Einzelmessungen zahlreicher Begehungen beruht, belehrt uns darüber, daß die Höchstgrenze bei 2170 bis 2200 ni zu suchen ist, wobei die hier vertretenen Expositionsdifferenzen ohne wesentlichen Einfluß zu sein scheinen. Daß wir es wirklich mit einer rein klimatisch bedingten Höchstgrenze zu tun haben, das beweist schon die klar ins Auge springende Horizontalität ') Hier in diesen, von jeder menschlichen Siedlung freien, aber auch für Almwirtschaft völlig undenkbaren Felswildnissen kommen anthropogene Faktoren als etwaige Fehlerquellen in Wegfall. 2 ) J. G r e m b l i c h („Der Legföhrenwald." Programm d. k. k. Obergymnasiums in Hall. 1892/93) bemerkt, S. 14, daß die obere Grenze der Legföhre (Zunder) in günstigen Lagen auf 2050 m, in weniger günstigen auf 2000 m im Karwendel anzusetzen ist, daß sich aber vereinzelt eine Zundernzunge bis zu 2200 m hinauf finde. Die Angabe von der Praxmarerkarspitze mit einer kleinen Latschengruppe bei 2400 m klingt fast unmöglich, ich konnte nichts dergleichen entdecken.
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ihres Verlaufes auf weite Strecken hin. Durchaus unerklärlich wäre es sonst, aus welchen Gründen der immer niedriger werdende Latschenwuchs allenthalben gerade an dieser Normalhöhe von gegen 2200 in endigen sollte. Vielen Ortes, so z. B. an der Sonnenspitz-Südflanke, besonders aber am Gratrücken zwischen Kl. und Gr. Heißenkopf stünden einem Höhersteigen der Latschenzungen weder orographische noch irgend sonst erkennbare Hindernisse im Wege, denn auf breiten, gleichmäßig geneigten Flächen werden hier die aufgelichteten Legföhrenbestände von der kurzen, die Felsen lückenhaft besiedelnden Grasnarbe abgelöst. Die eben festgelegte Höchstgrenze gilt jedoch nur für den Latschenwuchs auf freien Gratrücken und für ähnliche Lagen, in der Bodennähe der Kare selbst ist das Legföhrenende sehr beträchtlich herabgedrückt. Wie die Tabelle zeigt, pflegt es hier im allgemeinen um 2000 m herum zu schwanken und sich nur ausnahmsweise, nämlich auf Rundhöckern des sehr geräumigen ödkars (T. I. 4c), 2100 m zu nähern. Freilich, bei genauerer Beobachtung ist die Depression der Höhengrenze dort weniger stark ausgeprägt, woselbst diese Vegetationsscheidelinie den Karboden etwa gerade an einer felsigen Steilstufe quert, was z. B. dann der Fall ist, wenn die Hauptverebnung des Karbodens (Beispiel: T. I. 7c) erst in höherer Lage einsetzt. Steigen wir höher hinauf aus der Region des Krummholzes, so fällt uns besonders auf den durch glaziale Wirkungen rundgehöckerten Karböden eine neue Höhengrenze vegetativer Besiedelung ins Auge, es ist die Region der ausklingenden Grasnarbe. Wohl habe ich den Versuch gemacht, auch diesen rein natürlich bedingten Grenzverlauf einigermaßen zahlenmäßig festzulegen, doch schwanken hier die beobachteten Höhen nicht unbeträchtlich für die einzelnen Kare, wie die Tabelle veranschaulicht. Zwar kehren öfter um 2300 m herum schwankende Werte wieder, aber in den beiden weiträumigeren Großmulden, dem Gr. ödkar und Sonnkar, erhebt sich die letzte Begrünung bis gegen 2400 m. Nun, diese örtlichen Verschiedenheiten können den wandererfahrenen Beobachter nicht allzusehr wundernehmen, bieten doch gerade die Karböden, insbesondere die weiträumigsten, so große örtliche Unterschiede, was Einzelexposition und morphologische Einflüsse wechselnder Kleinformen betrifft, dar, daß hier mit Abweichungen von vorneherein gerechnet werden mußte. Wenn sich nun aber all diese örtlichen Beeinflussungen, die eine einfache Höhenkonstanz des Grenzverlaufes ausschließen, in irgendeinem anderen sichtbaren Merkmale ausdrückten, so ließen sich die Bedingtheiten dieser Ausfaserungen vielleicht klarer durchschauen; ein solches Merkmal fand sich in der temporären orographischen Schneegrenze. Im September des außergewöhnlich niederschlagsarmen, warmen Sommers 1919 wurde die erste Serie der einschlägigen Beobachtungen angestellt und so dürfte es sich fast durchweg um perennierende Schneeflecken gehandelt haben. Die recht einfache Beziehung zwischen diesen beiden, natürlich stark ausgelappten Grenzverläufen war die, daß ich in allen großen Karen etwa 20 bis 40 m unter den letzten grünschimmernden Graszungen auch die 22*
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tiefst gelegenen Schneeflecken a n t r a f , und zwar ließ sich z. B. auf den breiten Verebnungen des Roßlochs das a n n ä h e r n d parallele Steigen u n d Fallen dieser beiden Grenzen gut verfolgen. Da wir a b e r in der t e m p o r ä r e n , orographischen Schneegrenze zweifellos eine durch örtliche, wesentlich morphologische Bedingungen modifizierte klimatische Trennungslinie vor uns haben, so erscheint auch die obere Grenze der kurzen Grasnarbe auf den Karböden als ein Ausdruck einer derart morphologisch modifizierten, klimatischen Scheidelinie. Nicht selten findet sich großflächig in demselben Kar verschieden starke Schneebedeckung, der d a n n auch eine ververschieden hoch reichende Begrünung e n t s p r i c h t ; die westexponierte, schneeärmere Seite des Rauhkars zeigte z. B. höher ansteigende, g r ü n e (iraszungen als die ostexponierte schneereichere Karbodenhälfte. Doch auffälliger u n d in ihrer Allgemeinheit noch leichter zu erkennen ist eine andere, scheinbar rein morphologische Beziehung. Die ausklingende Grasnarbe, häufig