Ausgewählte Aufsätze: Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten Geburtstage von seinen Freunden und Schülern [Reprint 2020 ed.] 9783112317921, 9783112306659


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German Pages 469 [472] Year 1962

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Hochverehrter, lieber Herr Professor Herzfeld!
Inhalt
HISTORIOGRAPHIE
PERSÖNLICHKEITEN DER GESCHICHTE
FRAGEN DER GROSSEN POLITIK
HEERESPROBLEM
BERLIN
Bibliographie Hans Herzfeld
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Ausgewählte Aufsätze: Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten Geburtstage von seinen Freunden und Schülern [Reprint 2020 ed.]
 9783112317921, 9783112306659

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HANS HERZFELD • AUSGEWÄHLTE AUFSÄTZE

HANS

HERZFELD

Ausgewählte Aufsätze

Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten von seinen Freunden und

Geburtstage Schülern

1962

WALTER DE GRUYTER & CO. • BERLIN W 30 vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

Archiv-Nr. 4 1 5 7 6 2 / 1 © Copyright 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

• Printed in Germany • Alle Rechte des

Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise vorbehalten. — Satz und D r u c k : Franz Spiller, Berlin SO 36

Hochverehrter, lieber Herr Professor Herzfeld! Mit dieser Auswahl aus Ihren Aufsätzen möchten Freunde und Schüler Ihnen zum 70. Geburtstag ihre Verehrung und Dankbarkeit bezeugen. Die hier vereinigten Arbeiten, die als kleiner Ausschnitt aus der Fülle Ihres bisherigen Schaffens die ganze Breite und Farbigkeit Ihrer Palette nur anzudeuten vermögen, stellen nicht nur ein Stück Ihrer geistigen Biographie dar, sondern erlauben zugleich einen unmittelbaren Einblick in die Situation und die Probleme der deutschen Geschichtsforschung, mit deren innerem Leben in den Weimarer Jahren und der Zeit nach 1945 Sie unlöslich verbunden waren und sind. Es verstand sich deshalb von selbst, daß wir zur Bewahrung der Frische und des historischen Quellencharakters Ihrer so häufig aus dem Wurzelboden der eigenen Gegenwart gespeisten Arbeiten keinerlei sachliche Änderungen durch Streichungen oder Ergänzungen vorgenommen haben. Dabei wurde bewußt in Kauf genommen, daß einige der Aufsätze Ihren heutigen Standpunkt zu einer Frage nicht mehr korrekt widerspiegeln, haben doch gerade Sie immer wieder den Mut besessen, aus der Entwicklung der Forschung zu lernen, sich selbst zu korrigieren und sich zu dem Wandel Ihrer Auffassungen auch offen zu bekennen. Das einigende Band der hier abgedruckten Arbeiten ist das unbedingte Streben nach historischer Wahrheit, die Tiefe der Fragestellung, die Einordnung der behandelten Fragen in die historische Gesamtentwicklung, die Offenheit gegenüber neuen Anregungen, von welcher Seite auch immer, und vor allem die Ernsthaftigkeit des Ringens mit der eigenen Gegenwart, deren Probleme immer wieder Ihre historische Fragestellung bestimmen. Wir haben aus Ihren verschiedenen Hauptarbeitsbereichen eine Auswahl getroffen, wobei wir Arbeiten zur Historiographie - ein zentrales Thema Ihrer Forschungen - an den Anfang stellten. Die folgenden Arbeiten über Persönlichkeiten der Geschichte sind trotz ihrer weit auseinanderliegenden Entstehungszeit und der verschiedenen Lebenskreise der behandelten Gestalten durch das Interesse am Menschen, das Sie so häufig in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Form der Biographie wählen läßt, innerlich verbunden.

VI

Geleitwort

In dem dritten Teil über Fragen der Großen Politik haben wir einen typischen Aufsatz aus der Vielzahl Ihrer Arbeiten der Hallenser Schaffensperiode zur Vorgeschichte des Weltkrieges und zur Außenpolitik 1 8 7 1 - 1 9 1 4 sowie einige Arbeiten ausgewählt, in denen Sie in einer für Sie charakteristischen Weise, von der weitausholenden Erörterung historischer Probleme ausgehend, an die drängenden Fragen unserer Gegenwart heranführen. In diesen Aufsätzen wie in Ihrer die Forschung so stark befruchtenden Studie über das Problem des deutschen Heeres und Ihrer Darstellung der „Modernen Welt" wird besonders deutlich, wie die Vereinigung von „offener Revisionsbereitschaft gegenüber einer krisenhaften Gegenwart" mit „entschiedener Verwurzelung im Erdreich gewachsener Geschichte", die Sie an N ä f s „Epochen der neueren Geschichte" hervorhoben ( H Z 174, S. 587), auch Ihre eigenen Arbeiten auszeichnet. An den Schluß des Bandes haben wir einige Ihrer jüngeren Aufsätze zur Berliner Geschichte gestellt, in denen sich Ihre engen Beziehungen zu Ihrer heutigen Wirkungsstätte, Ihr seit der Beschäftigung mit dem ersten Band des Miquel nie wieder abreißendes Interesse für die Kommunalwissenschaften und Ihre intensive kritische Anteilnahme an den bewegenden politischen Problemen der Zeit nach 1945 widerspiegeln. Der Kenner Ihrer Arbeiten wird besonders die in der Zeit Ihrer Freiburger Professur für westeuropäische Geschichte entstandenen Untersuchungen über Probleme der Geschichte außerdeutscher Länder vermissen, die wegen der Beschränkung des zur Verfügung stehenden Raumes nicht aufgenommen werden konnten, obwohl sie die Weite Ihrer Interessen und Ihres Arbeitsfeldes sowie die Fülle der von Ihren Forschungen ausgehenden Anregungen besonders deutlich gemacht hätten. Wir sind jedoch besonders glücklich, daß wir in diesem Band zwei neue Aufsätze abdrucken können: Eine Skizze über Friedrich Meinecke als Politiker und Mensch, die auf seinem soeben erschienenen Briefwechsel beruht, und einen Versuch, die Diskussion über die Frage des deutschen Militarismus durch den Vergleich mit ausländischen Verhältnissen auf eine neue Ebene zu heben. Wir haben lange geschwankt, ob wir das hier vorliegende, so ausführliche Verzeichnis Ihrer Schriften, Aufsätze, Rezensionen etc. oder nur eine Auswahlbibliographie Ihrer wichtigsten Arbeiten veröffentlichen sollten. Wir waren uns darüber klar, daß Sie den Drude einer vollständigen Bibliographie nie zugelassen hätten, da es Ihnen in Ihrer Bescheidenheit zutiefst zuwider gewesen wäre, so viel Aufhebens von sich selbst zu machen.

Geleitwort

VII

Neben dem Unbehagen, das wohl jeder Historiker angesichts von Auszügen und Kürzungen empfindet, schienen uns noch weitere schwerwiegende sachliche Erwägungen für die Veröffentlichung der von Werner Schochow in eigener Verantwortung bearbeiteten Bibliographie zu sprechen. Ihre Rezensionen waren ja nie ein Nebenprodukt Ihrer wissenschaftlichen Arbeit, sondern waren vielmehr ein Ausdruck jener wachen kritischen Beobachtung und Förderung der Forschung auf Ihren Arbeitsgebieten, die seit Ihren ersten Besprechungen in der Deutschen Literaturzeitung und der Historischen Zeitschrift sowie Ihren regelmäßigen Literaturübersiditen für den Zeitraum 1890-1919 in den Jahresberichten einen wesentlichen Bestandteil Ihrer Arbeiten ausmacht. Die souveräne Beherrschung Ihres Faches, von der die in kürzester Zeit verfaßte „Moderne Welt" ein eindrucksvolles Zeugnis ablegt, beruht nicht zuletzt auf dieser umfassenden und intensiven Rezensionstätigkeit und Ihrer Praxis, unabhängig von den jeweils vorliegenden eigenen Forsdiungsprojekten die gesamte wichtige Literatur auf Ihrem Lehrgebiet und dessen Randgebieten zu verarbeiten. Als Sie am 1 . 5 . 1 9 5 0 auf Wunsch von Friedrich Meinecke auf das Ordinariat für Neuere Geschichte an der Freien Universität berufen wurden, lagen hinter Ihnen die Jahre des seit 1938 erzwungenen Schweigens, der Verfolgung und der im Vergleich zu Ihrer späteren Berliner Arbeit beschaulichen Freiburger Lehrtätigkeit nach 1946, die in der liebevollen, behutsamen Skizze Ihres Lebensweges von Carl Hinrichs nachgezeichnet wurden 1 . Uns allen will es oft so erscheinen, als ob nun in diesem 1950 einsetzenden neuen Lebensabschnitt, in dem Sie noch mitten drinstehen, die in der erzwungenen Muße aufgespeicherte Arbeitskraft und der gestaute Gestaltungsdrang Ihrer so lebensvollen Persönlichkeit zur Entladung drängte. Die entscheidende Mitwirkung am Aufbau des FriedridiMeinecke-Institutes und auch der Freien Universität, die schöpferische Initiative in Fragen der Universitätsreform, die Schaffung eines Institutes für Berliner Zeitgeschichte, die Wirksamkeit als Vorsitzender der Berliner Historischen Kommission, die aktive Beteiligung an der Entwicklung und Arbeit der Berliner Lehr- und Forschungsinstitute für politische Wissenschaften, die Förderung der Kommunalwissenschaften, die Mitarbeit an den internationalen Vereinbarungen über die Gestaltung von Schulbüchern, 1

Zwei Berliner Historiker. In: Jahrbuch für die Gesdiidite Mittel- u. Ostdeutsch-

lands 6 (1957), S. 1 ff.

VIII

Geleitwort

die tätige Mitgliedschaft in einer Reihe weiterer wissenschaftlicher Institutionen und Ihre nie abreißende Vortragsarbeit sind ein Ausdruck dieser erstaunlichen und bewundernswerten Aktivität. Trotzdem aber sind Sie nicht im Managertum aufgegangen, sondern haben in der oft über den wissenschaftlichen Bereich hinausgehenden Beratung und Förderung Ihrer Studenten den Kern Ihrer Lebensaufgabe gesehen. Das Geheimnis Ihres so großen Erfolges als akademischer Lehrer, von dem das Verzeichnis Ihrer Schüler zeugt, liegt nicht darin, daß Sie versucht hätten, Ihre Studenten suggestiv in Ihren Bann zu ziehen. Es beruht auch nicht darauf, daß Sie die Aufarbeitung des Quellenmaterials zu einem Sie interessierenden größeren Forschungsproblem in Form von Einzeluntersuchungen an Ihre Schüler mit einer genauen wissenschaftlichen Marschroute weitergegeben hätten. Ein derartiges Schülerverhältnis, das das geistige Gespräch in kritikloser Anbetung erstarren ließe oder in dem das nackte Forschungsergebnis und der Doktortitel das einzige Resultat der jahrelangen Arbeit eines Doktoranden gewesen wären, hätte zu Ihrer Auffassung von der pädagogischen Pflicht eines Hochschullehrers in unüberbrückbarem Widerspruch gestanden. Es ist daher auch kein Zufall, daß Sie zwar eine große Anzahl von Schülern haben, deren Arbeiten schon in der Themenstellung Ihre Anregungen oft deutlich widerspiegeln, daß Sie aber eine Schule im engeren Sinne, in der die Handschrift des Meisters nachgeahmt wird, nicht begründet haben. Ihre vornehmste Aufgabe sahen Sie vielmehr in der Entwicklung der Individualität und der Selbständigkeit Ihrer Schüler. Indem Sie zu neuen Ideen und Fragestellungen ermutigten, die tastenden und oft verschütteten eigenen Ansätze Ihrer Studenten geduldig und behutsam zu klären und freizulegen versuchten und sie an einem langen, kaum noch spürbaren Leitseil führten, wobei Sie Irrwege und Umwege als das Lehrgeld eines Anfängers bewußt in K a u f nahmen, haben Sie geholfen, daß sich Ihre Schüler wissenschaftlich freischwammen. Man kann auch nicht von Ihnen als einem akademischen Lehrer sprechen, ohne Ihre souveräne, auf Ihrer absoluten inneren Sicherheit beruhende Toleranz zu erwähnen, die Sie immer -wieder dazu führt, sich gerade über die von Ihren eigenen Auffassungen abweichenden, aber begründeten Meinungen Ihrer Schüler als ein Zeichen der geistigen Selbständigkeit zu freuen. Wenn Sie daher vor wenigen Monaten auf einem Treffen ehemaliger Tutoren des Friedrich - Meinecke - Institutes von der „lebendigen Ren-

