Festschrift Kurt Badt zum siebzigsten Geburtstage: Beiträge aus Kunst- und Geistesgeschichte [Reprint 2018 ed.] 9783111503738, 9783111137056


183 8 28MB

German Pages 326 [388] Year 1961

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Sokratischer Und Sophokleischei Apollinismus
A Note On Contemplation And Creativity (With 2 Pictures)
The Conceptual Basis Of Archaic Greek Sculpture
Vom Aufragen Der Figuren In Dantes Dichtung Und Giottos Malerei
Bemerkungen Zum Kolorismus Zweier Gemälde Der Miinchener Pinakothek
L. B. Albertis Langhaus Von Sant Andrea In Mantua
Albrecht Dürer — Die Vier Apostel
Bruegels Verhältnis Zu Raffael Und Zur Raffael-Nachfolge
Zur Bedeutung Der Schrägsicht Für Die Deckenmalerei Des Barock
Ein Beitrag Zu Meindert Hobbemas Allee Von Middelharnis
Die Enthauptung Des Dogen Marino Faliero Von Eugène Delacroix
Zur Kunst Cézannes
Die Bilder Van Goghs Nach Fremden Vorbildern
Ungemalte Bilder Von Vincent Van Gogh
Anton Bruckner Und Der Barock — Versuch Einer Vergleichenden Künstebetrachtung
Theodor Hetzer — Gedanken Zu Seinem Werk
Die Würdigung Von Nietzsches Stil In Der Hispania
Herzchirurgie — Einst Und Jetzt
Schriften Kurt Badts
Recommend Papers

Festschrift Kurt Badt zum siebzigsten Geburtstage: Beiträge aus Kunst- und Geistesgeschichte [Reprint 2018 ed.]
 9783111503738, 9783111137056

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

FESTSCHRIFT KURT BADT

FESTSCHRIFT

KURT BADT ZUM

SIEBZIGSTEN GEBURTSTAGE

B E I T R Ä G E AUS KUNST- UND G E I S T E S G E S C H I C H T E

WALTER DE GRUYTER & CO. / BERLIN MCMLXI

UNTER MITARBEIT VON RUDOLF ARNHEIM MARTIN GOSEBRUCH

GERTRUDE BERTHOLD -

WERNER GROSS

-

GUNTER BUSCH FRITZ GROSSMANN

LORENZ DITTMANN -

ERICH HUBALA

MAX IMDAHL - FRITZ NOVOTNY - EDUARD PLUSS - PHILIPP RAWSON - UDO RUKSER WOLFGANG SCHÖNE - RUDOLF SCHOTTLAENDER - ERNST STRAUSS - ADOLF MAX VOGT GEORGE J. WITTENSTEIN HERAUSGEGEBEN VON MARTIN

GOSEBRUCH

MIT 69 ABBILDUNGEN

Ardiiv-Nr. 35 25 61 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen (c) 1961 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagahandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp. — Berlin W 30 Printed in Germany

KURT BADT, dem zum siebzigsten Geburtstage am 3. März i960 die Beiträge dieser Festschrift dargebracht wurden, kam in Berlin 1890 zur Welt. Die kühle Raison und das warm empfindende Herz der Menschen dieser großen Stadt sind auch ihm eigen, dazu viel vom strengen Pflichtgefühl des Preußen,- doch die weltläufige Sicherheit des Geschmacks hat ihm das hochkultivierte Elternhaus mitgegeben und den prophetischen Ernst im Suchen nach der Wahrheit dessen altehrwürdiger Stamm. Geistig ins Weite angelegt, findet er auf der Universität in Wilhelm V ö g e den Lehrer von kostbarster Individualität, und nach der Promotion im Jahre 1913 mag er sich an eine ihm eröffnete kunsthistorische Laufbahn nicht binden lassen. Rein der umfassenden Bildung seiner Person beginnt er zu leben, und im selbsterrichteten Hause zu Bodman am Ufer des Bodensees führt er die Existenz eines modernen Humanisten, bildhauert, malt und spielt Mozart, beschneidet im Garten die Bäume, und vertieft sich zumal stets von Neuem in das Nachdenken über das Wesen des Schöpferischen; denn trotz des erheblichen Anteils der Musen regiert bei ihm doch Minerva. Es sind die Jahre, in denen sich der reiche Schatz an sinnlicher Erfahrung in ihm sammelt, der seinen späteren wissenschaftlichen Darlegungen über Kunst die Fülle und Wirklichkeit geben sollte. Aus diesen Jahren aber berichten die Freunde auch schon von der Unerbittlichkeit seines Fordems nach Wahrhaftigkeit im Denken und Tun und von der nie aussetzenden Bemühung, aus allem ihm Begegnenden das Beste zu entfalten.

V

Bereits in seiner Dissertation über Andrea S o l a r i o , 1914 erschienen, kündigt sich jenes Fragen nach der Tiefe dei Kunst an, das Badt später so entschieden zu seinem Thema machen sollte. Solario, ein Maler mittleren Maßes — Leonardo da Vinci, der ihn Bestimmende, einer der Größten, zwischen diesen Rangstufen bewegt sich der Gedanke, weder den Maßstab nur vom Kleineren nehmend noch ausschließlich das Große verklärend. Das Buch, das nicht zu den methodisch bahnbrechenden gezählt sein will, bezeugt besondere Überlegenheit der urteilenden Vernunft. Kurz nach dem ersten Weltkrieg schreibt Badt für die Zeitschrift seines Freundes Ludwig Burchard drei Aufsätze, über Waldemar Rösler, über Lehmbruck und über Gauguin, alle drei kostbar an Reife der Einsicht,

dem heutigen Leser das Wiederentdecken lohnend. Oberhalb des bloßen Für lind Wider, freilich auch des maßstabslosen Nachbeschreibens, ist hier an Moderner Kunst bleibende Erkenntnis gelungen. Indem wir liebevolles Verständnis des erfahrenen Plastikers finden für Lehmbrucks herbe Formenwelt, versagen wir uns nicht dem Ernst des Wortes vom Modernen, der mehr aus der Sehnsucht zum Großen schaffe als aus der Kraft dazu, und von dem feinen Kenner französischer Malkultur, der sich hier ausweist, nehmen wir es an, daß der bestrickende Gauguin neben dem tiefer gegründeten C é z a n n e nicht zu bestehen vermag. Müssen wir hinzufügen, daß Badt lächeln würde über den Eiferer, der ihn auf Modernität oder Tradition festlegen wollte, ihn, der einst ein herrliches Magdalenenbild D e l a c r o i x ' , jenes Großen der Neuzeit, sein eigen nannte, der andrerseits Worte verpflichtenden Ernstes zu B a r l a c h fand, und dessen Urteil bei Künstlern der jetzigen Generation Gewicht hat? Doch das Leben am See fand sein plötzliches Ende. Der Krankheitsausbruch im Volkskörper, der, unter dem Tragbild der Erneuerung, Deutschland nach 1933 dem Machtrausch anheimfallen und zur Stätte nie erhörter, nie zu vergessender Gewalttat entarten ließ, nahm solch feinerem, geistigen Wachstum den Boden. Rechtlos geworden verläßt Badt sein Haus und sucht Schutz in der Anonymität der Großstadt München. Der Freund Wittenstein, der den Weg zu ihm nicht vergaß, schildert die furchtbare Spannung am Tage nach dem Pogrom von 1938, da ungewiß war, ob der Bedrohte sich noch in Freiheit, noch unter den Lebenden befand. Dieser verläßt dann kurz vor Ausbruch des Krieges das Land, das sich ihm als Heimat versagte, und geht nach England in ein schweres Exil. Die Jahre 1939 bis 1952 verbringt er in London, wo das Deutschland gleichfalls verlorengegangene Warburg-Institut seine Arbeitsstätte wird. Das Schreiben für die Wissenschaft wird wieder aufgenommen — eine für die Zukunft wichtige Entscheidung — und führt zu dem erlesenen Buch über Delacroix' Zeichnungen und zur ersten Fassung von „Constables Wolken", einer auf unerwartete Weise mitten ins Herz des 19. Jahrhunderts führenden Untersuchung, die dessen eigentümliches Naturverhältnis wie auch die Neigung zum Atmosphärischen in der Malerei zu deuten vermag. Nach Kriegsende hielt es Badt, sich trotz allem zu Deutschland gehörig fühlend, für seine Pflicht, in das geschlagene Land zurückzukehren und an seiner Erneuerung mitzuhelfen. 1952 nahm er das Leben am Bodensee wieder auf, gewiß nicht leichten Herzens. Aber hier nun, im engeren Rahmen des neuerrichteten Uberlinger Heimes, sollte er die staunenswerte Steigerung seiner schöpferischen Kräfte erfahren, die ihn zu wichtigen Werken befähigte in eben dem Augenblick, da sie auf besondere Aufnahmebereitschaft seiner Umwelt trafen.

1956 erscheint das Buch über die Kunst C é z a n n e s . Es stellt die Frage nach der Tiefe dieser Kunst, „wie weit sie ins Innere der Welt reiche", und beantwortet sie, jenseits der Dogmen und fern von Schwärmerei, durch solch reichen Aufbau von Gedanken und vor so weitem geschichtlichem Horizont, daß seither die uns noch nahe, so leicht vom Intellekt zu überblendende wie schwer zu bewertende K u n s t geschieh te des 19. Jahrhunderts ihren Rangstufen und Wesensqualitäten nach als geordnet gelten kann. Die Fachgenossen, soweit sie das Nachdenken über Kunst noch als die höchste Aufgabe ihrer Wissenschaft erachten, begannen auf die ruhige Stimme zu hören, die bei aller gründlichen Kenntnis des Geschichtlich-Wandelbaren beharrlich vom Festen, Bleibenden, Wahren zu sprechen vermag. Sie lernten ein Denken kennen, das sich in philosophischen Bahnen, zumal denen Heideggers, bewegt und doch, wie die hingebende Beschreibung der Cézanneschen Aquarelltechnik beweist, den Nährgrund reicher sinnlicher Erfahrung nicht logischen Konstruktionen zuliebe verläßt. Dem Vordringen aber eines analytisch brillanten, doch versachlichend-eingreifenden Denkverfahrens, das Bedeutung und Form, Ikonographie und Stil, Wahrheit und Schönheit am Werk auf getrennten Bahnen verfolgt, zu Strukturformeln r e d u z i e r t und sodann aus diesen das Werk wiederum im Seinsgrund zu e r k l ä r e n vorgibt, sahen sie durch Badt Einhalt geboten, denn sein neuartig verstehendes Eindringen in das Ganze des Schaflensvorgangs führt zum Aufbau von Begriffsgefügen reicher Gliederung und Stufung, die gerade darin Eigenart und Seinsgewicht, Essenz und Existenz der unteilbaren, unwiederholbaren Kunstwerke auf Weise der Wissenschaft nachzubilden vermögen, Grundlagen also für das historische Kunsturteil sichern und zugleich, indem sie etwas von der volltönenden Harmonie der Werke lebendig weitergeben, menschlicher Bildung Belangvolles schaffen. Das Buch wird einmal zu den klassischen Werken der Wissenschaft von der Kunstgeschichte gezählt werden. Das Cézanne-Buch, so sehr es die Summe eines Lebens zieht, blieb nicht allein. Es kamen hinzu — um nur einiges zu nennen — das Buch über die Vier Städte, das voller Nachdenklichkeit Verbindungslinien zwischen Kunst und Leben zieht, eine neue Fassung der „Wolkenbilder" und der Aufsatz über L. B. Alberti als Plastiker, der überraschend ein neues historisches Thema aufwirft und durch Einführung der Dimension des Dilettantischen das Fragen nach der Tiefe der Kunst bereichert. Die Betrachtung von Raffaels „Brand im Borgo" setzt eines der großen, aber der Moderne fremd gewordenen Bilder wieder in seine Rechte ein. Methodisch neuartig und folgenreich legt sie eine nach Zeitphasen geschichtete Struktur des Bildes und damit eine verdeckt gebliebene Fülle von Inhalt und Form dem Bewußtsein wieder frei. Auch in dem jüngst erschienenen Buch „,Modell und Maler' von Vermeer", das im Gewände kritischer Auseinandersetzung ein umfassendes Lehrbuch historischen

Kunstinterpretierens darstellt, geht es um diesen geschichteten Aufbau der alten Bilder, von der „Anhebung" bis zum „Schluß", der in sidi reich genug ist, um alle künstlichen Sinn-Überhöhungen überflüssig zu machen. Badt bewährt hier ein so harmonisch ausgewogenes, organisch richtiges Denken, daß sich die Erinnerung an Goethe wie von selbst einstellt, wenn er mit dessen Worten uns mahnt, statt Geheimnisse hinter ihnen zu suchen, den Phänomenen selber gewachsen zu werden. Andere Bücher sind im Erscheinen, während wir dies niederschreiben, eine Auseindersetzung mit dem von Riegl entwickelten Raumbegriii der Kunstgeschichte und eine Darlegung über die Farben van Goghs. Wir freuen uns in der Aussicht auf das Werk über P o u s s i n. Im übrigen weiß der Autor mehr über seine Pläne als irgendein Herold. In den wenigen Jahren, seit er hervortrat, hat sich Badt zu den alten Freunden — Künstlern und Gelehrten verschiedener Fachrichtungen — neue hinzugewonnen, darunter manchen, der sich als seinen Schüler bekennt, obwohl er selber schon Schüler hat. Auch ohne akademisches Lehramt ist Badts Autorität fest gegründet und nimmt an Umfang zu. Hätten wir heute zur Festschrift eingeladen, so wären es mehr gewesen, die sich an ihr beteiligt hätten. Möge Kurt Badt spüren, daß er nicht umsonst nach Deutschland zurückgekehrt ist, daß sein klares Denken und gerades Handeln dort Widerhall fand, und möchte ihm noch eine lange, glückliche Schaffenszeit beschieden sein.

M A R T I N GOSEBRUCH

W E R N E R GROSS

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

RUDOLF SCHOTTLAENDEH:

Sokratischer und Sophokleischei Apollinismus

RUDOLF ARNHEIM:

A Note on Contemplation and Creativity (with 2 pictures)

PHILIP RAWSON:

The Conceptual Basis of Archaic Greek Sculpture

MARTIN

i 8 17

GOSEBRUCH:

Vom Aufragen der Figuren in Dantes Dichtung und Giottos Malerei (Mit 1 Abbildung)

32

ERNST STRAUSS:

Bemerkungen zum Kolorismus zweier Gemälde der Miinchener Pinakothek (Mit 2 Abbildungen) 66

ERICH HUBALA:

L. B. Albertis Langhaus von Sant Andrea in Mantua (Mit 6 Abbildungen)

ADOLF M A X

VOGT:

Albrecht Dürer — Die vier Apostel

83 121

FRITZ GROSSMANN:

Bruegels Verhältnis zu Raffael und zur Raffael-Nachfolge (Mit 10 Abbildungen) 135

WOLFGANG

SCHÖNE:

Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock (Mit 18 Abbildungen) 144

MAX

IMDAHL:

Ein Beitrag zu Meindert Hobbemas Allee von Middelharnis (Mit 5 Abbildungen) 173

GÜNTER BUSCH:

Die Enthauptung des Dogen Marino Faliero von Eugène Delacroix (Mit 2 Abbildungen) 184

LORENZ DITTMANN:

Zur Kunst Cézannes (Mit 7 Abbildungen)

190

FRITZ NOVOTNT:

Die Bilder van Goghs nach fremden Vorbildern ( Mit 9 Abbildungen) 213

EDUARD PLÜSS:

Ungemalte Bilder von Vincent van Gogh

WERNER

231

GROSS:

Anton Bruckner und der Barock — Versuch einer vergleichenden Künstebetrachtung (Mit 4 Abbildungen) 260

GERTRUDE BERTHOLD:

Theodor Hetzer — Gedanken zu seinem Werk

UDO

RUKSER:

Die Würdigung von Nietzsches Stil in der Hispania

GEORGE J . WITTENSTEIN,

MD:

Herzchirurgie — einst und jetzt

292 301 3°7

Erich Heikel, zu Alkman, Holzschnitt 1957

S O K R A T I S C H E R

U N D

S O P H O K L E I S C H E R

APOLLINISMUS

VON RUDOLF SCHOTTLAENDER

1

Daß Sokiates ein von Natur höchst erotischer Schönheitsfreund gewesen ist, blickt überall in Piatons Dialogen zu sehr durdi, als daß man es dem historischen Urbild abstreiten könnte. Der gleiche Piaton gibt uns in der Gestalt seines älteren Bruders Glaukon, den er als einen Gesprächspartner des Sokrates in der „Politeia" verewigt hat, die anschauliche Bestätigung der allenthalben zu madienden Erfahrung, daß das, was Perikles (bei Thukydides in der Leichenrede) als die allgemein athenische Eigenschaft der „Philokalie" hervorhebt, regelmäßig zwei Verzweigungen hat: die erotische und die musische. Es widerspricht daher von vornherein aller psychologischen Wahrscheinlichkeit, daß ein und derselbe Sokrates, der im höchsten Grade Liebhaber jugendlich menschlicher Schönheit war, trotzdem ganz und gar kein Liebhaber künstlerisch gestalteter Schönheit gewesen sein sollte. Freilich ist das Unwahrscheinliche immerhin als wirklich denkbar. Seine vermeinte historische Wirklichkeit zu widerlegen, scheint mir ein dringendes Erfordernis schon deswegen, weil die gängige Vereinfachung, die den Sokrates als „unmusisch" abstempelt, dem Verständnis des verborgenen Zusammenhanges zwischen Sokrates und Sophokles von jeher im Wege steht. Nur wer in seinem Leben irgendwann einmal als rezeptiver Mensch weit offen war für den Zauber dichterischer Rhythmen, kann während seiner letzten Tage im Gefängnis dem lange zurückgehaltenen Drang, in der Poesie auch einmal produktiv zu werden, freien Lauf lassen. Daß er dies getan hat, sagt Sokrates an seinem Sterbetage von sich selbst in jener den Stempel historischer Glaubwürdigkeit tragenden Darstellung, die Piaton im „Phaidon" gibt (61 B). Immer wieder habe ihn eine Traumerscheinung gemahnt, er möge im Musendienst auch einmal etwas schaffen (60 E), aber nun erst empfinde er in dem Traumanruf die unabweisbare Mahnung, eine heilige Pflicht zu erfüllen. Es wird ein wenig sein Tagewerk, äsopische Prosa in rhythmische Form zu bringen. Aus dieser am Äsop genährten poetischen Betätigung leitet Nietzsche die Folgerung ab, die einzige von Sokrates begriffene Gattung der Dichtkunst sei die äsopische Fabel gewesen („Die Geburt der Tragödie", 14. Abschnitt). Hier ist das Vorurteil mit Händen zu greifen: jemand wählt sich ein bequem 1

Badt-Festsduift

bereitliegendes Prosamaterial, um daran seinem Drang zu poetisch-rhythmischer Gestaltung Genüge zu tun, und daraus schließt ein Späterer kurzerhand, für alle andere Diditung habe ihm der Sinn gefehlt. Als mindestes müßte man hierzu ergänzen, daß Sokrates auch den sakralen Lobgesang „begriffen" hat. Denn sein erster Impuls treibt ihn dazu, einen Hymnus auf Apollon zu dichten, ein feierliches „Prooimion", dessen Abfassung sich als interessante literarische Neuigkeit sofort herumsprach. Sokrates selbst nennt ausdrücklich als Anlaß dieser im Gefängnis entstandenen Dichtung die Festlichkeit zu Ehren des delischen Apollon (öi A/B). Daß ihm im Gefängnis so unerwartet viel Lebenszeit geschenkt wurde, obwohl seine Hinrichtung normalerweise längst hätte stattfinden müssen, das verdankt er ja eben der alljährlichen Gedenkfahrt des dem Apollon geweihten Schiffes von Attika nach Delos. Diesen Gott besingt er also nicht zur bloß artistischen Übung, sondern im Uberschwang eines ebenso frommen wie sehr persönlichen Dankes. Denn er liebt und genießt diese wie geschenkten letzten Tage, und aus solchem Hochgefühl heraus zu dichten, das ist ein musischer Antrieb zu geistlicher Poesie, so echt, wie man ihn sich nur vorstellen kann. Wohl hat er diese musische Seite des Apollondienstes lange vernachlässigt, sonst würde die Traumerscheinung ihn nicht an sein Versäumnis zu mahnen brauchen. Aber darf man hieraus folgern, er sei dazu nie fähig gewesen? Einen Einschnitt in seinem Leben auch, in dieser Hinsicht macht zweifellos sein Hervortreten mit der ihm eigenen und ihn ganz absorbierenden philosophischen Aufgabe, die ja auch eine apollinische war. Nach allem, was wir wissen, geschah das nicht vor der Mitte der zwanziger Jahre des fünften Jahrhunderts. Wir haben bis zum Beweis des Gegenteils von der Annahme auszugehen, daß Sokrates, zumindest in den Jahrzehnten vor Beginn seiner apollinischen Sendimg, d. h. vor dem von Chairephon heimgebrachten Orakelspruch, sich, was den Besuch des Theaters anlangt, ebensowenig von der Gemeinschaft der Vollbürger seiner Vaterstadt ausschloß wie bei irgendeinem anderen anerkannten Anliegen der Allgemeinheit. Können wir aber etwas aussagen über die Art seiner Anteilnahme an solchem gemeinschaftlichen Erleben? — Hierüber scheint mir ein entscheidendes Zeugnis vorzuliegen in einer, wie ich meine, unbedenklich für die Biographie verwertbaren Äußerung des platonischen Sokrates im zehnten Buch der „Politeia". Vor und nach der ausschlaggebenden Stelle wird die Leidenschaft für mimische Darbietungen und Darstellungen von Homer bis zu den Tragikern dem attischen Volk als ganzem und insbesondere seinen besten Söhnen zugeschrieben (605 C/D), ja, als Frucht der allgemeinen Erziehimg in den hellenischen Staaten bezeichnet (607 E). Daß Sokrates gerade hierin eine Ausnahme machen sollte, ist angesichts des

2,

echten und volkstümlichen Athenertums, das er doch sonst durchweg repräsentiert, von vornherein unglaubhaft. Zwar was im 10. Buch an Doktrinen über die Poesie vorgetragen wird, gehört dem Piaton an ; nicht aber das, was dem Volksleben entnommen ist. Kaum irgendwo sonst wird es so deutlich wie hier, in wie hohem Grade musisch erregbar die Athener waren und das vor allem beim Anschaun der Tragödie. Doch über diesen Anteil am allgemeinen musischen Fluidum hinaus gibt es da noch einen Satz, der schon äußerlich die Form eines persönlichen Geständnisses des Sprechenden hat, und dieser Sprecher eben ist Sokrates selber. Er sagt über die mimische Poesie: „Wie gern würden wir sie aufnehmen in unseren Staat! Sind wir uns selber doch recht wohl bewußt, wie wir von ihr berückt werden" (607 C). Der hier gewählte Ausdruck für die Selbsterkenntnis ist das gleiche Verbum, mit dem Sokrates auch sein berühmtes „Wissen um sein Nichtswissen" bezeichnet: das „Beisichselberwissen" im Sinne des aufrichtigsten Eingeständnisses tiefwurzelnder Neigung oder Schwäche. Warum eigentlich sollte Piaton den Sokrates als bloßes Sprachrohr benutzen, um seinem eigenen älteren Bruder Glaukon — der womöglich zur Zeit der Abfassung der „Politeia" noch lebte — ein Geständnis abzulegen? Brüder pflegen einander zu kennen, und sicherlich haben diese beiden oft genug nebeneinander im Theater gesessen, so daß Glaukon längst ein intimes Wissen um Piatons musischen Enthusiasmus haben mußte. Eher ist es wahrscheinlich, daß Glaukon dem jüngeren Bruder von solch einem Geständnis des Sokrates berichtet hat. Denn dem viel älteren Sokrates ist der wohl vierzig Jahre jüngere Glaukon nur einer unter Hunderten von Anhängern. Ihm eröffnet er gern einmal bei Gelegenheit des Dialogs seine fast verschämte Herzensneigung zum Tragischen.

3

Setzen wir nun die Zeit, in der er sich dieser Neigung noch überlassen zu dürfen glaubte, in den Lebensabschnitt vor Beginn seiner apollinischen Mission, so ergibt sich die höchste Wahrscheinlichkeit, daß er den Gipfel der tragischen Kunst im Altertum, den „König ödipus" des Sophokles, noch ganz so mit aller Kraft von Geist, Herz und Sinnen miterlebt hat wie jeder andere Athener, auf den die von Perikles ausgesprochene kollektive Selbsteinschätzung „Wir sind Schönheitsfreunde" im vollen Wortsinne zutraf. Von der Voraussetzung ausgehend, daß dieses Theatererlebnis kurz vor, der Sendungsbeginn kurz nach 425 anzusetzen sei, werfe ich jetzt die Frage auf: welcher innere Zusammenhang besteht zwischen den beiden formal so verschiedenen Apollinismen, dem des hoch in den Sechzigern stehenden Sophokles und dem des etwa fünfundzwanzig Jahre jüngeren Sokrates? Die beiden gründlichsten Ausleger des Sophokles in den letzten Jahrzehnten: Karl Reinhardt und Cecil Maurice Bowra, stimmen darin überein, daß sie einen Schlüssel zum Ganzen des ödipusdramas erblicken in der Klage, die der Chor unmittelbar nach der gänzlichen Enthüllung des i»

tragischen Sachverhalts anstimmt.1 Dort fallen die Worte von dem Scheinen und Meinen als dem Höchsten, wozu der Mensch es bringe (1189 f.). Im Gegensatz dazu steht das göttliche Sein und Erkennen, zusammengefaßt in dem Namen Apollon. Beide Interpreten bringen diese Gegenüberstellung in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der bei Parmenides ausgeprägten Zweiheit von Sein und Schein, von dem die Wahrheit erreichenden Wissen und dem in wechselnden Bildern befangenen Dünken. Wenn wir von dieser Grundlage aus an den Vergleich des sophokleischen und des sokratischen Denkens herantreten, so erkennen wir: der Apollinismus des Sophokles wie des Sokrates besteht darin, daß beide das wahre Wissen suchen, der eine rückkehrend zu dem Ursprung, als der ihm die Weisheit des delphischen Orakels gewiß ist, der andere in einem beispiellos ausdauernden Aufbruch zu neuen Ufern, zu dem er sich durch einen Spruch des gleichen Orakels2 getrieben fühlt. Das wahre Wissen aber entwickelt sich, und das insbesondere in der Zeit des Sophokles und Sokrates, im Kontrast gegen sein Doppelgängertum, welches im Griechischen mit einem Wort vom Stamme „Weisheit" bezeichnet wird. Wir Modernen freilich, wenn wir dieses Wort „Sophist" in den Mund nehmen, mißverstehen einander leicht dahin, als hätten wir lediglich eine philosophiehistorisch abgestempelte Erscheinung im Auge. Ubersetzen wir jedoch Sophist mit „Bescheidwisser", so sehen wir sogleich, daß diese Kennzeichnimg auf ödipus im höchsten Grade zutrifft. Er ist ein sogar genialer Bescheidwisser, der die schwierigsten Rätsel zu lösen vermochte. Aber ein wahrhaft Wissender ist er nicht; er verstrickt sich vor unseren Augen in die Unwahrheit und ist blind für das, was ihn am nächsten umgibt. Sagt man nun, er sei der große Sophist, so erhebt sich sofort der Widerspruch, daß er doch einen von Protagoras und anderen völlig verschiedenen Typus verkörpere. Aber diese Verschiedenheiten berühren nicht jene tiefste Ubereinstimmung, daß der ödipus, der auf der Bühne steht, ebenso wie irgendeiner der hervorragenden Köpfe, die damals in Athen glänzten, mit allem seinem Scharfsinn und seinen ausgebreiteten Kenntnissen doch die untrügliche objektive Gewißheit nicht besitzt, also kein Weiser ist. Daß ferner der Ausdruck „Hybris" in jenem Wort des Chores von der „tyrannenzeugenden Kraft der Uberhebung" (873) auf ödipus zielt, ist ebenfalls unbestreitbar. Das Wort wird gesprochen, nachdem der König der von seiner Frau bekundeten Verachtung der apollinischen Prophetie ausdrücklich zugestimmt hat (859). Solche Hybris ist aber doch ihrem innersten Wesen nach nichts anderes als die Überheblichkeit des menschlichen Verstandes, die intellektuelle Vermessenheit, gegen die Sokrates aus der Demut seiner Apollonfrömmigkeit heraus bald nach der Auf1 2

Vgl. Reinhardt, Sophokles, S. 108, und Bowra, Sophoclean Tragedy, p. 201. Piaton, Apologie, 20 E—21 A.

4

führung des ödipusdramas anzukämpfen beginnt. Seele und Antriebskraft dieses Kampfes, den er bis an sein Lebensende fortführt, ist sein „Wissen um sein Nichtswissen". Und das ist der apollinischen Substanz nach identisch mit dem, was die thebanischen Greise im Chorlied des Sophokles als ihre Erkenntnis der menschlichen Scheinhaftigkeit aussprechen. „Die Hybris erzeugt den Tyrannen" — dem heutigen Gebrauch des Wortes „Tyrann" drohen die gleichen Mißverständnisse und unwilligen Abwehrreaktionen, wie das Wort „Sophist" sie auslöst. Wenn das Drama „ödipus der Tyrann" heißt, so sollte man immerhin nicht die implizite Gleichsetzung der im hellenischen Altertum geläufigen Titelüberschrift mit der unzweideutig als Wirkung der Hybris gekennzeichneten Erscheinung überhören. Der Tyrann, den die Hybris erzeugt, steht vor uns auf der Bühne! — aber ist er ein Tyrann in dem Sinne, den wir fast unweigerlich mit dem Wort verbinden? Ein hellenisch verstandener Tyrann kann in seiner Art echtmenschliche Größe und Güte haben, wie ja auch ein Sophist genial und tüchtig sein mag. Wie er aber ohne überkommenen Rechtsanspruch und nur durch eigene Leistungen hochgekommen ist — ödipus nur durch die Lösung der Sphinxrätsel —, so sind es auch wieder die eigenen Leistungen, denen er für alle Zukunft gar zu sehr vertraut. Der Tyrann ist eigentlich ein Selfmademan, der es bis zum Königtum bringt. Analog ist der Sophist ein Selfmademan, der ohne Bindung an irgendwelche übersubjektive Normen und Wahrheiten zur Führerstellung des Demagogen aufsteigt oder aufsteigen macht. Die Hybris des Wahns, Erkenntnis der Wahrheit gottgleich zu besitzen, schlägt im Drama dem Helden selber, im geschichtlichen Leben der Polis als ganzer zum Unheil aus. In altbewährtes Wissen rettet sich und die Seinen der Dichter, in neu zu bewährendes der Philosoph.

5

Dem antiken Wesen entspricht es am ehesten, die Hybris als eine Art des Frevels (nefas) zu charakterisieren. „Schuld" ist sie nicht und sie „Sünde" zu nennen, würde allzusehr den Gedanken an eine nur durch Gnadenwirkung aufzuhebende, sonst unentrinnbare Verkehrtheit nahelegen, während bei der Hybris, wie beim Frevel jeder Art, die Freiheit des Entschlusses als Ursprung vollziehbarer Ein- und Umkehr gewahrt bleibt. Diesen tiefen Unterschied abgerechnet, besteht aber doch eine Parallele zwischen den beiden großen Leidgeprüften ödipus und Hiob. Man hat, sehr glaubhaft, den Hiob, das Muster an Tugend, der sündigen Neigung zum Vollkommenheitswahn geziehen. Karl Budde, einer der älteren Kommentatoren des Buches Hiob, faßt im Handkommentar zum Alten Testament (II, r, Göttingen 1896) das Leiden Hiobs als ein „Läuterungsleiden" auf: der biblische Dichter wolle „von seiner tieferen Erkenntnis der Sünde aus" den Sinn dieses Leidens verstanden wissen „als die Läuterung Hiobs von dem geistlichen Hochmut, der ihm Gefahr droht, und damit als die Föidemng und Festigung seiner Frömmigkeit" (Einleitung p. XXXIV).

Der Sünde wie dem Frevel folgt die Strafe nicht immer so, wie die staatlich verhängte Strafe auf die Schuld folgt, sondern am reinsten als Selbstbestrafung in der Form der bitteren Reue. Dafür den genialen dramatischen Ausdruck gefunden zu haben in der Blendung des Vermessenen durch eigene Hand, ist die dichterische Großtat des Sophokles. Denn daß der Mann, der sich rühmte, „Seher aus eigener Verstandeskraft" zu sein (394—398), hierfür nicht irgendeine beliebige, sondern die im höchsten Grade spezifische und zugleich symbolische Strafe der Blindheit sich selber zufügt, das stellt eine schlechthin adäquate Vergeltung des Frevels gegen Teiresias dar. In der Person des Sehers wurde der Gott beleidigt, und nie hätte ödipus den jähen und äußersten Schritt der Selbstblendung getan, wenn er einsichtig von vornherein den Worten des Sehers geglaubt und gehorcht hätte. Wieder übrigens, wie schon bei den Worten „Sophist" und „Tyrann", stoßen wir auf das Hemmnis überfrachteter Worte: von „Strafe" mag hier niemand etwas hören, weil der Gestrafte sonst nie zugleich der Vollzieher ist. Sagen wir also „Nemesis", da doch jedenfalls eine adäquate Vergeltung durch tiefstes Leiden gemeint ist! Was ödipus sich antut, das ist ein Frevelslohn, der ihm sowohl von der Gottheit her heimgezahlt wird — er erkennt Apollons Wirkung (1329 f.), worauf Bowia mit Recht den größten Nachdruck legt —, wie er ihn aber auch eigenhändig an sich selber vollstreckt. Der Schluß des Dramas unterstreicht diesen Charakter der tragischen Nemesis nochmals unzweideutig. Die Verse — 1524 f., die ich, den Scholien und Wilamowitz folgend, dem Protagonisten, nicht dem Chor zuweise — heben als den einstigen höchsten Stolz des ins tiefste Elend Gestürzten heraus, daß er die Rätsel der Sphinx zu lösen wußte und dadurch der mächtigste Mann wurde. Schon auf dem Höhepunkt des Streites mit Teiresias erklingen die Worte, die ahnungsvoll auf die Schlußverse hinweisen, das spöttische Wort des Repräsentanten der Gottheit über den großen Rätsellöser ödipus und die trotzig-vermessene Selbstbekräftigung des Königs „Schmäh' mich nur — du wirst mich darin groß finden!" (440 f.). Aber der Virtuose der Intelligenz, symbolisch: des Rätselratens, ist dennoch, ebenfalls zunächst symbolisch, blind für das, was zu wissen ihm und dem Staat so dringend nottäte (372 f.). Die reale, schauerlich gegenwärtige Selbstblendung macht dramatisch anschaulich, was dem Begriff der „tiefsten Unwissenheit mit allen ihren furchtbaren Folgen" metaphorisch entspricht. Denn „Blindheit" als Metapher für fehlende Erkenntnis ist schon lange vor Sophokles bei den hellenischen „Augenmenschen" noch weit mehr als bei anderen Völkern eingebürgert, so wie ja der „Nus" als „Auge" verstanden wird (vgl. Diels-Kianz, Vorsokratiker: Xenophanes B 24, Epicharm B 12, Parmenides B 2 , 1 , Empedokles B 17, ai). 3 8

Zu dieser Vorgeschichte: R. Schottlaendei „Drei voisokratiscfae Topoi" (Hermes 1927, 435 ff.) nebst „Nus als Terminus" (Hermes 1929, 234 ff.).

6

„Den selbstbewußten Stolz des ödipus auf seine eigene Weisheit" hat vor wenigen Jahren Viktor Ehienbeig in seinem Buch „Sophokles und Perikles" (deutsche Ubersetzung aus dem Englischen München 1956) als „eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften" dargestellt (84 f.). Trotzdem meint er, ödipus sei „nicht moralisch schuldig, kein Beispiel für Hybris, sondern ein wahrhaft großer Mensch". Daß ein wahrhaft großer Mensch auch der Hybris verfallen kann, dafür gibt es viele geschichtliche Beispiele, ich nenne als eines der bekanntesten nur das Napoléons I. Wir dürfen trotz berechtigter Ablehnung eines zu flach verstandenen Gegensatzes von „schuldig" und „nicht schuldig" das ethische Problem des Frevelhaften, Nefastischen nicht zudecken durch die Flucht in den Topos von der „wahrhaft großen Menschlichkeit". Die Tragödie zeigt den Menschen in einem Fegefeuer zwischen seinen Leidenschaften und seiner verborgenen Einsicht. Sokrates auf der höchsten Stufe der Einsicht wohnt in einer Art von Paradies der ganz licht, ganz mühelos beherrschend gewordenen Einsicht. Aber das echthellenische „Lernen durchs Leiden", diese große, hallende Satzung des Zeus, mit der die Orestie einsetzt, widerspricht durchaus nicht dem Bilde des schließlich dennoch zum schönsten Frieden aufgestiegenen Weisen, als den wir uns ja auch den greisen Sophokles zufolge der Darstellung bei Piaton (Politeia Buch I p. 329 C) vorzustellen haben. Ist solch' ein „weise" — im volkstümlichen Sinne des Wortes — zu nennender Mann zugleich Philosoph, so wird er freilich den Weg der reinen, methodisch gewonnenen Erkenntnis als ein neues, unentbehrliches Erziehungsmittel einführen. So ergänzt er den Tragiker und muß zum Kritiker an ihm werden, soweit ihm die Tragödie das Offenbleiben für philosophische Ergänzung faktisch durch ihre übermächtige Einwirkung auszuschließen scheint. In solcher Kritik zu weit gegangen zu sein, stellt in der Tat einen Vorwurf dar, der mit viel Berechtigung dem Piaton zu machen wäre. Aber anzunehmen, daß die geschichtliche Person Sokrates auch nur entfernt so ablehnend etwa den ödipus beurteilt hätte, würde eine Hypothese sein, die nach allem Gesagten keinerlei Wahrscheinlichkeit für sich hat.

A NOTE ON CONTEMPLATION

AND

CREATIVITY

VON RUDOLF ARNHEIM

When we look at simple geometrical patterns we find them to be made up of clearly discernible parts. A square, for instance, is seen as consisting of four edges. These parts allow a variety of groupings. In the square there are four ways of setting off one edge against the remaining three, and three ways of segregating two edges from the other two,- in addition, all four edges can be treated as being equally connected with each other. These groupings, when performed by the eye, are not merely quantitative. They go together with the visual structure of the pattern, that is, the position of its axes, its symmetries, and the correspondences of its parts. When the grouping changes, so does the structure. Gestalt psychologists have shown that not all of the possible combinations of elements are equally welcome to the eye. "Typically" we see the grouping that makes for the simplest available structure and reduces tension in the visual field to a minimum. The word "typical" is to be understood in two ways. More superficially it means that behavior in accordance with the "law of the good gestalt" is typical for people: it will be found statistically in a majority of subjects tested by experiment. More essentially it means that such behavior is typical for perception: when perception is pure and neutral, uninfluenced by the expectations or needs of the person, the simplest possible structure will prevail. "Pure perception" is an abstraction as any scientific concept must be. In daily life, to perceive does not typically mean to scrutinize objects of small interest for the sole purpose of doing some investigator a favor. But we could never learn anything about the interaction of perception and expectation and needs without first exploring in themselves the processes caused by the conditions in the visual sector of the mind. Consequently, most of the early gestalt studies used short exposure times; often the subjects were instructed to rely on their first, fresh impressions rather than brood over what they saw. This procedure was intended to isolate the perceptual process; but there is no denying that it also was in accordance with the demands of a way of life to which gestalt psychologists were committed, namely the belief that man is most productively himself when he devotes his powers to the requirements of

8

Fig. i his tasks. Being "stimulus-oriented", this school of psychology by its very nature has been impatient with the subjective and the personal. A few years ago a Japanese psychologist, Hitoshi Sakurabayashi, published some simple observations of considerable consequence. 1 He found that when the kind of pattern on which the gestalt studies based their conclusions was subjected to prolonged inspection there occurred fundamental structural changes. The figure spontaneously abandoned its "good gestalt" and produced other configurations. For example, within ten minutes of inspection Fig. i a presented not only the well known reversals illustrated in b and c but there were break-downs of the circle and of the overall symmetry. Sometimes secondary details left their context and 1

9

Hitoshi Sakurabayashi: "Studies in creation: IV. The meaning of prolonged inspection from the standpoint of creation." Japanese Journal of Psychology 1953, vol. 23, pp. 207—216, 286—288.

moved into the center of attention, and elements of divergent function combined to paradoxical sub-wholes. After looking at Fig. 2 a for a while, subjects could visually isolate the components b and c — a feat that at first was as hard on them as gestalt psychology would predict it to be. One could take these findings to mean that the basic gestalt law of perception holds true only under limited and perhaps artificial conditions and that a much greater variety of responses is characteristic for perception when it is investigated in its proper wide range. The gestalt thesis, then, would have to give way to a more general formulation, just as Newton's concept of absolute space was superseded by the broader theory of Einstein. However, it is necessary to distinguish between a too narrow view of a large system and the adequate view of a sub-system exposed to influences from beyond its range. In the first case a correction of the view is needed; in the second, one must learn to tell factors indigenous to the system from external factors and eventually to understand its place and function within the larger whole. I believe that we are dealing here with a situation of the second kind. The distinction is not always clearly made. For example, in a recent textbook the authors refer to the principle involved in Sakurabayashi's experiment and speaking of the familiar reversible figures they note: "The striking thing is that with long enough inspection, the simpler and 'better' figure does transform into the less good figure. We cannot assume that simpler, more symmetrical, and generally tetter' forms will always prevail."2 The statement is correct, but what is it meant to tell the student? Are the authors suggesting that the gestalt law holds sometimes but not always? Can there be exceptions to a law of nature? Or are the effects of the law in the primary field merely overlaid by its effects in a more comprehensive field? In my view the facts here under discussion serve to remind us that perception is a sub-whole in need of being considered in its biological context. The gestalt laws hold without exception as all laws do, but their manifestations are often modified. Traditionally perception was considered an isolated receptor mechanism. As such it could be expected to operate the more accurately the longer it was exposed to the stimulus. This however we know not to be true. Constant sights, noises, or smells of our environment drop out of awareness. The electro-chemical response of the sensory organ decreases as soon as a stimulus persists unchanged. Optical afterimages demonstrate that the photo-sensitive substances needed for vision are rapidly exhausted when we stare at an object. When a colored surface is fixated it soon begins to look pale. These facts go to show that the organism is not equipped to respond to a constant environ2 David Rrech. und Richard S. Crutchfleld: Elements of psychology. New York r958: Knopf. Page 107.

