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German Pages [313] Year 2016
Dennis Badenhop
Praktische Anschauung Sinneswahrnehmung, Emotion und moralisches Begründen
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Im Vergleich mit den Naturwissenschaften, in denen es mutmaßlich stets um Beobachtungen und Experimente geht, scheint die Ethik ein gespaltenes Verhältnis zur Empirie zu unterhalten. Dieses Buch argumentiert gegen diese vorherrschende Auffassung, indem es zeigt, dass wir tatsächlich sehen können, was gut, richtig oder gesollt ist, genauso wie wir die meisten anderen Dinge sehen können, und zwar sowohl im analogen als auch im buchstäblichen Sinne. Unter Anknüpfung an zeitgenössische Debatten in der Metaethik, der Wahrnehmungstheorie und der Emotionstheorie wendet sich diese Arbeit damit letztlich gegen den epistemologischen Dualismus von ethischer und nicht-ethischer Sinneswahrnehmung und den psychologischen Dualismus von Anschauung und Emotion.
Der Autor: Dennis Badenhop promovierte in Philosophie an der Humboldt-Universität. Nach Forschungsaufenthalten an der Columbia University und der New York University ist er seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.
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Praktische Anschauung Sinneswahrnehmung, Emotion und moralisches Begründen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 61
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48714-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80841-2
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Zu komparativer Methode und praktischer Anschauung
1.1. Komparative Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Begriff von Ethik und Naturwissenschaft . . . . . . . . . 1.3. Egalitarismus der empirischen Erfahrung . . . . . . . . .
9 17 18 27 29
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Sinneswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.
Wahrnehmungstheorien und perzeptiver Egalitarismus Perzeptiver Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perzeptive Berechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs I: Reliabilismus und Behaviorismus . . . . . . Exkurs II: Gegenstandsbezug . . . . . . . . . . . . . . Das Mysterium der praktischen Anschauung? . . . . .
3
Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Testbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentum Crucis und Konvergenz . Ästhetische Kontemplation . . . . . . . . Laborexperimente . . . . . . . . . . . . Ethik, Politik und praktische Anschauung
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35 37 54 85 135 148 153
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159 170 180 184 191
4 Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie 4.2. Emotion als einfache praktische Anschauung . . . . . 4.3. Zur Integration des Gefühls . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.4. Generalisierung der Anschauungsthese und emotionale epistemische Berechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Kognitivität und Nonkognitivität von Emotionen . . . . .
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Zum erkenntnistheoretischen Egalitarismus . . . . . . . 289
Literaturverzeichnis
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Vorwort
Nach längerem Überlegen habe ich mich doch entschlossen, diesem Buch ein Vorwort voranzustellen. Der wesentliche Beweggrund dafür ist, dass ich befürchte, dass beim Leser eine detaillierte Auseinandersetzung der in ihm enthaltenen Argumentation schon allein dadurch verhindert werden könnte, dass von vornherein Missverständnisse über ihre Ziele und Voraussetzungen bestehen. Die Debatte über Grundlagenfragen der Moral, die im angelsächsischen Raum seit mindestens einigen Jahrzehnten unter dem Titel ›Metaethik‹ geführt wird, hat eine Vielzahl komplexer, theoretischer Entwürfe und ein Dickicht von Terminologie hervorgebracht. Da jener Textkorpus hierzulande noch relativ unbekannt und ungelehrt ist, kommt der deutsche Ethikstudent, der ein Interesse an derartigen Grundlagenfragen seiner Disziplin ausbildet, schnell in die Lage, sich mit beträchtlicher Mühe und weitgehender Exklusivität über mehrere Jahre mit diesem Thema zu beschäftigen sowie ›subinterdisziplinär‹ mit relevanten Bereichen der Semantik, der Psychologie, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik, wenn er außerdem die Absicht hat, irgendwann etwas Sinnvolles zur Materie beizutragen. In dieser Lage habe ich mich zu Beginn der Arbeit an meiner Dissertation wiedergefunden. Das jetzige Ergebnis ist, dass, während ich ursprünglich noch der naiven Vorstellung erlegen war, vielleicht am Ende eine philosophische Brücke bauen zu können, ich nun den starken Eindruck habe, stattdessen terminologisch ans andere Ufer geschwommen und deshalb unfähig zu sein, den metaethisch Unvorbelasteten in angemessener Zeit und inklusive aller nötigen Hintergedanken zu erklären, worum es geht. Dass sich dieser Effekt einstellt, ist sicherlich auch dem internen Pluralismus des Fachs geschuldet. Meine Einschätzung ist, dass auch die vergangenen Jahre keinen höheren Grad an metaethischem Konsens hervorgebracht haben. Anstelle dessen scheint sich bei nicht wenigen Autoren der leicht resignierte – und keineswegs ungerechtferPraktische Anschauung
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Vorwort
tigte – Verdacht einzuschleichen, dass die Metaethik vielleicht insgesamt auf einem Fehler beruht oder zumindest viele ihrer traditionellen, begrifflichen Unterscheidungen an der Sache vorbeigehen. Unbescholtene Philosophen, die jene Disziplin immer schon mit einer gewissen Skepsis beäugt haben, würden den darin enthaltenen Vorschlag, das ganze Projekt zu beenden, wahrscheinlich ohne Umschweife begrüßen. Aber unter Umständen können sie es auch nachvollziehen, wenn man doch wenigstens noch so lange am Gespräch teilnehmen möchte, bis der zugrundeliegende Verdacht zu einer stichhaltigen Vermutung gereift ist. Jedenfalls möchte ich dies auf den nachfolgenden Seiten tun, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis von praktischem Denken und empirischer Erfahrung. Wie ist es eigentlich: Können wir mitunter buchstäblich sehen, was gut, richtig oder gesollt ist? Dass mich im Folgenden gerade diese Frage umtreibt, lässt sich zunächst darauf zurückführen, dass dieses Thema in der Metaethik sowie anderswo recht stiefmütterlich behandelt wird und es schön ist, wenn man – wie es ein Kollege ausgedrückt hat – in der Philosophie auf einen einigermaßen ›unbestellten Acker‹ trifft. In den meisten einschlägigen Werken stehen handlungstheoretische, semantische oder metaphysische Erörterungen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wo es um Rechtfertigung geht, ist das Ziel meist das Auffinden von Belegen für abstrakte Prinzipien der Moral. Diese Lücke aber verstärkt nur die Neugier auf eine systematische Darstellung ethischer Empirie. Zudem, und dies ist mein zweites Motiv, scheint diese Lücke bei vielen Autoren wesentlich dadurch bedingt, dass mit skeptischem oder kontrastivem Impetus von einer fundamentalen Differenz theoretischer und praktischer Vernunft ausgegangen wird, welche die Unmöglichkeit ethischer Erfahrung als Trivialität erscheinen lässt. Letzteres ist aber bereits auf den zweiten Blick zweifelhaft und damit alles andere als eine Plattitüde. Meine aus jenen Perspektiven überraschende Antwort lautet jedenfalls auf die knappste Formulierung zusammengepresst, dass ceteris paribus der Erfahrungsbezug der Ethik in den relevanten und dies heißt: psychologischen und rechtfertigungstheoretischen Hinsichten dem Erfahrungsbezug der (Natur-)Wissenschaften gleicht. Oder: Unter ansonsten homogenen Bedingungen können wir sehen, was gut, richtig oder gesollt ist, genauso bzw. in dem Maße wie wir gewöhnliche Dinge sehen können.
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Vorwort
Wie ich jedoch im einleitenden Kapitel 1 erkläre, hat das ›ceteris paribus‹ im vorletzten Satz zu bedeuten, dass diese zentrale Behauptung bei mir konträr zu den gerade erwähnten Positionen unter der Präsupposition einer fundamentalen Homogenität von theoretischer und praktischer Vernunft steht, sofern diese nicht die empirische Erfahrung berührt, und ich erst auf dieser Grundlage für bestimmte Thesen jenen Bereich betreffend argumentiere. Wenn man sich, wie sicherlich viele, dieser vielteiligen Voraussetzung nicht anschließen kann, mag man in meinem Ansatz ein frühes Schuldeingeständnis entdecken oder diese Abhandlung als kontrafaktische Spielerei abtun wollen. Aber dieser Schluss wäre voreilig. Denn man muss sich bei der anvisierten komparativen Betrachtung zunächst auf den Standpunkt der Homogenität stellen, selbst wenn man das Ziel hat, ihn möglichst schnell wieder zu verlassen. Dies ergibt sich schlicht daraus, dass begriffliche Grenzziehungen, um vernünftig zu sein, nicht-willkürlich und daher in der Sache begründet sein müssen. Was nun die Möglichkeit des Letzteren angeht, ist es aber gerade das Ergebnis dieser Studie, dass sich ein dafür notwendiges unabhängiges Argument nicht aus dem Charakter empirischer Erfahrung ergibt. Dies ist, um ein späteres Beispiel aufzugreifen, z. B. auch in historischer Perspektive interessant, insofern die Logischen Empiristen zu Beginn des 20. Jh., also nah an den Ursprüngen der zeitgenössischen Metaethik, glaubten, mit dem empiristischen Sinnkriterium gerade im Kontext der Empirie ein solches unabhängiges Argument gefunden zu haben und damit einen moralskeptischen Kontrast zwischen Ethik und Naturwissenschaft etablieren zu können. Bei dem Ausbuchstabieren der Homogenitätsannahme in diesem ersten Kapitel geht es also letztlich nur um eine methodologisch korrekte Schärfung des Fokus: Selbst wenn man komparativ über die Möglichkeit ethischer Sinneswahrnehmung schreiben möchte, merkt man rasch, dass man beispielsweise genaugenommen nur dann von der Repräsentationalität moralischer Wahrnehmungsinhalte sprechen darf, wenn man annimmt, dass es in moralischer Hinsicht etwas zu repräsentieren gibt, nur dann von moralischer Urteilsberechtigung, wenn das moralische Urteil tatsächlich ein solches ist und nicht etwas anderes, wie expressivistische Semantiken behaupten etc. Diese nicht unbeträchtliche Reihe von Prämissen auch explizit zu machen, ist, denke ich, ein annehmbares methodologisches Kriterium für Wissenschaftlichkeit. Ihre Aufnahme als Prämissen im Rahmen eines begrenzten Schriftumfangs ist wiederum Ausdruck der Entscheidung für eine Praktische Anschauung
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Vorwort
sorgfältige Betrachtung eines Teils und gegen die oberflächliche Betrachtung des Ganzen. Neben diesem Missverständnis über etwas, was diese Arbeit einschließt, nämlich bestimmte Vorannahmen über das Verhältnis von ethischer und (natur-) wissenschaftlicher Vernunft, würde ich gerne einem Missverständnis von etwas zuvorkommen, dass sie ausschließt. In Kapitel 2 wird eine komparative Erkenntnistheorie der Sinneswahrnehmung entwickelt. die sich aus zwei großen Argumentationsschritten zusammensetzt. Erst geht es mir um den Nachweis, dass moralischer Wahrnehmungsinhalt keinesfalls problematischer (oder unwahrscheinlicher) ist als naturwissenschaftlicher Wahrnehmungsinhalt, dann um den Nachweis, dass außerdem die Rekonstruktion einer epistemischen Berechtigung zu einem moralischen Urteil auf der Grundlage solchen Inhalts keine speziellen, metaethischen Probleme kreiert. Dabei ist es mir nun wichtig, dass diese zwei Hauptthesen nicht als Versuch einer ›Begründung der Moral‹, wie man dieses Projekt häufig nennt, missverstanden werden, die sich von anderen derartigen Versuchen dadurch unterscheidet, dass er allein auf Empirie fußt, sonstige ›Quellen‹ der Erkenntnis aber als irrelevant ausschließt. Wie hingegen ihr Titel anzeigt, ist dies eine Arbeit über moralisches Begründen, nicht eine über ›Moralbegründung‹. In begründungstheoretischer Perspektive kommen für geglaubte evaluative, deontische oder normative Überzeugungen je nach Inhalt, Abstraktionsgrad und epistemischer Verfassung des betroffenen Individuums rationale Grundlagen verschiedener Art exklusiv oder disjunktiv in Frage: Inferenz, Reflexion, Dialog, Intuition. Dass es im Folgenden lediglich um den intuitiven Teil des moralischen Begründens und davon auch nur um die empirische Komponente geht, bedeutet also mitnichten ein abweisendes Urteil über Möglichkeit, Relevanz oder Umfang der anderen Weisen, rational zu einem praktischen Urteil zu kommen. Es bedeutet nur, dass dies nicht mein Thema ist. Gleiches lässt sich im Übrigen umgekehrt über das Verhältnis einiger Autoren zu meiner Überlegung behaupten. Vielleicht ist manchem noch Kants häufige Bekräftigung im Ohr, dass die Moral kein empirisches Fundament haben kann. Aber Kant geht es in weiten Teilen seines Werkes darum, ein abstraktes Moralprinzip zu eruieren und transzendentalphilosophisch zu durchleuchten, über das Verhältnis des praktischen Denkens zur Empirie finden sich bestenfalls sporadisch Kommentare. Deshalb wäre es prima facie falsch, hier einen 12
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Gegensatz zu vermuten. Opposition ist tatsächlich nur zu den Auffassungen intendiert, die implizit oder explizit einen Sonderstatus moralischer Empirie behaupten. Dem über Sinneswahrnehmung folgt ein Kapitel über ›Beobachtung‹ (3). Die Erörterung der Beobachtung als eine reglementierte und zweckgerichtete Form der sinnlichen Anschauung findet gesondert statt, um möglichst kontrastreich zu verdeutlichen, dass die dort berührten Punkte nicht mehr die epistemologischen Funde berühren, sondern bereits wissenschaftstheoretischer Natur sind. Beispielsweise spielt die Frage der Öffentlichkeit des Wahrgenommenen vornehmlich im Kontext des intersubjektiven, empirischen Tests von Theorien eine Rolle, hat aber keinen generellen Einfluss darauf, ob ein einzelnes Individuum in einer gegebenen Situation eine perzeptive Berechtigung zu bestimmten Urteilen besitzt. Wie sich zeigt, ist auch die Vorstellung moralischer Beobachtung nicht absurd. Es sind keineswegs konzeptionellen Gründe, die gegen sie sprechen. Gegenüber der generellen passiven Verstandestätigkeit im Rahmen der moralischen Sinneswahrnehmung sind es pragmatische, vor allem aber genuin moralische Gründe, die gegen die aktive Praxis moralischer Beobachtung im engsten Sinne sprechen, weil diese durch die Tatbestände der Absichtlichkeit und der Manipulation Instrumentalisierungsverbote verletzt. Das heißt, es ist unmoralisch, moralisch zu beobachten. Die Beschäftigung mit ethischen Aspekten der Sinneswahrnehmung führt ohne viele Umwege zum Kontakt mit der Emotionstheorie. In Kapitel 4 argumentiere ich für die psychologische Identität von praktischer Anschauung und ›Emotion‹. Worauf die zeitgenössische Emotionstheorie somit meiner Ansicht nach hinausläuft bzw. hinauslaufen sollte, ist schlicht eine Detailbeschreibung entweder der Sinneswahrnehmung praktischen Inhaltes oder in nicht sinnlichen Fällen dessen, was ich später ›komplexe‹ praktische Anschauungen nenne. Anderweitige Auffassungen resultieren m. E. aus einer Nichtberücksichtigung einschlägiger, interner Differenzierungen der Wahrnehmungstheorie. Die Emotionstheorie bildet also einerseits die psychologische Kehrseite der epistemologischen Betrachtung im zweiten Kapitel, erweitert andererseits aber die Überlegung um eine weitere Form praktisch-intuitiver Einsicht.
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Da, wie eingangs erwähnt, alle diese Resultate unter dem weitgehenden Vorbehalt stehen, dass nicht nur lokal sondern global von einer Gleichförmigkeit ethischer und (natur-) wissenschaftlicher Vernunft ausgegangen werden kann, skizziere ich im abschließenden 5. Kapitel noch, wie sich die Themen dieser Abhandlung methodisch in die Verteidigung einer solchen globalen Gleichförmigkeitsthese fügen würden. Auch den dortigen Ausführungen wird man ansehen können, dass sie in enger Anlehnung an die Gegenwartsphilosophie den Bezug auf klassische Autoren völlig auslassen. Da dies so ist, kann es vielleicht nicht schaden, einmal hervorzuheben, dass damit keine Geringschätzung des stärker historisch verwurzelten Nachdenkens verbunden ist. Gewiss könnte man einige wichtige Gedanken dieser Untersuchung in der Philosophiegeschichte verorten oder andererseits die Punkte bestimmen, wo theoretische Fehlentwicklungen begonnen haben. Nichtsdestotrotz kann man eventuell auch verstehen, dass ein vielschichtiges metaethisches Jetzt durch die Notwendigkeit, sich primär unter zeitgenössischen Autoren zu verorten, eine merkliche Sogwirkung entfalten kann und dass häufige historische Exkurse mit den einhergehenden größeren Interpretationsschwierigkeiten die Darstellung noch weiter verkomplizieren können. Daneben kann man meine abschließende Skizze eines umfassenderen Begründungsprogramms auch als Ausblick darauf begreifen, was ich mir mit einigem Übereifer einmal als Raster zur Bearbeitung vorgelegt habe. Die vorliegende Schrift hingegen ist auch Ergebnis meines Wechsels von Selbstüberschätzung zu Selbstbescheidung sowie dem intensiv empfundenen Wunsch, trotz großzügiger Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes nicht den säuerlichen Treppenwitz nachzuleben, bei dem am Ende des Geldes noch soundso viele Jahre übrig sind. Zu guter Letzt möchte ich noch einige persönliche Danksagungen in chronologischer Ordnung vornehmen. Ich danke zunächst Christopher Peacocke. Ohne die Gespräche mit ihm und die Beschäftigung mit seinem Werk während meines Forschungsaufenthalts an der Columbia University 2010 wäre es mir wohl nie gelungen den fragmentierten Haufen von Gedanken zu Metaethik und Sinneswahrnehmung zu sortieren. Logi Gunnarsson bin ich verbunden für die detaillierte und kritische Kommentierung einer früheren Version dieses Manuskripts, die mich zu einer weiteren Überarbeitung angeregt und die dadurch, denke 14
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ich, zu einer weiteren Verbesserung von Stil und Übersichtlichkeit geführt hat. Micha Werner, Hanno Boller und Neeltje Rohlfes haben mir mit zahlreichen Korrekturvorschlägen zu Teilen der Arbeit geholfen. Dank gebührt schließlich meinen Freunden und Verwandten, die mich gerade in der Endphase des Schreibens sehr unterstützt haben.
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1 Zu komparativer Methode und praktischer Anschauung
In dieser Abhandlung geht es um das Nachdenken darüber, was zu tun ist. Es geht aber ebenso um das Nachdenken über die Gegenstände, die wir gemeinhin als diejenigen der Naturwissenschaften zu identifizieren vermögen. Diese beiden Bereiche der Deliberation möchte ich hinsichtlich Ihres Verhältnisses zur empirischen Erfahrung betrachten. Die Beweggründe für ein solches Projekt sind schnell gefunden: Die Naturwissenschaften werden üblicherweise als verlässlich auf empirische Erfahrung, d. h. zuerst und zumeist auf Sinneswahrnehmung gegründet vorgestellt, und das wäre erkenntnistheoretisch offenbar ein günstiger Tatbestand. Das praktisch-moralische Denken hingegen wird üblicherweise als nicht so gegründet vorgestellt, sondern vielmehr als auf die eine oder andere Art abhängig von der Emotionalität, den Leidenschaften, den Affekten, und dies scheint allen beteiligten Ahnungen nach erst einmal sehr ungünstig, was auch immer wir sonst noch Positives über das moralische Begründen sagen mögen. Es kann daher nicht schaden, einmal im Detail zu prüfen, ob wir wirklich zu akzeptieren gezwungen sind, dass die Moral in diesem speziellen Vergleich so dürftig abschneidet. Tatsächlich möchte ich nämlich behaupten, dass dies keineswegs so ist, jedenfalls dann nicht, wenn wir auch ansonsten eine gewisse Gleichförmigkeit dieser beiden Bereiche des Denkens annehmen. Die zentrale von mir vertretene Auffassung wird die These sein, dass ethisches und naturwissenschaftliches Urteil – ceteris paribus – auf die gleiche Weise durch empirische Erfahrung begründet sein können. Diese zentrale Behauptung lässt sich in konkrete Thesen über Sinneswahrnehmung und Emotion auffächern. Bevor ich aber zu diesen komme, möchte ich einleitend einige Dinge zu meinem Verständnis von Metaethik, ihrer Methode und, damit eng verbunden, über die Einbettung des hiesigen Problems in das metaethische Problemfeld im Allgemeinen sagen.
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1.1. Komparative Erkenntnistheorie Wovon handelt eigentlich die Metaethik? Ich meine, dass wir auf diese Frage die treffendste Antwort geben, wenn wir sagen, dass sie zu Formen des komparativen Skeptizismus Stellung nimmt, die sich speziell auf das ethische Denken richten. Solche Formen gibt es viele. Dies lässt sich schon an den häufig anzutreffenden Vorstellungen ersehen, dass das moralische Urteil nur auf bloßer Konvention, idiosynkratischem Geschmack, kultureller Prägung beruht oder dass sein Hauptzweck vielleicht einzig der Perpetuierung von Machtverhältnissen dient. Eher in philosophische Kreise gehören die mittlerweile klassischen Bedenken, dass Werte und Normen ontologisch nicht in die Welt passen, dass wir diese – selbst wenn – nicht erkennen könnten und dass uns spätestens der chronische Dissens in moralischen Fragen und die spieltheoretisch fundierte Evolutionsbiologie dies demonstrieren. Zu diesen und anderen Bedenken kann man sich auf verschiedene Weise positionieren. Eines ihrer Merkmale sollte aber unstrittig sein: In keinem der genannten Fällen ist die ethische Skepsis ein Unterkapitel eines generellen Skeptizismus. Dieser würde die Möglichkeit von Wahrheit, Begründung oder Wissen per se bestreiten und daher natürlich auch die von Wahrheit, Begründung oder Wissen in der Moral. In unserem Fall dagegen werden stets viele Dinge über Herkunft, Machtverhältnisse, Evolution, Meinungsverschiedenheiten, vor allem aber über korrektes, ›normales‹ Denken als gewusst vorausgesetzt. Erst auf dieser Grundlage wird dann im Vergleich gefolgert oder befürchtet, dass etwas falsch ist am moralischen Urteil, dass es im Gegensatz zu jenen Urteilen gewissen Standards nicht genügt oder sogar, dass es diesen Standards nicht genügt, weil jene Urteile diesen Standards genügen, so dass im Konfliktfall die moralischen das Nachsehen haben. Dieser kurzen Schilderung können wir, denke ich, zwei Dinge entnehmen. Zum einen erkennen wir, dass das metaethische Grundproblem sowohl ein sehr altes, wie auch ein sehr alltägliches philosophisches Problem darstellt, welches die fundamentale Skepsis gegenüber der Moral berührt. Zum anderen lässt sich an dieser Stelle die höchst wichtige Einsicht gewinnen, dass jede Auseinandersetzung mit dem metaethischen Problem wesentlich in einem Vergleich mit einer zweiten Klasse paradigmatischer Urteile bestehen wird und dass dieser Ver-
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gleich den Endzweck hat, bestimmte komparative Thesen über das moralische Denken zu stützen oder zu verwerfen. 1 Selbstverständlich wird es in diesem Vergleich aber nicht um beliebige Eigenschaften des moralischen Denkens gehen. Vielmehr sind aus philosophischer Perspektive nur die Eigenschaften interessant, die auf die eine oder andere Weise den Erfolg von Deliberation anzeigen, die, anders gesagt, im weitesten Sinne erkenntnistheoretisch bedeutsam sind. Für diese Eigenschaften möchte ich daher den Titel der erkenntnistheoretisch fundamentalen Kategorien festlegen und den Charakter des intendierten Vergleichs als eine komparative Erkenntnistheorie ethischer Urteile mit einer Klasse paradigmatischer Urteile beschreiben. Welches aber sind die erkenntnistheoretisch fundamentalen Kategorien, mit denen wir paradigmatische Urteile beschreiben? Nun, über ein herkömmliches Urteil können wir normalerweise Folgendes sagen: Ein Urteil ist semantisch betrachtet, sofern die Gebrauchsbedingungen der eingesetzten Begriffe nicht extrem missachtet wurden, sinnvoll. Der Sprechakt der ernsthaften Äußerung dieses Urteils hat den Charakter einer Behauptung und diese ist, wie das Urteil selbst, im Optimalfall wahr, kann aufgrund der damit angezeigten Irrtumsmöglichkeit aber auch falsch sein. Wenn es aber so ist wie ein Urteil, dass p, sagt, dann ist es metaphysisch eine Tatsache, dass p, und diese Tatsache wird durch das Urteil korrekt repräsentiert. Ebenso werden dann die im Urteil erwähnten Entitäten existieren. Epistemologisch legitim wird ein solches Urteil, indem es korrekt begründet wird und es ist korrekt begründet, wenn es gemäß allgemeiner epistemischer Normen (der Logik, der Anschauung, des Gesprächs) durch eine korrekte inferentielle oder nicht-inferentielle Transition zustande kommt. In diesem Fall ist das Urteil epistemisch rational und es ist ein Fall von Wissen, wenn es wahr ist. Psychologisch entspricht dem herkömmlichen Urteil zudem die Ausbildung einer Überzeugung, deren mentale Genese auf anderen Überzeugungen, Anschauungsinhalten, wie die der visuellen Sinneswahrnehmung, und/oder Erinnerungen fußt, auf Zuständen die wir lose ›kognitiv‹ nennen können. Schließlich sollten wir noch hinzufüObwohl dieser in Beiträgen oft nicht explizit gemacht ist, lässt sich dieser zentrale methodologische Punkt doch nahezu jedem kanonischen Text zur Metaethik entnehmen. Diese Aussage steht daneben im Einklang mit dem bekannten Übersichtsartikel von Darwall, Gibbard und Railton (1992: 128 f.).