Geleitwort

IX

dite" Ihrer Schüler sprachen, die Ihnen im Innersten viel mehr Befriedigung gäbe als der Ertrag Ihrer Forschungen, so lag in dieser für Sie so kennzeichnenden Formulierung, in der überströmende menschliche Wärme durch einen dem Wirtschaftsleben entnommenen Begriff mühsam zurückgedrängt wird, Ihre Freude an der Bildung der Persönlichkeit, aber auch Ihr Glaube an das ungebrochene innere Leben unserer so alten, aber doch immer neu erregenden Wissenschaft. Ihre Freunde und Schüler, in deren Kreis die Idee zu der Aufsatzsammlung entstanden ist und die freudig die bei der Drucklegung anfallenden Arbeiten übernommen haben, verbinden mit den besten Wünschen für weitere fruchtbare Arbeit die Hoffnung auf eine lange Fortdauer jenes zur Berliner Tradition gehörenden wissenschaftlichen Gesprächs, aus dem Sie nicht fortzudenken sind. Gerhard A. Ritter

Inhalt HISTORIOGRAPHIE Politik und Geschichte bei Leopold Ranke im Zeitraum von 1848—1871

j

Friedridi Meinecke. D e r Historiker, der Politiker und der Mensch nach seinem Briefwechsel

26

Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit

49

PERSÖNLICHKEITEN

DER

GESCHICHTE

Alfred Graf Waldersee und Fürst Philipp Eulenburg. Zum Problem des persönlichen Regiments

71

Paul Lensch. Eine Entwicklung vom Marxisten zum nationalen Sozialisten

87

Johannes Popitz. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Beamtentums FRAGEN DER GROSSEN

139

POLITIK

Bismarck und die Skobelewepisode

165

Deutschland und Europa im Zeitalter beider Weltkriege

189

Mensdienrecht und Staatsgrenze in Zwischeneuropa

216

HEERESPROBLEM Das Problem des deutschen Heeres, 1 9 1 9 — 1 9 4 5

231

Politik, Heer und Rüstung in der Zwischenkriegszeit. Ein Versuch

255

BERLIN Berlin als Kaiserstadt und Reichshauptstadt, 1 8 7 1 — 1 9 4 5

281

Berlin und das Berlinproblem vom Zusammenbruch bis zu den Stadtverordnetenwahlen des 20. Oktober 1946 314 Die Entscheidungsjahre der Berliner Nachkriegsgeschichte, 1946—1948

356

Bibliographie Hans Herzfeld (bearbeitet von Werner Schochow)

417

HISTORIOGRAPHIE

Politik und Geschichte bei Leopold von Ranke im Zeitraum von 1848—1871* Die „Fälschung des deutschen Geschichtsbildes im Hitlerreidi" 1 hat dahin geführt, daß der „Hunger nach reiner Kost, nach echter Wahrheit, unverfälscht durch Vorurteile von rechts oder links", heute größer geworden ist, denn je. Eine Episode leidenschaftlich politisierter Geschichte, die die Fruchtbarkeit historischer Arbeit nur nach dem Ertrage für die unmittelbaren Gegenwartszwecke von Staat und Nation bemessen wollte, hat aber auch die Skepsis gegen die Möglichkeit sinnvoller Verbindung zwischen Geschichte und Leben, den Zweifel gegen die Fruchtbarkeit geschichtlicher Arbeit heute in Deutschland — zum mindesten unter der Oberfläche der hierin allzu leicht täuschenden literarischen Diskussion — unendlich gesteigert. Das Verhältnis der Gegenwart zu dem Wert geschichtlicher Arbeit hat sich dadurch eigentümlich genug gestaltet. Nach den Enttäuschungen der jüngsten Zeit wird auf der einen Seite jede willkürliche Politisierung der Geschichte mit größter Strenge verdammt und unbedingte Rückkehr zu der großen Überlieferung objektiver Gesdiichtswissenschaft gefordert; auf der anderen Seite ist der Drang nach Belehrung aus der Vergangenheit, nach der Verwertung geschichtlicher Erkenntnis als politisches Erziehungsmittel kaum jemals lebhafter gewesen, als in diesem Augenblick, in dem alles Bestehende von völligem Zusammenbruch bedroht ist. Ablehnung politischer Geschichte in negativem Sinne und Drang nach politisch geschichtlicher Bildung haben vielleicht niemals dichter beieinander gestanden; die Gefahr des Umschlages in eine beispiellos radikale Skepsis, wenn diese Erwartungen von neuem enttäuscht werden, belastet das Thema des Verhältnisses von Geschichte und Politik mit einem schicksalsschweren, verantwortungsvollen Ernst, wie er dem Historiker kaum jemals auferlegt worden ist. Es ist begreiflidi und in gewissem Umfang auch zweifellos richtig, wenn in dieser Lage die Rückkehr zu Leopold von Ranke als dem klassischen * Zuerst erschienen in: Festsdir. f. Gerhard Ritter. Zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. v. Richard Nürnberger. Tübingen: Mohr 1950, S. 322—341. 1

Gerhard Ritter: Deutsche Rundschau 70, April 1947, S. 11—20.

4

Historiographie

Muster objektiver Geschichtsauffassung proklamiert worden ist. In diesem Sinne hat sich auch Eberhard Kessel 2 scharf gegen die gewendet, die die Möglichkeit objektiver Geschichtsschreibung überhaupt bestreiten. Er hat Einspruch dagegen erhoben, wenn man auch Rankes Werke aus den „Einflüssen seiner Zeit und seiner persönlichen Stellung" habe ableiten wollen. Er lehnt es ab, daß man etwa zwischen Ranke und den großen politischen Historikern des 19. Jahrhunderts nur einen Unterschied des „verschiedenen Grades" solcher Abhängigkeiten zugegeben hat. Ranke ist ihm gerade darum ein Höhepunkt des historischen Denkens, des „Historismus" in einem positiven und umfassenden Sinne, weil seine Geschichtsschreibung, die den Staat zum Mittelpunkt hat, objektive Erkenntnis seiner beherrschenden Rolle im Leben der menschlichen Gemeinschaften bedeute. Es ist nun aber doch die Frage, ob mit einer solchen radikalen Grenzziehung zwischen objektiver und politischer Geschichtsschreibung wirklich der Klärung des Problems und dem tieferen Verständnis Rankes gedient ist, so verlockend es im Augenblick auch als Ausweg aus der Not unserer Tage erscheinen könnte, sich einfach an das Vorbild unseres größten historischen Klassikers zu halten. Ist das Verhältnis von Geschichte und Leben, wissenschaftlicher Erkenntnis der Vergangenheit und persönlicher Verflechtung mit der eigenen Gegenwart bei Ranke wirklich so einfach, wie es scheinen möchte, wenn man diese Grenzlinie gegen den politischen Historiker so schroff wie möglich zieht? Ist nicht auch die Geschichtsschreibung Rankes — ganz abgesehen von den großen allgemeinen Epochenbedingtheiten, wie sie etwa schon Gerh. Masur als Grundlage und Schranke seiner Weltgeschichte nachwies—nicht doch viel feiner, durch sehr viel dichtere und gedrängtere Fäden mit den Voraussetzungen seines Daseins und seines Zeiterlebnisses verflochten, als es hiernach erscheint? Man wird diese Frage auf jeden Fall nicht ohne wirklich eindringliche Prüfung des Verhältnisses von Erlebnis und Werk bei Ranke entscheiden können, wie das am häufigsten und eingehendsten bisher für die unendlich fruchtbare Zeit seiner Frühentwicklung — etwa bis zum Erscheinen der Reformationsgeschichte (1839) —angestrebt worden ist, während man sich für die Zeit seiner Reife, von etwa 1840—1870, und die Altersepoche nach 1871 meist mit verhältnismäßig skizzenhaften Andeutungen und Teilversuchen einer Lösung begnügt hat. 2

Eberhard Kessel: Rankes Geschichtsauffassung. Universitas 2, 1 9 4 7 , S . 91 j ff.

Politik und Geschichte bei Ranke,

1848—1S71

5

Das hing zum Teil auch damit zusammen, daß unsere Kenntnis der Biographie Rankes nicht so erschöpfend ist, wie man meinen sollte. Als Dove 1890 in Band 53/54 der Gesammelten Werke seine schöne Auswahl von Briefen Rankes erscheinen ließ, glaubte er, es als ein Verdienst in Anspruch nehmen zu können, daß damit „eine sogenannte Biographie" des großen Historikers für immer unnötig gemacht worden sei. Das war ein Irrtum. Aber der Wunsch, daß die Münchener Akademie-Ausgabe der Werke Rankes uns eine abschließende Sammlung seiner Briefe schenken würde, ist ebenso wie die erhoffte kritische Gesamtausgabe in der Ungunst der Zeiten bisher tragisch und lautlos versunken. Wenn hier der Versuch gemacht werden soll, dem Problem für die mittlere Epoche im Leben Rankes näher zu treten, so wurde der Anstoß dafür nicht nur durch die Problemlage der Gegenwart, sondern in hohem Maße auch durch das Verdienst eines Verstorbenen gegeben. Der durch seine Studien über Ranke und die Französische Revolution, Rankes Berufung nach München und das Schicksal der Rankebibliothek als gewissenhafter und liebevoller Rankeforscher bekannte Bernhard Hoeft hat in unermüdlicher Arbeit durch über anderthalb Jahrzehnte alles gesammelt, was privater Fleiß und private, aufopferungsbereite Initiative von dem unendlich, zerstreuten Material des Rankeschen Briefwechsels wohl überhaupt noch erreichen konnte. Im jüngsten Weltkrieg schon einmal durch den Verlag von Hoffmann & Campe in Hamburg gesetzt, aber durch Kriegseinwirkung bis auf wenige Exemplare zerstört, wird dies Vermächtnis des greisen Privatgelehrten, der unmittelbar nach Kriegsende verstorben ist, in hoffentlich kurzer Zeit als stattlicher Band von annähernd 800 Seiten der Öffentlichkeit vorgelegt werden können3 und es nach dem Urteil des Verfassers möglich machen, das Liniennetz der Biographie Rankes sehr viel feiner und dichter zu ziehen, als es bisher mit Hilfe der Doveschen Sammlung und der zahlreichen verstreut neben ihr stehenden Einzelpublikationen aus Rankes Briefwechsel möglich war. Damit wird es aber auch möglich werden, an vielen Stellen den Zusammenhang zwischen Leben und Werk Rankes, dem Verhältnis von Politik und Geschichte bei ihm eingehender nachzugehen als dies bisher erreicht werden konnte. 3

Inzwischen erschienen u. d. T . : Leopold v. R a n k e : Neue Briefe. Ges. u. bearb. von Bernhard Hoeft. Nach seinem T o d hrsg. v . Hans H e r z f e l d . Hamburg 1949. Der Verfasser hat dem Verlag von H o f f m a n n & Campe an dieser Stelle f ü r das Entgegenkommen zu danken, mit dem ihm gestattet wurde, sich f ü r die Durchführung dieser Untersuchung bereits dieses Materials zu bedienen. 2 Herzfeld

Historiographie

6

Gerade die Epoche des Rankeschen Lebenswerkes zwischen der Revolution des Jahres 1848 und der Bismarckschen Reichsgründung von 1871 — literarisch bereits beginnend mit dem Erscheinen der „Neun Bücher Preußischer Geschichte" im Jahre 1847; abschließend 1871 mit der Abhandlung über „Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792" - steht zunächst ganz unter dem Vorzeichen strenger Objektivitätsforderung, zu der sich einleitend jedes ihrer großen Hauptwerke bekennt. Die preußische Geschichte will die Ereignisse einer Epoche, „die nun schon ein Jahrhundert hinter uns liegen, unbekümmert um die Neigungen oder Abneigungen des Tages, zu soviel möglich objektiver Anschauung vergegenwärtigen", die französische Geschichte „jenseits der gegenseitigen Anklagen der Zeitgenossen und der oft beschränkten Auffassung späterer durch ursprüngliche und zuverlässige Kunde zur Anschauung des Objektiven der großen Tatsachen" gelangen. Die Einleitung zum 5. Buch seiner englischen Geschichte wiederholt mit fast noch gesteigerter Schärfe frühere Formulierungen, wenn Ranke den Wunsch ausspricht, sein „Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen." Es hängt unverkennbar mit diesem Willen zu strenger Objektivität, zur Distanzierung von verwirrenden Einflüssen der eigenen Zeit zusammen, wenn es Ranke ablehnte, mit der politisch-nationalen Geschichtsschreibung dieser Länder in Wettbewerb zu treten und sie als Teil der universalen Geschichte, als Beleuchtung der universalen Verflechtung im Werdegang der germanisch-romanischen Völkerfamilie Europas behandelt. „Sie wissen, daß ich das alles nicht als Geschichte von Frankreich, oder von England, sondern als die allgemeine europäische, als die Weltgeschichte studiere, in welcher eine Epoche an die andere schließt4." Er ist sich seiner grundlegenden Richtung auf universale, objektive Geschichte jetzt in vollem Umfange bewußt geworden und lehnt daher5 den Fortschrittsbegriff, der den liberalen Optimismus seiner Zeitgenossen beherrschte, als metaphysisch unhaltbar und historisch nicht nachzuweisen ab: er sei unzutreffend für die Entwicklung des Geistes in Kunst und Poesie und höchstens gültig für das Gebiet des materiellen, technischen Fortschrittes und für die Entwicklung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. In den „Epochen der Neueren Geschichte" stellt er diesem Fortschrittsbegriff den berühmten Satz entgegen, daß jede Epoche un4

A n E d w i n v . Manteuffel, 3 1 . 5. 1 8 6 5 ; Hoeft, S . 4 4 3 .