XO

a

Fig. a

ment, probably because perception has evolved biologically as a means of detecting helpful or harmful events, that is, changes. It is unnecessary and indeed dangerous to spend attention on stimuli that require no reaction. Cats and dogs doze on door-steps. But a decline of response is not the only reaction to an immobile situation. It is more human to supply the lacking excitation out of the mind's own inner resources. Studies on "satiation" have shown that when a person is forced to keep up a monotonous occupation he not only tries to evade it by such devices as inattention or forgetting; monotony also leads to variation of the task and "dissolution of the whole (of both perceptual and action unities)".3 s Kurt Lewin: A dynamic theory of personality. New York ^ 3 5 : McGrawHill. Page 254.

Sakurabayashi's observations show the ingenuity of the mind in deriving variety from a simple perceptual stimulus, which is not very variable. In Fig. i f, for instance, the shape of an incomplete propeller transformed into that of a butterfly, and thereby the pattern changed its axis and the correspondences of all of its parts. Similarly in i b each of the three sectors at one time or another assumed the function of an axial base flanked by two wings. Such restructuring refreshes the perceptual experience and revives attention. Even in its most elementary functions the mind refuses to be bored. But the reactions here discussed are not mere evasions. By escaping from the "satiated" view of the "good gestalt" the mind positively explores secondary structural properties of the stimulus at the same time. Once coerced into perusing the object longer than it would spontaneously, the mind exerts its curiosity and its power of discovering and inventing new patterns. Freed from the tyranny of the dominant structure the image yields hidden possibilities, aspects out of the ordinary. Original, shocking, paradoxical conceptions appear. In the early stages of the process the impulses of these changes reside below the level of awareness. The new views present themselves as surprises to the passive observer. But when these spontaneous changes are exhausted and the threat of monotony persists, the parry—according to Sakurabayashi's report—crosses the threshold of consciousness and the person finds himself exploring and inventing actively. No wonder that in considering his findings Sakurabayashi was reminded of the creative process. From reports on the working habits of artists such as Cézanne or Rodin he knew that they often looked at their object for a long time rather than busy themselves putting down what they saw. What were they doing? Were they not likely to be profiting from the gestalt disintegration brought about by prolonged inspection? Was it not the task of the artist to derive original patterns from the ordinary view of the world, to loosen conventional connections and replace them by new ones, which the average person found often hard to reconcile with the familiar sight of objects? A tempting idea. The phenomena of prolonged inspection can be related to the creative process either modestly or grandly. They can be thought of merely as a helpful device for facilitating the preparatory stages of creation. More ambitiously one could take them to be a small-scale model of the creative process, displaying under simple conditions the essentials of what happens when the creative thinker, artist or scientist, faces the world. Finally the transformations caused by prolonged inspection could be considered identical with what is known as creativity. In this case the actual "work" of the creator would be nothing but a jotting down of the revelations granted him during the inspection.

12

Undoubtedly, a thorough contemplation of the object as well as of the work itself at every stage is an essential requisite of all creation, although it is often neglected by beginners, amateurs, and inferior professionals. Even the prototype of all creators routinely paused to survey the day's work and "saw that it was good". It is also evident that such inspection discloses possibilities of structuring and restructuring the total pattern and parts of it. Many relations and groupings or suggestions for such are discovered. These discoveries serve the creative thinker to get away from the "normal" way of viewing the world. In the visual arts, for example, the normal view is determined essentially by four kinds of influence: 1. the law of the "good gestalt" imposing the structurally simplest view upon perception; 2. the memory of the "objective" shape, color, proportion, size of things known to the observer from past experience; 3. the conception suggested by the practical functions of the objects; 4. the manner of seeing and representing that prevails in the culture and especially its visual arts. The normal view, although indispensable even to the artist as a basis and standard of operation, cannot be allowed to prevail if a person is to express with artistic truthfulness what the object means to him. Art educators use their ingenuity to find effective methods of breaking down the familiar norms of perception and formulation. Some teachers expel all models from the classroom and studio or show them only briefly,others exclude the eyes entirely so that the student is guided by memory and motor impulses alone. It seems probable that such methods help to demolish the crust of conventionality but in the long run are inferior to quiet contemplation — a procedure practiced and advocated in classical oriental art. What, however, is contemplation? Its nature is nowadays often misinterpreted in order to make it support certain weaknesses of our civilization. 1. The "consumer-mentality" of our time inclines people towards passivity. The person acts as a receiver, who picks up what he gets and takes dictation from what the world imposes upon him. If changes from the ordinary are needed—for the sake of originality or progress—he must wait for such changes to be revealed or donated to him by his outer environment, that is by the perceived and the social worlds, or furnished by the storehouse of his unconsciously generated inspirations. Given this state of mind, we are inclined to see contemplation as a purely passive activity. 2. Since we have learned that success is based on competition we believe that to be creative is to be different. Originality instead of being understood to mean a manifestation of the innermost sources is perverted into denoting what is externally distinguishable from its competitors. Contemplation thereby becomes a technique for getting hold of deviations from the ordinary. 3. A persistent "naive realism" has led us to believe that

dealing with the world consists in recording or manipulating objective data. Learning is understood to mean the accumulation of facts and the tying together of these facts by associations. To think means to change such associations. In the theory of art we have a long tradition of considering the aesthetic image a. a faithful copy of its referent, b. a selection of parts taken from the referent to satisfy some criterion of taste, beauty, or essentiality, or c. a reshuffling of all or some of the parts of the referent.4 Therefore, to contemplate the world would be merely to take, select, and rearrange what is given. In opposition to such views it seems necessary to make the following counterassertions. r. True contemplation is no mere waiting and gathering; it is essentially active. Even in Sakurabayashi's experiments the transformations of the stimulus pattern only give the appearance of being changes of the outer world impinging upon a passive observer. Actually they are the result of defense operations on the part of a mind forced to pay continued attention to an object of small interest; and, in fact, the active attempts to modify the stimulus become conscious to the observer himself as the coercive situation continues. I mentioned this fact earlier in order to point out that we are dealing with "exploratory behavior". When a person truly contemplates he questioningly approaches the world, which generally is not simple like an elementary geometrical figure but invites the mind by its mysterious complexity. The artist looks at his model in search of visible answers to the question: ^fifhat is the nature of this life? More precisely, he seeks perceivable similes for the constellations and processes of reality. Contemplation does not resemble the attitude of the average "spectator"; it has no answers to offer to a person who is not asking. So many artists and art students are helpless in front of the objects they see and the shapes they themselves make because their desire to be artists does not spring from the profound need to give an account of what it is like to be a human being in this world. On the other hand, contemplation differs from a wilful quest in that it is not an interview but an audience granted by the object, which directs the conversation. Only by surrendering to the object will one obtain the answers to the questions that make the object speak. 2. The creative individual has no desire to get away from what is normal and ordinary for the purpose of being different. He is not striving to relinquish the object but must penetrate it according to his own criterion of what looks true. In the course of this penetration he abandons, often unwittingly, the normal view. When Picasso speaks of his work as a "series of destructions" he evidently means the positive destruction 4 Frances Bradshaw Blanshaid: Retreat from likeness in the theory of painting. New York 1945: King's Crown.

required by a search. The desire to be different for the sake of difference is harmful, and the urge to evade the given condition derives from a pathological state of affairs inherent either in the situation, as in Sakurabayashi's experiments, or in the person, as in the "escape mechanism" of neurotics, attributed to the artist by the Freudians. Faced with the pregnant sight of reality the truly creative person does not move away from it but towards and into it; and contemplation serves him to analyze the potentialities of the object for the kind of truth that fits both him and it. "Time and reflection change the sight little by little", says Cézanne in a passage quoted by Sakurabayashi, "till we come to understand." 3. When the human mind undertakes to give an account of reality it does not manipulate duplicates of reality itself but creates patterns that render certain qualities observed in, or in occasion of, the object. A scientific statement, for example, is a model embodying certain properties. Similarly, in the simplest case of a pictorial statement, when we represent a human face by a circle we are not reproducing the face but are accounting for its roundness by the embodiment of roundness available in the medium of pencil-lines. The contemplation of the object therefore is not so much a scrutiny of its constituents and their possible combinations as a trying on of categories derivable from the observer's medium. This aspect of creativity is less evident in the perception of simple geometrical figures, which are pre-shaped "ready for use", as it were; but it is most prominent when the bewilderingly complex appearance of reality must be fitted to the means of expression at the disposal of the observer.

15

What I have said has made the nature and function of "gestalt" appear in an uncertain light. I cited experiments that seemed to show that under certain conditions the "good gestalt" disintegrates. Later I mentioned perception according to the simplest overall structure among the factors establishing the "normal view", to be overcome by the art student. And when I called the gestalt approach "stimulus-oriented" did I not accuse it implicitly of the passivity described as an obstacle to creativity elsewhere? In order to meet these doubts it is necessary to mention first of all that Sakurabayashi's observations did not simply demonstrate a breakdown of the gestalt principle. True, the overall organization of the patterns, which is normally seen, disintegrated under prolonged inspection. However if one examines the shapes that emerged instead of it one notices that they are not arbitrary combinations of elements but the best possible structures available once the overall form is blocked. They are structurally simple and mostly symmetrical figures. In other words, the gestalt law continues to function within the limits imposed by the situation. We are reminded of what happens under more serious pathological

circumstances when the disoriented mind is unable to function as a well-organized whole but assumes nevertheless the best structure available under the stress of the disease. To comprehend the world according to the simplest possible structure is of the utmost biological importance because the visual form approximates rather closely the physical make-up of the things with which we have to deal. The virtue of faithfully doing justice to the object is essential not only to elementary sensory orientation but also to the endeavors of the philosopher, the scientist, the artist. At the same time, however, even the elementary sensory reactions to the world are bound by the conditions of the receptor mechanisms, and as we ascend on the organic scale we are less and less able to ignore the shape of the receptacle that does the receiving. The experiences of the past, the conventional norms and preferences, the beliefs and expectations, wishes and fears, they all join in helping to shape the image of the world conceived by the creative mind. In particular, the encounter of the artist and his world is always charged with high tension because its outcome must satisfy three conditions. It must do justice to the "facts", that is, to the normal view. It must also fit the particular world-view of the creator. And it must present the simplest possible structure obtainable for so complex a set of conditions. Unsatisfactory solutions of this problem are produced every day. In them we either fail to recognize the properties of the objective world.5 Or we find that the conception applied to the world is weak, distorted, or trivial. Or the composition meant to incorporate both demands does not provide the unity, clarity, and intensity needed to make the statement comprehensible and impressive. The gestalt structure, far from breaking down when perception is freed from the blinders of the experimental laboratory, is indispensable if the image born of active contemplation and realized in creative work is to have meaning and strength. However, this structure cannot be expected to preserve the monosyllabic simplicity of the geometrical pattern glanced at by a dispassionate observer. When it assumes the task of uniting the complexity of the world with the complexity of the mind it must attain the higher simplicity of profusion organized by form.8 This higher simplicity is no mere gift of the senses. It is attained by that blend of freedom and disciplined concentration which the ancient Chinese writers on art liked to describe with the words of Chuang-tzu: "The painter takes off his clothes and sits cross-legged." 6 It is perhaps necessary to state explicitly that, in my opinion, properties of the objective world can be rendered not only by human figures, trees, or mountains but by "abstract" shapes as well. 8 Kurt Badt: "tlber die Einfachheit." Unpublished essay.

T H E C O N C E P T U A L BASIS OF ARCHAIC G R E E K S C U L P T U R E VON PHILIP RAWSON

It is not so very long since the Archaic sculpture of the Greeks was aesthetically "discovered". The publication of Christian Zervos' "L'Art en Grèce" proclaimed its canonization. Previously most people had regarded it through the fog of academic classicism with its cult of "beauty", so that the virtues of its immense achievement as an art in its own right were obscured. It appeared as merely the adolescence of fifth-century art. Part of the debt that we owe to the modern interest in "primitivism" is that we can see and feel the power of the splendid intellectual clarity of archaic art with sympathy. It would be as foolish for us, though, to denigrate what came after, the art of the Parthenon and the later fifth century, as it was for our fathers to devalue Archaic art. What we must recognise is that we have to consider two radically different arts, two different systems of visual thought. That one preceded the other ist a fact of history, to be looked at without any moral preoccupation. The old myth, that classical art evolved from "infancy" to a "peak of perfect development", which Pliny propagated, still finds implicit assent in the work of the most eminent academic authorities on Greek sculpture today, such as Dr. Gisela M. Richter of New York, who has developed her whole chronology—and her valuation—of Archaic art by assuming that the Greeks acquired progressively more ability to render physical anatomy "naturalistically". This attitude implies that the Archaic Greeks were attempting to achieve, "naturalism" and, relatively, failing. She, and all the others who hold the same idea, fail to see that to the sculptor's eye Archaic art and the anatomical fourth-century art are evidence of two radically different ways of thinking, neither of them "naturalistic", and that, although one can ponder historical images of "development" that "account for" the change, these images don't help one at all to get closer to the meaning of individual works of sculpture. For of course the sculptor's thought within the sphere of his own proper symbolism is no less —and no more—accessible than the poet's. Few people would be so foolish as to call the plays of Sophocles a mere stage in a struggle to achieve positivist realism. What did happen in the development of Greek sculpture was that attention came gradually to be focussed on the whole muscular 2

Badt-Festsduift

mechanism of the body for its own sake, not for the sake of its intelligible symbolism; and that clearly distinct moral properties which in earlier times had been conveyed by the actual sculptured forms, faded into the generalised concept of the ideal, with its insistence on orthometric standards. These last eliminated the possibility of emotional emphasis on properties by the exaggeration of parts. Nevertheless it is true that the clear conceptual framework of the human body evolved in archaic times provided a firm basis for the confident virtuosity of later ages. The final intention of this study is to show how remote from any naturalistic intention was the work of the Greek sculptors, and to demonstrate that a condensed sculptural idea should be regarded as a construct rooted in technique. Technique, not in the merely physical sense, but in the sense of a product of the inspired intelligence that follows through the implications of its own thinking without submitting to the necessities of merely external resemblance. Nowadays nearly everyone thinks of "Art"as a single thing, a metaphysical entity, a kind of residual crystalline substance that can be reached by paring down, by sloughing off all sorts of „irrelevant" material. The figure of thought behind this notion is, of course, the sentimental image of the chemist isolating a chemical substance. Richness and generosity of invention, sustained pursuit of structural implications to the limit is not "Ait" for these people. How often has one known distinguished modern artists say "you have put too much in that picture; there is enough there for three or four". Such spiritual parsimony condemns its practitioner to an attenuated spiritual life. The symbols of art, nowever, may be of many kinds. Some have retained pretty consistent meanings for centuries. But others, truly sculptural symbols, may be records of the untranslatable experience of people of remote cultures, into the meaning of which we can only feel our way by allowing them to take root in our own minds and there by degrees assimilate to themselves emotive responses from our own experience. The actual forms used in sculpture are symbols in this sense, whose basis lies in regions of feeling and ingrained belief. And the technical resources of the sculptor, the intellectual and physical skills he has developed to register this symbolism, are as much part of the ultimate meaning of the work as his "subject matter". Of course to grasp a complex of sculptural meaning is no less difficult than to grasp the complex overtones conveyed in poetical diction. It involves far more than mere assent in an aesthetic shock produced by exotic and incomprehensible symbolism. It also needs far more attention than the historian's quick glance whidi seizes on classifiable characteritics and files them in neat mental pigeonholes. To begin with we have to translate into our own experience what the artist has actually done, to grasp the nature of his skill und read the language of his forms correctly. Sanskrit poetry and Chinese poetry have each their

own peculiar modes of thought. Greek poetry too. And despite the arrogant claims of scholars, the structure of this thought is only embodied in the poetry itself, never even in the most throughgoing analysis of it. Experience must make contact through the work with experience, feeling with feeling, the artist's with the spectator's. Analytic Intellect is a servant, and can never play the role of master. In the pages of "Nimbus" in 1954 the English poet George Barker produced an image for the artistic process, which reveals how essential it is to go to an art through its own proper terms. Talking of William Shakespeare he said that "it is the mark of the truly great intelligence to pursue the idea until it either surrenders, tracked down and found, naked and shivering in the cave of its own origin, or turns itself into stone". The traces of this pursuit, the path laid down for us to follow, are the artist's forms. There is no other path to the cave of origin for the "Idea" is never a tame creature whitii is bred in captivity, in the lecture rooms of a University. It lives in the wilderness of feelings and intuitions, of instinctive attitudes and recognitions which may never have found their way into conscious expression. It may be—and very often is—completely disconnected from the overt subject of the work of art. If not at variance with it it may lurk unsuspected behind a bland exterior whidi is iconographically "normal" (a classical instance of this is the Aztec adaptation of the older Nahuatl symbolism of Quetzalcoatl). The shape of this unrecognised idea cannot be photographed, but only perhaps described by a critic in that fanciful language for which critics are so often unjustly despised. It can never be truly known without the "pursuit", the following through of the symbolic structure whidi alone can promote a sense of its presence in the mind. For it is not an "idea", in any ordinary sense of that word, with a recognisable place on the map constituting our "everyday" "real" world. As a construct it starts from unspoken propositions, formulations that follow laws of relationship which no-one has yet elucidated. It may be no more intrinsically connected with any name it may be given than is the personality of a man with his passport number. The forms of the art themselves, however, constitute in Holderlin's sense a true "name" for the holy idea. Unless we follow the path to the cave of origin ourselves we will never reach the idea. Jacob's struggle with the angel took place in the dark where no words are. The names and descriptions the academics have given to archaic Greek sculpture are wildly inappropriate. We, like the great detectives of detective fiction, must use our instincts and imaginations to interpret the slenderest of clues. Bu to begin with we must know where to look for the path and how to walk upon it. We cannot grasp the subleties of poetic language until we can at least follow its syntax. Indeed much of poetry's effect depends upon usages and involutions of syntax. Just so, we cannot reach the idea underlying the sculptured forms of an

exotic culture without knowing something at least of their "syntax". The world of Greek imagination before Alkibiades was a far stranger and more exotic one than is often realised. Generations of writers have devoted themselves to describing the life and thought of the early Greeks, and the mythical substratum of their language. Rohde, Harrison, Murray, Jackson-Knight, and Onians, to name only a few. But the conceptual bases of plastic art have been very badly served. We still have to learn to read our way into the plastic experience of the early Greeks. So here I want to try and describe not the subjectmatter of their sculpture, nor the social conditions under which it was produced, but the way in which the sculptors thought. The large-scale monumental sculpture reveals this the most clearly because only there is the thinking pushed to its limit. On a small scale a quick turn of the hand, the slurring over of a difficulty, can obviate the necessity for thorough thinking-through of the implications of an idea. One of the fragmentary quotations preerved from the works of the pre-Socratic philosopher Polykleitos of Argos expresses this most succinctly: "The most difficult stage of the work is when the artist's clay is within a nail's breadth". Indeed it is, as any sculptor knows. The bigger the scale, the more difficult. Before we can go on, however, there is one current theory that should perhaps be considered. Charles Seltman, an accepted English authority on Greek art whose books are still in circulation, has proclaimed from an aristocratic vantagepoint the supremacy as inventor, as creative intellect in Greek art, of the Toreutes, or Celator, the "fine" artist, the worker on a small scale in ivory, precious stone or metal who employed mere labourers to do his large work. Paully-Wissowa indicates the tainted sources of this idea,—the chief is Pliny, another of whose notions I have already criticised. Such an idea could not possibly be held nowadays by any selfrespecting artist. We have the horrible examples of Vasari's paintings and the works of our notable Victorians before our eyes. Rodin's stone sculptures,, which we know were largely pointed off by artisans, are only saved by the fact that his original models were themselves as often as not on a heroic scale. It is probably true that in the fourth century B. C., and perhaps earlier, in the later fifth, the "big names" in Greek art, suchas Lysippos, did have major work pointed off from clay models. Certainly one of the very few possible surviving originals from this time—though even this is very doubtful—the Hermes of Praxiteles, bears all the marks of pointed work. And it is true that any artist needs help with the manual labour involved in a large carving. But it is not a legitimate assumption from these facts that the Archaic stone carver was a mere artisan of the same order of creative skill as the Italian craftsmen who pointed off the works of Victorian academic sculptors. The enormous increase in the difficulty of sculpture as the scale increases can only be appreciated by a sculptor.

20

Polykleitos was clearly familiar at first hand with the sculptor's problems. It is certain that first-rate artists in their own right alone could have produced the clearly organized syntheses of form embodied in the great directly-carved Kouroi and Korai of archaic times. What then are the technical elements of Archaic sculpture? The best introduction to them is by way of the contemporary techniques of vasepainting. The two arts are, of course, limited to the peculiar capacities of their respective media, but the same way of thinking underlies them both. In an important sense, archaic stone-carving can be regarded as a further development into three dimensions of an idea initially conceived in two dimensional terms. Black-figure was the pre-eminent vase-painting technique during the Archaic period. Its process of rendering began with the application, onto the raw surface of the pottery, of the main masses of the figures in the form of flat, solidly painted areas of pigment which, when fired by a certain process, emerged as black. The limits of these areas are defined initially in terms of formal concepts resembling those of plane geometry; not because the artists were geometers, but because those were the basic concepts in the light of which they, like the geometers, understood the real. The figures were laid out as assemblies of clearly delimited areas, joined one to the other. The fact that they are solidly painted in black is a positive affirmation as it were of the reality of the masses, and sets them against an undifferentiated background that represents a meaningless negative region where the coinage of archaic Greek values did not run. These masses are not simply cut-outs, or silhouettes based upon outlines, but centred, self-sufficient conceptual entities. One grasps them by looking at their centres, their wholes, not by following their edges. Therefore, even though they are two-dimensional, they have three-dimensional implications. The roots of the black-figure method can easily be seen on the painted pottery of the so-called "Geometric" period, of the ninth-eighth centuries B. C., where the main masses of all the figures are defined as rigidly conceptualized areas of dark paint. By the Archaic period these concepts, though no less clear, had become less limited and exclusive, and more varied. This kind of conceptualizing is often nowadays called "abstraction"—a misleading term; because of course what is once stated in an artistic medium is no longer abstract but concrete, and so must find its place in the world of "reality"; that is: within the overlapping and often conflicting sets of analogical structures which constitute our "world". Even the figures in the child's textbook of Euclid are not abstractions, but real things, displaying a structure which has its own special links into his emotional life as well as their particular conventional intellectual significance. 21

The flat visual concepts of the developed black-figure style achieve a special richness of reference to our experience by the way in which they

pass beyond the old "geometric" practice of rendering one "unit" of reality with one conceptual unit. They combine together, into a single area of paint, references to two or more of the basic concepts of the geometers; as it might be, to take a simple example, a pair of triangles combined in the mass of the calf of a leg into an ellipse. This use of what I call multivalency in forms is analogous to the ambiguities and amphibolies which are recognised as such an important element in the techniques of poetry. It also has some bearing on the artistic "principle of indeterminacy" I have discussed elsewhere. It also depends to a great extent on the development of linear ideas, used in conjunction with the flat, conceptual areas, which articulate them and give them variety. For it is of the essence of expressive "poetical" form in art that its conceptualisation does not employ simply the raw concepts of geometrical analysis, which are so general as to be flavourless, but uses forms of a complex character which combine together references to a number of regions of our visual and tactile experience at the same time. (See my article in Oriental Art, Vol IV No. 4, Winter 1958.) After the black-figure painter had applied his flat masses he incised lines over them, and round them, into the clay body, often rubbing white into the incision to give it clarity. These lines serve to subdivide the main masses of black into the units of reality according to which the thing represented is understood; in the case of the nude body: breast, rib-cage, navel and so on. They also incorporate purely linear forms into the ideas stated by the black masses, and in so doing modify their static self-sufficiency. Last there came additions of incidental colouring, white arms and faces for women, purple on the shields and greaves of warriors. A clear recognition of the distinct functions of mass and line characterized the whole of Archaic art. The red-figure painting of the Archaic period succeeded in preserving the conceptual layout of the main masses of the figures. In the red-figure technique, of course, the black background was painted in around the edges of the figure masses, which were left unpainted, and the linear ideas were added to the unpainted masses with black lines. It is interesting, however, that the archaic red-figure painting is markedly less convincing in its affirmation of reality than the black-figure despite the more "natural" colour it allows to the body. The positive act, the application of pigment, is directed only to the negative areas of the surface, the empty spaces,- black outlines alone support the weight of the invention. During the fifth century the black-figure technique was eclipsed by the red-figure, and the whole of the drawing on Greek pottery came to be carried out in black lines,- as a consequence the painters' grasp of the character of the contained masses was weakened. Thereafter, although there can be no denying the masterly but purely linear thinking of the painters of the red-

22

figure wares and the lekythoi, the Archaic idea, lamented by Socrates, was lost. In monumental sculpture, the order in which the principal processes in the make-up of the work were developed can be thought of as roughly parallel to that of the black-figure paintings; and the evolution of the sculptural style itself parallels very closely that of the vase painting. First, both in the conception of each single work and in the general evolution of the style, came the laying out of the broad masses in simplified cubical terms. We can see this very clearly in the giant unfinished statues still lying in the quarries of Naxos. It is true that following the necessities of carving, as distinct from those of painting, these cubical masses exist at first outside of, or enclosing what will emerge as the finished form. It is also true that this specifically cubical aspect of the masses arises naturally from beginning the sculpture by working first a frontal schematic silhouette, and then working two side silhouettes. But even so the planar directions are already established which will govern the following phases. As the work proceeds, and as the sculptural style evolves, the masses which compose the figures are progressively characterised and distinguished from one another. These masses indicate to the mind the space content of the whole figure, and represent a fundamental intuition concerning reality; to wit, that to be genuinely and ontologically established the image must show a clearly comprehensible content of space; thus the external setting of space is without value, negative from the point of view of meaning. In the earliest surviving Archaic monumental sculptures the masses are actually cubical in bulk, conceived very simply with few developed recessions, so that each of the four faces of the cubic mass bears a "blackfigure" idea, visible only from front, rear, or side respectively. Thus the massive aspect of the work remains inviolate. The great Kleobis of Delphi, the New York Kouros of c. 600 B. C. and the related Kouroi of Sunium, show this characteristic very markedly. These, and works like them suggest strongly that monumental carving to the Greeks of that period was a relatively new art, demanding the adaptation of what was originally a two-dimensional way of thought. As the sixth century progressed the linear forms which were developed over the chief masses became more complex, and plastic strength was sought by the working of varied recessions which at the same time modified the character of the masses. For example the taut bow of the outer thigh—always a strongly emotive idea to the Greeks—was brought up sharply close to the spectator; the thorax, container of the body's vital airs, was given an added visible depth to emphasise the virtue of its contents. The fundamental patterns of the lines, and the subject-ideas they delimit, however, remained the same until at least the middle of the fifth century. It was the degree to which they were sculpturally "developed" which marked the evolution of the style.

The plastic "development" of a line follows, to use mathematical terms, a linear function. Just as the line itself is the function of a moving point, so a surface is the function of a moving line. Movement is the essential feature of the linear form, opposed to the stasis of the centred mass. The line is understood by following with the eye its whole course as the mind follows the melodic course of a piece of monodic music; whereas the mass is understood by a process of "scanning" that assembles its limits into an unchanging unit in the mind. Thus the line incorporates into the realised whole the element of time. The development of a line into a surface may be simple, as in the case of wheel-thrown pottery, where the external form of the pot is a "function of revolution" of the contour. Or it may be complex, as in the surfaces of later Archaic sculpture, where the lines which were developed into surface functions were changing lines, and the resulting complex surfaces produced quite fresh and even unexpected threedimensional aspects at the places where their meetings were resolved. Until 480 B. C. the year of the Persian sack of the Acropolis at Athens, the same linear ideas as are found continuously in the black-figure vase painting to render the contours and divisions of the various parts of the body and clothing supply the raw material for sculptural "development" as I have described it. It is interesting to note that the multiplicity of continuous and repetitive incised or step-cut lines often used for example to render draperies serve as clearly explicit statements of the phases of development of the contours of the major forms to which they are applied. There is one further technical espect of Archaic sculpture that must be mentioned. It is a corollary of the application to three dimensional bulk of two-dimensional ideas, which nevertheless lay strong emphasis on the space content. If one examines especially the common small bronzes representing running winged figures in Athens, or the larger warriors on the frieze of the Siphnian treasury from Delphi, which display the thorax frontally and the hips und legs in profile, one notices that the utterly unnaturalistic resolution of the meeting place between the volumes at the waist is nevertheless, in terms of space, completely convincing to the eye. The intelligible continuity of plastic content makes it so. More than this; the negative spaces, that is to say the areas of empty space adjacent to the figures, or included by its members, as it might be the space between the legs, or between a raised arm and the side of the head, are interpreted in terms of plane concepts in very much the same way as are the masses of the black figure painting. It is for this property of assisting to define the surrounding space, to include it into and so unite it with the figures, that in Archaic relief and miniature work the members of the body, hands, arms and legs, are spread out in a flat visual plane without foreshortenings. For it is the special function of foreshortening in art—in its developed form, it involves the suggestion of axes in three-dimensions—to stress the

community of space shared by sculpture and spectator; an idea foreign to Archaic art. It is in relief carving that this particular technique finds its clearest and most highly developed expression. For the technique adopted by the archaic carvers, as it is revealed in some unfinished works, was first to cut away the surface of the relief back to the ground all around the preliminary drawing of the figures the relief was to contain. The recesses so obtained were neatly finished, offering a satisfactory guide for later stages of the work. The figures thus stood out from the ground as silhouetted but undefined masses. The spaces between them, however, were already throughly conceptualised. It is obvious that in the relief styles of the late fifth century and after this clear conceptualisation of the space surrounding figures was apt to become blurred and confused by the use of flying draperies, and complex overlaps. The clearly laid-out stages of the relief, its steps of depth, were deliberately obscured in a search for a visual continuity rather than an intelligible system. It became possible for the sculptor to finish his work piecemeal, and he abandoned the older practice of evolving the whole work simultaneously through its various stages. The pattern of the linear forms developed over the cubical masses of Archaic sculpture was derived not from "nature", but from an idea only indirectly connected with visual appearance, related rather to the "meanings" of the parts of the human body ingrained in Greek habits of thought. The subsequent development of the style was an amplification stimulated by corroboration of that idea in the face of visual reality, a process in some sense parallel to the growth of tragedy and comedy out of ritual patterns. The outward and visible form of that logical extension was the evolution of the linear development of the surface, and of the "poetry" of form. In the early phases we can clearly understand that the major sculptural masses of the Kouroi for example were not to be disturbed by an itemisation of separate units. Musculature is represented merely by lines, traced on the stone as either grooves or ridges, which are meant to indicate the presence of noticeable but not "essential" parts. And here we come to a crucial issue. For it is precisely in what is adjudged "essential" and distinguished from the "inessential" in an art that the meaning of the work lies. Much too depends upon how the essential is treated, and the particular relationship it is given to "normal" experience.

25

In the next stage the individual lines of the imposed pattern, cut as channels, were given a three-dimensional value; that is to say they were led in and out of the main masses as well as to and fro across them. The edges of these channels were bevelled off with progressively more subtle and variously inflected surfaces. Such inflection of the sides of contour and dividing lines is one of the chief weapons in the sculptor's ar-

moury. The degree, quality and length of recessions to their visible limits, either at the bounding contour of a figure, or in the hollows, give the spectator a clear understanding of the spatial relationships intended between the component parts. In the later Archaic works like the fifth century Kouroi in Athens, one can only trace the original faces of the basic, broadly-facetted bulk, by correlating the disposition of the summits of the forms. The rest, the concave and convex curved surfaces, results from three-dimensional linear invention and linear "development" which have "eaten away" the simplicity of the primitive facets of the masses, and allowed an external space — which is thus no longer valueless and merely negative — to enter into the contained space of the figure. It is perhaps the treatment of the hollows in the surface, that is the real key to the growth of "fifth century" art. In the older archaic sculptures the attention of the carver was concentrated on developing the protrusion towards the spectator of his masses, the convex forms contained by his sculpture; concavities were treated simply as unavoidable interludes between such forms. It is easy to see, for example, even in the Hercules reliefs from the treasury of the Siphnians at Delphi, how the muscles of the hero's body are treated as pure convexities, and it is the degree of protrusion of contained space at, say, the meeting of the pectoral muscle and the arm, that gives the figure its plastic force. The diannel separating the parts though clearly demarcated, is not given any specific development as a system of concave forms. By contrast, the treatment of the same part of the body in the later, non-archaic Parthenon "Ilyssus" shows a far less emphasis on plastic content; the effect here is produced by long and deep undercuts set against a profound hollow under the arm. In the "Ilyssus" too the whole surface, moving in great waves, relies upon the effect of concavities treated, on a parity with the convexities, as developed, meaningful forms in their own right. Though perhaps "larger than life", it exists in the same rational space as we inhabit ourselves. The archaic idea filled the body from within outwards. The art of the Parthenon viewed it from outside, as an element—albeit idealised—in the external universe, and allowed it to become a visual pattern of graduated shadow, not a contained physical entity able to be grasped by the hand of the mind. The task of continuously inventing the linear forms and the inflected surfaces depending from them demanded that the sculptors have recourse to what Delacroix called "the great dictionary of Nature"; not, of course, in order to imitate it, but to draw stimulus from the inchoate variety of its formal suggestions. And here lay the germ of the late fifh-century "flesh sculpture", in which the carving was not so much a logical development of an archetypal idea with a clearly understandable content of space, as a detailed description of a thing — an idealised thing no doubt — which occupies the same rational space as we men do in our daily lives. For, once

linearism gains the upper hand, as the red-figure vase painting shows that it did about 450 B. C., the day of description, the prose of art, is at hand. It was the great strength of archaic art as a whole that its basic units of thought, which were produced by the developed contour lines, never degenerated into repetitive or even symmetrical forms as they did in later Hellenic and Hellenistic art. One can see this best in the vase-painting where it is clear that each side of any given unit is represented by a differently inflected line. This implies that any plastic development we as sculptors read into the surface between two such lines must be a function not of an unchanging, but of a changing line. This is what we mean by "vitality". What then, in the most general terms, was the idea „in the cave of its origin" to which this sculpture is the pathway? This is not to ask what were the subjects it illustrated. They are the province of the classical mythographer, and they are in one sense very varied, though all symbolise the principal concerns of Archaic Greek Society. Tribal mythology with its cult of gods and heroes, the perpetuation of the fame of the dead, of warriors especially, and the whole imagery of the realm of death where men are translated into spirit, make up the special vision of the holy, an outward mirror in which this people read the reflected images of their own spirituality, the light of their own metaphysical being. We must therefore ask what, vis-à-vis these images, was the significance of the sculptor's activity as it has just been described? What did expression in stone, terracotta or bronze add to the images it presented? At bottom a sculpture always partakes of the primary function of the hallows, as it is displayed in many "primitive" societies, to provide a localised dwelling place for some kind of spirit, a focal point to which all activity and values are related. While civilisation has grown more sophisticated the forms and functions of hallows have become diffused and more specialised. Tree, pillar, sacred stone and mound (omphalos to the Greeks), the most ancient and universally recognised dwelling places for the divine envisaged by the human race, have yielded their numina to the anthropomorphe imagery of myth. The oracular oak tree, bequeathing its numen to the herm in the grove and the image of Zeus, still faintly speaks through the rococo Jupiter. A familiar example is the case of the pillar. For long in the ancient Mediterranean world it served as emblem, or rather as alter ego, of the Goddess. On Cretan seals pillar and Goddess are interchangeable. Both stand on mountain peaks often flanked by lions. On the soil of mainland Greece, on the famous lion gate of Mycenae, the pillar-Goddess appears in splendid vigour. From the famous female headless image from Samos to the Hellenistic Diana of the Ephesians, and beyond, the formal reference bade in sculpture to

the primitive hallows of the pillar is obvious. It was not merely a prettyfancy which prompted the use of Korai as caryatids for part of the entablature of the Erechtheum on the Athenian Acropolis. The Doric column has a numen of its own. Any icon will obviously share in the numen of the hallows. But at the same time the abstract numina of grove, fountain, cave and river are shared and dispersed amongst heroes, gods, mythical creatures, and even touch the apparently rational heroes of society like the tyrannicide lovers, Kleobis and Biton. Art, however, holds a special responsibility towards the divine. The immortal Gods, whose shape is human, but who "Surpass mortal men in splendour" may authentically find their form through the sculptor's skill. This skill, like that of the poet, was, however, capable of raising to the same exalted status whatever it enshrined, by lifting it into the realm of form. Jane Harrison has written in connection with the human Kouros "At and through his initiation the boy is brought into close communion with his tribal ancestors: he becomes socialised, part of the body politic. Henceforth he belongs to something bigger, more potent, more lasting than his own individual existence: he is part of the stream of totemic life, one with the generations before and yet to come". In this light we may well understand that the sculptural form given to the magnificent dedicatory figures of the Kouroi and Korai of archaic times fulfils a function analogous to that of the ritual which lifted the individual to a higher plane of existence. Just as the hero at his tomb takes on the numen of the genius loci, and the serpentine spirit of his spinal marrow takes up its abode in the omphalos, the human image takes on the mysterious qualities of form. And even though the Greeks developed a somewhat detached attitude towards their Gods, one must recognise that even the narrative sculpture appended to a shrine must have shared in the divine presence. It is scarcely plausible to imagine that for the Greek there was not something of Apollo "the far-worker" idiomatically present in his tremendous figure with outflung arm on the pediment of the temple of Zeus at Olympia. The splendour of the forms proclaims it. What then is the special property of the forms of art which can be said to add this requisite splendour, the property in some sense of transcendance, to the matter of art? Cézanne coined the term "realisation" to describe his own activity as a painter vis-à-vis his "motif". Realisation in this sense cannot be the same as imitation of Reality. It is a process in its own right, which may only if figuratively be said to imitate the processes of Reality itself. And though the finished work may in its purely objective aspect be part of Reality, it is of the essence of art that there is that about it which forbids anyone who understands its language to treat it as a mere object of use.