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gen, dass wir in pragmatischer Hinsicht von einem Urteil im Allgemeinen erwarten, dass es irgendetwas Neues, Interessantes, respektive Irreduzibles ausdrückt, das nicht auf andere Weise, in anderem Kontext besser auf den Punkt gebracht wurde. Soweit ich sehe, liefern die im letzten Absatz kursiv gesetzten Ausdrücke eine vollständige Liste der relevanten epistemologischen Kategorien von Urteilen, mit denen allgemein positive oder negative Charakteristika von Deliberation beschrieben werden können und anhand derer sich bislang psychologische, semantische, metaphysische oder rechtfertigungstheoretische Skepsis respektive Zuversicht gegenüber der Moral ausdrückt. Nehmen wir diese Liste mit dem obigen Punkt über Metaethik als komparative Erkenntnistheorie zusammen, gelangen wir dementsprechend zu einer Reihe von Thesen, deren Wahrheit den Kernbestand der metaethischen Fragestellung konstituiert. Da ich oben bereits angedeutet habe, dass ich hier die naturwissenschaftlichen als die gemeinten paradigmatischen Urteile heranziehe, lauten diese Thesen bereits auf diese Vergleichsklasse zugeschnitten: I. Deskriptivität: Moralische Urteile sind sinnvoll und ihre Äußerung jeweils eine Behauptung, in dem Sinne, in dem naturwissenschaftliche Urteile sinnvoll und Behauptungen sind. I’. Begriffserwerb: Der Erwerb moralischer und naturwissenschaftlicher Begriffe erfolgt in allen relevanten Hinsichten analog. II. Wahrheitsfähigkeit: Moralische Urteile können wahr oder falsch sein, in dem Sinne, in dem naturwissenschaftliche Urteile wahr oder falsch sein können. II’. Irrtumsmöglichkeit: Ebenso ist bei moralischen Urteilen Irrtum mindestens in folgendem Sinn möglich: Die moralische Überzeugung, dass p, ist nicht das, was diese Überzeugung korrekt macht, weshalb bei nicht erfüllten, dieser Überzeugung externen Korrektheitsbedingungen das Urteil inkorrekt, also falsch wäre. 2 III. Faktizität und Existenz: Wenn ein moralisches Urteil, dass P(x) wahr ist, dann ist es eine moralische Tatsache, dass P(x) und es existiert die Eigenschaft P (bzw. P ist instanziiert), in dem Sinne, in dem entsprechenden Tatsachen und Eigenschaften bei einem wahren naturwissenschaftlichen Urteil, dass Q(x), existieren.
Vergleiche zu dieser Bedingung Peacockes Begriff ›minimaler Objektivität‹ von Urteilen (Peacocke 2009: 739).
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III’. Repräsentation: Das moralische Urteil, dass P(x), repräsentiert dann die Tatsache, dass P(x), ebenso wie dies bei naturwissenschaftlichen Urteilen der Fall ist. IV. Kognitive Suffizienz: Ebenso wie bei naturwissenschaftlicher Deliberation verlangt auch die psychologische Beschreibung moralischer Deliberation ausschließlich Rekurs auf mentale Zustände der folgenden Art: i) Anschauungen, z. B. Sinneswahrnehmung, ii) Urteile, Überzeugungen, Erinnerungen. IV’. Wünsche und Emotionen: Die Psychologie moralischer Deliberation verlangt insbesondere keinen Rekurs auf Zustände wie a) ›Wünsche‹ b) Emotionen oder c) andere ›konative Einstellungen‹, sofern diese nicht am Ende unter IV. i–ii fallen. V. Begründung: Für moralische und naturwissenschaftliche Urteile gelten in den folgenden Bereichen dieselben epistemischen Normen: i) inferentielle Transitionen (Normen der formalen und materialen Logik); ii) apriorische Transitionen (Normen der intellektuellen Anschauung); ii’) empirische Transitionen (Normen der Sinneswahrnehmung u. a.); iii) diskursive Transitionen (Normen des intersubjektiven Gesprächs und des Hörensagens). V’. Rationalität: Da epistemische Rationalität über die Konformität mit gültigen epistemischen Normen definiert ist, sind nach V. i–iii moralische Rationalität und naturwissenschaftliche Rationalität streng analog. VI. Non-Reduktionismus/Autonomie: Moralische Begriffe und Urteile sind irreduzibel. Ebenso wie das naturwissenschaftliche hat daher auch das moralische Denken einen eigenen Gegenstandsbereich. Die Korrektheit der Thesen I–VI impliziert, dass wir entlang aller fundamentalen erkenntnistheoretischen Kategorien von einer strikten Homogenität moralischer und der für den Vergleich herangezogenen paradigmatischen Urteile auszugehen haben. Indem alle diese Thesen ein komparatives Element beinhalten, drücken sie aus, dass uns in metaethischer Perspektive nicht interessiert, ob es erkenntnistheoretische Probleme des moralischen Denkens gibt, sondern dass uns interessiert, ob es spezielle erkenntnistheoretische Probleme des moralischen Denkens gibt. Sie beinhalten die kritische Erinnerung, dass Phrasen wie beispielsweise ›moralische Urteile können wahr oder falsch sein‹ genau genommen Ellipsen sind. Diese Art der Formulierung hat aber noch zwei weitere Vorteile. Sie macht sowohl gegen eine gewisse Vagheit Praktische Anschauung
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als auch gegen eine gewisse Pointenlosigkeit gefeit. Denn es ist kein Geheimnis, dass man für die erkenntnistheoretischen Grundbegriffe, die in I–VI vorkommen, ganz verschiedene Interpretationen wählen kann. Zum Beispiel ergibt sich die Rede von ›Tatsachen‹ für einige Theoretiker ohne große inferentielle Verpflichtungen, während andere hier etwas Tiefsinniges vermuten. ›Wahrheit‹ können wir realistisch, epistemisch, deflationistisch, eher minimalistisch oder eher maximalistisch verstehen. Diese Vagheit übertrüge sich auch auf eine These wie die der Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile. Sagt man hingegen, moralische Urteile könnten wahr oder falsch sein, so wie paradigmatische Urteile wahr oder falsch sein können, sagt man, dass moralische Urteile in diesem Sinne wahr oder falsch sein können, wie auch immer ›wahr‹ zu verstehen ist. Trägt jemand resignativ den Standpunkt vor, dass moralische Urteile letztlich nicht begründbar sind, wobei sie unter ›Begründung‹ xyz versteht, beispielsweise einen sehr starken Fundamentalismus, bleibt diese Aussage ohne Pointe, wenn wir vielleicht am Ende feststellen, dass überhaupt keine Urteile in diesem Sinne begründet sind usw. Auch diesen Lapsus vermeiden wir durch eine relationale Formulierung metaethischer Thesen. Es ist sodann wichtig, zwei Auslassungen zu rechtfertigen, die ansonsten Verwunderung hervorrufen könnten. Eine These, die sich in der obigen Liste nicht findet, ist etwa die, dass das moralische Urteilen ebenso wie das naturwissenschaftliche ›objektiv‹ ist. Meine Meinung dazu ist, dass es eine Möglichkeit wäre I–VI zusammenzufassen, dass man sagte, moralische Urteile seien ebenso objektiv wie naturwissenschaftliche oder ihnen käme daher die gleiche ›Art‹ von Objektivität zu, dass diese These aber gegenüber I–VI keine zusätzliche Information beinhalten würde. Auf der anderen Seite kann diese Zusammenfassung jedoch schnell falsch aufgefasst werden. Denn sicherlich gibt es manche Hinsicht, in der moralische Urteile gerade nicht ›objektiv‹ sind, ohne dass dies jedoch automatisch ihre Objektivität im Sinne der erkenntnistheoretisch fundamentalen Kategorien schmälern würde. Jedenfalls sind moralische Urteile insofern ›subjektiv‹, als dass die moralischen Tatsachen, auf die sie sich beziehen (würden), sich meist durch eine multiple Geistabhängigkeit auszeichnen. Mit dem Gedanken, ein Realismus welcher Spielart auch immer müsse stets ebenfalls ein Antiidealismus sein, mag mancher Theoretiker sich zu der Feststellung hinreißen lassen, moralische Tatsachen seien nicht nur erkennbar, sondern auch vollständig geistunabhängig vorhanden. Während diese 22
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Bedingung aber für einen globalen Realismus in Bezug auf die Welt als Ganzes erforderlich sein mag, wäre sie in manch speziellem Fall aber wenig sinnvoll. Auch in einer idealistischen, also geistabhängigen Welt, käme Geistiges als Einzelding weiter vor und würde mit anderen Einzeldingen in Verbindung stehen. In dieser zweiten Hinsicht kann man aber sicher nicht die Geistunabhängigkeit von Dingen als Bedingung ihrer Realität ansetzen. Etwa wäre es nicht klug, wenn man für einen psychologischen Realismus fordern würde, psychische Tatsachen müssten vollständig geistunabhängig gegeben sein. Denn diese Geistabhängigkeit beschreibt nur ihre besondere Realität, fern davon sie zu unterminieren. Gleiches aber trifft im Fall der Moral zu. Ob es zum Beispiel der Fall ist, dass A den Beruf des Lebensmittelchemikers ergreifen sollte, wird sicherlich partiell davon abhängen, ob er ein entsprechendes Studium absolviert hat und damit ein einschlägiges Wissen besitzt. Daher bringt es in meinen Augen wenig, auf die häufig unter dem Titel moralischer ›Konstruktivismus vs. Realismus‹ geführte Frage mit einem Entweder-Oder antworten zu wollen. Es ginge ebenso wie im Fall der Psychologie vielmehr darum, diese Geistabhängigkeit des Moralischen genau zu beschreiben, so wie sie ist. Das alles andere wohl nur auf ein Schattenboxen hinausliefe, ist beispielsweise durch den Umstand angezeigt, dass entgegen landläufiger Meinung die sogenannten ›Cornell-Realisten‹ nicht den obigen Fehler begehen und daher meines Wissens nirgendwo behauptet haben, moralische Tatsachen seien als völlig geistunabhängig anzusetzen. 3 Diese zweite Auslassung ist damit wie folgt motiviert. Erstens ist durch die in II’ genannte Irrtumsmöglichkeit bereits eine eher minimalistische Interpretation von Geistabhängigkeit eingeschlossen, nämlich die Unabhängigkeit von aktuellen Akten des Urteilens. Zweitens betrifft die Beschreibung der Geistunabhängigkeit letztlich inhaltliche Fragen, z. B. wie weit wir aus Gründen des Respekts die aktuell bekundeten Präferenzen von Akteuren in Rechnung stellen müssen. Dieser Punkt betrifft aber nicht mehr fundamentale erkenntnistheoretische Aspekte. Drittens schließlich hängen die nachfolgenden Überlegungen von
So legt sich Brink nicht auf eine vollständige Geistunabhängigkeit fest, sondern behauptet nur, dies sei ›grob die Position‹, die er vertrete (vgl. Brink 1989: 7). Boyd fordert nur eine ›weitgehende‹ Unabhängigkeit, (vgl. Boyd 1988: 182), während Sturgeon mutmaßt, es müsse eine Unabhängigkeit von den kandidierenden mentalen Zuständen ›in einem interessanten Sinn‹ geben (vgl. Sturgeon 1986b: 117).
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manchem – dazu gleich – aber nicht von der Annahme ab, dass wir für die Gegenstände des moralischen Denkens stärkere Formen der Geistunabhängigkeit beanspruchen können (s. dazu Kap. 2.2.v.). Den obigen komparativen Thesen I–VI kann man jeweils offenbar auf grundsätzlich zwei Weisen widersprechen. Erstens kann man schlicht bestreiten, dass eine der erwähnten erkenntnistheoretischen Kategorien überhaupt auf moralische Urteile anwendbar ist. Zweitens kann man an der Anwendbarkeit festhalten, aber der Ansicht sein, dass jene Kategorie Unterarten kennt und im Hinblick auf moralische Urteile eine besondere Bedeutung gewinnt. Da es nun in beiden Fällen darum geht, die Gleichheit von zwei Bereichen des Denkens zu bestreiten, zudem aber wesentlich die normative Frage der korrekten Verwendung unserer erkenntnistheoretischen Kategorien berührt ist, erscheint es mir treffend, die Position im ersten Fall als skeptischen Inegalitarismus, im zweiten als differenziellen Inegalitarismus zu bezeichnen. Der Emotivismus des frühen Ayer etwa stellt (unter anderem) einen skeptischen Inegalitarismus im Bereich der Semantik dar, weil er die prinzipielle Sinnlosigkeit moralischer Urteile konstatiert (vgl. Ayer 1946: 103). Der Emotivismus Stevensons hingegen läuft darauf hinaus, differenziell für moralische Urteile eine besondere, nämlich emotive ›Art‹ von Bedeutung zu reservieren (vgl. Stevenson 1937: 21). Andere Beispiele wären die These der Nicht-Wahrheitswertfähigkeit moralischer Urteile gegenüber der These, man müsse ein besonderes Wahrheitsprädikat (alias Geltungsanspruch) für den moralischen Diskurs definieren (vgl. Habermas 1999a), und die These der Nicht-Existenz von Werten gegenüber der These, moralische Eigenschaften hätten eine besondere Existenzweise – analog zum Wahlspruch ›Seiendes ist, Werte gelten‹ der deutschen Wertphilosophie (vgl. Schnädelbach 2004: 247). Eine affirmative Haltung gegenüber einer der Thesen I–VI ergäbe einen erkenntnistheoretischen Egalitarismus im Hinblick auf Kategorie XY. Glaubte man hingegen, dass alle diese Thesen wahr sind, liefe dies auf eine allgemeinen Homogenität von Ethik und Naturwissenschaft hinaus. Damit könnten wir I–VI auch als die folgende Hypothese zusammenfassen:
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Allgemeine egalitaristische Hypothese (AEH): Hinsichtlich der fundamentalen erkenntnistheoretischen Kategorien gelten für moralische und naturwissenschaftliche Urteile dieselben begrifflichen und epistemischen Normen. Das heißt, die für die normative Beschreibung der erkenntnistheoretisch fundamentalen Eigenschaften von naturwissenschaftlichen Urteilen verwendete Begrifflichkeit ist notwendig und hinreichend für eine Beschreibung der erkenntnistheoretisch fundamentalen Eigenschaften von moralischen Urteilen. 4 Da die Erfahrung gezeigt hat, dass diese Hypothese leicht missverstanden werden kann, sollte ich betonen, dass mit ihr weder die Identität noch die Gleichheit der beiden Deliberationsbereiche in allen Hinsichten behauptet wird, sondern nur entlang der erkenntnistheoretisch fundamentalen Kategorien. Selbstverständlich sind Ethik und Naturwissenschaft verschiedene Dinge. Denn die Ethik handelt davon, was zu tun ist, während die Naturwissenschaft von vielen anderen Dingen handelt, von Supraleitern, Zitronensäurezyklen und Higgs-Teilchen, aber nicht von Werten, Pflichten oder Gesolltem. Man kann es so sagen: Wenn AEH wahr wäre, kann das Besondere an der Ethik weder mit skeptischer noch mit differenzieller Absicht durch Verweis auf erkenntnistheoretische Grundbegriffe ausgedrückt werden. Im Umkehrschluss bliebe kein Raum mehr dafür, der Moral auf jener fundamentalen Ebene einen Sonderstatus zuzusprechen. Besonderheiten an der Ethik könnten allein so ausgedrückt werden, dass man inhaltlich alles sagt, was es Ethisches eben zu sagen gibt, ebenso wie man alle Besonderheiten der Vogelwanderung herausgestellt hat, wenn man die Vogelwanderung präzise und detailliert beschreibt. Es ist nun an der Zeit, einige Karten offenzulegen. Zunächst einmal glaube ich, dass die allgemeine egalitaristische Hypothese korrekt ist. Sie ist allerdings nicht die zentrale Behauptung, für die ich in dieser Abhandlung argumentieren werde. Dies wäre wegen der durch I–VI illustrierten Komplexität der Hypothese ein zu umfangreiches Projekt
4 Nicht ausgeschlossen werden durch diese These systematisch redundante, pragmatische Kategorien. Etwa könnte man als verkürzte Redeweise ein Wahrheitsprädikat ›wahrP‹ einführen, wobei ›p ist wahrP‹ nichts weiter bedeuten würde als: ›p ist ein praktisches Urteil und p ist wahr‹ ; und mutatis mutandis für Prädikate wie ›sinnvoll‹, ›begründet‹, ›gewusst‹ etc.
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für eine einzige Schrift. Auch wenn ich am Ende (s. Kap. 5) noch einige Skizzen zu diesem umfangreicheren Projekt anfüge, soll es, wie bereits zu Beginn angekündigt, im Folgenden nur um den Bereich der empirischen Erfahrung gehen. Was nun diesen anbetrifft, möchte ich behaupten, dass es unter Annahme aller Teile von AEH, die nicht die empirische Erfahrung betreffen, vernünftig ist, in diesem Bereich egalitaristische Thesen zu akzeptieren. Da sich dieser Bereich nach meinem Dafürhalten in eine Erörterung der Sinneswahrnehmung und eine der Emotionalität aufspaltet, bedeutet dies im Detail, dass es mir nur um eine Argumentation für den psychologischen Punkt aus IV’.ii und den rechtfertigungstheoretischen Punkt aus V.ii’. geht, während sämtliche anderen Thesen aus der Liste als Prämissen fungieren. Dass ich mit einer solch üppigen Phalanx von Voraussetzungen aufwarte, ist strategisch etwas bedauerlich, gerade auch deshalb, weil kaum eine dieser Annahmen unkontrovers ist. Es ist schön, wenn man sein Argumentationsziel weitestgehend voraussetzungslos und von einem ökumenischen Standpunkt aus erreichen kann. Aber man kann mir vielleicht zugestehen, dass letztere Möglichkeit stets auch vom Untersuchungsgegenstand abhängt. Gerade in der Metaethik aber – obschon wir sicherlich semantische, psychologische, rechtfertigungstheoretische und ontologische Gesichtspunkte auseinandersortieren können – ist alles systematisch aufs Engste miteinander verflochten und man gerät leicht in Zirkel, so dass wir kaum etwas in einem Teilgebiet feststellen können, ohne logische Implikationen für alle anderen Teilgebiete zu erzeugen. Sodann kann man diese Studie jedoch auch im Lichte des Grundsatzes sehen, dass man so lange auf der Gleichförmigkeit eines Gegenstandsbereichs beharren sollte, wie eine bestimmte theoretische Unterscheidung nicht triftig begründet ist. In diesem Sinne ist die allgemeine egalitaristische Hypothese die einfachste, gewissermaßen die ›NullHypothese‹ (in Adaption eines Ausdrucks aus der mathematischen Statistik), die erst aufgegeben werden sollte, wenn es signifikanten Anlass für ein Abweichen von ihr gibt. Die geplante komparative Erkenntnistheorie der empirischen Erfahrung ist dann die Prüfung dieser Hypothese in einem Punkt. Man muss eben irgendwo beginnen. Schließlich sollten auch dezidierte Gegner der AEH meinen Überlegungen doch zumindest die Einsicht abgewinnen können, dass, wo auch immer aus ihrer Sicht schließlich der entscheidende Kontrast der beiden Deliberationsbereiche eingezeichnet werden muss, dieser Kon26
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trast jedenfalls nicht auf unabhängige Argumente im Bereich der Empirie aufgebaut werden kann.