5

Epochen der Neueren Geschichte, 1 8 5 4 , Weltgeschichte, B d . 9, 1 8 8 8 .

Politik

und Geschichte bei Ranke,

1848—1871

7

mittelbar zu Gott sei, daß ihr Wert gar nicht auf dem beruhe, was sie hervorbringe, sondern in ihrer Existenz selbst, in dem die Forderung nach objektivem Verständnis der Vergangenheit aus ihren eigenen Voraussetzungen ihre letzte entscheidende Rechtfertigung erfährt. D a s subjektive Element ist ihm die Gefahr für den Historiker. Aber nun zeigt sich doch, wie bedenklich von Ranke selbst her gesehen eine dogmatisch starre Auffassung des Objektivitätsgedankens sein muß, der in diesem Falle nur allzuoft durch offensichtliche Unhaltbarkeit in Verruf gebracht ist. Ranke selbst sieht in ihm zwar ein kritisches Ideal, aber ein Ideal — darüber ist auch er sich vollkommen klar —, das stets A u f g a b e bleibt, niemals restlos erfüllbar ist. Er stellt die Forderung der Objektivität mit solcher Strenge auf, weil die persönliche Beschränkung des ausführenden Historikers doch unvermeidlich ist. „ D a s Subjektive gibt sich von selbst." „ D a s Ideal historischer Bildung würde darin liegen, daß das Subjekt sich rein zum Organ des Objekts, nämlich der Wissenschaft selbst machen könnte, ohne durch die natürlichen oder zufälligen Schranken des menschlichen Daseins daran gehindert zu werden, die volle Wahrheit zu erkennen und darzustellen 8 ." D a s von ihm aufgestellte Objektivitätsideal ist also eine ideale kritische Grenzforderung, die, wie Ranke selbst am besten wußte und stets wieder betonte, niemals restlos erfüllt werden kann. Gerade wo Geschichte und Gegenwart sich berühren, sieht er die schwersten Gefahrenquellen für die Unbefangenheit der Erkenntnis liegen. In Fragen der Gegenwart sei überhaupt stets nur ein subjektives Urteil möglich. Rankes Urteil über den Historiker als Gestalter der eigenen Zeit ist denn auch überaus zurückhaltend und kritisch gewesen. Die Analyse von Burnets „Geschichte seiner eigenen Zeit" läßt ihn bemerken, daß der Wunsch und Anspruch, nur die volle Wahrheit zu geben, ihn nicht vor einer Flut der Kritik geschützt habe, die dies bestritten hat. „Wie könnte auch jemand, der die Geschichte seiner Zeit schreiben will, diesem Vorwurf entgehen? Es ist das weitaussehendste, ehrgeizigste, aber für die eigene Reputation gefährlichste Unternehmen, an das ein Autor, dem es um die Wahrheit zu tun ist, sich wagen kann 7 ." So kann er gelegentlich fast mißtrauisch gegen sich selbst werden, wenn er zu spüren glaubt, daß Stimmungen der Gegenwart Einfluß auf die Interpretation der Vergangenheit gewinnen: Er hebt hervor, daß die Gegenwart — in der Beur-

z*

6

S . W . B d . 53/54, S . 4 0 4 f .

7

Englische Geschichte, Bd. 7, S. I J J

(Analekten).

Historiographie

8

teilung der Ursachen der Bartholomäusnacht — stärker geneigt ist, auf unbewußte große Zeitströmungen zurückzugreifen, als die Zeitgenossen im Jahrhundert Machiavellis, die überall nur Absicht und bewußte Leitung sahen. „Es ist der Tribut, den wir unserem Jahrhundert zollen, wo die populären Bewegungen so oft die Oberhand behalten haben 8 ." „Interessen der Gegenwart in die historische Arbeit hineinzutragen, hat gewöhnlich die Folge, deren freie Vollziehung zu beeinträchtigen 9 "; Ranke glaubte, nur durch strengste Selbstzucht des Forschers erreichen zu können, daß diese Gefahr auf das mögliche Mindestmaß beschränkt bleibt und der Historiker seine Aufgabe erfüllen kann, „das Vergangene wie ein Gegenwärtiges, gleichsam mit den Augen zu sehen". „Ich stelle da ein Ideal auf, von dem man sagen kann, es sei nicht zu realisieren. So verhält es sich nun einmal. Die Idee ist unerläßlich, die Leistung ihrer Natur nach beschränkt. Glücklich, wenn man den rechten Weg einschlug und zu einem Resultat gelangte, das vor der weiteren Forschung und Kritik bestehen kann 1 0 ." Aber es ist nun doch nicht so, daß Ranke die Berührung von Leben und Gegenwart mit Vergangenheit und Geschichte nur als Gefahr und Klippe angesehen hätte und vor ihr zurückgeschreckt wäre. Er würde damit in der Tat nicht unwesentliche Teile der eigenen Lebensarbeit verleugnet haben. Er hat den Gegensatz zwischen Geschichte und Politik, Historiker und handelndem Staatsmann gelegentlich schroff betont—„Der Historiker kann niemals zugleich praktischer Politiker sein." „Die Historie ist bloß instruktiv, die Politik maßgebend und durchgreifend." Er gelangte selbst zu Formulierungen, nach denen der Historiker ein Priester der Vergangenheit sei, der sich von der Gegenwart abwenden müsse. Aber er selbst hat doch in seiner Jugend die Geschichte der Serbischen Revolution geschrieben, die unmittelbar aus der frischen Erinnerung von Mitlebenden als historischer Quelle schöpfte; er hat als Herausgeber der Historisch-Politischen Zeitschrift und als Verfasser der Denkschriften an Manteuffel, als eifriger Korrespondent mit diesem während der langen militärisch-politischen Laufbahn des Generals, als Herausgeber der Korrespondenz Friedrich Wilhelm I V . und Verteidiger seines geschichtlichen Andenkens, er hat noch im hohen Alter durch die Neubearbeitung seiner Schrift über die Serbische Revolution, die er nun vollends als Teil des 8

Französische Geschichte, B d . j , S . 1 5 0 .

9

Englische Geschichte, B d . 1, S. X I .

10

Englische Geschichte, B d . 7 , S. 3 f .

Politik und Geschichte bei Ranke,

1848—1871

9

weltgeschichtlichen Kampfes von Orient und Okzident und als Glied des beispiellosen Aufstieges der europäischen Völkerfamilie zu ihrer modernen Weltherrschaft behandelte, sich immer wieder vor der Berührung mit dem Grenzgebiet von Vergangenheit und Erlebnis der eigenen Zeit, von Geschichte und Politik nicht gescheut. Er konnte doch auch den Satz niederschreiben: „Wie würde man sie (die Geschichte) ohne den Impuls der Gegenwart überhaupt studieren 11 ?" In seinem Briefwechsel begegnen wir denn audi stets von neuem Formulierungen von stärkster Eindringlichkeit, die unverkennbar die Wechselwirkung zwischen dem persönlichen Erleben und der Entwicklung seiner historiobiographischen Anschauungen zeigen. Die langsame Abwendung schon der Frankfurter Jahre von dem vorhergehenden Stadium seiner Annäherung an die politische Bewegung von Burschenschaft und Turnbewegung, die der nationalen und romantischen Gärung der deutschen Jugend in den Jahren nach 1815 entsprungen war, findet unter dem Eindruck der politischen Schwierigkeiten, die seinen beiden Lieblingsbrüdern Heinrich und Ferdinand durch die ängstliche Demagogenscheu der preußischen Unterrichtsverwaltung bereitet wurden, 1824 tief erregten Ausdruck in den Worten: „Ich wollte, Revolution, was man Demagogie nennt, etc. hätte nie existiert, daß wir nicht alle von einer Verwirrung leiden müßten, an der wir nicht schuld sind, und die uns nichts angeht 12 ." 1832 erfüllte ihn ein Besuch in Wiehe mit dem tiefen Empfinden, daß seine konservative Wendung, die sich in diesen Jahren vollzog, bereits in den Eindrücken von Jugend und Heimat verwurzelt sei: „Wir sind ein weimarisches Geschlecht. Mächtiger als die Gewalt wirkt unsre natürliche Hingebung gegen die Obern, von denen wir abhangen 13 ." In Wissenschaft und Leben sieht er sich mit den Brüdern in einer gemeinsamen Front gegen die revolutionären Möglichkeiten der Zeit stehen: „Wir sind alle der Destruktion von Natur abgeneigt und wollen das Erhaltene auf Erkenntnis des Vorhandenen, Einsicht in dessen Wesen gründen 14 ." Seit der Krise der Julirevolution nahm er mit Entschiedenheit in dem konservativen Lager der Verteidiger des Bestehenden Stellung: „Ich gehörte nun meiner persönlichen Stellung nach dem System an, welches noch 11

Weltgeschichte, Bd. 9, 1888.

12

An Heinrich Ranke, 30. 6. 1824; Hoeft, S. 49.

13

A n dens., 12. 10. 1832; Hoeft, S. 173. „Weimarisches Geschlecht" Lesart von Bernhard Hoeft; Prof. W. P. Fuchs, Heidelberg: Lesart „monarchisches Geschlecht". 14

An Ferdinand Ranke, 9. 8. 1838; Hoeft, S. 259.

Historiographie

10

im Besitze der Gewalt w a r 1 5 . " Er konnte das als schweren Druck empfinden: „Ich habe das traurige Los, mich mit der öffentlichen Meinung in ziemlich entschiedener Opposition zu erblicken 16 ." J e näher die große revolutionäre Erschütterung der Jahrhundertmitte heranrückte, desto schärfer lastete die Empfindung auf ihm, daß er abseits von den großen vorwärtsdringenden Impulsen der eigenen Zeit zu stehen drohe. Gleichzeitig mit der Herausgabe der Neun Bücher Preußischer Geschichte erlebte er 1847 den Zusammentritt der ersten allgemeinen preußischen Ständevertretung im Allgemeinen Landtag, den er nur als „unvermeidbares Ü b e l 1 7 " anzusehen vermochte. E r war darauf gefaßt, für dieses Werk nicht „auf den Händen getragen", sondern „recht tüchtig angegriffen zu werden". „Leider verfolgt mich auch hier das Schicksal, einer widrigen Petulanz zur Zielscheibe dienen zu müssen 18 ." Diese innere Entfremdung von Zeitideen und Zeitgenossen beginnt in den 40er Jahren der ganzen A r t seiner Geschichtsschreibung ihren Stempel aufzudrücken, die nun endgültig Staat und Außenpolitik als Kern und Grundlage der Geschichte in der universalhistorischen Verflechtung jeder Einzelentwicklung betont. Der Staat, dem er selbst dient, ist ihm in den Neun Büchern Preußischer Geschichte noch immer der norddeutsche Staat des Protestantismus, die Reformationsgeschichte der „erste Teil einer Preußischen Geschichte", die Toleranzidee Friedrich I I . eine innere Fortentwicklung der reformatorischen Grundidee von der Unabhängigkeit der persönlichen Beziehung des Menschen zu Gott. Aber wenn er hierin mit dem Denken seiner liberalen Zeitgenossen noch übereinstimmt, stellt er doch, sich von ihnen trennend und sie herausfordernd, in den Vordergrund, daß der Staat Preußen vor allem europäische Macht, der Aufstieg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit im Kreise der großen Mächte der ihm wichtigste Inhalt seiner Geschichte sei. „Zwischen Staat und Macht ist an sich kein Unterschied, denn die Idee des Staates entspringt aus dem Gedanken einer Selbständigkeit, welche ohne entsprechende Macht nicht behauptet werden kann." Der Augenblick, in dem Friedrich I I . seinem dynastisch-militärischen Staate eine zugleich deutsche und europäische Selbständigkeit erkämpfte, ist der Zielpunkt, auf den die Ökonomie des ganzen Werkes ausgerichtet ist. 15

S. W. Bd. 53/54, S. 65.

18

A n Heinrich Ranke, 4. 10. 1833. S. W . Bd. 53/54, S. 243 ff.

17

A n dens., 22. 4. 1 8 4 7 ; Hoeft, S. 323.

18

A n dens., Januar 1848; Hoeft, S. 327 f.