Only the Vandal melts down good bronze sculptures for coinage or cannon. At another level, only the ignorant and puritanical city-father objects to a nude image of Truth on the Town-hall. To him its sole meaning is "a lady who has just got undressed". He sees her significally as an index of action, via appetite, not symbolically as the index of a concept. The symbolism of art attadies the work to other systems of meaning than those of mere use; the idea, not action, is its goal. The reality which is embodied in a work of art is not a mere shadow of Reality, but a correlative which only has existence in the imagination, in a realm of meaning divorced from those of the Vandal and the city-father. It is a "second nature" as Goethe named it, called up into existence in the mind by the visual, symbolic structure of invented forms: Thus in a very important sense the whole repertoire of forms with which imaginative ideas are invested can be said to constitute ontologies, modes under which the experience of Reality is known reflectively, and which need have no relationship with any verbal system whatsoever. At this point a number of issues adumbrated earlier become relevant. This art presents first the formal aspects which are considered "essential" in its overt subject. The execution stipulates what character the essential elements shall each display. The character of each is an index to qualities moral in the highest sense. The subject of the work may not be directly congruent with its intrinsic idea. All these issues can be subsumed into the broader question of ontology. Ontological considerations are not only implicit in the literary symbolism of the subject matter. They are in a far more important sense implicit in the very forms themselves, in that they expressly consider only that which is "essential" to the diosen material. And this archaic art presents, under the guise of emotively charged concepts, "moral" values unconsciously and directly infused into the inflection of the forms. (Modern jargon may palely understand this as the "selection" of aspects of native.) To the archaic Greek the essential aspect of the male thorax did not stop short at the ropes of muscle girding the machine, as it did in later Hellenistic times. The carapace-like form, appropriate to the container of the thymos, the dry and wakeful consciousness, was of more account. Its plastic character distinguished it sharply from the thigh and buttock where lodged the fluid generative power of virility. Archaic art too placed great emphasis on the bony landscape of the knee whose synovial fluid was also cognate with male energy, and whose sinews were the first to be loosed in death. We must imagine that a multitude of similar recollections and suggestions helped govern the inflection of the actual shapes of the sculptured forms; recollections and suggestions that were shared by sculptor and spectator as a part of their common inherited culture. We can probably recover a few traces of them from the depths of our own unconscious somatic imagery. It is

certainly true that the power of the simple forms of many so-called primitive arts derives from the same source. The final concept in the light of which this art—indeed any art—must be understood is that the realm of plastic form is cognate with the realm of the spirit. The garb in which the numen is clothed is a visible demonstration of the numen. It is no accident that the ancient Egyptians held that an art-represented object would serve in the world of the dead as a real object; that the Papuan carver makes highly formalised images explicitly as dwellings for "Spirit"; or that Indian tradition recognises that only images made "correctly" will be acceptable houses for the deity, whose original home, as unidentified numen, was perhaps an ancient tree or anthill. Examples of this expressed belief could be multiplied endlessly. To people in a "primitive" stage of culture what Cézanne called "realisation" has not the connotation of imitation often falsely imputed to it. The highest power of form alone can receive and express the highest power of spirit. For the archaic Greek there was no necessary divorce between the profound intuition of numen and intelligence. Sublime formal clarity of the archaic kind affirms for its image an intense and transcendant "reality", set in vivid contrast to the negative chaos of the uninterpreted world of everyday experience, where incomprehensible forces, irrevocable change and iron necessity prevail. The very contrast affirms the radiance and essentially spiritual quality of the form-invested image. To come down to detail, the muscular leg, say, of a Hercules relief is not vigorously rendered in a mere search for analytic knowledge within the realm of the anatomical-scientific construct. It may perhaps be used to propound yet one more example of the comprehensivenes and adaptability of the dense archaic system of formal visual thought. But only if we read the artistic intention the wrong way round, believing that the forms are merely slaves of the literary icon, do we end with nothing but the plain and banal tale of Hercules slaying the stag, devoid of intrinsic numen. If we read the intention the correct way round we interpret the image as a nucleus for the numina of form, a point of entry for the spectator into that realm. That tale behind the icon, as we know it at the range of twenty-four centuries, is itself a bloodless abstraction from original poetical numen. The temple to which the relief in question was once attached expounded by all its forms the numen of the sacred spot upon which it stood. Perhaps even in its sanctuary there was once an ancient wooden herm or lightning stone. Column, pediment, frieze and figure alike reflect the overriding sanctity. The anthropomorphic image always has, however, a special significance of its own. It constitutes an express invitation to the spectator to stand himself in the posture and under the guise of the image. The qua-

lilies of its forms are reflected within him invoking unconscious muscular responses and somatic imagery. (Here enters the whole question of morality in art in its broadest sense.) But the numinous anthropomorphic image is an instrument for placing man at the centre of his own universe. Through it he conquers death, and dwells not simply in the world of nameless things, but in the spiritual region of form, over against the formless. He finds not personal identity—that is the fallacy of our arrogant agebut entity with his own cosmos.

3i

VOM A U F R A G E N D E R F I G U R E N IN D A N T E S D I C H T U N G U N D GIOTTOS M A L E R E I VON MARTIN GOSEBRUCH

Zur Einführung „Bei Anerkennung der großen Geistes- und Gemütseigenschaften Dantes werden wir in Würdigung seiner Werke sehr gefördert, wenn wir im Auge behalten, daß gerade zu seiner Zeit, wo auch Giotto lebte, die bildende Kunst in ihrer natürlichen Kraft wieder hervortrat. Dieser sinnlichbildlich bedeutend wirkende Genius beherrschte auch ihn. Er faßte die Gegenstände so deutlich ins Auge seiner Einbildungskraft, daß er sie scharf umrissen wiedergeben konnte; deshalb wir denn das Abstruseste und Seltsamste gleichsam nach der Natur gezeichnet vor uns sehen . . . " So beginnt Goethe seinen Aufsatz „Dante" vom Jahre 1826, mit dem er die kurz zuvor erschienene Streckfußsche Ubersetzung der Göttlichen Komödie angezeigt hat.1 Jedermann weiß, daß der Dichter die „abscheuliche Großheit" des Toskaners nicht vorbehaltlos annehmen mochte; um so bedenkenswerter diese Annäherang, bei der ihm die Erinnerung an Giotto hilfreich gewesen zu sein scheint. „Die großartige Plastik des Inferno", wie sie durch Abeken bezeichnet worden ist2, hat den Dichter des Faust nicht gleichgültig gelassen, und sie ist es auch, die wir im Folgenden näher untersuchen wollen, bevor wir uns dann in einem zweiten Teil der Malerei des Giotto zuwenden werden. In den bedeutsamen Sätzen der Einleitung sagt Goethe, die plastische Prägnanz der Gebilde Dantes sei zu verdanken dem „Auge der Einbildungskraft", das auch im Bereich des Übernatürlichen zu naturhafter Leiblichkeit der Gestalten geführt habe. Geistige Schau und naturartige Wirklichkeit gehören also für Goethe zusammen, der damit außerhalb der später so heikel gewordenen Alternativen bleibt, ob Dantes „Naturauf1 Zum Verhältnis Goethe-Dante siehe Sulger-Gebing, Emil, „Goethe und Dante", Berlin 1907. Zu Streckfuß s. u. Anm. 12. 2 Bernhard Rudolf Abeken, Beiträge für das Studium der Göttlichen Komödie Dante Alighieris, Berlin und Stettin r826, S. 167. Durchaus im Sinne Goethes setzt Abeken die „Plastik" Dantes über sein „Allegorisieren". Auch von Schelling gibt es eine Äußerung in dieser Richtung: „Das Gedicht des Dante ist nicht allegorisch in dem Sinn, daß die Gestalten desselben etwas andres nur bedeuteten, ohne unabhängig von der Bedeutung und an sidi selbst zu seyn . . . "

fassung" mehr der weltzugewandten Renaissance oder dem weltübersteigenden Mittelalter zuzurechnen sei, ob sie imitativen oder surrealistischexpressiven Charakter trage. Es gab auch bestimmten Anlaß für Goethe, die Leibhaftigkeit der Visionen des Dante zu rühmen, denn er fand sich lange genug abgestoßen durch die bleichen und grellen Wunderwelten seiner jüngeren Zeitgenosssen, der Romantiker: uns Heutigen, die wir in die Alternativen des Naturalismus oder des Anti-Naturalismus wie in trostlose Gefängnisse eingesperrt zu sein scheinen, haben Goethes schlicht formulierte Sätze erst recht Heilsames zu sagen, weshalb sie der Untersuchung im ganzen vorangestellt seien. Bevor wir nun ins Auge fassen, welche geistigen Grundvorstellungen Dantes zu bestimmter leiblicher Gestalt geführt haben, achten wir noch einmal auf Goethe. „Die ganze Anlage des Danteschen Höllenlokales hat etwas Mikromegisches und deshalb Sinneverwirrendes. Von oben herein bis in den tiefsten Abgrund soll man sich Kreis in Kreisen imaginieren ; dieses aber gibt gleich den Begriff eines Amphitheaters, das, ungeheuer, wie es seyn möchte, uns immer als etwas künstlerisch Beschränktes vor die Einbildungskraft sich hinstellt, indem man ja von oben herein alles bis in die Arena und diese selbst überblickt. Man beschaue das Gemälde des Orgagna, und man wird eine umgekehrte Tafel des Cebes zu sehen glauben, statt eines Kegels einen Trichter. Die Erfindung ist mehr rhetorisch als poetisch; die Einbildungskraft ist aufgeregt, aber nicht befriedigt. Indem wir aber das Ganze nicht eben rühmen wollen, so werden wir durch den seltsamsten Reichtum der einzelnen Lokalitäten überrascht, in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt. Hier, bei der strengsten und deutlichsten Ausführung der Scenerie, die uns Schritt für Schritt die Aussicht benimmt, gilt das, was ebenmäßig von allen sinnlichen Bedingungen und Beziehungen, wie auch von den Personen selbst, deren Strafen und Martern, zu rühmen ist . . . " Was sagt das sonderbare Wort des „Mikromegischen", des Klein-Großen? Den von Goethe mit Unbehagen empfundenen Kontrast zwischen der Macht der Einschränkung durch die steinern-festen Wände einer regelmäßig gebauten, axial einheitlich gerichteten „Vorzeige-Stätte" und der Ungeheuerlichkeit maßlos hervordrängender Gestalten. Der Dichter hätte es mehr geschätzt, mit der Phantasie einer freien Entwicklung von Raum und Gestalt zu folgen, um Anteil zu haben am steten Vorgang der Enthüllung, doch konnte er von dieser Vorliebe auch bis zu einem gewissen Grade absehen. So erkannte er bei Besprechung von Böhlendorfs „Ugolino Gherardesca" ausdrücklich an3, zur Szene des Hungerturms gehöre unabdingbar die Enge, und jede Art von Amplifikation müsse die Größe der Danteschen Vorstellung schwächen, nach welcher die Handlung inner3 1805, Jenaische allgemeine Literaturzeitung, Nr. 38, 14. 2. 1805, WA XL, 319, nach Sulger-Gebing, S. 8.

3

Badt-Festschrift

halb des Turms stattfinde. Von „Raum" hat er weder im einen noch im anderen Fall gesprochen. Im Inferno des Dante muß er ja geradezu Raumnot empfunden haben. Es ist also nicht bloß ein Wort, wenn er von „Höllenlokal" redet, sondern eine genaue Sachbezeichnung, die man übrigens auch bei anderen Autoren der Epoche, etwa Hegel, widertreffen wird.4 Machen wir uns diese Erfahrung zunutze und nennen im Verlauf der Untersuchung jede einheitlich charakterisierte Szene „Stätte", dann bezeichnen wir damit schon ein Stilphänomen der Danteschen Bilderwelt, nämlich das machtvoll Feststehende, zu welchem das Umschließende der Wandungen wie das „Aufragen" darinnen erscheinender Gestalten gemeinsam beiträgt, und gewinnen damit das Thema der nun auszuführenden Überlegungen. I. F I G U R E N W E L T D E R G Ö T T L I C H E N K O M Ö D I E ( „ S E G N O L O G I A D A N T E S CA" 1 0 ) i. D i e S t ä t t e d e s e r s t e n G e s a n g s d e r

Unterwelt

Im Folgenden geht es darum, die von den Worten der Dichtung aufgebaute plastische Welt mit voller Augensinnlichkeit nachzubilden und ihrer Struktur nach zu verstehen. Bei der unvergleichlichen Darstellungskraft des Dichters bedarf es nur weniger, „eminenter" Motive, um feste Stätten zu errichten, die den Wanderer durch die Unterwelt wie den Leser sogleich in den Bann schlagen. Halten wir uns nur an die ersten drei Verse: „Nel mezzo del cammin di nostra vita, mi ritrovai per una selva oscura, che la diritta via era smarrita . . . " , so sind wir bereits durch die erste Stätte gebunden. Es geschah auf der Mitte der Lebensbahn, daß der bis dahin geiade Weg verloren ward, der Wanderer sich einem finstern Walde ausgeliefert sah. Eine genaue Zeitbestimmung, „Mitte der Lebensbahn", eine genaue Ortsangabe, sowohl sinnlich wie sittlich gemeint: „Gerader Weg" als Herkunft, Dunkles und Wildes als begrenzende Gegenwart, das baut diese Stätte auf, schließt sie eng und füllt sie mit Sinn. Dieser Anfang sagt auch das Entscheidende über die Zeit der Komödie im ganzen, denn wenn diese in der Mitte der Lebenszeit, das heißt für Dante bei fünfunddreißig Jahren, eines 1265 Geborenen beginnt, so fällt sie in das herausgehobene Jahr 1300, das Jubeljahr Bonifaz' VIII., und hebt gar am ersten Tage des neuen Jahrhunderts an, nämlich am 25. März, wenn mit Dante und den Florentinern „ab incarnatione" gezählt wird. Dazu erfahren wir später, daß die zehn Tage der Wanderung auch heilsgeschichtlich hoch bedeutsam sind, indem sie den Bogen vom Karfreitag zur Auferstehung nachziehen. Es sind zwar diese Zeitangaben nicht von vorn4

Dagegen die schrankenlose Anwendung des Raumbegriffs in der Kunstwissenschaft zumal des 20. Jahrhunderts!

herein plastisch sinnfällig gemacht 5 , aber es gehört zum Wesen der Göttlichen Komödie, daß sie an bedeutendem Knotenpunkt der Zeit spielt, so wie es auch sonst nichts Durchschnittliches und Indifferentes in ihr gibt, da sie sich ihre Beispiele nur aus der Zahl der berühmten Menschen holt: „però ti son mostrate in queste ruote, nel monte e nella valle dolorosa, pur l'anime die son di fama note . . . " (Par. XVII, 136 ff.). Ist nun die erste Stätte des Verirrtseins mit all ihren Schrecken dargestellt, geschieht übergangslos die erste Ortsveränderung, indem sich der Wanderer an den Fuß eines Berges gelangt sieht. „ . . . appiè d'un colle giunto, là ove terminava questa valle, . . . guardai in alto, e vidi le sue spalle, vestite già de 'raggi del pianeta" (Inf. I, 13—14; 16—17). — Durchschritten wurde das „ T a l " , bis dieses durch einen Berg sein Ende — und seine Verwandlung fand. N u n mußte hochgeblickt werden, u m die „Schultern" des Berges von der Sonne beleuchtet zu sehen. Dieser Berg, gehört er zu einer „Traumlandschaft" oder ist damit allegorisch das Purgatorio vorausbedeutet? 6 Er ist für den Ablauf der Dichtung eine Figur von eigener Macht, die man durch äußere Kausalität ebensowenig erklären kann wie die Türme der mittelalterlichen Kirchen durch den Hinweis auf die Unterbringung der Glocken. Der Sinn einer solchen „Ragefigur" liegt darin, daß damit einem Weg das Ziel, das heißt zugleich Ende und Erhöhung, gegeben werden kann, wobei in unserem Fall verklärendes Licht die rein quantitative Höhe noch qualitativ überbietet.' Wie hoch er zu gehen hat, wird dem Wanderer durch dieses großartige Bild gewiesen, und man muß es recht kräftig nachempfinden, wie weit ihm die Seele wurde mit diesem „guardai in alto" nach aller anfänglichen Bedrängnis. Gewiß, die allgemeine Voraussetzung für solche Bildersprache liegt in der mittelalterlichen Lebensauffassung, die das menschliche Dasein auf dem Wege und im Anstieg begriffen sah; auf solchem Boden aber Gestalten von sinnlich bewegender Macht aufwachsen zu lassen, dazu bedurfte es der hohen dichterischen Individualität des Dante. Gehen wir nun den Weg des Wanderers weiter. Das aufragende, zugleich strahlende Gebilde, das Halt und Ziel bot, bewirkt auch alsbald einen Umschlag im Ablauf der Wanderung. „Allor f u la paura un poco 5

35

Hermann Gmelin, Die Göttliche Komödie, I, (Stuttgart 1954) S. 26, betont daher mehr die „traumhafte" Unbestimmtheit der Orts- und Zeitangaben des Anfangs. Darin könnte aber jener moderne Anti-Realismus liegen, der dem Dante nicht gerecht wird, weshalb wir vom „Traumhaften" nicht reden möchten. 6 Gmelin, a. a. O. s. S. 29 „traumhafte, visionäre Vorschau des Läuterungsberges . . . " 7 In dem kurzen Dante-Aufsatz von r816 spricht Goethe vom „unendlichen Uberbieten" als einer Aussageweise der Göttlichen Komödie, denn im 12. Gesang des Inferno wird die Steinlandschaft zuerst durch den Vergleich mit einem Felsensturz eingeführt, sodann durch die Erwähnung von Christi Höllenfahrt noch „unendlich überboten". 8*

queta . . . " (Vers 19), der Wanderer beruhigt sich, und der nun folgende Anstieg ist ihm eine Anhebung, also „Verbesserung". Aufgestiegen wird so lange, bis mit dem plötzlichen Auftauchen der bedrohlichen Tiere eine neue Stätte des Schreckens ihre Herrschaft antritt. Wie nun der Weg behindert wird, das findet bei Dante eine höchst eigentümliche Darstellung. Der nach dem Ausruhen neu begonnene Aufstieg wird nämlich besonders nachdrücklich plastisch „eminent" gemacht: „das feste Standbein stets das tiefre war", um die rasche Geschmeidigkeit des mit einem Mal aufgetauchten Raubtiers mit dem gefleckten Fell als die gefährlich-ungebundene Bewegungsweise prägnant dagegen zu setzen, so wie auf das Einatmen das Ausatmen folgt. Nach diesem Schrecken neuer Wechsel: das Sonnengestirn als Bote der göttlichen Ordnung steigt auf, aus der Unruhe über das schweifende Raubtier wird nun die Lust an seinem schönen Fell. Doch beendet diesen Frieden alsbald ein heftiger Umschlag, denn nun tritt gewaltiger noch der Löwe auf den Plan und mit ihm die heißhungrige Wölfin, die verderbenbringende. Bei solchem Anstieg der Gefahr wird auch das Maß des möglichen Verlustes genannt: „perdei la speranza dell' altezza . . . " Und sogleich wird der Wanderer tatsächlich heiabgedrückt „mi rinpingeva la dove'l Sol tace . . . " und „mentre ch'io ruinava in basso loco . . . " . Warum all dieser heftige Wechsel zwischen Freude und Furcht, Dunkel und Licht, Höhe und Tiefe? Der an Erregungen nur zu sehr gewöhnte moderne Leser wird vielleicht die Frage gar nicht stellen. Aber hier bedeutet Erregen das Aufbereiten für eine hochwichtige neue Phase, nämlich das Zusammentreffen mit Virgil, für welches die verzweifelte Not im Wanderer erst Offenheit schaffen mußte. An dieser Stelle weicht die Festigkeit der Stätte einer großen Leere: „vidi costui nel gran diserto", in welcher „Jener" wahrgenommen wird, den langes Schweigen „heiser" gemacht zu haben schien. Etwas Hohles, Unbestimmtes ist heraufgeführt worden, und ob es Schatten oder leibhafter Mensch ist, an den er sich verzweifelt wendet, das weiß der Wanderer nicht zu sagen. Wie aber mußte es mit ihm stehen, wenn er Hilfe erwartete von so schattenhaften Wesen! Des anderen Rede nimmt einen großen Anlauf. Nicht Mensch, doch einstmals Mensch, und von welchem Land und von welcher Stadt seine Eltern gewesen, wann er geboren und wo er gelebt, das erzählt er zuerst, wobei die Zeit der falschen Götter die Güte des Augustus hervortreten läßt. Das „Poeta fui" hebt an auf neuer, höherer Stufe, führt über die entspannende Phase des „giusto figliuol d'Anchise" und erreicht noch einmal einen Anstieg nach oben durch die Nennung des hochgemuten llion, das eingeäschert ward. Mit diesen zwei Phasen der Erzählung hat der Fremde den eigenen Wert zur Kulmination gebracht. Danach erfolgt die Wendung an den Verirrten mit der Frage, weshalb er nicht den „Berg dei Freuden" besteige?

Mit einer „Ragefigur" schließt also diese Rede, die damit bildplastisch gesehen eine Forderung stellt, ein Ziel setzt. Ganz natürlich im Sinne der bisher geschilderten Wechselwertigkeit beginnt der Wanderer daraufhin „in der Ebene", preist Virgil als die Quelle des Sprechens, die zu so „breitem Strome" anwachsende, rühmt ihn als „Licht" und erkennt ihn ehrfürchtig als Meister an. Zum Schluß wirft sich seine Rede „vedi la bestia" noch einmal hoch, um von zitternder Furcht Befreiung zu erbitten. Warum hat Virgil daraufhin nichts anderes zu sagen als „A te convien tenere altro viaggio", wenn doch Dante gerade dafür Hilfe erfleht hat, weinend? Virgil geht darauf ein, daß Dante in fester Richtung schreitend auf die Tiere gestoßen war, weiß aber, daß an den Tieren kein Vorbeikommen ist. Wer auf sie trifft, fällt ihnen zum Opfer. Also nur die Anstrengung, den Weg von vornherein anders zu richten, macht von den Tieren frei. Bevor diese Anstrengung genannt wird, erfährt die Macht der Tiere selbst noch eine Steigerung, indem deren grauenhaftes Treiben, das Rasen der entfesselten Sinnesgier, vorgeführt wird, um aber durch das „Ubertier", den Veltro, alsbaldige Aufhebung zu finden.8 In die Hölle sollen sie gejagt sein, das ist das letzte Wort auf dieser Bahn, danach Entspannung folgen und versprochen werden kann, daß der Wanderer auf dem weiteren Wege einen „Führer" haben wird. Die Stufen des Anstieges werden daraufhin ansichtig gemacht, Hölle, Purgatorium, Himmel, mit dem Ziel der himmlischen Stadt, wo auf „Hohem Thron der Kaiser" herrscht. Um aber diese Stufe zu erreichen, muß der Führer seine Ablösung durch eine würdigere Seele ankündigen. Für solche Höhe gibt es auch nur noch die mächtigen und strahlenden Bilder wie „cittade" und „l'alto seggio". Von nun an bis zum Ende des Gesangs wird es keinen der heftigen Umschläge mehr geben, wie sie bis dahin den Gang der Wanderung erschüttert hatten, der Verirrte ist zwar immer noch der um Führung Bittende, aber nennen darf er das Wort „Gott" und aufzeigen kann er die „Porta di San Pietro", womit eine feste „Rageflgai", nun aber himmlischen Charakters, den Abschluß dieses ersten Gesangs ausmacht, der durch Fährnis und Dunkel verheißenem Licht entgegenführt. An welcher Stelle des Gedichts wird diese „Porta di San Pietro" zu erwarten sein? In ihr mit Gmelin einen Hinweis auf die Tür des Purgatorio zu sehen9, schiene uns für diese Abschluß-Stelle des ersten Gesangs auf eine zu „mittlere" Position zu führen, nicht Aufschwung zu erbringen zur wahren Höhe des eigentlichen Zieles, um dessentwillen die wahre Tiefe voraus erlitten werden mußte. Verstehen wir 8 Auch hier geben wir nicht vor, vom gelehrten Wissen her eine Deutung des etwa allegorischen Anteils im „Veltro" zu liefern. Was uns beschäftigt, ist Dantes Grundaussageweise, die ihm die Steigerung über die drei Tiere der ersten Begegnung hinaus zu einem „Ubertier" ermöglicht. 9 Gmelin, I, S. 43.

die sinnlichen Angaben der Dichtung als Entfaltung ihres Sinns, so dürfte uns jenes Bild doch an den Eingang des Himmels verweisen. Wir sind dem Gang des Wanderers und damit dem Gang des Sinns der Dichtung durch Tal und Berg, Dunkel und Licht, Schrecknis und Errettung gefolgt, um den Aufbau eines Gesanges kennenzulernen. Der gesamten Dichtung Lauf vom Dunkel der Hölle bis zum Licht des Himmels ist durch diesen ersten Gesang schon vorgebildet. Die „segni" 10 folgen und verwandeln sich nach dem Gesetze dieses Ablaufes und nach dem Rhythmus, der dem Dichter Dante eigen ist. Hölle und Himmel als die äußersten Bereiche bestimmen den „segni" ihren Charakter. Erschreckendes, Verwirrendes, Beschränkendes in der Hölle, Verheißendes, Siegendes, Strahlendes im Himmel, und dazwischen das Purgatorio, das an beiden Bereichen Anteil hat, so daß es von Goethe „zweideutig" genannt werden konnte. Denn anfänglich werden seine Gestalten noch von der Höllenwelt her gezeichnet, bis sich mehr und mehr das himmlische Strahlen zur Geltung bringt. Umschläge kommen aber dabei noch vor, indem am Ende des XV. Gesangs, der dem Licht gegolten hat, „Buio d'Inferno", Höllenfinsternis wieder auftaucht, im XIX. Gesang der Dichter von einer gräulichen Sirene und einer himmlischen Frau träumt, und im XXXII. Gesang der heilige Wagen durch das apokalyptische Weib zur infernalischen Gestalt verwandelt wird. Das Purgatorio ist so die Stätte der Vermittlung zwischen Sünde und Gnade, zwischen welchen beiden Hauptpolen die Kräfte sich austauschen. Die weitere Untersuchung der plastisch geformten Zeichen wird sich nun nicht mehr so eng dem Lauf der Dichtung anschließen. Statt dessen nehmen wir eine systematische Gruppierung aller uns wichtig scheinenden „segni" vor, wobei aber die Reihenfolge der drei Hauptgesänge beachtet werden wird. 2. R a u m s c h l i e ß e n d e

Figuren

Sie kommen im ganzen Gedicht vor. „Cerchio", Kreis, wird achtzehn Mal im Inferno gezählt 11 , elf Mal im Purgatorio, dessen Gestalt ja nichts anderes ist als die Aufstülpung des Höllentrichters zum Kegelberg, und dreiundzwanzig Mal im Paradiso. Fest gebaute Gebilde dagegen, die der Einengung einer Stätte dienen, sind der Höllenwelt eigen, von wo aus sie noch bis zum Purgatorio wirken. Vom Wesen des harten Steines, „dura macigno", haben sie vorzüglich den sinnlichen Ausdruck. „Ripa", Uferrand, wird einunddreißig Mal in den ersten beiden Teilen des Gedichts gezählt. 10

„Segno" nennt Dante selbst eine bedeutungshaltige Bildfigur der Dichtung. Deren systematische Untersuchung wäre somit eine „segnologia". 11 Wortzählungen nach G. A. Scartazzini, Enciclopedia Dantesca, Dizionario critico, Milano 1896.

„L'estremità d'un alta ripa", Inf. XI, i ; „alta ripa dura", Inf. XVIII, 8; ähnlich „proda", der hohe Rand, der den höllischen Sud einschließt: Inf. XII, IOI; VIII, 55; XVII, 5; XXIV, 97; XXII, 80; oder „margini", harte Ränder, und „argini", Deiche: Inf. XV, 1—3; Inf. XIV, 82; besonders bezeichnend „duri margini". „Pozzo" — Schacht, ruft einen dem Stein eingebohrten Raum als starkes Bild in die Vorstellung (Inf. XVIII, 5, 8, 18; Inf. XXIV, 38; Inf. XXXI, 32, 42; Inf. X X X I I , 16), und wenn Hertz und Streckfuß für den Gigantenschacht im XXXI. Gesang das heimelige Wort „Brunnen" setzen, so ist das eine irreführende Verharmlosung. 12 Inf. XVIII gibt eine ausführliche Beschreibung der Malebolge mit einer ganzen Skala von höllischen Kunstbauten aus Stein, wo die weiteren Worte unserer Familie vorkommen: cinghio tondo, cerchia, vallo, castelli, ponticelli, fossi, scogli (harte Schwellen), nicchia. „Chiostra", Inf. XXIX, 40; meint den von Mauern zuengst geschlossenen Ort innerhalb von Malebolge, welches Wort ebenfalls etwas Geengtes, eine Tasche, bedeutet. Bei der harten Unnachgiebigkeit der Wände können auch alle Laufgänge und Straßen nur eng und bedrückend wirken. „Borni del muro", Inf. XXVI, 14; oder „come si va per muro stretto a merli", Purg. XX, 6; „callaia artezza" Purg. XXV, 7, 9; „tra i duo pareti del duro macigno" Purg. XIX, 48. All diese zu Stein gewordenen Kräfte des Einschränkenden, der strafenden Welt der Hölle zugehörig, drücken sich auch dem Leser als unausweichliche Wirklichkeit auf. Dennoch wär es ein Mißverständnis, sie mit schwachen Nerven zu bloßer Erregung zu erleben, wie es dem modernen Leser geschehen könnte: an ihnen bewies sich der unbeugsame Wille des Wanderers zum Aufstieg, der sie hinter sich zu bringen vermochte. Kein Zweifel also, daß die erwähnten plastischen Bildungen der sittlichen Kraft des Menschen zugeordnet sind.

3. A u f g e r e c k t r a g e n d e

Figuren

Zur festen steinernen Wandung gehört die Figur, die davon umschlossen wird, oder die darüber hinausragt. Besonders letztere Erscheinung spielt in der Komödie eine bedeutende Rolle. Aber wir beginnen mit dem Einfachsten, dem Aufragen überhaupt. Berge oder Türme kommen hierfür in Frage und dazu die Angabe des Hohen, die so häufig ist, daß Scartazzini sie gar nicht gezählt hat. Stets ziehen die Türme den Wanderer zu sich heran und bewirken, daß sein Weg sich an ihnen bricht. So endet der VII. Gesang des Inferno : „venimmo appiè d'una torre d'assezzo", und 12

Dante Alighieri, übertragen von Wilhelm Hertz, Frankfurt 1955, S. 127. Die göttliche Komödie des Dante Alighieri, übersetzt und erläutert von Karl Streckfuss, Halle 1824, S. 254.

der achte beginnt damit, daß die beiden Dichter am Fuß der „alta torre" stehend bis zu seiner Zinne heraufblicken mußten. (So noch einmal Inf. IX, 39). An der Stadt des Dis sieht Dante die „meschite" aufragen (Inf. VIII, 70). Es würde wenig Sinn haben, dem arabischen Wort, sei es quellengeschichtlich, sei es in Erwartung von Allegorien, nachzuspüren, es gehört zum Reich der hochragenden Gebilde, für das Dantes Phantasie besonders tätig gewesen ist.18 Das stärkste Bild ergibt sich im XXXI. Gesang, da die Wanderer schon von weitem ungeheure Zeichen wahrnehmen, welche Dante für Türme hält, nach Virgils Erklärung aber als Giganten erkennen muß, die mit halbem Körper über den Rand des steinernen Schachtes herausragen. „Perocché, come in su la cerchia tonda — Montereggion di torri si corona; — cosi'n la proda, che'l pozzo circonda, — torregiavan di mezza la persona — gli orribili giganti . . . " (Vers 40—44). Gleich zweimal wird der Vergleich mit dem Turm gebraucht, um den trotzigen Riesen die Wesensgestalt zu geben, und gar eine ganze Stadtmauern-Krone wird dafür aufgeboten. 14 Als sich die beiden Dichter in den nächsttieferen Kreis hinabbegeben wollen, werden sie von dem Riesen Antäus ergriffen, der sich zur Hilfeleistung schräg wie der schiefe Tmm von Bologna, Garìsenda, herabneigt, und danach wieder sich einem Schiffsmast gleich aufrichtet. Von der Gewalt dieser Aufragungen hat Botticellis fast zwei Jahrhunderte später entstandene Zeichnung zum XXXI. Gesang wenig genug vermittelt. Gegenständlich die Angaben über das Dastehen der Riesen treu beachtend und künstlerisch von hohem Rang, ist das Blatt dem monumentalen Geist Dantes, dem von Goethe klar aufgefaßten, fern geblieben, da es zu sehr auf die „Varietà" der Gruppierung achtet und da es die Gestalten in einen horizontbezogenen, weiten Bildraum setzt, der ein absolutes Größenmaß nicht aufkommen läßt. Zu nah, zu befreundet im Menschlichen sind wir diesen Riesen, den Schacht übersehen wir als ausgeführten Rundbau, wodurch ihm die Spannung zwischen Offenem und Schließendem verlorengeht, und die Steinwände haben nichts von den „duri margini", sondern den Charakter einer durch Ver13 Gmelin, I, S. 162 „Dante hat also die Höllenstadt unter dem Bilde eines fernen Babel, einer mohammedanischen Fabelstadt konzipiert". Das hieße doch, die Dinge allzusehr beim Wort zu nehmen und die freien Bahnen des dichterischen Spiels zu verkeimen. 14 Die alten Dantekommentatoren, die ausschließlich allegorischen Bedeutungen nachgespürt haben, ohne die Macht der Bilder zu beachten, haben in den Türmen selbstverständlich nur Superbia-Symbole gesehen. Daß Dante, der Wanderer, die Giganten zunächst für Türme nahm, hat auch in der Tat seinen moralischen Sinn, indem Virgil ihm dabei nachweisen kann, daß sich das leibliche Auge im Blick aus der Ferne leicht täuschen läßt; trotzdem glauben wir, daß Dante, dem Dichter, die sinnlichen Bilder, Turm und Giganten, vorher vor das Auge der Einbildungskraft getreten sind, als sich seinem Verstand Möglichkeiten pädagogischer Ausdeutung ergeben haben.

Witterung feingesprungenen, übergangsreichen Oberhaut.15 Botticellis Stärke lag nicht in einem solchen Blatt, sondern mehr in den feinverschlungenen mystischen Figurationen, aber auch allgemein hat das 15. Jahrhundert dem großen Gedicht des Dante weniger befriedigende Antwort gegeben, sei es in der Illustration, sei es in der kommentierenden Interpretation, und es bedurfte erst des Auftretens Michelangelos, um hier einen Wandel herbeizuführen.18 Die eigentliche sinnliche Stärke des Gigantenbildes liegt nun darin, daß die menschlichen Körper über die feste Steinwand hinausiagen, was zu dem einfachen Turmcharakter noch eine Note hinzufügt. Ohnehin ist das „star fermo e duro" (Purg. XXVII, 34), das turmhaft-feste Stehen der Gestalten häufig ausgesagt, oder doch zumindest durch die Vorstellung des Lesers einzusetzen, aber gesteigert wird sein Ausdruck, sobald solches Stehen ein Schließendes überwindet. Das hier in Frage kommende, charakteristische Wort heißt „soverchiare" und meint sowohl das Herausragen im räumlichen Sinne als das Uberwinden im qualitativen Sinne. Jedem Danteleser ist unvergeßlich der 10. Gesang mit dem Auftreten des hochgemuten Ghibellinen Farinata, zu dem Erich Aueibach, so lichtvoll Deutendes gesagt hat. „Vedi lä Farinata che s'e dritto, — dalla cintola in su tutto'l vedrai...": so ragt hoch aufgereckt (dritto, ein wichtiges Dante-Wort) der große Körper aus dem Flammensarg empor, die „gleichsam überlebensgroße moralische Gestalt Farinatas, die Tod und Höllenqual nicht haben antasten können" (Auerbach).17 Dieses Bild sollte man nicht zu rasch dem Verstand übergeben, daß er es wie ein Rätsel entschlüssele, sondern mit den ganzen Sinnen aufnehmen, nach jenen treffenden Worten Goethes, die der toskanische Dichter gewiß bestätigt haben würde: „Uberraschen, in Staunen setzen, verwirren und zur Verehrung nötigen . . . " Im XIX. Gesang ergibt sich das Motiv, daß durch die runden Löcher des Steinbodens die Beine der Büßenden nach oben ragten (fuor della bocca a ciascun soverchiava — d'un peccator Ii piedi e delle gambe, V. 22, 2,3) und Dante neben einem Verdammten stehen kann wie der beichtabnehmende 15 Goethe dagegen, im Dante-Aufsatz, entnahm den knappen Angaben der Dichtung über die Felslandschaft im 12. Gesang das Gemeinte genauer. Ihm lagen die Felsenplatten „noch scharf und frisch übereinander, nicht etwa verwittert, durch Vegetation verbunden und ausgeglichen". Mag sein, daß hier der Geologe gesprochen hat; Dante selbst hätte aber auch nie anderes gegeben als „poco verde su la cima dura" . . . 16 L. Volkmann, Iconographia Dantesca, Firenze 1898, hat das schöne Thema der Dante-Illustrationen als erster zusammenfassend behandelt. 17 Erich Auerbach, Mimesis, Bern 1946, S. 172. Gmelin, I, S. 451, vergleicht Farinata mit den Giganten des 31. Gesangs und meint der Angabe „dalla cintola in su" ein „Bild der Menschenwürde" entnehmen zu können gegenüber dem „dall'umbilico in giuso", das den Riesen nur die „Körpermaße" zuspräche, aber das hieße wieder ein zu punktuelles Festlegen der Bilder auf Allegorie.

