Anschauung und Deutung: Willy Kurt zum 80. Geburstag [Reprint 2021 ed.] 9783112575765, 9783112575758


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German Pages 296 [297] Year 1965

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Anschauung und Deutung: Willy Kurt zum 80. Geburstag [Reprint 2021 ed.]
 9783112575765, 9783112575758

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ANSCHAUUNG UND DEUTUNG WILLY KURTH ZUM 80. GEBURTSTAG

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1964

ANSCHAUUNG UND

DEUTUNG

STUDIEN ZUR ARCHITEKTURUND KUNSTWISSENSCHAFT

BAND 2

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1964

ANSCHAUUNG UND DEUTUNG

WILLY KURTH ZUM

80. G E B U R T S T A G

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1964

Herausgegeben von G. Strauss Redaktion : H. Sachs

Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , Berlin W 8 , Leipziger Straße 3—4 Copyright 1964 by Akademie-Verlag G m b H Lizenznummer: 202 • 100/117/64 Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim G o r k i " , Altenburg Bestellnummer: 2112/2 • E S 1 2 C • Preis: D M 4j,—

WILLY KURTH

1881-1963

Inhalt

Gerhard Strauss, Berlin

Anschauung und Deutung

i

T. P. Snamerowskaja, Leningrad

Weltanschauung und künstlerische Methode des Velazquez

. . .

Ursula Feist, Berlin

Die Gemälde des Velazquez in der Eremitage Johannes Jahn,

3 19

Leipzig

Dichtung und bildende Kunst. Vornehmlich am Beispiel Goethes Heinrich Gerhard Franz,

28

Graz

Philipp Otto Runge und die Gedankenwelt der Romantik . . . . Gerhard Strauss, Berlin

Uber den Realismus bei Carl Blechen

38 49

Peter H. Feist, Berlin

Französischer Impressionismus und Neorokoko

59

Sibylle Gröger, Berlin

Max Slevogt und die „Zauberflöte" von W. A. Mozart

69

Hanns-Conon von der Gabelentz, Altenburg

Zum Begriff „Naturalismus" in der bildenden Kunst — Versuch einer Klärung

77

Günter Feist, Berlin

Zur Methodik der Kollwitz-Forschung

85

Diether Schmidt, Dresden

Die andere Front — Reinhard Schmidhagen (1914—1945) . . . .

100

AI. S. Kagan, Leningrad

Das Problem des Modernen in der Malerei

109

Karl-Heinz Clasen, Berlin

Die Anfänge der Ziergewölbe in Frankreich

118

Inhalt Hermann Weidhaas, Weimar Einige Mitteilungen über das Leben Jean de Bodts

124

A. E. Gessen/M. A. Tichomirowa, Leningrad Über die Restaurierung des Schlosses Peters I. „Monplaisir" in Peterhof 138 Albrecht Dohviann, Berlin Zur Berlin-Potsdamer Architektur unter Friedrich II

149

Götz Eckardt, Potsdam Die ersten Entwürfe zur Terrassenanlage und zum Schloß Sanssouci 155 Georg Munter, Dresden Der Londoner Glaspalast von 1851

170

Kurt Junghanns, Berlin Die Maschine in der deutschen Architekturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts 182 Arthur Suhle, Berlin Die Münzkunst unter Erzbischof Wichmann von ( 1 1 5 2 —1192)

Magdeburg 199

Eva Schmidt, Bautzen Zur Geschichte des Gleiwitzer Eisenkunstgusses .

203

Elmar Jansen, Berlin Willy Kurth — Gruß wort eines ehemaligen Schülers

217

Anschauung und Deutung,

diese dialektische Einheit ist die Maxime, von der Willy Kurth sich hat bestimmen lassen, seit er der Kunst selbstschöpferisch und seit er ihr forschend oder lehrend begegnete. Im Primat der Anschauung wirkt Wölfflinsches Erbe, empfangen von Heinrich Wölfflin selbst während der Berliner Studienjahre. Die Wurzeln der Maxime von Willy Kurth reichen jedoch weiter zurück bis hin zu G. E. Lessing und zu jenen seiner Nachfahren, die im Ringen um die Specifica der einzelnen Kunstgattungen vor allem nach den Besonderheiten der optisch wirkenden Künste gefragt, diesen Besonderheiten Anerkennung verschafft und sie zum Ansatz der Begegnung mit diesen Künsten gemacht haben. Aus diesen tiefen Wurzeln kam Willy Kurth auch das Wissen um die Inhaltsbezogenheit der Form, um deren zwar vorhandene und wesentliche, jedoch nur relative Eigengesetzlichkeit vor dem Hintergrund des geschichtlichen Geschehens. Dieses Geschehen begriff der Historiker Willy Kurth schon früh als gesellschaftlichen Vorgang. Noch etwas wuchs Willy Kurth aus der genannten Tradition zu: die Frage nach dem Wesen der beobachteten, der dargestellten Erscheinungen. Wenn er schreibt, C. D. Friedrich „fühlt jedem Gegenstand sein Wesen an", so liegt in dieser Bemerkung Selbstporträthaftes. Willy Kurth versteht unter Wesen jedoch nichts Außerwirkliches, sondern den jeweiligen Kern der Erscheinungen des Diesseits, auch der natürlichen und in allen Fällen unter Einschluß der Eigenart ihres für die bildende Kunst so wichtigen optisch faßbaren Bildes. „Auch in der Baukunst heißt .Charakterisieren' vom Allgemeinen reden, große Grundstimmungen anschlagen" notiert er in seinem Aufsatz über K. F. Schinkel. Bildern wiederum C. D. Friedrichs rühmt Willy Kurth nach: „Wie die Wiesen sich legen und dehnen . . . " Beim Lesen solcher Sätze spürt man in ihm selbst, was er angesichts des Werkes von H. von Marées äußerte: „Und es entsteht wie in der Musik kein Genuß und kein Gefühl, wenn nicht die Form anschaulich erlebt worden ist, wie dort der Klang des Tones". Entsprechend anschaulich und fast immer attributiv bereichert ist auch die Sprache des so sehr zum Künstlerischen neigenden Kunstfreundes und Kunstwissenschaftlers Willy Kurth. Jedes seiner hier berufenen Worte läßt ihn als einen Sohn des neunzehnten Jahrhunderts erkennen, der dem Subjekt samt allen seinen Sinnen Existenzrecht einräumt. Subjektivismen sind ihm jedoch fremd. Er vermerkt: „Das Gefühl des Hohen aber hat keinen tieferen Halt in uns als in dem Gefühl des Notwendigen." Das ist

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noch Geist vom Geiste F. Hegels, modifiziert im Sinne der frühen Romantik, und ist ganz humanistisch beinhaltet. Deshalb sagt Willy Kurth, Ph. O. Runge „schafft aus dem Bildnis der Menschen menschliche Dokumente." Humanistisch gekennzeichnete Auffassungen empfing Willy Kurth schon in seinem Elternhaus, das den demokratischen Bestrebungen des Bürgertums verbunden gewesen ist. Sie ließen ihn Begeisterung empfinden ob der kritisch-realistischen Tendenz in Arbeiten Max Klingers, erleichterten den Kontakt mit Max Liebermann und bahnten den Weg zu Käthe Kollwitz. Es spricht für die Konsequenz, mit der Willy Kurth diesen Weg gegangen ist, daß er sich schon als junger Mensch der Arbeiterklasse näherte, später als der „rote Kunsthistoriker" galt, seiner Einsicht auch in der Nacht des Hitlerfaschismus treu blieb und daß er sich seither der Arbeiterbewegung als führender Kraft verbunden hat. Dank zu sagen, ist das Anliegen dieses Sammelbandes, der 1961 anläßlich des achtzigsten Geburtstages von Willy Kurth entstand. Die an dem Band beteiligten Kollegen und Schüler grüßen den verehrten Senior der deutschen Kunstwissenschaft. Sie sind gewiß, den Gruß ausrichten zu dürfen auch im Namen aller anderen deutschen Kollegen und vieler ausländischer Freunde. Der Dank gilt dem verpflichtenden Menschen Willy Kurth, der vorgelebt hat, was J . W. Goethe einst forderte: „Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten: denn da beweist sich's im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren." Der Dank gilt dem Vielen, das Willy Kurth zur Erhaltung und Pflege der Kunst bewirkte, gilt ihm als Freund der Kunst der eigenen Gegenwart, als seit Jahrzehnten und immer noch tätigem Hochschullehrer und als Forscher, der entwickelt und weitergegeben hat, was er einst von H. Grimm, H. Wölfflin, W. von Bode und M. J . Friedländer empfing. Gerhard Strauss

Während der Drucklegung dieses Sammelbandes verstarb am 28. 12. 196} Professor Dr. Willy Kurth im Alter von 82 Jahren. So mag diese Gabe seiner Freunde, Kollegen und Schüler zugleich seinem ehrenden Gedenken gewidmet sein.