d u r c h die leuchtend hellroten Polster von Silene acaulis k r ä f t i g ins Auge springend, hat sich ausnahmslos auf den R u n d b u c k e l n , Schuttwällen und allen ähnlichen Bodenaufragungen angesiedelt, w ä h r e n d sie jede Art von Furchen, Dolinenlöchern und Gelände Vertiefungen sorgfältig meidet. Diese Auswahl der S t a n d o r t e ist von einer solch strengen Gesetzmäßigkeit beherrscht, daß wir eine zwingende Allgemeinursache hierfür aufsuchen müssen. W a s schon der Parallelismus zwischen orographischer Schneegrenze und Grasnarbenende nahelegte, die ausnahmslose Vermeidung aller Vertiefungen, die in diesen Höhenlagen nichts anderes sind als langdauernde Schneebehälter, zeigt uns, d a ß es wesentlich die F l u c h t vor allzulanger Schneebedeckung und dadurch Herabsetzung der Vegetationsperiode ist, die nur noch auf den schneller schneefrei werdenden Bodenerhebungen Grasansiedelung g e s t a t t e t . Eine konsequente Weiterverfolgung dieser Gedankengänge w i r f t nun auch klareres Licht auf Beziehungen zwischen Formenschatz u n d Pflanzendecke im Ammergau, die bisher einer ganz befriedigenden Erklärung e n t b e h r t e n . Wiederholt m u ß t e n wir auf die B a u m a r m u t der dort meist wiesenbedeckten Karböden hinweisen, der Fichten-Latschenkranz auf ungezählten Karschwellen (im Ammergau, doch auch sonst in den Vorbergen) ist allzu auffällig und selten rein anthropogen zu erklären. Daneben t r a t im Ammergau schon verschiedentlich die Erscheinung hervor, daß hochansteigende Baum-, aber vor allem Legföhrengrenzen gerne auf Bodenerhebungen angetroffen wurden, was nicht durchweg durch S c h u t t flucht restlos erklärt werden konnte. Deutlicher noch als im A m m e r g a u , das auch schon Beispiele höherer Vegetationsvorposten, besonders W a l d zungen, auf Graten aufwies 1 ), t r a t nun diese Bevorzugung der höheren Aufragungen neuerdings dort in Erscheinung, wo die rein klimatisch bedingten Legföhrengrenzen des Karwendeis nach unten ausbiegend die Kartälchen querten. Mindestens 100 m und d a r ü b e r betrugen diese De') Auf Bevorzugung der Gratlage durch hohe Waldzungen wurde auch schon von anderer Seite hingewiesen.
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pressionen bei Querung der Karböden gegenüber den natürlichen Höhengrenzen auf den die Kare trennenden Rücken und Spornen, am wenigsten, wie wir sahen, dort hervortretend, wo diese Grenzlinie bei Querung des Kartälchens auf einer Steilstufe oder Rundbuckelzone und nicht auf relativ ebenem Karboden verlief. Nach dem Gesagten kann es keinem Zweifel mehr unterliegen: was wir an der Graswuchsgrenze mit der relativ kurzen von der Grasnarbe geforderten Vegetationsperiode im kleinen beobachten konnten, das finden wir hier im großen bestätigt und wiederholt. Die schattenreichen Muldenböden der Kare sind als bevorzugte, lang dauernde Schneelagerplätze jeder anspruchsvolleren vegetativen Besiedelung abhold, daher werden sie in verschiedener Weise zwar, aber doch von allen Hauptvertretern der hochalpinen Pflanzendecke tunlichst gemieden, vom Graswuchse 1 ), der Legföhre und auch den hochstämmigen Bäumen mit ihren großen Ansprüchen an lange jährliche Vegetationsdauer. Wie im kleinen die Mulden, Löcher und Rinnen der Karbodenflächen als Schneeanhäufungsplätze dienen, teils infolge örtlicher Beschattung, teils, und das scheint mir das Hauptmoment zu sein, als bevorzugte Schneesammelplätze bei Verwehungen 2 ), so gilt dies auch im großen von den Mulden der Gesamtkarböden. Gegenüber den windgefegten, daher schneeärmeren, flankierenden Gratrücken sind somit alle Muldenböden vegetativ benachteiligt in ähnlicher, wenn auch abgewandelter Weise für verschiedene Vertreter der Pflanzendecke. Je großräumiger und im einzelnen morphologisch differenzierter diese Muldenböden gestaltet sind, desto mehr wird die allgemeine Benachteiligung örtlich gemildert. Hochgelegene Mulden erscheinen uns also nach diesen Erörterungen wesentlich infolge langwährender Schneelagen als vegetationsfeindlich. Stellt diese neue Erklärung die früher erkannte gesetzmäßige Bevorzugung anstehenden Gesteins gegenüber Lockermaterial etwa in Frage ? Keineswegs ist dies der Fall, wir haben nur ein das früher erkannte Gunstmoment in der praktischen Auswirkung ergänzendes Ungunstmoment neuerdings kennen gelernt. Die der aufwärts vordringenden Pflanzendecke nach Ausscheiden der Muldenlagen verbleibenden Besiedelungsflächen sind, wie wir eben sahen, insbesondere windgefegte Örtlichkeiten, gerade dort wird aber beste Wurzelverankerung doppelt notwendig; feste, stabile Felsstandorte gewinnen also erhöhte Bedeutung im Raumbesiedelungskampfe. Um so ausgesprochener muß die Auslese hervortreten, je hochwüchsiger, d. h. windexponierter, die jeweiligen Vertreter der um ihre Existenz ringenden Pflanzendecke sind; daher erscheinen Fichtenhochstämme hinsichtlich der Bodenstabilität am empfindlichsten. — ') Die Grasnarbe findet, wie wir späterhin noch näher erörtern werden, einstweilen aber schon der Tabelle entnehmen können, in freien Lagen erst weit höher oben ihr natürliches Ende als in den hier betrachteten Karmulden. s ) Solche Verwehungen lagern stets den von allen Geländewellen, Buckeln und Kanten weggeblasenen Schnee im Windschatten dieser Aufragungen, also den Vertiefungen, wieder ab.