Priester neben dem mit dem Kopf nach unten zur Strafe lebendig Eingegrabenen, den der mittelalterliche Zeitgenosse aus der eigenen Welt kannte. Weniger grauenhaft das Bild im 22. Gesang, wo die im Pech siedenden Sünder den Fröschen verglichen werden, die mit dem Maul noch oberhalb des Wassers bleiben, und wieder gewaltig im XXXIV. Gesagt begegnet uns Luzifer, der von der Brust an über das Eis hinausragt (Vers 29). Wir werden aber auch den „Alten" beachten, der innerhalb des Berges aufgereckt dasteht (Dentio dal monte sta diitto un gran veglio . . . Inf. XIV, 103),'weithin über die Welt sieht und durch seine Tränen die Flüsse der Unterwelt entstehen läßt; wiederum ein ungeheures Bild, dessen Stärke auf der Spannung zwischen dem Aufragen im Geschlossenen und dem davon beherrschten weitgedehnten Raum beruht. In diese Gruppe hochragender Figuren gehört in Purg. XXII, r j i der Baum, der im Kontur einer umgekehrten Tanne verglichen wird, da man sich seinen Früchten durch Heraufsteigen nicht leicht nähern soll 18 , und der durch sein plötzliches Erscheinen die Unterhaltung der Dichter abschneidet „ . . .ruppe le dolce r a g i o n i . . . " . Uberhaupt dienen die „Ragefiguren" der Erzeugung von Umbrüchen, wie schon durch die Untersuchung des ersten Gesanges erklärt worden war, und hier ist wohl der Berg, an dem Odysseus scheitert, die kräftigste Verbildlichung, die der Abschluß eines Gesanges finden kann (Inf. XXVI, ab V. r32). Unterbrechung kann auch durch andere „segni" bewirkt werden, so durch den Blitzschlag, der am Ende der ganzen Dichtung den Aufgestiegenen entrafft; durch Fallen, am Schluß des Paolo und Francesca-Gesanges: „e caddi come corpo morto cadde"; durch Lautsignale: „ruppemi l'alto sonno nella testa — un greve tuono . . . " (Inf. IV, 1, 2), durch Glanzerscheinung: „ . . . un splendor mi squarciö'l velo . . . " (Purg. XXXII, 71) und ganz allgemein durch das unvorbereitete Erscheinen eines Neuen, auf das schon nachdrücklich Auerbach hingewiesen hat. 19 4. A u s g r e i f e n d e F i g u r e n

(Gebärdefiguren)

Hier führen wir die Fälle des Ausragens bewegter Gliedmaßen auf. Die Frage, weshalb Minos im 5. Buch des Inferno mit einem Schweif ausgestattet sei, hat schon eine Spezialliteratur hervorgerufen. Palgen beantwortet sie im Sinne seiner Ableitungstheorie, Dante habe aus der altfran18

Dazu Manfred Lurker, Der Baum in Glauben und Kunst, Baden-Baden 1960, S. 26: „Der Weltenbaum erscheint öfters als ,arbor inversa' . . . " Das bezweifeln wir nicht, meinen aber, daß Dantes Auge der Einbildungskraft dazugehörte, das Motiv sich dienstbar zu madien. 19 Auerbach, a. a. O., S. 17t ff. Seine Gedanken sind von Hegel angeregt, der davon spricht, daß Dantes Bewohner der drei Reiche sich in einem „wechsellosen Dasein" befänden, in welches der Dichter doch die lebendige Welt menschlichen Handelns und Leidens hineingesenkt habe, so daß Auerbach nun den Begriff des in die „wechsellose Ewigkeit projizierten Realismus Dantes" geprägt hat.

zösischen „Eneis" den Schwanz des Zerberus entnommen. Storost meint amüsiert dazu, es seien Schwänze bei den Teufeln von Art des Malacoda auch in Italien zur Verfügung gewesen, Friedrich gibt die tiefere symbolische Begründung, da im 5. Ring die tierische Luxuria bestraft werde, sei in Minos die Verschmelzung von Mensch und Tier darzustellen gewesen.20 Wir meinen, zur ungeheuerlichen Erscheinung des Richters gehöre das Züngeln des Schweifes und rechnen solche Erfindung mit zur Macht der künstlerischen Versinnlichung. Wäre Minos somit eine „Gebärdefigur", so hatte er auch die Funktion des „Zeichengebens" (far segni), da die Zahl der Windungen des Schweifes den Verdammten die Nummer ihres Höllenkreises bekanntmachte. — Im Sinne der Gebärdefigur beschreiben wir nun einige Phänomene. Luzifer ragt nicht nur gewaltig über das Eis, sondern wirbelt mit seinen sechs Flügeln, einer „Windmühle gleich", so daß Sturm in dreifacher Richtung von ihm ausgeht. Schon von Weitem wird diese seltsame Maschine erblickt, wie auch ihr Sturmesbrausen gespürt (Inf. XXXIV, 6, 8, 46—51). Cerberus: „il gran vermo non avea membio che tenesse feimo ..." (Inf. VI, 24). Geryon: „la fiera con la coda agazza (Inf. XVII, r) nel vano tutta sua coda guizzava" (Inf. XVII, 25). Ausgreifende, spitze Enden werden natürlicherweise so häufig genannt, daß nur wenige Beispiele genügen. „Occhi grifagni", greifenhafte Augen — Inf. IV, 123, dürfte schon übertragen angewandt sein und helles, bohrendes Leuchten meinen; „Lamenti saettaiono me", „Klagen durchbohrten mich wie Pfeile" — Inf. XXIX, 43; „il fuoco che saetta" — Inf. XVI, r6, „Feuer, das schießt"; „aguzza ver me l'occhio" — Inf. XXIX, 134: „spitzt auf mich das Auge", dies alles ließe sich auch als „übertragen" angewandt auffassen, sollte aber lieber seinem ursprünglichen Gestaltwert nach über das Auge verstanden werden. Bestimmte Worte gelten dem Zupacken und Kratzen mit scharfen Klauen — giaffiaie, giattare — und sind im 21. Gesang des Inferno beheimatet, da die Aktivität der Teufel beschrieben wird. Im Walde der Selbstmörder die kahlen, schwarzen Sträucher tragen nicht gerade Zweige, sondern verbogene und knotenreiche, von denen giftige Stacheln ausgehen — Inf. XIII, 5—6, Flammen enden „gehörnt" — Inf. XXVI, 67, einen Herrscher erkennt man an der entweder sehr großen oder sehr kleinen Nase (Purg. VII, 104 u. 113), und häufig genug kann das Wort „cima" = Spitze gefunden werden. 5. Z e i c h e n i m e n g s t e n S i n n e u n d

Zeichengabe

Diese Klasse entwickelt sich unmittelbar aus derjenigen der ausgreifenden Glieder und Spitzen heraus, so daß die genaue Unterscheidung nicht 20 Rudolf Palgen, Das mittelalterliche Gesicht der Göttlichen Komödie, Heidelberg r935. Joachim Storost „Zur Methodologie der Quellenforschung bei Dante", Deutsches Dantejahrbuch 33, 1954, S. 204. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, Frankfurt 1942, S. 17.

immer lohnt, doch läßt sich ihre authentische Sonderart von den heraldischen Zeichen her begreifen, die seit dem 13. Jahrhundert im Mittelalter eine so überaus wichtige Rolle spielen. So werden auch im 17. Gesang des Inferno Wappenzeichen und -Faxben genau beschrieben, durch welche sich bestimmte Familien wiedererkennen lassen. Sehr merkwürdig die Angabe eines raschen Zeitablaufs „Und eh man O schreibt oder I" (Inf. XXIV, 100) und die buchstäbliche „Bezeichnung" eines Totenschädels „Wer lesen will auf Menschenzügen ,OMO', leicht wird erkannt hier haben ,M"' (Purg. XXIII, 32—33).21 Die Zeichen der Feige (Inf. XXV, 5) und des Schweigens (Inf. XXV, 45) bringen noch heute den Nordländer in Italien in Verlegenheit. Während des Aufstiegs im Purgatorio werden sieben P-Zeichen, die für Peccata stehen, den Stirnen nach und nach abgenommen. „Te corono e mitrio", „ich bekleide Dich mit Krone und Mitra", Purg. XXVII, 142; führt die „Herrschaftszeichen" heran. Bestimmte Gestalten machen aus sich selber Zeichen oder werden mit Zeichen verglichen. So Inf. XVI, 21 „fenno una ruota di se tutti e trei", es machten sich die Drei zum Rade, was plastischer und deshalb angemessener übersetzt ist als: „Da sah ich sie sich selbst im Kreise jagen." 22 Hinterher, in Vers 86, heißt es denn auch „Indi rupper la ruota". — Daraufhin lösten sie das Rad wieder auf. Und nun ist es nach dem Rhythmus der Wechselwerte gar nicht erstaunlich, wenn innerhalb desselben Gesanges der Kreisfigur die Kreuzfigur entgegengesetzt wird, (che posto son con loro in croce, V. 43), obschon das Kreuz hier weniger die räumliche Anordnung als das Martyrium meinen dürfte. Aber hier müßte der Ubersetzer eben bemüht sein, den sinnlich-figuralen Gehalt des Wortes dem übertragenen Sinn nicht gänzlich zum Opfer zu bringen, wie etwa Streckfuß es tat.23 Im XXIII. Gesang des Inferno (V. ror, 125) gibt es dann einen Sünder, der auf den Boden genagelt buchstäblich „zum Kreuze ausgespannt" ist — „disteso in croce". Bei den Seeleuten kommt es vor, daß Delphine ihnen „Zeichen geben durch den Bogen ihres Rückens" — „fanno segno . . . con l'arco della schiena" (Inf. XXII, 19—20), und ein Mensch, den das Nachdenken belastet, macht aus sich einen „halben Brückenbogen" — „mezzo arco di ponte" (Purg. XIX, 41—42). Den Stachel des Drachen Geryon stellt Dante dar als eine „giftige Gabel" — „velenosa forca" (Inf. XVII, 26), während ein besonders unglücklich verstümmelter Sünder einer „Laute" verglichen wird — „a guisa di liuto" (Inf. XXX, 49). Der Pinienzapfen von S. Peter, selber ein zeichenhaftes Denkmal, wird herangezogen, um das lange und 21 Streckfuss (s. Anm. 12), Bd. 2, S. rs2, hat offenbar solche Zeichengabe als unpoetisch empfunden und durch Metaphern eigener Kreation wiedergegeben, will sagen, verflüchtigt. 22 Streckfuss, 1. Band, S. rs4. 23 Streckfuss, 1. Band, S. 155 „Ich, ihr Genoss in schrecklichen Beschwerden" . . . Das heißt man gut gereinigt!

große Gesicht eines der Giganten nachdrücklich zu veranschaulichen (Inf. XXXI, 58-59). Zeichengabe spielt auch dort eine Rolle, wo die dafür benutzten Dinge als solche nicht auffällig aussehen, aber durch ihr Erscheinen einen neuen Faktor einführen, so im Falle des Seiles, das Dante sich abgürtet, damit es durch Virgil in die Tiefe geworfen werde und als „nuovo cenno" eine „novità" bewirke, die sich dann als der Heranflug des Drachens Geryon herausstellt (Inf. XVII, 106, 115). Allegorisch betrachtet ist das Seil gewiß Zeichen für Enthaltsamkeit und somit Ausweis der Wanderer gegenüber dem Untier; aber uns ist hier wichtig, daß die Dichtung überhaupt diese augenfällige Zeichengabe wählt und damit die Handlung zur nächsten Station drängt. Was die großen Lichtzeichen aus dem Paradiso betrifft, so werden sie zum Schluß gesonderte Behandlung finden. Daß in der Dichtung allgemein „Zeichen" bestimmter Bedeutungsgehalte gegeben werden, ist vor allem durch das Beispiel der sinnplastischen Strafen nach der Idee des „contrapasso", der Vergeltung des Gleichen mit Gleichem, zu bekannt, als daß darauf eigens eingegangen werden müßte.24 6. V e r l e t z t e F e s t i g k e i t : E i n s c h n i t t e , Bohrungen

Spalten,

Die Festigkeit der Körper wird bestritten durch Vorgänge des grausamen Verletzens, solange in der Hölle Sünder zu bestrafen sind, und die Härte des Steines macht sich durch scharfe Einschnitte und Spalten besonders sinnfällig. Die Schlüsselworte für Zustände des Verstümmelten lauten: tronco, fessura, foratura, mozzo. Dafür einige Beispiele: Im XIII. Gesang des Inferno wird ein Zweig des Dornengestrüpps, zu dem Selbstmörder verwandelt wurden, abgebrochen, worauf der Stumpf des Zweiges aufschreit und Blut aussendet. „Se tu tronchi qualche fraschetta . . . e'l tronco suo gridò" (Inf. XIII, 28 u. 33). Ubertragen heißt es im IX. Gesang, Vers 14 „parola tronca — die abgeschnittene Rede. Durchschnittene Leiber finden sich nach der Logik des „contrappasso" natürlicherweise im 28. Gesang, wo es gilt, die Spalter, Schismatiker und Erzeuger von Zwietracht zu bestrafen. In dieser neunten Bolgie, deren blutiger Gräuel nach den Worten der Dichtung alles übertreffen sollte, was auf Süditaliens alten Schlachtfeldern hätte gesehen werden können, erscheint einer, der vom Kinn bis zum Gesäß zerrissen ist — „rotto dal mento in sin dove si trulla" (V. 24), Mahomet, und vor ihm einer, dessen Gesicht zerspalten ist — „fesso nel volto dal mento al ciufetto", V. 33, wobei wir nun weniger das Drastische der „abscheulichen Großheit" als vielmehr die Prägnanz der sinnlichen 24 Gmelin, a. a. O., I, S. 14, sei als neuerer Autor zitiert, der das Prinzip des „contrapasso" gut erklärt. Audi Friedrich (Anni. 20) achtet sehr darauf.

Darstellung bemerken wollen, die durch das Ausspannen des zu durchspaltenen Leibes von „Rand zu Rand" zustande kommt. Einem andren ist die Kehle durchbohrt, die Nase zerhaun und ein Ohr abgehackt „ . . . forata avea la gola e tronco il naso . . . " V. 64—67. Ganz ungeheuerlicherweise aber erscheint nun ein Rumpf ohne Haupt „ . . . U n busto senza capo . . . " , dem Bertran de Born zugehörig, einem Säer von Zwietracht. Schlimmeres wäre gar nicht zu zeigen gewesen, hatte hier doch der Leib mit dem Kopf sein Edelstes verloren durch den Schnitt. Zu noch stärkerer Deutlichkeit hält das verstümmelte Wesen das abgehackte Haupt „capo tronco . . . " bei den Haaren „wie eine Laterne" (V. 1 1 9 , 1 2 1 ) , und zum Abschluß des ganzen Gesangs tritt noch einmal vor aller Augen der mächtige Stumpf, nun größengesteigert durch das Wort „troncone", nicht anders wie jene Türme und Berge, denen wir sonst schon zur Markierung von Abschlüssen begegnet waren. Lebte Dante zwar im Mittelalter, das sich nicht zu verzärteln pflegte, so wird er mit solchen Bildern das Entsetzliche schon absichtlich mitleidslos heraufgeführt haben. Dennoch hatte er dem Gang der Wanderer den Mut der Entschlossenheit mitgeteilt, um sie über das Schreckende obsiegen zu lassen. Hätte solche Stärke des „sinnlich-sittlichen" Ausblicks und deren Darstellung auch noch in der Kunst der Romantik gegolten, so wäre es nicht zu Goethes heftigem Ausfall gegen das von Julius Schoppe gemalte Bild des verstümmelten Bertran de Born gekommen, das er als „höchsten Unsinn" und Ausfluß der „Kränklichkeit des Klosterbruders" geißelte, woraufhin sich Achim von Arnim zu der wohlgemeinten Erwiderung verstieg, auch Michelangelo habe den Dante illustriert und „wohl so wenig wie Schoppe eine kränkliche Religiosität gehegt". 25 In den berühmten Szenen des Schlangengräuels vom XXV. Gesang, mit denen der stolze Dante Lukan und Ovid zum Verstummen bringen wollte, finden wir das menschliche Fleisch gespalten und zerbohrt. Zuerst tritt Vanni Fucci auf, der von den Schlangen gewürgt wird, sodann Angelo Brunelleschi, der sich widerlich mit einer Schlange paart, nachdem ihm diese in die Wangen gebissen hatte („addentò e l'una e l'altra guancia", V. 54), schließlich Buoso Donati, dem nun die Schlange gar durch den Nabel fährt — „trafisse", V. 86 —, worauf er mit dem Tier die Gestalt tauscht, und zwar derart, daß die Schlange den Schwanz spaltet — „in forca fesse", V. 104 —, um zur Zweiheit der Beine zu kommen, der Mensch dagegen seine Beine verschmelzen läßt; daß Ausiagiwgen gegen Glätte ausgewechselt werden, — wobei der zur Schlange gewordene die Ohren einzieht wie die Schnecke ihre Hörner (V. 132): wieder ein „ragefigürli25 Zitiert nach Sulger-Gebing (s. Anm. 1) S. r3. Schoppes Bild war im Jahr r8i7 ausgestellt worden. Wer sich also an heutigen Zeitungsschreibern grämt, die Pollock dem Michelangelo vergleichen, der finde seinen Frieden im Gedanken an Schoppe, den immerhin ein Arnim hinaufgerühmt hat.

dies" Bild —; und daß zum Schluß noch des Menschen Zunge gespalten wird — „si fende", V. 134 —, wohingegen die Spitzen der Schlangenzunge vereinigt werden „la forcuta si richiude", V. 134. Wieder kommt die Bildmacht dadurch zustande, daß Wechselwerte prägnant einander entgegengesetzt werden, und wie sonst das Tiefe und das Hohe, das Feste und das Flatternde, das Düstere und das Strahlende, hier das Harte und das Weiche, das Glatt-Gewandete und das Ragungsaktive, das Geschlossene und das Gespalten-Durchbohrte einander ablösen. Es gehört zu solcher Gestaltung nicht nur die Genauigkeit der Naturbeobachtung, sondern die Fähigkeit zum strengen rhythmischen Satz, und die unbeugsame Kraft zur Steigerung. Deshalb zu Recht: Taccia Lucano! Einschnitte in den Stein lassen dessen harte Kanten um so eindrucksvoller sehen und kommen deshalb der Höllenarchitektur im Allgemeinsten schon zu, wie Goethe hellsichtig bemerkte. „La roccia cascata" Inf. XII, 36 — der abgestürzte Fels; „rocca stagliata" Inf. XVII, V. 134 — zu Trümmern „zerschnittener" Fels; „piena la pietra livida di fori" — „von Löchern voll das schwarzblaue Gestein", Inf. XIX, 14, wobei die Enge der Löcher durch den Vergleich mit den Taufwannen im Fußboden des Florentiner Baptisteriums hervorgezeichnet wird, deren eine der Dichter einstmals zur Rettung eines ertrinkenden Kindes gesprengt hatte („ruppe", V. 20); „fondo foiacciato" durchlöcherter Boden Inf. XIX, 42; „tutto spezzato . . . l'arco sesto" — ganz gebrochen der Brückenbogen, Inf. XXI, 108; „duo ghiacciati in una buca" — zwei Vereiste in einem Loch, Inf. XXXII, 125; „breve peztagio dentro dalla muda" — kleines Loch im Innern des Turms, Inf. XXXIII,22; „pertugio tondo" — rundes Loch, Inf. XXXIV, 138; „quanto si fende la roccia" — soweit der Fels gespalten ist, Purg. XIX, 67; „troverai la buca" Purg. XVIII, 114, wobei auf das Finden dieses Loches im Felsen für den Weiterweg größter Wert gelegt wird; das sind einige der auffallendsten „segni" des geschnittenen oder durchbohrten, harten Steines, denen sich bei Betrachtung der Malerei des Trecento vielfache Entsprechungen an die Seite stellen lassen werden. 7. „ A r m i e r u n g e n " Daß wir über die Oberhaut der Dinge explizit wenig erfahren in einer Dichtung, die für ganzheitszeigende, dominante Gebärden: axiales Aufragen, bewegliches Gliedergreifen, so starken Sinn hat, wird nicht als überraschend empfunden werden. Darin liegt gerade Wesentliches dieser Versinnlichungsweise. Dennoch wäre die moderne Vorstellung von Abstraktion fehl am Platze. Die durch und durch leibhafte Gesamtgebärde schließt das Bild der Oberfläche gleichsam unbezeichnet in sich ein, so wie auch bei Giotto die Bildfiguren ihre Haut nicht verleugnen, obschon sie wenig davon vorzeigen. So vermochte Goethe der knappen Darstellung

des 12. Gesangs die genaueste Beschreibung der „scharfen, frischen, nicht etwa verwitterten, ausgeglichenen" Oberflächen der Felsen zu entnehmen, obschon bei Dante kaum mehr zu lesen steht, als daß durch den Sturz die Felsen geborsten waren.28 Es gibt eben in der großen Dichtung das Versinnlichen vom Ganzen her, und man möchte ihr die vom Detail ausgehende Deskription des Naturalismus kaum entgegenstellen. Nun finden sich bei Dante auch besonders aktivierte Oberflächen mit meist rhythmisch skandierten Ausragungen, die wir als „armiert" bezeichnen können. So hat Luzifer einen zottigen Leib, an dem „von Zotte zu Zotte" — di vello in vello" Inf. XXXIV, 74 — wie auf den Stufen einer Treppe, die Wanderer den Abstieg nehmen, und der Drache Geryon, dem die „Armierung" aufgemalt ist, sieht mit „Knoten und Rädchen" — „nodi e rotelle", Inf. XVII, 15 — wie mit einer heraldischen Rüstung ausgestattet aus. Diese Erscheinungen fallen in den Umkreis der schon geschilderten „ausgreifenden Figuren", doch finden sie nahe Verwandte in der bildenden Kunst des 14. Jahrhunderts und seien daher herausgestellt. 8. L i c h t z e i c h e n In der Komödie ist das Paradies nicht so sehr als Lieh träum oder Himmelsatmosphäre denn als ein festes Formwerk aus Kreisen dargestellt, in dem je nach gerade erreichter astronomischer Sphäre bestimmte Großzeichen, aus leuchtenden Seelen gebildet, auftauchen, sich kreisend bewegen, zu neuen Formen verwandeln, und schließlich vom Zeichen des nächsten Himmels wieder abgelöst und überhöht werden, wobei sich mit der Bedeutung die Schönheit, der ornamentale Eigenwert dieser Gebilde steigert. Zuerst erscheint im Venushimmel (xo. Gesang) ein Kranz von zwölf Heiligen mit Thomas von Aquin als Sprecher, der leuchtend die Wanderer in heiligen Tanzfiguren umkreist, bis sich ein zweiter, gleichstarker herauslöst, mit Bonaventura als Führer, und Parallelfiguren auszuführen anhebt (x2. Gesang). Corona, ghirlanda, la gloriosa ruota, la santa mola, sempiterne rose, sind die Bezeichnungen, mit deren Wechsel der Dichter das reiche Spiel der Umläufe sinnlich darstellt. Schon diese rangtiefsten Lichtfiguren des Paradiso übertreffen die glücklichen oder die heiligen „Segni" aus Hölle und Purgatorio, denn das ornamental geschlossene „nobile castello", das siebenfach von Mauern umringte höllische Elysium der antiken Heroen (Inf. IV, 107), entbehrt des Lichts und der Bewegung, und der überwältigend reich ausgestattete Greifenwagen aus dem Ende des Purgatorio (29. Gesang) bewegt sich nicht frei, so wie er denn auch dem Drachen zur Beute fallen kann (32. Gesang). Dante „vergleicht" also nicht die Kirchenlehrer mit dieser oder jener Tanzfigur, sondern ver28

S. A n m

15.

sinnlicht ganz unmittelbar ihr klares, ordnend-belebendes, schönheitsleuchtendes Wesen. Im Marshimmel (14. Gesang) müssen wir ein Kampfeszeichen erwarten, nachdem sich der Venushimmel in Liebeszeichen dargestellt hatte. Aus den Seelen all derer, die für Christus gekämpft haben, entfaltet sich das große Kreuz, dessen Erscheinungsmacht noch gesteigert wird, indem es verzaubernde Melodien ausströmen läßt. Das ist die Aussage der „unendlichen Uberbietung" nach Goethe, oder „per Excellentiam" nach Dante, die wir im Gedicht allenthalben treffen27, und für die Figuralzeichnung des Kreuzes finden wir die echt danteske Randbetonung verwendet, die sich in den Worten „di corno in corno, e tra la cima e'l basso" (V. 109) zu erkennen gibt. Im Jupiterhimmel wird die nächste große Lichtfigur ausgebreitet (18. Gesang). Der herrschende Adler ist hier das „benedetto segno". Zuerst formieren sich die Lichter zu einfachsten Figuren, der Geraden und dem Kreis, in prägnantem Wechselwert: „fanno di se or tonda 01 lunga schiera" (V. 75). Sodann bilden sich daraus Buchstaben, die den mahnenden Spruch erkennen lassen: Diligite justitiam, qui iudicatis terram. Von dieser leuchtenden Schrift bleibt der letzte Buchstabe, das M stehen, woraus sich dann unter neuer Verteilung der Lichter, dem Funkensprühen aus aufgeschlagenem, brennendem Holzscheit verglichen, die Figur des Adlers erzeugt. In diesen Darstellungen, die sinnlich und sinnhaft dreifach gesteigert sind, zeigt Dante eine außerordentliche figurative Kraft, ja geradezu diejenige Schulung im Figurenzeichnen, wie man sie aus den Skizzenbüchern des Villard de Honnecourt kennengelernt hat. Ganz unmöglich ist es einer begrifflich abstrahierenden Wiedergabe wie der von uns vorgenommenen, den höchst lebhaften Bewegungen des Danteschen Stiftes nachzufolgen, aber zumindest kann die Bereitschaft für das Lesen und genaue sinnliche Nachvollziehen der Sprache des Dichters neu erweckt werden. Im Himmel des Saturn leuchtet ein neues Großzeichen auf, eine Leiter, „scaleo eretto in suso" (21. Gesang). Im Himmel der Zwillinge (23. Gesang) fällt ein Lichtzeichen in Form einer Krone herab und legt sich um Beatrice, die dadurch zur „coronata fiamma" wird (V. 94—95). Auch Petrus, der sich im 24. Gesang zur Prüfung des Aufsteigenden genähert hatte, ist ein Lichtzeichen: „apostolico lume" (V. 153), wie alle im Himmel befindlichen Seelen, und indem er drei Kreise um Dante tanzt, treibt ihn die Freude über dessen Bekenntnis (V. 132). Im 30. Gesang strahlt das weitweisende Lichtzeichen „in forma di riviera" auf, funkelnd und blütenreich, das den Fluß des Lebens bedeutet. 27

Auch des Dante Schrift „De vulgari eloquentia" bedient sich konsequent der Beweisführung „secundum excellentiam", was wir bei anderer Gelegenheit genauer darlegen möchten. 4 Badt-Festsduift

Seine breite Gestalt verwandelt sich nun, in echt danteskem Steigerungsablauf, zur runden — „di sua lunghezza divenuta tönda" (V. 90) —, nämlich zu einem riesigen Kreis — circolar figura, V. 103 —, der über tausend Stufen enthält. In der dritten Phase der Verwandlung ist es die „Rosa sempiterna", „forma general di Paradiso", die von allen erschienenen Figuren darin die vollkommenste ist, daß sie höchste Einheit und höchste Vielzahl verbindet. Dante hat an sie wohl nicht gedacht, weil sie ein „mystischer Topos für Christi Passion" war, sondern wegen ihrer unübertrefflichen Schönlieit, die sie stets zum Liebessymbol hatte taugen lassen.28 Ist hier nicht die Stätte der Maria, der Eva, des Franziskus, heißt es nicht von ihrem Himmel, daß er in der Liebe ruhe? „Amor che queta questo cielo" (V. 52). Wird nicht ausdrücklich „Braut Christi" die Schar der hier wohnenden Seligen, der „milizia santa", genannt (P. XXXI, V. 1—3), und die weiße Rose — Candida rosa — als ihre Form? Es muß aber die Stätte der weiblichen, der aufnehmenden Liebe sein, da „Amor che muove il sole e l'altre stelle" noch dahinter seinen Ort hat und, durch das Schlußzeichen der drei trinitarischen Kreise figuriert, von allesübersteigender Strahlkraft ist. Schönheit der Formen, Wohlklang der Töne, trunkenmachender Duft der Blüten; was immer die Sinne entzückt, findet sich ausgeschüttet über das Himmelsreich, dessen eigentliche Kraft und Herrlichkeit aber in dieser einen Idee der Strahlung verdichtet ist, der zuliebe Dante in dreiunddreißig Gesängen ein ganzes Füllhorn von lichtbezeichnenden Worten ausgeschüttet hat. Raggio, raggiare, lume, luce, lucerne, da se lucente, troppa luce, doppia luce, lucore, fulgore, folgorare, circumfulgere, ardor, ardere, coruscare, verne, candore, albore, facella, face, lampa, lampo, trasparere, risplendere, splendor, fiamma, fiammegiare, olocausto, favilla, scintilla, baleno, balenare, so heißen diese Worte, deren wichtigste wie lume, luce, raggio, splendor, sehr häufig vorkommen. Spräche man hier von „Lichtmetaphysik", so schwächte man die unmittelbare sinnliche Darstellungskraft dieses Strahlens, das ja nicht im fortweisenden Sinne die Göttlichkeit nur für den Verstand bedeutet, sondern deren jeweilige Auswirkimg ist.29 28

R. Guardini, Vision und Dichtung — Der Charakter von Dantes Göttlicher Komödie, Tübingen 1946, stellt die Frage, weshalb Dante anstatt des politischen Bildes der Stadt nach Apokalypse 21, 22 das der Rose gewählt habe und greift dafür auf C. G. Jungs Kommentar zum chinesischen Text „Das Geheimnis der goldenen Blüte" zurück, wonach die Rose die Ganzheit des Daseins in seiner ewigen Vollendung bedeute. Dagegen ordnet Gmelin, a. a. O. Bd. 3, S. 523, in gewiß historisch besser begründeter Weise die Rose der Passion zu, wenn auch Dante mit ihr einen direkteren Sinn verbunden zu haben scheint. 29 Die leidige Doppeldeutigkeit des Wortes „Bedeutend" muß hier bedacht werden. Einmal meint es den Verweis auf einen bestimmten, einzeln zu vergegenständlichenden Sinn, wie es bei der Allegorie in Frage kommt, einmal meint

Was ist Beatrices Lächeln anderes denn Sendbote ihrer Liebe und damit ein ganz und gar wirkliches Strahlen von Licht, das Dante erst nach und nach zu ertragen lernt, bis er schließlich am Urquell alles Lichtes dahingerafft wird? 9. „ R a g e n u n d S t r a h l e n " An diesem Endpunkt angekommen werfen wir noch einen kurzen Blick auf die sinnliche Erscheinung der Sprache unserer Dichtung. In der Unterwelt herrschen die Worte mit den scharfen Endsilben vor: puzzo, aguzzo, die in seiner Schrift „De vulgari Eloquentia" Dante „propter austeritatem" zu den „Silvestria" gerechnet haben würde, so wie die Commedia mit einem „Genus silvestre" ihren Anfang nimmt. Zu den scharfen Worten stehen die vollklingenden in Spannung wie ctmoie, dolore, donna, die gleichfalls in der Unterwelt schon vorkommen. Rechnen wir die scharfen Worte zu den „Yrsuta", die vollklingenden zu den „Pexa", so finden wir die Grundunterscheidung, die Dante in „De vulgari Eloquentia" für die Dichtung des „Vulgaris illustris" angewandt wissen wollte.30 Keinesfalls aber verteilen sich die Gruppen nun so, daß scharfe Klänge allein der Hölle, volle dagegen nur dem Himmel vorbehalten wären: solche Antithesen konstruierte sich nur der Verstand. Die Sprache der Dichtung bleibt stets mannigfaltig, reich an Akkorden, voll im Gesamtklang. Doch läßt sich bemerken, daß die rauhen Worte ihre Führungsrolle auf dem Weg zum Paradiso hin zunehmend an die wohlklingenden Worte abgeben, die sinnliche Charakterisierimg sich verwandelt. Eben diese Erscheinung war es, die bei den plastischen Bildern beobachtet wurde. Die Bildersubstanz der ganzen Dichtung beruht auf dem Ineinander und dem Wechsel von Gestrecktem und Gerundetem, Breitgelagertem und Aufragendem, Niedrigem und Hohem, aber es herrschen in der Unterwelt die gebunden-einseitig gerichteten Ragungen, es siegen im Paradies die himmlisch-freien, allseitig wirkenden Strahlungen, und daß sich das Einseitige zum Allseitigen bewegt, unter stetem Anstieg von unten nach oben, unter stetem Herabstrahlen der Gnadenkräfte nach unten, ist das erhabene Thema der Göttlichen Komödie.

es das schlechthin Wertvolle in seiner Bezogenheit auf das unmeßbare Ganze des Seins. In Grimms Deutschem Wörterbuch, Leipzig 1860, II, 1227, wird Goethes Gebrauch dieses Wortes besonders beachtet: „Göthe aber führt das Wort zu oft im Munde, als daß es nicht aus der lebhafteren Vorstellung des andeutenden, ahnenlassenden, unvermerkt, obwohl unverschwendet, in die abgezogenere des wichtigen, entscheidenden, ausgezeichneten, großen übergegangen wäre, und so herrscht es seitdem in der Sprache . . . " 30

Si 4*

De vulg. Eloquentia, II, 7.

II. M A L E R E I D E S G I O T T O U N D E R S C H E I N U N G E N IN I H R E R N A C H F O L G E i. D a s e r s t e B i l d d e s A r e n a z y k l u s a l s r a g u n g s a k t i v e Stätte — StilgeschichtlicherOrtderFigurenbildungGiottos Das erste Bild des Zyklus der Arenakapelle zeigt den Joachim, dem am Altar das Opfer verwehrt wird. Zwar ist er nicht wörtlich vom „rechten Wege abgekommen", erlebt aber hier die ursprüngliche Heillosigkeit, von der es in Richtung auf die Gnade hin fortdrängt, nach rechts auf einen Weg, der vor dem glücklich geöffneten Stadttor des Bildes der Begegnung mit Anna sein unmittelbares Ziel findet und im weiteren Sinne schließlich bis zu dem machtvoll eröffneten Himmel auf dem Gerichtsbild führt. Den Ablauf der Erzählung und das Ziel ihrer Verwandlung erfahren wir also durch Giotto von vom herein. Betrachten wir das erste Bild nun genauer. Links ragt das Tempelziborium auf, durch seine Höhe im Bilde der oberste Wert. Für Joachim aber bleibt es unzugänglich, denn die Wände der Schranken verdecken es bis zur Hälfte. Indem sich dieser Turm am absoluten Anfang der gesamten Bilderreihe erhebt, ist das verschlossene Heiligtum auch das erste Wort der Erzählung, das bis zum neuen Wort des „Geöffneten Tores" in Geltung bleibt. Weniger stark ragt über die verschließende Wand der segnende Priester heraus, doch gerade genug, daß er und der beichtende Gläubige für Joachim und für uns in prägnant abgekürzter Weise noch zu sehen sind. Das Ziel macht sich also in gleichem Maße bemerkbar als es im Grade seiner Verschlossenheit zur Uberwindung von Widerstand auffordert. Ganz freigelegt sind bloß die beiden Haupthandelnden, der Priester, dessen abweisende Gebärde durch den Lauf der Treppe hinter ihm verstärkt wird, und Joachim, der sich im Wegschreiten schmerzlich berührt zurückwendet. Fassen wir den Dreierrhythmus zusammen, so ragt zu Beginn das Höchste auf, ist aber unzugänglich, bedeutet der Höhenverlust auf der Achse des amtierenden Priesters eine Vermittlung, und wird das Freiwerden der Figuren auf der dritten Achse wieder ein „ansteigender" Wert. Joachim wird auf seinen Weg gestoßen, ohne den er den Makel der Fruchtlosigkeit nicht überwände. Wenn Rintelen rechts von Joachim noch weitere Gestalten angebracht wissen wollte 31 , so hat er damit zu abstrakt von einem nur formalen Bildbegriff her gedacht und die plastische Stätte in der Aktivität ihrer Ragungen verkannt, denn sowohl von links nach rechts gelesen, ergibt sich zwischen Ziborium und Joachim die stärkste Spannung zwischen verschlossenem Ziel und Wegdrängen ins Offene, als auch von unten nach oben gelesen die drei Hauptragungshöhen genau die Werte ihres Sinngehalts bezeichnen. Giotto ist 31

Rintelen, Giotto, München 191a, S. 50.

somit nicht allein dramatischer Erzähler und nicht allein Former eindrucksvoller plastischer Kuben, sondern der geniale Baumeister sinnplastischer Stätten, die Figur und Umwelt zu einem einzigen, feststehenden Gebilde vereinen. Auf Dantes Vorstellungen bezogen finden wir als Kategorie der Figuration vornehmlich: Leibhaftes Geradestehen auf fester Basis — „stare dritte" —, das für Mensch, Turm und Berg gleichermaßen gilt. „Aufragen" nennen wir es und behaupten, es sei die künstlerische Gestaltung einer von Giotto erlebten Grunderfahrung, die aller Wahrnehmung der empirischen Natur vorausging. Dazu gehört weiter das Ubeiiagen — soverchiare, einfaches Übertreffen eines anderen an Höhe oder Herausragen aus einem anderen, zumal Festverschlossenen, die Ortsveränderung „von Rand zu Rand" — di chiappa in chiappa" (Inf. XXIV, 33) —, und die Einheit von figürlicher Ragung und Umschließung bei bestimmter sinnhafter Charakteristik im Begriff der „Stätte", den wir aus der Divina Commedia abgezogen haben.32 Behauptet man hier gewisse Grundphänomene, die dem „Auge der Einbildungskraft", nicht dem leiblichen zuzuordnen sind, so wird der Historiker dafür den Ort in der Geschichte nachweisen müssen. Dafür hier nur Andeutendes. Die ältere mittelalterliche Bildfigur, denken wir an die ottonischen Handschriften der Reichenau, an die Kapitelle von Autun, an die Glasfenster von Chartres, gründet gleichfalls auf einem Ur-Phänomen, das aller in Raum und Zeit gemachten Seherfahrung vorausliegt. Die Figuren — „Gebärdefiguren" nach Jantzen — greifen entweder aus oder aber sie beugen sich dem Ausgreifen entgegen: Christus und die Apostel bei der Fußwaschung Petri im Codex Otto III., und sind derart aus dem Ganzen gebildet, daß sie sich im Zusammenschwingen mit anderen stets zu größeren Ganzheiten vereinigen, für die schließlich in den Medaillons der gotischen Fenster auch der wesensgerechte Rahmen geschaffen wird. Ganz hellsichtig hat Vasari auf Bildern des Cimabue die spitzendigen Füße der dargestellten Personen bemerkt — „ritti in punta" —, und was er daran tadelte, war eben der letzte Rest der mittelalterlichen Idee der ausgreifenden Gebärdefigur.33 Auch Cavallini hat die im Bogen schwingende Figur, die sich mit einer entgegenschwingenden zur Ganzheit einigt, in dem Mosaik der Mariengeburt von S. Maria Trastevere zu Rom noch verwendet, und erst Giotto ist es gewesen, der mit den Bildern der Isaaksgeschichte am Obergaden von S. Francesco zu Assisi die neue Idee des „Aufragens" über festem Boden eingeführt hat. Gewiß kam er auch dem Wahrnehmungsbild der Natur näher, indem er den Boden festigte und den dar32 Der Begriff des „Bildes", um den sich Theodor Hetzer so rühmlich bemüht hat, ist zu dehnbar, als daß er für die historische Charakterisierung noch taugte. 33 Vasari, Proemio alle Parte seconda, Ausgabe Milano 1945, Ed. Ragghianti, I, S.491.

auf stehenden Dingen dreidimensionale Plastizität gab, aber es hatten bereits jene älteren Meister die dritte Dimension schon entdeckt, so daß dem „Aufragen" vorzugsweise Giottos Erneuerungskraft zugute kam, und es wurde diese bildnerische Grundaussageweise sicher nicht durch „Nachahmung der Natur" erzeugt. Die geschichtlichen Vorgänger des Giotto sind nun aufzuzeigen, ohne daß damit seine schöpferische Leistung gemindert wäre: es sind die großen Bildhauer der Gotik des 13. Jahrhunderts, die Vöge als „Bahnbrecher des Naturstudiums" bezeichnet hatte, jener „Meister der Königsköpfe", den wir vielleicht besser Meister der Hiobs- und Salomonsgeschichten vom Querhaus der Kathedrale in Chartres nennen, und jener Josephsmeister von Reims mit seinen Vorgängern vom nördlichen Westportal der Pariser Notre Dame, Bildhauer, die ihre Figuren über feste Achsen in die Höhe reckten, so daß nun Verschiebungen der Senkrechten und heftiges Verlagern von Schwerpunkten — bis hinein in die Darstellung seelischen Ausdrucks — neue Bedeutung gewinnen konnten. Giotto braucht aber nicht in Frankreich gewesen zu sein, um Anregung von dieser Seite zu empfangen, bekanntlich kam sie ihm zu über die Pisani und den Arnolfo di Cambio. Auf Weisen der figürlichen Ragung bei Giotto und einigen Nachfolgern gehen wir nun in Kürze ein. 2. A u f r a g e n a l s a l l g e m e i n e K a t e g o r i e Figürlichen

des

Das Aufragen gehört zum Wesen aller Figuren des Giotto von den Isaaksbildern bis zu den Kapellen von Sa. Croce, wenn auch Kantenschärfe und plastische Aufdringlichkeit der Formen im Gang der Entwicklung zurücktreten und durch ruhig zentrierte, machtvoll weite Volumina ersetzt werden. Giotto neigt in seiner Frühzeit auch mehr zum Steilen als später, wie schon die Entwicklung der Bildformate vom Stehenden der Franzlegende zum Breitgedehnten der Fresken von Sa. Croce lehren kann. Der Vergleich der Lossagungsbilder von Assisi und der Bardikapelle läßt Mäßigung des Türmens im Spätstil erkennen, ob auf die Gebäude oder die Personen geachtet werde. Die Darstellung im Tempel findet statt vor einem monumentalen Ziborium in Padua, dagegen innerhalb eines Kirchenraumes auf dem Bild an der Tonnenwölbung der Unterkirche von Assisi. Auf derart große zeitliche Distanzen bezogen stimmt also Jantzens These, daß sich Giotto von der plastischen Einzelfigur zum Räumlichen hin entwickelt habe.34 Andrerseits ist auffallend, wie sehr dem 34

Hans Jantzen, Die zeitliche Abfolge der Paduaner Fresken Giottos, Jahrb. d. Pr. K. Slg. 60,1939, S. r87 ff., hielt die mehr von der ragenden Form bestimmten Bilder der Joachimsgeschidite für früher entstanden als die raumhaltigen der Passionsgeschichte. Innerhalb der Arenakapelle wird sich aber Giottos Stil kaum verändert haben, so daß die Unterschiede, die einst Romdahl (Jahrb. d. Pr. K.

Giotto stets die figurale Geschlossenheit aller Gebilde am Herzen gelegen hat, so daß er bis zum Spätstil Innenräume nie anders darstellte als durch Ansichtigmachung des ganzen Gebäudes einschließlich der Decke oder des Dachs, wobei dann bis zum Bildrahmen ein ganz schmaler Streifen nur übrigbleibt. A. Lorenzetti geht bei der „Darstellung im Tempel" so weit, die Ausragungen des Gebäudes nach oben der Gesamtfigur des Bilderschreins zugrunde zu legen: gewiß nicht Mangel an Naturdarstellung, wie schon behauptet wurde, sondern der Sinn für Ganzheit, dem das Mittelalter seine große Architektur verdankt hat. Nun weiß Giotto ausdrücklich turmhafte Gebilde um bestimmter Aussage willen auch an eigentümlichem Ort einzusetzen, wo sie sich vom allgemeinen Erscheinungsbild der Figuren unterscheiden. Daß der von Joachim erwünschte, aber sich verschlossen haltende Turm des Ziboriums ein echtes Anfangszeichen ist, das sowohl der großen Bilderreihe der Arena zugehört, als auch den Beginn von Joachims Irrweg setzt, war schon erklärt worden. Auf den Bildern der Mariengeschichte finden wir die abrupt einseitig verlagerten hochragenden Kirchenapsiden, die das Wunschziel der innig niederknienden Freier sind, nicht anders wie die Gigantentürme des Inferno, auf die von fernher der Wanderer gezogen wurde. Türme als Ziel einer Bewegung, einer seelischen Strebung, sind demnach vorzugsweise den Bildern eigen, die einen Weg darstellen oder in dem größeren Weg eines Zyklus dem Weitergang der Geschichte dienen. Wo sich nun Dinge mit Energie in die Höhe recken, da findet sich auch manche charakteristische Abweichung von der Senkrechten. Bleibt die Achse ungebrochen, gibt es das schräg ragende Turmgebilde, das an Dantes Vergleich des Giganten Antäus mit der Garisenda in Bologna erinnert, und zwar auf dem Bild des Papstes Innozenz in Assisi, da Franziskus seine Schulter unter die bedrohlich weichende Fassade der Lateranskirche stemmt. In der Malerei des 15. Jahrhunderts konnte dieses Motiv an Eindrucksmacht nur verlieren, da vor dem geweiteten, horizontbezogenen Bildraum das Aufragen relativiert wird, wogegen in der Bildsprache des Cimabue die Festigkeit der Achsen noch nicht entwickelt gewesen war, ein Thema der bestrittenen senkrechten Ragung somit kein Interesse gefunden haben konnte. Auch sitzenden, auch kauernden Figuren merkt man ob des wuchtigen Geschiebes ihrer plastischen Volumina an, daß ins Ganze gereckte Gebilde umgefaltet wurden. „Aufragen" ist nun allerdings nicht ausreichend, um die Beschreibung zu leisten, denn die körperliche Ausdehnung in die Breite und die Tiefe kommt hinzu, aber daran hat man im Grund seit

55

Slg. i9ir, S. 13) gleichfalls durch Stilentwicklung erklärt, aber im zeitlichen Gegensinn gedeutet hatte, auf die inhaltlichen Charaktere der Bilder, gemäß der Entfaltung der Geschichte des ganzen Zyklus, zurückzuführen sind.