Politik und Geschichte bei Ranke,

1848—1871

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Ranke wollte damit im Gegensatz zu der von ihm seit langem kritisierten Unzulänglichkeit seiner Vorgänger eine Leistung objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis vollbringen. Schon 1824 hatte er in einem Gesuch um Benutzung der Berliner Akten aus der Zeit Joachims I. von seiner Hoffnung gesprochen, mit dieser Arbeit nicht nur der Reformationsgeschichte, sondern auch der Geschichte des preußischen Staates zu dienen: „Vielleicht ließe sich auf diesem Weg der so dürftig bearbeiteten brandenburgischen Historie einigermaßen zu Hilfe kommen 19 ." Er beabsichtigte, unbeeinflußt von Zeitstimmungen „die Wahrheit ohne Rücksicht zu sagen, urkundliche und verstandene Geschichte zu schreiben". Aber es war doch auch sein Wunsch gewesen, „nach so manchen, vielleicht nicht schlimm gemeinten, aber verworrenen und verwirrenden Reden . . . das Bild des altpreußischen Königtums hier der Nation . . . in der Einfachheit, dem Ernst und der Notwendigkeit seines erhabenen Berufes" entgegenzuhalten20. Die Empfindung immer tieferen Gegensatzes zur Krise der eigenen Zeit bestärkte fortlaufend seine konservativen Neigungen und ließ ihn schon 1845 einen Ausbruch nicht nur politischer, sondern auch sozialer Revolution, einen „starken Konflikt" mit den „Elementen", das drohende Ubergewicht des „Janhagels" befürchten. Er war sich über den Ausgang dieser Krise bei aller Sympathie mit den Anfängen Friedrich Wilhelm IV. keineswegs sicher: „Zuweilen möchte die Sache gefährlich scheinen; man muß nun sehen, wie alles sich hier entwickeln wird, wo wir so wenig über den Berg sind, wie Ihr dort 21 ." Die kritischen Anfangsmonate der Revolution von 1848 bestätigten und übertrafen dann seine schlimmsten Befürchtungen, wie er noch im Diktat seines Greisenalters von 1885 22 hervorhob: „Es trat ein Moment ein, in dem ein allgemeiner Umsturz vor der Tür zu stehen schien." Ein leidenschaftlich erregter Brief an seinen Bruder Heinrich23 spricht seine Gegnerschaft gegen das, was er politisch und sozial von einem Siege der Revolution befürchtete, am schärfsten, wesentlich schärfer noch als seine Briefe an König Maximilian II. von Bayern und die Denkschriften an Edwin von Manteuffel, aus. Er lehnt es ab, in den Forderungen der Revo19

Gesuch an das Kultusministerium, 28. 1 2 . 1 8 2 4 ; Hoeft, S. 57.

20

A n Friedrich Wilhelm I V . , 24. 1 2 . 1 8 4 7 und 2 4 . 6 . 1 8 4 7 ; Hoeft, S. 3 2 6 und 3 2 5 .

21

A n Heinrich Ranke, 27. 1 1 . 1 8 4 5 ; Hoeft, S. 3 1 7 .

22

S.W. Bd. 53/54, S.74.

2S

A n Heinridi Ranke, 1 2 . 8. 1 8 4 8 ; Hoeft, S. 3 3 1 .

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lution eine Fortentwicklung aus den nationalen Jugendträumen der beiden Brüder zu sehen. „Unsre reinen Ideen sind mit der Wut der roten Republik versetzt." Ihre Gedanken seien auch im Turnwesen Jahns stets gläubig und national geblieben, während die Nationalität jetzt nur noch ein „äußerlich gefaßtes Phantom" darstelle. „In der Tiefe ist nur die N e gation alles dessen wirksam, was jemals Nationen gebildet hat; man möchte weinen, oder lachen, wenn man die Einheit des Heiligen Reiches von den Unberufenen an den Irrwahn der Volkssouveränität geknüpft sieht." „Wie konnte Ordnung und Zucht aus ruchlosem Umsturz hervorgehen." Die Denkschriften an Manteuffel sind geeignet, einer Überbewertung dieser Äußerung leidenschaftlicher, augenblicklicher Erregung Schranken zu ziehen. Sie beweisen, daß Ranke in gefaßter Überlegung bereit war, den berechtigten Forderungen der Zeit maßvoll entgegenzukommen, auch wenn er an der Selbständigkeit einer in sich beruhenden Monarchie festhielt, der Liberalisierung des Preußischen Staates durch die vom allgemeinen Stimmrecht nach seinem Wunsche auf jeden Fall zu reinigende oktroyierte Verfassung enge Grenzen zog, auch wenn er den Sieg der beiden Großmächte über die entschiedene Revolution begrüßte und die Zukunft Deutschlands nach wie vor in einem Verhältnis der freundschaftlichen Rivalität, des friedlichen Dualismus zwischen Preußen und Österreich erblicken wollte. „Der Gegensatz ist ein Grundelement des deutschen Lebens und macht, wohlverstanden, die beiden Staaten stark 2 4 ." Ranke w a r durch die Revolution überzeugt worden, daß Preußen seine deutsche und europäische Selbständigkeit dem Staate der Habsburger gegenüber eher noch stärker als bisher akzentuieren müsse. E r hat die Ablehnung der Kaiserwürde, die er als Geschenk der Fürsten und Versicherung der bestehenden deutschen Einzelstaaten gegen die Revolution anzunehmen bereit war, kritisiert: so sehr er sich der „Invasion von fremden Ideen" widersetzte, so sehr protestierte er gegen eine Verwechslung des deutschen Kaisergedankens und des napoleonischen Empire. Das deutsche Kaisertum sei seiner Natur nach konservativ, sei es stets gewesen und werde es wieder sein25. Selbst noch nach Olmütz hat er auf eine R e f o r m der Verfassung des Deutschen Bundes von 1 8 1 5 gehofft, die Preußen stärker zur Rolle einer gleichberechtigten Macht neben Österreich erheben sollte. 1852 klagte er Manteuffel seine Sorge, daß die jetzt 24

An Edwin v. Manteuffel, 12. 7. 1852; Hoeft, S. 345.

25

Denkschrift an Edwin v. Manteuffel, Ende Oktober 1848; S.W. Bd. 49/50, S. 592 ff.

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in Preußen herrschende Mischung von Reaktion, Ideenlosigkeit und außenpolitischem Versagen für die öffentliche Meinung untragbar sei und das Land einer neuen Revolution in die Arme zu treiben drohe. „An der Ehre haben wir mächtig verloren 26 ." In enger Verflechtung der Ergebnisse geschichtlichen Nachdenkens und erlebter politischer Erfahrungen haben sich während dieser Revolutionsjahre bei Ranke endgültig jene Grundauffassungen vom Entwicklungsgang der europäischen Völkerwelt und ihrer politischen und sozialen Gegenwartslage ausgebildet, die nun sein Denken bis zur Reichsgründung von 1871 beherrschen und auch im Alter nur etwas gewandelte Formen annehmen, ohne noch einschneidend verändert zu werden. Es bleibt die konservative Grundfärbung und die tiefe Sorge vor der Möglichkeit einer sozialen Umwälzung; es bleibt die Auffassung, daß der Wiener Kongreß die dauernde Grundlage der aus den fünf Großmächten bestehenden modernen Staatengesellschaft gelegt habe, die auf dem Gleichgewicht ihrer Mitglieder beruht und die Hegemonie eines einzelnen Staates ausschließt. Es bleibt die Überzeugung, daß die lebenserweckende, wenn auch stets labile und bedrohte Spannung von Revolution und Bestehendem, Monarchie und Volkssouveränität, die Auseinandersetzung der alten Ordnungsgewalten mit den Ideen der Amerikanischen und der großen Französischen Revolution, der Juli- und der Februar-Revolution dem Wesen des modernen Europa den Stempel aufdrückt. Ranke ist nicht dogmatischer Vertreter der Reaktion, sondern bejaht jetzt eine konstitutionelle Monarchie, die die Eigenständigkeit der Krone freilich nicht beseitigen soll, da sie einen notwendigen und unvermeidlichen Ausdruck der Epoche darstelle. Aber er beobachtet mit steter Sorge Erscheinungen, die diese Grenzen zu verrücken drohen. Mit seinem Freunde Manteuffel war er bereit, den Aufstieg Napoleons I I I . zu begrüßen, soweit er eine Stabilisierung der inneren Lage Frankreichs bedeutete. Aber die Sorge verließ ihn doch nie, daß das Kaisertum dieses Mannes, der Autorität und Volkssouveränität zu verbinden suchte, nicht auf die Dauer neue Erschütterungen verhindern werde. Außenpolitische Sorge und innerpolitische Abwehrstellung gegen die Revolution ließen ihn daher unerschütterlich an dem von Jugend an vertretenen Gedanken der freundschaftlichen Rivalität Österreichs und Preußens festhalten. Seine Korrespondenz mit König Max verfolgte im Krimkriege den Zweck, diesen zugunsten der preußischen Neutralitätspolitik 26

An Edwin v. Manteuffel, 12. 7. 1852; Hoeft, S. 34$.

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zu beeinflussen; das Bündnis der Westmächte, das der Tradition Napoleons I. wie Wellingtons so gründlich widersprach, die Wiederbelebung der inneren Gegensätze durch den europäischen Krieg erfüllten Ranke mit Sorge vor der „ungeheuren Position Napoleons", der mehr wie England der eigentliche Kriegstreiber sei27. Aber wenn er in diesem Augenblick die Neigung Österreichs zum Lager der Westmächte bekämpfte, so hielt er doch noch 1865 fest, daß nur ein Zusammengehen der beiden großen deutschen Monarchien ihrer Existenz Dauer verleihen könne: „Zuletzt wird doch alles davon abhängen, inwiefern die Nachfolger von Maria Theresia und von Friedrich II. miteinander gehen wollen oder nicht." Gemeinsam müßten sie verhindern, daß der Liberalismus, der noch niemals einen haltbaren Staat habe bilden können, zum Herrn in Deutschland werde. „Aber dazu gehört dann, daß die berechtigten Ansprüche der Nation befriedigt werden und vor allem, daß die beiden Mächte sich nicht wieder entzweien 28 ." Auf dem Hintergrund dieser im Ergebnis gefestigten Anschauungen sind nun zweifellos auch die beiden Hauptwerke dieser Epoche, die Französische und noch deutlicher die Englische Geschichte, entstanden. Die von Ranke verfolgte Zielsetzung objektiver Tatsachendarstellung ist die reife Frucht seiner gesamten Entwicklung als Forscher und geschichtlicher Denker. Sie enthält wieder deutlich eine Distanzierung von der eigenen Zeit aus Gründen der kritischen Gewissenhaftigkeit. Aber eben diese Distanzierung ist doch auch durch die Eigenart seines Verhältnisses zu der politischen Lage der eigenen Epoche gefördert und bestärkt worden. Dazu hat Ranke selbst den Zusammenhang seiner Studienreisen, die ihn nun immer wieder nach dem europäischen Westen führten, mit der Entwicklung und den Ergebnissen seiner historischen Arbeiten erkannt und in seinen Briefen deutlich werden lassen. 1850 wurde ihm in Fontaineblau und den Waldschlössern seiner Umgebung — „ein unvergleichlicher Kursus der Französischen Geschichte" — die Atmosphäre der französischen Vergangenheit überwältigend lebendig, während die Ruhmesgalerie des Versailler Schlosses ihm doch vergleichsweise innerlich fremd blieb. Er nahm in Paris die angeregte Geselligkeit des französischen Kulturlebens mit seinen liebenswürdig-anziehenden Formen stets von neuem dankbar in sich auf. Es „ist und bleibt ein Mittelpunkt für die Bewegungen des europäischen Geistes." Aber er stellte doch 27

S . W . Bd. j 3/54, S. 3 7 1 f r .

18

A n E d w i n v. Manteuffel, Paris 3 1 . 5 . 1 8 6 5 ; Hoeft, S. 4 4 j .

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auch nachdenklich fest: „Der Unterschied der Stände ist hier nicht mehr wie in Deutschland und England." Und die in Frankreich unter Napoleon III. sich scheinbar anbahnende Verschmelzung von Voltairianismus, liberalen Ideen und „geistlichen Doktrinen" blieb ihm fremd und unheimlich, obwohl er im Zeitpunkt dieser Feststellung (1865) angesichts der beginnenden Krise des dritten Kaiserreiches weniger als früher einen gefährlichen Ausbruch der alten revolutionären Kraft Frankreichs fürchtete. „Der Vulkan (Paris) raucht noch ein wenig, sonst steht er stille 29 ." Frankreich und den romanischen Völkern gegenüber bleibt seine alte Tendenz stets lebendig, die Eigenart und Selbständigkeit des deutschen Geistes und der deutschen Entwicklung zu wahren, wie ihn denn selbst auf dem Statistischen Kongreß in Brüssel 1853 die die Mehrheit der Versammlung erfüllende Zuversicht des Fortschrittsglaubens befremdete. „Der germanische Geist hat auch hier eine tiefere und zugleich umfassendere Richtung genommen als der romanische30." Vollends als er 1856 sich wieder einmal mit dem französischen Denken des Rationalismus im 18. Jahrhundert auseinandersetzte, glaubte er, ihm philosophisches Versagen und täuschende logische Systematik zum Vorwurf machen zu sollen. „Das ist die Strömung, die heute noch herrscht31." In seiner Französischen Geschichte betonte er nun gewiß mit stärkster Objektivität und Unbefangenheit, daß diese Nation durch die früheren Jahrhunderte der Neuzeit in einem Grade wie kaum ein anderes Volk, in Anregung durch die Nachbarn wie Befruchtung nach außen fast das Herz der allgemeinen Geschichte gewesen sei. „Unleugbar ist es doch, daß die allgemeinen Gärungen, wenigstens des Kontinents, seit langer Zeit hauptsächlich in Frankreich entsprungen sind." Die Franzosen haben für ihn in ihrer großen Zeit in den Problemen des Staates und der Kirche, in der Zentralisierung der geistigen Epochenideen und der politischen Anwendung der Theorie, die ihr Wesen gewesen sei, eine bestimmende Rolle gespielt. Er vermochte das Jahrhundert Heinrichs IV., Richelieus und Mazarins wie Ludwigs X I V . , „die Epoche von Frankreich" in dem ganzen Reichtum und Glanz ihrer politischen und literarischen Leistungen mit einer liebevollen Hingabe zu zeichnen, die bleibend eine der großen Leistungen historischer Sachlichkeit bedeutet. Aber da ihn, dessen Jugend in die Epoche Napoleons gefallen war, noch lange die Sorge vor 29

S. W. Bd. 53/54, S. 443 und 446.

30

An Ferdinand Ranke, 24. 9. 1853; Hoeft, S. 358.