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Es war eine besonders reizvolle Aufgabe an der einheitlich gebauten, gewaltigen Südkarflucht der Hinteren Karwendelkette den höheren Grenzsäumen nachzugehen, war doch gerade diese Spezialuntersuchung so recht geeignet, in die feineren Abhängigkeitsverhältnisse hineinzuleuchten, wie sie zwischen klimatisch-morphologischen und pflanzengeographischen Scheidelinien bestehen. Nunmehr gilt es an der Hand unserer tabellarischen Übersicht weitere Räume unseres Beobachtungsgebietes zu überblicken. Folgen wir in unserer Betrachtungsweise wieder der biologischen Abstufung von den üppigeren, tieferen Regionen höhenwärts, so haben wir zunächst noch weniges aus der Waldregion zu berichten. Die Buche ist im rauhen Hochkarwendel im allgemeinen eine seltene Erscheinung, die meist auf recht tiefe Tallagen beschränkt erscheint. Anders freilich steht es mit den warmen Südflanken, die zum Inntale abfallen. Unsere Tabelle I zeigt hier besonders aus der Gegend südlich vom Thaurer Joch (T. I. 23 u. 24) Grenzwerte, wie wir sie aus dem Ammergau nicht kennen und deren absolute Höhe gewiß einige Beachtung verdient. Was einleitend in die Würdigung der Südkarflucht über deren Waldkleid und frühes Ausklingen gegen die Hochregionen hin gesagt wurde, gilt in großen Zügen für das gesamte Hochkarwendel auch noch einschließlich der Vorderen Karwendelkette. Nur noch recht engräumige Vorstöße sind dem kämpfenden Walde bislang gegen die unnahbaren Felsmauern und beweglichen Jungschutthalden gelungen, fast durchweg verlaufen seine zerschlissenen Grenzen weit unterhalb ihrer rein klimatischen Schranken. Ein Blick auf unsere Tabelle (T. I. 9. u. 25. sowie 11. u. 12.) läßt uns erkennen, daß der hochstämmige Fichtenwuchs dort, wo ihm ausnahmsweise ein Höhergreifen gelang, den im Ammergau festgestellten klimatischen Grenzwert von rund 1900 m (S) bestätigt, den entsprechenden Ammergauer Grenzwert von rund 1800 m (N) sogar in seltenen Fällen noch etwas überbietet, freilich nur sehr geringfügig, was die gut entwickelten Exemplare betrifft. Daneben tritt eine klare Artenstaffelung von der in abgewandelten Wuchstypen am tiefsten zurückbleibenden Fichte über die ebenfalls allmählich weichende Lärche 1 ) zu der die höchsten Standorte beherrschenden Arve ein, welch letztere aber im Hochkarwendel ihre rein klimatischen Maxima wohl nicht erreicht hat. Die wenigen, einigermaßen geeigneten Beobachtungsörtlichkeiten, die mir das Karwendel für Lärchen- und Arvenmaximas bot, gestatten zwar kein genügendes Urteil über die allgemeinere Gültigkeit derartiger, anscheinend klimatischer Scheidelinien, wohl aber gibt die Ortslage jener äußerst spärlichen Arven- und Lärchen-, doch auch noch der Fichtenmaxima, einen bedeutsamen Wink hinsichtlich des bestimmenden Einflusses der Formenwelt auf die Vegetationsdecke. Was die Arve anlangt, so wurde schon frühzeitig von botanischer Seite festgestellt, daß das Auftreten dieses Baumes im Kalkgebirge gerne mit dem Auftreten der Raibier Schichten zusammenfällt. Sendtner berichtete *) Lärche und Arve spielen in der Ammergauer Hochregion keine Rolle.