Vasari immer schon gedacht, so daß wir nicht eigens darauf eingehen. Für unsere Zwecke tritt dagegen hervor die Figur, die im Stehen den Oberkörper abbiegt, so daß er entweder schräg oder gar waagrecht abgewinkelt erscheint und angespannte Aufmerksamkeit des sich Hin-Neigens bedeutet (Elisabeth der Heimsuchung, Padua; Zuschauer bei der Himmelfahrt des Johannes, Peruzzikapelle). Es kann der Oberkörper auch schräg nach rückwärts geneigt werden, wie im Fall des Kindes auf der Petruskreuzigung des Stefaneschi-Altarwerks. Alle leichteren Neigungen des Körpers aus der Achse heraus bzw. über die Hüfte bleiben den vielen Beugungsmöglichkeiten der mittelalterlichen Figur gegenüber stets darin eigentümlich, daß sie den festen Stand voraussetzen. Warum nun dieser A u f w a n d des Gedankens, ist es nicht ganz natürlich, daß die menschliche Figur in allen möglichen Stellungen dem Künstler bildbar ist? Die Frage ist verständlich, denn seit dem 19. Jahrhundert ist der Sinn für das Bedeutende des Leiblichen geschwunden, so daß man dieses aus einem Uberschuß an Mitteln zu leicht und müßig deklinieren konnte — von Delacroix und Cézanne abgesehen —, aber in jenen vergangenen Zeiten war jede Bilderscheinung mit Notwendigkeit hervorgebracht und konnte deshalb nicht beliebig variiert werden. Von Giotto bis zur neuen Begegnung mit der antiken Plastik, genau genommen bis vor das Auftreten des Michelangelo, sollte die aufragende Figur die Grundkategorie der Bildnerei bleiben, und wenn man das nicht wirklich vollzieht, kann man nicht als besondere Leistung würdigen, daß Giotto auf dem Bild des Tempelgangs der Maria ganzheitlich aufragende Gestalten in die Gebärde des Treppensteigens „hineinformen" kann. 3.

Uberragungsverhältnisse— Überschneidungen

Auf dem Bild des Weihnachtswunders von Greccio in Assisi übertreffen die singenden Mönche an Höhe die übrigen Zuschauer um Haupteslänge, der demütige Franziskus dagegen, als kniend anbetende Figur, läßt sich von allen anderen an Höhe übertreffen. Auf dem Bild des Fenstersturzes eines Knaben in der Unterkirche, das zu den letzten der Franzlegende gehört, überragen sich die im Kreis angeordneten Figuren gegenseitig in fünffacher Stufung. Auf dem Bild des Einzugs in Jerusalem (Arena) bilden die begrüßenden Bürger am Stadtor einen mehrfach gestuften und verstrebten Figurenturm, und mehrere Uberragungsstufen nehmen wir wahr bei der mittleren Figurengruppe des berühmten Beweinungsbildes der Arenakapelle. Nicht nur in der Frühzeit des Malers sind die Uberragungen wichtig, sie finden sich auch auf den Martyrientafeln des StefaneschiAltarwerks und auf dem Bild der Keuschheitsallegorie am Vierungsgewölbe der Unterkirche von Assisi. Erst die Florentiner Kapellen führen

hier den Wandel herbei, indem Stufungen mit feineren Ubergängen vorgenommen und Figurengruppen oft ruhig horizontal abgeschlossen werden. Daß Stufungen der Höhe jenen Zeiten wichtig waren, ist fast selbstverständlich, denn man erlebte in aller Wirklichkeit den Aufstieg zum Himmel oder den Fall in die Hölle. Die Verweise auf soziologische Verhältnisse, die Bedeutung hierarchischer Ordnung im Mittelalter, träfen doch nur von solcher Grundordnung des Lebens Abgeleitetes und könnten nicht beanspruchen, eigentümliche Erklärung unserer Bilder zu leisten.35 Heiausiagen und Hervorragen kann sich auch außerhalb der Dimension der Höhe ergeben. Auf dem Bild der Mariengeburt in Padua nimmt hinter der Eingangstür eine Amme die von außen gebrachten Geschenke an, wobei die aus enger Öffnung hervorgesteckten Arme zu kräftiger Gebärde kommen. Auf einem Rahmenmedaillon der Arena ist Jonas dargestellt, der kopfüber ins Meer stürzt und mit den Beinen nach oben strampelt, und aus Felsenlöchern der Hölle auf dem Gerichtsbild ragen wirbelnde Gliedmaßen hervor, ganz wie bei Dante geschildert, doch der Göttlichen Komödie zeitlich vorausgehend. Überschneidungen dienen bei Giotto gern der drastischen Hervorhebung, wofür das Beispiel des ängstlichen Sünders genannt sei, der sich hinter dem Kreuzbalken versteckt hält und gerade nur Füße und Hände nach vorn hin sichtbar werden läßt (Jüngstes Gericht der Arena). Außerhalb des Grundbegriffs der Hervorragung („Prominentia") läßt sich Uberschneidung bei Giotto gar nicht denken, und sie kann selbst in der Malerei des 15. Jahrhunderts nicht ausschließlich im Dienst räumlicher Tiefenschichtung verstanden werden. 4. „ H e r a l d i s c h e

Plastik"

Unter allen Gebilden des Giotto ist keines ohne tiefe Bedeutsamkeit, doch heben wir die allegorischen Figuren, die der Versinnlichung bestimmter Begriffe dienen, ausdrücklich noch einmal hervor.36 Hierfür kommen vor allem in Betracht die Personifikationen der Tugenden und Laster vom Sockel der Arenakapelle. Individia, der Neid, ist eine Frau, die über dem Höllenfeuer steht, eine Hand um den Beutel gekrallt, die andere nach vorn greifend. Als Zunge fährt eine Schlange ihr aus dem Mund, die sich in Form eines U-Hakens zurückwendet, der eigenen Trägerin zur Bedrohung, und aus dem Hinterhaupt tritt ein Horn, das sich herabdreht und seine Spitze auf den Nacken der Frau richtet. Das Riesenohr zeigt die reißende Gier an, mit der auf die anderen gelauert wird. Bei solchen 35 Rintelen, Giotto, Basel 1923, Anm. 4.1, meint auch, daß Giotto große Wirkung aus dem Hoch und Tief gezogen habe, und ordnet diese Dimensionen „ganz dem poetischen Empfinden des Mittelalters" zu.

36

s. Anm. 29.

Figuren, die in besonderer Weise an die Göttliche Komödie denken lassen, wird zu größerem Maß oder aktiverem Ausgriff gesteigert, was moralisch bedeutsam werden soll, so daß der Begriff selber sidi mächtig den Sinnen einprägen kann. Diejenige Art von Allegorie, die ihren Sinngehalt kunstvoll verkleidet, um zu dem Spiel der Enthüllung aufzufordern, die antike also und die ihr nachfolgende der Renaissance, liegt hier nicht vor, sondern eher eine Art von heraldischer Plastik, die nur aus der mittelalterlichen Neigung zur prägnant abgekürzten, vom Ganzen her die Teile formenden Figur geschichtlich zu verstehen ist. Träfe des Dante Wort aus dem „Convivio" über die „favola" als „bella menzogna", unter der sich die Wahrheit verborgen halte37, gar nicht auf sie zu? Nachdem wir schon manche Formen des Dante und desGiotto sinnhaft gedeutet haben, scheint für die „schöne Lüge" der Kunst wenig Platz mehr übriggelassen zu sein, aber dies wäre ein Mißverständnis. All diese Gestalten sind in gleichem Maße „schön", da mächtig an Erscheinung, als sie tief an Bedeutung sind, und wenn sie nicht als Charaktere prägnant wären, gäbe die Vollendung ihrer Form dem Auge keinen Genuß. „Überrascht, in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt" . . . 5. F e s t i g k e i t d e r G e b i l d e d u r c h B r e c h u n g

bezeugt

Beachten wir nun die Kategorie des Einschnitts in das Feste, so ergibt sich von vornherein, daß sie sich bei Giotto fast ausschließlich am Stoff des Steines auswirkt, ob des gebauten der Architektur, ob des gewachsenen der Natur. Gestalten wie Dantes Bertran de Born haben bei Giotto außerhalb der Hölle des Gerichtsbildes keinen Platz, wie überhaupt die Phantasie des Malers weniger den äußersten Bereichen Himmel und Hölle als dem dazwischen liegenden der Erde zugewandt ist und somit dem Purgatorio zugeordnet werden könnte. Zunächst sei erinnert, daß seit den ravennatischen Mosaiken die Felsenklippe mit regelmäßig eingeschnittenen Rändern der mittelalterlichen Malerei zur Darstellung der Landschaft gedient hat. Auch für Giotto hat sie gegolten. Wie der Vergleich des „Quellwunders" in Assisi mit dem „Johannes auf Pathmos" der Peruzzikapelle lehrt, wandelt sich durch die Stilentwicklung die Erscheinung der Felsen vom Turmhaft-Aufgereckten, Scharf-Geschnittenen zum Breit-Gelagerten, Weich-Gewandeten, wobei der Ubergang zum Spätstil durch die verkannten Werke der mittleren Zeit geleistet wird, den Stefaneschi-Altar und die Bilder der Jugendgeschichte Christi aus der Unterkirche von Assisi.38 Ohne den gemuldeten 37

Convivio II, I, 3. Zum Stefaneschi-Altar und den Gründen, die zu seiner Verkennung führten, siehe des Verfassers soeben erschienenen Aufsatz in den „Miscellanea Bibliothecae Hertzianae". 38

Felsensattel vom Hintergrund des „Paulsmarytriums" auf dem römischen Altar oder der „Flucht nach Ägypten" von Assisi wäre es nicht zu der gelassen sich weitenden und stufenden Landschaft der „Franziskusstigmatisation" der Bardikapelle gekommen, die des Giotto letztes und reifstes Wort in dieser Hinsicht darstellen dürfte. Trotz aller Stilwandlung aber behalten die Felsen den Charakter des Figuralen bei, da es in ihnen zum Aufstieg über dominante Achsen strebt. So ist es ihnen wesensgemäß, daß auch die Einschnitte in die Klippen die Ganzheitlichkeit des Figuralen aufweisen: dieMagdalenenhöhle auf dem Fresko der vor 1306 ausgemalten Nikolauskapelle von Assisi, von einem Schüler des Giotto, scheint dieses an Dantes „Alten im Berg" erinnernde Motiv frühzeitig gebracht zu haben, und am Felsen der Franziskusstigmatisation der Bardikapelle finden wir es zum anderen Mal. Einschnitte zwischen Felsen, Klammen und Schluchten also, wurden erst durch Giottos Nachfolger der Entfaltung von Reiterzügen dienbar gemacht, als sich das Interesse am Stofflichen vergrößert hatte. Wenn sich dabei auch von Orcagna bis zum frühen Jan van Eyck die Bildräume geändert haben, so hielt man doch daran fest, die Landschaft vom Charakter des Felsens her zu gestalten und mit der Macht eigener Gebärde auszustatten, was den darin dargestellten Menschen stets Härte und Bedrohlichkeit entgegensetzte. Was die Naturlandschaft außerhalb der Stadtmauern dem Menschen des Mittelalters vorzüglich war, das lehrt das Fresko vom Triumph des Todes im Camposanto zu Pisa, nämlich ein „locus amoenus", ein Garten der Lust, oder die „selva oscura", der einsame, dunkele Wald, der schlimme Gefahren birgt, so daß ihn freiwillig zu bewohnen die hohe Glaubensstärke der Eremiten erfordert.39 Dabei ist jede der beiden Stätten eigenen Seins-Charakters durch ihre Grundfiguration, einmal die Bäume des Orangenhaines, einmal die Klippen der Felsen, in sich geschlossen und selbständig aufragend, weshalb es eines Ubergangs zwischen ihnen ebensowenig wie beim Wechsel der Bilder in der Göttlichen Komödie bedarf. Eine Szenerie ohne eigene Gebärde, wie bei den Landschaften des 19. Jahrhunderts seit Constable, hätte im 14. und 15. Jahrhundert nichts gegolten, weshalb es einseitig ist, unter dem Begriff der „Darstellungswürdigkeit" einen steten Fortschritt in der Imitation der Natur zu be39 Man könnte einwenden, daß Ambrogio Lorenzettis Bild vom „Guten Regiment in Stadt und Land" im Rathaus zu Siena die Naturszenerie um die Stadt in temperierter Weise wiedergibt, außerhalb jener Pole des felsigen Bergwalds und des üppigen Lustgartens. Gerade weil aber die gesehene Natur nicht selbstverständlicherweise den Bildhintergrund ausmachte in jenen Zeiten, ist ihr Auftreten hier ganz an den Inhalt gebunden und macht, fast wie ein redendes Wappen, das Land bedeutsam, das von den Bürgern der Stadt Siena genutzt und verwaltet wird, eben die Campagna, deren Blühen dem Guten Regiment verdankt wird.

haupten. Man sah die Welt als einen Aufbau aus geistigen Werten, nicht als materielle Gegebenheit. Ins 14. Jahrhundert gehört unverwechselbar das Motiv der angebrochenen Wand, das einer Erfindung des Giotto verdankt wird. Allerdings, Ruine ist für Giotto nicht etwas durch den Zeitengang allmählich Heruntergekommenes, Mürbe-Gewordenes, der vegetativen Natur wieder Verfallenes, sondern die immer noch geschlossene Stätte, die durch kräftigen Brach eines Stark-Gebauten entstanden ist. An der Kirche von San Damiano (Franzlegende) ist wohl der Obergaden rechts und links von einem auf zrwei Säulen stehengebliebenen Wandstück eingestürzt, und schlimm genug wirken die ausgezackten Bruchstellen der Mauern, aber indem sich die Joche geschlossen und ragend behaupten, bleibt die Ganzheitsfigur der Kirche intakt. Auch das Thema des einstürzenden Hauses mußte im Kreis des Malers erfunden worden sein, dem alles Feststehende so überaus wichtig gewesen ist, und so werden wir nicht zögern, das Bild des Jünglings von Suessa, der von den Trümmern des Hauses erschlagen wurde (Unterkirche von Assisi), dem Entwurf des Giotto zuzuschreiben. Immer wieder begegnet in der toskanischen Malerei des r4. Jahrhunderts das Motiv der Zertrümmerung des Steins in dieser oder jener ikonographischen Einkleidung, während es innerhalb des 13. Jahrhunderts überhaupt nicht zu finden sein dürfte. Gäbe es nicht diese trecenteske Tradition, dann bliebe es durchaus unerklärlich, daß Filippo Lippi seiner „Anbetung im Walde mit S. Bernhard und Hilarion" (Uffizien) den Stall aus angebrochenen Wänden mitgibt, oder der Meister von Flemalle seine Marienvermählung vor einer halb zertrümmerten Tempelfassade spielen läßt. Ikonographische Gründe? Geburtsstall und Tempel hatten in anderen Zeiten anders aussehen können. Auch ist es nicht durch Naturabbildung zu erklären, wenn Filippo Lippi seine Anbetung — von der Kapelle des Medicipalastes — auf einen Wiesenplan verlegt, den ein felsiger Bergwald aus zumeist abgehackten Bäumen umgibt: das Motiv des abgehackten Stammes kommt wiederum aus der Tradition des 14. Jh.s und wird von uns verstanden in unmittelbarer Nachbarschaft zu demjenigen der angebrochenen Wand. Noch Jan van Eyck, Donatello und Witz lassen die Nähe zu dieser Tradition merken, da sie die Wände ihrer im Bild dargestellten Häuser stellenweise verletzt sein lassen, um so deren stoffliche Solidität lebendiger zu gestalten (Tymotheosbild, Bildarchitektur des Salomoreliefs in Siena, Häuser auf der „Petrusbefreiung" des Genfer Altares). Ein echt trecenteskes Thema ist das Bild des Simson, der die Säulen des Tempels einreißt und dadurch die festen Wände zu berstenden Trümmern verwandelt. In der Incoronata zu Neapel finden wir es zum ersten Mal, im weiteren Umkreise des Giotto entstanden, und auf der Reliefplatte von Donatellos Paduaner Hochaltar von Hand des Bellano, aber vom Geist des großen Florentiners, zum bezeich-

nenden zweiten Mal. Das sind nur einige Andeutungen einer Methode, Erscheinungen der Bildkünste des 15. Jahrhunderts weniger durch Ikonographie oder Naturalismus zu erklären als durch eine tieferliegende Daseinsauffassung, die letztlich mit der des Dante und des Giotto noch in lebendigem Zusammenhang steht. 6. „ A r m i e r t e

Oberflächen"

Wenden wir uns nun den „armieiten Obelflächen" zu. Bei dem frühen Giotto finden wir an Architekturgebilden in regelmäßigem Rhythmus hervortretende plastische Vorkragungen, die offensichtlich der Darstellung körperhafter Erscheinungsmacht dienen. Wir nennen wieder die Kirche von S. Damiano aus der Franzlegende zum Beispiel. Schon in der Arenakapelle beruhigen sich die plastischen Oberflächen der Architekturgebilde wie der menschlichen Figuren, und es ist für die nun erreichte Stufe der Stilentwicklung bezeichnend, daß plastisch hervortretende Rund- und Viereckscheiben den Hauswänden nicht mehr aufgelegt sind. Deren Auftreten an den Bildern der Nikolauskapelle in der Unterkirche von Assisi sowie an den letzten drei Bildern der Franzlegende, die sich im Querschiff der Unterkirche befinden und den Nikolausbildern stilverwandt sind, deutet auf die vorpaduanische Entstehung dieser Gruppe von Werken. Dagegen die Bildarchitekturen der „Jugendgeschichte Christi" aus dem gleichen Querschiff der Unterkirche von Assisi, stilverwandt dem großen Turmgebilde, das einst auf dem römischen Mosaik der „Navicella" sichtbar gewesen ist, weisen schon darin ihre spätere Entstehung aus, daß die cosmatesken „Wandarmaturen" durch Mittel der Farbe feiner geworden sind und dem Grund wie angeschmolzen aussehen, und eben diese Erscheinung treffen wir noch deutlicher auf den Bildern der Peruzzi- und Bardikapellen an. Immer wieder ist es die Stilwandlung, die fortführt von jenen durch Arnolfo die Cambio bestimmten Anfängen der Franzlegende, da es Giotto um ein möglichst kantenscharfes, durch hartes Licht gehöhtes Relief gegangen war. Die Oberitaliener um Altichiero, sodann Masaccio, sind es erst gewesen, die an diese Errungenschaften des Giotto anzuknüpfen vermochten.

61

Werfen wir einen Blick in die Plastik des 14. Jahrhunderts, so wird sich dort das Prinzip der „armierten Oberflächen" ebenfalls antreffen lassen. Ohne den geschichtlichen Entwicklungsgang zu verfolgen, der die stärker „graphischen" Züge der Plastik des späteren 13. Jahrhunderts berücksichtigen müßte, weisen wir auf die sogenannten Pestkruzifixe des 14. Jahrhunderts hin, deren scharf hervortretende Rippen gegenüber stark eingehöhlten Leibesoberflächen nicht im Sinne des Naturalismus zu verstehen sind, sondern ihre Aussage „bedeutend" machen, zur Prominenz bringen, und denken an die merkwürdigen Bluttrauben an den Wunden des toten

Christus der Heiligen Gräber, die weniger mit Mystik als mit mittelalterlicher Sinnfälligkeit zu tun haben und mit all den Erscheinungen der Danteschen Komödie verwandt sind, gegen die Goethe sein Wort von der „abscheulichen Großheit" gesetzt hat. 7. „ H e i l i g e

Girlanden"

Zum Schluß finden wir eine Entsprechung zwischen Dante und Giotto hinsichtlich aller Figurationen, die einen himmlischen Vorgang darzustellen haben, oder der Bezeugung eines besonders heiligen Geschehens dienen. Beim „Tode des Hl. Franziskus" finden wir auf dem Bilde der Oberkirche von Assisi, wie sich die Brüder in einem mächtigen Kreise um den Leichnam des Ordensgründers versammeln, und wie sich gerade darin der Grad ihrer Verehrung plastisch zur Sprache bringt. Das gleiche geschieht auf dem Bild der Stigmenprüfung durch Hieronymus, und ein drittes Mal auf dem Bilde der Kanonisation des Heiligen, das leider so schlecht erhalten ist. So fremd war diese Aussageweise den Wissenschaftlern, daß sie eigens einen „Meister der vielfigurigen Bilder" dafür verantwortlich machen wollten. Gerade des Giotto Erfindung machen aber diese mächtig den Raum dehnenden „Theatra sacra" aus, und zwar nicht nur wegen der unerhörten Raumbeherrschung, die dabei ausgespielt wird, sondern um des Wechselwertes willen, da nun einem Turmhaft-Aufragenden das Kreisend-sich-Weitende gegenübergestellt werden kann. Einen „Kreis der Anbetung" finden wir des weiteren auf dem Bild der Unterkirche von Assisi, das den Fenstersturz eines Knaben zum Thema hat und noch zu den letzten Bildern der Franzlegende rechnet. Hier hat sich ein voller Kreis von Anbetend-Knienden gebildet, in dem wir stellenweise drei in die Tiefe gestaffelte Glieder zu sehen vermögen. In Kreisen tanzen die Engel auf dem Bild über dem Triumphbogen der Arenakapelle, um ihre Freude über die Aussendung des Gabriel durch Gott zu bekunden, und hier können wir ganz der Sprache Dantes folgen, die uns von „heiligen Girlanden" oder „Rädern" zu sprechen gestattet. Besonders stark setzt Giotto die „Heiligen Theater" der Engel auf den großen Bildern der Vierungswölbung der Unterkirche von Assisi ein, da es jeweils um die Verherrlichung einer der Haupttugenden des Franziskanerordens geht. Feierlich assistierende Engelschöre finden wir auf den Bildern des „Gehorsams" und der „Armut", die in der räumlichen Entfaltung ihrer Kreise und im Rhythmus der Gruppierung auf der Fläche jene weichen Aggregationen der Engel auf der Maestà des Duccio als eine bloße Traditionsbedingtheit weit zurücklassen, und zwischen preisender Umgebung und handelnder Mitte eine ganz neue, spannungsvolle Dramatik schaffen, und zur letzten Steigerung gelangt das Bild der Franziskusverklärung, da Engelschöre in verführerisch schönen, rhythmisch reich gegliederten Fi-

guren um den himmlischen Thron des Heiligen Franz herumtanzen. Wie ungeduldig müssen die Augen der neuzeitlichen Wissenschaftler gewesen sein, die das ihnen damit bereitete Fest nicht annehmen wollten! Aber konsequent war es wohl, daran vorbeizusehen, wenn auch das Paradiso des Dante als langweilig gelten konnte.4® 8.

„Ragen

und

Strahlen"

Wir schließen diesen Ausblick in die Malerei des Trecento, indem wir den Allegorien von Assisi das andere Hauptwerk des reifen Giotto folgen lassen, das der modernen Kritik zum Opfer gefallen ist, den Stefaneschialtar der vatikanischen Pinakothek, der einstmals an der wichtigsten Stelle der Christenheit, der Apsis von Alt S. Peter in Rom gestanden hat.41 Die Hauptseite mit Christus in der Mitte und den Martyrien der Apostelfürsten auf den Flügeltafeln sei ob der besonderen Art ihrer Gliederung besprochen. In die Höhe gestreckt sind alle Tafeln durch die Dimensionierung des gotischen Schreines, die den Stilgeschichtier zunächst überraschen muß, da von der Arenakapelle bis zum späten Stil der Florentiner Kapellen die Neigung zum Breitformat stetig zunimmt. Aber schon Rintelen hatte bemerkt42, daß sich an den Stefaneschitafeln die senkrechte und die waagrechte Dimension auffällig begegnen, indem um den hohen Christusthron die Engelschöre, um das Petruskreuz die zwei Kreise der frommen Frauen und um das Paulsmartyrium Jünger und Soldaten in erheblicher räumlicher Weite zur Verehrung und Bestätigung des zentralen Geschehens angeordnet sind. Nicht nur das Ragende und das sich Weitende machen das Ganze aus. Die Christustafel ist über die gesamte Fläche figürlich besetzt und ein feierliches Stehen macht ihre Hauptdimension aus. Dagegen wechselt auf den Flügeltafeln Leere und Fülle, und es gibt nicht eine einzige Hauptrichtung nur. Denn zunächst sinkt es abwärts auf diesen Bildern, da Petri Kreuz umgedreht ist und mit ihm der Goldgrund auf der Mittelachse nach unten drängt, ebenfalls der Felsensattel hinter dem Paulsmartyrium im Zentrum eingetieft ist. An den Seiten rechts und links dagegen steigt es hoch, sei es mit den Pyramiden des Petrusbildes, sei es mit den Schultern 40 Gegen die Franziskanerallegorien sprach sich als erster Rumohr aus, indem er ihren „mönchischen" Charakter tadelte. Der gleiche verdiente Kenner und Kunstgelehrte hat ja auch die Franzlegende dem Giotto aberkannt (Italienische Forschungen, 1827—r83i, zitiert nach Neudruck von 1920, S. 270). Schiller hat bekanntlich gefunden, daß „Dantes Himmel viel langweiliger sei als seine Hölle" (Brief 647 an Goethe vom 27. 8.1799). Vossler hat erst in späteren Jahren seine anfangs negativere Beurteilung des Paradiso korrigiert (Dante als religiöser Dichter, Bern r92r). 41

s. Anm. 38.

42

Rintelen, Giotto, 1912, S. 222.

des Felsens auf dem Paulusbild. Nach abwärts fliegen auch die Engel, die dem Petrus ein Buch entgegenhalten, wird das Tuch der Jüngerin Plautilla zugeworfen, die links auf dem Felsen steht. Aber sodann kehrt sich die Richtung des Bildgeschehens um und steigt nach oben, indem sie nun die beiden Heiligen in einer Mandorla gen Himmel fahren läßt. Starkes Aufragen, starkes Absinken und erneutes Auffahren, solch stoßweises Geschehen herrscht auf den beiden Flügeltafeln, da etwas Heiliges auf der Eide bezeugt wird. Im Himmel dagegen ist alles licht, harmonisch gerundet und geschlossen. Da die Engel den Thron bis oben begleiten, „ragt" dieser nicht auf, sondern steht in feierlicher Weise selbst genügsam als die himmlische Stätte Christi, nicht bedrängt von Wesen, die sich erst finden müssen, vielmehr angebetet und gefeiert durch den Stifter-Kardinal und die Chöre der Himmelsbewohner, deren selige Kreisfiguren den Raum erfüllen. Jede der drei Stätten hat somit ihre charakteristische Grundgestalt. Das höchste Maß an Mannigfaltigkeit wird auf den beiden Stationen des Irdischen ausgespielt, doch da es durch den Einheitscharakter, die Hauptragung alles Figürlichen, zusammengehalten wird, bleibt die Grundgestalt der Stätte beherrschend: „varietas superata", oder, um den Sprachstil Dantes nachzuahmen: „Varietade soverchiata", im Gegensatz zur „varietas explicata" der Malerei des 15. Jahrhunderts.43 Die einheitlich aufragenden Marterstätten dieser Bilder einerseits und die „valle dolorosa" und der „monte" der Dichtung andererseits sind sich im Aufbau verwandt. Noch weiter darf der Vergleich ausgedehnt werden. Sinken und Aufstieg ist das Thema der Göttlichen Komödie und der beiden Martyrienbilder des römischen Altars. Was aber so stark hinanzieht, des Himmels Macht, ist selber Mitte, harmonisches Kreisen und Ausstrahlen, das in sich keinen Gegensatz mehr zuläßt. Das Aufragende, das eine Verschlossenheit überwindet, drängt zum Strahlenden, das Strahlende aber wirkt hinein in alles, was ihm entgegensteigt. So sind die drei Stätten des römischen Altarwerks, 43 D a ß der Begriff der ragungsgebundenen M a n n i g f a l t i g k e i t historische U n t e r scheidungen z u treffen erlaubt, k a n n m a n sich an Bildern des 19. Jahrhunderts klarmachen. A u f C o u r b e t s Halali v o n 1 8 5 8 aus d e m W a l l r a f - R i c h a r t z - M u s e u m ist die Figurengruppe w o h l zentral u m den Hornbläser als die größte G e s t a l t angeordnet, w i r k t aber künstlich u n d gestellt, da keiner dieser Figuren jene Qualität eignet, die w i r als „ A u f r a g e n " bezeichnen, u n d die i n der Richtung v o m Festen des Bodens z u m O f f e n e n des H i m m e l s echte sinnliche M a n n i g f a l t i g keit umgreift. Z u dieser Z e i t k o n n t e n u r die zufällige G r u p p i e r u n g der M e n schen i m Bild glaubhaft w i r k e n , w o z u aber nicht Courbet, der „ R e a l i s t " , sondern erst Manet gelangt ist. D a s Bild ist somit ein „kritisches P h ä n o m e n " (Sedlmayr). In der K u n s t des 20. Jahrhunderts scheint Barlach ragende Figuren gebildet z u haben, aber hier h a t die V e r e i n f a c h u n g die Substanz an sinnlicher M a n n i g faltigkeit fortfallen lassen, so daß das R a g e n keine Fülle h a t u n d daher unter den Begriff des Z e i c h e n h a f t e n fällt.

Giotto:

Das Stefaneschi-Altarweik. Christus-Seite. Rom, Vatikanische Pinakothek (Photo der Vatikanischen Kunstsammlungen)

von den Flügeln zur Mitte, ebenso unauflöslich verbunden, wie die drei Gesänge der Göttlichen Komödie, obschon irgendein Werkzusammenhang nicht besteht. In aller Deutlichkeit aber lehrt uns gerade der römische Altar, daß Aufragen über festem Boden der schlechthin entgegenen Offenheit des göttlichen Himmels, nicht einem beliebigen Horizont zugeordnet ist. Stünden die Figuren nicht in die allumfassende Offenheit hinein, so wären sie auch nicht von dieser Stattlichkeit der Türme. Das Auge des Leibes vermöchte dies in der Naturwirklichkeit nicht wahrzunehmen. Andererseits ist unverkennbar, daß Giotto die göttliche Strahlungsmacht nicht mehr so unmittelbar darstellt, wie einst die Byzantiner ihre Pantocratoren von der Höhe der Kirchenkuppeln herabherrschen ließen, sondern sie bezeugt durch die Festigkeit aller Wesen, die sich ihr entgegenrichten. Treten die göttlichen Gestalten in den Bildern auf, so sehen sie aus wie gesteigerte Menschen, Menschen aber, die ins Ganze zu stehen vermögen, wie es das Auge des Leibes nicht wahrnimmt. Was Giotto hier einführte, hat alle Malerei bis zum Ende des Barocks bewahrt. Erst als der überwiegende Teil der Künstler mit dem überwiegenden Teil der Zeitgenossen die Festigkeit des zum Himmel-Stehens nicht mehr aufzubringen vermochte, verfiel die alte Ordnung der Bilder und überließ das Feld einer neuen, die nur noch dem Auge des Leibes entsprach. Hat sich auch seitdem manche Kunst ausdrücklich zum Kampf gegen solche Beschränkung erhoben, zu ihrer Uberwindung kam es noch nicht.

D i e i m Aufsatz verarbeiteten Forschungen wurden vorgenommen im Rahmen einer Untersuchung über L. B. A l b e r t i s Begriff der „Varietas", für welche der Verfasser 1957 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Stipendium erhalten hat. 5 Badt-Festschxift

B E M E R K U N G E N ZUM KOLORISMUS ZWEIER GEMÄLDE DER M Ü N C H N E R PINAKOTHEK VON ERNST STRAUSS Die heute allgemein gebilligte Annahme, daß der Kolorismus in der Malerei seine eigene Geschichte habe, kann sich vorläufig noch nicht in ausreichendem Maße auf anschauliche Tatbestände stützen, so wie sie sich etwa aus der Architektur- oder Ornamentgeschichte für die Entwicklung der Form angeben lassen. Es ist noch nicht einmal ermittelt, welches die Werke sind, die für die Geschichte der Farbe in der Malerei richtunggebend wurden. Aber selbst dann, wenn diese einmal festgelegt sein sollten — ihre Bestimmung wird bei dem lückenhaften Gesamtbestand der Denkmäler unserer Malerei immer nur schätzungsweise möglich sein — werden sie schwerlich im gleichen Grade zum Vorstellungsbesitz des Kunsthistorikers gehören wie die Schöpfungen der Formphantasie. Denn diese lassen sich für eine vergleichende Forschung unschwer vergegenwärtigen, da sie reproduzierbar sind, während die wesentlichen Aussagen der Farbe ausschließlich an das Original gebunden bleiben, an dem allein Erkenntnisse über sie gewonnen und überprüft werden können. So sind auch die diesem Aufsatz beigefügten farbigen Abbildungen nur als unerläßliche Hinweise auf die Originale, bzw. als Gedächtnisstütze zu betrachten. Die Unmöglichkeit, die zu einer methodischen Koloritforschung jeweils unerläßlichen, kunstgeschichtlich bedeutungsvollen Originale gleichzeitig vor Augen haben zu können, bildet das größte, praktisch nie überwindbare Hindernis bei der Behandlung von Farbproblemen und ist wohl die äußere Hauptursache dafür, daß ihre Bearbeitung bisher nur stockend und in großen Abständen erfolgte. Soll diese grundsätzliche Schwierigkeit umgangen werden, so bietet sich der Forschung nur ein Weg: von solchen Werken auszugehen, die am gleichen Standort oder doch in genügend geringer Entfernung voneinander gesehen werden können, um jederzeit eine vergleichende Betrachtung ihres Kolorits zuzulassen. Damit scheiden zwar, von seltenen Ausnahmen abgesehen, die in der Geschichte des Kolorismus epochemachenden Leistungen für die direkte Anschauung aus, aber es können sich vor dem unmittelbar gegebenen Material Einsichten in künstlerische Prinzipien der Farbgestaltung gewinnen lassen, die auch in den nicht erreichbaren „Schlüsselwerken" vorwalten, in ihnen freilich zu besonders reiner Verwirklichung gelangt sind.

Unter diesem Blickpunkt bietet der Gemäldebesitz jeder bedeutenden Sammlung sehr viele Möglichkeiten zu vergleichenden Betrachtungen. So können zwei bekannte, zeitlich sich nahestehende Werke der Münchener Pinakothek, Filippo Lippis „Verkündigung" und Rogier van der Weydens „Lukasmadonna" 1 zum Anlaß prinzipieller Betrachtungen über die Bildfarbe des 15. Jahrhunderts werden, zumal ihr Kolorismus sich auf einer vergleichbaren kompositioneilen Grundlage — Ganzfiguren in einem Innenraum mit einer dem Bildgrund zu geöffneten Rückwand — aufbaut. I

Den farbigen Gesamteindruck der Tafel Filippo Lippis bestimmt eine formverhaftete, gleichmäßige, etwas gedeckte, doch kräftige Hellfarbigkeit. Sie beruht auf der Wirkung einer nahezu über die gesamte Bildfläche verbreiteten hellen unbunten Farbe im Verein mit präzis eingesetzten, ebenfalls hellen, aber ausgeprägt bunten Qualitäten. Die quantitativ vorherrschende Farbe ist ein sprödes, leicht bläuliches Grau in verschieden tiefer Abschattung (Architektur), das sich in der rechten Bildhälfte dem Weiß nähert (Tücher über dem Betgestühl) und es in der mittleren Bildachse erreicht (Lilienblüten und Taube); etwas überhöht, bläulich und rosa nuanciert, erscheint es außerdem an wichtiger Stelle des Vordergrundes als leicht irisierende Lichtfarbe des Engelsgewandes. Die führenden Buntqualitäten sind: helles Blau (Madonnenmantel, Kissen des Betpults), wiederholt in der linken oberen Bildecke (Mantel Gottvaters, Wolken) und, weißlicher, als Farbe des Himmelsausschnittes; klares Zinnoberrot (Ausschnitt der Bodenfläche hinter der mittleren Arkade); Gelb (ein dem Neapelgelb nahestehender Ton auf den Lichtflächen des Betpults und Gestühls, wärmer im Gewände des Engels neben Gottvater); gedämpft-helles 1 In Ubereinstimmung mit den Angaben zu dieser T a f e l in den Katalogen der Pinakothek v o n 1936 und 1 9 5 7 kann der N a m e Rogiers hier nur stellvertretend gebraucht werden, da sie als eine — w e n n auch sehr genaue — Werkstattreplik anzusehen ist. A l s solche gilt sie auch in der gesamten jüngeren RogierLiteratur (vgl. Winkler in Thieme-Becker X X X V [1942,], 4 7 5 ; Musper, Untersuchungen zu Rogier v. d. W e y d e n und Jan v. Eyck, o. J. [1954], S. 3 5 ; R. M . T o v e l l Rogier v. d. W e y d e n and the Flemalle Enigma (1955], S. 29). Bei dem vorliegenden Versuch, P r i n z i p i e n farbiger Darstellung zu erkennen, ist indessen die Frage der Eigenhändigkeit nicht von primärer Bedeutung. Überdies stimmt das (vermutliche) Original, die Tafel des Bostoner Museums, in allen wesentlichen Merkmalen ihrer Koloristik mit der Münchener überein.

A l s Entstehungszeit des Vorbilds werden allgemein (s. die oben angeführte Lit.) die Jahre ca. r435—ca. 1440 genannt. Für die Tafel Filippo Lippis ist 1443 als terminus post gegeben, doch setzt sie Oertel (Fra Filippo Lippi [1942], S. 25 und 68) aus stilistischen Gründen erst gegen r450 an. M a n wird also vermuten dürfen, daß die beiden zu erörternden Münchener T a f e l n innerhalb eines Zeitraums v o n zehn Jahren entstanden sind. 5*

Karmin (schattende Changeantfarbe des Engelsgewands). — Zwischen bunten und unbunten Qualitäten vermitteln verschiedene Stufen des Grün, von der verhältnismäßig tiefen Farbe der Vegetation über eine kalte, bläuliche Brechung (Innenseite des Marienmantels) zu dem matten, schon grauhaltigen Terra verde-Ton der Gesimse und Arkadenbögen,- sodann Braun (als bernsteinfarbige Brechung des Gelb in den Halbschatten des Holzwerks, als erdiges Goldbraun, schon einem stumpfen Oliv sich nähernd, in den Engelsflügeln). Die Farbenreihe schließen unbestimmtere, aus Gelb, Rot, Karmin und deren Mischungen mit Weiß gebildete Werte (vordere Bodenfläche, Gewand des links hereinschwebenden Engels, Inkarnat usw.). Trotz ihrer durchwegs strikten Gebundenheit an die Gegenstandsformen erschöpfen die Hauptfarben sich nicht in einer nur beschreibenden Funktion. Ihre Position und Zuordnung zueinander läßt tiefere Zusammenhänge erkennen. Sie regen an, auch für sich selbst gelesen zu werden, und zwar auf zweifache Weise. Unverkennbar ist zunächst die Zunahme an Farbigkeit von links nach rechts. Im linken Drittel der Bildfläche noch aufs äußerste zurückgehalten, setzt sie, unter Ausnutzung der Changeantwirkung, mit dem Wechsel des lichten Grau zum Karmin im Gewände des Engels ein, bricht in den reinen gelben und roten Flächen vor ihm auf, um in dem schon durch seine Ausdehnung dominierenden Blau des Marienmantels zu gipfeln. Der Farbgang unterstützt somit das inhaltliche Geschehen, sogar der zeitliche Ablauf vom Nahen des Engels bis zum Empfang der Botschaft wird durch ihn augenfällig. Mehr noch: da sich das Blau des Marienmantels in seiner Zusammenstellung mit Flächen von Gelb in der linken oberen Bildecke wiederholt (wenngleich in sehr viel geringerer Ausdehnung) und dadurch ähnliche Farbkonfigurationen entstehen, die auch in der Schräglage ihrer Achsen übereinstimmen, wird diagonal über die Bildfläche hinweg eine Verbindung zwischen dem irdischen Vorgang und dem „Oben" geschaffen, wie sie gleich nachdrücklich mit andern als farbigen Mitteln nicht zu erreichen gewesen wäre. (Der von Gottvater ausgehende punktierte goldene Strahl kommt nur noch ergänzend hinzu.) Diese inhaltlich motivierbare Ordnung der Farben wird überbaut durch eine zweite, die als die eigentlich kompositioneile die genannten Beziehungen reguliert, die farbige Bildstruktur erst ergibt. Sie ist eindeutig zentriert in der scharfbegrenzten homogenen Fläche des Rot. Als einziger Buntwert, der sich sonst im Bilde nicht wiederholt findet, faßt es die verschieden weit verteilten buntfarbigen Glieder wie in einem Knoten zusammen und legt das farbige Gewicht des Bildes ostentativ in die Mittelachse. Vor allem erfüllt es die wichtige Funktion, der Tafel ihre flachräumliche Erscheinung zu sichern, indem es an zentraler Stelle dem Tiefenzug ihrer zentralperspektivischen Anlage energisch entgegenwirkt.