T. P. Snamerowskaja — Leningrad

Weltanschauung und künstlerische Methode des Velazquez

Die Frage nach der Weltanschauung eines bildenden Künstlers ist stets schwieriger zu beantworten als die Frage nach der Weltanschauung eines Schriftstellers und läßt in größerem Maße strittige Auslegungen zu. In der bildenden Kunst kommt der Ideengehalt gewöhnlich indirekter als in der Literatur, nicht so unmittelbar und offen wie in dieser, zum Ausdruck, obwohl es in dem einen wie in dem anderen Falle Ausnahmen geben kann. Aber auch die Sprache der bildenden Kunst ist eindeutig genug, in einem bestimmten Rahmen zu ermöglichen, die Gedanken und Gefühle ihrer Schöpfer überzeugend abzulesen. Eben in dieser Hinsicht ist es sehr interessant, die Weltanschauung des Velazquez als des großen Vertreters seiner Epoche und eines der genialsten Künstler der Kunstgeschichte zu betrachten und dazu die Standpunkte der Velazquez-Forscher zu analysieren. Natürlich kann der vorliegende Artikel in seinem beschränkten Umfange keinen vollständigen und ausführlichen Überblick geben; die Verfasserin kann nur bemüht sein, das Wesentlichste und Charakteristischste in ihm zu behandeln. Die wenigen Fakten, die uns darüber urteilen lassen, wie die Zeitgenossen des Velazquez die Hauptzüge des Schaffens dieses Künstlers und damit auch seiner Weltanschauung betrachteten, sprechen von einer ziemlichen Einhelligkeit des Urteils. Alle überraschte die Wahrhaftigkeit seiner Kunst, die Lebenstreue und Genauigkeit der Wiedergabe der Natur. Man nannte ihn „Pintor de la verdad" (Maler der Wahrheit). Francisco Pacheco, der Lehrer und Schwiegervater von Velazquez, betont mehrmals, daß sein Schwiegersohn alles nach der Natur dargestellt habe. 1 Der berühmte Satiriker Francisco de Quevedo schreibt, daß jeder Pinselstrich von Velazquez die Wahrheit selbst sei. Ein Porträt von ihm, wen es auch darstelle, scheine nicht gemalt, sondern wie in einem Spiegel wiedergegeben zu sein, so lebenswahr sei es.2 Der Schriftsteller Juan Vêlez de Guevara bringt in einem Velazquez gewidmeten Sonett ebenfalls sein Erstaunen über jene Kraft der Wahrheit zum Ausdruck, die dem Pinsel des Meisters eigen ist und die dessen Gemälde so lebendig macht.3 Der Maler und Kunsthistoriker Antonio Palomino gibt die Worte eines deutschen Künstlers des 17. Jahrhunderts, Andreas Schmidt, wieder, nach denen das 1650 von Velazquez in Rom ausgestellte Porträt des Juan de Pareja alle überraschte, denn die Bilder neben diesem seien als Malerei, das Velazquez-Porträt aber sei als die Wahrheit, als das Leben selbst erschienen.4 Antonio Palomino, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts über Velazquez schrieb und einer der frühesten Biographen des Künstlers war, hebt in seiner Analyse des Werkes von Velazquez die gleichen Züge hervor. Darüber hinaus weist er noch auf

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eine andere wichtige, vor allem den Frühwerken eigene Besonderheit hin. Velazquez, so sagt er, schuf Bodegones, die einfache, derbe Menschen darstellen, und als man den Künstler auf den Vorzug des erhabenen Stiles solcher Künstler wie Raffael hingewiesen habe, habe er geantwortet, daß er es vorziehe, der erste im groben Stil zu sein als der zweite im erhabenen. Palomino erklärt diese Äußerung mit dem Streben des Künstlers nach Originalität, bringt sie aber gleichzeitig mit den realistischen Traditionen der spanischen Malerei in Zusammenhang. Er bemerkt, daß nicht nur Velazquez, sondern auch viele andere spanische Maler so tief hinabstiegen in der Wahl dessen, was sie in ihren Werken darstellten.5 Damit unterstreicht Palomino in Wirklichkeit die demokratischen Züge im Schaffen von Velazquez, die in dem Interesse des Künstlers an den Menschen aus dem einfachen Volke sowie in seiner Überzeugung zum Ausdruck kommen, daß diese Menschen der Darstellung in der Kunst würdig sind. J . A. Cean Bermüdez betont in dem im Jahre 1800 erschienenen Lexikon spanischer Künstler ebenfalls, daß für Velazquez die Natur der Hauptlehrmeister gewesen sei und daß des Künstlers Schaffensweg mit der Darstellung von Figuren in Volksgewändern begonnen habe.6 Er schließt mit der Bemerkung: „Streiten wir uns doch einmal mit denen, die da sagen, daß Velazquez nicht mehr sei als ein Naturalist. Doch wer ist ihm darin gleich?" Obwohl der Autor „Realismus" und „Naturalismus" gleichsetzt, wie es für jene Jahre charakteristisch war, stellte er im weiteren nicht nur die Behauptung auf, daß niemand so die Natur nachahmen konnte wie Velazquez, sondern führt auch eine Reihe rein künstlerischer Errungenschaften von dessen Schaffen an, die weit über den Rahmen einer einfachen Nachahmung der Wirklichkeit hinausgehen, wie zum Beispiel die Kunst der Komposition, der Farbenharmonie, die von besonderer Schönheit sei, und der mit Delikatesse und Grazie gehandhabten Pinselführung.7 Im 19. Jahrhundert zeigen vor allem die französischen Realisten mit Courbet an der Spitze großes Interesse für Velazquez. „Ich bin begeistert von Ribera, Zurbaran und besonders von Velazquez"8, schreibt Courbet, und indem er den Realismus dieser Künstler der Darstellung der „idealen" Gestalten in der Renaissancekunst gegenüberstellt, tritte er von dieser Position aus nicht nur gegen Raffael, sondern auch gegen Leonardo da Vinci und Tizian auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ruft Velazquez bei den russischen Realisten eine größere Begeisterung als irgendein anderer Meister — selbst als Rembrandt — hervor. W. W. Stassow hält dies sogar für „Idolanbeterei".9 Kramskoi schreibt über die alten Meister: „Sie alle sind für mich in einem konzentriert, in Velazquez . . . Alles vor ihm ist kleinlich, blaß und nichtig."10 Repin nennt Velazquez „göttlich", kopiert dessen Werke und setzt dessen Namen an die erste Stelle der Reihe „der großen Porträtisten", den Realismus dieses Künstlers den formalistischen Strömungen in der Kunst des 19. Jahrhunderts gegenüberstellend.11 Serow studiert und kopiert Velazquez' Werke ebenfalls. Surikow kann geradezu vor Begeisterung nicht über Velazquez sprechen.12 „Alle Galerien Roms sind für mich nur das Porträt von Velazquez . . .", schreibt er über das Porträt des Papstes Innocenz X. „ . . . Das ist ein lebendiger Mensch, das ist höhere Malerei als die, die bei den alten Meistern anzutreffen ist." 13 Dabei begeistert nicht nur die