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schon 1854 darüber und auch Hegi 1 ) hat auf die Bevorzugung stetig gleichmäßig durchfeuchteter, toniger Böden, wie sie aus der Verwitterung von Raibier Schichten hervorgehen, durch die Arve mit Recht aufmerksam gemacht. Im Karwendel greift die Arve jedoch auch über das Areal der Raibier Schichten hinaus, besonders auf Hauptdolomit übertretend und auch ihre Gesellschaftung mit besonders hochstämmigen Lärchen und Fichten dortselbst gibt zu denken. Betrachten wir weniger mit den Augen des Stratigraphen als denen des Morphologen und Landschaftskundlers das Areal der Arve im Hochkarwendel, so handelt es sich wesentlich um das Gebiet einer verhältnismäßig niederen Vorbergzone, das der Gleierschkette nördlich vorgelagert ist und das vom Hirschkopf im Westen bis zu den Gschnierköpfen im Osten zieht, um sich dort mit der Sattelregion des Haller Angers und Überschalls zu verflachen. Relativ ruhigere, ausgeglichenere Gehängegestaltung läßt diese schmale West-Ostzone als eine Art. Fremdkörper im Rahmen der jähen, mauerartigen Kalkbauten des Südkarwendels hervortreten. Dies Landschaftselement, bei dessen hier nicht näher zu analysierender Formentwicklung primäre tektonische Anlage und geringere Widerstandsfähigkeit gegen abtragende Faktoren aller Art zusammengewirkt haben, wurde der Hort höher steigenden Waldwuchses in einer für das Hochkarwendel immerhin schon beträchtlichen Weiträumigkeit. Nicht nur die vielfach stark ausgeglichenen Gehängepartien der weichen Raibier Schichten, in denen Mergel und Sandsteine vorwalten 2 ), sind aber als Arvenstandorte bevorzugt, ja die beobachteten Höchstwerte der Arve liegen sogar durchweg auf dem festeren Wurzelgrund des die Kuppen der Raibierzone aufbauenden Hauptdolomits. Ganz entsprechendes gilt für die Lärchen, ähnliches auch für die Fichten, wenn wir insbesondere die Extremwerte dieser Baumart in der ihr weniger zusagenden Nordlage berücksichtigen; immer handelt es sich um eine klare Bevorzugung dieser fremdartigen West-Ost-Landschaftszone durch gehäufte Maximalwerte. Auch der Zunderkopf (T. I. 25.) mit seinen hohen Fichtenstandorten ist, was hier des Vergleiches halber erwähnt sei, ein Haupldolomitberg. Im Ammergau mit seinem vorherrschenden Hauptdolomitgestein stammten unsere höchsten Fichtengrenzwerte aus dem Verbreitungsgebiet des Wettersteinkalkes, im Karwendel mit seinen dominierenden Wettersteinkalkmassiven aus dem des Hauptdolomits, für die Arve durften wir den Einfluß der Raibierböden nicht überschätzen; diese kurzen Gegenüberstellungen lassen schon erkennen, daß es nicht auf die Gesteins unterschiede als solche allein ankommen kann bei der Verteilung von Gunstund Ungunstgebieten für hohe Grenzwerte. Die morphologischen Großformen und ihr Werdegang sind, wie schon in meiner Ammergauer Arbeit nachdrücklich hervorgehoben wurde, das entscheidende Moment. ') G. H e g i , Die Vegetationsverhältnisse des Schachengebietes. 6. Jahresber. d. Ver. z. Schutze und zur Pflege der Alpenpflanzen. Bamberg 1907. S. 63. 2 ) Der Suntieersiidhang (T. I. 9) mag als Beispiel dienen.
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Die wie schon erwähnt ausgeglicheneren Gehänge der HauptdolomitMaibierzone waren imstande, dem hochstämmigen Baumwuchs verschiedener Koniferenarten nicht nur bei den augenblicklichen Verhältnissen geeignete Standorte zu bieten, sondern die Bewaldung konnte hier in längeren, so gut wie ungestörten Zeitperioden sich bis zu ihren klimatischen Endmöglichkeiten hinaufschieben. In den hohen Kaikketten selbst dagegen, deren Formen bald in jähen Abstürzen, bald in wachsenden Nacktschutthalden an dem Fuße der Wände ihre relative, morphologische Jugend zu erkennen geben, ist weder heute ein geeigneter Besiedelungsplatz für Hochstämme zu finden, noch hat man in naher Zukunft hier mit jener Formenausgeglichenheit zu rechnen, deren der Baumwuchs im allgemeinen für die allmähliche Eroberung klimatischer Höchststandorte bedarf. Auch im Ammergau waren es wesentlich standfest gewordene, somit gealterte Gehänge, die Vorzugsgebiete für unsere Hochstammgrenzen darstellten, doch dort gehörten gerade die Wettersteinkalkareale im Gegensatze zu dem mürberen Hauptdolomitgebirge zu den stabilierteren Gebieten; im Hochkarwendel ist dies anders. Im Ammergau konnte in den Gipfelregionen, die ja die Höchstgrenzen beherbergten, der Hauptdolomit nur noch als Formerhalter zweiter Qualität, sowohl was die Großformen als die Einzelstandorte anlangt, gewertet werden, der härtere Wettersteinkalk, der hier nur ausnahmsweise zu mächtiger, völlig abweisender Mauerbildung übergeht 1 ), war hier Formerhalter erster Güte. Im Karwendel sind die formerhaltenden Fähigkeiten des Wettersteinkalkes keine geringeren, aber dieser Faktor wirkt für das Waldvordringen hier gerade ungünstig, werden doch eben durch die Fähigkeit der Formerhaltung in unserem Falle die Steilmauern mit ihrer Unzugänglichkeit fortgeerbt. Die Formausgleichung durch Abwitterung der Steilformen und nachbarliche Materialanhäufung, die schließlich in sehr langen Zeiträumen nach Stabilisierung der Unterlage auch der Vegetationsdecke zugute kommen muß, ist allgemein im Hochkarwendel noch in den allerersten Anfängen. 2 ) Die Hauptdolomit-Raiblerzone hat es dagegen schon zu jener Stufe der Formausgeglichenheit gebracht, welche die Waldbesiedelung erfordert, und die Hauptdolomitkuppen mit ihrer immer noch erheblichen Standfestigkeit werden hier zum Gunstgebiet der Hochstämme. Was eben mit Beziehung auf die hochstämmigen Nadelbäume unseres Arbeitsgebietes festgestellt wurde, das gilt nicht ohne Einschränkung für den nächstfolgenden höher emporklimmenden Vertreter der Holz') Z. B. am Geiselstein und den Nordflanken der Hochplatte und des Hohen Straußbergs. 2 ) Da ich über die Entwicklung und vegetative Besiedelung der in diesem Zusammen hange besonders interessierenden, jungen Schuttflanken an anderer Stelle zusammenfassend, doch auch gerade das Hochkarwendel stark berücksichtigend zu berichten beabsichtige (unter dem Titel: „Der Schuttmantel unserer Berge — Sein Werden, Wandel und seine Bedeutung" wird ein Aufsatz in der Zeitschrift des D.Ö.A.V. 1924 erscheinen), mag hier dieser Hinweis genügen.