1.2. Begriff von Ethik und Naturwissenschaft Bevor ich gleich zur detaillierten Exposition meiner Hauptthesen komme, noch einige kurze Bemerkungen zu meinem Verständnis von ›moralisch‹ und ›naturwissenschaftlich‹ sowie zu der Frage, warum gerade diesen beiden Urteilsklassen meine Aufmerksamkeit gilt. Zunächst zu letzterem Punkt. Da wir uns hier vornehmlich für die Grundlagen des moralischen Denkens interessieren, dies aber im Hinblick darauf, wie dies komparativ in Zusammenschau mit einer Klasse paradigmatischer Urteile abschneidet, bleibt nur zu erklären, warum gerade die Naturwissenschaften dieses Paradigma liefern sollen. Warum etwa vergleichen wir die Ethik nicht mit der Literaturwissenschaft? Dies hat drei Gründe. Erstens nimmt in der gesamten metaethischen Debatte, auch wenn beispielweise die Sozialwissenschaften mitunter erwähnt werden, der Vergleich mit den Naturwissenschaften nahezu den gesamten Raum in Anspruch. Diese Art der Problemstellung hat also Tradition. Zweitens gründet sich diese Tradition darauf, dass wir das naturwissenschaftliche Denken seit jeher am stärksten mit erfolgreichem und korrektem Denken assoziieren, so dass gerade dieser Vergleich (wenigstens rhetorisch) die größte Relevanz hat. Drittens dient diese Gegenüberstellung der weiteren Präzisierung der Hauptthesen. Etwa ergäbe es wenig Sinn, moralische Urteile den ›wissenschaftlichen‹ Urteilen gegenüberzustellen. Denn falls AEH korrekt wäre, fehlte an diesem Punkt jede Grundlage für ein Gegenüberstellen anstatt eines Subsumierens. AEH reduzierte sich dann auf den trivialen Punkt, dass, da alle wissenschaftlichen Urteile sich in diese und jene Kategorien einordnen lassen, sich gewiss auch einige wissenschaftlichen Urteile so einordnen lassen. Was aber ist eigentlich ein naturwissenschaftliches Urteil? Es leuchtet ein, dass diese Urteilsklasse an ihren Rändern beträchtliche Unschärfen hat und eine essentialistische Definition daher nicht leicht und wahrscheinlich nicht einmal möglich ist. An dieser Stelle ließen sich viele kluge Erörterungen zu unserem Verständnis von ›Natur‹, von ›Naturalismus‹, vor allem aber auch zur ›naturwissenschaftlichen Methode‹ machen und wie wenig diese dazu taugen, jenseits von hisPraktische Anschauung
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torischem Wandel einen ewigen Begriff von ›Naturwissenschaft‹ zu verankern (vgl. Keil und Schnädelbach 2000). Da ich vermute, dass solche Erwägungen niemandem ganz fremd sind, möchte ich diesen Schritt überspringen. Anstelle einer nur scheinbar präzisen Definition verlasse ich mich auf das gemeine Vorverständnis von ›naturwissenschaftlich‹, nach welchem naturwissenschaftliche Urteile beispielsweise von Photosynthese, Umlaufbahnen, Magnetfeldern oder Gesteinsformationen handeln. Außerdem möchte ich noch das, was man naturbezogene Alltagsurteile nennen könnte miteinbeziehen, also Urteile über die übliche Umwelt von Denkern, die von Bäumen, Katzen und matschigen Pfaden handeln. Die Idee dahinter ist, schließlich zu dem Ergebnis kommen zu können, dass moralische Urteile sowohl erkenntnistheoretisch ebenso gewöhnlich wie sonstige Alltagsurteile als auch ebenso ernstzunehmend sind wie naturwissenschaftliche Urteile. Durch diesen lockeren Begriff von ›naturwissenschaftlich‹ lässt sich freilich ein leichtes Hintergrundrauschen metaethischer Thesen leider nicht vermeiden. Da dieses aber für die Metaethik im Allgemeinen gilt, stehe ich damit aber, glaube ich, kaum schlechter da als andere Theoretiker. Nun noch ein paar Worte zum Begriff der Moral. Abhängig von den Vorlieben einzelner Autoren kann ›moralisch‹ recht unterschiedlich aufgefasst werden. Moral im Gegensatz zu Politik und Recht, Moral im Gegensatz zur (ethischen) Theorie des guten Lebens, Moral als Altruismus, Moral als Sphäre faktischer Sitten, Konventionen, Gebräuche, als normative Theorie sozialer Grundnormen oder nur von obersten Handlungsprinzipien und wahrscheinlich noch auf manch andere Weise. So gerät man auch in diesem Punkt schnell in einen rein terminologischen Streit. Um dem vorzubeugen, möchte ich explizit machen, dass ich ›moralisch‹ einerseits nicht von ›ethisch‹ unterscheide und es andererseits in dem weitestmöglichen Sinne verstehe, indem damit folgende Urteilsklassen intendiert sind: 1) Evaluative Urteile Schema: X ist (intrinsisch) gut/schlecht/grausam/mutig … 2) Deontische Urteile Schema: X ist verboten/geboten/erlaubt/richtigI … 3) Normative Urteile Schema: A sollte/sollte nicht X tun. / Es ist (konklusiv) richtigII/falschII, wenn A X tut. In diesem weiten Sinne wäre Moral am besten als eine Theorie der Praxis beschrieben und die moralischen würden somit mit der Klasse der 28
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praktischen Urteile zusammenfallen, eine Bezeichnung, die ich fortab daher ebenfalls oft verwenden werde. 5
1.3. Egalitarismus der empirischen Erfahrung Nachdem ich die Grundidee einer komparativen Epistemologie von Ethik und Naturwissenschaft und den dazugehörigen epistemologischen Kategorien vorgestellt habe, komme ich nun zur Anwendung dieses methodologischen Rasters auf das Problem des Erfahrungsbezugs. Beim Studium der metaethischen Debatte kann es so erscheinen, als wäre das Problem des Erfahrungsbezugs genau genommen recht unwichtig. Nominal stehen meist semantische Erwägungen der Wahrheitsfähigkeit oder der ›expressiven‹ Bedeutung moralischer Urteile, psychologische Überlegungen zur ›konativen‹ Natur praktischer Deliberation oder die ontologische Frage, ob Werte und Normen Teil unserer Welt sind, im Vordergrund. Ich bin dagegen der Ansicht, dass die rechtfertigungstheoretischen (und komparativen) Probleme – und hier insbesondere das des Erfahrungsbezugs – im Zentrum stehen sollten. Allerdings werde ich in dieser Arbeit, abgesehen von einer kurzen Skizze im Schlusskapitel, nur recht wenig über die systematische Einbettung der unten behandelten Fragen in eine allgemeine Metaethik sagen. Daneben dürfte mit einem Streit darüber, was denn nun ›das‹ Problem der Moral ist, ohnehin kaum ein Preis zu gewinnen sein. DaAn dieser Stelle könnte man sich fragen, inwieweit diese Abhandlung ein Beitrag zur Theorie der praktischen Vernunft ist und wie dann allgemein das Verhältnis zur ›theoretischen‹ Vernunft bestimmt würde. Meine Antwort dazu lautet, dass, falls AEH wahr ist, es in einem Sinn von ›praktischer Vernunft‹ nicht sinnvoll wäre, diese von einer ›theoretischen‹ Vernunft zu unterscheiden, ebenso wie es nicht sinnvoll wäre, sie von einer ›wissenschaftlichen‹ oder ›empirischen‹ Vernunft zu unterscheiden. Dieser Sinn ist der von praktischer Vernunft als Deliberation hin zu einem praktischen Urteil, eine Episode des Nachdenkens, die ein praktisches Urteil zum Ziel hat. Diese praktische Vernunft ist theoretische Vernunft, nur eben eine solche, die sich primär auf praktische (evaluative, deontische, normative) Inhalte richtet. Davon unterschieden ist der Sinn von praktischer Vernunft als Deliberation hin zu einer Tat, d. h. eine Episode des Nachdenkens, die tatsächlich mit einer nicht-mentalen Handlung endet. In letzterem Bereich mögen sich weitere Fragen betreffend die rationale Bildung von Absichten und den nicht-inferentiellen Übergang zu einer Körperbewegung ergeben, die über den hiesigen Problembereich hinausgehen. 5
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her bin ich zufrieden, wenn man mir an dieser Stelle zugestehen kann, dass es interessant wäre zu erfahren, was sich vergleichend über die Empirie der Moral sagen lässt, sowie inferentielle Übersicht darüber zu erhalten, von welchen Hintergrundannahmen aus anderen metaethischen Teilgebieten das Gesagte abhängt. Immerhin lässt sich jedoch feststellen, dass es Vorstellungen über empirische Erfahrung sind, die in der ersten Hälfte des 20. Jh. die Wurzel für den ethischen Skeptizismus bilden. Es ist das empiristische Sinnkriterium, durch welches das moralische Urteil hinsichtlich von Wahrheitsfähigkeit, Bedeutung und Repräsentation unter Generalverdacht gerät (vgl. Ayer 1946: 4 ff.). Wegen seiner offenkundigen Schwächen gibt es mittlerweile wohl kaum noch Anhänger des empiristischen Sinnkriteriums. Obwohl jedoch ihr ursprünglicher Anlass hinfällig geworden ist, akzeptieren dennoch viele zeitgenössische Theoretiker weiterhin mit einer gewissen Selbstverständlichkeit jene skeptischen Thesen über die Empirie der Moral. Fast berühmt ist mittlerweile der epistemologische Teil von John Mackies ›Argument der Seltsamkeit‹, wonach wir zur Rekonstruktion der ethischen Erkenntnistheorie ein ›besonderes Vermögen der moralischen Wahrnehmung oder Intuition‹ beanspruchen müssten (vgl. Mackie 1977: 37). Während diese Aussage als Argument angeführt wird, bleibt der Autor weitgehend stumm hinsichtlich der komplementären Begründung, warum nicht die gewöhnliche Sinneserfahrung diesen Auftrag erfüllen könnte. Bei Blackburn findet sich die Bemerkung, dass wir schließlich den Wert einer Münze nicht verstünden, indem wir sie anschauen, sondern indem wir menschliche Interaktionen verstehen lernten (vgl. Blackburn 1998: 4 ff. u. 50), eine Feststellung die irgendwie zutreffend erscheint, andererseits aber suggeriert, dass die Ökonomie keine empirische Wissenschaft ist. Einschlägig wäre auch Korsgaards Unterscheidung von ›prozeduralem‹ und ›substantiellem‹ moralischem Realismus (vgl. Korsgaard 1996: 35). Denn, wie sie gleich darauf bekennt, ist diese Namensgebung irreführend, weil es in beiden Fällen nicht um metaphysische, sondern um rechtfertigungstheoretische Positionen geht, die eine bestimmte ›Prozedur‹ hinter moralischen Überzeugungen einzeichnen. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass es der ›substantielle‹ Realismus ist, der wiederum der empirischen Erfahrung einen Platz in der moralischen Erkenntnistheorie einräumt (vgl. ebd. 37). Merkwürdig ist wiederum, dass sich außer einer pauschalen Gegenüberstellung bei ihr kei30
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ne Hinweise finden, worauf sich diese Opposition ihrerseits gründet, warum also der Gedanke moralischer Sinneserfahrung strikt inkompatibel ist, mit der von ihr akzentuierten Bedeutung der praktischen Identität und der praktischen Reflexion bei der Beurteilung von moralischen Propositionen (s. auch ebd. 108). Schließlich könnte man ja meinen, dass manche Dinge mitunter sowohl deliberativ als auch ›mit bloßem Auge‹ erschlossen werden können. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Beispiele für die Gegenüberstellung von moralischen Urteilen und empirischen Urteilen (vgl. Habermas 1999a: 300; 1999c: 284 f.; Scanlon 1998: 1). Sie demonstrieren, wie weit verbreitet die Ahnung ist, es müsse etwas falsch sein an dem Gedanken, das praktische Denken sei in gleicher Weise durch empirische Erfahrung informiert wie das Nachdenken über natürliche Gegebenheiten. Ich glaube, dass die starke Präsenz dieses Verdachtes zwei wesentliche Ursachen hat. Sie resultiert zum einen daraus, dass Moralphilosophie und Wahrnehmungsphilosophie meist getrennte Kompetenzbereiche sind, so dass die These, ein moralisches Urteil basiere auf empirischer Erfahrung, häufig falsche Assoziationen weckt. Zum anderen resultiert sie daraus, dass weite Teile der normativen Ethik sich mit der politischen Ethik, z. B. der Frage nach gerechten Institutionen, oder mit den obersten Moralprinzipien beschäftigen. Dies aber sind erfahrungsferne Reflexionsbereiche. Denkt man bei Moral daher vornehmlich an Urteile mit solchem Inhalt, mag die These moralischer Empirie in der Tat als recht merkwürdig erscheinen. Aber nicht alle praktischen Urteile bewegen sich auf diesem Abstraktionsniveau. Wie diese und vorherige Andeutungen kenntlich machen, glaube ich jedenfalls nicht, dass es eine gute Idee ist, zwischen ethischen und naturwissenschaftlichen Urteilen anhand ihres epistemischen Verhältnisses zur empirischen Erfahrung zu differenzieren. Da ›empirische Erfahrung‹ nun zunächst und zumeist Sinneswahrnehmung bedeutet, drücke ich die Idee gleichförmiger Empirie durch die folgenden beiden Thesen aus: T1. Wenn naturwissenschaftlicher Wahrnehmungsinhalt möglich ist, dann ist praktischer (moralischer) Wahrnehmungsinhalt möglich. T2. Wenn eine Norm der epistemischen Berechtigung für naturwissenschaftliche Wahrnehmungsinhalte gültig ist, dann ist diese Norm der epistemischen Berechtigung auch für praktische (moralische) Wahrnehmungsinhalte gültig. Praktische Anschauung
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Letztlich geht es mir also um eine Behauptung über die Dinge, die uns überhaupt durch die Sinne gegeben sein können und eine Behauptung über das, was wir auf der Grundlage des perzeptiv Repräsentierten begründet und daher rational glauben dürfen, jeweils aber in einem komparativen bzw. konditionalen Sinn. Aus diesem Grund stellt diese Position auch keinen Empirismus, ob moralisch oder allgemein, dar. Denn weder ist mit den beiden Thesen etwas Ausschließendes über die Möglichkeit apriorischer Begründung gesagt noch auf der anderen Seite über die Möglichkeit perzeptiver Begründung an sich. Es wird nicht gesagt, dass perzeptive Begründung möglich ist, sondern nur, dass es sicher gleichermaßen möglich oder nicht möglich ist, dass moralische Urteile so begründet sind wie die naturwissenschaftlichen. Die Begründungsleistung des ersten Teils dieser Abhandlung soll darin bestehen, im Lichte der im letzten Abschnitt ausgeführten ceteris-paribus-Bedingungen, plausible Konzeptionen der Sinneswahrnehmung zu artikulieren und hernach komparativ dafür zu argumentieren, dass in diesem Rahmen alles für und nichts gegen T1 und T2 spricht. Im Rückblick auf die allgemeine egalitaristische Hypothese AEH lässt sich dieses Ergebnis auch so formulieren, dass sich auf Basis der Annahme einer allgemeinen Homogenität von praktischem und naturwissenschaftlichem Denken aus der Wahrnehmungsphilosophie kein unabhängiges Argument gegen diese Annahme entwickeln lässt. Dass ich überdies gerade von Konzeptionen im Plural sprach, hat seine Bewandtnis darin, dass wir, wie sich zeigen wird, zu diesem Ergebnis kommen, was auch immer wir über Sinneswahrnehmung denken mögen, d. h. unabhängig davon, welche der klassischen Positionen in der Philosophie der Sinneswahrnehmung wir adoptieren. Eine vergleichende Erörterung der Sinneswahrnehmung bildet nur den ersten Teil des Versuchs, das Verhältnis von Empirie und Moral zu eruieren. Blicken wir erneut auf den Logischen Empirismus zurück, lautete die vollständige metaethische These nicht, dass moralische Urteile nicht auf Sinneswahrnehmung gegründet sein können, sie lautete, dass moralische Urteile nicht auf Sinneswahrnehmung, sondern auf Emotionen gründen. ›Emotion‹ wird dabei wohlgemerkt als ein Vermögen vorgestellt, dass schlechter (und dies heißt erneut: in epistemologischer Perspektive schlechter), a fortiori aber psychologisch ›anders‹ beschaffen ist als die normale Sinneswahrnehmung. Wiederum stimme ich weder mit der Idee, dass Emotionen episte32
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mologisch ›schlechter‹ sind, überein noch überhaupt mit der Idee, dass ›Emotion‹ eine eigene bzw. andere psychologische Art markiert. Meine Position drückt sich dementsprechend in einer psychologischen und einer rechtfertigungstheoretischen These aus. T3. Emotion ist eine Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt. Diese praktischen Anschauungen zerfallen in zwei Klassen von Zuständen, nämlich a) einfache Anschauungen (Sinneswahrnehmungen) und b) komplexe Anschauungen. T4. Für einfache und komplexe Anschauungen mit praktischem Gehalt gelten dieselben epistemischen Normen wie für einfache und komplexe Anschauungen mit naturwissenschaftlichem Gehalt. Von diesen beiden Thesen ist vielleicht T3 die wichtigere, weil mit ihr die psychologische Dichotomie von Emotion und Sinneswahrnehmung sowie allgemein die Dichotomie von Emotion und anderen mentalen Zuständen mit Anschauungscharakter aufgelöst wird. Sie ist, denke ich, eine präzise Formulierung dessen, was häufig als ›Wahrnehmungstheorie der Emotionen‹ bezeichnet wird. Diese Sicht auf die Emotionalität läuft mit anderen Worten auf die Überzeugung hinaus, dass Emotion praktische Intuition ist. Die zweite These T4 fügt dann hinzu, dass Emotionen auch rechtfertigungstheoretisch so behandelt werden sollten wie andere Anschauungen. Methodologisch wird es komplementär wesentlich darum gehen, komparativ zu prüfen, ob irgendetwas gegen den phänomenologisch leicht einnehmbaren Standpunkt spricht, Emotionen seien das praktische Analogon zu nondoxastischen, repräsentationalen Zuständen in paradigmatischen Fällen von anschauungsbasierten Urteilen. Im Gegensatz dazu gibt es eine recht leichte und recht fatale Weise, die durch T3 und T4 implizierte (relative) Aufwertung der Emotionen falsch aufzufassen, die ich schon an dieser Stelle erwähnen möchte. So ist mit dem Rekurs auf Emotionen als Quelle von Gründen kein Anti-Intellektualismus im Sinne einer Vernunftfeindlichkeit gemeint. Dies aus T3 und T4 zu schließen wäre in dem bislang vorgezeichneten Rahmen ebenso intelligibel wie zu sagen, die Physik gründe auf empirische Erfahrung, nicht aber auf Vernunft. Eine Wahrnehmungssicht der Emotionen ist natürlich nicht neu. 6 Und wird auch von einer Reihe anderer Autoren vertreten (vgl. de Sousa 1987; Döring und Peacocke 2002; Döring 2007; Goldie 2000; Johnston 2001; Putnam 1998; Roberts 2003).
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In der Kritik aller zentralen Alternativtheorien komme ich aber, wie ich meine, zu einigen nennenswerten Modifikationen. Dazu gehören zuvorderst die Präzisierung, in welchem Sinne genau Emotion als Anschauung zu verstehen ist, und daneben die explizite Verortung von Emotion als Anschauung im Kontext der (komparativ) epistemologischen Frage nach den nicht-inferentiellen Quellen praktischer Begründung. Daneben biete ich eine Replik auf einige neuere Einwände gegen die Anschauungstheorie und, soweit ich sehe, eine neue Erklärung für den Zusammenhang von Emotion und Gefühl, welcher vielleicht das zentrale Problem der Emotionstheorie berührt. Die komparative Erkenntnistheorie der Sinneswahrnehmung und der Emotionen bilden zusammen eine komparative Erkenntnistheorie der empirischen Erfahrung und die Thesen T1–T4 ergeben zusammen einen erkenntnistheoretischen Egalitarismus der empirischen Erfahrung. Ich denke, dass diese vier Thesen die beste Interpretation sind, die wir einerseits den relevanten Teilthesen des allgemeinen Egalitarismus aus der obigen Liste (V.ii’. und IV’.b) geben können. Andererseits sind sie m. E. auch die beste Interpretation der These von Peter Railton und anderen ›moralischen Realisten‹, dass ›moralische und empirische Forschung eine Einheit bilden‹ (vgl. Railton 1986: 165). Diese letzten Bemerkungen lassen durchblicken, dass ich meine Auffassung in einer gewissen Nähe zu den unter der Bezeichnung ›moralischer Realismus‹ fungierenden Positionen verorte, diese aber bevorzugt als die These allgemeiner erkenntnistheoretischer, egalitaristischer Homogenität von moralischem und (natur-) wissenschaftlichem Denken beschreiben (AEH) würde. Das in dieser Arbeit entwickelte Projekt ist hingegen sowohl anspruchsloser als auch anspruchsvoller als die Verteidigung dieser umfassenden These, weil ich einerseits einen bestimmten metaethischen Rahmen bloß voraussetze, dafür aber den Freiraum für eine detaillierte Betrachtung der empirischen Grundlagen des moralischen Denkens bekomme. Schließlich lässt sich gerade in den Schriften des zuletzt erwähnten Autors ein stetes Bewusstsein dafür entdecken, dass es in der Metaethik neben der Rechtfertigung des eigenen Standpunktes mindestens genauso sehr darum geht, es durch Prägnanz und ausführliche Erläuterungen zu vermeiden, lediglich nominalen Widerspruch und fruchtlose Debatten heraufzubeschwören. Ich hoffe, dass mir in den Augen des Lesers beides gelungen ist.
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2 Sinneswahrnehmung
Können wir sehen, was gut und richtig ist? Eine solch unbedarfte Frage kann zu diversen saloppen Antworten verführen. Man könnte Absurdität ahnen, weil das, was gut und richtig ist, doch im Gespräch oder in stiller Reflexion eruiert werden muss, unmöglich aber durch ein bloßes Hinschauen vorgefunden werden kann, wie die Katze vor dem Kamin. Allenfalls könne es im Vergleich dazu vielleicht in einem übertragenen Sinne gesehen werden! Dann aber: Hat man wirklich noch nie ein freundliches Gesicht gesehen oder gesehen, dass jemand falsch parkt? Und: Wäre die sinnliche Präsentation von guten und richtigen Dingen im Vergleich mit der Präsentation der Katze nicht-wörtlich, wäre dann auch die Präsentation von Bäumen oder matschigen Straßen nichtwörtlich zu verstehen? Oder: Wissen wir überhaupt, dass wir die Katze wörtlich sehen und nicht etwas anderes? Antworten ließe sich auch, dass die Frage durchaus formgerecht, aber irrelevant ist, weil entscheidend nicht sei, was wir sehen können, sondern ob wir glauben dürfen, was wir sehen. Oder garstiger, dass die Rede vom ›Sehen‹ oder einer individuellen Erfahrung letztlich eine veraltete Weise ist, Probleme zu thematisieren, die unser Streben nach Gründen und Wissen betreffen. Damit wir uns angesichts dieser vorgestellten Kakophonie nicht im Sturm der Gedanken verlieren, halte ich es für zweckdienlich, diese komparative Erörterung der praktischen Anschauung mit einigen Überlegungen dazu zu beginnen, was wohl in welcher Konstellation überhaupt eine sowohl sinnvolle und gleichsam relevante Frage zum Verhältnis von praktischem Denken und Sinneswahrnehmung sein könnte. Daher werde ich im nächsten Abschnitt zunächst mit einigen Erläuterungen zur Wahrnehmungsphilosophie im Allgemeinen einsetzen, um zunächst zu verdeutlichen, wie Interpretation und Relevanz zwangsläufig mit dem zugrunde gelegten epistemologischen Kontext variieren. Erst auf dieser Grundlage lässt sich eine unzweideutige Aufgabenstellung ausbuchstabieren, die einerseits der resultierenden inPraktische Anschauung
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terkontextuellen Vagheit (weitgehend) entkommt und gleichzeitig den in der Einleitung angeschnittenen metaethischen Bedürfnissen entspricht. Im Endeffekt werde ich für eine Formulierung des Problems optieren, die normativistisch, internalistisch und komparativ ist, und gelange komplementär zu einer Formulierung meiner Hauptthese als eines perzeptiven Egalitarismus von Ethik und Naturwissenschaft, der gleiche epistemisch-normative Relationen zwischen Sinneswahrnehmung und Urteil in den Bereichen des praktischen und naturwissenschaftlichen, respektive des alltäglichen Denkens behauptet (2.1.). Wie sich zeigt, spaltet sich diese These in zwei dringend zu trennende Behauptungen auf, nämlich eine über perzeptiven Inhalt (2.2.) und eine über perzeptive Berechtigung (2.3.). Diese sollen in den nachfolgenden beiden Abschnitten belegt werden, und zwar insbesondere durch die Demonstration, dass ihre Richtigkeit von einer Variation der zugrunde gelegten wahrnehmungstheoretischen Position nicht tangiert wird. Diese Demonstration soll im Anschluss daran auch für Wahrnehmungstheorien, namentlich Reliabilismus und Behaviorismus, wiederholt werden, die deutlicher von meinem internalistischen Ausgangspunkt abweichen. In diesem Rahmen wird allerdings eine analogische Modifikation der Hauptthese erforderlich (2.4.). Daneben werde ich dort jedoch in eigener Sache einige Worte darüber verlieren, warum wir der internalistischen Perspektive m. E. den Vorzug geben sollten. Ebenso möchte ich in einem weiteren Exkurs der Frage nachgehen, ob bei Plausibilitätserwägungen komparativer oder non-komparativer Thesen zur praktischen Wahrnehmung unsere Vorstellung über das Verhältnis von Wahrnehmung und Gegenstand interveniert, die bekanntlich zwischen einem ›direkten‹ oder ›indirekten‹ Realismus (alias Repräsentationalismus) schwankt. Denn man könnte sich unter Umständen bei Annahme des letzteren und einer (mutmaßlichen) Nähe von praktischen Eigenschaften und sekundären Qualitäten einer irrtumstheoretischen Deutung der praktischen Erfahrung zugeneigt sehen (2.5.). Im Beschluss des Kapitels fasse ich die Ergebnisse noch einmal zusammen und gehe auf den weiterführenden Punkt der Stellung der komparativen Theorie der Sinneswahrnehmung in der Metaethik im Allgemeinen ein (2.6.) Wenn man mir bis zu diesem Ende folgen kann, sollte erhellen, dass, wenn er überhaupt verbleibt, der Raum für eine begründete Vermutung, dass es irgendwelche speziellen, erkenntnistheoretischen Probleme der praktischen Sinneswahrnehmung gibt, sehr klein ausfällt. In keinem Fall ergibt sich ein unabhängiges Argu36
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ment für eine inegalitaristische Position aus der Philosophie der Sinneswahrnehmung.