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künstlerische Meisterschaft von Velazquez an sich die Vertreter der fortschrittlichen russischen Malerei, sondern auch der realistische, lebensgetreue Charakter dieser Meisterschaft. „Nehmen Sie auch nur ein beliebiges Porträt oder Bild der großen Meister, darunter des Velazquez", schreibt M. M. Antokolski, „und Sie überzeugen sich . . . von der Genauigkeit in der Wiedergabe der Wirklichkeit."14 In der kunstwissenschaftlichen Literatur, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dem ernsthaften Studium des Schaffens von Velazquez zuwendet, sind ebenfalls Vorstellungen über Velazquez als einen konsequenten Realisten, als einen Künstler der Wahrheit des Lebens vorherrschend, der an die ihn umgebende Wirklichkeit gefesselt ist und nur sie darstellt. Von diesem Standpunkt aus wird nicht nur Velazquez' Größe bestätigt, sondern es wird auch das wiederlegt, was die Gegner des Realismus über ihn schreiben. J . Meier-Graefe zum Beispiel setzt die Bedeutung und die künstlerischen Errungenschaften von Velazquez im Vergleich zu El Greco mit der Begründung herab, daß im Schaffen von Velazquez weder religiöses Gefühl noch Mystizismus noch Phantasie vorhanden wären und der Künstler nicht frei von der Nachahmung der Natur sei.15 Im Gegensatz dazu verteidigen die progressivsten europäischen Autoren den Realismus des Velazquez als großen positiven Wert, obwohl sie zeitweilig den Terminus „Realismus" mit „Naturalismus" gleichsetzen und zu Unrecht in der künstlerischen Methode des Meisters, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, Momente des Fotografischen, Zufälligen und Passiven feststellen.16 Aber trotz des Vorhandenseins solcher und ähnlicher Fehler als Folge einer ungenauen theoretischen Vorstellung vom Begriff „Realismus" und Folge eines damit zusammenhängenden ungenügend tiefen Verstehens von Velazquez' Schaffen verteidigen diese Autoren im großen und ganzen sehr richtig die These vom Streben des Meisters nach objektiver Wahrheit, von seinem ausschließlichen Interesse am Leben, am lebendigen Menschen, an der Natur, an der Schönheit der Wirklichkeit ohne die geringste Neigung zum Phantastischen, zur Mystik oder gar nur zum einfachen religiösen Erleben. Das beste Werk der Velazquez-Forschung, das seine Bedeutung bis zum heutigen Tag nicht verloren hat, ist die umfangreiche Arbeit von C. Justi „Velazquez und sein Jahrhundert".17 Justi erkennt auch die demokratische Grundlage des Schaffens von Velazquez, die Volkstümlichkeit, die für die realistische Richtung der spanischen Malerei des 17. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch ist. Sie wird besonders klar im „Dialog über die Malerei" aufgedeckt, der vom selben Autor stammt, aber in der Form eines Streites über die Kunst zwischen spanischen Meistern des 17. Jahrhunderts abgefaßt ist 18 . Der Künstler, der in jenem Gespräch die Generation vertritt, der auch Velazquez angehörte, verteidigt hier nicht nur die nationale Besonderheit der Kunst, nicht nur ihre Natur- und Lebenstreue — anstelle der Nachahmung der Antike und der Renaissance —, sondern er verteidigt auch die Darstellung des Menschen aus dem Volk, wie zum Beispiel der typischen spanischen Bäuerin mit den ihr eigenen, „den Gebräuchen ihres Dorfes entsprechenden natürlichen Gesten", der er den Vorzug vor allen Prinzessinnen edler Herkunft gibt 19 . Auf der gleichen Position in der Beurteilung der gesamten realistischen Richtung der spanischen Malerei des „Goldenen Jahrhunderts" und von Velazquez als dem

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größten Vertreter dieses Jahrhunderts steht einer der bedeutendsten deutschen Spanienforscher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der fortschrittliche, antifaschistische Wissenschaftler A. L. Mayer 20 . Gleichzeitig verbreitete sich in der zwieten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ansicht von der Nähe der künstlerischen Manier des Velazquez zum Impressionismus, eine Ansicht, die von den Impressionisten selbst hervorgebracht wurde. Sie betrachten den großen spanischen Maler als ihren unmittelbaren Vorgänger. Im Unterschied zu den Realisten dringen die Impressionisten nicht tiefer in das Wesen der Kunst des Velazquez ein; sie interessieren sich nur wenig für das Dargestellte in seinen Bildern und begeistern sich vor allem an dem Malerischen seiner Malweise, an seinem Kolorit, an seiner Behandlung des Lichtes usw. Nach einem Ausspruch von E. Manet sind für sie die Bilder von Velazquez mehr „erstaunliche Stücke der Malerei" als Werke, die einen großen Ideengehalt besitzen und die Wahrheit des Lebens wiedergeben. 21 In der Tat hat Velazquez sehr viel zur Lösung der Aufgaben beigetragen, durch deren Inangriffnahme die Impressionisten Wertvolles für die Entwicklung der Weltkunst leisteten. Seine Malerei nähert sich so sehr der Widerspiegelung von Einheit und Dynamik der äußeren Welt unter konkreten, sich verändernden Bedingungen ihres Seins und ihrer optischen Wahrnehmung, wie dies wahrscheinlich in dem Maße von keinem weiteren Künstler des 17. Jahrhunderts erreicht worden ist. Die Wiedergabe veränderlicher,' vibrierender materieller Formen in der ganzen Frische des unmittelbaren optischen Eindrucks, verschmolzen im einheitlichen Ganzen des Zusammenwirkens von Farbnuancen und dem Flimmern der umgebenden Luft, bestimmt die reife Malweise des Velazquez besonders in der späteren Periode seines Schaffens. Die „Ansichten der Villa Medici" im Prado zu Madrid zeugen mit ihrer Annäherung an das Pleinair und der Fixierung eines kurzen Moments der optischen Wahrnehmung sehr deutlich davon. Dies kann jedoch keineswegs zu der Schlußfolgerung führen, daß Velazquez vom Wege des konsequenten Realismus abgewichen sei. Die dem Impressionismus sehr nahekommenden Errungenschaften auf dem Gebiet der Wiedergabe des Pleinair, des Lichts, der Farbe, der Bewegung und der optischen Brechung in einem Ausmaß, das nicht über den Rahmen der wahrheitsgetreuen Widerspiegelung bestimmter Seiten der objektiven Realität hinausgeht, rechtfertigen keineswegs, Velazquez den Impressionisten zuzurechnen. Für den Impressionismus als eine bestimmte Richtung der Kunst, die unter konkreten historischen Bedingungen einer bestimmten Epoche entstand, ist ein eigenes System der Weltanschauung, ästhetischer Konzeptionen und künstlerischer Prinzipien charakteristisch, das sich nicht nur in der Behandlung der Form, sondern auch in der Wahl und der Behandlung der Sujets, der Themen, der Gestalten und der Komposition, mit einem Wort, in der Gesamtheit des Ideengehalts und seiner Verkörperung in den Werken der Kunst ausdrückt. Es genügt, daran zu erinnern, daß die Impressionisten sich vor allen Dingen für die äußeren Gesetzmäßigkeiten der realen Welt interessierten. Sie erstrebten nicht eine objektive Erkenntnis und ein tiefes Durchdenken des Lebens des Menschen und der Gesellschaft. Die äußere Welt interessierte sie vor allem als Quelle subjektiver optischer Eindrücke, die sie in ihrer flüchtigen Zufälligkeit zu fixieren suchten.