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gewächse, die zähere, den Kampfbedingungen in den hohen Kalkketten besser angepaßte Legföhre. Auch außerhalb der geschilderten, charakteristischen Standorte in der Hinterautaler Südkarflucht findet dies Gewächs, vielfach größere Bestände bildend, weite Verbreitung im Hochkarwendel, wie schon ein Blick auf unsere Tabelle erraten läßt. Wir wollen nicht lange verweilen bei Betrachtung der klimatischen obersten Legföhrenstandorte, die Angaben (insbesondere T. I. 9., 18. u. 20.) bestätigen gut den an der Südkarflucht gefundenen Grenzwert von rund 2200 m, zwei noch etwas höhere Fundstellen von Kümmerexemplaren (T. I. 4b. u. 20.) stützen gewissermaßen noch weiter unsere klimatische Grenzfestlegung. Es mag hiebei darauf hingewiesen sein, daß die reichlich vorhandenen, prächtig zusammenstimmenden und verhältnismäßig häufigen Maximal- und Maximalannäherungswerte, einschließlich der Kümmerformen, nennenswerte Expositionsdifferenzen nicht erkennen lassen, wofür ganz besonders T. I. la. u. 4b. sprechen. Wo finden sich nun diese Maximalstandorte der Legföhre, ist unsere nächste Frage, und inwieweit läßt ihre räumliche Verteilung eine Abhängigkeit vom Formenschatze des Gebirges erkennen ? Erstlich haben wir bereits Kenntnis genommen von dem verhältnismäßig häufigen Auftreten von Maximal- und Maximalannäherungswerten dieses Gewächses in den sonst so wenig vegetationsfreundlichen hohen Kalkketten und es muß hinzugefügt werden, daß die Legföhre fast nie in ganz vereinzelt stehenden Büschen, sondern mehr oder weniger gehäuft, nicht selten in relativ breiten, einigermaßen geschlossenen Beständen bis in die Höhen ihrer Artgrenze vorgeht. Hierbei schmiegen sich ihre Felder freilich mit zunehmender Meereshöhe immer ängstlicher der Unterlage an, so daß sie schon aus mäßiger Entfernung oft nur noch als unscheinbare schwärzliche Flecken erscheinen. Felsgerüst und Latschendecke scheinen dergestalt zu einer Einheit verschmolzen. Schon dies Verhalten zeigt uns, daß unser Hochkarwendel der Legföhre weit bessere Besiedelungsmöglichkeiten in weiterer räumlicher Ausdehnung gewährt als dies für Hochstammgewächse galt, die nur in eingeschalteten morphologisch-landschaftlichen Fremdzonen zwischen den typischen Kalkketten engräumige Gunstgebiete für ihr Vordringen nach oben vorfanden. Die wuchtigen Wetterstein-Kalkbauten tragen die oft wiederkehrenden Legföhrenmaxima; hat ihnen, so möchte man fragen, die erwähnte Jugendlichkeit der Form nichts anzuhaben vermocht ? Schon unsere Beobachtungen aus der Hinterautaler Südkarfluclit haben uns gezeigt, daß die aufstrebenden Legföhrenfelder die Karmulden vermeidend an den Rücken zwischen den Karmulden ihre Höchstgrenzen erreichen, das Ausweichen vor den langwährenden mächtigen Schneelagen der Muldenböden half uns die Erscheinung deuten. Diese Rückenformen sind, wie wir bereits früher feststellten, durch ihre starke Windexposition in erster Linie gegen mächtigere, lang währende Schneelagen verhältnismäßig geschützt; dies ist erstes Gunstmoment für die Legföhre, aber dieselbe Windexposition schützt diese Rücken auch gegen allzu starke Anhäufung örtlichen Verwitterungsmateriales, das ja im Kalkgebirge an sich nicht
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so grobblockig zu sein pflegt wi® im Gebiete der Zentralgesteine. Vom feineren Schutte durch die Winde freigefegt bieten die Rückenformen also der Latsche fast durchweg festen Fels als Ankergrund. Zudem ist auch die Formveränderung bei solch breit gestalteten Graten aus widerstandsfähigem Material eine nicht allzu heftige, so daß die Legföhrenbesiedelung ziemlich gleichmäßig fortschreitend ihr Vordringen gegen oben durchführen kann. Fassen wir die breithinziehende Flucht der Speckkarspitz-Bettelwurf-Südflanke näher ins Auge, so ergibt sich, daß gerade hier ein relativ gleichartig, mäßig geneigtes Felsgehänge weithin der vegetativen Besiedelung günstige Standorte bot, deren Gunst durch eine Reihe rückenartiger Ausladungen noch vermehrt wird. Dem zähen Vordringen der Latschenfelder stellten sich an diesem Gehänge, das durch die große Kammhöhe vor etwaigen schädigenden Einflüssen des Gipfelklimas 1 ) geschützt ist, keinerlei gefährliche Feinde, etwa in Gestalt beweglicher Schuttmassen, entgegen. Auf den rückenartigen Ausladungen war sogar die Lawinengefahr so gut wie ausgeschaltet und formverjüngende Faktoren, die vom Tale ausgehend drohen konnten, fehlten völlig. Dieser besonderen, weithin herrschenden Gunst der Standortsbedingungen entspricht nicht nur ein mehrfaches Erreichen des klimatischen Maximalwertes durch die Legföhre, sondern auch die Ausbildung einer geschlosseneren Hauptfront dieses Besiedlers hinter einem Vorfelde der ständigen Raumkämpfe von sehr rund 50 m Vertikalabstand. Von der Legföhrengrenze endlich zur ausklingenden Grasnarbe höher steigend sei