2.1. Wahrnehmungstheorien und perzeptiver Egalitarismus Bevor man sich an die Beantwortung einer epistemologischen Frage macht, gilt es den theoretischen Rahmen abzustecken, in dem diese Frage Sinn ergibt. Dementsprechend leuchtet es ein, dass wir die Idee praktischer Wahrnehmung nicht bewerten können, wenn wir nicht mindestens eine ungefähre Vorstellung davon besitzen, was wir überhaupt unter Wahrnehmung verstehen wollen und welche grundsätzlichen Auffassungen wir über Beziehungen zwischen der so verstandenen Wahrnehmung und den Urteilen eines Denkers haben können.
i.
Variationen der Anschauung
Es lohnt sich ob der beträchtlichen Vieldeutigkeit der Ausdrücke ›Wahrnehmung‹, ›Erfahrung‹ und insbesondere der Rede von einem ›moralischen Sehen‹, der häufig ein laxer metaphorischer oder bloß ›analoger‹ Sprachgebrauch vorgeworfen wird, mit einigen kontrastiven, terminologischen Festlegungen und gleichsam mit einer Benennung dessen einzusetzen, was nicht das Thema dieses Kapitels ist. Um Letzteres von oben her einzugrenzen, möchte ich zunächst die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Erfahrung lenken. Ziehen wir ein handelsübliches Wörterbuch heran, kommen wir, Facetten beiseitegelassen, auf vier Grundbedeutungen von ›Erfahrung‹, je nachdem, ob wir a) einen irgend gearteten bewussten mentalen Zustand im Geistesleben eines Individuums, b) ein praktisches Können, c) ein persönliches Erlebnis oder schließlich d) eine Wahrnehmung meinen. Da durch die letzte Nuance eine Verwechslung von Wahrnehmung mit den drei anderen Bedeutungen potentiell bedrohlich naheliegt, sollte ich erstens explizit machen, dass ich die Rede von praktischer ›Erfahrung‹ nicht im Sinne von a–c verstanden wissen möchte. Lediglich als Referenz auf einen bewussten Zustand gäbe es von Anfang an keine Rettung vor Trivialität für die Idee praktischer Erfahrung, da neben ›normalem‹ logischem Schließen auch Erinnerung, Phantasieren und selbstverständlich auch Fragmente praktischer Deliberation üblicherweise bePraktische Anschauung
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wusst sind. Ebenso sollten wir uns so weit wie möglich – und tatsächlich ist dies sehr weit möglich – davor hüten, das zu prüfende Konzept gleich von Beginn an mit dem Verweis auf ein Erlebnis in die Ecke einer ›besonderen Art‹ der Erfahrung zu stellen, die zudem die Konnotation trägt, besonders mysteriös oder besonders idiosynkratisch zu sein. Schließlich geht es mir zwar durchaus in letzter Konsequenz um praktisches Wissen, aber nicht im Sinne eines ›Wissen wie‹ (knowing how), sondern im Sinne eines ›Wissen dass‹ (knowing that), insofern ich hier auf eine bestimmte Weise ziele, Überzeugungen zu begründen, welche dann im Optimalfall wahr sind. Im Gegensatz zu den anderen drei Klassen von Zuständen ist es nämlich nur die Wahrnehmung, die nach landläufigem Verständnis eine solche besondere Begründungsweise ermöglicht. Ein Denker, der etwas wahrnimmt, sieht sich für gewöhnlich geneigt, auf dieser Grundlage Urteile zu fällen, die mit seiner Wahrnehmung aus seiner Perspektive in einer epistemisch günstigen Beziehung stehen. Besonders ist dieser Übergang, weil er nicht nach Art einer Inferenz geschieht, d. h. nicht nach Art einer logischen Transition, bei der nach einer Regel der Deduktion, Induktion oder Abduktion aus bereits bestehenden Überzeugungen auf ein neues Urteil geschlossen wird, sondern nach Art einer nicht-inferentiellen Aneignung (endorsement) der ›Botschaften‹ der Wahrnehmung, welche selbst keine Überzeugungen darstellen. In diesem Zuge möchte ich den Ausdruck ›Erfahrung‹ in dieser Abhandlung für nicht-inferentielle Quellen von Begründung reservieren – ohne dabei vorauszusetzen, dass diese hypothetischen Formen des Urteilens auch bei näherer Betrachtung das sind, als was sie meist erscheinen, d. h. als rationale Weisen, zu einem Urteil zu gelangen. Wie dem auch sei, gerade im Kontext der praktischen Begründung ist es wichtig einzusehen, dass auch der Rekurs auf nicht-inferentielle Formen der Begründung mehrdeutig ist, denn wir können hier drei mögliche Weisen, zu einem Urteil zu gelangen, unterscheiden. Die erste und vertrauteste ist die Sinneswahrnehmung (Sinneserfahrung) oder, wie ich auch sagen werde, die sinnliche Anschauung. Es entspricht sowohl dem Gemeinsinn als auch vielen, wenn auch nicht allen Wahrnehmungstheorien, dass man aufgrund dessen, wessen man sich durch die Sinne gewahr ist, zu vernünftigen Überzeugungen über seine Umwelt gelangen kann: Ich sehe die Straße, höre das Auto, rieche die Auspuffgase, urteile schließlich auf dieser Grundlage, dass ein Auto vor dem Fenster vorbeifährt. Es ist diese Kernbedeutung von ›Erfah38
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rung‹ und ›Wahrnehmung‹, von der ausgehend ich unten überlegen möchte, unter welchen Voraussetzungen es plausibel ist, dass sie gelegentlich auch zu praktischen Urteilen vernünftigen Anlass bietet. Von der Sinneswahrnehmung sind mindestens zwei weitere Begründungsweisen säuberlich zu trennen, die gelegentlich ebenfalls unter ›Wahrnehmung‹ rangieren. Diese dürften ad hoc mehr Theoretikern dubios erscheinen als die sinnliche Anschauung. Doch selbst wenn ihre Rationalität kontrovers ist, sollten sie doch schon zum Zwecke der analytischen Prägnanz in eine Liste der Kandidaten für nicht-inferentielle Begründung aufgenommen werden. Da wäre zunächst, was meist als ›reine‹, ›rationale‹ oder intellektuelle Anschauung bezeichnet wird, d. h. ein Modus des Denkens, in dem die Wahrheit eines Inhalts a priori eingesehen wird. Gerade aus empiristischer Perspektive erscheint die Legitimität dieser Begründungsform als mysteriös. Dennoch ist sie prima facie eine plausible Rekonstruktion, wie die Wahrheit von logisch-mathematischen Axiomen und natürlich von moralischen Prinzipien ›gesehen‹ bzw. eingesehen wird, und zwar, indem ein Denker sich dabei der fundamentalen Gebrauchsbedingungen der das Urteil konstituierenden Begriffe gewahr wird (vgl. Audi 2001: Kap. 2; Audi 2005; Bonjour 1998; Kant 1995; Peacocke 2004). Die Klärung der damit verbundenen Probleme wäre Aufgabe einer Erkenntnistheorie der intellektuellen Anschauung, respektive einer kritischen Würdigung des Apriorismus, während ich mich in dieser Abhandlung auf eine Betrachtung der empirischen Erfahrung konzentrieren möchte. Während nun Sinneswahrnehmung, wenn überhaupt, dann eine per se empirische Quelle von Begründung ist, gibt es noch einen weiteren Kandidaten, empirisch und nicht-inferentiell zu einem Urteil zu gelangen. Wenn ich in meinem Kämmerlein umherblicke, werde ich mir einerseits der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Umgebung gewahr. Andererseits mag ich gedanklich abwesend sein und eine Fülle von mentalen Inhalten Revue passieren lassen, die mit meiner Umgebung in keinem Zusammenhang stehen. Diese Inhalte ›vor Augen‹ entstehen bei mir neue Eindrücke, die mich zu Urteilen reizen mögen wie ›Diese Theorie ist unplausibel‹ oder ›Der Aktienmarkt wird morgen abstürzen‹ oder ›Ich sollte meinen Geburtstag nachfeiern‹. Anders aber als bei einem gewöhnlichen logischen Schluss, scheinen sich diese neuen gehaltvollen Zustände wiederum nicht nach Art einer Inferenz, sondern eben mehr in Kontemplation eine Gemengelage von Inhalten als Ganzes, eben anschaulicher, zu ergeben. Für mentale ZuPraktische Anschauung
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stände, die sich auf diese Weise ergeben, habe ich die Bezeichnung ›komplexe Anschauung‹ gewählt. Anschauungen dieser Kategorie mag man als bloß zufällig auftretende Vorstellungen ohne epistemische Signifikanz abtun wollen. Aber immerhin stehen sie offenbar häufig mit ihrem Gegenstand in irgendeiner nachvollziehbar vernünftigen Beziehung und es scheint eine ebenso starke Tradition zu geben, die es wenigstens in einigen Fällen erlaubt, auf ihrer Grundlage zu urteilen. In jedem Fall bietet es sich an, Urteilskraft als das Vermögen anzusehen, auf der Grundlage einer komplexen Anschauung zu urteilen, und mit diesem Vermögen sollten wir ebenso die besondere Fähigkeit benannt (oder wenigstens eine gute Chiffre für diese gefunden) haben, die im praktischen Bereich der Figur des ›Tugendhaften‹ zugeschrieben wird, welcher der Idee nach in der Lage ist, spontan und ohne aktive Verstandestätigkeit zu ›sehen‹, was gut, richtig oder gesollt ist. Auch eine epistemologische Betrachtung komplexer Anschauungen klammere ich an dieser Stelle aus, komme aber unten im Kapitel über Emotionen auf sie zurück, wo ich schließlich behaupten möchte, dass in paradigmatischen Fällen das Verhältnis von Emotionen und komplexen Anschauungen, sofern diese praktischen Gehalt haben, psychologisch das der Identität ist. Gerade im moralischen Kontext wird für komplexe Anschauungen häufig der Ausdruck der ›Intuition‹ gebraucht, als Übersetzung von englisch ›intutition‹. Ich bevorzuge jedoch im Folgenden ›Anschauung‹. Dies ist zwar nicht von überragender Relevanz, da ›Intuition‹ bzw. ›intuition‹ als Ableitung vom lateinischen ›intuieri‹ aus ›in-‹ (dt. ›auf-, an-‹) und ›tueri‹ (dt. ›sehen, schauen, betrachten‹) mehr oder weniger ein Synonym bzw. eine direkte Übersetzung von ›Anschauung‹ ist. Letzterer Ausdruck scheint mir aber gerade mit der obigen Dreiteilung etwas weniger vieldeutig als die inflationäre Rede von Intuitionen. Zudem ist ›Anschauung‹ meinem Empfinden nach selbst anschaulicher, indem es die Konnotation nicht-inferentieller Begründung nahelegt und damit Missverständnisse vermeidet. 7 Neben der Abgrenzung von intellektueller und komplexer sollte die sinnliche Anschauung allgemein auch von der visuellen Sinneswahrnehmung unterschieden werden. Es ist vielleicht etwas redun7 Beispielsweise werden mitunter sogar rawlssche ›wohlabgewogene Urteile‹ als Intuitionen bezeichnet, die aber offenbar eindeutig dem Paradigma eines inferentiell erlangten Urteils entsprechen.
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dant, doch tut der Hinweis auch nicht weh, dass ich trotz der Dominanz des Gesichtssinns die Sinneswahrnehmung nicht modalitätsspezifisch, sondern in einem amodalen Sinn betrachten möchte. Mein Interesse gebührt gewissermaßen nicht nur einem moralischen Sehen, sondern genauso einem moralischen Hören oder Schmecken. Zuletzt ist es zweckmäßig, außerdem zwischen Sinneswahrnehmung und Beobachtung zu differenzieren. Diese Unterscheidung ist wegen dem häufigen Gebrauch der beiden Ausdrücke als Synonyme partiell explikativ. Zum Zwecke der Übersichtlichkeit erlaube ich es mir aber, den szientifischen Sound des Letzteren etwas zu verstärken, da es eine Frage ist, ob wir das Gute, Richtige und Gesollte in dem einen oder anderen Sinne wahrnehmen können, eine andere jedoch, ob wir dies auf methodisch-reglementierte und institutionalisierte Weise tun oder tun sollten, unter absichtsvoller Manipulation der Umwelt und der Kontrolle von Randbedingungen, die wir paradigmatisch mit Beobachtungen im Zuge eines Laborexperiments in Verbindung bringen. Mit Letzterem ist zudem das Problem der empirischen Testbarkeit praktischer Überzeugungen verbunden. Beobachtbarkeit und Testbarkeit werden gesondert im Fokus des nächsten Kapitels stehen. Schließlich sollte ich noch anmerken, dass ich mich auf diese Einteilung in Erfahrung, Anschauungsformen, Sinneswahrnehmung, Sehen und Beobachtung im Folgenden zwar als Richtlinie festlege. Es ergäbe allerdings einen recht unbeholfenen Stil, wenn ich penetrant überall ›sinnlich anschauen‹ oder ›eine Sinneswahrnehmung verzeichnen‹ einsetzen würde, wo der Volksmund vom Wahrnehmen, Erfahren oder Sehen spräche. Ich erlaube mir daher, gelegentlich von der Terminologie abzuweichen, wenn aus dem Kontext heraus klar wird, was gemeint ist.
ii.
Der Begriff der Sinneswahrnehmung
Die obigen Differenzierungen enthalten nur eine negative Charakterisierung der sinnlichen Anschauung. Daher möchte ich noch einige kurze Worte darüber verlieren, was positiv darüber gesagt werden kann, was ein mentales Phänomen zu einer Sinneswahrnehmung macht. Prima facie stehen dabei verschiedene Lösungsansätze zur Verfügung. Zunächst könnten wir uns beispielsweise schlicht auf den Gemeinsinn verlassen und annehmen, dass immer schon vorverstanden Praktische Anschauung
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ist, welche der mentalen Zustände eines Denkers zu den perzeptiven gehören. Diese Antwort ist allerdings nicht sonderlich informativ und erlaubt bei Uneinigkeit keine Mittel zur Klärung des Sachverhalts. Zweitens, könnte man annehmen, dass tatsächlich mehr als eine rein negative Charakterisierung der Sinneswahrnehmung nicht zu haben ist, weil ihr Begriff innerhalb des Clusters ›mentale Zustände‹ gleichursprünglich ist mit Begriffen wie Überzeugung, Erinnerung oder Phantasie. Ein perzeptiver Zustand könnte dann nur als ein solcher beschrieben werden, der eben nicht doxastisch, erinnert oder imaginiert ist. Diese Lösung ist aber offenkundig nur eine Variante der ersteren, weil wiederum ein Vorverständnis dessen vorausgesetzt wird, wie sich mentale Zustände nach Kategorien einordnen lassen und sollte, wie die erste, wegen ihres geringen Informationsgehaltes nur als Rückzugsposition akzeptiert werden. Eine weitere beliebte Antwort über das Wesen der Sinneswahrnehmung besteht in dem Rekurs auf ihre sogenannten ›Qualia‹ oder sinnlichen Eigenschaften, wie zum Beispiel die Röte meines Sichtfeldes bei der visuellen Betrachtung einer Tomate (vgl. Peacocke 2007: 2). Wie dem auch sei, trotz Anfangsplausibilität erlaubt der Verweis auf sinnliche Eigenschaften keine scharfe Trennung von Sinneswahrnehmung und andersartigen Zuständen, wie z. B. Imaginationen, die ebenfalls solche Eigenschaften aufweisen. Mit dieser Qualia-These eng verwandt ist die Abhebung auf die ›Feinkörnigkeit‹, d. h. der Inhaltsreichtum der Sinneswahrnehmung, die sie offenbar von rein propositional verfassten Einstellungen unterscheidet (vgl. Dretske 1988; Evans 1982: 229). Auch wenn dieser Aspekt als genuin perzeptiv gelten könnte, ließe sich damit aber lediglich ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied zwischen Wahrnehmung und anderen Zuständen ziehen. Zudem haben die beiden letztgenannten Ansätze die Schwierigkeit, dass sie auf einer nonkonzeptualistischen Wahrnehmungstheorie basieren (s. u.) und damit keine theorieneutrale Bestimmung erlauben. Ich halte es deshalb für den gangbarsten Weg, eine Variante der Kausaltheorie der Sinneswahrnehmung anzusetzen (vgl. Arstila und Pihlainen 2009; Grice 1961; Hyman 1992). Demnach erachte ich hier einen Wahrnehmungszustand als einen mentalen Zustand, für den gilt, dass er i) direkt, d. h. in Bezug auf den Zeitpunkt der Wahrnehmung ohne inferentielle oder nicht-inferentielle Vermittlung anderer mentaler Zustände durch kausale Interaktion mit der Umwelt des Denkers, und zwar ii) auf die richtige Weise verursacht ist, sowie iii) seitens des 42
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Denkers die Tendenz zu einer Modifikation seines Überzeugungssystems gebiert. Diese Definition schließt zwar einen Rest Vagheit nicht aus, da offen bleibt, was die ›richtige Weise‹ der Verursachung ist – etwa der visuelle Eindruck eines Elefanten, der als Folge des Tritts eines Elefanten gegen meinen Kopf auftritt, verwiese offenbar auf keine korrekte Kausalkette. Dennoch erlaubt sie auch in dieser Fassung eine Abgrenzung von Überzeugungen, Erinnerungen und Imagination, die entweder nur mittelbar durch Einfluss der Umwelt oder lediglich durch die kreative Produktivität des Verstandes selbst hervorgebracht sind, und kann andererseits durch Hinzuziehen wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Sinneswahrnehmung ergänzt werden. Daneben hat diese Bestimmung den Vorteil der Theorieneutralität. Denn weder wird vorausgesetzt, dass Sinneswahrnehmung notwendig einen repräsentationalen Inhalt besitzen muss, noch dass dieser Inhalt wider skeptische Szenarien durch die Art der Verursachung wahrscheinlich repräsentational korrekt ist. Das ›richtig‹ und das Kausalkriterium beziehen sich also hier lediglich auf die Individuierung von Zuständen als perzeptive überhaupt – auf eine andere mögliche Verwendung des Kausalkriteriums zur Rekonstruktion der Rationalität von Wahrnehmungsurteilen komme ich erst später zurück (s. 2.3.). In diesem Zuge suggeriert die Definition auch nicht, dass die Transition von Wahrnehmung zu einem Urteil bzw. zu einer Modifikation des Überzeugungssystems eine rationale Transition sein (können) muss. Eine Klärung des Wesens der Sinneswahrnehmung ist im Folgenden zwar nicht von absoluter Wichtigkeit. Ich beabsichtige allerdings, weiter unten (s. 4.4.) das Kausalkriterium erneut zur Unterscheidung von einfachen, sinnlichen und den erwähnten komplexen Anschauungen heranzuziehen, weshalb es sich anbietet, hier schon darauf einzugehen. Daneben möchte ich prophylaktisch weiterhin jedem Vorwurf entgehen, meine spätere Rede von praktischer Wahrnehmung sei lediglich ein metaphorischer oder analoger Sprachgebrauch.
iii. Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil Wenn man eine erkenntnistheoretische Frage zur Sinneswahrnehmung beantworten möchte, geht dies trivialerweise nicht ohne Explikation einer Theorie der Sinneswahrnehmung, von der nicht nur eine Praktische Anschauung
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mögliche Antwort, sondern die bloße Sinnhaftigkeit oder die Relevanz der Frage selbst abhängt. Nun ist es kein Geheimnis, dass der Bereich der Wahrnehmungsphilosophie – wie sollte es anders sein – nicht gerade Schauplatz des ewigen Konsenses ist. Dies gebiert im Rahmen einer komparativen Untersuchung die Schwierigkeit zu entscheiden, welche Theorie zur korrekten Formulierung und akzeptablen Lösung eines diesbezüglichen Problems herangezogen werden sollte. Für die zu Beginn lose hingeworfene Erwägung, ob wir das Gute und Richtige sehen können, leuchtet es etwa schnell ein, dass diese in manchem epistemologischen Kontext völlig irrelevant, in manch anderem nicht einmal sinnvoll ist. Man könnte diese Widrigkeit nun so angehen, dass man zunächst diskutiert, welche Konzeption der Sinneswahrnehmung die Überzeugendste ist, um dann darüber zu befinden, was diese für das Problem der praktischen Anschauung impliziert. Dies würde aber eine lange Vertiefung in die, teils recht aporetisch anmutenden, Auseinandersetzungen in der Wahrnehmungstheorie erfordern, so dass am Ende kein Raum mehr bliebe, die spezifischen Folgen für die ethische Erkenntnistheorie zu erörtern Meine Strategie hingegen, auf deren Details ich gleich zu sprechen komme, läuft darauf hinaus, eine wahrnehmungstheoretische These zu wählen, die unabhängig vom diesbezüglichen epistemologischen Kontext ist, um dann zu zeigen, warum sie sich durch diese Theorieneutralität auszeichnet, und gleichzeitig eine These bleibt, die trotzdem unser metaethisches Erkenntnisinteresse befriedigt. Auch im Rahmen dieser Argumentationsstrategie benötigen wir jedoch eine klare Übersicht über die einschlägige Theorielandschaft, die ich nun kurz skizzieren möchte. Ein gutes Verständnis der grundlegenden Wahrnehmungstheorien respektive ihrer Hauptthesen erlangt man, wenn man sie danach einteilt, ob sie prinzipiell das Wahrnehmungsproblem ansehen, a) als ein normatives, b) als eines der internen epistemischen Beziehung zwischen den Zuständen eines Denkers, c) als das einer Beziehung zwischen potentiellen begrifflichen Inhalten dieser Zustände und schließlich, ob sie d) Begründung immer und prinzipiell als inferentiell ansehen. Nach diesem Schema lassen sich dann sukzessiv kausalistische, konzeptualistische, nonkonzeptualistische, reliabilistische und behavioristische Theorien der Wahrnehmung unterscheiden. Erstens erscheint es als höchst sinnvoll zu sagen, dass das fundamentale erkenntnistheoretische Interesse wesentlich an der Frage 44
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hängt, was ein Denker im Streben nach Wissen (nach der Vermeidung von Irrtümern) tun oder nicht tun sollte und welche epistemischen Normen komplementär seine mentalen Handlungen regieren. Zweitens ergibt es eine recht natürliche Beschreibung des Sachverhalts, wenn wir sagen, dass im Detail das Problem dasjenige korrekter Transitionen zwischen mentalen Zuständen des Denkers ist, der diese Übergänge vollzieht, und dass elementare epistemische Normen für genau diese Übergänge formuliert bzw. artikuliert werden müssen – Letzteres könnte man die Annahme eines ›schwachen Internalismus‹ nennen, der entgegen stärkerer Versionen nicht von vornherein darauf besteht, dass die Legitimität einer mentalen Transition seitens des Denkers immer erfordert, dass diesem alle Gründe für den Übergang oder sogar der Umstand, warum diese tatsächlich Gründe sind, zugänglich sein müssen. 8 Auf die Sinneswahrnehmung bezogen bedeutete dies, dass wir überlegen müssen, ob und wann die mentale Transition zu einem Urteil auf der Grundlage einer Wahrnehmungsepisode, d. h. ein von dieser unterschiedenes Wahrnehmungsurteil, legitim ist. Dazu können wir sagen, dass eine notwendige Bedingung solcher Legitimität sein wird, dass die Wahrnehmung dabei über einen repräsentationalen Wahrnehmungsinhalt verfügt. Wahrnehmung kann nur dann eine rationale Grundlage für das Urteil darstellen, wenn diese in irgendeinem intelligiblen Zusammenhang mit ihm steht. Nun ist es drittens ebenfalls eine akzeptable Präsupposition, dass mentaler Inhalt immer einen begrifflich verfassten Inhalt bedeutet, weshalb auch jede genuin epistemische Relation stets die einer logischen Relation zwischen den begrifflichen Gehalten zweier Zustände ist. Das Paradigma für begrifflich verfasste Inhalte sind Urteile und Überzeugungen und das Paradigma einer epistemisch-logischen Relation zwischen zwei Urteilen ist die inferentielle Beziehung, die in Form Dies soll konkret bedeuten, dass ich die Unterscheidung von Internalismus und Externalismus in dieser Abhandlung nicht durch das Kriterium der Zugänglichkeit von Gründen fixiere, wie dies häufig geschieht. Denn einerseits erhellt leicht, dass sich mit diesem Kriterium ein üppiges Kontinuum von Internalismen und Externalismen eröffnet, je nachdem wie anspruchsvoll die Zugänglichkeitsbedingung angesetzt wird. Andererseits ist bloß mit dem Ziel einer Klassifikation eine genaue Ausbuchstabierung dieser Bedingung auch nicht erforderlich, da der Internalismus durch den Rekurs auf die epistemischen Relationen von perzeptiven und doxastischen Zuständen des Wahrnehmenden bereits trennscharf von den unten angesprochenen externalistischen Positionen unterschieden ist.