II

Ein Versuch, mit den gleichen Mitteln einer beschreibenden Farbanalyse, wie sie hier auf Filippo Lippis Verkündigung angewandt wurden, sich den koloristischen Aufbau von Rogiers Werk zu erklären, wird von Anfang an erheblichen Widerständen begegnen. Seine farbigen Gegebenheiten sind ungleich schwieriger mit dem bezeichnenden Wort in Dekkung zu bringen. Zwar ist auch hier alles, was als Farbe erscheint, insofern zu bestimmen, als es sich an einem bereits durch die Zeichnung mit äußerster „Objekttreue" vorgestellten gegenständlichen Träger verfolgen läßt: der Fülle des Dinglichen entspricht aufs Genaueste die Vielfalt der farbigen Werte. Unter diesen können wohl auch die auffälligsten mit Namen benannt und, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze, nach ihrer Bedeutung für die farbige Bildwelt gestuft werden. So erscheinen als führende Qualitäten das bräunlich gebrochene Rot im Mantel des Lukas und das tiefe Stahlblau neben dem schwärzlichen Violett und metallischen Goldgelb in den Gewändern der Madonna,- diesen Werten schon nachgeordnet verschiedene Grünstufen (vom tiefen Samtgrün der Kissen über das hellere des herabhängenden Baldachinsaums zu dem gelblichen der Vegetation) ; schließlich tritt der Anteil des Grau in sehr verschiedenen Kältegraden (Wand- und Bodenflächen) sowie Braun (Holzwerk) hervor. Aber eine solche summierende Beschreibung der farbigen Gegebenheiten würde, wenn man sich etwa anhand einer farblosen Reproduktion mit ihrer Hilfe das Original vergegenwärtigen wollte, noch keineswegs, so wie im Falle des italienischen Werks, eine Grundvorstellung seines koloristischen Aspekts vermitteln können. Und diese käme auch dann nicht zustande, wenn in einer weitgetriebenen Analyse noch die subtilsten farbigen Details berücksichtigt würden; das Wesentliche des Farbeindrucks bliebe noch immer unerschlossen. Dieses Versagen erklärt sich nicht allein durch die schwer überschaubare und nicht zu gliedernde Vielzahl der farbigen Werte oder durch ihre mit Filippo Lippis eindeutigem Kolorit verglichen — viel größere Differenziertheit und Wandlungsfähigkeit, wodurch allein sie sich schon einer sprachlichen Fixierung widersetzen. Seine tiefere Ursache ist vor allem darin zu suchen, daß bereits die Bedingungen selbst, unter welchen die Farbe bei Rogier in Erscheinung tritt, von Grund aus andere sind als im Werk des italienischen Meisters. Denn die letzten Voraussetzungen ihrer Wirkung liegen nicht, wie bei diesem, schon in der Farbigkeit, im jeweiligen Buntgehalt als solchem, sondern außerhalb der Farbe, im optischen Bereich des Lichts und des Dunkels. Erscheint bei Filippo Lippi die Farbe in sich geschlossen und gefestigt, so bei Rogier aufs äußerste exponiert — wenn nicht vorwiegend als eine Funktion von Licht und Dunkel, so doch „angegriffen", ja durchdrungen von beiden.2 2

Auf die nicht einfachen Probleme, die sich aus einer solchen Situation der

Licht und Dunkel von vornherein als optische Phänomene zusammen zu erfassen, ist deshalb erforderlich, weil gerade bei Behandlung des niederländischen Kolorismus im allgemeinen vom Licht allein in seinem Verhältnis zur Farbe die Rede ist, wobei von ihm als einer un-bedingten Größe ausgegangen3 und außer acht gelassen wird, daß seine künstlerische Verwirklichung und Eigenart aufs engste an die Erscheinungsform des Dunkels im Bilde gebunden ist.4 Diese ist daher in gleicher Weise zu berücksichtigen, wenn der Charakter des Bildlichts und damit das Wesen der es erzeugenden Farbe begriffen werden soll. Vor dem Bilde Rogiers ergibt sich diese Forderung schon aus dem Gesamteindruck, der im letzten Grunde nicht bestimmt wird durch die mit gleichmäßigem Nachdruck schildernde Gegenstandsfarbigkeit, so folgerichtig auch an ihr durch den gesamten Bildraum festgehalten ist. Was ihn entscheidet, ist das Widerspiel von Dunkelheit und Helle, und zwar unter der Dominanz des Dunkels. Beide Regionen gehen ineinander auf und erzeugen erst dadurch eine eigene „Lichtform". 5 Getrennt wahrnehmbar werden sie darüber hinaus nur, soweit ihre Scheidung sich thematisch begründen läßt: das Dunkel durchwebt den Innenraum um die HauptFarbe für die Bestimmung ihres ästhetischen Verhaltens im Bilde ergibt, hat der Vf. in einer Untersuchung „Uber die Anfänge des Helldunkel" hingewiesen. (In: Hefte des kunsthistorischen Seminars, München i960, Nr. 5.) — Vgl. dazu ferner die eingehenden Erörterungen W. Schönes über das Verhältnis von Licht und Farbe in seinem Buche „Uber das Licht in der Malerei" {1956 insbes. S. 201 ff.). 3 S. z. B. v. Bodenhausen, Gerard David und seine Schule (1905), Kap. V: Das Licht; oder die Bearbeitungen des Lichtthemas in der Rembrandtliteratur, auf die Schöne (a. a. O. S. 160, Anm. 319) verweist. Zur prinzipiellen Behandlung des Hell-Dunkel-Problems durch Schöne vgl. besonders die jüngste Besprechung seines Buches durch H. Sedlmayr in Heft 5 des Kunsthistorischen Seminars der Universität München, i960, S. 29—51. Noch ein Begriff wie der des „Luminarismus" läßt die Herkunft aus einer Betrachtungsweise erkennen, in der die Vorstellung des Lichts als des allein entscheidenden Faktors überwiegt. Vielleicht ist er aus diesem Grunde im kunstgeschichtlichen Sprachgebrauch seit dem Ende des Impressionismus wieder in den Hintergrund getreten. Als notwendiger Gegenbegriff zu „Kolorismus" sollte er beibehalten werden, doch unter der Bedingung, daß er s ä m t l i c h e Erscheinungsformen des Lichts umgreifen müßte, von der höchsten Höhe bis zu seiner Negation im Dunkel; erst so werden die tiefen Ubergangsstufen des Lichts einbezogen, die, von seinem Gegenpol aus gesehen, als Modifikationen des Dunkels aufgefaßt werden können. 4 „Das Licht bezieht sich auf das ihm andere, das Dunkle. In diesem Verhältnis bleiben jedoch beide Principe (sie) nicht etwa selbständig, sondern setzen sich als Einheit, als Ineinander von Licht und Dunkel" (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III in: Werke, ed. Glockner 1954, Bd. XIV, S. 25). 5 Unter „Lichtform" versteht Paul Klee (Tagebücher 1898—1918, Köln 1957, S. 253) „die Umrechnung der Hell-Dunkel-Ausdehnung nach dem Gesetz der

figuren (die freilich wiederum in ihrem eigenen „Bedeutungslicht" stehen) und das im Ausschnitt noch sichtbare Nebengemach; die Helle liegt, nur leicht gemindert, über der Mittelzone und völlig frei über der Flußlandschaft des Bildgrunds. Das Dunkel ist auf das „Innen", das Helle auf das „Außen" bezogen. Am drastischsten begegnen beide Phänomene sich im oberen Bilddrittel, da, wo die Schäfte der beiden Loggiasäulen sich von Landschaft und Himmel abheben, etwas abgeschwächter und in geringerer Ausdehnung auch im Balkenwerk vor dem Rundfenster der Schildwand. Eben diese Partien sind als Orte der konzentriertesten Dunkelheit und Helle die am wenigsten farbhaltigen des Bildes und entziehen sich daher bereits weitgehend einer Festlegung durch Farbnamen und Farbbegriffe. Die Dunkelkomponente der Säulenschäfte ist so übermächtig, daß ihre nur bei naher Sicht wahrnehmbare Eigenfarbe, ein tiefschwärzliches Blau, als solche gar nicht in Erscheinung treten und sich daher auch nicht mit anderen Blauwerten des Bildes zu einer Einheit auf gleicher farbiger Basis verbinden kann. Ebenso verlieren das verdunkelte Grau der Schildwand sowie das tiefe Braun der Balken und der hölzernen Flachtonne, so unzweideutig sie auch als Gegenstandsfarbe „gemeint" sind, in normaler Distanz vom Bilde ihren spezifischen Farbcharakter nahezu ganz, beginnen aber statt dessen zu einem optischen Dunkel zu verschmelzen, in dessen Tiefe der Blick versinkt. Diesem Dunkel entsprechend wirkt das Weiß des ferneren Himmels nicht primär als dessen „Gegenstandsfarbe", sondern als Repräsentant des reinsten Lichts; sein Farbcharakter ist in der höchsten Luminosität aufgegangen. Solche Kontraste bezeichnen die äußersten Grenzen, die den Erscheinungsmöglichkeiten der positiven, bildbestimmenden Farben gesetzt sind. Stets im Spannungsbereich zwischen Licht und Dunkel, gravitieren diese nach der Dunkeltiefe hin oder erscheinen der Helle zu hoch„gestimmt". Ihre Affinität zum Dunkel geht allein schon aus dem Aussehen der drei Grundfarben hervor. Keine von ihnen zeigt sich in der ganzen Reinheit ihres Buntwerts. Selbst den Lichtfarben Rot und Gelb hat sich eine Trübung mitgeteilt, die sie an der vollen Entfaltung ihrer Energie hindert, das Rot gedeckt, das Gelb „ins Minus gezogen"6 erscheinen läßt. Im Blau des Madonnenmantels aber ist der Anteil des Trüben derart angewachsen, daß ihm von der Seite der Farbe kaum noch beizukommen ist; zudem wird seine Beurteilung Breitung belichteter Flecken gegenüber mathematisch gleichgroßen dunklen Flecken". Obschon, im Hinblick auf Werke der Malerei, eine solche „Umrechnung" besonders vor Hell-Dunkel-Bildern des 17. Jh. nahegelegt wird, so liegt eine Anregung dazu doch schon in Rogiers Tafel vor. Der Eindruck einer kontinuierlichen „Ausdehnung" nur stellenweise begrenzbarer heller und dunkler Komplexe überwiegt den einer farbigen „Statik". In Filippo Lippis Tafel fehlen solche Vorbedingungen einer für sich wahrnehmbaren Lichtform gänzlich. 71

8

Goethe, Farbenlehre, didakt. Teil, 6. Abt., 770.

noch dadurch erschwert, daß es sich für den Blick erst wie mühsam aus angrenzenden Farbflächen herauslösen muß, von welchen es nur durch nahe und mittlere Intervalle7 getrennt ist. In ihnen „lagert" bereits die Dunkelheit, die sich dann in den ausgedehnten Schattenpartien des Mantels zu einem so hohen Grade verdichtet, daß das auch hier nur in naher Sicht erkennbare Schwarzblau im Gesamtaspekt weit über seine Bedeutung als tiefste Schattenfarbe hinauswächst, in Dunkel umschlägt und als solches mit den ebenso erscheinenden Partien des Bildes (Innenseite der Loggia, Deckenregion, Raumabschnitt hinter Lukas) zu einer optischen Einheit verschmilzt.8 Dieses Dunkel ist das Element, das den Tiefengrund der Bildwelt konstituiert. In ihm gehen sämtliche Schattenphänomene des Bildes auf, von den tiefsten Eigenschatten der Gewänder bis zu den zarten Trübungen des Inkarnats. Raumhaltig, gestaltlos und an keine Form gebunden, erzeugt es, unter analogen Erscheinungsbedingungen, ein ebensowenig begrenzbares, „alldimensionales" Licht. So kann sich der Weg der Farbe aus dem Dunkel zum Licht hin nur als ein kontinuierlicher Ubergang begreifen lassen, in welchem zwei Stadien unterscheidbar werden: 7 Die Begriffe und Theorien der farbigen Intervalle stammen von Physiologen des ig. Jh. (Chevreul, Bezold, Brücke) und wurden von der kunstgeschichtlichen Farbforschung zuerst durch E. v. d. Bercken übernommen (s. Untersuchungen zur Geschichte der Farbengebung der venezianischen Malerei [1914], wo eine Ubersicht über die kleinen, mittleren und komplementären Intervalle gegeben wird (S. 94 ff.). Mit Recht hat v. d. Bercken in seinen Forschungen über die Geschichte der Farbe in der Malerei mehrfach betont (s. Forschungen und Fortschritte 1930, S. 262 f.), daß die wissenschaftlichen Intervalltheorien dauernd zu modifizieren seien, da ein einzelner Kontrast immer nur im Verhältnis zu den anderen beurteilt werden könne. So erscheinen nur in einem Bilde mit lebhaft veränderten Farben kleine Intervalle noch als verschiedene Grade einer und derselben Farbe. Umgekehrt lassen in einer durch Licht und Dunkel weitgehend nuancierten Gesamtfarbigkeit solche Farben, die durch nahe Intervalle voneinander getrennt sind, — rein als Buntwerte gesehen, keinen gemeinsamen Ursprung erkennen, sondern scheinen sich zu „spreizen". Ein gutes Beispiel hierfür bietet gerade der farbige Komplex der Madonnengewandung in Rogiers Bild. 8

Wenn hingegen in Rogiers „Verkündigung" vom Columba-Altar der Pinakothek das Blau des Marienmantels die auffälligste Note der Koloristik bildet, so ist dies nicht allein auf die Wahl eines reineren und „schärferen" Blauwerts zurückzuführen, sondern darauf, daß es sich als einziger Farbton im Bilde der Brechung und Differenzierung durch Licht und Dunkel widersetzt, die die übrigen Buntfarben erfahren und dadurch aus diesen „herausgehoben" erscheint. Ein farbgeschichtlich bemerkenswertes Phänomen, weil hier eine bestimmte Farbe zur Steigerung ihrer thematischen Bedeutung in einer fast „archaisierenden" Weise verwendet wird; Rogier greift auf die durch die Eycks gerade überwundene, zeichenhafte und daher unveränderlich gedachte Lokalfarbe zurück.

1. Die Überführung des optischen Dunkels in mehr oder weniger artikulierte Buntqualitäten. Die Farbe spezifiziert sich, indem sie sich, aus dem Dunkel hervortretend, in soviele Einzelwerte auseinanderlegt als die Oberflächen der Dinge erfordern, die durch sie bezeichnet werden sollen. Jedoch erscheint sie in jedem Stadium dieser Entfaltung immer noch riickbeziehbar auf das Dunkel als ihren Quellgrund. Hierin, und nicht in einer Zusammenstellung von Farbwerten nach herkömmlichen Harmonieregeln, liegt die Ursache der Ausgeglichenheit frühniederländischer Koloristik. Denn erst durch die gemeinsame Verwurzelung der Farben im Dunkel wird es ihnen möglich, sich gleichzeitig zu allen nur denkbaren Buntheitsgraden auszugestalten ohne Gefahr, unruhige oder gar störende Konstellationen zu ergeben. Sie regen das Auge an, die Distanzen zwischen sich nicht durch eine „Rückung" von Farbhöhe zu Farbhöhe zu überwinden, sondern auf dem Umweg über das ihnen allen gemeinsame Tiefendunkel. Nur so erklärt sich in Rogiers Tafel die Logik in der Anordnung solcher Farben, die, als abstrakte Einzelwerte gruppiert, eine innere Beziehung vermissen ließen. Denkt man sich beispielsweise die nur aus kalten Blau- und Grauvarianten bestehenden und zu ebenfalls kaltem Gelb kontrastierenden Farbwerte der Madonnengewandung als „Muster" aufgereiht, so müßte eine Folge aus ungelösten Dissonanzen entstehen; erst von der Tiefe der Schattendunkelheiten her gesehen ergeben sie einen in sich ruhenden Klang. Das gleiche gilt auch von Farben voneinander getrennter Bildzonen: man betrachte z. B. den Komplex aus trübem Lila, Braun und zweierlei Grau, wie er durch die Gegenstandsfarben der Kappe und des Mantels des Lukas sowie der vertäfelten Wand hinter ihm gebildet wird. 2. Die Einung von Farbqualitäten und Licht. Sobald die sich der Tiefe „entwindende" und allmählich qualifizierende Farbe den Buntheitsgrad erreicht hat, der der jeweiligen Gegenstandsoberfläche entsprechen soll, werden nicht nur ihre Buntwerte frei, sondern sie gibt sich gleichzeitig auch als „lichthaft" zu erkennen. Die innere Helle (spezifische Helligkeit), die jede Farbe mit sich führt, wird im Gesamtaspekt durch ihren komplementären Kontrast zum optischen Dunkel „entbunden". Sie gehört nun nicht mehr der Farbe selbst an, sondern wird als Widerschein des reinen Lichts aufgefaßt. Nicht daß Licht aus einer Quelle außerhalb der Bildwelt sie „träfe". Wenn es so scheint, dann nur deshalb, weil die jeweilige Eigenhelle der Farbe vom Maler dazu benutzt wird, eine natürliche Lichtwirkung zu suggerieren. In Wahrheit verhält es sich so, daß das in und mit der Farbe sich offenbarende Licht phänomenal zugleich als Endstadium und Ziel ihres Wegs aus dem Dunkel faßbar wird. Zu solcher fundamentalen Bedeutung war das Licht erst durch seine Ausbildung in der nordischen Helldunkelmalerei des späteren 14. Jahrhunderts gelangt, nur daß es hier als eine die Dinge von innen durch-

leuchtende, noch nicht als eine ihren Oberflächen entstrahlende Kraft erscheint.9 Erst in der niederländischen Malerei des frühen 1 5 . Jahrhunderts hat es sich — die entscheidende Tat Jan van Eycks — in genauer Analogie zur Annäherung der Form und Farbe an das „natürliche" Aussehen der Dinge „vergegenständlicht" und Darstellungswert erlangt — nicht anders wie das bisher unmotivierbare Dunkel einen neuen, konkreteren Sinn als Inbegriff aller Schattentiefen erhält. Es wird zum Gleichnis des Lidhts der Sichtbarkeit. Und doch behält es seinen universalen Charakter bei, da es sich nicht nur als ein beleuchtendes, sondern auch in seiner neuen Beziehung zu den Dingen noch immer als ein selbstleuchtendes, die Farbe weit übersteigendes Phänomen zu erkennen gibt: es manifestiert sich als Glanz. Ihn hervorzubringen, bedient sich die niederländische Malerei seit den Eycks der Wirkung eines Tiefenlichts, wie es nur aus Schichten lasierend aufgetragener Ölfarbe hervorgehen konnte. 10 Allein durch ihre Erscheinungsweise schon läßt also die Farbe das Drängen erkennen, im Licht aufzugehen, sich in ihm zu verklären — unbekümmert um die Beschaffenheit des durch sie bezeichneten Gegenstands. In 9 Strauß a. a. O. S. 7 f. — Als Beispiel aus dem Bestände der Pinakothek eignet sich die (z. Z. magazinierte) Verkündigung des Meisters des Heisterbacher Altars (H. G. 589) durch die zeitliche Nähe zu Rogiers Werk, obschon sie den trecentistischen Farbstil, bereits in seiner spätesten und überalterten Phase zeigt. Hier dominieren Dunkelheit und Helle ungleich mehr als in der Lukasmadonna, weil sie als außerfarbige Potenzen, ohne erkennbare Bindung an Gegenstand und Form, völlig freischwebend den Bildraum erfüllen und sich allein durch die optische Wirkung des Goldgrunds motivieren lassen. Der Goldgrund schafft nicht nur eine alles überstrahlende Lichtfolie, sondern zugleich eine „stumpfe" Dunkelheit, je nachdem er aufglänzend oder matt gesehen wird. Dieses Phänomen der optischen Wechselwirkung, auf das Schöne eindringlich hingewiesen hat (a. a. O. S. 23), ist bei Beurteilung der nordischen Koloristik des 14. und 15. Jh. auch deshalb so wichtig, weil es sich im Prinzip auch in der fluktuierenden Erscheinung der Einzelfarbe wiederholt (vgl. etwa die gleitende, wie unter einem Anhauch entstehende Verschattving des Fußbodens). Licht und Dunkel scheiden sich nicht an der Farbe, sondern gehen durch sie hindurch, ohne Widerstand zu finden, daher der „mediale" Charakter des Farbtons, seine Unfähigkeit, sich zu einer Oberflächenfarbe zu verfestigen. Auch wo die Farbe sich zu einem Buntwert verdichtet, wie im Blau des Marienmantels oder im Grün des Engelsflügels, erscheint sie eher als lichthafter Zusatz denn als eigener koloristischer Wert. 10 „La technique picturale eyckienne est basée sur la translucidité des couleurs: rares sont les couches picturales réellement opaques, très nombreuses sont celles à effet translucide plus ou moins accentué. C'est la superposition des fines couches cristallines et des glacis, où la lumière se combine avec la couleur, qui produit les effets chromatiques si diversement nuancés." Nach P. Coremans, L'Agneau mystique au laboratoire, r953 (Les Primitifs flamands, III). S. 176. — Dieses Werk enthält zahlreiche instruktive Aufnahmen von Querschnitten durch Farblagen, die bei Restaurierung der Mitteltafeln des Genter Altars 1950/51 mikroskopisch untersucht wurden.

Rogiers Werk bekundet sich diese Tendenz im „natürlichen" Glänzen der Stoffe nicht weniger wie im milden Leuchten des Inkarnats, am unverkennbarsten aber an den Oberflächen solcher Dinge, die in natura keinen Glanz als charakteristisches Merkmal aufweisen, wie z. B. Stein oder Holz: die Oberflächen des Paviments, der Bank usw. erscheinen so, als ob ein überschüssiges Licht sich auf ihnen niedergeschlagen habe. Für das Ende des Wegs der Farbe gilt also das gleiche wie für ihren Ursprung: auch hier vollzieht sich fürs Auge ein Wechsel aus einer Sphäre des Visuellen in eine andere, nur in umgekehrter Folge wie bei ihrer Entstehung; nämlich aus dem Bereich des Koloristischen in den des Optischen. Somit bleibt die Farbe in jedem Stadium nach Dunkel und Licht als farblosen Polen hin ausgerichtet. Schematisch würde sich ihr Verhalten so darstellen lassen: Bereich des Lichts I



I

Bereich der Farbigkeit IIIIIIIIHIIIIIIIIIIIIIII



lllllllllllllllllllllllll

Bereich des Dunkels Die Farbe erschöpft sich nicht in der mittleren Zone, sondern bleibt den Bereichen über und unter sich geöffnet; sie will aufgefaßt sein „wie eine Linie, die vom höchsten Licht bis in die unendliche Tiefe reicht". 11 in Wendet man nach diesen Überlegungen vor Rogiers Bild den Blick zurück zur Tafel Filippo Lippis, so muß ihre „statische" Buntfarbigkeit, die sie so tief vom Kolorismus des niederländischen Werks unterscheidet, als ein grundsätzlich anderes Phänomen erst recht offenbar werden. Das Dunkel als ein übergreifendes Prinzip existiert hier nicht — nicht einmal als ein Mittel, „innen" und „außen" voneinander zu scheiden. D e m Licht ist durch dieses Fehlen seines extremen Gegensatzes sein polarer Charakter genommen,- es kulminiert nicht in einer farblosen Helle. Es deckt sich mit der Farbe, aber es „entquillt" ihr nicht. Die Farbe vergeistigt sich nicht zu ihm — eher erscheint es der Farbe einverleibt. 12 Auch diese spezifische Zustandsform des Lichts kann, nicht anders als bei Rogier, sinnlich faßbar werden nur in einer ihr gemäßen Erscheinungs11

Philipp Otto Runge über die Farbe, in: Hinterlassene Schriften, Hamburg r840 I, S. 96, Anm. 16. 12 Man könnte auch von einem in die Farbe „zusammengedrängten" Licht sprechen, so wie schon jede Flächenfarbe als solche „in eine Fläche zusammengedrängt" erscheint (Hering, Handbuch der Physiologie [1879], S. 753J.

weise der Farbe. Filippo Lippis Farbe wirkt trocken, substantiell, oberflächenhaft; der deckende, magere Auftrag der Temperatechnik verleiht ihr eine bestimmte Dichte und Homogenität, — und zwar unabhängig von ihrem Buntheitsgrad: das kalte Grau der Architektur gibt sich nicht minder eindringlich als Farbe zu erkennen wie die Buntqualitäten. Diesen freilich kommt die größere Festigkeit der Wirkungsweise besonders zugute. Sie treten spontan, unverhüllt in Erscheinung, aber wiederum nicht so ungebunden-frei, daß sie den Eindruck eines Gesamtlichts nicht aufkommen ließen. An dessen Zustandekommen sind sie jedoch in einer generell ganz anderen Weise beteiligt als in der Tafel Rogiers: nicht indem sie sich im Licht erfüllen, sondern sofern sie sich „zum Licht ergänzen". 13 Ja diesem Licht selbst scheint, im Gegensatz zur vollkommenen Immaterialität des Bildlichts der „Lukasmadonna", noch etwas von der Beschaffenheit der Farben anzuhaften, aus welchen es hervorgeht. Indessen wäre es verfehlt, die Farbhelligkeit der Tafel Filippo Lippis schon als ein „spezifisches Farblicht" ansehen zu wollen, so wie es erst die Malerei des späten icjten und des mosten Jahrhunderts ausbilden sollte.14 Denn dieses konnte nur aus der total-flächigen, durch keine Schatten modifizierten Farbe entstehen. Von einer solchen schattenfreien Farbe kann natürlich in der noch durchgehend aus projiziert-plastischen Formen gestalteten Bildwelt Filippo Lippis nicht die Rede sein. Sie wird um so mehr durch die Modellierung mitbestimmt, als im Entstehungsprozeß des Bildes, nach der bis zum Ende des Barock allgemein geübten Praxis, die plastische Formenangabe (durch graphische Mittel oder monochrome Untermalung) bereits feststand, ehe die eigentlich farbige Behandlung einsetzte. Bei einem solchen Aufbauverfahren können die Buntwerte der Far13

Nach der treffenden Formulierung Adolf Hoelzels („Uber künstlerische Ausdrucksmittel und deren Verhältnis zu Natur und Bild" in: Kunst für Alle, XX, 1905, S. 124). — Z u bestimmen, in welcher Weise diese Ergänzung erfolgt, geht freilich über die Aufgaben einer Bildanalyse hinaus und ist Sache des künstlerischen Kalküls. Die Farblehren bieten keinerlei theoretische Handhabe, mit der einzigen Ausnahme der wenig beachteten Theorien von G. Kieseritzky, die sich vor allem mit dem Problem der Helligkeitsverhältnisse zwischen bunten und unbunten Farben befassen. (S. W. Hess, Das Problem der Farbe in den Selbstzeugnissen moderner Maler, 1953, S. 101 ff.). Nach dem System dieses Harmonie-Theoretikers könnte die diffuse Helligkeit der Tafel Filippo Lippis darauf beruhen, daß die entscheidenden Buntfarben in ihrem Helligkeitswert dem mittleren, ihnen als Folie dienenden Grau angeglichen sind, mit ihnen auf einer Ebene („Scheibe") gleichen Lichts zu liegen scheinen. W o eine weniger einheitliche, womöglich dunklere Folie besteht, außerdem die Einzelfarben in ihren Helligkeitsgraden sehr divergieren (wie beispielsweise in der der Schule Filippo Lippis zugeschriebenen Verkündigung der Pinakothek [645]), kommt eine Ergänzung zum Lichte nicht zustande und damit auch keine einheitliche Helligkeit. 14

Schöne, a. a. O., S. aro.

ben, die das Aussehen des Bildes schließlich bestimmen, sich nur da frei entfalten, wo sie die in der vorbereitenden Untermalung hell gelassenen Lichtflächen überlagern; eine kritische Wendung beginnt für sie jedesmal da, wo sie der vorgegebenen Formmodellierung in den Bereich der Schatten zu folgen haben. Denn hier erweist sich, ob und wie weit sie sich noch als eigene Qualitäten zu behaupten vermögen oder Einbuße durch Trübungen ihres Buntwerts erleiden. Vom Ausmaß und optischen Charakter dieser Trübungen hängt zum großen Teil ab, ob Farbigkeit oder Helldunkel im Bildeindruck dominieren. Bei Rogier dient die Farbe der Modellierung, indem sie der Form bis in die letzten Gründe folgt, deren Tiefe mitentstehen läßt — eine Tiefe, die aber nicht nur den plastischen Gehalt der Dinge anzeigt, sondern weit darüber hinaus zu einem Medium wird, das sie umgreift und verbindet. Im Dunkel dieser Tiefe verliert sie sich. Da sie aber, kaum aus ihm hervorgegangen, in steter Bereitschaft erscheint, sich selbst zum Lichte hin zu übersteigen, tendiert sie weg von den Oberflächen der Dinge, verharrt nicht und bleibt somit im letzten Grunde unerfaßbar. Das Rot des Mantels des hl. Lukas versinkt in den Schattentiefen der Falten und im räumlichen Dunkel zugleich oder geht in weißlichem Lichtglanz auf — zur Ruhe in sich selbst kommt es nirgends. Auch in der Tafel Filippo Lippis bleibt die modellierende Schattenfarbe den sich vertiefenden Formen verhaftet. Sie tritt aber in einer wesentlich anderen Weise in Erscheinung, da ihre Voraussetzungen nicht die gleichen sind wie bei Rogier. Denn die Formen seiner Bildwelt breiten sich nicht im gestaltlosen Räume, der sie umfängt, vielmehr erscheinen sie in klarer Umgrenzung und flacher Projizierung abgesetzt gegen dahinterliegende Formteile, die ihnen als feste Gründe dienen, selbst aber wiederum als „Muster" auf weiteren Gründen aufgefaßt werden können. (Als Beispiel einer solchen Formenanordnung diene der Bildabschnitt: Oberkörper des Engels/Flügel/Arkade und seitliche Wand/Durchblick auf Garten und Himmel.) Durch Staffelung von Gründen also, durch „Schichtenkontinuität"15 entsteht der Raum des italienischen Bildes,- er baut sich auf nach dem Prinzip des Flachreliefs in seiner klassischen quattrocentistischen Ausbildung. In einem solchen reliefmäßigen Bildraum muß schon die Reichweite des modellierenden Schattens eine viel geringere sein als in einem durch das Helldunkel bestimmten, da er in der Regel mit den Profilen der reliefierten Form zusammenfällt und ihm da eine Grenze gesetzt ist, wo diese Profile sich vom hinterlegten Grunde abheben (s. die rechte obere Partie des Marienmantels). Uber diese Grenzen hinaus vermag er sich nicht zu vertiefen oder mit anschließenden Schattenflächen zu größeren Einheiten zu 15

Diesen wichtigen, ursprünglich auf italienische Wandgliederung der Gotik angewandten, aber auch auf den Bildraum übertragbaren Begriff entnehme ich dem Buch von Werner Groß, Abendländische Architektur um 1300 (S. 279).

verschmelzen. Dadurch wird der Grad seiner Dunkelheit erheblich verringert, er erscheint zum Halbschatten reduziert, als ein „neutralisiertes" Licht, nirgends aber als Reflex eines umfassenden Dunkels. Die „dunkelsten" Stellen im Bilde sind jeweils nur vertiefte Halbschatten, deren Veränderungen stufenweise erfolgen, nicht in gleitenden Ubergängen wie bei Rogier (vgl. die Faltenmodellierung der linken Hälfte des Madonnenmantels mit den entsprechenden Partien im Mantel des hl. Lukas). Dementsprechend setzen sich in der Regel die Halbschatten auch gegen die Lichtpartien der durch sie modellierten Form mit einer mehr oder weniger deutlichen Grenze ab; sie „changieren" zum Lichte, gehen aber nicht „irisierend" in Licht über. Die farbige Struktur des Bildes wird durch diese Teilung in Licht- und Halbschatten in folgender Weise bestimmt: Indem die Buntfarbe der Lichtflächen sich über die Halbschattenuntermalung legt, verliert sie wohl an Buntwert, jedoch nie soviel, daß sie völlig ausgelöscht erschiene. Auch die Halbschattenwerte können, obschon sie im allgemeinen den reinen Buntwerten gegenüber indifferenter wirken 18 , noch immer koloristische Werte sein und als solche im Gesamtkolorit voll zu Wort kommen. So stehen in Filippo Lippis Tafel die ausgedehnte Fläche Grau der linken Wand, das Braun des Holzwerks, das Blau und Graugrün des Madonnenmantels — alles Farben im Halbschattenzustand — durchaus gleichberechtigt neben den ausgeprägten gesättigten Qualitäten Rot und Gelb. Solche unmittelbaren Beziehungen von Farbe zu Farbe herzustellen, wird dem Auge nur möglich, weil die einzelnen Farbwerte, unabhängig von ihrem Sättigungsgrad und selbst noch neutralisiert durch Halbschattentrübungen, letzten Endes auf sich selbst hinweisen und nicht über sich hinaus auf Licht und Dunkel als außerfarbige Urerscheinungen. Schematisch könnte sich ihr Verhalten so darstellen lassen: Licht •*- Farbe -*• Dunkelheit Die Farbe in Filippo Lippis Tafel erreicht wohl die Grenze zum „reinen" Licht an der Stelle ihrer höchsten spezifischen Helligkeit, die zum „reinen" Dunkel an der Stelle der tiefsten Halbschatten, aber sie überschreitet diese Schwellen nirgends. 18

Einen Sonderfall bilden solche Farbqualitäten, die ihrer Natur nach, als Lasurfarben, erst im Halbschatten (resp. Halblicht) zur vollen Entfaltung ihres Buntwerts gelangen, wie z. B. das Kannin (im Gegensatz zu Zinnoberrot). 17 In diesem Falle würde sie der unveränderlich gedachten, den Dingen aufgeprägten „Lokalfarbe" nahekommen, wie sie sich gleichzeitig in der deutschen Malerei als charakteristisches Merkmal herauszubilden begann (s.: L. Dittmann,

IV Die Selbstbegrenzung der Farbe bei Filippo Lippi ist nicht damit zu erklären, daß sie in einer nur kolorierenden Absicht verwendet wäre. Sie kann nicht etwa der farbigen „Fassung" eines Flachreliefs verglichen werden. Ihre Erscheinungsform hat viel tiefere Ursachen, die in einer spezifischen künstlerischen Raumvorstellung zu suchen sind. Diese entspricht zunächst dem Aspekt, den in der Natur die farbigen Dinge bieten, wenn sie bei diffusem Licht aus einer mittleren Distanz gesehen werden und sich in der flächigen Sicht zeigen, die Adolf Hildebrand als ihr „Fernbild" bezeichnet.18 Im Fernbild vermag das Licht sich nicht mehr in seinen farblosen Erscheinungsformen (Glanz, Schimmer usw.) zu manifestieren und somit auch nicht die Farbe über ihre Schwelle hinauszuheben; dafür wirkt es wie eingebunden in die farbige Fläche, ja identisch mit ihr. Ebensowenig zeigt sich im Fernbild das Dunkel in seiner extremsten Form, sondern wie abgeflacht, „neutralisiert" zum vertieften Halbschatten, der die Buntwerte der Farbe nicht restlos tilgt, ihnen Die Farbe bei Grünewald [München 1955], bes. S. 103). Wie weit sie sich jedoch von dieser unterscheidet, zeigt ein Vergleich der Tafel Lippis mit der 1444 datierten Verkündigung des „Meisters der Pollinger Tafeln" (Pinakothek 6274). Ihre ausgesprochene Buntheit erscheint als Summe von Gegenstandsfarben, deren Bestimmung keine weitere ist als die, die „Quintessenz" der verschiedenen Dingfarben darzustellen, ohne Rücksicht auf deren Veränderlichkeit durch äußere Bedingungen. Daher der primäre Eindruck einer Zusammenstellung abstrakter gesättigter Qualitäten (das Rot der Bodenfläche, das Hellblau des Marienmantels, das Gelb des Holzwerks etc.), in die erst „nachträglich" an die Wirklichkeit erinnernde Elemente eingetragen erscheinen, wie etwa die Maserung des Holzes oder die Schlagschatten naher Gegenstände auf der hellgrauen Rückwand. Die lebhaft bunte Gesamtwirkung wird von diesen Modifikationen nicht berührt, so wenig wie von den Eigenschatten der Modellierung, die (wie besonders das Blau des Marienmantels zeigt) durch einfache „Versetzung" der jeweiligen Gegenstandsfarbe auf eine etwas tiefere Stufe der gleichen Skala erzielt werden. — Die ästhetische Einheit eines solchen Komplexes aus dingbezogenen Buntqualitäten ist gewährleistet durch den gleichen Abstraktionsgrad aller Farben und dadurch, daß bereits das ihnen zugrunde liegende „Bildmuster" den Charakter eines in sich geschlossenen Ganzen besitzt. Bei Filippo Lippi hat die Farbe, auch wenn sie als Qualität von ihrer Formunterlage losgelöst gedacht werden kann, viel stärkeren Anteil am bildmäßigen Zusammenhang des Ganzen; ihr „Bildwert" überwiegt ihren Darstellungs- und Eigenwert (um die grundlegenden Begriffe H. Jantzens zu gebrauchen). Ihre Lokalisierung, auch wenn sie „zunächst" durch den Gegenstand bestimmt ist, erfolgt im letzten Grunde nach Ordnungsprinzipien, die auch für die übrigen Bildfaktoren gelten. 18 „Das Problem der Form" (Straßburg 1913), insbes. Kap. I, IV und V. — Die Erkenntnisse Hildebrands über die Wirkungsformen der Sichtbarkeit hat für die Koloritforschung bisher nur E. v. d. Bercken verwertet (außer in: Tintoretto, München ^ 2 3 , vor allem in dem wichtigen Aufsatz: „Uber einige Grundprobleme der Geschichte des Kolorismus in der Malerei" in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, N. F. V, 1928, S. 3rr ff.).

immer eine, wenn auch noch so schwache Entfaltungsmöglichkeit läßt. Ferner erscheinen in mittlerer Distanz die Unterschiede der Oberflächenstrukturen aufgehoben. Gerade dieses letztere Merkmal zeigt die Farbe Filippo Lippis sehr ausgeprägt; sie läßt keinerlei Rückschlüsse auf die „Kleinstruktur" der dargestellten Dinge zu. Es genügt ein Blick auf das rechte Bilddrittel seiner Tafel, um zu erkennen, wie hier dem Stein, Holz, Gewebe und Inkarnat ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Materie durch die gemalte Farbe der gleiche Oberflächencharakter verliehen ist. Diese Rückführung auf eine gemeinsame farbige Oberflächensubstanz wird jedoch durchaus nicht als Abweichimg vom natürlichen Aussehen der Dinge empfunden, da sie die Farbe in der vereinheitlichten Erscheinungsweise zeigt, die dem Auge vom Fernbild her vertraut ist. Nur wird dieses Fernbild — und hier vollzieht sich die Umsetzung des nachprüfbaren Seheindrucks in die künstlerische Form — nahegeiückt: die Uberlagerung der Pläne, zu welchen sich in der Natur die Dinge erst in mittelbarer Distanz schichten, setzt im flachen Reliefraum des Bildes unmittelbar vor den Augen des Betrachters ein. 19 Um zu erkennen, wie weitgehend eine solche Projektion der Formen die Wirkungsweise der Farbe mitbestimmt, bedarf es nur eines Hinweises auf dasjenige formale Mittel, wodurch der Fernbild-Aspekt in der Darstellung auf der Fläche am leichtesten faßbar wird: die Überschneidung. Sie bewirkt, „daß Figuren verschiedener Distanzschichten zu einer einheitlichen Flächenwirkung verbunden werden können, indem sie sich seitlich kontinuierlich fortsetzen, als Flächenmaß fortschreiten. Sie reichen sich sozusagen durch Uberschneidung die Hände, ohne in realer Berührung gedacht zu sein. Dadurch steigert sich das Zusammenwirken der Flächeneinheit, ohne die Distanzunterschiede aufzuheben". 20 Was Hildebrand hier für den räumlichen Aspekt der Formen im Fernbild festgestellt hat, gilt auch für den koloristischen: erst die „herangerückte Fernbildfarbe" vermag sich kontinuierlich in der Fläche fortzusetzen und damit ihrerseits am Zustandekommen der flächigen Bilderscheinimg mitzuwirken, ohne den Eindruck räumlicher Distanz zwischen den Dingen aufzuheben. So unverkennbar das Rot in der Tafel Filippo Lippis sich mit den übrigen Farben in ein ideale Fläche bindet und sie darin „verankert" — als Gegenstandsfarbe des Paviments ist es doch wiederum 18 S. Ernst Strauß, The picture plane and its interpretation, in: The Pacific Art Review, San Francisco, Vol II, 1942/43, S. 2—19. Die bedeutendsten Einsichten in das noch kaum erkannte Problem der Entfernung im Bilde und seine verschiedenen Lösungen in der Geschichte der westlichen Malerei sind Kurt Badt zu danken (Exkurs in: „Die Kunst Cezannes" [München 1956], S. 55—61). 20

Hildebrand a. a. O., S. 48 f.