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Deshalb verarmte trotz der gewaltigen Errungenschaften in der Behandlung der Form, trotz allen Glanzes der künstlerischen Meisterschaft und trotz aller frischen Anmut und Poesie, die der Fixierung eines momentanen, flüchtigen, der aufmerksamen Betrachtung sich entziehenden Eindruckes eigen sind, die Kunst der Impressionisten schnell an Ideengehalt, an großen Gedanken und Gefühlen. Die impressionistischen Künstler sagten sich vom Bild als durchdachter und gebauter Komposition los und ersetzten es so faktisch durch die Studie. Sie gingen den Weg der Entmaterialisierung der realen Welt und reduzierten sie auf ein funkelndes Spiel von Licht und Luft. Natürlich gibt es bei Velazquez nicht einmal ähnliche Tendenzen. Sein Schaffen zeichnet sich durch eine außerordentliche Tiefe des Durchdringens der Wirklichkeit nud Durchdenkens ihres Wesens aus; es ist gekennzeichnet durch die Wahl nicht des Zufälligen, sondern des Typischen, durch Objektivität und Vielseitigkeit in der Darstellung der Figuren, durch ein humanistisches Herangehen an den Menschen und eine sozial zugespitzte Darbietung des gesellschaftlichen Lebens. Jedes Bild von Velazquez ist ein durchdachter Bau, ein vollendetes Ganzes, Frucht und Ausdruck ernsten Nachdenkens über das Leben und den Menschen. Die Welt, die diesen umgibt, ist für den Künstler stets in erster Linie die objektive Realität, die er auch ungeachtet seines Strebens, ihn in Übereinstimmung mit den Gesetzen der optischen Wahrnehmung und in der ganzen ihm eigenen Unmittelbarkeit wiederzugeben, allen seinen Gemälden zugrunde legt. Die Kunst des Velazquez, das ist vor allem die Kunst großer Gedanken und Gefühle, das ist aktiver, durchdachter und zielgerichterer Ausdruck, ist Erkenntnis der Realität nicht in ihren oberflächlichen Erscheinungen, sondern in ihren bedeutendsten, wesentlichsten Momenten. So hat das Schaffen von Velazquez mit dem Impressionismus nur äußere Berührungspunkte, die keineswegs über die Grenzen der vielseitigen Möglichkeiten der realistischen Kunst hinausgehen. Gerade in diesem Sinne sprechen C. Justi und A. L. Mayer in den obenerwähnten Arbeiten ausführlich über den Impressionismus bei Velazquez. Mayer nennt zum Beispiel die „Ansichten der Villa Medici" Perlen des Impressionismus, betont aber gleichzeitig, daß Velazquez im Unterschied zu den Impressionisten das Wesen der Dinge und nicht nur deren Erscheinung wiedergibt, ganz zu schweigen davon, daß selbst die vorwiegend Studiencharakter besitzenden Gemälde immer noch gebaute Kompositionen sind. 22 Ebenso urteilen auch die sowjetischen Kunstwissenschaftler über die Verbindung des Velazquez zum Impresisonismus.23 Übrigens hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein in der europäischen kunstwissenschaftlichen Literatur nicht allein die Behandlung des Velazquez als Impressionisten eine weite Verbreitung gefunden, sondern die Aufmerksamkeit wurde überhaupt und ausschließlich auf die äußerliche Seite seiner Werke, auf seine künstlerischen Mittel, losgelöst von der Analyse des Sujets und des Inhalts, konzentriert.24 Ein solches, seinem Charakter nach sehr impressionistisches Herangehen an die Kunst von Velazquez trägt zwar viel Neues und Interessantes zum Studium der Form bei, indem es aber den Inhalt ignoriert, verwandelt es den Künstler selbst in einen Formalisten. Das liegt völlig gesetzmäßig

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in der Absicht der betreffenden Richtung der bürgerlichen Wissenschaft. Die Größe des Künstlers wird von den Vertretern dieser Richtung auf eine formale Meisterschaft reduziert, wobei der Ideengehalt seine Bedeutung einbüßt. Danach kann man also auch ohne große Ideen ein großer Künstler sein, was eine für die zeitgenössischen formalistischen künstlerischen Strömungen, für deren Ästhetik und die mit ihr verbundene Kunstwissenschaft typische Schlußfolgerung ist. Jedoch gibt es in der europäischen Literatur der letzten Zeit Bestrebungen, den bisherigen Standpunkt der Velazquez-Forschung zu überprüfen und die Beurteilung der Weltanschauung des Künstlers zu revidieren. Auf den ersten Blick scheint es so, als gehe man von der richtigen Position aus: Die rein formale Analyse der Werke wird verworfen und der unter den äußeren Formen verborgene Inhalt ausgehend von dem großen Ideengehalt in der Kunst des hervorragenden Meisters herausgearbeitet. Das Verdienst dieser Autoren besteht in der Feststellung der sinnbildlichen Bedeutung der Werke des Velazquez und der Vielschichtigkeit der Sujets und Gedanken dieser Werke, bei deren Nichtberücksichtigung es unmöglich ist, mehr als bisher zu den Tiefen des Schaffens dieses Künstlers vorzudringen, denn nur ein allseitiges Herangehen an seine Kunst gestattet es, in vollem Umfange seine wahre Bedeutung und Größe zu erkennen. Aber alles das wird von Positionen aus behandelt, die sogar jene ihrem Wesen nach richtigen, noch auf die Meinungen der Zeitgenossen des Velazquez zurückgehenden und bis jetzt die objektivste Seite des Studium seines künstlerischen Erbes bestimmenden allgemeinen Bewertungen seiner Malerei verwerfen. In erster Linie werden der Realismus von Velazquez und die realistischen Prinzipien seiner künstlerischen Methode verworfen. Der Inhalt seiner Werke wird in einer idealistischen, spiritualistischen und religiösen Art und Weise ausgelegt. Alles das dient einem bestimmten Ziel, nämlich der Verwandlung des Künstlers in einen Idealisten oder einfach in einen orthodoxen Katholiken, der mit seiner Kunst die christlichen Dogmen predigt. Kann es auch vom Standpunkt derer aus anders sein, die behaupten, daß Spanien den Genius Europas, den Katholizismus, durch alle Zeiten hindurch verkörperte, dessen historische Mission darin bestand, Eckpfeiler der Weltreaktion zu sein? 25 Die Tatsache, daß das Schaffen des größten spanischen Malers nicht in dieses Schema hineinpaßt, sondern diesem im Gegenteil entschieden widerspricht, wird sogar noch von solchen Schriftstellern wie J. Ortega y Gasset anerkannt, der das spanische Volk einmal als „Gott-Träger" bezeichnete und in der mittelalterlichen Mystik das wertvollste Erbe der spanischen Kultur sah, 26 an anderer Stelle aber doch gezwungen ist festzustellen, daß religiöse Züge und religiöse Gefühle in der Kunst von Velazquez nicht existieren.27 Diese Ansicht versuchen einige, darunter sehr bedeutende Wissenschaftler, die in den letzten Jahren sehr viel zur Erforschung der spanischen Kunst und Kultur beigetragen haben, zu zerschlagen. F. J. Sánchez Cantón unterstreicht als einer der ersten nicht nur die humanistischen Züge, sondern auch die tiefe Religiosität und den Spiritualismus im Schaffen und in der Weltanschauung des Velazquez.28 Diesen Standpunkt teilen auch E. Lafuente Ferrari, 29 D. Angulo Iñiguez 30 und M. S. Soria.31 Gerade sie schließen sich der von Sánchez Cantón in den Vordergrund gerückten religiösen Auslegung solcher Bilder