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eines deduktiven, induktiven oder abduktiven Schlusses vom einen auf das andere realisiert wird. Ist man nun der Auffassung, dass in der Tat Urteile die einzigen begrifflich verfassten mentalen Zustände sind und Begründung legitim nur im Modus der Inferenz erfolgen kann und somit alle vier der obigen Punkte bejaht, läuft dies auf einen wahrnehmungstheoretischen Kausalismus hinaus – bzw. etwas weniger spezifisch auf einen Kohärentismus. 9 Denn ist jede Form der Begründung eine inferentielle Transition zwischen Urteilen, während Sinneswahrnehmung als ein non-doxastischer Zustand vorgestellt wird, kann es keinerlei rationale, sondern lediglich kausale Beziehungen zwischen Erfahrung und Denken geben. Es ließe sich allerdings daran festhalten, dass Begründung stets auf einen Zusammenhang begrifflicher Inhalte verweist, aber bestreiten, dass ausschließlich Urteile über eine solche Konstitution verfügen, weil auch bereits die Sinneswahrnehmung begrifflich strukturiert ist. Tut man dies, übernimmt man die Position des Konzeptualismus. Unter diesem Vorzeichen ist dann die These gestattet, dass Begründung nicht zwingend inferentiell erfolgen muss, und die Vermutung, dass Sinneswahrnehmung wenigstens in einem minimalen Sinne ein ›Fundament‹ der Erkenntnis darstellt, insofern das Denken hier durch sie einer rationalen Kontrollinstanz unterliegt, die ›außerhalb‹ seiner selbst liegt. Kontrastiert wird diese Position wiederum durch die These, dass Begründung an sich weder inferentiell sein, noch einen begrifflichen Inhalt der beteiligten Zustände voraussetzen muss. Bei Übernahme eines Nonkonzeptualismus entsteht somit Raum für die Ansicht, dass perzeptive Zustände auch über einen nichtbegrifflichen repräsentationalen Inhalt verfügen. Die Idee nichtbegrifflichen Inhaltes erlaubt außerdem stärkere Versionen des Fundamentalismus, da es nun offenbar einen Referenzpunkt des Denkens gibt, der insofern ›rein‹ genannt werden kann, als er gegen begriffliche Irrtümer bzw. die Theorieabhängigkeit der meisten Urteile immun ist und deshalb in einem starken, begründungstheoretischen Sinne ein ›Fundament der Erkenntnis‹ abgeben kann. Er gestattet jedoch auch die Auffassung, dass in semanti-
Die anvisierte Position ist leicht ersichtlich der Kohärentismus Davidsons (s. u.). Während jedoch Davidson explizit jede Form nicht-inferentieller Rechtfertigung ausschließt, also etwa auch eine Form der intellektuellen Anschauung, möchte ich mit dem Ausdruck ›Kausalismus‹ nur auf die Haltung gegenüber der Frage perzeptiver Begründung abheben.
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scher Hinsicht wenigstens einige Begriffe auf jenen nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt ›gegründet‹ werden können. Die fundamentalen Differenzen dieser ersten drei Positionen ergeben sich somit durch ihre jeweilige Meinung zum Verhältnis von Überzeugungen, Begriffen und Gründen. Um es mit McDowells Worten auszudrücken: Während der Kausalist die Identität des Raums der Überzeugungen, des Raums der Begriffe und des Raums der Gründe behauptet, nimmt der Konzeptualist nur die Identität des Raums der Begriffe und des Raums der Gründe an, während der Nonkonzeptualist sogar die Identität des Raums der Begriffe mit dem Raum der Gründe bestreitet (vgl. McDowell 1994b: 1 ff.). Mit dieser Darstellung haben wir jedoch noch nicht die Liste möglicher Herangehensweisen an das Wahrnehmungsproblem ausgeschöpft. Denn ebenso könnte man bereits eine Eruierung der epistemologisch relevanten internen Beziehungen unter individuellen mentalen Zuständen für eine falsche Formulierung der Aufgabenstellung erachten und dieser vielmehr eine externalisierte Fassung verleihen wollen. Dabei lässt sich verschieden radikal vorgehen. Einerseits ließe sich das Problem ›sozialisieren‹, indem ohne Rekurs auf die interne epistemische Verfassung eines Individuums nur danach gefragt wird, wann situative, ohne inferentielle Vermittlung erlangte Urteile als verlässlich (wahrscheinlich korrekt) eingestuft werden können, und zwar aus der Perspektive von anderen Diskursteilnehmern. Dieser Reliabilismus ist externalistisch, hält aber dennoch am normativen Charakter des Problems fest, weil die sozialperspektivische Bewertung der Verlässlichkeit – zumindest in der von mir betrachteten Version – für die Wahl der dabei herangezogenen Bezugsklasse weiterhin einen Rekurs auf intersubjektiv geteilte Standards erforderlich macht. Schließlich ließe sich im Rahmen eines Behaviorismus nicht nur die ›mentalistische‹ Rede von Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteilen, sondern selbst noch die reliabilistische Vorstellung eines normativ strukturierten, öffentlichen ›Spiels des Gebens und Nehmens von Gründen‹ aufgeben. Versteigen wir uns auf diese Extremposition, ließe sich lediglich noch rein psychologisch von Korrelationen zwischen Umweltreizen und dem verzeichneten Sprachverhalten von Individuen sprechen. Wahrnehmungs- bzw. ›Beobachtungssätze‹ könnten dann definiert werden auf der Basis partieller Homogenität des verbalen Verhaltens aller relevanten Sprecher angesichts gewisser Umweltreize. Praktische Anschauung
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Das nachfolgende Programm soll nun so aussehen, dass ich mit dieser fünfgliedrigen Schablone demonstriere, dass die im nächsten Abschnitt aufgestellte Hauptthese des perzeptiven Egalitarismus mit all diesen Theorietypen nicht nur kompatibel ist, sondern – unter den in der Einleitung exponierten Hintergrundbedingungen – unausweichlich folgt. Dementsprechend besteht das Argumentationsziel nicht in einer vollständigen Kritik jener Ansätze, respektive widme ich mich einer freundlichen Kritik nur insofern, als dies für die Artikulation einer plausiblen Fassung jener Theorien erforderlich ist. Ich will dabei nicht bestreiten, dass die obige Darstellung recht idealtypisch ist und einige Facetten und Binnendifferenzierungen unterschlägt, von denen ich einigen bei Gelegenheit noch erwähnen werde. Ich denke, es ist jedoch hinreichend zustimmungsfähig, dass mit ihr alle wesentlichen Konfliktlinien herausgestellt sind, so dass, falls sich eine wahrnehmungstheoretische These als Implikation der Auffassung jeder einzelnen Partei erweisen lässt, wir die Ansicht angemessen untermauert haben, dass diese sich tatsächlich völlig neutral gegenüber jenen Debatten verhält.
iv.
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Bevor ich zum ersten zentralen Punkt komme, möchte ich noch mit einigen Bemerkungen zu der spärlichen Literatur aufwarten, die sich in der einen oder anderen Weise exklusiv mit der Frage praktischer Sinneswahrnehmung beschäftigt. 10 Ohne dabei in eine detaillierte Aufschlüsselung ausschweifen zu wollen, lässt sich die Begutachtung der Arbeiten so zusammenfassen, dass diese trotz vieler wichtiger Einsichten jeweils auf eine oder mehrere der folgenden drei Weisen unbefriedigend bleiben. Erstens setzen alle Autoren explizit oder implizit einen bestimmten Typus von Wahrnehmungstheorie, und zwar meistens einen konzeptualistischen, voraus, ohne diesen Schritt selbst zu rechtfertigen. Dies schürt den Verdacht, dass die verteidigte metaethische These nur im Rahmen sehr eng gefasster Prämissen verteidigt werden kann oder, falls Hintergrundannahmen nicht offengelegt werden, (Vgl. Blum 1991; Brink 1989: Kap. 7.2–3; Chappell 2008; Church 2010; Cullison 2010; Döring 2007; Goldie 2007; Harman 1977, 1986, 1988; Jacobson 2005; McBrayer 2010a, 2010b; McGrath 2004; McNaughton 2001; Müller 2008; Sturgeon 1986a, 1988; White 1981).
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eventuell irgendein ›Trick‹ in Argumenten für das moralische Sehen versteckt sein muss. Zweitens wird sich, sofern das Problem praktischer, sinnlicher Anschauung als normativ und internalistisch konzipiert wird, mit der Verteidigung der Auffassung begnügt, dass wir vernünftigerweise der Sinneswahrnehmung auch evaluativen, deontischen oder normativen Inhalt zuschreiben müssen. Die epistemologisch relevante Frage ist aber offenkundig nicht allein die des Wahrnehmungsinhaltes, sondern ultimativ die, welche Urteile auf dieser Basis rational sind. Entscheidend ist gewissermaßen nicht, was die Wahrnehmung ›sagt‹, sondern ob wir glauben sollten, was sie ›sagt‹. Drittens – und dies ist der methodologisch wichtigste Punkt – wird das Problem des moralischen Sehens üblicherweise in einem absoluten Sinn formuliert, oft mit der Grundintention, die ›Objektivität‹ der Moral abzusichern. Wie sich in der Einleitung zeigte, gilt jedoch für die Metaethik im Allgemeinen und für die Frage ethischer Wahrnehmung im Besonderen, dass diesbezügliche skeptische Positionen üblicherweise in einer nicht-absoluten, komparativen Stoßrichtung, im Vergleich vornehmlich mit den Naturwissenschaften, eingenommen werden. Eine absolute These der Art, dass wir tatsächlich das Gute und Richtige sehen können, antwortet also wiederum auf eine Frage, die allem Anschein nach gar nicht gestellt wurde, und ist wegen des ersten Punktes bei den genannten Autoren zudem nur unzureichend gedeckt, da üblicherweise eine (Letzt-)Begründung einer spezifischen Wahrnehmungstheorie gar nicht erfolgt. Entscheidend ist nicht, ob wir praktische Eigenschaften wahrnehmen können, sondern ob wir sie nicht oder ebenso wahrnehmen können wie nicht-praktische und das heißt vor allem naturwissenschaftliche Eigenschaften. In Reaktion auf die letzte Überlegung halte ich es daher für geboten, das Problem praktischer Wahrnehmung als die komparative Frage nach dem diesbezüglichen Abschneiden des praktischen Urteilens im Vergleich mit der paradigmatischen Referenzklasse der naturwissenschaftlichen Urteile anzusehen, und in Reaktion auf den ersten Punkt, eine ›optimistische‹ Antwort für sie möglichst theorieneutral zu formulieren. Dies lässt sich bewerkstelligen, indem wir vorerst eine wahrnehmungstheoretische Gleichheitsthese für die beiden Referenzklassen formulieren, die offen lässt, welches die relevanten Eigenschaften derartiger Urteile sind – ob sie in rein behavioralen Ausdrücken charakterisiert werden, ob mit ihnen eine normative Frage verbunden ist usw. Diese sollte in etwa so lauten: Praktische Anschauung
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WGT. Praktische und naturwissenschaftliche Wahrnehmungsurteile verfügen über die gleichen erkenntnistheoretisch relevanten Eigenschaften. Global betrachtet ist dies auch die These, die ich verteidigen möchte. Wie dem auch sei, in dieser unspezifischen Form ist sie kaum griffig genug, um gut mit ihr arbeiten zu können. Daher bevorzuge ich es, ihr zunächst unter Beschränkung auf eine normativistische und internalistische Sicht eine prägnante Fassung zu geben und dann später zu sagen, dass jene These sich in analoger Form, d. h. unter Anpassung an die andere wahrnehmungstheoretische Grundauffassung, auch aus externalistischer oder nicht-normativistischer Sicht aufrechterhalten lässt. Ohnehin wird die Betrachtung des Problems in diesem Rahmen den größten Raum einnehmen. Dies hängt damit zusammen, dass die normativistisch-internalistische gleisam die intuitive und überzeugendste Perspektive auf die Sinneswahrnehmung darstellt und, wie sich zeigen wird, auch nur in dieser Perspektive nennenswerte komparative Fragen zum moralischen Begründen zu beantworten sind. Dementsprechend ergibt sich für die Aufgabenstellung zuvorderst folgende Konstellation: Erstens suchen wir nach einer internen Relation zwischen der Sinneswahrnehmung und einem Urteil des Denkers, der sich in diesem perzeptiven Zustand befindet. Zweitens interessiert uns nicht eine Neigung oder Disposition des Denkers, auf jener Grundlage bestimmte Urteile zu fällen oder zu modifizieren, sondern eine potentielle normative Relation, die angibt, welche mentalen Handlungen auf perzeptiver Grundlage und aus rein epistemologischer Perspektive legitim sind, eine Relation, welche wiederum durch eine gültige epistemische Norm konstituiert wird. Eine gültige epistemische Norm müsste dabei drittens die Form einer epistemischen Berechtigung, nicht einer epistemischen Pflicht haben, derart dass ein Denker auf der Grundlage seiner Sinneswahrnehmung berechtigt ist zu urteilen, dass p, und zwar deshalb, weil ein so geurteilter Inhalt voraussichtlich wahr ist. 11 Denn eine epistemische Pflicht, perzeptiv zu urteilen, 11 Mir wurde zugetragen, dass landläufig eine Spannung vermutet wird zwischen deontologischen Konzeptionen der Begründung, die ein Urteil als begründet ansehen, wenn ein Denker allen seinen epistemischen Tugenden und Pflichten nachgekommen ist, und Konzeptionen der Wahrheitsförderlichkeit von Begründung, welche Begründung primär als eine Urteilsweise ansehen, die die Wahrheitswahrscheinlichkeit des Urteils erhöht. Ich kann diese Spannung nicht nachvollziehen. Vielmehr stimme ich in diesem Punkt mit Alston überein, wonach es einerseits primär darum geht, welche
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kann offenkundig allein deshalb schon nicht bestehen, weil ein Denker kein Interesse an p hat oder weil er sein Urteil auch anders als durch seine Sinneswahrnehmung begründen könnte. Eine notwendige Vorbedingung eines solchen Rechtes, so hatte ich bereits oben ausgeführt, wird daneben sein, dass sich für Wahrnehmungszustände überhaupt irgendeine Art von repräsentationalem Inhalt feststellen lässt. Viertens ist damit ebenso angedeutet, dass wir nach einer epistemischen Urteilsberechtigung fragen, nicht danach, ob ein rationales Individuum durch seinen perzeptiven Zustand berechtigt ist zu bezweifeln, zu erwägen, sich zu fragen etc., ob p. In diesem Zuge ist es unter dem Gesichtspunkt der Durchführbarkeit ebenfalls zweckdienlich, wenn wir fünftens nonprobalistisch, d. h. rein qualitativ, nach einer solchen Berechtigung fragen, also nicht, ob einige perzeptive Zustände es erlauben, komplementäre Urteile für wahrscheinlicher zu halten als auf der Grundlage alternativer perzeptiver Zustände. Dies bedeutet zwar in der anvisierten komparativen Perspektive eine leichte Einschränkung der Tragweite der nachfolgenden Argumentation, weil man wissen wollen könnte, ob Individuen berechtigt sind durch Sinneswahrnehmung praktische Urteile für ebenso wahrscheinlich wahr zu halten wie naturwissenschaftliche. Falls wir unsere These in diesem Standardfall durchbringen können, ist demgegenüber Zuversicht am Platze, dass sie sich auch nach Hinzunahme probabilistischer Komplikationen aufrechterhalten lässt. Zudem denke ich, dass nach Aufklärung der tatsächlichen Sachlage erhellt, dass der gegenteilige Fall kaum zu erwarten ist. Diese Details ergeben nun zunächst die Eckpunkte für das Schema einer epistemischen Norm der perzeptiven Berechtigung in absoluten Begriffen: SPB. Wenn ein rationales Individuum einen Wahrnehmungsinhalt, als ob p*, der Kategorie P verzeichnet, dann ist es unter Abwesenheit von Gegengründen berechtigt auf der Grundlage dieser Sinneswahrnehmung zu urteilen / zu beginnen zu glauben, dass p. Dieses Schema ist ersichtlich in Bezug auf die Art der beteiligten Inhalte und Transitionen neutral, da nicht suggeriert wird, dass jede Begründung inferentiell verlaufen muss. Durch das ›*‹ wird angezeigt, dass ein epistemischen Normen, welche Pflichten, Rechte und Tugenden einen Bereich der Deliberation regieren, andererseits aber die Gültigkeit dieser Normen nicht anders als unter Rekurs auf die Wahrheitsförderlichkeit der entsprechend angeleiteten Praxis verstanden werden kann (vgl. Alston 1996: 240 ff.). Praktische Anschauung
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mit einem propositionalen Urteil p korrelierter Wahrnehmungsinhalt nicht notwendig selbst propositional strukturiert sein muss. Daneben verdeutlicht es, warum es wenig Sinn ergäbe, quasiontologisch zu spekulieren, ob es ›echte‹ Wahrnehmungsurteile einer Kategorie P ›gibt‹. Denn Individuen könnten Urteile P auf der Grundlage ihrer Sinneswahrnehmung ohne epistemische Berechtigung fällen, so dass alle diese Urteile irrational wären und umgekehrt könnten sie nie solche Urteile fällen, obwohl sie unter geeigneten Umständen dazu berechtigt wären, oder es könnten in einer möglichen Welt gar keine Individuen mit Wahrnehmungszuständen existieren, obwohl in dieser eine perzeptive Berechtigungsnorm gültig ist. Dennoch verweist dieser Punkt auf eine Lücke, die noch auszufüllen ist. Denn der obige Konditionalsatz wird offenkundig auch dann wahr, wenn der Antezedens immer falsch ist, weil nämlich die Wahrnehmung nie Inhalte der Kategorie P aufweist. Dies ist für die angestrebte komparative Untersuchung recht ungünstig, da wir zwar ultimativ die Möglichkeit gleicher perzeptiver Berechtigung für praktische und naturwissenschaftliche Urteile prüfen wollen, für den Bereich der Praxis eine Berechtigungsnorm nach dem Schema SPB aber auf diese triviale Weise sehr leicht und somit witzlos als gültig erwiesen werden könnte. Deshalb ist es außerdem noch erforderlich, die bloße Möglichkeit eines Wahrnehmungsinhaltes der Kategorie P als weitere Bedingung zu stellen. Wenn wir zudem der These ihre anvisierte Fassung geben, gelangen wir nun zu der zweiteiligen Hauptthese des perzeptiven Egalitarismus: T1. Wenn es möglich ist, dass Wahrnehmungszustände rationaler Individuen naturwissenschaftlichen Gehalt aufweisen, dann ist es möglich, dass sie praktischen Gehalt aufweisen. T2. Wenn ein Denker, der sich in einem Wahrnehmungszustand mit dem naturwissenschaftlichen Gehalt, als ob pNW*, befindet, unter Abwesenheit von Gegengründen epistemisch berechtigt ist, auf Grundlage von pNW* zu urteilen, dass pNW, dann ist auch ein Denker, der sich in einem Wahrnehmungszustand mit dem praktischen Gehalt, als ob pP*, befindet, unter Abwesenheit von Gegengründen 12 epistemisch berechtigt, auf Grundlage von pP* zu urteilen, dass pP. Die Phrase ›Abwesenheit von Gegengründen‹ ließe sich selbstverständlich noch weiter elaborieren. Mindestens muss die Abwesenheit i) auf den Zeitpunkt/ das Zeitinter-
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Damit keine Missverständnisse bei der Interpretation aufkommen, möchte ich noch einmal herausstellen, was nicht mit der These gemeint ist, respektive was keine direkten Implikationen von ihr sind. Wegen der konditionalen Form von T1 und T2 wird non-komparativ weder gesagt, dass perzeptiver Inhalt praktischer Inhalt sein kann, noch, dass Denker auf der Grundlage eines solchen Inhaltes eine Urteilsberechtigung besitzen. Angesichts der Frage, ob wir das Gute und Richtige sehen können, behaupte ich lediglich indirekt, dass, wenn wir prinzipiell nicht sehen können, was gut, richtig oder gesollt ist, wir dann auch keine Makromoleküle oder Sonnenprotuberanzen sehen können, und wenn wir angesichts dessen, was wir als gut, richtig und gesollt wahrnehmen, nicht entsprechend urteilen dürfen, dann dürfen wir dies auch nicht im naturwissenschaftlichen Fall. Daneben werde ich als Unterklasse der naturwissenschaftlichen gelegentlich eher alltägliche Begriffe und Urteile auskoppeln. Dieser Zug steht nicht unwesentlich im Dienste rhetorischer Prägnanz. Denn der Sachverhalt lässt sich dann auch so darstellen, dass wir bei einer negativen Antwort im Falle der Praxis nicht einmal Bäume und Landschaften wahrnehmen, geschweige denn über sie perzeptiv urteilen könnten, so dass letztlich ethische Wahrnehmungsurteile als genauso respektabel wie naturwissenschaftliche und als genauso gewöhnlich wie alltägliche Wahrnehmungsurteile angesehen werden müssen. Dennoch, so möchte ich gleichfalls betonen, folgen aus dem perzeptiven Egalitarismus allein weder ein Empirismus noch ein genereller Antiskeptizismus, sofern dieser auf irgend geartete wahrnehmungstheoretisch motivierte Erkenntniszweifel gegründet ist. Es lässt sich zwar unschwer erahnen, dass hinsichtlich des Letzteren ein Hintergedanke meines Projektes ist, dass kaum jemand bereit sein wird, eine inegalitaristische, gegen die Ethik gerichtete Skepsis um den Preis der Unmöglichkeit von Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteilen überhaupt aufrechtzuerhalten. Aber dieser letzte Punkt liegt wegen meiner Enthaltsamkeit gegenüber der Frage, wie das Denken generell geerdet ist, außerhalb der Reichweite der anstehenden Untersuchung.
vall t (T) bezogen werden, zu dem die Wahrnehmungsepisode auftritt, und ii) auf die Gegengründe, die dem Denker zu t bzw. T bewusst zugänglich sind, wobei sich dann noch darüber streiten ließe, iii) wie weit die Rede von bewusster Zugänglichkeit zu fassen ist und ob iv) die epistemische Bewertung durch andere oder durch den Wahrnehmenden selbst erfolgen sollte. Praktische Anschauung
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Auf der anderen Seite ist nun leicht ersichtlich, dass es zwei grundlegende Strategien gibt, um den perzeptiven Egalitarismus zu kritisieren, indem man nämlich entweder zeigt, dass Wahrnehmungsinhalt naturwissenschaftlich, aber nicht praktisch sein kann (~T1), oder indem man zeigt, dass eine perzeptive Urteilsberechtigung für naturwissenschaftliche, nicht aber für praktische Inhalte besteht (~T2). Umgekehrt involviert der Beleg der These unabdingbar einen zweistufigen Argumentationsgang, insofern ich in den nächsten beiden Abschnitten zeigen möchte, dass es unmöglich ist, zwischen Praxis und Naturwissenschaften anhand von möglichen Wahrnehmungsinhalten oder einer etwaigen perzeptiven Berechtigung zu diskriminieren. Bevor ich dazu komme, sollte ich noch einmal in Erinnerung rufen, dass die Erörterung nach wie vor unter den in der Einleitung genannten Prämissen steht. Ich gehe also weiterhin zum Zwecke der Begrenzung denkbarer Einflussvariablen davon aus, dass momentan keine peripheren Differenzen zwischen den beiden Bereichen der Deliberation eine Rolle spielen, wir also semantisch von der Deskriptivität und Wahrheitsfähigkeit praktischer Urteile, ontologisch von der Existenz praktischer Eigenschaften und Tatsachen etc. – im Sinne der Naturwissenschaften – sprechen dürfen. Ebenfalls vorwegschicken sollte ich zudem noch, dass ich unten gelegentlich von der Wahrnehmung als einem ›repräsentationalen‹ Zustand sprechen werde. Dies soll nicht implizieren, dass ich damit auch eine repräsentationalistische Position bzw. einen ›indirekten Realismus‹ voraussetze. Unten (s. 2.5) werde ich noch auf einige (mutmaßlich) assoziierte Komplikationen eingehen. Vorerst sehe ich die angeschnittene Ausdrucksweise jedoch als neutral gegenüber der Frage an, ob der (mögliche) Inhalt der Sinneswahrnehmung ›die Dinge selbst‹ sind oder ob wir diese nur ›indirekt‹ über eine repräsentationale Zwischeninstanz wahrnehmen. Auf die wahrnehmungstheoretische Pointe einiger weiterer Prämissen komme ich unten noch zurück.