Abb. i. Fja Filippo Lippi: Die

Verkündigung.

München, Alte Pinakothek

Abb. 2. Rogier van der Weyden: Der Evangelist Lukas, die Madonna München, Alte Pinakothek

zeichnend.

nicht von seiner Stelle zwischen Vorder- und Mittelgrund hinwegzudenken.21 Schließlich kann auch das graphische Darstellungsmittel der Uberschneidung im Bilde, die stets in ihrem ganzen Verlauf nachvollziehbare Linie, nicht ohne Einfluß auf die Wirkungsweise der Fernbildfarbe sein — gleichgültig, ob sie faktisch, als Kontur, sichtbar wird, oder als scharfe Grenze zwischen aneinander stoßenden Farbflächen sich ergibt. Sie umreißt das Wirkungsfeld der Farbe mit gleichmäßiger Präzision und kann, dadurch besonders als betonte Grenzangabe, deren Eigenwert noch bestärken.22 Daß trotz ihrer Verschränkung mit den übrigen Bildfaktoren die Farbe Filippo Lippis in das feste Liniengerüst der Überschneidungen noch wie „eingesetzt" wirkt, auch unabhängig von ihm als ein „fertiges" künstlerisches Ausdrucksmittel gedacht werden kann, läßt den Schluß zu, daß der Maler sich ihrer als einer vorgegebenen Größe bedient hat. Auf die Farbe Rogiers können alle diese Beobachtungen nicht zutreffen. Wo Licht und Dunkel als optische Urerscheinungen die Einheit des Bildraums konstituieren, nicht aber feste, in Linien übertragbare Systeme, muß das Verhalten der Farbe ein durchaus verschiedenes sein. Zwar hat auch die Erscheinungsweise der Farbe Rogiers ihr Korrelat in der Natur, dort jedoch unter Bedingungen, die grundsätzlich andere sind als die für die italienische Farbe geltenden. Denn Licht und Dunkel werden als optische Phänomene eigener Ordnung in ihrer Durchdringung mit der Farbe erst in naher Sicht wahrnehmbar; nur die Farbe des „Nahbilds" erscheint dem Lichte total offenstehend bis zur Selbstentäußerung, in „gleitender" Trübung, dem Dunkel anheimgegeben — fähig, alle Brechungsgrade des Lichts und eben dadurch die stoffliche Beschaffenheit der Dinge in ihrer Sonderart unmittelbar anzuzeigen. Das sind die Eigenschaften, die die Farbe bei Rogier besitzt. Sie ist „Nahbildfarbe" und als solche grundverschieden vom Aspekt der italienischen. Und sie bleibt es auch da, wo sie — im äußersten Gegensatz zur Übertragung der Fernbildfarbe Filippo Lippis in die nahe Distanz vom Betrachter — /erngerückt wird. Auch in den mittleren und hinteren Gründen gibt sie die Oberflächen der Dinge so wieder, wie sie nur unmittelbar vor dem Auge wahrgenommen werden können. (Beispiel: die farbige Behandlung des Baldachinbrokats oder die Wiedergabe der „schimmernden" Säulenbasen mit ihren Glanzlichtern.) 21

Vgl. auch die aufschlußreiche Farbanalyse des Barbadori-Altars Filippo Lippis (Louvre) bei John White, Birth and rebirth of pictorial space, London, o. J. (1958), p. 172. 22 Vor allem an Stellen, wo helle Farbzonen auseinandergehalten werden müssen wie z. B. die Lichtflächen des Marienmantels vor der sie foliierenden hellgrauen Wand. 6 Badt-Festschrift

Nicht anders als in der Natur erscheint im Gemälde das Nahbild — auch das in die Ferne gerückte — „als Übergang".23 Es kommt also nicht primär durch Uberschneidung der Formen zustande. Diese kann natürlich zur Erzielung eines überzeugenden Eindrucks von Kontinuität der Dinge im Räume nicht umgangen werden. Ihr Sinn jedoch muß ein anderer sein als im italienischen Bild, vor allem deshalb, weil schon die Linie als solche, wie bei Rogier, eine grundverschiedene Funktion zu erfüllen hat:24 Sie selbst bezeichnet den Ubergang der Formen aus dem gesehenen in den nicht mehr sichtbaren Bildraum stets mit: sie bindet die sich überschneidenden Zonen nicht als „Naht", sondern trennt sie, ja stößt sie voneinander ab, um Raum zwischen ihnen zu schaffen. Auf keinen Fall ist sie „Umsäumung" der Formen; ein betonter Kontur müßte sofort als störendes, fremdes Element empfunden werden. Im Nahbildraum Rogiers entfällt somit für die Farbe nicht nur ein sie tragendes Liniengerüst, sondern die Linie überhaupt als eingrenzender, sie „bestätigender" Wert. Wenn hier Licht und Dunkel als die Qualitäten erscheinen, die vorgegeben sind, so kann die Farbe nicht anders denn als eine sich eist ergebende, bewegliche Größe vorgestellt werden, in jedem Augenblick neu hervorgehend aus ihnen, ohne sichtbaren Ursprung. V Eine Gegenüberstellung der hier betrachteten Münchener Gemälde zeigt, daß grundverschiedene Auffassungsweisen der Bildfarbe innerhalb einer kurzen geschichtlichen Zeitspanne erkennbar werden können. Damit wird die Aufmerksamkeit auf die künstlerische, also überhistorische Grundfrage hingelenkt: w i e F a r b e „ m ö g l i c h " i s t — das Kernproblem, von dem jede umfassendere Kolorituntersuchung auszugehen haben wird. Erst nach dem Versuch seiner Lösung können die eigentlich kunstgeschichtlichen Fragen nach ihrer Entwicklung, ihrem Anteil am Stil einer Epoche wie des einzelnen schöpferischen Malers spruchreif werden. Im Falle der erörterten Werke Filippo Lippis und Rogiers ergäbe sich dann als nächstliegende Aufgabe, zu ergründen, ob die an ihnen beobachteten Eigenschaften der Koloristik sich durch Vergleiche von exemplarischen Werken vorausgehender bahnbrechender Meister bestätigen lassen25 und wo in den Aussagen ihrer Farbe schon Möglichkeiten liegen, die erst in einem späteren Stadium der Malerei sich voll verwirklicht finden. 23

Hildebrand, a. a. O., S. 39. Uber die verschiedenen Funktionen der Linie im Fern- und Nahbild s. Strauß (Anm. 19), S. 14 f. 25 Vorzuschlagen wäre eine Gegenüberstellung von Masaccios Pisaner Madonna (London, Nat. Gallery) und der Lucca-Madonna Jan v. Eycks (Frankfurt, Städel). 24

L . B. A L B E R T I S L A N G H A U S V O N S A N T A N D R E A IN MANTUA VON ERICH HUBALA

I Die Kollegiatskirdie Sant Andrea in Mantua 1 ist 1472 anstelle einer kleineren Kirche und nach einem „modello", der allgemein auf L. B. Alberti zurückgeführt wird2, begonnen, aber erst im 18. Jahrhundert vollendet worden.3 Heute findet man einen Ziegelbau von imposanten Aus-

83

1 Bauaufnahmen, Bauuntersuchung, Baugeschichte: Ernst Ritscher, Die Kirdie S. A. in Mantua; Zs. f. Bauwesen Berlin, 49, 1899, Textbd. 1—20 u. 181—200, Atlas Bl. 1—5. — Ergänzungen z. Baugeschichte d. r8. Jh.s und zu P. Pozzos Purifizierung (Dokumente) und Restaurierungsbericht 1913—1917: G. Pacchioni, La Cupola ..., Boll, d'arte 12, 1919, 60-76. — Vom Ausbauentwurf des G. d. Torre (s. E. Ritscher, a. a. O. 200) ist nur der Längsschnitt von R. Bellodi in Nachzeichnung bisher veröffentlicht worden (Emporium, 14,1901, 355; danach auch unsere Abb. 6). 2 G. Vasari, Le Vite. Hsgg. v. Fr. Milanesi, Bd. 2, 545 (Vita des Alberti). Der Brief Albertis an Lodovico Gonzaga (vor dem 12. ro. r47o), der die Existenz seines Projektes erweist, veröffentlicht von Wiligelmo Braghirolli, L. B. Alberti a Mantova, Documenti e notizie inedite; Arch. stor. ital. NS III, 9, r, r869. — Die allgemeine Auffassung schon von Paolo Pozzo formuliert: „basta però, che le SSrie, LL lime et Eccme si degnino di considerasse, che esso tempio di S. A. è uno dei rinomatissimi monumenti che ci abbia lasciati il celeberrimo Architetto Leon Battista degli Alberti, Fiorentino, che per essere tale e si fattamente ben disposto ha servito di unico modello agli altri tempi cattolici posteriormente inalzati" (Brief v. 26. 6. r778 an den Primicierio, s. Pacchioni, a. a. O. 70). Die Lit. zu Alberti kürzlich zusammengestellt von Br. Zevi im Artikel „Alberti" der Encicl. Univers, d'arte. s Verlauf der Baugeschichte nach Quellen und Dokumenten: Der Ausführungsentwurf genannt und indirekt auch erläutert im Brief des Lodovico Gonzaga v. 2. r. r472 an den Kardinal in Rom (Carlo d'Arco, Opera d'arte ed Artefici Mantovani II, r8s7, Doc. Nr. 13). — Beginn des Abbruchs der alten Kirche: 6. 2. 1472 (Andrea Schivenoglia, Chronik, hsgg. von C. d'Arco in: Chronisti lombardi III, Mailand 1857). r. Bauzeit: r472—r494 (nach Schivenoglia), bzw. r472 bis etwa r$oo (nach Ritscher). Langhaus und westliche Vorhalle, innen und außen vollendet, Bauführer war Luca Fancelli (sicher noch r48o: C. d'Arco, r8s7, Doc. Nr. r3, Anm. 5). Der Verlauf der Arbeiten läßt sich rekonstruieren (Korrespondenz FancelliMarkgraf, W. Braghirolli, a.a.O. 1869): trotz großer Schwierigkeiten bei der Gründung des Neubaus sind am r3. 5. r473 schon alle Kapellen begonnen und 6*

maßen vor, errichtet über kreuzförmigem Grundriß, außen und innen beherrscht und energisch zusammengefaßt in der Vierung mit der steilen Tambourkuppel darüber (Abb. 1—3). Die Vierungsbogen zwischen massiven, hodiragenden Pfeilern sind als ein festes Gefüge von vier kurzen, eingezogenen Kreuzarmen gebildet, denen die tonnengewölbten Haupträume trotz ihrer enormen liciiten Ausmaße zu- und untergeordnet, einverleibt sind. Es entsteht so leicht der Eindruck einer einheitlichen Anlage, eines Bauwerks „aus einem Guß", vor allem im Innenraum (Abb. 6). Langhaus und Vierung erscheinen in der Vierung und unter dem Lichtgang aus dem Kuppeltambour zusammengerafft und werden dem Betrachhochgeführt, ausgenommen jene, „se aspetta fare de za dalla Sensa"; es bleibe nur noch übrig: „levare la porta grande de l'intrada". 1477 werden die Kapellen schon eingewölbt. 1481 wird gebeten, 2300 Dukaten festgefrorener Sammelgelder für S. A. freizugeben, weil jetzt „Lo edificio di S. A. qui haveria grande bisogno de subsidio, esendo necessitate de farii quasi ad un tempo un bona spesa per coprirlo". Diese Bemerkung kann sich nur auf das große Tonnengewölbe beziehen. 2. Bauzeit: Arbeitsbeginn am 27. 8. 1597 (Stefano Gionta, Il fioretto delle croniche di Mantova, Ausgabe 1741, 95 und Ritscher, a. a. O. mit den Nachrichten des I. Donesmondi, Dell 'Istoria ecclesiastica di Mantova, 1612—1616, Bd. 6). Anlage der Krypta (1604 in Gebrauch: St. Gionta, 1741, 99), des Querhauses mit nördl. Vorhalle und des Sanktuariums. Bauleiter war Giuseppe Maria Viani (Empfehlungsschreiben des Herzogs v. Bayern v. r2. 4. 1592: A. Luzio, Le Gali, dei Gonzaga, 1913, 39 Anm. 1). Der „modello" von r472 muß nodi vorhanden gewesen sein, denn der Herzog Vincenzo IV befiehlt vor seiner Abreise gegen die Türken, die Kirche solle „conforme all' antico disegno del marchese Lodovico" ausgebaut werden (Uberlieferung von Donesmondi, s. Ritscher 182). Wie schwer es Viani fiel, diesen disegno zu verstehen und zu seinem Fortführungsprojekt zu gelangen, lehrt ein Brief des Herzogs an den Herzog v. Bayern (U. Tibaldi, La divina armonia di S. A., Verona 1955, 10). Zu erwähnen ist, daß Carlo Lombardo aus Arezzo schon 1589 für den Herzog Vincenzo „disegni" für S. Andrea anfertigte: „ho dato principio alli disegni di Sanct Andrea et farò anco quelli della capella di sancto Francesco . . . (Brief aus Rom, s. C. d'Arco, II, 1857, 23). Die Annahme, daß der Bau der Nordvorhalle schon vor 1550 begonnen wurde (es fanden sich die Ziffern 1550 im Gewölbe der Vorhalle eingekratzt) findet in den Quellen und Dokumenten der Baugeschichte keinerlei Bestätigung. 3. Bauzeit: 1697 Arbeitsbeginn (St. Gionta, 1741, 147 und Ritscher a. a. O. nach Aktenbuch im Archivio Primiceriato XII, Fase. II Rechnungen und Arbeitsspezifikation bis 1704). Neuanlage der Vierung, Ausbau des Querhauses, Sanktuarium, Erweiterung der Krypta, neue Sakristeien. Nach dem Projekt und unter Leitung von Guilio dalla Torre aus Bologna. 4. Bauzeit: 23. n . r732 Grundstein zur Tambourkuppel. Ausführung derselben, abweichend vom Projekt Torres (darüber und über die Rolle Juvarras s. G. Pacchioni a. a. O. 1919). Purifizierung und Dekoration im Innern nach Angaben und Projekten v. P. Pozzo, der 1772 maestro dell'accademia di Mantova wurde (Dokumente und Bauzeichnungen dieser Zeit, welche die noch weitgehenderen Änderungen Pozzos illustrieren, bei Pacchioni, 1919).

ter als großartiges „Bild" vor dem dunklen, seicht erscheinenden Hintergrund der Chortribuna gezeigt. Dieser Eindruck strenger Geschlossenheit, hervorgerufen durch das zentralisierende Raumbild der Vierung, wird noch wesentlich gefördert durch die Wandgliederung, die in allen, offen miteinander kommunizierenden Haupträumen das gleiche Schema in der Anordnimg von großen Pilastern unter geradem, dreiteilig und hoch gebildetem Gebälk aufweist. Schmale und breite Pilasterabstände wechseln nämlich regelmäßig miteinander ab. Den großen Intervallen entsprechen die weiten und hohen Kapellenöffnungen mit ihren Pfeilerarkaden, so daß sich diese Wandgliederung, die wir als „rhythmische Travée" zu bezeichnen pflegen4, auch als eine Komposition von zwei „Ordnungen" verstehen läßt: die Rundbogenarkaden der breiten Travée gehören mit ihren Pfeilern zur „kleinen Ordnung", sie ist als Bogenwand mit markiertem Kämpferfries gebildet. Die Pilaster unter dem geraden Gebälk stellen aber die „große" Ordnung dar. Sie ist der „kleinen" im Relief vorgebleiidet und in der Komposition übergeordnet. So betrachtet besitzt Sant Andrea auch in der heutigen Gestalt ein höchstes Maß an Einheit. Die übliche Annahme erscheint gerechtfertigt, daß dieser Kirchenbau — mit Ausnahme der erst 1732 begonnenen Tambourkuppel — nach ein- und demselben Plan, dem Entwurf Albertis, ausgeführt wurde, auch wenn dies in mehreren, zeitlich weit auseinanderliegenden Etappen und mit geringfügigen Änderungen geschehen war. 5 4 Die Bezeichnung eingeführt von H. v. Geymüller, Die ursprüngl. Entwürfe. 1875, Textbd. 23, 59, 71. Geymüller, der dieses System auch „Bramante'sche Travée" nannte (The School of Bramante, Transactions of the R. Inst, of Br. Arch., NS VII, 1891, 93—142 und: Die Baukunst der Ren. in Frankreich, II, t9or, 384 ff.), beurteilte die „rhythmische Travée" vom Standpunkt der Hochrenaissance aus. Die Faktoren der Entwicklung des Systems sieht er 1. in der Loslösung von der Gewölbekomposition und 2. im Aufsprengen des Gebälks oder des Giebels durch die Rundbogen der kleinen Ordnung; trotz der Voreingenommenheit und der unbegründeten Ausweitung des Begriffs, enthält v. Geymüllers Urteil wesentliche Einsichten in die baukünstlerischen Probleme, die durch die „rhythmische Travée" sichtbar werden: „Die Peterskirche nach seinen (Bramantes) Entwürfen hergestellt, sowie eine Reihe seiner Studien für dieselbe hätten eine Gruppe von Gewölbekompositionen geschaffen, die in bezug auf die ästhetische Raumgliederang ebensohoch über den Thermen der Römer gestanden hätten, als die Ordnungen der Griechen diejenigen der Ägypter übertrafen" (1901, 385). Zu S. A. siehe: H. v. Geymüller und C. v. Stegmann, Die Architektur d. Renaissance in Toskana, Bd. : Alberti und v. Geymüller im Nachtrag, auch 1901, 385.

Hans Sedlmayr, Spätantike Wandsysteme (1938), abgedr. in „Epochen und Werke" I, Wien 1959, 31—79, bes. 34 ff. über die „in sich organisierte Mauer". 6 H. Willich, Die Baukunst der Renaissance in Italien, Hdb. d. Kunstw. Wildpark-Potsdam s. a., 86 ff. Adolfo Venturi, Storia dell'arte italiana, VIII, 1, r923, 244 ff. — Zuletzt noch im Artikel „Alberti" der Encicl. Univers, d'arte, a. a. O.

Mit Hilfe dieser Annahme gewinnt Sant Andrea eine außerordentliche, ja, sensationelle Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der neueren Baukunst seit 1500. Denn an diesem Kirchenbau lassen sich Motive der Anlage und der Durchbildung beobachten, die seit 1500 die kirchliche Baukunst Italiens immer deutlicher bestimmen und schließlich im römischen Gesù die für ganz Europa vorbildliche, typische Formulierung gefunden haben: die Ausbildung der Kirchenfassade als Giebelfront mit Hilfe einer „großen" und einer „kleinen" Säulenordnung und ihre Komposition in Anlehnung an antike Tempel- und Triumph torfronten; 6 die Wandgliederung des Innenraums im Sinne der rhythmischen Travée,- die Anlage von Lang- und Querhaus als „Saalraum" mit begleitenden Kapellen an den Seiten7 und schließlich der höchst wirkungsvolle Zusammenschluß dieser Raumteile durch die zentrale und zentralisierende Figur einer Kuppelvierung, eine Form der Verbindimg von Lang- und Zentralbau, dem die Kunstgeschichte seit langem ein besonderes Interesse zuwendet.8 Alle diese hochwichtigen Momente in Sant Andrea und die Annahme, daß ihre Vereinigung bereits das Merkmal des quattrocentesken Planes war, sicherten diesem Plan und dem ihm zufolge errichteten Kirchenbau eine absolute Schlüsselstellung in der Geschichte der neueren Baukunst, verliehen ihm eine Aktualität, der gegenüber etwa die Kirdienbauten des Brunellesco befangen, rückschrittlich, mittelalterlich erscheinen mußten. Freilich hatte es niemals an Stimmen gefehlt, die ein solches Maß an entwicklungsgeschichtlicher Vorsehung niemandem um r47o, auch Alberti nicht, zutrauen wollten 9 , aber bis heute wird Sant Andrea in Mantua in einem Atem mit dem römischen Gesù genannt. 10 Als die entscheidende künstlerische und kunstgeschichtliche Leistung erschien somit in Mantua 9

Schon J. Burckhardt, Geschichte d. Renaissance (Architektur) in Italien, 1867, § 69; v. Geymüller-Stegmann, a. a. O., C. Ricci, Il Tempio Malatestiano, Rom 1925. — Besonders: Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism (1949), Ausgabe 1952, 4r ff. und Hans Sedlmayr, Zur Revision der Renaissance (1948), abgedr. in „Epochen und Werke" I, Wien 1959, 202—234, bes. 219 f. 7 J. Burckhardt (1867), Ausgabe r89r, 154 f. — H. L. Heydenreich, Gedanken über Midielozzo di Bartolomeo, Festschrift f. W. Finder, 1938, 264—290, bes. 268 ff. 8 In allen Darstellungen und Beurteilungen der röm. Peterskirche z. B. — Für die Frührenaissance H. L. Heydenreich, a. a. O. bes. 273 ff. 9 Einschränkend schon J. Burckhardt (1867) Ausgabe r89r, r54: „Albertis Langhaus . . v . Stegmann — in der „Architektur der Ren. in Toskana, Bd. Alberti Text 7 f. 10 Sant Andrea in Mantua: „ein Vorläufer des barocken Kirchenraums. Das Bauprogramm der Kirche II Gesù von Vignola schon fast 100 Jahre früher" (Peter Meyer, Europäische Kunstgeschichte II, Zürich r948, Abb. S. 69). Und ebenso Hans Willich, a. a. O. 87 und viele andere Urteile.

die Vereinigung von Langhaus und Querhaus in der Kuppelvierung und die Vorwegnahme des Typus der frühbarocken Verbindung von Lang- und Zentralbau um runde hundert Jahre. Ein eingehendes Studium dieses Bauwerks führt jedoch zu einer anderen Auffassung seiner Entstehungsgeschichte und seiner Gestalt, zu einer anderen Beurteilung der künstlerischen Leistung des Quattrocento in Sant Andrea, zu einer anderen Einschätzung der kunstgeschichtlichen Bedeutung dieser Leistung. Nicht eine Anlage nach einem Plan, sondern zwei stilistisch grundsätzlich und baukünstlerisch wesentlich verschiedene Bauteile müssen unterschieden werden: das Langhaus mit seiner westlichen Vorhalle einerseits und die Ostteile (nördl. Vorhalle, Querhaus, Vierung und Sanktuarium) andererseits. Hier und dort variiert nicht nur die „Ausführung" im Detail, sondern das Ganze der künstlerischen Gestaltung ist grundverschieden, Denken und Formen, Planung und Ausführung: die Unterschiede sind prinzipieller Natur und setzen einen Planwedisel zwischen dem noch im 15. Jahrhundert vollendeten Langhaus und den erst im r6. Jahrhundert begonnenen Ostteilen voraus. Außer diesen beiden muß aber nocäi eine dritte Planungs- und Bauphase unterschieden werden, die erst den heutigen Zusammenschluß des Langhauses mit den jüngeren und anders konzipierten Ostteilen bewerkstelligte und zwar dergestalt, daß der Anschein des Einheitlichen, kontinuierlich sich Entwickelnden anstelle des weitgehend selbständigen, unabhängig nebeneinander Existierenden erzeugt wurde. Die Synthese dieser dritten Phase ist in der heutigen Vierungslösung und den davon abhängigen baulichen Maßnahmen zu erkennen. Die Vierung — nicht erst die Tambourkuppel! — ist das eine der beiden Instrumente dieser nachträglichen Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Ostteile und des Langhauses, das andere ist die heutige Form der Wandgliederung im Innern. Beides aber ist nur möglich geworden durch eine radikale, tiefgreifende Veränderung des alten Langhauses und zwar an seinem Ostende. Zugunsten der Vierungslösung und deshalb auch zugunsten der jetzt angestrebten festen Verbindung mit dem Querhaus wurde das Langhaus an dieser Stelle verkürzt und die Wandgliederung wurde von dieser Stelle ab formal und proportional verändert. Durch die Verkürzung des Langhauses verlor dieser Bauteil des r 5. Jahrhunderts seine ursprüngliche Form als in sich selbständiges, zentriertes Gebilde: er verlor seine Gestalt als zweiachsig symmetrische Anlage. Eine Fortsetzung der Wandgliederung des Langhauses auch in den Ostteilen konnte wegen des Querhauses und wegen seines Verhältnisses zum Langhaus überhaupt nur erreicht werden, wenn man Komposition und Proportion der rhythmischen Travée des Quattrocento veränderte. Die Verkürzung des Langhauses im Osten und die veränderte Fortführung der Wandgliederung als rhythmischer Travée in der Vierung, im

Querhaus und im Sanktuarium betrachten wir als Beweis dafür, daß die heutige Gestalt der Ostteile, und zwar schon ihrer Anlage nach, nidit demselben Projekt entsprechen kann, demzufolge das Langhaus in seiner ursprünglichen, unverkürzten Gestalt und Ausdehnung erriditet wurde. Verkürzung des Langhauses und Veränderung der Wandgliederung im Innern beweisen aber auch zweifelsfrei, daß der heute erzielte Zusammenschluß von „Langbau" und „Zentralbau" in Sant Andrea nicht nur in barocker Zeit erst verwirklicht wurde, sondern auch eine barocke, nachträgliche Interpretation der beiden bis 1697 unverbunden nebeneinander existierenden Bauteile verschiedener Planimg und verschiedener Gestalt darstellt. Damit verliert die Vierungslösung von Sant Andrea in Mantua zwar ihre sensationelle entwicklungsgeschichtliche Bedeutung, die ihr vermeintlich zukam: sie geht dem römischen Gesù11 und vergleichbaren Bauten des 16. Jahrhunderts12 zeitlich nicht um fast hundert Jahre voraus, sondern ahmt diese nach. Es verflüchtigt sich auch der Eindruck planmäßiger Geschlossenheit, organischen Zusammenhangs zwischen den Ostteilen der zweiten und dem Langhaus der ersten Planungsphase. Aber erst jetzt läßt sich das Langhaus des 15. Jahrhunderts und damit auch das Projekt von 1470—1472 angemessen beurteilen. In der ursprünglichen, also unverkürzten, zwischen 1472 und 1494 auch tatsächlich außen und innen aufgeführten Gestalt treten Eigenart und Qualität, aber durchaus mit den Zügen quattrocentesker Gestaltung, hervor. Merkmale dieser Art brauchen nun nicht mehr mit der Vermutung fehlerhafter Ausführung, als Mißverständnisse13 oder mit dem Hinweis auf übliche Mängel eines bahnbrechen11

Herrn Klaus Schwager, Rom, dankt der Verf. für die Einsicht in ein Vortrags-Manuskript über den Gesù und die darin skizzierte Interpretation des Kirchenbaus und seiner Entstehungsgeschichte. 12 G. Zander, A proposito di alcune chiese Napoletane anteriori al Gesù di Roma, Palladio N S III, 1953, 41—47, und G. Giovannoni, Saggi sull'architettura del Rinascimento, Rom i93r. 13 „Die große triumphbogenartige Öffnung in der Mitte, die kleinen Türen mit gerader Verdachung zu ihren Seiten, die Rundbogennischen auf schwächlichen Gurten im r. und die Rundbogenfenster im 2. Geschoß zwischen den mächtigen Pilastern bilden so heftige Kontraste, wie sie in einer guten Musik nicht vorkommen sollten. Die Vorhalle ist auch in ihrem Gedanken der Tonnenwölbungsidee nicht glücklich, denn es erscheint nicht eine einheitliche Vorhalle, sondern ein Gemisch einzelner Hallen, die sich gegenseitig zerschneiden und keine Vorbereitung auf das Innere mit der Wiederholung des Systems bringen" (C. v. Stegmann über die Westl. Vorhalle von Sant Andrea im Bd. Alberti der Renaissance-Architektur, Toskana). Dieses Beispiel sei gewählt, weil es — im Unterschied zu manchen anderen Verurteilungen auf Grund unangemessener Einstellung — in ein negatives Werturteil eingekleidet, in vielen Punkten eine zutreffende Beschreibung des Komponierens im Sinne der Frührenaissance enthält.

den Erstlings entschuldigt werden, wie das sooft, vom Standpunkt des 16. Jahrhunderts aus sehend und urteilend, geschehen ist. Das Langhaus und die westliche Vorhalle zeigt sich nun als ein reifes, nicht als ein frühes Werk, als ein Werk der italienischen Frührenaissance, dessen entwicklungsgeschichtliche Bedeutung freilich unter anderen Gesichtspunkten als unter dem der Typenlehre und der Motivgeschichte beurteilt werden muß. Das Langhaus in seiner ursprünglichen Gestalt mit der oft so herb kritisierten Vorhalle, läßt dann auch begründete Vermutungen über den genetischen Zusammenhang, sei es in Hinblick auf die Autorenfrage, sei es in Hinblick auf das antike Vorbild und damit auf das künstlerische Leitbild, das sich in einer solchen „Wahl" ausdrückt, zu. Diesen Bau der Frührenaissance zu interpretieren, ist unser Anliegen. Ehe dies aber vernünftig unternommen werden kann, mußte unsere Auffassung von der Entstehungsgeschichte und von der Gestalt des heutigen Kirchenbaus in Mantua dargelegt werden. Jetzt gilt es zu zeigen, daß diese Auffassung, die im Einklang mit der bekannten Baugeschichte von Sant Andrea ist, sich auch auf die grundlegenden Ergebnisse der Bauuntersuchungen stützen kann, die Ernst Ritscher, 1899, veröffentlichte.1 Ritscher konnte zunächst zeigen, daß nicht nur der Campanile von 141414, der ja auch heute noch besteht, sondern auch das Sanktuarium der alten Kirche noch um 1580 bestand und daß dieser würfelförmige, mit einem flachen Zeltdach bedeckte alte Bauteil, der auf dem Gebiet der heutigen Vierung zu lokalisieren ist, als Chorkapelle dem noch im 15. Jahrhundert vollendeten Langhaus gedient haben muß. Die betreffende Stelle bei Ritscher lautet: „Von 1472 bis etwa 1500 waren die westliche Vorhalle und das Langhaus vollendet, größtenteils ausgeschmückt und mit dem stehengebliebenen Chor (der alten Kirche) derartig verbunden, daß eine vollständige Kirche geschaffen war." 15 Da das Langhaus in dieser ursprünglichen Gestalt im Osten durch eine einfache Ziegelmauer notdürftig abgeschlossen (und mit der Chorkapelle verbunden) war, muß gefolgert werden, daß schon in der ersten Bauzeit und daher im Projekt von 1470 bis 1472 eine Fortsetzung nach Osten beabsichtigt war. Es darf aber nicht angenommen werden, daß die heutige Anlage der Ostteile schon damals geplant war. Das ist unsere Auffassung. Das entscheidende Argument für diese Auffassung ist längst geliefert worden, wenn auch bis heute, so viel wir sehen, davon kein Gebrauch gemacht wurde. Wir meinen die Beobachtung, die Ritscher an den westlichen Vierungspfeilem von Sant Andrea gemacht und die er auch in der 14

1955,

Datiert durch Inschrift, diese z. B. bei U. Tibaldi, La divina armonia . . . 8.

Ritscher, a. a. 0.16. Dort auch, S. 14, die Zeichnung von 1580, die Ritscher dem Cesare Pedemonti zuweist, abgebildet, welche die Richtigkeit von Ritschers Urteil erweist. 15

genannten Arbeit mitgeteilt hat: „Und wenn man den Grundriß der Vierungspfeiler näher betrachtet, erkennt man, daß noch weitere Verstärkungen für den Schub und Druck der Kuppel ausgeführt wurden. Zunächst fällt die aus der Achse gezogene Lage der nach den Wendeltreppen der Vierungspfeiler führenden Türen auf (Abb. i) und bei örtlicher Untersuchung zeigt sidi, daß hinter den jetzigen Türen noch die in der Achse der Treppen liegenden Türen, teilweise vermauert, erhalten sind, — daß also die jetzigen Türen und die vorspringenden Pilaster zu beiden Seiten derselben später vorgebaut wurden. Daraus ergibt sich, daß die Vierungspfeiler (d. h. die Wandkompartimente am Ostende des Langhauses in seiner ursprünglichen Gestalt!) früher dieselbe Breite und Ausbildung hatten wie die Pfeiler (Ritscher meint die schmalen Traveen im Hauptraum des Langhauses) zwischen den Capellen (d. s. die großen, offenen Kapellen) und daß jene Pilastervorbauten nötig wurden, um die Ausführung des Torreschen, bzw. des wenig davon abweichenden jetzigen gewaltigen Kuppelbaus zu ermöglichen, für den die alten Pfeiler zu schwach waren . . .". 18 Diese Feststellung, welche die Verkürzung des alten Langhauses in der dritten Bauzeit, 1697—1704 und zugleich die Veränderung der Wandgliederung in Vierung und Ostteilen klar erweist, hätte eigentlich der Wendepunkt in der kunstgeschichtlidien Beurteilung von Sant Andrea in Mantua sein müssen. Daß es nicht geschehen ist, befremdet, läßt sich aber besser verstehen, wenn man bedenkt, daß sich Ritscher selbst darauf beschränkt hatte, aus seiner Entdeckung nur die eine der wichtigen Folgerungen zu ziehen, wenn er feststellt: „Aus der geringen Stärke des alten Vierungspfeilers darf mit Sicherheit geschlossen werden, daß auch die von Alberti geplante Kuppel kleiner, also ohne Tambour, unmittelbar über dem Scheitel der Gewölbe ansetzend gedacht war. Bestätigt wird dies durch die den Zeichnungen Giulio dalla Torres beigefügte Erklärung, welche den Satz enthält: propone che in luogo del catino si eriga la cupola giusto il desegno."17 Wie man bemerkt, war Ritscher der Auffassung, daß erst unter Giulio dalla Torre vom ersten Plan des 15. Jahrhunderts, vom Projekt des Alberti, abgewichen wurde und nur insofern, als jetzt über der Vierung, die schon nach dem Entwurf des Quattrocento eine Kuppel tragen sollte, keine tambourlose, sondern die steile Tambourkuppel geplant und später auch errichtet wurde. Ritscher war offenbar auch der Meinung, daß die von ihm zum erstenmal aufgezeigte Veränderung der Wandgliedeiung an diesei Stelle in ihren Proportionen allein der Verstärkung der Vierungspfeiler und lediglich als ausreichendes Auflager für die nun geplante Tambourkuppel dienen sollte. Das war auch sicher der Fall. Aber es reicht nicht aus, um die Veränderungen an dieser Stelle zu verstehen. 18

Ritscher, a. a. O. 191.

17

Ritscher, a. a. O. 191.