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von Velazquez wie „Christus im Hause der Martha" in der Londoner National Gallery an, dessen Deutung ein charakteristisches Beispiel der neuen Tendenzen in der Auslegung des Schaffens von Velazquez darstellt. M. S. Soria geht sogar so weit, daß er die Analyse des erwähnten Bildes unmittelbar mit einem Text von Teresa de Jesús, der in der katholischen Gegenreformation aktiv tätig gewesenen und- im 17. Jahrhundert heiliggesprochenen Vertreterin der religiös-mystischen Richtung der spanischen Literatur in Verbindung bringt. In einem ihrer Werke spricht Teresa davon, daß der Mensch sich inmitten der irdischen, äußerlichen Sorgen seiner inneren und Gottes erinnern soll, denn Gott sei überall anwesend, unter anderem auch in der Küche zwischen den Näpfen und Gefäßen und helfe den Arbeitenden.32 Das Bild von Velazquez sollte also die Illustration dieses Textes sein, ungeachtet dessen, daß in den Figuren dieses Bildes jegliches religiöse Gefühl fehlt, das für die religiösen Darstellungen sogar jener spanischen Maler, die der realistischen Richtung angehören, charakteristisch ist. Mit dem gleichen Erfolg könnte man zu Vertretern der katholischen kirchlichen Ideologie auch solche niederländischen Meister des 16. Jahrhunderts wie Pieter Aertsen und Joachim Beuckelaer machen, deren Beispiel Velazquez folgt, nämlich die religiösen Bilder in Szenen aus dem Alltagsleben zu verwandeln, das rein realistische Motiv einer einfachen Genreszene in den Vordergrund zu stellen und die Darstellung des religiösen Sujets weit in den Hintergrund zu rücken. Die längst festgestellte Verbindung des Velazquez mit dieser keineswegs religiösen Tradition erkennt der Autor selbst an.34 Auch kann er mit der Tatsache nichts anfangen, daß in anderen Bodegones von Velazquez nicht der geringste Anflug eines religiösen Inhaltes vorhanden ist. Eine Ausnahme stellt nur das Bild „Die Mulattin" oder „Die Magd" in der Londoner Sammlung Beit dar, auf dem wir, ebenso wie im Werk „Christus im Hause der Martha", durch das Fenster in der Wand in weiter Entfernung und in verkleinertem Maßstab eine religiöse Szene, „Das Mahl Christi zu Emmaus", erblicken. Man muß jedoch erwähnen, daß das Bild in der Sammlung Beit vom Autor selbst und von anderen Forschern als eine Kopie nach dem im Chicagoer Kunstinstitut befindlichen Original von Velazquez35 angesehen wird, und auf diesem Original fehlt die religiöse Szene. Sie wird auch nicht von A. Palomino erwähnt, der dieses Bild Anfang des 18. Jahrhunderts beschrieben hat.36 Damit M. S. Soria jedoch seine Gedanken über die Bemühungen des Velazquez, seinen Genrebildern einen religiösen Sinn zu geben, vertreten kann, äußert der Autor die Vermutung, daß das Gemälde in Chicago beschnitten worden und deshalb die Szene „Das Mahl zu Emmaus" verschwunden sei. Laut Soria erwähnt Palomino diese Szene im Bilde aus dem Grunde nicht, weil es ihn nur als Beispiel der Hinwendung des Velazquez zu „niederen" Sujets und Typen interessiert habe.37 Die Tatsache, daß im Falle der Abtrennung eines oberen Teils vom Chicagoer Gemälde jegliche Übereinstimmung in der Komposition mit der in der Sammlung Beit befindlichen Kopie verlorengegangen wäre, ignoriert der Autor. Desgleichen wird auch die interessante Tatsache ignoriert, daß die für die damalige Zeit sehr umfangreiche, 155 Bände umfassende Bibliothek von Velazquez38 nur zwei ihrem Inhalt nach bedeutende religiöse Bücher enthielt. Das wird auch von E. du Gué Trapier hervor-

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gehoben, die daraus richtig fehlendes Interesse des Künstlers an entsprechender Literatur schlußfolgert und sogar die Vermutung ausspricht, daß die zwei religiösen Bücher aus dem Erbteil von Pacheco in die Bibliothek des Velazquez gekommen sein könnten.39 Mehr noch zeugt von jenem Desinteresse das Schaffen des Künstlers selbst, das sich nicht nur hoch über das Niveau der damaligen realistischen Errungenschaften erhebt, sondern auch über die Tendenzen zu einer christlichen Auslegung des Humanismus, die im großen Maße der Weltanschauung der anderen spanischen Realisten dieser Epoche eigen sind. Ähnlich wie Soria rücken auch andere Autoren die Verbindung der erwähnten Frühwerke von Velazquez mit der religiösen Thematik in den Vordergrund. Sie setzen damit die Bedeutung des realistischen Genrebildes im Schaffen des Künstlers herab, ebenso wie sie die Bedeutung des Zusammenhangs der berühmten „Spinnerinnen" mit der mythologischen Legende von Athena und Arachne übertreiben.40 Auf diese Verbindung weist zum ersten Male D. Angulo Iniguez hin, indem er das Werk nicht als Genrebild, sondern vom mythologischen Standpunkt aus behandelt.41 Später tritt es sogar im Katalog des Prado unter dem Namen „Die Legende von Arachne" auf.42 Damit aber wird wiederum nicht nur die realistische, sondern auch die demokratische Seite des Schaffens von Velazquez auf ein äußerliches Moment reduziert, das scheinbar nicht mit dem inneren Gehalt dieses Schaffens übereinstimmt. Die erste Darstellung einer Fabrikszene in der Malerei der ganzen Welt, wie Carl Justi das Bild der „Spinnerinnen" nannte,43 verwandelt sich so in die originelle Behandlung eines antiken Legendenstoffes. Dabei wird auch die Entwicklung in der Darbietung des mythologischen Sujets im Schaffen des Meisters völlig außer acht gelassen. Der Künstler war aber stets bemüht, die Mythologie mehr und mehr mit dem realen Leben des Volkes, auf dessen Grundlage sie einst entstanden war, in Verbindung zu bringen und sie in das seinem Wesen nach demokratische und realistische Genrebild zu übertragen.44 In den „Spinnerinnen" ist dieser Prozeß so weit getrieben, daß die Mythologie nur noch eine verborgene Unterlage, sozusagen eine maskierte Analogie darstellt, die in dem zeitgenössischen, realen, genrehaften Inhalt völlig untergeht. Der mythologische Hintergrund tritt nicht mehr offen zutage, und seine Enträtselung bleibt bem Betrachter überlassen; erkennt er diesen Hintergrund nicht, so wird der Hauptinhalt des Bildes dadurch in keiner Weise beeinträchtigt.45 Die Analogie des Hauptteils des Bildes, der Darstellung der TeppichWerkstatt mit der Erzählung jener Episode, nach der Athena als alte Frau verkleidet zu Arachne kommt, stört in der Tat nicht die wirklichkeitsgetreue Arbeitsszene, deren Schönheit der Künstler hervorhebt, indem er die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters auf die herrliche Gestalt der jungen Spinnerin lenkt. Es ist ein Mädchen aus dem Volke, in dem erstaunlich echt das national und sozial Typische, verbunden mit einer betonten Wiedergabe von Schönheit, Kraft, Biegsamkeit und ungezwungener Grazie, erfaßt ist. Wenn der Künstler diese Gestalt mit der Arachne des Ovid, einer Frau niederer Abstammung, identifiziert, so offenbart sich darin seine Begeisterung für die Meisterschaft und für die Kühnheit einer einfachen Arbeiterin, die stolz selbst eine Göttin zum Wettbewerb aufruft. Auf diese Weise dient die Analogie mit der Legende also dem Ausdruck der demokratischen Sympathien von

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Velazquez. Sie erhöht noch die Gestalt der jungen Spinnerin, die der Künstler schon durch seine Charakterisierung mit größter Schönheit und menschlichem Wert ausgestattet hat. Im Hintergrund des Bildes spielen Akteure die Schlußszene der Arachne-Legende vor einem Wandteppich, der den Raub der Europa darstellt und von Arachne im Wettstreit mit Athena gewebt wurde. Betrachterinnen sind drei Damen in der Hoftracht des 17. Jahrhunderts. Die einzige Bedingtheit des Bildes ist, daß diese Szene sich in einem Raum abspielt, der unmittelbar an die Werkstatt anschließt. Das ist jedoch verständlich, wenn man voraussetzt, daß hier dem Herstellungsprozeß sozusagen der Verwendungszweck der Teppiche gegenübergestellt wird,48 die zu dieser Zeit oft als Dekoration für das Hoftheater dienten. Verständlicher noch wird das Nebeneinander der beiden Szenen im Bild, wenn man den eigentlichen Grundgedanken des Werkes an ihm abliest: die Gegenüberstellung zweier Welten. Das Leben der einfachen Menschen und die Arbeit werden mit der höfischen Welt des Reichtums und des Nichtstuns konfrontiert. Die Unterschiede in den Proportionen beider Kompositionen — räumliche Anordnung, Behandlung der Figuren usw. — sind zugleich Ausdruck des Werturteils des Künstlers und verraten sein Verhältnis zum Dargestellten. Die Aufmerksamkeit wird mit allen Mitteln auf die im Vordergrund befindliche realistische Darstellung der Werkstatt mit den genau erfaßten Figuren der Spinnerinnen gelenkt. Den Hintergrund rückt Velazquez so weit vom Betrachter ab und beleuchtet ihn so, daß er einen entmaterialisierten Charakter annimmt und die Personen der Handlung nicht realer erscheinen als das, was auf dem Teppich dargestellt ist. Dadurch werden das Gespenstische, das Illusionäre, das Trügerische, der eitle Glanz und die äußerliche Schönheit hervorgehoben, Merkmale also, die jener zweiten Welt eigen zu sein scheinen. Völlig anders gehen an die Deutung dieses Werkes die Autoren heran, die bemüht sind, aus den Bildern von Velazquez, wenn nicht eine direkte orthodoxe Religiosität, so doch eine idealistische Konzeption der Weltanschauung und der künstlerischen Methode herauszulesen. So glaubt Ch. de Tolnay 47 , den verborgenen Inhalt der „Spinnerinnen" und ebenso der „Meninas" durch eine Aufdeckung der ästhetischen Konzeption des Velazquez auslegen zu können. Im Vordergrund der zwei gegenübergestellten Teile, in die die Komposition der „Spinnerinnen" sich gliedert, sieht er Athena als Beschützerin des Handwerks und im Hintergrund dieselbe, jetzt als Göttin der Künste. In der materiellen Formenbehandlung des Vordergrundes und dessen verhältnismäßiger Dunkelheit soll die Vorstellung des Velazquez von der Wertung der handwerklichen als der niedrigsten Seite der Kunst zum Ausdruck kommen. Die Beleuchtung des Hintergrundes und die dort angestrebte Entmaterialisierung geben demnach die Gedanken des Künstlers über das rein geistige Wesen jener Inspiration wieder, welche die Grundidee eines Kunstwerks hervorbringt, d. h. über die geistige Idee als die wichtigste und höchste Seite der Kunst. Der Autor bringt diese ästhetische Theorie in unmittelbaren Zusammenhang mit den idealistischen Theorien der Manieristen des 16. Jahrhunderts, an deren Spitze Federigo Zuccaro 48 steht und die in der Kunst zwischen dem Hauptsächlichsten, dem 2