abschließend bei dieser Betrachtung vegetativer Flächeneroberung noch einiger letzter Beobachtungen gedacht. Ersteigen wir den breiten Rücken, der zwischen dem westlichen und östlichen Rauhkarl gelegen ist, uns von Süden her dem Gipfel der westlichen Moserkarspitze nähernd, so treffen wir zunächst noch bei etwa 2375 m einige üppige Exemplare von Cirsium spinosissimum, der stacheligsten Kratzdistel an, deren Auftreten hier seltsam anmutet 2 ), doch die annähernd geschlossene Begrünung begleitet uns etwa noch bis 2400 m. Eine kümmerliche, offene Kurzgras-Besiedelung steigt sogar noch bis rund 2470 m hinauf; einige kleinste Gras- und Moospölsterchen haben sich bis auf den 2529 m hohen Gipfel selbst verirrt. Blicken wir vom Gipfel gegen NO auf das Gamsjoch, so gewahren wir, wie auch dessen 2455 m hoher Gipfel noch Graswuchs trägt. Ein Blick auf unsere Tabelle lehrt uns, daß wir es noch mehrfach mit ähnlichen Grenzwerten der Grasnarbe zu tun haben, man berücksichtige besonders T. I. 6e., 10. u. 20. Vorposten werden sogar noch bis zu äußerst 2600 m (T. I. 18. u. 20.) angetroffen. Die Höchstwerte finden sich durchwegs in freier Lage, der gegenüber, wie wir schon früher zu bemerken 1
) ') Über das Gipfelklima vergleiche meine Ausfuhrungen in der Ammergauer Abhandlung S. 58 und S. 92. 2 ) F. Vollmann, „Flora von Bayern." Stuttgart 1914. S. 769 gibt die alpine Verbreitung dieser Distelart für Bayern nur bis zu 2020 m an.
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h a t t e n , Muldenlagen stets z u r ü c k s t e h e n . Am wenigsten scharf treten diese Verhältnisse dort in Erscheinung, wo, wie e t w a auf den Rundhöckern des Großen ö d k a r s , die allgemeine U n g u n s t der Muldenlage durch örtliche Bodenaufragungen gemildert wird. Meist h a b e n wir es auch mit einem Hervortreten der höchstansteigenden G r a s n a r b e im Umkreise der höchsten G e s a m t a u f r a g u n g des Gebirges zu t u n . Besonders t r i t t in diesem Zusammenhange wieder die gleichartig, m a n m ö c h t e fast sagen im Sinne der Morphologie zu vorzeitiger, relativer Altersruhe gelangte Südflanke Speckkarspitze-Bettelwurf hervor, die wie f ü r den Legföhren- so auch für den Graswuche ein weiträumiges Gunstgebiet hochreichender Flächenbesiedelung ergab.
Aus den Schieferbergen. Es ist ein ganz anders geartetes Gebiet, das wir n u n m e h r kennen lernen wollen: Nicht mehr n a c k t e , h i m m e l a n s t a r r e n d e K a l k b a u t e n , an deren wenig einladendem Gerüste die Vegetationsdecke n u r da und dort in zähem K a m p f e bescheidenen R a u m sich zu gewinnen w u ß t e , herrschen vor, vielmehr ist der Beschauer e i n g e b e t t e t in eine H ö h e n u n d Täler fast ausnahmslos verhüllende grüne Decke schwellender M a t t e n . W o h l ragen da und dort Felsbildungen aus dem allgemein herrschenden G r ü n hervor, doch brechen diese dunkleren G i p f e l a u f b a u t e n gewissermaßen wie Ecken und K a n t e n eines verborgenen Skelettes, n u r ganz e n g r ä u m i g und bescheiden in den A u s m a ß e n , aus dem faltigen W i e s e n m a n t e l hervor, den letzteren etwas aufschlitzend, so d a ß er n u r noch in Fetzen und Streifen am Gesteinskerne dieser höchsten A u f r a g u n g e n angeschmiegt erscheint. Das Vorherrschen der Wiesenflächen in den Schieferbergen, den typischen Weidegebieten der Alpen, g e h t so weit, d a ß selbst der Wald, dieser Hauptbeherrscher der nördlichen Zone der Vorberge, d e m aber auch noch die Tallandschaften der hohen Kalkalpen weithin unterworfen sind, hier in den Schieferbergen großenteils s t a r k z u r ü c k t r i t t . Freilich einstmals, als der Mensch mit seinen Herden sich dieser Bergländer noch nicht als N ä h r r ä u m e bediente, war das W a l d a r e a l gewiß viel ausgedehnter als heute, doch auch damals waren Grasfluren t o n a n g e b e n d f ü r die Hochregionen. Heute noch k a n n man sehr wohl b e o b a c h t e n , wie der Wald vielfach in geraden scharfen Linien gegen das Weideland absetzt, wie ihm häufig bis h i n a b gegen die Talsohlen fast n u r f ü r die V i e h e r n ä h r u n g ungeeignete Areale überlassen bleiben, so Bachkerben m i t ihren steilen, rutschigen Flanken, Felsrippen mit magerer H u m u s a u f l a g e und H a n g p a r t i e n besonderer Steilheit. 1 ) Dabei ist zu b e o b a c h t e n , d a ß nicht selten auf Wiesenböden in der Nähe der Talsohle mit wenig geneigten Flächen eine Wald') Hier sei auf ein eben erschienenes, reich illustriertes Büchlein der Oberhummerschen Sammlung „Alpenlandschaften" Bd. I: „Die Kitzbühler Alpen", von Dr. Bettina Rinaldini, hingewiesen (Verlag Dr. Strohmer, Wien 1924). S. 56, im Abschnitt „Die Pflanzendecke", wird aufmerksam gemacht, daß das älteste Kulturland auf besser besonnten Terrassen nicht im Talgrund lag; des weiteren sei besonders auf die lehrreiche Abb. 26 die Beachtung gelenkt.