Die Vierungslösung Giulio dalla Torres hatte niciit nur den Sinn, eine steile Tambourkuppel zu ermöglichen, sondern sie hatte audi die Aufgabe, zwei bisher ihrer Gestalt nach unabhängige Bauteile miteinander zu verbinden und denjenigen Bauteil, der sich einer solchen nachträglichen Verbindung von sich aus widersetzte, entsprechend zu deformieren, — dann aber wenigstens dem Innenraum ein einheitliches, Schema und Motive vom alten Langhaus borgendes Aussehen zu verleihen. Diese Aufgabe, diesen Sinn der baulichen Maßnahmen unter Giulio dalla Torre muß man bedenken, wenn die Entdeckung Ritschers erschöpfend interpretiert werden soll. Denn jene Veränderung der Wandgliederung nach Form und Maß, weldie Ritscher an den westlichen Vierungspfeilern beobachtete und auch erwähnt, aber nicht besonders gedeutet hatte, erklärt sich ja keineswegs nur aus der risalitartigen Verstärkung dieser Stellen. Das hätte man auch erreichen können, ohne Form und Maß der Wandgliederung zu verändern. Die Proportionsänderung erfordert eine andere Erklärung. Wir erblicken eine solche in den Bedingungen, welche in diesem wichtigen Punkt durch das bereits im 16. Jahrhundert angelegte Querhaus gesetzt waren und denen sich dalla Torre gerade deshalb hat fügen müssen, weil er das Querhaus mit dem Langhaus verbinden, innen so weit wie möglich einheitlich und allseitig gliedern wollte. Wir sehen uns deshalb veranlaßt, die Deutung, welche Ernst Ritscher seiner Entdeckung gegeben hatte, zu erweitern: weder die heutige Viërungslôsung, noch die Anlage des Querhauses in der heutigen Form entspridit dem Projekt, demzufolge das Langhaus mit seiner westlichen Vorhalle im 15. Jahrhundert errichtet und vollendet wurde. II Es gilt nun unsere Auffassung am Kirchenbau, wie er heute besteht, darzulegen, und zwar stets im Hinblick auf unser eigentliches Anliegen, auf die Interpretation des Langhauses in seiner ursprünglichen Gestalt. Dabei sind wir genötigt, Unterschiede zwischen den Ostteilen einerseits und dem Langhaus andererseits aufzuzeigen, und zwar solche, die hier und dort zugleich Merkmale der stilistischen und baukünstlerischen Eigenart sind. Diese Unterschiede werden für unsere Auffassung vor allem dann besondere Zeugniskraft haben, wenn sie an einem Beispiel demonstriert werden, das von der Vierungslösung des Giulio dalla Torre abhängig ist und zweifellos als Instrument optimaler Vereinheitlichung gedacht war und als solches auch heute noch wirkt: das ist die Wandgliederung des Innenraums. Sie ist, wie sdion gesagt, in allen Haupträumen von Sant Andrea nach demselben Schema, nach dem Schema der rhythmischen Travée durchgeführt. Aber dieses Schema zeigt zwei ganz verschiedene Fassungen: im Langhaus des 15. Jahrhunderts beobachten wir bis zu den Vierungspfeilern die eine ,ursprüngliche Fassung der rhythmischen Travée,

in der Vierung, in den Querhausflügeln und im Sanktuarium die zweite, spätere. Diese ist in der dritten Bauzeit unter Giulio dalla Torre ausgeführt, aber schon durch das Querhaus der zweiten Bauperiode des 16. Jahrhunderts bedingt worden (Abb. u. Fig. i). Im Langhaus — und nur hier — entspricht der regelmäßige Wechsel von schmalen und breiten Pilasterabständen einem regelmäßigen Wechsel von großen und kleinen Kapellen dahinter. Die großen Pilaster mit ihren Kelchkannelur-Kapitellen kompositer Bauart18 artikulieren durch ihre Position diesen Wechsel, machen ihn dem Auge deutlich, projizieren ihn im Hauptraum, rufen ihn aber nicht hervor. Das geschieht eben durch die dahinter liegenden Anräume und es geschieht im Hinblick auf ihr Verhältnis zueinander und zum Hauptraum. Da die großen, außen platt schließenden Kapellen mit einer Quertonne bedeckt sind, öffnen sie sich als rundbogige Pfeilerarkaden in voller Höhe in den Hauptraum. Da die kleinen, über quadratischem Grundriß errichteten Kuppelkapellen mit einem Kugelgewölbe segmentbogigen Querschnitts bedeckt sind, schließen sie sich ab, versammelt um die Vertikalachse, und kommunizieren nur durch eine scheitrechte Tür mit dem Hauptraum. Die schmalen Pilasterabstände der rhythmischen Travée entsprechen diesen Kuppelkapellen, welche niedriger sind als die großen Kapellen. Die kleinen Intervalle der Wandgliederung haben daher einen anderen Aufriß als die großen. Er ist dreiteilig: über der scheitrechten Tür sieht man ein hochrechteckiges Wandfeld. Es reicht bis zum Kämpfergesims der großen Kapellenöffnungen in den breiten Travéen. Darüber findet man — nur im Langhaus bis zu den Vierungspfeilern — ein niedrigeres, überquadratisches Feld mit einem Rundfenster darin. Durch dieses Rundfenster kann dem Hauptraum zusätzlich indirektes Licht von außen zugeführt werden, weil es oberhalb des Gewölbescheitels der Kuppelkapellen liegt und weil auch der Außenbau an dieser Stelle Öffnungen besitzt. So wird, indirekt zwar, aber augenfällig, Position und Höhe der kleinen Kuppelkapellen vermittels der Wandgliederung der schmalen Travée im Hauptraum angezeigt, obwohl die Kuppelkapellen von hier aus gar nicht eingesehen werden können. Es wird aber auch durch Maß und durch Rahmenform ausgedrückt, daß die dritte, oberste Zone dieser schmalen Travée als „Archivoltenzone" zu verstehen ist. In der Komposition dieses Teils der Wandgliederung liegt also nicht nur ein Hinweis auf den Anraum dahinter | Rundfenster), sondern auch ein solcher auf die Anräume daneben. Dieser Hinweis wird, der Natur einer Flächengliederung ganz entsprechend, als Verweis auf die Projektion dieser Anräume — der großen Kapellen — als Bogenwand mit betontem Kämpfer formuliert. 18

Martin Gosebruch, Florentinische Kapitelle von Brunelleschi bis zum Tempio Malatestiano und der Eigenstil der Frührenaissance. Rom. Jb. Hertziana 8, 1958, 6S-I93-

Es ist klar, daß die Wandgliederung nach dem Schema der rhythmischen Travée in den Ostteilen so nicht organisiert sein kann — hier fehlen ja eben die kleinen Kuppelkapellen — und es ist nun auch zu erklären, warum sie nicht so proportioniert sein kann. Das Querhaus mußte von allem Anfang an, wenn es eben als „Querhaus" dem Langhaus angeschlossen werden sollte, in drei Raumkompartimente zerfallen und das Ausmaß des mittleren war durch das Langhaus, durch die lichte Weite des Hauptraumes, fixiert. Nun hatte man bei der Anlage dieses Querhauses nicht nur die alte westliche Vorhalle des 15. Jahrhunderts in der nördlichen kopiert, sondern auch lichte Länge und Breite des Querhaushauptraums vom Langhaus entlehnt — ein Umstand, der bisweilen als Argument für eine gleichzeitige Planung beider Bauteile schon 1470—72 angesehen wird, zu Unrecht aber, wie zu zeigen ist. Man hat nämlich auch die Größe und Gestalt der Langhauskapellen und zwar der großen übernommen, mußte sie aber jetzt beim Querhaus aus ihrer alten Proportion, welche durch die rhythmische Travée im Langhaus einen solch einzigartigen Ausdruck gefunden hatte, bringen, mußte ihr Verhältnis zum Hauptraum verändern. Die großen Querhauskapellen sind gegenüber dem Langhaus an die Schmalseiten des Querhaushauptraums, also nach Nord und Süd verschoben. Damit aber war die Situation in den Ostteilen geschaffen, welche sich in der neuen Fassung der rhythmischen Travée auch heute noch klar ausdrückt. Denn in dem Querhaus konnte niemals der regelmäßige Wechsel von großen und kleinen Intervallen in der Proportionierung des Langhauses erscheinen, einfach deshalb nicht, weil die schmale Travée nördlich und südlich der schon angelegten Querhauskapellen keinen Platz fand. Die Mauerflächen an diesen Stellen waren aber auch zu breit, um sogleich — etwa neben einem Eckpfeiler — mit der breiten Travée alten Maßes und alter Form zu beginnen. Wollte man nicht die großen Pilaster in den Ostteilen verschieden breit vom Langhaus bemessen, dann mußten die schmalen Travéen verengt und die breiten erweitert werden, man mußte also durch Interpolation eine Lösung gewinnen. Spielraum für die entsprechende Formulierung einer solchen Lösung bot allein die Vierung. Da jedoch diese Vierung als allseitig symmetrische, echt zentrale Figur ausgebaut wurde, war man gezwungen, die neue Fassung der rhythmischen Travée auch an den neuen westlichen Vierungsbogen anzuwenden. Da diese Wandteile dem Langhaus angehören und bereits vollendet die ursprüngliche Fassung zeigten, mußte man diese Stellen nach ihrer risalitartigen Verstärkung auch in der Form und in dem Maß der Wandgliederung entsprechend verändern. Auf diese Weise, nicht nur aus den statischen und ästhetischen Überlegungen, welche die Vierung veranlaßte, sondern auch aus den Bedingungen, welche die Anlage des Querhauses schon im 16. Jahrhundert setzte, kam die neue Fassung der rhythmischen Travée im Innern von Sant Andrea zustande, be-

ginnend mit den westlidien Vierungspfeilem. Von dieser Stelle ab ist in den Ostteilen die schmale und breite Travée jetzt regelmäßig nicht durdi einen, sondern durch zwei Pilaster getrennt, wobei immer ein Pilaster vorn und einer hinten steht: die Zahl der großen Pilaster ist gegenüber dem Langhaus verdoppelt. Und der schmale Pilasterabstand ist jetzt schmäler bemessen: die Proportion der großen und kleinen Intervalle ist gegenüber dem Langhaus verändert. Dabei kam eine Wandgliederung zustande, die grundverschieden ist von derjenigen des 15. Jahrhunderts, die aber und das erscheint uns als hohes Lob für Giulio dalla Torre — einen ausgeprägt eigenen stilistischen Charakter trägt. Um darauf hinzuweisen, genügt es, eine schmale Travée der neuen Form mit einer solchen des Quattrocento zu vergleichen (Fig. 1 a—b).

m

WA

Fig. 1 Sdiematische Darstellung der „rhythmischen Travée" im Innern von Sant Andrea in Mantua: a) ursprüngliche Fassung (heute im Langhaus bis zu den westl. Vierungspfeilern) b) zweite, spätere Fassung (Vierung und Ostteile)

Tür und Wandfeld sitzen in der neuen Fassung knapper zwischen den Pilastern, deren Breite gegenüber dem Langhaus nicht verändert wurde. Anstelle eines bequemen Nebeneinanders dort ist jetzt alles gedrängter,

94

fühlbar dominiert nun die Vertikale. Die Rahmenformen, diese charakteristischen Motive der alten Fassung, gewinnen eine ganz neue Funktion für das Ganze. In der neuen Komposition mißt z. B. das Auge den gerahmten Pilasterspiegeln einen andern Stellenwert zu als den Blendrahmen der Intervalle. Es geschieht dies, weil in der neuen Fassung die Pilaster ganz entsdiieden dominieren, als Protagonisten des Ganzen erscheinen; ihr anschaulicher Charakter hat sich gewandelt. Sie wirken nicht nur „groß", sondern auch fest, mächtig. Ein solcher Eindruck wird natürlich durch die Verdoppelung der Pilaster hervorgerufen und durdi ihre Stellung „vorn" und „hinten", ähnlich einer Anordnung von Pilastern mit Rücklagen. Eine derartige Verdoppelung wird vom Auge als Verstärkung des Architekturgliedes verstanden und beeinflußt ganz entschieden jetzt auch unsere Auffassung des Pilasterintervalls. Wir sehen nun den ganzen Formverband als eine Einheit. Alles gewinnt Festigkeit und Geschlossenheit fürs Auge. Anstelle der alten Komposition, von Pilastern gerahmt, sieht man jetzt einen breiten, massiven Pfeiler vor sich, von Pilastern gerüstet und flankiert. Dabei ist auch der Kapitellfries zu beachten, der mit der neuen Fassimg erscheint.19 Er zerteilt nun das dritte, oberste Wandfeld der schmalen Travée in zwei Flächen. Das Rundfenster der alten Form hat nun keinen Platz und es hätte auch keinen Sinn mehr. Diese Stellen der Wandgliederung in Vierung und Ostteilen sind nun wirklich massive Pfeiler geworden, auf sie erst trifft zu, was gewöhnlich schon von den entsprechenden Wandabschnitten im Innern des Langhauses gesagt wird. Der neue Kapitellfries dient aber auch der jetzt erstrebten und erzielten Hervorhebung der großen Pilaster: indem er auf die Kapitelle verweist, betont er die „große" Ordnung der Pilaster, nicht aber die Rundbogenöffnung der „kleinen" Ordnung, wie das in der alten Fassung geschehen war. Auch in diesem Punkt verlagert die Wandgliederung der Ostteile den Akzent einseitig auf die große Pilastergliederung und weg von der Gliederung durch die Rundbogenöffnungen der Anräume. Es wird jetzt zusammengefaßt — in der Komposition und im Relief, formal und proportional; die Wirkungsfaktoren werden der Zahl nach verringert, nach Form, Maß und Gewicht aber verstärkt; das Motiv der rhythmischen Travée des Quattrocento, nämlich die verschiedene Raumgröße der Kapellen und ihr 19 Diesen Kapitellfries hatte erst Paolo Pozzo aus seiner am Cinquecento entwickelten Auffassung von Alberti in Sant Andrea eingeführt, wie der Vergleich des Längsschnittes von Giulio dalla Torre's Projekt (unsere Abb. 6) mit den Bauzeichnungen aus dem Ende des r8. Jahrhunderts (G. Pacchioni, a. a. O. r9i9) erweist. Daß Paolo Pozzo die „disegni" des Quattrocento, deren Existenz um r6oo wahrscheinlich ist, selbst gekannt hat, ist vollkommen unglaubwürdig (G. Pacchioni, a. a. O. 68). Pozzos Bemühung, S. A. „im Geiste Albertis" wiederherzustellen, gründet sich auf ein frühklassizistisches Alberti-Bild und wäre, ebenso wie das Projekt des Giulio dalla Torre, einer eingehenden Würdigung wert.

regelmäßiger Wechsel, ist verschwunden, nur das Schema der dekorativen Wandgliederung ist geblieben, wird jetzt aber im Sinne einer barocken Konzeption durchgebildet und charakterisiert. Denn an dem barocken Stilcharakter der neuen Wandgliederung von Sant Andrea, beginnend mit den letzten, östlichen, veränderten Wandabschnitten des Langhauses, ist nicht zu zweifeln, er ist schlechthin evident. III Eine Betrachtung des Außenbaus von Sant Andrea in der heutigen Gestalt vermag die bisher gewonnenen Einsichten in die grundlegende Verschiedenartigkeit der Bauteile westlich und östlich der Vierung zu festigen und ist geeignet, Selbständigkeit, Eigenart und Qualität des Langhauses erneut und auf anderer Ebene der Betrachtung zu zeigen. Heute ist das Äußere von Sant Andrea mit Ausnahme der westlichen Vorhalle und der Südwestecke des Langhauses an der Piazza del Mantegna (Abb. 3) unverputzter Ziegelbau, weitgehend verbaut und so schwer einzusehen oder zu fotografieren (Abb. 5). Man sieht die gewaltig ausgedehnten, verschieden begrenzten Flächen der Ziegelmauem, große und kleine Öffnungen darin, keine Dachsilhouetten — ein Anblick von höchster suggestiver Kraft, durchaus ebenbürtig der Wirkung des Innenraums. Blickt man auf die Nordfront des Gebäudes und wählt den Standpunkt so, daß Langhaus und Nordquerhaus gleichzeitig zu sehen sind (Abb. 4), erkennt man bald tiefgreifende Unterschiede im Aufbau und in der Durchbildung zwischen beiden Bauteilen, auch wenn man von der Tambourkuppel und von der nicht vollendeten Nordvorhalle absieht. Nur die Ostteile bilden außen eine fest zusammengefaßte Figur mit geschlossenem Umriß, wobei das Querhaus für einen solchen Aufbau in Massen bestimmend ist. Die Uberführung der Kontur am Zusammenschluß der Westwand des Querhauses mit der nördlichen Querhausstimfront ist für diesen Aufbau besonders charakteristisch. Im Vergleich zum Querhaus erscheint dagegen das Langhaus in der Komposition zusammengesetzt, vielteilig, was sich natürlich an der Stelle des Zusammenschlusses mit dem Querhaus als Kontrast äußert. Die Mauerflächen erwecken am Langhaus nicht den Eindruck von Masse; sie wirken, verglichen mit dem Querhaus, dünn, eigentümlich zergliedert. Nur in der strengen Frontalansicht ergibt sich ein großer, einheitlicher Umriß, indem sich alle Teile der Komposition in einer Ebene projizieren, nicht aber über Eck oder mit dem Querhaus zusammengesehen. Die grundverschiedene Wirkung des Ganzen hier und dort ist jeweils im Aufbau eigenartig begründet. Am Querhaus z. B. sind die Außenwände der Kapellen entschieden über deren Höhe hinweg und hinauf geführt. Sie verdecken daher das Tonnengewölbe über dem Hauptraum, greifen bis an die hoch

geführten Vierungspfeiler an, schließen sich also über das Langhaus hinweg zusammen, so daß die Vierungskuppel unmittelbar über dem Querhaus erscheint, wie auf Schultern emporgehoben. Beim Langhaus dagegen hebt sich das Tonnengewölbe über dem Hauptraum, von Sargmauern geschient, entschieden aus dem kastenförmigen Umriß der Kapellenreihe heraus und empor. Randlos gebildete Rundbogennischen zergliedern im gleichen Abstand diese Sargwände und durchsetzen sie mit Hell- und Dunkelwerten, ohne ihnen jedoch „Relief" zu verleihen. Blickt man hinüber auf das Querhaus, wirkt diese Zone schwach, dünn und sie erscheint wie ein Hochgaden. Die Langhauskapellen, von glatten, einheitlich fluchtenden Mauerzügen gleicher Gesimshöhe außen zusammengefaßt, erscheinen wie Seitenschiffe. Beachtet man noch die dünnen, durchbrochenen Strebemauern, welche zwischen den Nischen im gleichen Abstand20 über die flach anlaufenden Pultdächer dieser „Seitenschiffe" hinweg an den „Hochgaden" angreifen, erscheint der gestufte, einseitig zergliederte Aufbau des Langhauses von außen her als ein basilikaler ausreichend bezeichnet. Der Eindruck des Komponierten, Zergliederten, Unfesten, Vielteiligen beim Langhaus im Kontrast zu den Ostteilen erschöpft sich nicht im scheinbar basilikalen Aufbau. Er wird vielmehr bestimmt durch Position, Form und Maß der Öffnungen 21 , die wir hier wahrnehmen. Es sind das unvollständige Öffnungen, Nischen22; also solche, welche die Mauer zwar öffnen, aber nicht durchbrechen, und vollständige Öffnungen, Fenster, wie wir sagen. Beide Arten von Öffnungen sind in sorgfältiger Übereinstimmung mit dem innern Aufbau angebracht, sie vergegenwärtigen ihn, verweisen aufs Innere. Der innere Aufbau des Langhauses ist aber nicht basilikal: der „Hochgaden" ist kein Lichtgaden und die wie Seitenschiffe außen zusammengefaßten Langhauskapellen sind abwechselnd von verschiedener Größe, 2 0 Der kräftige Strebepfeiler, der heute an der Nordfront die Reihe der d ü n n e n Strebewände unterbricht (unsere A b b . 4), ist sicher eine spätere Z u t a t i m Z u sammenhang m i t der Anlage und Ausbildung der barocken Vierung. Er überschneidet auch die Nischen am Hochgaden. 2 1 L. B. Alberti, D e re aedificatoria libri decem, 1485, I, % Fol. biiii, führt die Ö f f n u n g e n als eines der sechs Grundelemente des Bauens neben Ort: Regio, G r u n d : Area, Einteilung: Partitio und in einem neuen, Vitruv gegenüber eigenartigen Zusammenhang m i t Mauer: Paries und Wölbung-Decken: T e c t u m , auf.

Die Datierung des Werkes zwischen 1443 und 1452 begründet v o n G . Gerson auf der Alberti-Tagung des Zentral Inst. f. Kg. München, März i960 (Vortragsresümee Kunstchronik 13, i960, 359—361). 2 2 L. B. Alberti, a. a. O . (1485) VII, 12, Fol. C i : „Sequitur ut de apertione dicend u m sit. Apertionum duo sunt genere. N a m alia luminibus et ventis: alia rebus et incolis aditu exitu que: in edificium prebent. Luminibus fenestre serviunt: rebus/ hostia/- scalae et spatia intercolumnarum . . . " (Theuer, 1912, 390).

7 Badt-Festschrift

Höhe und Gestalt. Das Langhaus ist als großer, weiter, langer, tonnengewölbter Saal mit angrenzenden großen und kleinen Kapellen im Wechsel komponiert. Die Öffnungen, welche diese Komposition am Außenbau vergegenwärtigen, verändern daher zwangsläufig den konventionellen Eindruck eines basilikalen Aufbaus. Alle diese Öffnungen liegen in einer Ebene mit den geschlossenen Wandteilen, sie werden nirgends durch ein kräftiges Rahmenprofil umgrenzt, ihre Form hebt sich also nicht im Relief hervor. Was von diesen Öffnungen im Anblick zur Wirkung gelangt, ist ihre Form als Proportion. Es geschieht dies durch die Hell-Dunkel-Wirkung und im Vergleich zu den geschlossenen Wandflächen, also vermittels eines optischen Effekts. Aber dieses Hell-Dunkel wird nicht erst erzeugt durch eine zufällige, immer wechselnde Beleuchtung, wie das bei einer im Relief kräftig vordringenden Gliederung z. B. durch Kern- und Schlagschattenbildung geschehen kann, es handelt sich nicht um ein Hell-Dunkel-Relief. Der HellDunkel-Effekt ist hier in der Architektur verankert, ist gegeben. Er ist daher auch beständig, weitgehend unabhängig von der Beleuchtung, aber nur im Anblick wirksam, es handelt sich um ein optisches Phänomen, aber um ein echtes Phänomen der Struktur. Betrachten wir nun die Öffnungen am Langhaus von Sant Andrea genauer: die gleich großen, in gleichem Abstand nebeneinander aufgereihten Öffnungen am „Hochgaden" z. B. sind unvollständige Öffnungen, es sind Nischen. Sie zeigen damit an, daß dieser „Hochgaden" kein Lichtgaden ist. Diese Nischen sind aber richtige Öffnungen, durch sie wird die hier gezogene Mauer, wenn auch nur teilweise, geöffnet. Die Mauermasse wird auf diese Weise verringert. Die Nischen zeigen damit das dahinter liegende, hier anlaufende große Tonnengewölbe über dem Hauptraum an. Der Kunsthistoriker kann also die Nischen hier nicht einfach als beliebiges Gliederungsmotiv des Außenbaus auffassen, das bestenfalls von der Funktion Hell-Dunkel-Effekte hervorzubringen begründet ist. Hier — nicht etwa in allen Fällen, wo „Nischen" festgestellt werden — ist diese Funktion für den Anblick 23 nicht zu trennen von der technischen Funk23 Schon Jacob Burckhardt hat den „malerischen" Standpunkt der Frührenaissance-Architektur und damit die Funktion aller Formen und Gliederungen fül den Anblick hervorgehoben und das Wesen dieser Kunst in der „Composition nach Verhältnissen und für das Auge" gesehen (s. Martin Gosebruch, a. a. O. [1958], Einleitung, bes. 66 f.; und Hans KauSmann: Uber rinascere, Rinascitä, und einige Stilmerkmale der Quattrocentobaukunst. In: Concordia decennalis, Festschrift d. Univ. Köln . . . 194.1, ^3—146). Als Teile einer quattrocentesken Komposition gehören auch die Nischen am Hochgaden von Sant Andrea in Mantua zu den „Ornamenti" (Kauffmann, a. a. O. 128) der Baukunst; was diese unvollständigen Öffnungen aber von vielen anderen Nischen des späten Quattrocento und auch von den Nischen der Cinquecento-Baukunst (s. J. Burckhardt [1867] § 51) unterscheidet und ihre Proportion und Funktion bestimmt, ist das

tion, ausgedrückt im Verhältnis zum dahinter liegenden Gewölbe, und dieses Verhältnis ist jedenfalls bedacht worden, muß geplant gewesen sein. Das beweist die westliche Vorhalle des Langhauses an der Piazza del Mantegna (sowie, natürlich, auch die unvollendete Nordvorhalle des Querhauses, als eine wörtliche spätere Kopie derselben). Man sieht da (Abb. 3) zu Seiten der großen, offenen, mittleren Arkade über den scheitrechten Türen in den seitlichen Pilasterintervallen zwei Rundbogennischen. Sie liegen vor den kurzen, engen, quergestellten Tonnengewölben der Vorhalle, zeigen also genau dasselbe Verhältnis zum Gewölbe dahinter wie die Nischenreihe am „Hochgaden" des Langhauses. Hier wie dort sind die Nischen kein impressionistisches, sondern ein kompositionelles Motiv; erst die Gewölbebildung des Innenraums „motiviert" sie. Und die so motivierte Komposition der Öffnungen am Außenbau, so fremdartig sie uns auch erscheinen mag, ist außerordentlich charakteristisch für das Langhaus von Sant Andrea. In der geradezu pedantischen Zuordnung von Nische außen und Gewölbe innen bemerkt man eine besondere Auffassung des Konstruktiven: einer für unsern Begriff untergeordneten, rein konstruktiven „technischen Detailfrage" wird hier größte Aufmerksamkeit gewidmet und ihre Gestaltung im Bau, aber auch ihr Ausdruck für das Auge, wird zum ästhetischen Problem erhoben. Das läßt sich nicht nur an den unvollständigen Öffnungen, an den Nischen, beobachten, sondern auch an den vollständigen Öffnungen, an den „Fenstern"24 der Langhauskapellen. An den Außenwänden der Langhauskapellen (Abb. 5) sehen wir Rundfenster25 und große, hohe Rundbogenöffnungen im regelmäßigen Wechsel

99

Verhältnis zum Gewölbe dahinter: die Nischen sind im Sinn des Eigenstils der Frührenaissance (Martin Gosebrach) und im Sinne von Albertis Projekt stets ein kompositionelles, kein impressionistisches Wandgliederungsmotiv. 24 L. B. Alberti a. a. O. (1485) 1,12 fordert, die Fenster (fenestre) der Bedeutung des Ortes, aber auch der Form und Ausdehnung der Mauer und dem Gewölbe entsprechend zu proportionieren; er warnt davor, die Fenster tief anzubringen, denn „mit den Augen, nicht mit den Füßen erblicken wir das Licht" (Theuer, 1912, 57) — er fordert also hohes Seitenlidit und er bezeichnet nicht nur Form und Größe der Fenster in Kirchen (Templa), sondern auch Charakter der so erzielten Beleuchtung: „Apertiones fenestrarum in templis esse oportet modicas et sublimes; unde nihil praeter coelum spectes; unde et qui sacrum faciunt, qui ve(l) supplicant nequisquam ab re divina meritibus distrahantur" (a. a. 0.1485, VII, 12, Fol. Riii). Alberti zählt auch die hypaethrale Beleuchtung unter seinen Beleuchtungsarten des Innern auf. Es geschieht im Hinblick auf die Öffnung — hier im Gewölbescheitel — und deshalb selbstverständlich anläßlich der Besprechung von Gewölben, I, ri (Theuer r9i2, 55) Fol. biiii iiii. 25 Wie man bemerkt, befanden sich vor den heutigen Rundfenstern in den Schildbögen der äußern Mauern der großen Kapellen halbkreisförmige, dem Gewölbequerschnitt vollkommen angepaßte sog. Thermenfenster. Diese selbst wiederum werden allgemein als eine spätere Veränderung des ursprünglichen, 7«

angebracht. Das erinnert an die Komposition der dahinter liegenden Kapellen im Sinne der „rhythmischen Travée", und tatsächlich entsprechen die Rundfenster den großen, tonnengewölbten, die Rundbogenöffnungen den kleinen niedrigen Kuppelkapellen. Da die Rundbogenöffnungen aber hoch liegen, über dem Gewölbescheitel der Kuppelkapellen, öffnen sie sich nicht als „Fenster" in diese selbst, sondern jeweils in einen Alkoven darüber, von dem aus indirektes Licht dem Hauptraum durch heute meist zugemauerte Rundfenster zugeleitet und von dem aus auch, etwa durch eine runde Öffnung im Gewölbescheitel der Kuppelkapellen, diesen kleinen Kapellen hypaethrales, indirektes Licht hätte vermittelt werden können. Die Öffnungen an den Langhauskapellenwänden sind daher wie die Anräume dahinter im Sinne der „rhythmischen Travée" komponiert. Wofern man die Größe der Öffnungen beachtet, erscheint die rhythmische Travée außen um eine Phase gegenüber den Kapellengrößen verschoben: die großen Öffnungen gehören zum kleinen Intervall. Und die Rundbogenöffnungen beleuchten die Kuppelkapellen nicht direkt, sondern schließen gewölbte Raumteile nach außen und zum Hauptraum hin auf, die vom Innenraum her weder betreten noch eingesehen werden können und die wir nach ihrer Funktion für die Beleuchtung des Innenraums als „Laternen", nach ihrer Funktion für die Gewölbekonstruktion aber als Brükken und als Strebewerk auffassen müssen. Beide Funktionen drücken sich in den Öffnungen aus, sind also an dem charakteristischen Hell-DunkelEffekt wesentlich beteiligt und zwar als die ordnenden Faktoren der ganzen basilikal erscheinenden, aber von der Komposition im Sinne der „rhythmischen Travée" beherrschten Gliederung des Außenbaus. ausgebauten Zustands angesehen. Ursprünglich wären hier wiederum Rundfenster gewesen. Es fragt sich jedoch, ob diese ursprünglich im 1 5 . Jahrhundert ausgeführten Rundfenster auch die v o n Alberti geplanten darstellen? In Erinnerung an die kategorische Ablehnung v o n Rundfenstern durch Alberti in seinem Brief an Matteo dei Pasti, r8. r i . 1 4 5 4 (abgedruckt bei Mitarelli, Bibl. codicum manuscr. monasterii S. Michaelis Venetiarum propr N u r i a n u m , Venedig 1779, 663 ohne Jahreszahl, kritische und kommentierte Ausgabe von G . Gerson), wird man diese Frage nicht unbegründet finden. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß Alberti das Thermenfenster beschreibt, und zwar in seinem Verhältnis z u m G e w ö l b e (a. a. O. r48s, VII, 1 2 : „sed earum ( = fenestrarum) v a c u a proximam sub testudine cellam parietis partem occupet: suisque angulis ad superincurvum testudinati terminet; . . . " Birkmeyer irrt, w e n n er diese Stelle als nicht übersetzbar betrachtet: aus dem Zusammenhang, durch den Wortlaut selbst und. auch i m Vergleich mit den späteren Ausgaben (Ubersetzung des Pietro Lauro, rsso, Fol. i6r) ergibt sich eindeutig, daß hier Thermenfenster beschrieben werden. In unserm Zusammenhang, w o die Frage: hatte Alberti Thermenfenster an den großen Kapellen geplant oder doch schon Rundfenster? keine entscheidende Rolle spielt, kann näher darauf nicht eingegangen werden,- jedenfalls sind v o n Alberti vorgesehene Thermenfenster nicht auszuschließen.

100

Die bisher gesammelten und gedeuteten Beobachtungen vertiefen die Einsicht in Selbständigkeit und Eigenart des Langhauses von Sant Andrea, verdeutlichen auch den Kontrast dieses Langhauses zu den Ostteilen, ergeben aber zunächst noch kein schlüssiges Argument für unsere Annahme eines Planwechsels zwischen r. und %. Bauzeit, zwischen Langhaus und Querhaus. Blicken wir aber auf die Verbindungsstelle dieser beiden Bauteile und achten wir dabei vor allem auf das Verhältnis der nordwestlichen Querhauskapelle zu den Langhauskapellen, so gewinnen wir auch „von außen her" sofort Argumente für unsere Auffassung in diesem Punkt. Es zeigen sich bauliche Unregelmäßigkeiten an diesen Stellen, kurz: eindeutige Merkmale einer „Baunaht", und sie sind so geartet, daß sie nur als Folgen eines Planwechsels, nicht einer späteren, aber plangerechten Ausführung gedeutet werden können. Das Gesims z. B., das die nordwestliche Querhauskapelle ursprünglich als Traufgesims oben abschloß (es ist dann, unter Giulio dalla Torre, zu einem Kaffgesims geworden), läuft am Langhaus tot und wird nicht, wie das ohne Planwechsel auch bei späterer Ausführung zu erwarten wäre, im rechten Winkel umbiegend vom Traufgesims der Langhauskapellen aufgenommen. An den Spuren des heute vermauerten Thermenfensters der letzten großen Langhauskapelle im Osten läßt sich ohne weiteres errechnen, daß die Trennmauer dieser Kapelle nach Osten zu nicht mit der Außenwand der nordwestlichen Querhauskapelle fluchtet, eine auffällige Unregelmäßigkeit, die sich auch am Grundriß beobachten (Abb. r) und ohne Planwechsel zwischen Langhaus und Querhaus nicht ausreichend erklären läßt. In unserm Zusammenhang verdienen auch die regelmäßigen Aussparungen in den Ziegelmauern des Langhauses Beachtung. Gleichgültig, wie auch immer man sie erklären will, zeigen diese Löcher einen regelmäßigen Versetzungsplan26, der von der Westmauer des Nordquerhauses so überschnitten wird, daß man annehmen muß, es habe sich die Außenmauer der Langhauskapellen ursprünglich weiter nach Osten zu fortgesetzt als heute. Z u diesem Schluß führen auch die bereits mitgeteilten Beobachtungen und ihre Deutung. Das bedeutet, daß die nordwestliche Querhauskapelle, die nachweislich bereits in der zweiten Bauzeit, also 1596—1604 begonnen wurde27, dem bereits vollendeten Außenbau des Langhauses nachträglich vorgebaut wurde und darum auch mit ihrer Westwand die Gliederungen dieses Außenbaus heute überschneidet.

101

26 Der Außenbau von San Sebastiano in Mantua bietet sich zum Vergleich an: auch hier beachtet der Versetzungsplan dieser Öffnungen die Mauerkanten, so daß man schon an den regelmäßig versetzten Löchern das „Ende" eines Mauerzuges sieht. An den Langhauskapellen werden jedoch diese Löcher willkürlich von den Querhausmauern überschnitten. 27 w1597 . . . e di una Limosina del Primicero Petrozzanni, che fece anche fornire, e dotö la Cappella di Sto. Stefano . . . " (St. Gionta, 1741, 95).

Die heutige Form des Zusammenschlusses von Langhaus und Querhaus in Sant Andrea bestätigt also auch am Außenbau unsere Annahme, daß schon die Anlage, nicht erst der barocke Ausbau des Langhauses nicht demselben Plan entsprechen könne, demzufolge das Langhaus um 1500 vollendet wurde. Und es läßt sich jetzt auch über die Form und die Position der r 470—72 geplanten Fortsetzung des Langhauses nach Osten wenigstens eine Feststellung eindeutig treffen: Dieser „Chorteil" nach dem Plan des 15. Jahrhunderts, gleich welcher Gestalt auch immer er vorgesehen sein mochte, sollte erst jenseits der geraden Abschlußlinie des alten Langhauses, also erst östlich des heutigen westlichen Vierungsbogens beginnen. Alle Bauteile, die westlich dieser Linie heute existieren, können nicht dem Projekt des Quattrocento entsprechen. Da das bei der nordwestlichen Querhauskapelle der Fall ist, diese bereits im 16. Jahrhundert angelegt und mit der Konzeption des ganzen Querhauses plus Nordvorhalle eindeutig zusammengehört, trifft diese Behauptung das ganze Querhaus. IV Auf den Ergebnissen der bisherigen Untersuchungen aufbauend, kann nunmehr der Versuch unternommen werden, das Langhaus von Sant Andrea in seiner ursprünglichen Gestalt zu rekonstruieren und angemessen zu interpretieren. Es ist dabei zweifellos notwendig, von den Proportionen auszugehen und es ist zweckmäßig, die Proportionen der Wandgliederung im Innenraum zum Ausgangspunkt zu wählen. In der ursprünglichen Fassung der „rhythmischen Travée" des 15. Jahrhunderts sprach sich der Grundgedanke der ganzen Anlage des Langhauses, nicht nur ein ornamentales Schema der Flächengliederung oder des Wandreliefs mit außerordentlicher Klarheit aus (Fig. 2).

1

nnn J

II:

1—1-1—1— T—1—1—1—F J —r-i—1—1— H I 1—HP-I SP BP ^ -SP— SP — -5P • —SP — — 5P—\

1

1 1 '—' . — SP — 5P—\ \

Fig. 2 Schematische Darstellung der „rhythmischen Travée" des Langhauses in der ursprünglichen Form, Komposition und Proportionierung.

Die großen Kapellen mit ihren Quertonnen und die kleinen, niedrigeren, ins Dunkel versenkten Kuppelkapellen mit ihren „Laternen" darüber zeigen sich als eigentliche Ursache der „rhythmischen Travée". Das rhythmisierende Moment besteht in dem regelmäßigen Wechsel der zwei Größen und Formen von Anräumen, das charakterisierende Moment in den zwei Größen und Maßen der Travéen. Man kann sagen, daß die Raum- und die Wandgliederung im Sinne der rhythmischen Travée komponiert ist. Diese dreidimensionale Komposition, nach Höhe-Breite und Tiefe, ist zugleich eine dreidimensionale Proportionierung im Sinne der rhythmischen Travée. Und diese Proportionierung ist stilistisch durchaus eigenartig. Es werden die „gedachten" Strecken- und Flächenmaße mit den ihnen zugrunde gelegten mathematischen Zahlenverhältnissen durch klar geformte, fest begrenzte und daher selbständige, isolierte Architekturglieder verkörpert und die so verkörperten Proportionen erzeugen den Eindruck des Verschiedenförmigen und Ungleichmäßigen, aber auf Grund von Gleichförmigem und Gleichmäßigem. Für beides sind zunächst die großen Pilaster wichtig. Sie verkörpern die großen lichten Ausmaße des Hauptraumes und machen seine unzerteilte Einheit nachdrücklich klar. Das geschieht durch gleiche Form und gleiches Maß aller dieser Pilaster und durch ihre Position an den beiden Langseiten des Hauptraumes und vor der Kapellenreihe. Ursprünglich war in den vier Ecken des Hauptraumes je ein großer Pilaster, und zwar als Pfeiler gebildet, aufgerichtet.28 Zwischen zwei dieser Eckpfeiler sah man an jeder Langseite acht weitere Pilaster, wobei der erste und der achte derselben ohne Zwischraum neben einem Eckpfeiler, aber diesem gegenüber in die Flucht der übrigen zurückgesetzt, stand. Die sieben Intervalle zwi-

103

28 Die beiden westlichen Eckpfeiler existieren auch heute noch, werden aber z. T. überschnitten durch die großen Pilaster an der inneren Westwand des Hauptraumes, die erst unter Paolo Pozzo aufgerichtet wurden. Denn vorher besaß diese Westwand sicher keine Pilastergliederung — an den Zeichnungen des Giulio dalla Torre kann man den Zustand und seine barocke Interpretation sehen — und es besaß diese Westwand aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur ein, und zwar das große, mittlere Portal. Das östliche Paar dieser Eckpfeiler ist aufgearbeitet worden durch die „Risalite" von Giulio dalla Torres Vierungspfeilern. Ursprünglich hätte man — etwa in dem Sinn der Frührenaissance und nach dem Beispiel der Vierungen des Brunellesco, aber auch noch des Bramante in Mailand (San Sátiro!) — dieses Eckpfeilerpaar als Stützen eines westlichen Vierungsbogens verwenden können, obwohl ihre aus der Gesamtkomposition des Langhauses entwickelte Anwesenheit an dieser Stelle nicht als „Beweis" für die Annahme gelten darf, man habe bereits im Quattrocento eine Vierung und damit auch ein Querhaus geplant. Es ist übrigens zu beachten, daß Palladio die ursprüngliche Gestalt des Langhauses von Sant Andrea gekannt und auch als vorbildlich empfunden hat. Doch das gehört in eine Studie über die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung von Albertis Langhaus in Mantua, die wir später und gesondert vorzulegen hoffen.

sehen den großen Pilastern waren abwechselnd schmal und breit bemessen, wie das auch heute noch im Langhaus bis zum westlichen Vierungsbogen der Fall ist. Im Unterschied aber zum heutigen Zustand war dieses System der rhythmischen Travée vollständig, in sich geschlossen, unabhängig. Es begann im Westen mit einem kleinen Intervall nach einem Eckpfeiler und es schloß auch im Osten mit einem kleinen Intervall, dem der Eckpfeiler erst folgte. Jede Langseite des Hauptraumes besaß in ihrer Mitte eine vertikale Symmetrieachse, westliche und östliche Hälfte dieses Wandbildes waren einander gleich. Das Langhaus war als zweiachsig symmetrische Anlage gebildet. Die sieben Intervalle an jeder Langseite zerfielen in vier kleine und drei große. Das mittlere der großen bezeichnete nachdrücklich die Mitte. Das Besondere der ganzen Komposition aber liegt nun darin, daß dem Alternieren der „rhythmischen Travée" im Langhaus von Sant Andrea zugleich ein Skandieren entspricht, daß also die so nachdrücklich wirkenden zwei Raum- und Flächenmaße auf ein Raum- und Flächenmaß zurückgehen. Prüft man nämlich die hauptsächlichen lichten Maße dieser „rhythmischen Travée", so ergibt sich29, daß die großen Intervalle doppelt so weit sind wie die kleinen, sich also zu diesen wie 2 : 1 verhalten. Es zeigt sich weiter, daß ein kleines Intervall plus den beiden rahmenden großen Pilastern = einem großen Intervall minus den beiden Arkadenpfeilern der großen Kapellenöflnung. Da alle großen Pilaster gleich breit sind, ergibt sich für diese Arkadenpfeiler jeweils das Maß von einer halben Pilasterbreite, für den schmalen Pilasterabstand ein solches von drei, und für den weiten Pilasterabstand ein solches von sechs Pilasterbreiten. Die Pilasterbreite war also, mindest im Entwurf, maßgebend gewesen: an jeder Langseite fand sie 40 mal Platz. Diese vierzig „Einheiten" 30 teilen sich folgendermaßen auf: 1 0 große Pilaster [2 als Eckpfeiler, 8 Wandpilaster) ; 29 Abgesehen von Schwankungen der tatsächlichen Maße, die auf Ritsdiers Grundriß und Schnitten schon feststellbar und dort auch notiert sind, die sich aber meistens gegenseitig korrigieren und bei einem mächtigen Ziegelbau, dessen Gründung größte Schwierigkeiten machte, nicht verwunderlich und natürlich sind. 30 Wenn über „Proportionen" zu handeln ist, und zwar im Sinne des italienischen Quattrocento eben über verkörperte Proportionen, ist es notwendig und angemessen, als „Einheiten" der proportionierten Komposition auch klar sichtbare, im Gesamtbild wirksame „Körper" zu benennen. Denn es könnte ja z. B. auch geschehen, daß jemand eine überraschend schlüssige, in sich weitgehend „richtige" Proportionsschematik für das Langhaus von Sant Andrea vorlegt, ohne daß damit wirklich Entstehungsprozeß und entstandene Gestalt erklärt wäre. Das geschähe z. B. dann, wenn das „modul" sehr, sehr klein angenommen würde, so daß es natürlich „auch" überall aufgeht, obwohl man dieses „modul" ebensowenig „bemerken", sehen würde, wie eine Maus im Langhaus von Mantua.

drei große Intervalle zu je sechs = 18; vier kleine Intervalle zu je drei = 12. Erinnert man sich an die Angabe Cadiolis31, der für den Hauptraum des Langhauses die Fußmaße 12,0 x 40 überliefert, kann diese ganze Wandgliederung auch als streng proportionierte „Vergrößerung"82 des Fußmaßes einer Schmalseite aufgefaßt werden; die Pilasterbreite wäre dann mit drei Fuß anzunehmen. Trotzdem aber zerfällt die Komposition und Proportion einer Langseite keineswegs in drei gleiche Teile, wie beim Querhaus, sondern bildet eine in sich verkettete Einheit, 120 Fuß lang, mit „Anfang" und „Ende" und mit eigener Mitte. Die Ordnung, welche zwischen dem so proportionierten großen Gerüst der Pilaster herrscht, ist wiederum aus einem, siebenmal gesetzten Strekkenmaß abgeleitet und wird durch gleiche Formen verkörpert. Wie schon bemerkt, ist jede große Kapellenöffnung im Lichten fünf Pilasterbreiten weit, die Pfeiler dieser Arkade sind daher je einen halben Pilaster breit. Hebt man nun diese sechs Arkadenpfeiler aus dem komplizierten Bild der ganzen Wandgliederung zwischen den beiden großen Eckpfeilern heraus, sieht man (Fig. 3), daß durch sie sieben gleiche Abstände von je 5 Pilaster-

/ 11 1 11 11 11 11 1\ 11

//

(

11

- J H -SP—*

1 1 1 1 1 L—

y

i L-j/M

5P—\ 1-—Jjf—J

r

—"i y > ' *

VA

\A XA 111 vA KJ '> v\ Y\ 1 YA

•jl 1 1 1 1—J/>—J

CT

1 £ V/ VV. Y/ y v, K

ri 11

»

V,

1 1 f fPI 1 1 1 1 1 Y