31

A n Heinrich Ranke, 16. 5. 1856; Hoeft, S. 371.

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einer europäischen Hegemoniestellung Frankreichs nicht verließ, so stand daneben die historische Schilderung der Unvermeidlichkeit des europäischen Kampfes gegen das Übergewicht Ludwigs X I V . „ I n der Natur vorwaltender Mächte liegt es nicht, sich selbst zu beschränken; die Grenzen müssen ihnen gesetzt werden." Die stille Furcht vor einem Wiederaufflammen dieser vulkanischen K r ä f t e der französischen Vergangenheit war auch jetzt noch in ihm lebendig. „ I n der Tradition der Macht liegt f ü r die späteren Geschlechter ein fast unwiderstehlicher Antrieb des Wetteifers mit den früheren." Aus Rankes persönlichem Verhältnis zu Frankreich ist so bei aller Anziehungskraft, die die Tendenz der Autorität auf politischem Gebiet und die geformte Gestalt des französischen Geisteslebens für ihn besaß, doch ein letztes Element der Besorgnis nicht auszuschalten. Kein Zweifel, daß ihn, der selbst 1843 eine Engländerin als Gattin heimgeführt hatte und seitdem wieder in engste Berührung mit ausgedehnten Schichten des englischen Lebens trat, hier eine solche Hemmung nicht belastete. Als der gleichnamige Sohn seines Lieblingsbruders Heinrich 1856, seinem Beispiel folgend, ebenfalls eine englische Frau heimführte, ermahnte er ihn zwar, auch in England Deutscher zu bleiben, sprach aber die freudige Hoffnung aus: „Wir werden eine große anglogermanische Familie bilden 3 2 ." E r genoß mit vollen Zügen, daß sich ihm bei seinen Studienreisen immer mehr die Türen auch der führenden geistigen und politischen Kreise Englands erschlossen und er so in die Lage versetzt wurde, in vollem Umfange „die Aktion einer parlamentarischen Regierung hier an ihrer ursprünglichen Wohnstätte" zu beobachten 33 . Nach einer Einladung im Buckingham-Palast rühmte er die spätere Kaiserin Friedrich, die Princess Royal, die nicht geradezu schön, aber von unvergleichlicher Frische und Anmut sei, als das „ J u w e l dieses H o f e s " . Sie werde f ü r Berlin ein Schatz sein 34 . Als er 18 65 3 5 - nicht zum erstenmal - einen Wahlkampf auf englischem Boden erlebte, zog ihn die Stärke, mit der kirchlich-religiöse Gesichtspunkte in ihn hineinspielten, so übermächtig an, daß er meinte, alle Fragen bis auf die religiösen könnten keine eigentliche Massenbewegung bewirken. Vor allem im konservativen Lager Englands besäßen Religion und Kirche noch eine Position von zweifelloser Stärke, 32

An Heinrich Ranke, 1 6 . 5. 1 8 5 6 ; Hoeft, S. 3 7 2 .

33

An Edwin v. Manteuffel, 26. 4 . 1 8 5 7 ; Hoeft, S. 3 8 2 .

34

S.W. Bd. 5 3 / 5 4 , S.3S6.

35

An Edwin v. Manteuffel, 3 . 7 . 1 8 6 5 ; Hoeft, S. 4 4 8 f.

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die sie wirksam gegen die Gefahr einer vagen liberalen Verflachung schütze. Das protestantisch-presbyteriale Element spiele auch im modernen Leben Englands noch eine Rolle von entscheidendem Gewicht. Hermann Oncken hat einmal darauf hingewiesen, daß die durch Ranke entwickelte Auffassung des Verhältnisses von Staat und Macht stark auf den Werdegang des modernen England eingewirkt habe. „Von seinen Ideen aus ist Seeleys Bild von der Entstehung des englischen Imperiums erst wahrhaft möglich geworden 36 ." - Ranke selbst freilich wäre nach seiner, der Vergangenheit Englands zugewendeten Einstellung dieser moderne englische Imperialismus wohl recht fremd gewesen. England blieb ihm außenpolitisch stets der klassische Vertreter des Gleichgewichtsgedankens, der sich immer wieder der Gefahr einer Hegemonie einzelner Festlandstaaten entgegengeworfen hatte, und der Inselstaat, dem ein glückliches Geschick erlaubt hatte, seine Hauptkraft dem inneren Ausbau seiner Verfassungsformen zuzuwenden. Das England der überseeischen Weltmachtstellung, des modernen Empire, entging ihm nicht, blieb ihm aber doch im Hintergrund, wie ihm das England der wirtschaftlichen Führerstellung im 19. Jahrhundert innerlich fremd war. In dem großen Uberblick der europäischen Gesamtlage, den er 1862 für König Maximilian entwarf 37 , würdigte er England allerdings als das „große Kaufhaus", das mit seinen Interessen die ganze Welt umfaßt, als die zweite der großen, politischen „Potenzen" derZeit — „Mittelpunkt der wirksamen Weltkräfte" —, die auch Frankreich binde, da Napoleon nicht wagen könne, sich von ihm zu trennen. Er beobachtete auch, wie England mit sorgenvoller Zurückhaltung den amerikanischen Bürgerkrieg verfolgte und bemerkte, daß es zwar scheinbar liberale Systempolitik treibe, aber sich doch nicht scheue, „mit gewohnter Inkonsequenz" ein Bündnis mit den Verfechtern der militärischen Gewalt auf dem Festland zu schließen. Aber das moderne England tritt doch auch in seiner englischen Geschichte hinter der Aufmerksamkeit auf seine Doppelrolle als Staat der parlamentarischen Verfassung und Hüter des Gleichgewichts in ihrer Entwicklung zurück. Es ist die „gesetzliche Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse", die ihm in ihrer Vergangenheit am bedeutsamsten erscheint. „Nicht selten haben diese über Streitfragen der Verfassung von scheinbar untergeordnetem Belang schwere Gefahren, die über Europa schwebten, 36

Hermann Oncken: Leopold von Ranke. In: Die Großen Deutschen. Hrsg. von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz, Bd. 3 (1936), S. 220. 37

„Ein Moment der Zeit". Vgl. Karl Alexander von Müller: Ein unbekannter Vortrag Rankes aus dem Jahre 1862. H Z 1 5 1 , 1935, S. 3 1 1 — 3 3 1 .

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vernachlässigt38." Es zog ihn deutlich an, daß im Rahmen der englischen Verfassungsgeschichte „die germanischen Ideen in voller Reinheit zur Erscheinung kommen konnten, reiner als in Germanien selbst, auf welches das französische Königtum, das eben auch romanische Tendenzen in sich aufgenommen hatte, Einfluß gewann 39 ." Die konservative Kontinuität der englischen Geschichte, die auf ihrem Höhepunkte in der Revolution von 1688 bei allem Wandelnder Form doch den Zusammenhang mit der Vergangenheit nicht abreißen ließ, hat ihn ebenso gefesselt wie die Verbindung, die zwischen diesem Siege der englischen Revolution und der europäischen Auseinandersetzung mit Ludwig X I V . vorhanden war. England, dessen Verfassung seit der Magna Carta tatsächlich allmählich jenen Charakter eines zweiseitigen Vertrages angenommen hatte, der als Behauptung einer allgemeinen Theorie über das Wesen des Staates und als revolutionäre Forderung für Preußen von ihm stets bekämpft wurde, sei so zum ersten Beispiel einer lebensfähigen germanischen Verfassung in der modernen Geschichte geworden. „Was dabei unter tausendfältigen Kämpfen zutage gekommen ist, erscheint heute beinahe mustergültig für alle Nationen 40 ." Gewiß lehnt er die whiggistische Deutung der englischen Geschichte, die Macaulay entwickelt hatte, ebenso als einseitig und befangen ab, wie die erst von jenem Historiker endgültig aus dem Felde geschlagene ältere toryistische Auffassung etwa Humes. Aber so sehr er als historischer Denker beiden Richtungen gegenüber das Gesetz strenger Objektivität und unbefangener Erfassung der Vergangenheit zu erfüllen suchte, ist hier in seinem Verhältnis zur Revolution von 1688 doch ein Punkt gegeben, an dem deutlich wird, daß er sich der Verbindung von geschichtlicher Erkenntnis und politischer Nutzanwendung doch nicht etwa radikal fernhalten wollte, daß sich auch für ihn beide Seiten in einem Verhältnis lebendiger Wechselwirkung gegenseitig trugen. 1 8 4 8 " wies er Friedrich Wilhelm IV. auf dies Beispiel von 1688 hin, in dem der radikale Gedanke der Volkssouveränität selbst im Siege der Revolution nicht durchgedrungen sei, so daß er erst die Verfassung der nordamerikanischen Union beherrsche. Er berief sich zur Rechtfertigung seines Wunsches nach Erhaltung der preußischen Monarchie auf die Staatsform des gemäßigt kon38

Englische Geschichte, Bd. I, S. V I f.

39

Ebenda, S. 14.

40

Englisdie Geschidite, Bd. 7, S. 1 3 5 .

41

Denkschrift an Edwin v. Manteuffel, Ende Oktober 1848; S . W . Bd. 49/50,S. 592 ff.

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stitutionellen Königtums nach englischem Muster. - Und wieder 1865 - auf dem Höhepunkt der inneren Krise Preußens durch den Heereskonflikt — feierte er Wilhelm III. 42 — den ersten eigentlich „konstitutionellen König, den es vielleicht jemals gegeben" habe — in seinem Ringen mit Frankreich als eine Parallele zu der Geschichte Friedrichs II., dem er durch seinen Protestantismus innerlich verbunden sei. In der eingehenden Ausführung von Verwandtschaft und Gegensatz in der Geschichte beider Persönlichkeiten, die dieser Brief enthält, zeigt sich dann freilich auch entscheidend, daß Ranke der liberalen Wendung der modernen englischen Geschichte immer fremd geblieben ist. Er vermag im Liberalismus nur ein „Ferment des Lebens" zu sehen. „Aber einen haltbaren Staat hat er noch nie gebildet, selbst nicht in England, dessen innere Verfassung weder durch Cromwell, noch unter Wilhelm III., noch auch in späteren Zeiten umgeworfen ist." Selten vielleicht ist so deutlich festzustellen, wie Geschichte und politisches Leben der eigenen Zeit belebend, aber auch begrenzend bei ihm ineinandergreifen. Die tiefgehend konservative Auffassung von den politischen und sozialen Problemen der eigenen Zeit, die Ranke gegenüber dem Erlebnis der Revolution von 1830 und 1848 ausgebildet hatte, behielt er auch während der Jahre des Heereskonfliktes in Preußen bei, der schon jene letzte Stellungnahme zu dem politischen Gehalt der modernen englischen Geschichte überschattete. Ranke ist dem Andenken Friedrich Wilhelm IV. bei begrenzter Erkenntnis seiner Mängel und Schwächen stets treu geblieben. Er beklagte 1857 bei der Erkrankung des Königs den tragischen Ausgang, den damit „eine große Position dem Vernichtungsprozeß des Jahrhunderts gegenüber" genommen habe. „Der größte Gedanke hängt ab von einer Faser im Gehirn 43 ." Hatte er 1861 vor der Krönung Wilhelm I. in Königsberg gescholten, daß die „konfuseste aller Proklamationen" nicht rechtzeitig verhindert worden sei, so atmete er erleichtert auf, als ihm deutlich wurde, daß der König das Heer als Rückgrat des preußischen Staates zu verstärken und gegen alle Bestrebungen des Liberalismus zu verteidigen entschlossen war. Ranke ist immer wieder als Wegbereiter Bismarcks bezeichnet worden und Max Lenz44 wollte in beiden die Erscheinungen sehen, durch die in Deutschland Naturrecht und Romantik erst völlig überwunden seien. Der 42

An Edwin v. Manteuffel, 31. 5. 1865; Hoeft, S. 442 ff.

43

An Heinrich Ranke, 29. 11. 1857; Hoeft, S. 391.

44

Max Lenz: Bismarck und Ranke. Kl. Histor. Schriften. Bd. 12, S. 39.