2.2. Perzeptiver Inhalt Wenn wir zeigen wollen, dass die erste Hälfte des perzeptiven Egalitarismus, die die gleiche Möglichkeit von praktischem und naturwissenschaftlichem Gehalt behauptet, korrekt ist, muss im Umkehrschluss gezeigt werden, dass es unmöglich ist, dass solcher Gehalt den Bereich 54
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Perzeptiver Inhalt
der Praxis, nicht aber den der Naturwissenschaften aus prinzipiellen Gründen ausschließt, und, so lautet der zusätzliche Begründungsanspruch, wir müssen diese Sicht für alle Theorievarianten belegen, die überhaupt von Sinneswahrnehmung als möglicher Grundlage eines Urteils zu reden bereit sind, nämlich für kausalistische, konzeptualistische und nonkonzeptualistische Positionen. In diesem Sinne gelangt man zu drei denkbaren Szenarien, die ich nun nacheinander betrachten möchte, nämlich dass die Wahrnehmung keinen, begrifflichen und/ oder nichtbegrifflichen Inhalt aufweist.
i.
Kein Inhalt
Unter der Präsupposition, dass die Sinneswahrnehmung selbst keinen repräsentationalen Inhalt aufweist, findet sich aus leicht ersichtlichen Gründen schnell eine Antwort, weshalb es sich anbietet mit diesem Fall zu beginnen. Als Repräsentant für eine kausalistische, respektive kohärentistische Position soll mir Donald Davidson dienen, der schreibt: »The relation between a sensation and a belief cannot be logical, since sensations are not beliefs or other propositional attitudes. What then is the relation? The answer is, I think, obvious: the relation is causal. Sensations cause some beliefs and in this sense are the basis or ground of those beliefs. But a causal explanation of a belief does not show how or why the belief is justified.« (Davidson 2001a: 143)
Davidson schließt zwar durch die ausschließliche Nennung von ›propositionalen Einstellungen‹, unter die letztlich nur Überzeugungen fallen sollen, nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt nicht explizit aus. Der Stoßrichtung des Zitats können wir aber, denke ich, entnehmen, dass er diese Idee für noch obskurer hält als die Idee begrifflichen Erfahrungsgehaltes. Damit erhalten wir eine einfache Antwort, warum T1 unter kausalistischem Vorzeichen gültig sein muss. Zwar ist praktischer Wahrnehmungsgehalt unmöglich, aber ebenso naturwissenschaftlicher, weil Sinneswahrnehmung eben überhaupt keinen Inhalt aufweist. Ebenso aber wird dadurch T2 gültig, weil bei der völligen Abwesenheit von repräsentationalem Inhalt in der Wahrnehmung auch keinerlei rationale, sondern nur kausale Beziehungen zwischen ihr und doxastischen Zuständen bestehen können, weshalb Wahrnehmung
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nie zu einem Wahrnehmungsurteil berechtigen kann. 13 Da eine Urteilsberechtigung nicht aus dem epistemischen ›Nirgendwo‹ auftauchen kann, ist irgendeine Art von Erfahrungsgehalt eine conditio sine qua non für derartige normative Relationen zwischen Wahrnehmung und Urteil. Auf der Kehrseite bedeutet dies, wenn doxastische Zustände die einzigen Zustände mit repräsentationalem (begrifflichen) Inhalt sind, dass dann jede Form der Begründung inferentiell sein muss, wie Davidson in seiner Definition des Kohärentismus zum Ausdruck bringt: »What distinguishes a coherence theory is simply the claim that nothing can count as a reason for holding a belief except another belief.« (ebd. 141)
Daraus können wir die weiterführende Einsicht ableiten, dass im Rahmen des Kohärentismus die Behauptung begründungstheoretischer Differenzen zwischen praktischem und naturwissenschaftlichem Denken zwangsläufig anhand einer These zur inferentiellen, nicht aber der nicht-inferentiellen Begründung gerechtfertigt werden muss. Auf kohärentistischer Grundlage muss somit der perzeptive Egalitarismus schlicht durch das Fehlen eines anspruchsvollen Verständnisses perzeptiver Berechtigung korrekt sein. Dadurch wird es gleichsam nachvollziehbar, dass Vertreter eines Kohärentismus, wie zum Beispiel David Brink, eine starke Affinität zu einer egalitaristischen Position besitzen (vgl. Brink 1989: Kap. 5). 14 Unter Beibehaltung von Davidsons erster These, dass nur Überzeugungen repräsentationalen Inhalt besitzen, wäre allerdings noch eine weitere Möglichkeit denkbar, um die Idee rationaler Beziehungen von Erfahrung und Denken zu sichern, nämlich durch die These, dass letztlich Wahrnehmungen ebenso Überzeugungen sind. In diesem Sinne entwickelt Kathrin Glüer (2004, 2009) eine ›doxastische Theorie der Erfahrung‹. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, dass ihr Ansatz auf mehr als eine Verteidigung von Davidson gegen McDowells Konzeptualismus hinausläuft, da die logische Konsequenz auch dieser doxastischen Theorie lautet, dass es keine Wahrnehmungszustände im Sinne einer nicht-doxastischen, nicht-inferentiellen Grundlage bzw. einer Kontrolle von ›außerhalb‹ des Denkens gibt. In jedem Fall würde aber auch die doxastische Theorie darauf hinauslaufen, dass es keine genuin perzeptive, epistemische Norm, sondern nur Normen des inferentiellen Schließens gäbe, weshalb auch in diesem Rahmen keine Gefahr für die Gültigkeit von T1 und T2 bestünde. 14 Im Übrigen muss dieser Ansatz nicht notwendig den Begriff eines Anschauungsurteils aufgeben. Der Kohärentismus kann einerseits zugestehen, dass selbstverständlich in einer Situation einem Denker gewisse Urteile ›in den Sinn kommen‹, wird aber darauf hinweisen, dass diese spontan auftretenden Leistungen epistemologisch keinerlei perzeptive Tiefgründigkeit besitzen, sondern eben nur in einer kausalen Regel13
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Perzeptiver Inhalt
ii.
Begrifflicher Inhalt
Wollen wir etwas großzügiger sein als der Kausalismus und die Sinneswahrnehmung in puncto repräsentationale Ressourcen nicht als einen Bereich absoluter Armut konzipieren, können wir eine konzeptualistische Position einnehmen (vgl. McDowell 1994b: 9 ff.). Den Konzeptualismus verstehe ich als die Behauptung, dass sich alle repräsentationalen Eigenschaften eines perzeptiven Zustandes ausschließlich als begriffliche Eigenschaften dieses Zustandes beschreiben lassen (sofern eine sinnliche Anschauung unter dem Gesichtspunkt ihrer konstitutiven Beziehung zu einem neuronalen Muster des Gehirns betrachtet wird, hat sie selbstverständlich auch noch andere Eigenschaften). Dadurch schließt diese Position sowohl nichtbegrifflich- repräsentationale als auch nicht-repräsentationale, rein sinnliche Eigenschaften der Wahrnehmung (Qualia) aus. Sie erlaubt damit den Gedanken, dass sinnliche Anschauung epistemische Relationen zum Denken unterhält und eine rationale Kontrolle von ›außerhalb‹ des Überzeugungssystems ausübt. Umgekehrt impliziert sie, dass der Inhalt der Sinneswahrnehmung immer und prinzipiell ganz in Reichweite des Begriffsschemas eines Denkers liegt, so dass keine perzeptive Ebene ›jenseits, unterhalb oder vor‹ den Begriffen existiert. Gerade in konzeptualistischer Perspektive wächst die Neugier, welches dann wohl die Wahrnehmungsbegriffe unseres Schemas sind, also Begriffe, die geeignet sind, einen Wahrnehmungszustand zu mäßigkeit mit Umweltreizen stehen, quasi nur Gelegenheitsurteile sind, wie man in Anspielung auf einen Ausdruck Quines sagen könnte. Andererseits ließe sich ausführen, dass in jedem Fragment von Deliberation oder einem Gespräch unabdingbar die Wahrheit vieler Überzeugungen vorausgesetzt werden muss, weil sich nicht alle Überzeugungen gleichzeitig bezweifeln lassen. In diesem Fall müsste ebenso pragmatisch vorausgesetzt werden, dass diese Überzeugungen nicht-inferentiell gerechtfertigt sind, ohne dass ein aktuelles Erfordernis besteht, diese auch aktiv zu rechtfertigen (vgl. Alston 1983: 84; Rosenberg 2002: 122 ff.). Diese Urteile können dann in einem analogen Sinn in Bezug auf jene, ohne inferentielle Absicherung getroffene Unterstellung ›intuitiv‹ genannt werden, während jedoch der Gedanke einer non-doxastischen Grundlage jener Urteile aus dem Bild gestrichen wird. Diese Streichung erklärte dann auch die entdifferenzierte Rede von Anschauungen, beziehungsweise ›Intuitionen‹ in vielen philosophischen Debatten. In komparativer Perspektive könnte man zudem fragen, ob es denn in dieser zweifachen Hinsicht praktische Anschauungsurteile ›gibt‹, aber ich denke, es darf als unkontrovers gelten, dass praktische Urteile uns sicherlich sowohl situativ ›in den Sinn kommen‹ können als auch in der Deliberation als wahr unterstellt werden, falls sie geglaubt werden, jedoch nicht thematisch sind. Praktische Anschauung
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strukturieren, und welches ihnen gegenüber die Theoriebegriffe darstellen, die diese bewundernswerte Fähigkeit nicht besitzen. 15 Genauer aber interessiert uns, ob wir zu der Einsicht gezwungen sind, dass naturwissenschaftliche, nicht aber praktische Begriffe sich für möglichen Wahrnehmungsinhalt qualifizieren, in welchem Fall T1 falsch wäre. Zur Vergegenwärtigung, was damit im Detail zur Begutachtung ansteht: Es muss überlegt werden, ob i) naturwissenschaftliche Begriffe für Gegenstände wie ›Proton‹, ›Magnetfeld‹, ›Chlorophyll‹, ›Virus‹, ›Sonnenprotuberanz‹, für Eigenschaften wie ›ist alkalisch‹ oder ›ist positiv geladen‹ oder Relationen wie ›… übt mechanischen Druck aus auf …‹, ›… zersetzt …‹, ›… zieht an …‹, i’) alltägliche Begriffe wie ›Stein‹, ›Baum‹, ›Labrador‹, ›matschig‹, ›zerbrochen‹, ›schimmelig‹, ›porös‹ und ii) praktische, d. h. evaluative, deontische oder normative Begriffe wie ›gut‹, ›schlecht‹, ›mutig‹, ›ordentlich‹, ›harmonisch‹, ›ungemütlich‹, ›freundlich‹, ›grausam‹, ›richtig‹, ›falsch‹, ›gesollt‹ Wahrnehmungsbegriffe sind, beziehungsweise sein können. 16 Nicht ausgeführt hatte ich hingegen bislang die Bewandtnis einiger egalitaristischer Prämissen, die ich oben getroffen habe (1.2). Denn drei von ihnen haben nun erkennbar die folgende wahrnehmungstheoretische Pointe. Erstens gehe ich von einem Non-Reduktionismus aus (VI), weil bei einem ultimativen Zusammenfallen praktischer und naturwissenschaftlicher Begriffe sich an dieser Stelle trivialerweise keine Unterschiede ergeben könnten. Dies würde das Argument offenkundig zu einfach machen. Zweitens nehme ich an, dass wir für alle rationalen Individuen davon ausgehen können, dass diese über ein korrektes Verständnis praktischer Begriffe verfügen oder wenigstens ein solches Verständnis erwerben könnten, da ich zum Zweck dieser rein begründungstheoretischen Betrachtung etwaige semantische Probleme bezüglich eines rationalen Begriffserwerbs ausklammern möchte (I’). Wichtiger als dies ist jedoch noch drittens die Voraussetzung kognitiver Suffizienz (IV/IV’), d. h. die Annahme, dass wir psychologisch keine Doppelstruktur kognitiver Zustände wie Überzeugungen, ErinneQuer zu dieser Unterscheidung führt McDowell unter Berufung auf Kant in einem neueren Text noch die Differenzierung zwischen intuitionaler Form und der propositionalen Form eines Begriffs ein. Da dies aber, soweit ich sehe, für das hiesige Problem nicht relevant ist, übergehe ich diese Zusatzkomplikation (vgl. McDowell 2009: 260 f.). 16 Auf den etwas gewollten, zum Zwecke der Untersuchung doch zwingenden Charakter dieser Unterscheidung von praktischen, naturwissenschaftlichen und alltäglichen Urteilen hatte ich bereits oben hingewiesen (s. 1.4). 15
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Perzeptiver Inhalt
rungen oder Sinneswahrnehmungen und ›konativer‹ Zustände wie Wünsche, Pro-Einstellungen oder ähnliches postulieren müssen, weil derartige Zustände entweder bloße Phantome sind oder sich auf Zustände kognitiver Art zurückführen lassen. Diesem Schritt liegt nun der folgende Hintergedanke zugrunde. Sagen wir, wir hätten demonstriert, dass eine Wahrnehmungsepisode potentiell diesen propositionalen Gehalt aufweisen kann: ›Dies ist grausam‹. Dann ließe sich immer noch bestreiten, dass wir damit gezeigt hätten, dass tatsächlich ein genuin praktischer Begriff diese Anschauung strukturiert. Man könnte nämlich einwenden, dass der besagte Wahrnehmungsinhalt auf eine nicht-evaluative, ›rein deskriptive‹ Bedeutung von ›grausam‹ verweisen könnte, insofern ein Denker etwas als grausam ansehen könnte, ohne dass er diesem Inhalt irgendeine praktische Relevanz beimisst und dass er diesen Inhalt umgekehrt auch nur dann als relevant ansehen wird, wenn er zudem noch über eine entsprechende ›Pro-Einstellung‹ verfügt. Man könnte dann sagen, dass erst aus der Kombination jener wertneutralen Wahrnehmung mit dieser Pro-Einstellung, die irgendwie – jedenfalls aber non-perzeptiv – gehabt bzw. gewusst wird, das genuin praktische Begreifen des Gegenstandes erwächst. Schließen wir nun den letzten Schachzug von vornherein aus, ist es zwar immer noch möglich, dass ein Individuum einen wertneutralen Wahrnehmungsgehalt aufweist, der konventionell mit dem sprachlichen Ausdruck ›Dies ist grausam‹ wiedergegeben werden kann. Aber bar einer konativen Auflösung des Paradoxes können wir nun darauf verweisen, dass dies ein ironischer oder die herrschende Meinung zitierender Gebrauch dieses Ausdrucks sein muss, während eine korrekte sprachliche Wiedergabe dieses Inhaltes vielmehr ›Dies ist ganz und gar nicht grausam‹ oder ›Dies ist etwas, von dem die meisten Leute sagen würden, dass es grausam ist‹ lautet. Die letzten beiden propositionalen Inhalte werden jedoch durch einen Begriff mitkonstituiert, der tatsächlich evaluativ ist. So ist gewährleistet, dass mit dem, was konventionellerweise mit ›grausam‹ ausgedrückt wird, auch tatsächlich der gesuchte dichte ethische Begriff – und mutatis mutandis jeder praktische Begriff – korrekt individuiert ist. In diesem Zuge tritt auch die implizite Verbindung zwischen der psychologischen Annahme der kognitiven Suffizienz und der semantischen Ablehnung einer speziellen ›emotiven Bedeutung‹ praktischer Begriffe oder Urteile hervor (vgl. Stevenson 1937: 22 f.). Mir ist durchaus bewusst, dass diese Festlegung aus Sicht vieler die Aufnahme einer Praktische Anschauung
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Sinneswahrnehmung
recht großen Hypothek bedeuten wird. Die Klärung der betreffenden Frage würde aber eine epische Auseinandersetzung mit diversen wunschbasierten Modellen praktischer Deliberation erfordern, die mir gegenwärtig nicht möglich ist. Deshalb bin ich zu meinem Bedauern an dieser Stelle gegenüber denjenigen, die an der kognitiv-konativ-Dichotomie festhalten möchten, auf die bloße Beteuerung angewiesen, dass es gute Gründe für jene Prämissen gibt. 17 Mit diesen Zwischenbemerkungen kehre ich zu der Suche nach den Wahrnehmungsbegriffen zurück und möchte nun vier Argumente präsentieren, warum im Rahmen des Konzeptualismus die inhaltsbezogene These des perzeptiven Egalitarismus korrekt sein muss. Sie gilt, weil i) sich alle herkömmlichen Versuche, eine essentialistische Trennlinie zwischen Wahrnehmungs- und Theoriebegriffe zu ziehen, als eindeutig nicht erfolgreich herausstellen, ii) weil wir nicht davon ausgehen können, dass es irgendeine Prozedur gibt, um diese beiden Begriffsklassen zu bestimmen, iii) weil eine Reflexion auf unser Verständnis des ›Sichtbaren‹ vielmehr nahelegt, dass die anvisierte Unterscheidung nicht absolut, sondern bloß kontextuell ist, und iv) weil es in Anbetracht zahlloser Beispiele phänomenologisch bestechend plausibel ist, an die perzeptive Eignung von praktischen Begriffen zu glauben. Zweifel daran, dass es in unserem Schema Begriffe gibt, deren besonderes Wesen ihnen das Privileg des Zutritts zur sinnlichen AnAls kurzen Hinweis möchte ich nur anmerken, dass sowohl die frühen Emotivisten im Umkreis des Logischen Empirismus, wie der gerade zitierte Stevenson (vgl. ebd. 29), und auch zeitgenössische Expressivisten (s. u. 2.2.iv.) ihre semantische und psychologische Position wesentlich auf ihre Wahrnehmungstheorie einerseits, ihre Emotionstheorie andererseits stützen. Um nun aber nicht selbst hochgradig petitiös zu sein, können wir berechtigterweise fordern, dass sich in diesen beiden Bereichen ein unabhängiges und triftiges Argument für diese Unterscheidungen ergeben sollte, und zwar ohne diese bereits vorauszusetzen. Umgekehrt sollten wir es aber als einen vernünftigen Grundsatz begrifflicher Festlegungen ansehen, dass diese irgendwie von der Sachlage her auf irgendeine Weise motiviert sein und ansonsten als nichtig angesehen werden sollten. In diesem Sinne lässt sich im Folgenden wenigsten zeigen, dass sich ein solches unabhängiges Argument gerade nicht ergibt und dass jene Unterscheidungen in der Tat nichtig oder systematisch redundant sind, sofern sich auch in keinem anderen Bereich der Rechtfertigungstheorie, der Semantik, der Psychologie oder Ontologie ein solches unabhängiges Argument ergibt. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich zeigt, dass dort alle mutmaßlichen souveränen Argumente direkt oder indirekt auf einer These zur Sinneswahrnehmung oder zur Emotionalität beruhen – und dies scheint mir, wie ich später in einer strategischen Projektion für die Verteidigung des allgemeinen Egalitarismus erläutern werde, zuzutreffen (s. Kap. 5).