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stufe auf steilerem Hange höhenwärts folgt, die gegen oben abermals abgelöst wird durch ein bald tiefer bald weniger tief in den Waldgürtel hinabgreifendes Weideland. Letzteres großenteils auf ehemaligem Waldboden durch rodende Menschenhand angelegt, macht sich heute, mit zahlreichen Almhütten besetzt, auf minder steilem Gelände breit. In einem derartigen Gebiete starker menschlicher Beeinflussung der Naturlandschaft scheint zunächst eine zuverlässige Feststellung der klimatisch bedingten Grenzhöhe des Waldwuchses vielleicht wenig aussichtsvoll und doch glaube ich auch hier Grenzwerte gefunden zu haben, die von der menschlichen Fehlerquelle so gut wie unbeeinflußt blieben. Freilich in einem derartigen Gebiete ist doppelte Vorsicht geboten und lediglich eine Methode mit Aussicht auf Erfolg durchführbar, die jede Art von rechnerischer Mittelbildung ablehnt, da sonst klimatische und menschliche Einflüsse in dem Ergebnisse sich untrennbar überdecken. Lediglich Höchstwerte, die sich trotz aller menschlichen Eingriffe immer noch häufig genug dem achtsamen Beobachter darbieten, dürfen zur Festlegung des klimatischen Grenzwertes hochstämmigen Baumwuchses verwendet werden. Erst nach Festlegung dieses Richtwertes kann dann in eine genauere Würdigung der heutigen Verhältnisse an der oberen Baumgrenze eingetreten werden. Da wir bereits aus unseren Karwendeluntersuchungen wissen, daß die Fichte nicht so hoch zu steigen vermag wie die Arve, die in den Schieferbergen sich ebenfalls weiter Verbreitung erfreut, so ist die Festlegung der klimatischen Fichtengrenze für unsere Betrachtung die vordringlichste Aufgabe. Zu diesem Zwecke wurden wiederum tabellarische Zusammenstellungen gegeben, und zwar eine solche für unser Hauptbeobachtungsgebiet, das einigermaßen mit Blatt Rattenberg der österreichischen Spezialkarte 1:75000 zusammenfällt, und getrennt davon in Tabelle III eine solche, welche Vergleichsbeobachtungen aus den noch höher aufragenden, weiter westlich gelegenen Gebieten zur Darstellung bringt. Ähnlich unserer Anordnung im Hochkarwendel wurde auch bei diesen Angaben im allgemeinen eine Aufeinanderfolge in kombinierten Erhebungsreihen westöstlichen Verlaufes beibehalten. Die aufmerksame Betrachtung unserer zwei Tabellen (T. II. u. III.) ergibt zunächst für die Fichte folgendes: Mehrfach wurden Fichtenhochstämme über 1900 m beobachtet, und zwar durchaus nicht nur etwa in der, wie wir im Ammergau immer und immer wieder sahen, stark bevorzugten S- und SW-Lage. Die Angaben (T. II. 2, und mehr noch 3, doch auch 20 und noch ausgeprägter T. III. 15 u. 17) zeigen uns deutlich, daß für die hohen Schieferberge der klimatische Grenzwert der Vorberge (Ammergau und Schlierseer 1 )), der noch im Hochkarwendel eine gewisse Bestätigung fand mit seinen Werten von 1900 m (S) und 1800 m (N), keine Geltung mehr besitzt. Irgendein Ansteigen der Fichtenhochstammgrenzen von den Randgebieten gegen das Gebirgsinnere zu konnte ebenso*) Vgl. hierzu auch L. K o e g e l , „Geographische Wanderungen im Gebiete des Hinteren Sonnwendjoches." Alpenfreund 1924. Heft 2 und 3.
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wenig wie im Ammergau konstatiert werden, doch ist für die Entscheidung dieser Frage die Gesamtzahl beobachteter Fichtenhöchstwerte weitaus zu gering. Gerade die höchsten von uns beobachteten Werte (T. III. 17) von der Grüblspitze mit ihren 2050 m (N), die von Wetterfichten sogar nochmals um 25 m überboten werden, lassen stark vermuten, daß diese Baumart in Südexposition vermutlich noch etwas höher emporzusteigen vermöchte. Eine exakte Grenzzahl für den hochstämmigen Fichtenwuchs in den Schieferbergen anzugeben, wird sich also auf Grund unseres Materials nicht empfehlen, deuten doch verschiedentlich Kümmervorkommnisse (T. II. 2, 3, 19, 20, 22c, 25, und T. III. 11, 12, 14, 16) nachdrücklich auf eine recht hochgelegene Artgrenze hin. Von der klimatischen Grenzbestimmung der Fichte weiter zur Festlegung der oberen klimatischen Arvengrenze fortschreitend brauchen wir in unserem Gebiete nicht allzu ängstlich zwischen Hochstamm- und Zwerggrenze zu scheiden, ja selbst eine Betrachtung der höchsten Bestandesendigungen führt zu fast genau gleichern Ergebnis. Wir sehen daraus, wie dieser echt alpine Vorkämpfer bis an den Rand seines Lebensbezirkes noch über eine so gut wie ungebrochene Lebenskraft verfügt. Im Gegensatze zur Fichte ist es hier wohl angängig aus der weit größeren Zahl einschlägiger, gut übereinstimmender Beobachtungen (T. II. 14, 16a, 16b, und T. III. 3, 4, 9, 10, 13) eine brauchbare Allgemein-Grenzhöhe der Arve mit rund 2200 m abzuleiten, deren Gültigkeit auch noch durch Habitus-Beobachtungen weiter