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rein geistigen, göttlichen Prinzip, das sie „innere Zeichnung" (disegno interno) nennen, und der materiellen Verkörperung dieses Prinzips oder der „äußeren Zeichnung" (disegno esterno) unterscheiden. Die Anschauung des Velazquez hebe sich von diesen Konzeptionen dadurch ab, daß der Künstler bei Anerkennung des Primats der geistigen Grundlage und deren Unabhängigkeit von der Realität gleichzeitig der handwerklichen Meisterschaft die gebührende Notwendigkeit beim Ausdruck und bei der Verwirklichung jener Grundlage in der Kunst zuweise. Für die Begründung seiner Deutung des Inhalts der „Spinnerinnen" nimmt der Autor zu der folgenden, in keiner Weise überzeugenden Interpretation des Hintergrundes Zuflucht: Die vier Athena umgebenden Frauengestalten sollen die vier Künste verkörpern, wobei unverständlich bleibt, warum eine von ihnen antik, die anderen jedoch in der Hoftracht des 17. Jahrhunderts gekleidet sind. Einige mit Tolnay polemisierende Autoren haben schon auf diese Unklarheit hingewiesen.49 Die Verkörperung jener Konzeption des Velazquez sieht Tolnay auch in den „Meninas", ausgehend von der Analyse des Augenausdrucks des Künstlers selbst, der die Modelle nicht zu sehen, sondern im Moment des Schaffens losgelöst von der Realität und in seine geistige Welt versunken zu sein scheint, und ausgehend auch vom Inhalt der beiden an der Wand hängenden Bilder, die „Athena und Arachne" und „Apollon und Mars" darstellen. Wenn man über die Einführung gerade dieser beiden Bilder in die Komposition nachdenkt und sie möglicherweise mit der mythologischen Grundlage der „Spinnerinnen", die nach den „Meninas" entstanden sind, zusammenbringt, so ist die Auslegung des Ausdrucks im Blick von Velazquez in seinem Selbstporträt völlig willkürlich. Die interessanteste Meinung über die Vielschichtigkeit der Kunst von Velazquez bringt K. M. Birkmeyer zum Ausdruck.50 Er unterstreicht zu Recht Velazquez' Interesse am Studium optischer Effekte, das sich einmal in der unmittelbaren Wiedergabe der Umwelt unter verschiedenen Bedingungen, als Daseinsform der Realität selbst ebenso wie als deren Wahrnehmung durch das menschliche Auge, äußere, zum anderen in der mittelbaren Wiedergabe der Umwelt durch die Darstellung im Spiegel oder in einem als Raumschmuck dienenden Gemälde. Um die sich verändernde optische Wahrnehmung der Form, des Lichts und der Farbe wahrheitsgetreu wiedergeben zu können, benutze Velazquez verschiedene künstlerische Mittel, darunter auch solche, die in einem gewissen Maße dem Impressionismus nahekommen. Bei Anwendung dieser verschiedenen formalen Mittel lege Velazquez außer dem direkten und unmittelbaren, von der Nachahmung der Natur abhängigen Sinn noch einen zweiten, geheimen in seine Werke hinein, der eine Seite von deren Inhalt ausmache. In Übereinstimmung damit ordne er die einzelnen Teile der Komposition in verschiedenen Abständen vom Auge des Betrachters an und gebe sie unter solchen Bedingungen der direkten oder indirekten Wahrnehmung und unter einer solchen charakteristischen Beleuchtung wieder, daß das unterschiedliche Verhältnis des Künstlers zu ihnen offenbar wird. Von dieser im großen und ganzen richtigen Ausgangsposition ausgehend, zieht der Autor folgende Schlüsse. Er behauptet, daß hinter der Darstellung verschiedenartiger optischer Aspekte in der Wahrnehmung der äußeren Welt eine Velazquez

Weltanschauung und künstlerische Methode des Velazquez angeblich eigene idealistische Konzeption über die Gleichberechtigung und selbständige Existenz mehrerer „Realitäten" anstelle einer einzigen verborgen sei; unter ihnen zeichne sich auch eine rein geistige ab, die ihrerseits religiöse und von der Phantasie geschaffene künstlerische und poetische „Realitäten" umfasse. Die Verkörperung der Vorstellung von einer Welt der religiösen Realität und die Gegenüberstellung dieser und der realen Welt sieht der Autor in dem Bild „Christus im Hause der Martha". Ein Bruch zwischen poetischer und materieller Realität eröffne sich dagegen nach seiner Meinung in den „Hilanderas". Außerdem könne man bei Velazquez eine mit Hilfe verschiedener Darstellungsmittel erreichte Abgrenzung der Welt der Dinge und der Lebewesen, der Welt des unmittelbar erblickten Menschen von der Welt, wiedergegeben im Spiegel (in der „Venus mit dem Spiegel" und in den „Meninas") oder im Gemälde (wiederum in den „Meninas") finden. Das ist die Grundlage für Birkmeyers Behauptung, daß Velazquez weder Impressionist noch Realist gewesen sei, obwohl er von den realistischen Tendenzen des 17. Jahrhunderts berührt wurde und er sie in einer breiteren und universaleren Art des Sehens verkörperte, als dies seinen Zeitgenossen möglich war. Wenn man anerkennt, daß Velazqüez in der Vielschichtigkeit seiner Kunst die idealistische Konzeption von der selbständigen geistigen Realität, die der materiellen Wirklichkeit gegenübergestellt wird, verwirklicht — ähnlich einigen spanischen Schriftstellern seines Jahrhunderts, wie Calderon —, so wird die Frage nach dem Realismus bei ihm wirklich äußerst zweifelhaft und strittig. Jedoch ist diese Auslegung des Schaffens von Velazquez nicht überzeugend. Man kann dazu nur kommen, indem man so prinzipiell verschiedene Dinge vermischt wie die Vorstellung Lope de Vegas oder Francisco de Quevedos von der Vielschichtigkeit der Realität einerseits und die Vorstellung Calderons andererseits.51 Die Gegenüberstellung verschiedener Seiten der Realität, der Welt und des Lebens ist für die spanische Literatur des 17. Jahrhunderts ebenso charakteristisch wie die damit verbundene Zweischichtigkeit des Inhalts und die Herausarbeitung verschiedenartiger künstlerischer Mittel zur Wiedergabe des Darzustellenden unter verschiedenen Aspekten. Doch ein Schriftsteller wie Calderon, der in der Spätzeit seines Schaffens unter dem Einfluß der feudalen Reaktion vom Realismus zur Mystik und zum Spiritualismus übergeht, verwandelt die Realität in einen Traum, in etwas Unglaubhaftes, Scheinbares, indem er die Tatsächlichkeit und Glaubwürdigkeit der jenseitigen, rein geistigen Welt verkündet.52 Dagegen betrachten die Vertreter der demokratischen, realistischen spanischen Literatur nur verschiedene Seiten und Aspekte des realen Lebens; sie tun dies vor allem auf sozialer Ebene, indem sie die Kontraste von Reichtum und Armut, Macht und Versklavung, Genießen und Leiden aufzeigen. Dabei stellen sie nicht nur die polaren Gegensätze der sozialen Kontraste gegenüber, sie sinnen auch darüber nach, daß das Absolute und Unantastbare der Grenzen zwischen diesen Kontrasten in Wirklichkeit etwas Scheinbares und Illusorisches ist, wenn man an sie vom Standpunkt der humanistischen Wertung dessen herangeht, was der Mensch sein soll und wozu er infolge der unvollkommenen und die Menschen verkrüppelnden Ordnung des gesellschaftlichen Lebens in der Wirklichkeit wird. Illusorisch und unrichtig werden von diesem Standpunkt aus die offiziellen Gesetze und die herr2*