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schauung gestattet, und solche, denen dieser Zugang prinzipiell versperrt ist, könnten bereits bei der Konzentration auf den Kontrastbegriff in spe entstehen. Denn in gewisser Weise ist der Ausdruck ›Theoriebegriff‹ ein Pleonasmus. Es kann mittlerweile als unkontrovers gelten, dass, welche Bedingungen auch immer wir ansonsten dafür noch aufstellen mögen, es notwendig zu dem Umstand gehört, dass etwas ein Begriff mit einer bestimmten Bedeutung ist, dass dieser in gewissen logischen Beziehungen zu mindestens einigen anderen Begriffen steht, mit denen er informative propositionale Inhalte konstituiert. Diese Beziehungen garantieren, dass es genau dieser Begriff ist, und nicht ein anderer (vgl. Peacocke 1992: 2 ff.). So gehört es beispielsweise zur Bedeutung des Begriffs ›Katze‹, dass damit ein Lebewesen gemeint ist, so dass ›Eine Katze ist ein Lebewesen‹ eine sinnvolle Proposition ergibt. Dementsprechend gehört es zum Begriffsbesitz seitens eines Denkers, dass dieser in der Lage ist, unter einschlägigen Umständen diese logischen Bezüge inferentiell zu realisieren. Damit ihm das Beherrschen von ›Katze‹ nachgesagt werden kann, muss er die Fähigkeit besitzen, aus dem Umstand, dass etwas eine Katze ist, zu erschließen, dass dies dann ein Lebewesen sein muss, für den Besitz von ›rot‹ die Fähigkeit, aus der Röte eines Gegenstandes zu schließen, dass dieser nicht in derselben Hinsicht blau ist, für den Besitz von ›Proton‹, dass X dann ein Elementarteilchen und positiv geladen ist, usw. – auf die Details soll es mir zu diesem Demonstrationszweck nicht ankommen. Für den Besitz praktischer Begriffe wie ›tapfer‹ könnte etwa gefordert werden, dass erschlossen werden kann, dass etwas pro tanto gut ist, wenn es tapfer ist, oder wie ›gesollt‹, dass es rational wäre, F zu tun, wenn F gesollt ist (vgl. Wedgwood 2001a). Diese Bedingungen des Begriffsbesitzes zeigen nun wiederum eine Interdependenz zwischen Überzeugungen und Bedeutung an. Denn ein Individuum könnte nicht im Besitz eines Begriffes sein, wenn es nicht Überzeugungen besäße über die logischen Bezüge, die konstitutiv für die Bedeutung jenes Begriffs sind, ebenso wie es nicht genau diese Überzeugungen haben könnte, wenn man den für sie konstitutiven Begriffen nicht eine bestimmte Bedeutung zuschreiben könnte (vgl. Davidson 1984). Da sich aber anstelle von einem Konglomerat von Überzeugungen über eine Sache ebenso von einer Theorie dieser Sache seitens des Denkers sprechen lässt, wie elaboriert oder anspruchslos diese auch sein mag, gelangen wir so zu der Einsicht in die generelle Theorieabhängigkeit jedes mentalen Vorkommnisses eines Praktische Anschauung
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Begriffs und darüber auch zu der Einsicht in die generelle Theorieabhängigkeit von Erfahrung, sofern es um den begrifflichen Inhalt einer sinnlichen Anschauung geht. Dies erhellt, dass die besondere Beschaffenheit eines sogenannten Theoriebegriffs auf mehr hinauslaufen müsste als die einigermaßen triviale Tatsache seiner inferentiellen Einbettung. Umgekehrt lassen sich die gesuchten Wahrnehmungsbegriffe nicht so bestimmen, dass sie völlig ohne derartige Bezüge auskommen. Dass aber der Versuch einer Etablierung der anvisierten Differenz im Sinne einer absoluten Trennung zweier Begriffsklassen vielmehr auf prinzipielle Schwierigkeiten stößt, zeigt sich nun zunächst, wenn wir einen kurzen historischen Ausflug zum Schöpfer dieser Terminologie, Rudolf Carnap, unternehmen. Denn auf der Suche nach Anhaltspunkten für den Sinn der Unterscheidung von Wahrnehmungs- (bzw. Beobachtungsbegriffen) und Theoriebegriffen erbringt die Lektüre der einschlägigen Schriften Carnaps das überraschende Ergebnis, dass dieser keinerlei Kriterien vorbringt, wie wir unsere Beobachtungsbegriffe identifizieren können. Wir finden lediglich eine Aufzählung von Entitäten, die nach Carnap Referenzpunkte eines Beobachtungsbegriffs sind. Beobachtungsbegriffe sind demnach z. B. ›Ding‹, ›hart‹, ›weiß‹, ›kalt‹, ›wärmer als‹, ›berührt y‹ und Begriffe der elementaren Logik (z. B. �, 8), während zu den Theoriebegriffen gehören: ›Raum-Zeit-Stelle x, y, z‹, ›elektrisches Feld‹, ›Gravitationsfeld‹, ›Elektron‹, ›Atom‹, aber auch psychologische Termini wie ›Trieb‹ oder ›Fähigkeit‹ (vgl. Carnap 1958: 237 ff.; Carnap 1960: 212). Ansonsten erhalten wir nur an einer Stelle den lapidaren Hinweis: »Die Beobachtungssprache verwendet Terme, die beobachtbare Eigenschaften und Beziehungen bezeichnen, zur Beschreibung beobachtbarer Dinge oder Ereignisse.« (Carnap 1960: 209)
Während für die Theoriesprache gilt: »… [Sie] enthält Terme, die sich auf unbeobachtbare Ereignisse, unbeobachtbare Aspekte oder Züge von Ereignissen beziehen können …« (ebd. Carnap 1960)
Daneben gelte für die Beobachtungssprache außerdem, dass sie vollständig verstanden ist, im Gegensatz zu der nur unvollständig verstandenen Theoriesprache (vgl. Carnap 1958: 236). Diese Charakterisierungen sind aber sicherlich nicht besonders 62
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hilfreich. Erstens sind die obigen Festlegungen nichtssagend. Dass ein Begriff der einen Wahrnehmungsinhalt mitkonstituiert 18 dadurch ipso facto die Entität, von der er handelt, wahrnehmbar macht, ist ein zu minimalistischer Punkt, als dass er einsichtig machen würde, was denn dann wahrnehmbar ist. Zweitens ist die Bestimmung offenkundig bösartig zirkulär, da wir das Wahrnehmbare nicht ohne Rekurs auf mögliche Inhalte unserer Wahrnehmung und mögliche Inhalte unserer Wahrnehmung nicht ohne Rekurs auf das Wahrnehmbare bestimmen können. Es sei denn, die Unterscheidung wäre entweder auf Begriffsoder Gegenstandsebene evident. Aber drittens ist sie nicht evident. Viertens dürfte auch der Verweis auf das ›vollständige Verständnis‹ der Beobachtungssprache keine Linderung bringen. Denn in Reflexion auf die empirische Fallibilität von begründeten Überzeugungen und der Interdependenz von Überzeugungen und Bedeutung, müssen wir damit rechnen, dass eine Modifikation unseres Überzeugungssystems auch eine Modifikation unseres Begriffssystems erbringt. 19 Schließlich lassen sich aber – worauf Putnam schon vor längerer Zeit hingewiesen hat – allein mit Begriffen, wie Carnap sie anführt, schnell und problemlos zahllose hybride Gegenbeispiele produzieren (vgl. Putnam 1979: 219). Es lässt sich sinnvoll und oft wahr behaupten, dass die Atome sich berühren oder dass ein Elektron kleiner als ein Proton ist, und es lassen sich mit dem nötigen Instrumentarium beispielsweise Dinge wie die Monde des Saturns, Bakterien oder Viren wahrnehmen, die ohne diese oder vor Entwicklung entsprechender Werkzeuge wie Teleskope oder (Elektronen-)Mikroskope nicht wahrnehmbar gewesen sind. Ich vernachlässige hier die durch Carnaps Rede von Beobachtungs- und Theoriesprache auftauchende Problematik der Beziehung von Begriff und sprachlichem Ausdruck. 19 Man könnte zwar hierauf so reagieren, dass man die logischen Bezüge, deren Realisierung für den Begriffsbesitz erforderlich sind, radikal einschränkt und davon ausgehen, dass wenigstens einige Begriffe, zum Beispiel Farbbegriffe, gegen solche Modifikationen immun sind. Dann fragt sich aber, warum es so plausibel wirkt, dass neue Erkenntnisse durchaus nicht nur unser Wissen, sondern auch unser Verständnis von Farbe verändern können. In jedem Fall sollten wir aber wohl annehmen, dass, wenn wir der Idee eines vollständigen Verständnisses einer Sache einen Sinn abgewinnen können, dass dann auch die Begriffe vollständig verstanden/verstehbar sind, die aufs Radikalste unabhängig von empirischer Erfahrung sind, nämlich logische und mathematische. Es käme aber einer Parodie der anvisierten Unterscheidung gleich, wenn mit dem Kriterium eines vollständigen Verständnisses herauskäme, dass auch der Begriff ›Integral einer Potenzfunktion‹ ein Wahrnehmungsbegriff ist. 18
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Während angesichts dieser schwachen Fundierung in historischer Perspektive schon ernsthafte Zweifel am Sinn einer absoluten Einteilung unseres Schemas in Begriffe, die Eingang in einen Wahrnehmungsinhalt finden können, und diejenigen, denen dies verwehrt bleibt, aufkommen können, lassen sich nun im zweiten Schritt gute Gründe anführen, wonach dies prinzipiell nicht möglich ist. Denn betrachten wir es so: Wenn sich unser Schema in Wahrnehmungs- und Theoriebegriffe zergliedert, sollte es eine Methode geben, diese zwei Klassen eindeutig zu bestimmen. Beschreiben wir diese Methode entlang der allgemeinsten Kategorien, dann sollte diese entweder a) eine apriorische oder b) eine endliche empirische Methode sein, oder eventuell als dritte Möglichkeit c) in einem Rekurs auf die Selbstevidenz des Status eines Begriffs bestehen. Nun hatte ich gerade bereits festgestellt, dass der Wahrnehmungscharakter von Begriffen offenbar nicht selbstevident ist, weshalb wir die letzte Möglichkeit außer Acht lassen können. Ebenso kann aber die gesuchte Prozedur auch nicht rein apriorisch sein, da wir schließlich von paradigmatischem empirischem Gehalt sprechen, der nicht nur bloß auf Sinneserfahrung beruht, sondern Sinneserfahrung ist. Schließlich kann es jedoch auch keine endliche empirische Methode geben, da die Menge möglicher empirischer Inhalte unendlich ist. Deshalb ist es seinerseits unmöglich, ihren Gehalt in einem finiten Verfahren festzustellen. Dagegen könnte man noch einwenden, dass dies nur beweist, dass wir die Unterteilung zwischen Wahrnehmungs- und Theoriebegriffen nicht erkennen können, nicht dass es sie nicht gibt. Nun gut, aber damit ist a fortiori das Zugeständnis erzwungen, dass die Differenz in diesem absoluten Sinne für uns keinerlei wahrnehmungstheoretische Relevanz besitzen kann. Statt uns auf das Wesen von Begriffen zu konzentrieren, könnten wir hingegen auch versuchen, den Spieß umzudrehen, um die anvisierte begriffsbezogene Unterscheidung durch eine ontische Differenz unter den Entitäten zu begründen, die in Wahrnehmungsinhalten repräsentiert sind, und zwar indem wir auf das Wesen des Wahrnehmbaren bzw. des Sichtbaren reflektieren. Die Idee wäre, dass gewisse Dinge in der Welt ihre Sichtbarkeit, andere ihre Unsichtbarkeit in einem starken und nonkontingenten Sinne ›eingebaut‹ haben. Auch mit diesem neuen Projekt empfiehlt es sich jedoch methodologisch, einen möglichst unproblematischen Ausgangspunkt zu wählen, und es sieht so aus, als ließe sich schnell und einfach eine Eintei64
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lung in sichtbare und unsichtbare Dinge vornehmen, nämlich in Bezug auf die aktuellen Wahrnehmungsinhalte eines Denkers. Ein Individuum, wie beispielsweise ich selbst, könnte aktuell etwa folgende Dinge sehen: einen Schreibtisch, eine Schale mit Äpfeln oder ein Flugzeug das sich durch das Fenster zwischen den Wolken am Himmel entdecken lässt, während unter anderem Folgendes unsichtbar ist: Der Hudson River, die Milchstraße, der Sturm auf die Bastille, Mitosen, der eigene Schatten, Gespenster, die Folgen der Wirtschaftskrise, Instanzierungen von ›ist Schwede‹, ›ist der Steuerberater von‹ und ›denkt‹. Die Vermutung lautete nun, dass einige Elemente der zweiten Aufzählung in einem besonders starken Sinne unsichtbar sind. Gehen wir aber die Liste durch, ist es nicht ganz einfach, ein solches Element zu finden. Denn auch wenn ich diese momentan nicht wahrnehmen kann, ist es doch unkontrovers, dass andere Denker oder ich selbst etwa den Hudson River wahrnehmen können, wenn sie sich am richtigen Ort befinden und die richtige Perspektive einnehmen, respektive in der richtigen Zeit (Sturm auf die Bastille), und all dies relativ zu Dauer oder Größe des Ereignisses oder des Gegenstandes (Sonnenfinsternis, Milchstraße). Unspektakulär ist auch die Einsicht, dass Mitosen, Viren oder Makromoleküle den Einsatz von Instrumenten zum Zwecke ihrer Wahrnehmung verlangen oder dass das Umfeld des Wahrzunehmenden und/oder dessen Interaktion mit diesem günstig sein muss. Ohne eine solche Manipulation wäre man offenbar auf nur zufällig passende Gelegenheiten angewiesen. Aber mit ein wenig Kreativität können wir uns solche ebenfalls vorstellen und damit die Betrachtung der Liste abschließen. Vorstellen können wir uns etwa, dass Björn bei der Grenzkontrolle seinen Pass vorlegt, der ihn als Schweden zu erkennen gibt (während dafür eine rein physiognomische Begutachtung seiner Person meist nicht hinreichend ist). Wir können uns vorstellen, dass er die Folgen der Wirtschaftskrise demonstriert, wenn wir ihn mit seinen Büroutensilien aus dem Bankgebäude marschieren sehen, oder dass er im Gespräch mit Carl diesem ein Prospekt von Liechtenstein vorlegt und sich damit als Steuerberater zu erkennen gibt oder dass wir ihn mit tiefen Furchen auf der Stirn und Haare raufend beim Denken erwischen. Selbst unser Verständnis von Gestalten wie Engeln oder Gespenstern legt nahe, dass es wenigstens einige Gelegenheiten gibt, bei denen diese sich perzeptiv zeigen – dies gilt unabhängig davon, ob wir darüber hinaus an die Existenz übernatürlicher Vorkommnisse glauben. Praktische Anschauung
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Vielleicht waren die letzten Schritte aber etwas zu schnell. Soweit ich sehe, könnte man noch zwei weitere Überlegungen gegen einige der letzten Beispiele vorbringen. Zunächst könnte man auf die Materialität von Gegenständen verweisen und behaupten, dass nur materielle Gegenstände wahrnehmbar sind. Dazu ist aber anzumerken, dass der Begriff eines materiellen Gegenstandes selbst zu vage ist, als dass er gegenwärtig von Nutzen sein könnte. Außerdem führt er zu kontraintuitiven Konsequenzen, da wir dann beispielsweise weder ›nichtmaterielle‹ Schatten, Blitze, Donner noch überhaupt irgendwelche Ereignisse wahrnehmen könnten. 20 Der gegenwärtige Gedanke baut offenbar auf dem folgenden Irrtum auf: Wenn wir es von der ontologischen Seite betrachten, liegt es nahe zu denken, dass der Scheidung von Wahrnehmungs- und Theoriebegriffen eine Gliederung der Dinge gegenübersteht, in solche mit einer Oberfläche und solche, die prinzipiell verborgen sind, die gewissermaßen die verborgene Struktur der Welt ausmachen. Dementsprechend könnte man meinen, etwa das Gesicht einer Person sei klarerweise ein Ding mit einer solchen Oberfläche gegenüber ›verborgener‹ Verstandestätigkeit, Nationalität oder dem ökonomischen Status dieser Person, welche allenfalls theoretisch erschlossen werden können. Es stellt sich allerdings die Frage, was mit einer Oberfläche überhaupt gemeint sein könnte. Wenn wir uns diese als eine besonders perzeptionsfreundliche ›Membran‹ vorstellen, legen wir bereits das Paradigma der Materialität zugrunde. Wenn nicht, dann ist nicht zu sehen, in welchem Sinn dieses dort eher die Oberfläche eines Gesichtes als die eines gedankenversunkenen Gesichtsausdruckes oder die der ›gedankenversunkenen Seite der Schweden‹ ist. Sagt man aber, der Punkt sei, dass das Gesicht einfach ›gegeben‹ ist, implizierte man ebenso mit der Rede davon, dass die verborgene Struktur jeweils erschlossen werden muss, offenbar eine Unterteilung in das, was mit, und das, was ohne Hintergrundannahmen in einer Situation wahrgenommen werden kann. Mit diesem Schritt gäben wir aber einerseits den Versuch einer vorgängigen ontologischen Kategorisierung der Dinge zugunsten einer semantisch-epistemologischen Betrachtung wieder auf. Andererseits erzwingt er folgenden Kommentar: Erstens mag es sein, dass wir vernünftigerweise eine Ebene im Wahrnehmungsinhalt verorten müssen, die in einem ausgezeichneten Sinne 20
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(Vgl. zu diesem Punkt Austin 1962: Kap. 2).
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Perzeptiver Inhalt
ohne Hintergrundannahmen erfahren werden kann (s. folgender Abschnitt). Dieser Zug steht jedoch unter konzeptualistischen Vorzeichen nicht zur Verfügung, weil wir gegenwärtig annehmen, dass der Inhalt der sinnlichen Anschauung begrifflich ist, und zwar den ganzen Weg ›bis zum Boden‹, und da die Rede von Hintergrundannahmen nur eine andere Formulierung für die generelle Theorieabhängigkeit von begrifflicher Erfahrung ist, kann es deshalb keine Anschauungsinhalte geben, die schlicht vortheoretisch ›gegeben‹ sind. Selbst wenn wir aber solche Anschauungsinhalte postulieren würden, ergibt sich leicht, dass dann keins der bislang betrachteten Beispiele dazu gehören wird. Eventuell also ist die Anschauung einer ›gesichtsförmigen Gestalt‹ möglich ohne jede Hintergrundtheorie. Etwa die Anschauung eines Gesichtes, zu der unabdingbar andere begriffliche Konnotationen gehören, etwa dass es sich dabei um ein Teil eines höheren Organismus handelt, das Sitz seiner Sinnesorgane ist, ist nicht von dieser Art. Etwa könnte der Garderobenständer nach dem Anschalten des Lichtes immer noch eine gesichtsförmige Gestalt besitzen, aber er wirkt nicht mehr wie ein Gesicht. Auch durch die Reflexion auf die Sichtbarkeit und die Oberfläche von Gegenständen gelangen wir also zu keiner starken, prinzipiellen Differenz zwischen Wahrnehmungs- und Theoriebegriffen. Was all diese Überlegungen vielmehr demonstrieren, ist, dass alle Verwendungsweisen der Differenz sichtbar/unsichtbar kontextuelle und keine absoluten Verwendungsweisen sind, indem sie sich jeweils darauf beziehen, was in der partikularen Wahrnehmungssituation von Denkern wahrnehmbar ist. Dies mag den merkwürdigen Eindruck hervorrufen, dass dann zu guter Letzt alles völlig uneingeschränkt wahrnehmbar ist. Dies wäre aber eine etwas übertriebene Darstellung des Resultates. Denn die erste Schlussfolgerung lautet vielmehr, dass fast alles fast immer und für fast alle Denker unsichtbar ist und das Ergebnis ist auch nicht, dass das Wahrnehmbare keinerlei Beschränkungen unterliegt. Denn wie sich zeigt, können wir zahllose Beschränkungen entlang zweier Grundkategorien aufstellen, nämlich hinsichtlich a) der günstigen Umstände der Wahrnehmungssituation (Ort, Perspektive, Zeit, relative Größe oder Dauer des Objekts, intentionale Kontrolle der Situation u. a.) und b) hinsichtlich der begrifflichen Fähigkeiten des Denkers, der sich in dieser Situation befindet. Zu diesen gehört, dass er ein Verständnis der Entität aber auch ein Verständnis der relevanten Umstände der Situation besitzt und dass er Übung im Umgang mit diesen Begriffen besitzt, Übung in dem Maße, in dem dies erforderPraktische Anschauung
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lich ist, damit ein Begriff bei adäquater Beschaffenheit der Umgebung als Konstitutivum seiner sinnlichen Anschauung fungieren kann. Wie dem auch sei, es ist zutreffend, dass keine dieser Beschränkungen hinreichend ist, um die Vermutung glaubhaft zu bestätigen, dass es irgendeinen Begriff gibt, der nur, weil er dieser Begriff ist, unmöglich Eingang in perzeptiven Gehalt finden kann. Deshalb – und dies ist der wesentliche Punkt – lässt sich auch nicht zwischen praktischen, naturwissenschaftlichen oder mehr alltäglichen Begriffen diskriminieren. Nahegelegt ist vielmehr die Konklusion, dass zwar das meiste meistens unsichtbar ist, auch wenn alles im Prinzip sichtbar ist! 21 Dieses Plädoyer für die prinzipielle Wahrnehmbarkeit praktischer Eigenschaften (und vielerlei mehr) könnte jedoch unter Umständen etwas zu abgehoben anmuten. Auch wenn dies nicht direkt meine Frage ist, könnte man eher wissen wollen, was denn ›für gewöhnlich‹ oder ›im Großen und Ganzen‹, nicht aber was nur hypothetisch gesehen Natürlich habe ich mit den Beispielen noch nicht alle ontologischen Kategorien abgehakt. Heranziehen könnte man etwa noch Funktionalitäten, Modalitäten, die bereits erwähnten mathematischen Gegenstände, inkonsistente Begriffe wie ›rundes Quadrat‹ und schließlich allgemeinste Begriffe wie ›Gott‹, ›Welt‹ oder ›Universum‹. Hinsichtlich der ersten beiden Gruppen ist jedoch fraglich, auf welcher Grundlage man in Anbetracht allgemeiner Verbegrifflichung der Anschauung ausschließen könnte, dass wir etwa sehen könnten, dass ein Baum durch den Wind entwurzelt werden könnte oder wie man der kontraintuitiven Konsequenz entgehen wollte, dass wir nie zum Beispiel einen Kugelschreiber oder eine Mikrowelle als Artefakte mit einer bestimmten Funktionalität wahrnehmen können. Hinsichtlich mathematischer Gegenstände scheint das Hauptproblem eher im Bereich der epistemischen Berechtigung zu liegen, wo wir der Orthodoxie sicher darin folgen würden, dass mathematische Wahrheiten a priori und nicht durch sinnliche Anschauung gewusst werden. Dabei ließe sich aber der Kompromiss schließen, dass die apriorische Einsicht eine und die primäre Weise der mathematischen Begründung ist, es aber ebenso möglich sein könnte, dass ein Mathematiker, der den Beweis auf einem Blatt Papier vor sich notiert, eben in diesem Fall durchaus auch eine perzeptive Berechtigung besitzen könnte (s. 2.3.v). Hinsichtlich runder Quadrate, Gott und Welt wird die Betrachtung schließlich recht spekulativ und vielleicht könnte man tatsächlich den vernünftigen Gedanken hegen, dass einerseits inkonsistente Begriffe per se ungeeignet für rationale Tätigkeit und damit auch für den anschaulichen Einsatz von Begriffen sind. Andererseits legt etwa die bekannte ›Wasserfall-Illusion‹ nahe, dass Wahrnehmung durchaus den inkonsistenten Inhalt wie die ›unbewegliche Bewegung‹ haben kann. Die Könige unter den Begriffen schließlich verweisen offenbar auf etwas, was tatsächlich prinzipiell zu ›groß‹ oder zu ›jenseitig‹ ist, um situativ sinnlich angeschaut werden zu können. Es sollte aber unkontrovers sein, dass keine der hier betrachteten Begriffsklassen von dieser Art ist. 21
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werden kann. Ganz in diesem Sinne lautet nun mein letztes Argument, dass es phänomenologisch schlicht hochgradig einleuchtend ist, dass praktischer Wahrnehmungsinhalt auch wirklich ist und aus diesem Grund auch möglich. Denn nachdem wir die Unmöglichkeit einer prinzipiellen Ausgliederung spezieller ›Wahrnehmungsbegriffe‹ festgestellt haben, lässt sich nun im Grunde zu den Einwürfen zu Beginn dieses Kapitels zurückkehren: Es ist schlicht die natürliche Beschreibung des Wahrnehmungsinhaltes von Individuen bei vielen zwischenmenschlichen Begegnungen, dass dieser etwa ein freundliches Gesicht und damit eine evaluative Eigenschaft repräsentiert. Es ist eine ebenso natürliche Beschreibung der Sinneswahrnehmung, wenn man sagt, dass Zivilisten an einem Bürgerkriegsschauplatz ein schreckliches Ereignis hören, sehen und mitunter sogar ertasten können, wenn sie über die Körper getöteter Angehöriger stolpern. Wenn wir den Sachverhalt unter der Theorielastigkeit der Erfahrung betrachten, spricht ebenso nichts dagegen, dass Individuen Lügen, gebrochene Versprechen oder allgemein falsche Handlungen wortwörtlich sinnlich anschauen können. Es mag dabei in den Sinn kommen, dass als besonderes Charakteristikum der praktischen Anschauung in solchen Fällen eine gewisse ›innere‹ Erfahrung einer körperlichen Resonanz als Folge der Konfrontation auftritt, namentlich ein körperliches Gefühl. Sicherlich ist ein interessantes Problem damit verbunden, wie sich dieses zur praktischen sinnlichen Anschauung allgemein verhält und es ist ad hoc hochplausibel, dass ein solches Gefühl irgendwie, vielleicht sogar notwendigerweise konstitutiv für jenen Zustand ist. Deshalb werde ich unten auch noch darauf zurückkommen (s. 4.3). Vorerst sollte es aber einleuchten, dass es eine grobe Verzerrung des Bildes wäre, wenn man praktische Anschauungen wie die genannten Beispiele so darstellen würde, als würde dabei eigentlich der Körper wahrgenommen. Denn das Thema dieser Anschauungen ist nicht der Körper, sondern ein externer Gegenstand und dieser wird in seiner evaluativen oder deontischen Salienz erfahren. Kann jedoch auch normativ tatsächlich sinnlich wahrgenommen werden, was gesollt ist? Man mag immer noch zögern, diese Frage zu bejahen. Etwa Peter Goldie, obschon einer positiven Antwort zugeneigt, kommt hier letztlich nicht zu einer klaren Schlussfolgerung (vgl. Goldie 2007: 359). Auf einer Linie mit dem oben Gesagten lässt sich dieser Punkt nun vereindeutigen: Selbstverständlich können wir uns – Praktische Anschauung
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ceteris paribus – eine lebensweltlich nicht nur denkbare, sondern vielmehr wahrscheinliche Situation vorstellen, in der dies möglich ist. Wenn wir etwa das auch von Goldie verwendete Standardbeispiel der Wahrnehmung eines Ertrinkenden heranziehen: Es ist schlicht eine unkomplizierte Beschreibung der epistemischen Situation des Wahrnehmenden, dass, angenommen er war bereits einige Male in solch brenzligen Lagen und/oder weiß um die gefährliche Strömung an der Stelle im Wasser sowie um die geringen schwimmerischen Qualitäten der Person im Gegensatz zu seinen eigenen, er dann potentiell in der Lage ist, spontan und ohne inferentielle Anstrengung den Ertrinkenden als jemanden zu repräsentieren, dem von ihm geholfen werden sollte. Dieser Fall ist vielleicht ungewöhnlich, aber ungewöhnlich heißt nun einmal nicht unmöglich. Auf der anderen Seite können wir nun wiederum danach fragen, ob wir denn für gewöhnlich, landläufig oder im Großen und Ganzen das Gesollte wahrnehmen können und dazu lässt sich wiederum sagen, dass wegen der Vielfältigkeit praktischer Gründe und Anliegen und den begrenzten epistemischen Fähigkeiten von Denkern der praktische Inhalt ›Ich sollte F tun‹ unsichtbar und seine Wahrheit damit meist ›verborgen‹ ist. Sind wir kühn, dann könnten wir die leicht paradoxale Hypothese aufstellen, dass damit das praktische Urteil ›Ich sollte F tun‹ letztlich das theoretischste ist! Sie soll besagen, dass für gewöhnlich dieses Urteil den größten inferentiellen ›Abstand‹ zur Sinneserfahrung besitzt. Ob dieser Vorschlag im Vergleich mit abstrakten Sätzen der Naturwissenschaft Bestand hat, sei dahingestellt. Umgekehrt soll aber noch angemerkt werden, dass, falls wir bloß nach dem für gewöhnlich Wahrnehmbaren fragen, sicherlich gilt, dass viele praktische Begriffe in diesem Sinn viel wahrnehmungsnäher sind als viele naturwissenschaftliche Begriffe und damit auch in intimerer Relation zu den Begriffen des Alltags stehen! Die Wahrnehmung eines freundlichen Gesichtes ist weitaus häufiger und unkomplizierter als etwa die experimentelle Beobachtung von Elementarteilchen.