gestützt wird. Besonders lehrreich in dieser Beziehung ist ein Beispiel aus der Wilden Krimml (T. II. 16a), das uns das letzte Arvenstämmchen bei 2210 m (NO) vorführt mit seinem etwa 2 dm im Durchmesser betragenden Stamme bei kaum 3 m Höhe. Einer Windfahne vergleichbar sind nur gegen Ost Zweige entwickelt, während an der den Felsen zugewandten Westseite des Bäumchens nennenswerte Verzweigung überhaupt nicht zur Geltung kommt. Auffällig ist auch die auf Behinderung durch Winterschnee hindeutende Astverkrümmung der basalen Stammteile. Der Kronenschirm wurde also bei diesem jedenfalls schon sehr alten Exemplar wohl erst über der hier wohl nie sehr mächtigen Schneelage ausgebreitet. Da unsere Höchstvorkommnisse sowohl in S-, wie in W-, in N-, NOund O-Lage aufgefunden wurden, kann von einer ähnlich wie früher bei der Fichte stets beobachteten Bevorzugung südlicher und westlicher Expositionen bei den letzten Arven unseres Gebietes nicht gesprochen werden. Eine andere auffallende Erscheinung sei dagegen ausdrücklich hervorgehoben. Mehrfach stimmen die letzten Grenzbeobachtungen der Arve in bemerkenswerter Weise gut überein mit dem oberen Ausklingen des üppigen Alpenrosenwuchses, dafür mögen die Angaben (T. II. 16a, 19, und T. III. 7, 11, 13, 14) als Beleg dienen; auch bei diesen Grenzwerten tritt keine Auswahl der Expositionen hervor. Doch ein Blick auf unsere beiden Tabellen zeigt uns noch weitere Übereinstimmungen. Die in den Schieferbergen im allgemeinen seltene Legföhre endet einmal in typisch niederliegender Kampfform ( T . I I . 16a) ebenfalls bei 2200m, gemeinsam mit
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einigen Exemplaren von Juniperus nana , dem Zwergwacholder. Endlich zeigt unsere Tabelle (T. III. 3 u. 4) ähnliche Grenzhöhen der Grünerle. Meist handelt es sich zudem noch um eine Auswahl der gleichen oder doch sehr verwandter Standorte durch die Maximalwerte dieser verschiedenen Holzgewächse. Die angegebenen Pflanzen wurden bereits verschiedenen Ortes als „Waldzeugen" angesprochen, eine Feststellung, welche also trefflich mit unseren Beobachtungen aus den Schieferbergen harmoniert; im Ammergau 1 ) freilich glaubte ich seinerzeit der Auffassung von P. K. Hager in ihrer Ausdehnbarkeit auf das Vorberggebiet entgegentreten zu müssen. Schon in jener Arbeit hatte ich auf die möglichen Gründe aufmerksam gemacht, welche die Nichtanwendbarkeit von Hagers These auf die Ammergauer Verhältnisse vielleicht zu erklären vermöchten und von diesen Ausführungen habe ich auch nach Erforschung der Schieferberge nichts zu widerrufen. Einmal ist eben die gute Übereinstimmung der oberen Waldgrenze mit der Grenze des üppigen Alpenrosenwuchses nur dort vorhanden, wo die zähere Arve als Vorkämpfer des Waldwuchses auftritt, wie dies übereinstimmend für Hägers Bündner Land und unsere Schieferberge gilt; zum anderen haben wir es in diesen beiden Gebieten mit einer stark menschlich veränderten Berglandschaft zu tun. Auf derartige Gebiete nun paßt Hagers These restlos, für unser Ammergau, das allgemeiner als Vertreter der hohen Vorbergzone gelten kann, darf von einer solchen engen Beziehung zwischen dem Verbreitungsgebiete der Alpenrose und dem der hochstämmigen Fichte nach wie vor nicht gesprochen werden. Bei rund 2200 m fanden wir also die klimatische Höchstgrenze der Arve, die mit dem oberen Ausklingen des üppigen Alpenrosenwuchses, mit den letzten Grünerlen-Standorten, Legföhrenfeldern und Wacholderbüschen in unseren Schieferbergen gut zusammenstimmte. Bei der Zahl 2200 m erinnern wir uns an das in gleichen runden Höhen festgelegte letzte Auftreten der Legföhre in den hohen Karwendelketten, ein Umstand, der dieser Zahl erhöhte Bedeutung beizulegen scheint. Zunächst liegt es nahe, nochmals Hagers Arbeit zum Vergleiche beizuziehen; wir finden, daß von ihm die Haupt-Alpenrosengrenze (Rhododendron ferrugineum) mit großem Nachdrucke bei 2140 bis 2160 m angesetzt wird, eine Grenzhöhe, welche gleichzeitig für alle Expositionen gültig, nach Hager auch die ehemalige Waldgrenze angibt und die nur verhältnismäßig wenig hinter unseren 2200 m zurückbleibt. Wollten wir Grenzwerte für Koniferen, Alpenrosen, Grünerlen, wie sie bekannte Autoren im Lauterbrunnental-, Bernina-, Puschlav- und Hochgollinggebiet festgestellt haben, zum Vergleiche heranziehen, so würde uns die runde 2200 m-Grenze immer wieder entgegentreten. Da zudem Expositionsdifferenzen sich kaum erkennen lassen, könnte man an eine großklimatische Gesetzmäßigkeit denken, wenn auch nicht verschwiegen sein soll, daß aus besonders hohen Schweizergruppen, doch auch z. B. dem i
) Vgl. meine dortigen Ausführungen S. 72 bis 74.
D r y g a l s k l , Festgabe.
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