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sehenden Regeln der Moral sowie das Urteil des gemeinen, spießbürgerlichen Verstandes. Von ähnlichen Ideen sind die Werke des Cervantes 53 und des Quevedo 54 durchdrungen. Damit scheint ihr Prinzip der Trennung der verschiedenen Welten und deren Gegenüberstellung im Widerspruch zum Prinzip des Calderon zu stehen. Man muß noch einmal unterstreichen, daß hier eine scharfe kritische Wahrnehmung der sozialen Widersprüche des Lebens von einer humanistischen und demokratischen Position aus vorliegt. Mit welchen Richtungen der spanischen Literatur dieser Zeit kann man das Schaffen von Velazquez in Verbindung bringen, wo kann man den Schlüssel zur Bestimmung des Ideengehalts und der künstlerischen Methode, in denen die Weltanschauung des großen Malers zum Ausdruck kommt, suchen? Mit dieser Frage haben sich auch schon die sowjetischen Kunstwissenschaftler befaßt. M. W. Alpatow grenzt in seinen Arbeiten über „Das Porträt des Olivares" und über die „Meninas" 55 noch nicht klar die Prinzipien der Sonderung der „verschiedenen Welten" und verschiedenen Aspekte des Lebens bei den Realisten einerseits und bei den Vertretern idealistischer Gedanken in der Literatur des 17. Jahrhunderts andererseits ab. Im Endergebnis entsteht eine unrechtmäßige Annäherung der Weltanschauung des Velazquez an die subjektivistischen Standpunkte der letzteren, zu ihnen nicht nur Calderon, sondern auch der Ideologe der spanischen reaktionären Aristokratie, Baltasar Gracian, gerechnet.56 In dem Artikel über die „Meninas" unterstreicht der Autor aber sehr richtig, daß trotz alledem „sowohl Cervantes als auch Velazquez niemals den unmittelbaren Zusammenhang mit der Realität, mit der objektiven Wirklichkeit verlieren" 57 . In seiner größeren Arbeit „Cervantes und Velazquez" bestätigt er später diese Bestimmung und Analyse des sozialen und demokratischen Prinzips der Sonderung der verschiedenen Welten und verschiedenen Sphären des Lebens im Schaffen von Cervantes und Velazquez.58 Gegen eine Annäherung des Schaffens des späten Calderon und des Velazquez spricht zu Recht T. Kapterewa, indem sie in allgemeinen Zügen das Schaffen des Künstlers mit der Entwicklung der fortschrittlichen Nationalliteratur der Epoche in Verbindung bringt. 59 Die Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse der Epoche im Werk von Velazquez betont auch K . M. Malitzkaja. Sie bemerkt jedoch, daß diese unabhängig vom Willen des Künstlers vor sich gegangen sei. Sie leugnet die Möglichkeit des bewußten Interesses an den sozialen Zuständen im Spanien des 17. Jahrhunderts, weil dort die Vorstellungen von der Unantastbarkeit der Königsmacht und der Unfehlbarkeit der katholischen Kirche herrschten. Die Autorin ist der Meinung, daß sogar die spanische satirische Literatur dieser Zeit bar der bewußten Widerspiegelung sozialer Erscheinungen sei und die Laster der Gesellschaft ausschließlich von moralisch-humanistischen Positionen aus geißele.60 Dieser Meinung kann man sich jedoch nicht anschließen. Im 17. Jahrhundert existierten bereits die sozialen Utopien von Thomas Morus und Tommaso Campanella, die auch in Spanien bekannt waren. Quevedo, der als Verteidiger der Interessen des Volkes, und zwar von sozialen, nicht von ethischen Positionen aus auftrat, nannte sich selbst „die Stimme des Volkes". Er schrieb über das Elend, über die Rechtlosigkeit und nicht nur über Laster, wie etwa über den Geiz und die Habgier.

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Natürlich konnte in dieser Zeit noch keine wissenschaftliche Vorstellung von der Klassenstruktur der Gesellschaft vorhanden sein. Aber es gab Vorstellungen von der sozialen Ungleichheit, von den sozialen Widersprüchen, von der Welt der Armut und Rechtlosigkeit einerseits und der Welt der Macht und des Reichtums andererseits. Diese Vorstellungen waren aber eingeschränkt, sie gingen konform mit der Treue zu den Prinzipien des Katholizismus und wurden nicht selten in Richtung auf einen christlichen Humanismus umgewertet in der Hoffnung auf die positive Rolle der Kölligsmacht, darauf, daß der Monarch sich der hohen Mission eines Vertreters der Ordnung und Gesetzlichkeit, eines Verteidigers gesamtnationaler Interessen und eines Beschützers der Kultur bewußt sei. So ist bei aller historischen Beschränktheit der sozialen Ideen für die fortschrittlichen Persönlichkeiten der Epoche charakteristisch, daß derartige Vorstellungen bei ihnen existieren, deren Einfluß auf die Literatur, auf die historische Wissenschaft und auf die sozialpolitischen Traktate keine Möglichkeit bietet, das Bewußte dieser Bestrebungen zu verneinen. Was kann man nun über die Gemeinsamkeiten des Schaffens von Velazquez und der spanischen Literatur jener Zeit in Hinsicht auf den Ideengehalt und die künstlerische Methode beider sagen? Wenn man an dieses Problem objektiv und ohne voreingenommene Ignorierung seiner sozialen Seite herangeht, kann es nur eine Antwort geben: Es existieren ohne Zweifel Verbindungen, Parallelen und Analogien zwischen der Kunst des Velazquez und den Werken der zeitgenössischen Vertreter der fortschrittlichen realistischen und demokratischen Literatur dieser Epoche. Das starke Interesse am Menschen der damaligen Zeit sowie am gesellschaftlichen Leben, das Begreifen der diesem Leben eigenen Kontraste und die Kritik an dessen Unvollkommenheiten von humanistischen und demokratischen Positionen aus, die Gegenüberstellung der verschiedenen sozialen Welten, das Interesse am einfachen Volk und das Hauptgewicht der. Sympathien auf der Seite seiner Welt und der Welt jener, die den allgemeinmenschlichen Idealen nahestehen und für diese kämpfen, alles das finden wir nicht nur bei Cervantes oder Quevedo, sondern auch bei Velazquez. Es genügt, an die Porträtserie des letzteren zu erinnern, die auf der einen Seite die Mitglieder der Königsfamilie und Vertreter der herrschenden Klasse zeigt, auf der anderen Seite aber auch Narren und Bettler. Solche Parallelen kann man trotz aller Unterschiede in den spezifischen Mitteln der Malerei und der Literatur zwischen der Art der Behandlung der Gestalten und der Form in dem einen wie dem anderen Falle ziehen. Das Prinzip der Darstellung typischer Charaktere in ihrer individuellen Vielfalt und unter typischen Bedingungen ihrer Existenz erfährt hier wie dort eine logische und hohe Entwicklung. Die Darstellungsmittel stützen sich auf das Studium der realen Welt und auf deren durchdachte, schöpferische und wahre Widerspiegelung. In breitem Maße werden solche künstlerischen Mittel angewandt wie die Gegenüberstellung und paradoxe Annäherung der Kontraste, die Vielschichtigkeit der Thematik und des Ideengehalts, die Einführung der verschiedenen unmittelbaren und mittelbaren Aspekte, d. h. der getreuen und scheinbaren oder trügerischen Wahrnehmung der Welt, sowie die Allegorie, die den Hauptgedanken chiffriert und damit gefährliche Gedanken ungefährlich ausdrückt.