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objektive Realismus der Geschichtsschreibung Rankes galt ihm als unmittelbare Vorstufe der Realpolitik Bismarcks. Bei all dem, was an diesen Gedankengängen unbestreitbar richtig ist, darf aber doch nicht übersehen werden, wie stark das Element altkonservativer und romantischer Betonung der Idee bei Ranke gewesen ist. Er hat dadurch Bismarck bis 1870, ja in vielem auch noch darüber hinaus, mit tiefen Bedenken gegenübergestanden. Am Vorabend des deutschen Krieges von 1866 erfüllte ihn die dämonische Politik Bismarks mit stärksten Sorgen und kritischen Zweifeln, die fast an die Einstellung Ludwig von Gerlachs erinnern können. „Wir bewegen uns in den mächtigsten Gegensätzen. Wir wollen die alte Monarchie und ihre Tradition mit dem konstitutionellen System vereinigen. Einen politischen Krieg im alten Sinn wollen wir mit einer nationalen Armee führen. Hat die Nation ein Herz d a z u ? . . . Wären Sie hier gewesen, so wäre doch wohl eines und das andre, was die konservative Partei auseinanderreißt, vermieden worden 45 ." Auch 1867 46 steht er „dem Gang der Angelegenheiten" weiter mit einer Mischung von stetem Widerstreben und doch auch Sympathie gegenüber. Er bedauerte das Schicksal des Königs von Hannover. Und wenn ihm der Zusammentritt des norddeutschen Reichstages imponiert, so schreibt er doch: „Ich möchte um keinen Preis daran teilnehmen, denn meine persönliche Uberzeugung kann dabei nicht bestehen." Die „gebieterische Notwendigkeit" zwinge jetzt die Liberalen konservative und die Konservativen liberale Grundsätze anzunehmen, ohne daß ein Ausweichen gestattet sei. „Das ist alles abgemacht, nur Modifikationen werden gestattet." Die Dämonie, mit der jetzt die historischen Grenzen „in nichts zerfallen", berührt ihn doch im Grunde mehr unheimlich, als daß sie ihn angezogen und gewonnen hätte. Ranke ist geneigt, das positive Verdienst an dem Erreichten nicht zum wenigsten bei dem Freunde Manteuffel zu sehen, dessen Arbeit im Militärkabinett für ihn den Ausgangspunkt des preußischen Aufstieges darstellt: „Alles was später gelungen ist, beruht auf der damals eingeschlagenen Direktion." Vor allem ist es für ihn die Festigkeit, mit der König Wilhelm als Staatsoberhaupt die Überlieferung des preußischen Heeres verteidigt hat, auf der alle Erfolge des Jahres 1866 beruhen. Er könne auch die Schattenseiten der neuen Lage nicht übersehen. So findet er die europäische Regelung der Luxemburger Frage „allenfalls annehmbar", da ein großer Krieg 45

A n E d w i n v. Manteuffel, 22. 5. 1 8 6 6 ; Hoeft, S. 463.

46

A n dens., 26. 5. 1 8 6 7 ; Hoeft, S. 496 f.

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um seinen Besitz „nimmermehr zu raten" gewesen sei. Es läßt doch tief in das Innere seiner Einstellung gegen Bismarck blicken, wenn er bemerkt: „Sie können denken, daß es Leute gibt, die sogar bewundern." — Wenn auch seine Stimmungen für die Zukunft Preußens und Deutschlands zwischen Sorge und Zuversicht wechselten, hat er doch noch im Herbst 18 69" geklagt, „daß wir seit dem Frieden von Prag in ein Labyrinth geraten (seien), dessen Ausgang ein Abgrund ist". Man habe den Sieg von 1866 benutzt, „um die Grundsätze zu verleugnen, auf denen wir selber beruhen". Nur die Gestalt des greisen Königs, die ihm innerlich unendlich näher stand als Bismarck, vermochte ihn über die Gefahren der Lage zu beruhigen. Rankes Briefwechsel 48 zeigt, daß er am Vorabend des Krieges von 1870 schon ganz in jener Rückwendung zur deutschen und preußischen Geschichte stand, deren Auftakt das Erscheinen der Geschichte Wallensteins im Jahre 1869 bedeutet. Die Ereignisse des Krieges von 1870/71 begleiteten seine Studie über den Ursprung des 7jährigen Krieges und den ersten Band des Werkes über die Deutschen Mächte und den Fürstenbund von 1785, die er am 22. März 1871 Wilhelm I. übersandte: „Es betrifft eine Epoche, in welcher der deutsch-preußische Gedanke zuerst zu voller Erscheinung gekommen ist." Schon 1868 hatte er die Widmung des Schlußbandes seiner Englischen Geschichte—dieses Werkes eines „langen Atems"— an den König mit den Worten begleitet: „Nunmehr erst habe ich die Hand zu anderen Arbeiten frei, für die mir Euer Königliche Majestät einst den Gegenstand anzugeben geruht haben 4 '." Vorbereitet in den Jahren seit 1866 ist so diese Wendung vollzogen und getragen von der inneren Entlastung, die der Verlauf des Krieges von 1870/71 und der Abschluß der Reichsgründung für ihn bedeuteten. Die Beruhigung seiner Sorge, daß das Jahrhundert noch einmal in eine tiefe revolutionäre Krise nach dem Beispiel des Jahres 1848 geraten könne, ist der Hintergrund, die Grundlage aller Arbeiten seiner Altersepoche geworden; diese Beruhigung wurde vollendet, als die konservative Wendung der Bismarckschen Politik um das Jahr 1878 die Anstöße beseitigte, die der liberale Kurs der Reichspolitik Ranke anfangs bereitet hatte. 47

A n dens., 4 . 1 0 . 1 8 6 9 ; Hoeft, S. 5 2 8 .

48

A n dens., 1 4 . 1 . 1 8 7 0 ; Hoeft, S. 5 3 8 f. Gesuche um Aktenbenutzung zur Geschichte

des Jahres 1 7 8 6 an A l f r e d v. Arneth, 2 1 . 1 0 . und 3 0 . 1 1 . 1 8 6 9 sowie A p r i l 1 8 7 0 ; Hoeft, S. 5 3 1 f., 5 3 6 f. und 5 3 9 f. 48

A n Wilhelm I., 2 2 . 3 . 1 8 6 8 und 2 2 . 3 . 1 8 7 1 ; Hoeft, S. 5 0 7 und J 4 8 .

3 Herzfeld

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Dazu kam, daß die Konsolidierung des Reichsbaues, die 1878/79 durch den Berliner Kongreß und den Abschluß des Bündnisses mit Österreich eintrat, für ihn die Erfüllung seines lebenslangen Wunsches nach einem freundschaftlichen Zusammengehen der beiden deutschen Großmächte bedeutete. Ranke glaubt jetzt die Gewißtheit zu haben, daß ein verhältnismäßig gesicherter Abschluß der historischen Entwicklung in der eigenen Zeit erreicht sei. 1877 schrieb er an Bismarck, er habe immer gedacht, daß der Historiker alt werden müsse; er muß viel erleben und der Gesamtentwicklung einer großen Epoche anwohnen, um seinerseits fähig zu werden, die früheren Zustände zu beurteilen. Anläßlich der Feier seines 50jährigen Doktorjubiläums 50 hat Ranke mit einem Hinweis auf den Unterschied von Historie und exakten Wissenschaften auch einmal zugestanden, daß die Geschichte in verwandtem, wenn auch nicht gleichem Sinne wie die Poesie „eine nationale Ader" habe. „Die deutsche Geschichtschreibung gehört mit zu den Elementen, welche die gesamte Deutsche Nation umfassen und ihr Nationalgefühl bedingen." In seiner Wirksamkeit für die Historische Kommission und in seiner Korrespondenz mit Arneth war er nach dem Kriege von 1866 sichtlich bemüht, das mit der Sprengung bedrohte Band zu der Geschichtswissenschaft Österreichs zu erhalten und neu zu knüpfen. Seine auf die Jugendeindrücke der Zeit von 1 8 1 5 zurückgehende Auffassung der deutschen Frage hat sich durch die Erfolge der Bismarckschen Politik doch nicht etwa grundlegend in kleindeutschem Sinne geändert. Wie sich dies in den Werken seiner Altersepoche widerspiegeln sollte, so auch immer wieder die Tatsache, daß er die Entscheidung von 1870/71 nicht eigentlich im Lichte der modernen nationalen Bewegung der Höhe des 19. Jahrhunderts auffaßte. Im Grunde dachte er weiter in den außenpolitisch staatlichen, innenpolitisch konservativen Grundlinien, die sich ihm aus den Erfahrungen eines langen Lebens gebildet hatten. Der Krieg mit Frankreich erschien ihm so wesentlich als Fortsetzung und Abschluß der Vergangenheit: „Was Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1792 unternommen, wovon er aber im Jahre 1795 abstand, das wurde im Jahre 1870 von seinem Enkel ausgeführt. Zwischen diesen Momenten hat sich mein Leben bewegt 51 ." Der Erfolg des Krieges bedeutete ihm zunächst die endgültige Sicherung gegen jene revolutionäre Gefahr, die seit i83o und 1848 50

A n die Akademie Deutscher Naturforscher, 26. 2. 1 8 6 7 ; Hoeft, S. 480.

51

S. W. Bd. 53/54, S. 54 f .

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sein ganzes Dasein begleitet hatte. Im November 187052 meinte er, daß die Fortsetzung des Krieges nach Sedan sich wesentlich gegen diese Tendenz richte: „Im ganzen scheint es mir, als sei es nicht eigentlich Frankreich, das wir bekämpfen, sondern die Idee der universalen Republik, welche aber nur den Geist der nationalen Gloire zu ihrer Basis nimmt und die Gesinnung des Kampfes für das Vaterland eigentlich mißbraucht." Es sei die Aufgabe des preußischen Staates geworden, zunächst die Idee des allgemeinen Kaisertums in der Person des 3. wie des 1. Napoleon und nun den Versuch der allgemeinen Republik zu bekämpfen. A m Ende des Ringens atmete er auf: „Die destruktiven Mächte sind niedergeworfen 53 ." Und neben dieser Bedeutung für die Stabilisierung jener monarchischen Welt der Ordnung und Autorität, der er stets angehört hatte, glaubte er dem Verlaufe des Krieges jenes zweite Ergebnis der Sicherstellung des europäischen Gleichgewichts zuschreiben zu dürfen, das seinen Ausdruck in der bekannten Wiener Äußerung zu Thiers gefunden hat: Der Krieg werde weder gegen den gefangenen Kaiser, noch gegen Frankreich fortgesetzt, „das wir in einer gewissen Größe zu sehen wünschten", sondern „gegen die Politik Ludwigs X I V . " . Diese Äußerung hat einem der jüngsten Biographen Bismarcks, E. Eyck, zu der scharfen Bemerkung Anlaß gegeben, daß sich der große Historiker damit als Politiker sehr klein gezeigt habe. Es wird deutlich geworden sein, daß diese Auffassung doch sehr eng, ja im Grunde sogar untrennbar mit Rankes ganzer Entwicklung zusammenhängt. Geboren in der Epoche der Vorherrschaft Napoleons, hat er jenen revolutionären Wandel der deutschen Stellung in Europa, der durch die Politik Bismarcks bewirkt wurde, doch wesentlich unter der Voraussetzung der Vergangenheit gesehen. Ranke begrüßt die Herstellung der deutschen Einheit aufatmend als beruhigten Abschluß der stürmischen Jahre seit 1862, in denen ihm die Lage Deutschlands tief fragwürdig erschienen war. Er hat kaum jene überschwengliche Begeisterung vieler Zeitgenossen empfunden, wie sie Sybels Wort ausdrückt, daß man nicht wisse, wo man nach so großen Geschehnissen noch einen neuen Lebensinhalt hernehmen solle. Im Grunde lag bei ihm doch immer jene Empfindung zugrunde, daß es ein beispielloses Gnadengeschenk des Schicksals bedeute, wenn sich das „kleine Preußen" — des 18. Jahrhunderts, dem seine Studien gegolten hatten und von dem seine Jugenderlebnisse ausgegangen waren — gegen das große Frankreich hatte behaupten können.

3

52

A n Edwin v. Manteuffel, 20. 11. 1870; Hoeft, S. $44.

53

A n Wilhelm I., 22. 3. 1871; Hoeft, S. J48.

24

Historiographie

Und wie seine Wertung der neuen Macht des geeinten Deutschland ihre Farbe von der Vergangenheit her erhielt, so erschien ihm auch die Verfassung des Reiches vor allem als Fortsetzung der preußischen Vergangenheit und als konservative Garantie, daß die Monarchie in ihren wesentlichen Grundlagen erhalten bleiben werde. Auch jetzt noch hat er immer wieder die Leistung Wilhelms I. nicht stark genug betonen können; es blieb ihm die Hauptsache, daß die im preußischen Konflikt behauptete Verfügung der Krone über Finanzen und Heer durch die Erweiterung des politischen Schauplatzes nicht angetastet wurde. Diese beiden Dinge blieben für ihn die „Grundlagen des monarchischen Staates". Befriedigt meinte er im Herbst 1870: „Sie sind beide nicht von einer deliberierenden Versammlung abhängig. Alles was wir in den letzten Jahren geleistet haben, beruht auf diesen beiden Momenten." So ist es kein Zufall, daß er in diesen Jahren der Reichsgründung kaum eine historische Arbeit mit größerer Liebe, mit stärkerem persönlichen Anteil behandelt hat, als seine Bemühungen, dem geschichtlichen Andenken Friedrich Wilhelms I V . Gerechtigkeit zu verschaffen: Es sei dieser König, der in den Stürmen der Jahrhundertmitte instinktmäßig die unentbehrlichen Grundlagen der monarchischen Verfassung behauptet habe. Er habe auch Thiers im Gespräch wiederholt auseinandergesetzt: „daß eine konstitutionelle Verfassung nach dem gewohnten Schema mit einem geborenen legitimen König nicht möglich sei 54 ". Rankes Wendung zur Geschichte Frankreichs und Englands nach 1848 war in ihrer besonderen Eigenart erst ganz zu verstehen, wenn man neben der Entwicklung seines universalhistorischen Denkens auch die Summe seiner persönlichen Lebenserfahrungen von 1830—1848 berücksichtigte. Eine Fortsetzung dieser Betrachtung für seine Altersepoche nach 1871 würde ihre Aufgabe in verwandter Weise kaum lösen können, wenn sie die politische Entwicklung Rankes außer Betracht lassen wollte. Die Objektivität des Historikers, die seine ideale kritische Grenzforderung war, schließt doch im Leben und Werk des größten deutschen Historikers im 19. Jahrhundert nicht aus, daß seine Erkenntnisarbeit in steter Verbindung mit dem Erlebnis der eigenen Gegenwart steht. Der „Impuls der Gegenwart" wirkt als feines, aber stets vorhandenes Fluidum befruchtend und gestaltend, aber auch begrenzend und beschränkend mit der Strenge des wissenschaftlich reinen Erkenntnisstrebens zusammen, das das Vergangene aus sich heraus nach seinen eigenen Gesetzen erfassen möchte. 54

A n E d w i n v . M a n t e u f f e l , 10. 9. 1 8 7 1 ; H o e f t , S. 562.

Politik und Geschichte bei Ranke,

1848—1871

25

Gewiß ist es richtig, daß der entscheidende Akzent seiner großen Leistung auf diesem Bestreben liegt. Ranke hat es stets mit absoluter Strenge abgelehnt, Geschichte im unmittelbaren Dienst politischer Zwecke und Wünsche des eigenen Tages zu schreiben. Er ist dadurch grundsätzlich von den Historikern der „politischen Schule" im engeren Sinne, der liberalen Geschichtsschreibung Westeuropas wie der kleindeutschen Schule auf deutschem Boden, und vollends von späteren Übersteigerungen der Tendenz zur Politisierung der Geschichte geschieden. Aber das Problem des Verhältnisses von Politik und Geschichte besteht in dem begrenzteren Umfang, den zu erörtern hier versucht wurde, auch bei Leopold von Ranke, und es ist, auch wenn es in der Epoche seines Alters stärker als in seiner Frühentwicklung mehr als zeitbedingte Grenze seiner Erscheinung deutlidi wird, doch ein Problem, das für eine volle Würdigung und Erfassung seiner Erscheinung nicht umgangen werden kann.

Friedrich Meinecke DER

HISTORIKER, NACH

DER

POLITIKER

SEINEM

UND

DER

MENSCH

BRIEFWECHSEL

Der Inhalt eines Gelehrtenlebens wird in der Regel in seinem wissenschaftlichen Werk enthalten sein, und es bleibt oft genug ein Unternehmen von begrenztem Ertrage, über das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeit hinaus nach dem biographisch-geschichtlichen Untergrund zu fragen, aus dem sie hervorgewachsen ist. Denn nur die wirklich bedeutenden Gestalten der Wissenschaft wachsen in jene Schicht zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Bedingtheit und aus ihr gewonnener schöpferischer Leistung aus dem Kern der eigenen Persönlichkeit hinein, in der Friedrich Meinecke erst das Kriterium der Geschichtswürdigkeit des Individuums anerkannt haben würde. Für ihn gilt Rankes Wort zu Bismarck, daß der Historiker alt werden müsse. Sein Leben hat von 1862 bis 1953 fast ein volles Jahrhundert dramatischer und tragischer deutscher Geschichte, von Reichsgründung, Weltkrieg und Weltrevolution, umspannt. „Die Schlacht von Königgrätz war einst das große historische Ereignis, das meine Knabenphantasie erregte, - und nun nach 80 Jahren liegen Sieger und Besiegte zusammen zertrümmert auf dem Boden." - Man müßte schon die Intuition eines großen Dichters haben, um diese rätselhafte Verkettung von Heil und Unheil im Gang des deutschen Schicksals zu verstehen1. Meinecke hat in einem Leben von ausnahmsweiser Geschlossenheit2 die Eigenschaft „eines eingewurzelten Arbeitsmenschen mit einer Kraft der Konzentration und einer Geradlinigkeit der Zielsetzung" entfaltet, die der Verfasser dieser Charakteristik, sein Schüler Gerhard Masur, in diesem Maße niemals sonst angetroffen zu haben glaubte. Es ist für Meinecke bezeichnend, daß er auf der Höhe des 1. Weltkrieges, 1916, stärker denn je mit dem Ringen um die politische Daseinsfrage der Nation beschäftigt, doch betonte3: „Nodi stärker als das Dirigieren" — in der von ihm keines1 Friedrich Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel. Hrsg. u. eingel. v. Ludwig Dehio und Peter Classen. Stuttg. 1962. An Heinridi Ritter v. Srbik, 27.10. 1946, S. 258 f. 2

Gerhard Masur: American-German Review 20, 1954, nr. j, S. 8—12.

* An Walter Goetz, 21. j. 1946; Ausgewählte Briefe, S. 77.

Friedrich Meinecke

27

wegs unterschätzten, aber nicht geliebten Organisationsarbeit der Wissenschaft- „lockt mich das Produzieren, und je älter man wird, um so kostbarer werden die Stunden, in denen man für sich selbst noch etwas neues hinzulernen und vielleicht auch gestalten kann." So ist es sicherlich eine offene Frage, wieweit gerade bei ihm das Leben als Kommentar des wissenschaftlichen Werkes von zusätzlichem Gewicht ist. Liegt sein Inhalt nicht in der Reihe der drei großen Bücher und der langen Kette von kleineren Studien beschlossen, die diese Hauptwerke als ein in seiner Bedeutung noch keineswegs erschöpfter Kommentar ständig begleitet und ergänzt haben? Die Vermutung spricht freilich dafür, daß der Historiker, dessen geschichtliche Forschung stets untrennbar mit der Selbstorientierung in der Gegenwart und dem Suchen nach der für die Sinndeutung der Geschichte unentbehrlichen, wenn auch nicht zu prophezeienden, so doch ahnend zugänglichen Wegrichtung in die Zukunft verbunden war, die intensive Frage nach der Verflechtung vom Leben und Werk lohnt. Der soeben der Öffentlichkeit vorgelegte Briefwechsel Friedrich Meineckes gestattet es heute, dieser Frage nachzugehen und die Probe durchzuführen, ob das wissenschaftliche Werk, die politische Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit und der tiefste Grund des menschlichen Daseins und Wesens bei ihm in einer Weise verflochten sind, daß die Frage nach ihren Zusammenhängen nicht nur „lohnend" im üblichen Sinne, sondern notwendig ist, um das Ganze seiner Persönlichkeit und Bedeutung erfassen zu können. Es ist heute noch deutlicher als bei Friedrich Meineckes Hingang vor nahezu einem Jahrzehnt, daß Bindung und Begrenztheit jedes menschlichen Daseins ihm sowenig wie dem größten seiner Vorbilder unter den Historikern, Leopold von Ranke, erspart geblieben sind. Gewiß bedeutet uns der Interpretationsversuch von Ch. Beard aus dem Jahre 1936 sehr wenig, der ihm v o r w a r f , typischer Repräsentant f ü r die „bürokratische" Bindung des deutschen Geschichtsdenkens und die bürgerliche Begrenzung des deutschen Geisteslebens im 19. Jahrhundert gewesen zu sein4. Auch die Kritik von W. Stark 5 mit ihrer Anklage gegen seinen „defaitistischen Agnostizismus" und der Schlußthese: ein Professor sollte vor allem ein Realist sein und als ein Realist habe Meinecke in seinem ganzen Leben versagt, ist auch in der englisch sprechenden - und denkenden - Welt auf 4

Charles A . Beard und Alfred Vagts: Currents of Thought in Historiography. Amer.

Hist. Rev. 42, 1916/57, 5

S. 460—483.

W. Stark: Machiavellism. The Doctrin of Raison d'Etat and its Place in Modern

History. London 1 9 J 7 .

Historiographie

28

eine wohltuend objektive und scharfe Zurückweisung gestoßen6. Aber es ist nicht zu verkennen, daß auch in Deutschland der Abstand der heranwachsenden Jugend von Atmosphäre und geschichtlichen Bedingungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so groß geworden ist, daß die Voraussetzung von Meineckes Leben und Werk nicht mehr wie für die ältere Generation erlebter Teil des eigenen Daseins, sondern nur rekonstruktiv erfaßbare Geschichte geworden ist. Die Bedingungen - und damit Grenzen - der Gedankenwelt von Weltbürgertum und Nationalstaat, Meineckes politische Haltung im 1. Weltkrieg, die bis 1933 nicht zu übersehenden Grenzen seiner Entwicklung vom „Herzensmonarchisten" zum „Vernunftrepublikaner" - das alles sind Probleme, bei denen heute die Verwandlung einer noch vor kurzem nahestehenden Vergangenheit in nun wirklich und endgültig vergangene Geschichte eine neue Stufe erreicht hat. Diese Lage fordert eine neue Rechenschaftslegung, um die Fragen zu beantworten, die unser Thema enthält. Am deutlichsten wird die zeitliche Bindung auch der großen Einzelpersönlichkeit für Meinecke heute zweifellos im Kreis seines politischen Denkens und Handelns, der von Anfang an bewußt und dauernd mit seiner Fragestellung und Entwicklung als Historiker verflochten ist. Vor allem Weltbürgertum und Nationalstaat, das Hauptwerk seiner Epoche vor 1914, ist ja bis heute Gegenstand einer Debatte geblieben, die Meinecke oft genug medianisch in das Gesamtbild des wilhelminischen Deutschland vor dem 1. Weltkrieg einordnet und ihm vorwirft, auch er sei, Rankeschüler und Hegelianer zugleich, zumindest ein „Opfer" jenes deutschen Historismus gewesen, der den Staat als Träger der Geschichte vergottet und die Kultur der Macht untergeordnet habe7. Zumindest sei seine Abwendung von diesen Kräften bedauerlich spät gekommen und noch der Grundgedanke des Buches über die Staatsräson sei im Kern Hegelianismus geblieben. Noch schärfer8 wird seine Bewunderung für Ranke, Hegel und Bismarck als der drei großen Befreier des deutschen 19. Jahrhunderts zur Realpolitik mit dem „Schrei nach mehr Lebensraum" gleichgesetzt. Gegenüber dem feinen Gewebe, das in Weltbürgertum und Nationalstaat zwischen Idee und Wirklichkeit, Gedanke 6

Richard W . Sterling: Ethics in a W o r l d of P o w e r . T h e Political Ideas of Friedrich

Meinecke. Princeton 1 9 5 8 . 7

Louis L . S n y d e r : German Nationalism. T h e T r a g e d y of a People. Extremism contra

Liberalism in Modern German H i s t o r y . Harrisburg, Pennsylvania 1 9 5 2 , S. 2 8 2 f. 8

Stark a a O . S . X V I I ff.

2 7 2 und

Friedrich Meinecke

29

und Macht gesponnen ist, wird der Vorwurf erhoben, daß er sich von den Bindungen der Moral gelöst habe. Trotz aller seiner Liebe für den deutschen Idealismus sei er in dieser Epoche nicht von dem „Gift" frei geblieben, dessen „Arroganz und Aggressivität" 9 bestimmt gewesen sei, „den Frieden der Welt zu erschüttern". Wenn er angeblich erst nach 1918 in seiner nun dualistisch gewordenen Gedankenwelt das Problem der Freiheit gegen die Notwendigkeit entdeckt habe, so habe er doch vom Boden seines Rankeschen Panentheismus niemals eine befriedigende Antwort auf diese Frage finden können 10 . Audi wenn diese Kritik nur dem Bereich der „schrecklichen Vereinfachungen" angehört, bleibt es auf dem politischen Felde eine ernsthafte Frage, wieweit die Einheit seiner Entwicklung und seines Denkens bereits in dem Denken und Werk jener ersten Häfte seines Lebens, vor dem Zusammenbruch des I.Weltkrieges und vor der „Idee der Staatsräson" festzustellen sind, vor jenem Einschnitt also, der auch von Walther H o f e r 1 1 als „augenfällige Bruchstelle" in seinem Leben angesehen wurde. Meinecke, der die Tragweite der von ihm vollzogenen Entwicklung niemals verkannte und selbst stets der schärfste Kritiker vergangener eigener Irrtümer gewesen ist, hat dagegen einen Einspruch nicht erhoben. Er hat in seinen Erinnerungen den Weg geschildert, der ihn aus der pietistisch-frommen und ganz konservativen Luft des Elternhauses zu wachsender Kritik an den Zuständen des wilhelminischen Deutschland geführt hat, auch wenn er überzeugt blieb, daß der gesunde Kern des Bismarckschen Reichsbaues die Fähigkeit zu reformierender Einordnung in die moderne Welt des neuen Jahrhunderts nach wie vor besitze. Schon seit 1890 gegen die Eigenart des von Wilhelm II. inaugurierten persönlichen Regiments kritisch, seit der Jahrhundertwende entscheidend von den Ideen Friedrich Naumanns beeinflußt, blieb er im Rahmen seines optimistischen Identitätsdenkens bemüht, das Erbe der preußischen und deutschen Geschichte bruchlos und ohne allzu große Opfer mit Gegenwart und Zukunft zu versöhnen. Wie er 1944 erklärte, sei es der große Glaube seiner Frühzeit gewesen, „das Erbe der Goethezeit mit dem der Bismarckzeit in uns organisch (zu) vereinigen" 12 . So hoffte er bis 1 9 1 4 zuversichtlich, die politische Zukunft des Reiches werde durch jene Paa• Ebenda, S. X X V . 10

Ebenda, S. X X I ff.