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Natürlich widerspricht alles das nicht der realistischen künstlerischen Methode. Nur eine enge und ungerechtfertigte Auffassung vom Realismus als Ersetzen der Realität 61 oder Fehlen der Ideale in der Kunst 62 kann zu Zweifeln am Realismus von Velazquez sogar bei jenen Vertretern der bürgerlichen Kunstwissenschaft führen, die nicht versuchen, dem großen spanischen Künstler einen religiösen Spiritualismus aufzuzwingen von der Position des modernen Neothomismus aus, der — besonders im faschistischen Spanien — bemüht ist, die toten Prinzipien der scholastischen Theologie Wiederaufleben zu lassen. Das Verdienst der sowjetischen Kunstwissenschaft besteht in der Bestätigung, Konkretisierung und Entwicklung der Vorstellungen von Realismus, Humanismus und Demokratismus als den für das Schaffen des großen spanischen Malers charakteristischen Grundzügen. 63 Das bisher Geleistete reicht jedoch bei weitem nicht aus zur breiten Erfassung des Velazquez'schen Werkes, zum tiefen Eindringen in dessen Sinn, zur richtigen Beurteilung der wahren Bedeutung und zur Verteidigung dieses Werkes vor den Versuchen des Revisionismus und einer unwahren Auslegung von reaktionären Positionen aus. Anmerkungen Die Übersetzung aus dem Russischen besorgten Ursula Feist und Gerhard Hallmann. 1

F . Pacheco: Arte de la pintura. In: F . J . Sánchez Cantón: Fuentes literarias para la historia del arte español. Madrid 1 9 3 3 , Bd. II, S. 1 3 8 , 169, 1 9 1 .

2

F . Quevedo: Obras, Bd. III, S. 3 1 7 . F . J . Sánchez Cantón: a. a. O., Madrid 1936, Bd. I V , S. 1 5 1 . A . Palomino: Parnaso español pintoresco laureado. In: F . J . Sánchez Cantón, a. a. O., Bd. I V , S. 1 6 7 - 1 6 8 .

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Ebenda, S. 145. J . A . Ceán Bermúdez: Diccionario historico de los más ilustres profesores de las bellas artes en España. Madrid 1800, Bd. I V , S. 156/57. ' Ebenda, S. 1 7 4 — 1 7 6 . 8 Ma&repa ncKyccTBa 06 HcityccTBe [Meister der Kunst über die Kunst], Moskau-Leningrad 1936, Bd. II, S. 455. 9 Ebenda. Moskau-Leningrad 1 9 3 7 , Bd. I V , S. 2 5 1 . 10 I. N . Kramskoi: ÜHCbMa [Briefe]. O G I S I S O G I S 1 9 3 7 , Bd. II, S. 3 6 - 3 7 . 6

11

Xy^OHtecTBeHHoe HacJiescTBO. PenHH [Künstlerisches Erbe. Repin], Moskau-Leningrad 1948, Bd. I, S. 516.

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Ebenda, S. 506. W . I. Surikow: ÜHCbMa [Briefe]. Moskau-Leningrad 1948, S. 7 3 .

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MacTepa acKyccTBa 06 ncKyccTBe [Meister der Kunst über die Kunst]. Bd. I V , S. 2 1 4 .

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J . Meier-Graefe: Spanische Reise. Berlin 1 9 1 0 . A . de Beruete: Velazquez. Paris 1898, S. 1 5 7 .

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C. Justi: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bonn 1888, Bd. I — I I ; neue Ausgabe Berlin 1936. (Im folgenden stützen sich die Angaben auf diese Ausgabe.)

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Ebenda, S. 92 — 1 1 5 .

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Ebenda, S. 105.

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17

A. L. Mayer: Geschichte der spanischen Malerei. Leipzig 1913, Bd. I—II, 2. Aufl. Leipzig 1922. A. L. Mayer: Velazquez. Berlin 1924. 21 MacTepa ncKyccTBa 06 ncKyccTBe [Meister der Kunst über die Kunst], Moskau 1934, Bd. III, S. 86. 22 A . L. Mayer: Velazquez, S. 140. 23 M. W. Alpatow: „Memmu" Benacueca. BTIOHH no HCTOPHH oanaAHo-eBponeöcKoro HCKyccTBa [„Las Meninas" von Velazquez. Studien zur Geschichte der westeuropäischen Kunst], Moskau-Leningrad 1939, S. 1 1 3 . K . M. Malitzkaja: HcnaHCKan JKHBOimcb X Y I H X Y I I BeKOB [Spanische Malerei des X V I . und X V I I . Jahrhunderts]. Moskau 1947, S. 149. 24 R. A. M. Stevenson: The art of Velazquez. London 1902. (Ein spezielles Kapitel in diesem Buch ist den „Lehren des Impressionismus" gewidmet); H. Kehrer: Velasquez. München 1920; P. Claudel: L'œil écoute. Paris 1946, S. 78ff.; H. Wölfflin : Kleine Studien. Basel 1946, S. 126ff. 25 E . Jiménez Caballero : E l Genio de España. Madrid 1932 ; N . J . Tultschinskaja: HfleonorHH HCiiaHCKoro aiiiH3Ma. ®njioco$CKHe 3aniiCKH [Die Ideologie des spanischen Faschismus. Philosophische Aufsätze]. Ausgabe der Akad. d. Wiss. der UdSSR, Bd. II, 1948. 26 J . Ortegá y Gasset: España invertebrada. Ed. Calpe 1921. 2 ' J . Ortega y Gasset: Velazquez. Bern 1943. 28 F. J . Sánchez Cantón: La espiritualidad de Velazquez. In: Revista de la Universidad Literaria de Oviedo, 1943. 29 E . Lafuente Ferrari: Velazquez. London 1943. 30 D. Angulo Iñiguez: Las Hilanderas. In: Archivo español de arte 1948, Nr. 81. 31 M. S. Soria: Reszension von E . Lafuente Ferrari „Velazquez". In: Art bulletin 1945. 32 Text aus: Libro de las fundaciones. Escrites de Santa Teresa. Ed. Biblioteca de Autores Españoles, Bd. LIH. 33 A. L. Mayer: Velazquez und die niederländischen Küchenstücke. In: Kunstchronik und Kunstmarkt 1919. 34 M. S. Soria: An unknown early painting by Velazquez. In: Burlington Magazine 1949. 35 Ebenda, S. 127. 36 A . Palomino: Museo pictorico y escala optica. Madrid 1724, Bd. III, S. 323. 37 Siehe Anm. 34, S. 127—128. 38 F. J . Sáncez Cantón: Como vivia Velázquez; inventario descubierto par d. F. Rodriguez Marin. In: Archivo español de arte 1942. 39 E . du Gué Trapier: Velazquez. New York 1948, S. 381. 40 Ovid : Metamorphosen, Buch VI. 41 Siehe Anm. 30. 42 Museo del Prado, Catálogo de les cuadros. Madrid 1949, S. 683. 43 C. Justi, a. a. O. S. 718. 44 E . du Gué Trapier, a. a. O. S. 140. 45 W. S. Kemenow: PeaJitHOCTb H MH B KapTHHe „IIpHXH" [Realität und Mythos im Bild „Die Spinnerinnen"]. In: Iskusstwo i960, Nr. 8. 46 E . du Gué Trapier, a. a. O. S. 350. 47 Ch. de Tolnay : Velazquez' Las Hilanderas and Las Meninas. In : Gazette des Beaux Arts 1949. 48 F. Zuccaro: L'idea de-scultori, pittori e architetti. Turin 1607.

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T. P. Snamerowskaja K . M. Birkmeyer: Realism and realities in the paintings of Velasquez. In: Gazette des Beaux Arts 1958, S. 74. Ebenda. Ebenda, S. 77. Siehe auch die Spätwerke Calderons, wie „Das Leben ist ein Traum". K . N. Dershawin: CepBaHTec [Cervantes]. Moskau 1958. K . N. Dershawin: ®paHCHCKO « E KeBe.no H „McTopHH JKH3HH npofiROxn".