11

Walther Hofer: Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werk Friedrich Meineckes. München 1950, S. 25. 12

An Wilhelm Steffens, 10. 1 1 . 1944; Ausgewählte Briefe, S. 229.

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Historiographie

rung liberalen und konservativen Geistes bestimmt werden, die so lange und so tiefgehend der Traum des geistigen Deutschland gewesen ist. Als sein Verhältnis zu Georg von Below im Wahlkampf von 1 9 1 1 bereits gespannt zu werden drohte, verteidigte er sich diesem erzkonservativen Freunde gegenüber: „Konservativ und Liberal, wir brauchen immer beides, aber damit konservativ' wieder brauchbar werde, darum bin ich jetzt - wie er betonte, persönlich dabei frei von jedem Parteizwange so heiß im Kampfe" 1 3 . Sein politisches Streben galt schon vor 1914 dem Ziele, das .„Neuland" des liberalen und industriellen Deutschland mit dem festen staatlichen Erbe des alten Preußen zu verschmelzen, weil er nach den Worten seiner Kaiserrede von 1 9 1 3 1 4 fern von dem durchschnittlichen Optimismus jener Jahre wußte, daß die „eigentlichen Schlachtfelder unserer Zeit" „noch vor uns, nicht hinter uns" liegen. Das Problem des sozialen und nationalen Friedensschlusses mit den breiten Massenschichten des deutschen Volkes erschien ihm schon jetzt als die für das deutsche Schicksal dringendste Aufgabe der Nation. Die Kontinuität seiner politischen Entwicklung vor und in den Jahren des Weltkrieges ist in solchen Formulierungen unmittelbar gegeben. So wenig wie in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg wird man in seinem Verlauf einen eigentlichen Bruch in der Substanz seiner Entwicklung und seines politischen Denkens anerkennen können, wenn man die unvermeidliche Vielschichtigkeit des Gedankenprozesses nicht verkennt, in den auch er von dem Einbruch einer Epoche größter revolutionärer Erschütterungen in das Leben der modernen Welt verstrickt wurde. Meinecke ahnte seit dem Tage von Sarajewo 15 , daß die Katastrophe auf „Wesen" und „Probleme des modernen Nationalismus" zurückging, dessen Gefahren er noch in Weltbürgertum und Nationalstaat so weitgehend durch optimistische Parteiführung zu beschwören versucht hatte. Gerade seine jetzt noch unerschütterte Neigung, diesen vergeistigten Nationalstaat als grundlegende moderne Lösung des Staatsproblems anzuerkennen, hat ihn bereits in den ersten Jahren des Weltkrieges, den Jahren der deutschen Erfolge 1914/15, grundlegend von dem naiven Annexionismus geschieden, der sich jetzt unheilvoll und oft widerstandsloser als in den Friedensjahren des Imperialismus verbreitete. Meinecke16 sträubte sich sofort 1S

A n Georg v. Below, 22. 12. 1 9 1 1 ; ebenda, S. 35.

14

Deutsche Jahrhundertfeier und Kaiserfeier. Freiburg 1 4 . 6 . 1 9 1 3 . In: Preußen und

Deutschland im 19. Jahrhundert. S. 2 1 — 4 0 . 15

A n Alfred Dove, 1 . 7 . 1 9 1 4 ; Ausgewählte Briefe, S. 44.

14

A n Benedetto Croce, 14. 9. 1 9 1 4 ; ebenda, S. 46.

Friedrieb Meinecke

31

gegen „den Abgrund des Hasses", der „die europäischen Kulturnationen voneinander zu trennen" drohte. Er forderte, „Gerechtigkeit und Verständnis zu üben nach allen Seiten", obwohl auch ihm dies vielleicht besser den romanischen Nationen als England gegenüber geglückt ist. Seine Abneigung gegen einen „napoleonischen Frieden" 17 verknüpfte sich sehr schnell18 mit der Bereitschaft, dem Gedanken eines „Hubertusburger Friedens" nahe zu treten, auch wenn seine Hoffnungen noch weitergingen. Die Annexion Belgiens 19 lehnte er schon deshalb ab, weil ihm ein solches „widerstrebendes Anhängsel" eine ernste Gefahr für die „Geschlossenheit und Einheit unseres Nationalstaates" bedeutete. Voll tiefer Abneigung gegen den Anspruch der „Schlagadodros" auf deutsche Herrschaft über Europa sah er20 voraus, daß Deutschland „durch die Frage Belgien vor einen Scheideweg von unermeßlicher Bedeutung gestellt" zu werden drohe. Ist es also wirklich 21 ein zeitweises „Zurückgleiten von seiner Politik der Mäßigung" oder eine angesichts der Härte der Fronten in diesem Kriege bezeichnende innere Zwangslage gewesen, wenn die Sorge Gustav Mayers in Brüssel zeitweise auch Meinecke veranlaßte, die „Luxemburgisierung" Belgiens mit Zollverein, Entwaffnung und deutscher Eisenbahnverwaltung zu erwägen, um das Land nicht nach dem Kriege widerstandslos zum „englisch-französischen Bollwerk" gegen das Reich werden zu lassen?22 Sein grundsätzlicher Einspruch gegen eine Annexion blieb dabei doch bestehen. Im Verlaufe des Ostfeldzuges von 1915 glaubte auch er, von Rußland „Land ohne Menschen" erhalten und Kurland - unter Verpflanzung des polnischen Großgrundbesitzes nach Kongreßpolen und der Letten nach Rußland - als „Raum für innere Kolonisation" gewinnen zu können. Aber diese Schwankungen der Sorge um die Zukunft Deutschlands erlauben doch nicht, den Meinecke in die Front des deutschen „Annexionismus" einzureihen, der seine unter irrigen Voraussetzungen gegebene Unterschrift unter die Professorendenkschrift vom 20. April 191 j sofort 17

A n Walter Goetz, 9. 10. 1 9 1 4 ; ebenda, S. jo: „ N u r keine napoleonische Politik —

Principiis obsta heißt es, denn der erste Schritt auf diese Bahn führt mit eiserner Konsequenz zu allen weiteren Fehlern Napoleons." 18

A n Georg von Below (undatiert: November 1 9 1 4 ) ; ebenda, S. 53.

19

A n Alfred Dove, 25. 9. 1 9 1 4 ; ebenda, S. 47.

20

A n dens., 4. 1 1 . 1 9 1 4 ; ebenda S. J I .

21

Sterling aaO. S. 154.

22

A n Walter Goetz, 6. j . 1 9 1 5 ; Ausgewählte Briefe, S. $7.

Historiographie

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und öffentlich wieder zurückzog23. Eine eingehende Prüfung seines politischen Denkens in diesen Jahren 1914 und 1915 würde zwar bestätigen, daß auch er die Probleme des 1. Weltkrieges zunächst mit den Denkkategorien der ihm gegebenen historischen Erfahrung zu bewältigen suchte, aber auch, daß die persönliche Färbung und Eigenart seiner Gedanken — gerade im Ansatz einer an Bismarck orientierten Realpolitik des Maßes — organisch seine abschließende Wendung gegen den Annexionismus in den Jahren 1 9 1 6 und 1 9 1 7 vorbereitet hat. Der Gelehrte, der Kühlmann 1915 in Scheveningen als „Typus eines im ,bismarckschen Geiste' gebildeten Diplomaten" 24 sicher überschätzte, war doch schon damals skeptisch gegen den Optimismus des späteren Staatssekretärs, auf den wie Bethmann er so große Hoffnungen setzte. Auch 1917 meinte er, obwohl sehr viel unsicherer, in seinem Urteil über die Willensstärke dieser beiden Persönlichkeiten, es werde „beinahe (eine) Lebensfrage für alles sein, ob er (Kühlmann) sich gegen die alldeutschen Einflüsse" durchsetzen könne 25 . Aber wie noch mehr von Michaelis wich er jetzt auch von Kühlmanns Diplomatie mit der entschiedenen Feststellung ab: „Wenn wir nicht klipp und klar auf Belgien verzichten, werden wir nie zum Frieden kommen" 26 . Schon vorher hatte ihn die russische Frühjahrsrevolution zu einer Stellungnahme veranlaßt, die vielleicht das bezeichnendste Zeugnis für die fortschreitende Klärung und Entschiedenheit seines Denkens ablegt. Auch er27 atmete auf, als dies Ereignis das Wunder des Todes der Zarin Elisabeth im Jahre 1762 zu wiederholen schien. Er forderte jetzt den absoluten „Primat der auswärtigen Politik vor der inneren", um mit dieser Hebelkraft auch die unheilvoll verzögerte Frage der Wahlreform in Preußen in Bewegung zu bringen. Vor allem aber28 war es ihm klar, daß jetzt alles an den Abschluß eines rettenden Friedens im Osten gesetzt werden müsse. „Einen Sonderfrieden mit Rußland, von den Sozialisten gemacht - ein Bismarck würde ihn nicht verschmäht haben", wie er jetzt ältere und neue Kategorien seines politischen Denkens in schlagender Kürze zusammendrängte. Seine Würdigung der Krise von Brest-Litowsk ist nur die 23

A n Alfred Dove,

31.7.191$;

ebenda, S . 6 $ ,

z6

-

- Innenpolitik, Parteien, Verfassung u. Verwaltung (s. auch Heeresproblem) I 2, 4 f., 10; II 2, 10 f., 42 f., 59, 61, 7 1 , 79. - einzelne Gebiete: Preußen (s. auch Berlin) I 5; I I 6, 16, 23, 25, 42, 61, 80, 85, 91. -

nichtpreußische Landesteile I 6; II 42, 82.

- einzelne Epochen: (seit dem) 18. Jahrhundert I 7; II 6, 13, 25, 3 1 , 37, 39, 80, 8j, 91. -

Bismarckzeit I 1, 3, 5; II 15 f., 18, 23, 30, 36, 42, 64, 77.

- - Zeit Wilhelms II. (einsdi. 1. Weltkrieg) I 2, 4 f., 8; II 4 f., 7 - 1 1 , 18, 20 f., 36, 64, 68, 72, 77, 83, 92. Zwischenkriegszeit I 9 f.; II 3, 8, 1 1 , 14, 19, 36, 38-40, 43, 48, 59, 63 f., 66, 73-5, 79, 81, 88 f. Zeit d. Nationalsozialismus (einschl. Widerstandsbewegung) II 45 f., 48, 52 f., J9, 73, 86, 88 f. -

Nachkriegszeit I 8; II 33 f., 41, 56, 58, 6 2 - j , 67, 7 1 , 78, 82, 88, 90,

93-

Europäische u. Weltgeschichte, allg. I 7 f . ; II 2 1 , 37, 54, 58, 63, 66, 68, 73, 77> 81, 83, 86, 89, 93. - England (einschl. Empire u. Commonwealth) u. die U S A II 5, 31 f., $1, 80. - Frankreich I 1, 3; II 58. - Rußland II 1 j , 20, 24.

460

W. Schochow

Geschichtsforschung u. -Schreibung, allg. u. dte. (einschl. Forschungs- u. Literaturberr.) II i, 7 f., 13, 17 f., 22, 27, 34, 38 f., 48, j o - 2 , 5J, 69 f., 72, 84, 87, 89. - Friedrich Meinecke I I 35, 3,8, 88, 92. - Leopold v. Ranke II 28-30, 84. Geschichtsunterricht (einschl. polit. Erziehung) I 8; II 2, 34, 37, 44, 48 f., 60, 62, 71. Heeresproblem, vornehmlich in d. preußisch-deutschen Gesch. I 2, 9; II 25, 39, 45, 50, 61, 89, 91. Persönlichkeiten der preußisch-deutschen Gesdi. I j ; II 1, 6 , 9 , 1 1 , 13—6, 2 1 , 4 0 , 4 2 , 52 f., 55, 59, 80, 84 f. Studentenschaft u. Universität (in Dtld.) II 33, 57, 62, 88.