iii. Nichtbegrifflicher Inhalt In Rekapitulation der letzten Schritte kommt man allerdings nicht umhin zu bemerken, dass wir oben eine weitere gute Option, um dem Sinn von ›Sichtbarkeit‹ etwas mehr Kontrast zu verleihen, zwar erwähnt, 70
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dann aber durch den lapidaren Verweis auf den Konzeptualismus ausgeklammert haben. Kehren wir noch einmal zu Standardfällen wie der sinnlichen Anschauung eines Apfels, einer Katze oder eines Gesichtes zurück. Dann ist der Gedanke doch bemerkenswert nachvollziehbar, dass, selbst wenn diese Gegenstände seitens des Denkers begriffliche und damit theorielastige Fähigkeiten voraussetzen, damit er diese als Apfel, Katze oder Gesicht wahrnehmen kann, es dennoch basalere Eigenschaften seines Wahrnehmungsinhaltes gibt (Dieses runde und grüne / katzenförmige und schwarze / gesichtsförmige und rosa Objekt jetzt dort …), aufgrund derer überhaupt sein Einsatz von Begriffen intelligibel wird und dass qua dieser Abgrenzung dieses perzeptive Fundament keinen begrifflichen, sondern einen nichtbegrifflichen Inhalt markiert. Unter dieser Annahme ließe sich plausibilisieren, dass wenigstens einige Begriffe auf solchen nichtbegrifflichen Wahrnehmungsgehalt ›gegründet‹ sind und dass es nicht nur eine Methode, sondern unter Umständen sogar eine apriorische Methode gibt, um die Klasse jener Begriffe zu bestimmen, nämlich durch das reflexive Eruieren, welche Begriffe zwangsläufig seitens eines rationalen Individuums die Kenntnis ihrer nichtbegrifflichen Grundlage unter die Bedingungen ihres Besitzes zählen. Zwar lässt sich nun mit einem kurzen Ausblick auf die jüngere Ideengeschichte diagnostizieren, dass der Nonkonzeptualismus in den als ›Sinnesdatentheorien‹ bekannten Versionen, wie sie im Umkreis des Logischen Empirismus beispielsweise auch von Alfred Ayer (1940) vertreten wurden, durch die scharfe Kritik vonseiten der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften eine Zeit lang in Ungnade gefallen ist (vgl. Austin 1962; Fleck 1999; Kuhn 1976; Sellars 2000) und gegenwärtige Vertreter des Konzeptualismus bislang nicht die Segel gestrichen haben (vgl. Brewer 1997, 1999, 2006; McDowell 1994a, 1994b, 2009; Rosenberg 2006). Dies mag denn auch erklären, warum sich in der Literatur zur praktischen Erfahrung keinerlei Diskussion des Problems von diesem Standpunkt aus findet. Auf der anderen Seite erfreuen sich die Theorien des ›Gegebenen‹ mittlerweile wieder größerer Popularität, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sich weder die Kritik an den Sinnesdatentheorien noch die theoretische Missgeschicke der Sinnesdatentheorien als so unvermeidlich erwiesen haben, wie ursprünglich gedacht (vgl. Alston 1983, 2002; Crane 1992; Dretske 1988; Evans 1982: 122–129 u. 226–231; Peacocke 1992, 1998, 2001; Schantz 2001). Praktische Anschauung
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Tatsächlich erscheint die Sachlage als einigermaßen aporetisch, in einer Weise, die keinen vorschnellen Entscheid zugunsten von Konzeptualismus oder Nonkonzeptualismus rechtfertigt. Denn auf der einen Seite trägt die These der allgemeinen Verbegrifflichung der Sinneswahrnehmung offenbar in der gerade beschriebenen Weise einen blinden Fleck bei sich, indem sie dasjenige Erfahrungselement vernachlässigt, was überhaupt erst eine perzeptive Verankerung von Begriffen erlaubt. Auf der anderen Seite hingegen wirkt der Nonkonzeptualismus im wahrsten Sinne des Wortes vernunftfremd, weil nicht zu sehen ist, wie etwas das von anderer Art ist als die Elemente des Denkens, eben die Begriffe, die Verstandestätigkeit auf rationale Weise informieren könnte. Kurzum: Wie kann etwas nichtbegrifflich und doch mentaler Inhalt sein? Glücklicherweise verlangt die momentane Aufgabe keine Auflösung dieses Dilemmas. Aufgetragen ist momentan vielmehr der Nachweis, dass der Theorieentscheid zwischen den beiden Positionen meine relationalen Thesen zur praktischen, sinnlichen Anschauung nicht tangiert. Zuvor empfiehlt es sich jedoch, durch einige weitere Unterscheidungen die inferentielle Übersicht weiter zu verbessern. Denn angesichts dieser Ausführungen mag es so erscheinen, als wäre meine Kritik an Carnap im letzten Abschnitt, welcher sicherlich etwas wie eine nonkonzeptualistische Position im Auge gehabt hat, reichlich vorschnell gewesen. Dieser Schluss wäre aber nur partiell korrekt. Denn eben haben wir uns mit der Frage einer absoluten Geschiedenheit von Wahrnehmungs- und Theoriebegriffen beschäftigt. Der Nachweis einer Fundierung einiger Begriffe bzw. Begriffsklassen in einem nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt liefert aber vorerst nur eine Unterscheidung zwischen unabgeleiteten und abgeleiteten Wahrnehmungsbegriffen. Es bedürfte aber eines zusätzlichen Arguments (und zwar eines sehr starken, um diese radikal kontraintuitive Konsequenz zu stützen), dass in der ersten Klasse tatsächlich die einzigen echten Wahrnehmungsbegriffe enthalten sind und die zweite Klasse daher leer ist oder sogar dass nicht einmal die unabgeleiteten Wahrnehmungsbegriffe, obwohl auf nichtbegrifflichen Inhalt gegründet, Wahrnehmungsinhalt selbst strukturieren können. Nur in den letzten beiden Fällen müssten wir aber die Resultate aus der Betrachtung begrifflichen Inhaltes zurücknehmen und nur unter dieser Prämisse könnte T1 noch falsch sein. An Theorieoptionen bieten sich demnach an: a) Ein reiner Konzeptualismus, b) ein moderater Nonkonzeptualismus, der zwar die 72
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Existenz nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhaltes behauptet, aber nicht die von begrifflichem, ob unabgeleitet oder abgeleitet, bestreitet, c) ein starker Nonkonzeptualismus, der nur nichtbegrifflichen und unabgeleitet-begrifflichen Wahrnehmungsinhalt annimmt, und d) ein reiner Nonkonzeptualismus, der ausschließlich an nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt glaubt. Nur für die letzten beiden Positionen, die ich gelegentlich auch als ›Spartanismus‹ in der Theorie perzeptiven Inhaltes bezeichne, steht aber noch eine Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit der egalitaristischen Inhaltsthese an. In dieser neuen Perspektive lautet die Kardinalfrage, ob angesichts der generellen Hypothese nichtbegrifflichen Erfahrungsgehalts auch speziell nichtbegrifflicher praktischer Inhalt möglich ist? Komparativ genauer: Ist zu erwarten, dass zwar nichtbegrifflicher, naturwissenschaftlicher Inhalt möglich ist, nicht aber praktischer? Ich möchte gleich argumentieren, dass dieser Fall nicht möglich ist und dazu zwei Gründe anführen. Davor lohnt es sich aber, die nonkonzeptualistische Position etwas näher zu illustrieren. Zu diesem Zweck ziehe ich den Ansatz des bereits zitierten Christopher Peacocke heran, der m. E. die bisher detaillierteste und beste Verteidigung des Nonkonzeptualismus vorgelegt hat, die viele Schwächen traditioneller Theorien des ›Gegebenen‹ vermeidet. Peacocke versteht den nichtbegrifflichen repräsentationalen Inhalt einer Sinneswahrnehmung als ein ›positioniertes Szenario‹. Inhalt des Szenarios ist ein ›räumlicher Typus‹, der einerseits den Ort (Koordinatenursprung), Orientierung (Achsen) und Zeitpunkt der Erfahrung umfasst. Andererseits gibt er für alle Punkte (bzw. Punkttypen) des Sichtfeldes Werte für Abstand, Lage, Oberflächenstruktur, Farbspezifikation u. a. an. Mit den Worten des Autors: »For a scenario is a spatial type, and a positioned scenario is just a spatial type as tied down to a particular location, orientation, and time.« (Peacocke 1992: 67)
Und: »For each point (strictly, I should say point type), identified by its distance and direction from the origin, we need to specify whether there is a surface there and, if so, what texture, hue, saturation, and brightness it has at that point, together with its degree of solidity. The orientation of the surface must be included. So must much more in the visual case;: the direction, intensity, and character of light sources; the rate of change of perceptible properties, Praktische Anschauung
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including location; indeed, it should include second differentials with respect to time where these prove to be perceptible.« (ebd. 63)
Der räumliche Typus des Szenarios ist ein repräsentationaler Inhalt, weil er eine Korrektheitsbedingung hat, indem er durch das ›Situationstoken‹, also die Umgebung um den Wahrnehmenden, so wie sie ist, instanziiert und damit korrekt sein kann oder nicht (vgl. ebd. 64). Das positionierte Szenario hat als nichtbegrifflichen Inhalt die erfreuliche Eigenschaft, dass sein Inhalt genau dann korrekt sein wird, wenn normale Umstände und ein normal funktionierender Wahrnehmungsapparat gegeben sind, während es bei begrifflichen Gehalten sehr viel mehr gibt, das potentiell die Inhalte der Erfahrung disqualifizieren kann. Dies hängt damit zusammen, dass diese Form von Inhalt und seine Korrektheitsbedingungen der Konzeption nach völlig unabhängig von dessen epistemischer Biographie allein durch Rekurs auf den aktuellen Wahrnehmungskontext eines Individuums verständlich gemacht werden können. Sie sind ›instanz-individuiert‹ (vgl. Peacocke 2004: 63). Peacocke selbst vertritt dabei weder einen reinen Nonkonzeptualismus, da er davon ausgeht, dass nichtbegriffliche und basale begriffliche Wahrnehmungsgehalte sich wechselseitig bedingen (vgl. ebd. 91), noch einen starken Nonkonzeptualismus, da er ebenso davon ausgeht, dass abgeleitete Begriffe durch einen ›generellen Mechanismus Eingang in einen Wahrnehmungszustand finden‹ können (vgl. Peacocke 2004: 89). Wir können aber den Szenario-Ansatz trotzdem verwenden, um die Implikationen einer spartanistischen Position zu elaborieren. Denn es ist wichtig, sich minutiös vor Augen zu halten, was genau unter dieser Prämisse potentiell Teil von Anschauungsgehalten und somit wahrnehmbar sein kann. Zum Beispiel wäre es demnach falsch zu sagen, man könnte einen Tisch oder eine Katze wahrnehmen. Denn ›Tisch‹ als ein von Menschen gemachtes Artefakt mit einer spezifischen Funktionalität oder ›Katze‹ als ein Säugetier mit den allgemeinen Eigenschaften von Lebewesen fände demnach keinen Eingang in die Wahrnehmung. Was hingegen Teil der Anschauung ist, ist der nichtbegriffliche Eindruck einer gegenwärtig tischförmigen/katzenförmigen Gestalt im Raum und eventuell der Begriff ›tischförmige/katzenförmige Gestalt‹. Der gleiche Punkt ließe sich für alle bislang genannten Beispiele mutmaßlich wahrnehmbarer Gegenstände (Hudson River, Äpfel, Protonen etc.) mutatis mutandis wiederholen. 74
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Dass wir damit in vielen Einzelfällen eine direkte Verbindung von naturwissenschaftlichen und alltäglichen Begriffen zu nichtbegrifflichen Inhalten ausgeschlossen haben, bedeutet aber natürlich nicht, dass es nicht doch am Ende eine intimere Beziehung zum ›Gegebenen‹ von diesen Begriffsklassen im Gegensatz zum Bereich der praktischen Begriffe geben könnte. Daher möchte ich nun zwei Argumente präsentieren, die zeigen, dass es erstens unmöglich ist, dass es naturwissenschaftlichen, nicht aber praktischen nichtbegrifflichen Erfahrungsgehalt gibt, und zweitens, dass es darüber hinaus aber falsch wäre anzunehmen, es könnte überhaupt nichtbegrifflichen Inhalt in diesen beiden Kategorien geben. Beide Argumente drehen sich dabei um den Begriff der Festigkeit (solidity), den auch Peacocke in dem Zitat oben erwähnt. Mit diesem hat es folgende Bewandtnis. Wenn wir nach einem nichtbegrifflichen Inhalt suchen, der basal genug ist, um es zu verdienen, so genannt zu werden, der aber gleichzeitig noch wenigstens in einem minimalen Sinn als naturwissenschaftlich oder naturwissenschaftlich relevant gezählt werden kann, gelangen wir unumwunden zum Begriff einer Kraft, und zwar im Sinne einer mechanischen Einwirkung eines materiellen Körpers auf einen anderen nach dem Modell von Druck und Stoß (und damit potentiell unterschieden von anderen Arten der Kausalität). Die primitivste Vorstellung, die noch als Gegenstand der Naturerkenntnis gelten kann, ist die der Interaktion von Festkörpern mittlerer Größe, die durch ihre Materialität Kraft aufeinander ausüben können. Wenn wir nun aber davon ausgehen, dass die Festigkeit eines Körpers nichtbegrifflich gegeben sein kann, dann müsste dem entsprechend auch seine Widerständigkeit im Umgang mit ihm gegeben sein. Unter dieser Voraussetzung ist es nun aber nicht mehr möglich, dass keinerlei praktischer Inhalt ›gegeben‹ sein kann. Denn die Vorstellung eines Widerstandes ist selbst eine evaluative Vorstellung! Ein Widerstand kann den Bewegungsspielraum eines Individuums schmerzlich eingrenzen oder es kann sich vielleicht gewinnbringend von ihm abstoßen. Man kann auch indifferent gegenüber manchen Widerständen sein, aber jedenfalls nicht neutral, weil mit der sinnlichen Erfahrung eines Widerstandes stets eine implizite Bewertung einhergeht, wie sich diese plötzliche Beschränkung zu den Zielen eines Denkers verhält. In diesem Zuge ist es interessant, komplementär zu bemerken, dass für jene grundlegende Erfahrung der Widerständigkeit der Dinge Praktische Anschauung
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offenbar modal vor allem die haptische Wahrnehmung wesentlich ist, d. h. die direkte Interaktion des eigenen Körpers mit materiellen Gegenständen durch Berührung, worauf Hans Jonas bereits hingewiesen hat (vgl. Jonas 1994: 44 f.). Modalitätsspezifische Anschauungen haptischer Art bezeichnen wir für gewöhnlich als Gefühl. Gefühl nennen wir allerdings auch eine bestimmte Weise der interozeptiven Bekanntschaft mit dem eigenen Körper, die ich später zur Differenzierung als ›viszeral‹ bezeichnen werde (s. 4.3). Diese Namensverwandtschaft ist offenbar kein Zufall, sondern resultiert aus der intrinsischen Körpernähe beider Erfahrungsweisen (die unter Umständen sogar eine Assimilation der beiden Modi nahelegen könnte). Während nun das haptische Gefühl vernünftigerweise bei menschlichen Denkern als psychologisch unabdingbar für die Erfahrung mechanischer Kausalität angesehen werden kann (man könnte sich noch darüber streiten, ob dies auch für alle denkbaren Vernunftwesen überhaupt gilt), wird das viszerale Gefühl oft mit der praktischen Erfahrung, insbesondere der Emotionalität in Verbindung gebracht und hier ebenso vernünftigerweise als psychologisch unabdingbar angesehen. Interessant ist dabei, dass damit offenbar dieselbe Art von primitiver, körpernaher Sinneserfahrung bei allen biologisch erwartbaren Denkern sowohl konstitutiv für die Naturerkenntnis als auch die Bekanntschaft von Wert ist und auch schon deshalb nicht die eine Art von Inhalten, nicht aber die andere, vortheoretisch gegeben sein kann. Wie dem auch sei, denke ich, dass wir bei näherer Betrachtung des Sachverhalts einsehen müssen, dass es falsch wäre, jene Möglichkeit sowohl im einen wie im anderen Fall zu bejahen. Es ist nämlich eigenartig, um wieder auf meinen Referenzautoren zurückzukommen, dass Peacocke zwar oben die Festigkeit als Bestandteil des positionierten Szenarios nennt, diese Komponente in späteren Schriften aber auslässt und nur noch räumliche und zeitliche Aspekte unter die nichtbegrifflichen Inhalte zählt (vgl. Peacocke 2004: 71; Peacocke 2009: 752). Da Peacocke selbst ohnehin offen lässt, welche Elemente die Liste der Konstitutiva des Szenarios genau enthält, und es ihm nur um die prinzipielle Verteidigung nichtbegrifflichen Inhalts geht, ist dieser Punkt aus seiner Sicht auch unwesentlich. Für die Lösung des gegenwärtigen Problems, bei dem die Festigkeit im Mittelpunkt steht, ist er aber essentiell. Tatsächlich zeigt sich nämlich, dass jeder Vertreter eines Nonkonzeptualismus beim Ausbuchstabieren der Elemente nichtbegriff-
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licher Inhalte gut daran täte, die Festigkeit der Gegenstände nicht als in dieser Form repräsentiert darzustellen. 22 Um dies einzusehen, muss die fundamentale Differenz beachtet werden, die zwischen der Sinneserfahrung von Festigkeit oder Materialität einerseits und der Erfahrung der Undurchdringlichkeit (impenetrability) eines Objekts besteht. Denn, worauf schon Mackie in Auseinandersetzung mit der klassischen Position John Lockes hinweist (vgl. Mackie 1976: 25), die Undurchdringlichkeit kann als eine haptische sekundäre Qualität analysiert werden (sofern die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten als sinnvoll vorausgesetzt wird), also als jener primitive Sinneseindruck, der sich bei all jenen Wesen, die über einen haptischen Wahrnehmungsmodus verfügen, in Berührung mit Gegenständen unter Normalbedingungen einstellt. Die Undurchdringlichkeit könnte so analog zu den sekundären Farbqualitäten des visuellen Modus plausiblerweise ihren Platz in einem nichtbegrifflichen Szenario-Inhalt finden, welcher ausschließlich durch Referenz auf den aktuellen Wahrnehmungskontext individuiert wird. Die Festigkeit jedoch, erfahren als eine kausal-mechanische Einwirkung materieller Gegenstände, schließt notwendig eine Hypothese über die Ursache primitiver haptischer Reize mit ein. Diese Hypothese beinhaltet, dass die Reize nicht nur in diesem einen Fall zufällig auftreten, sondern auf eine kontinuierliche Struktur des Objektes zurückzuführen sind, d. h. ihre Materialität im Unterschied zu beispielsweise einem Kraftfeld. Dies zugestanden, ist es nun aber unmöglich, von der Festigkeit als schlicht ›gegeben‹ auszugehen. Denn mit dem Verweis auf eine kontinuierliche Struktur muss die aktuelle Sinneserfahrung kontextübergreifend zu vergangenen Erfahrungen in Beziehung gesetzt, also inferentiell eingebettet sein, und dies hatte ich oben als Wesen einer begrifflichen Repräsentation herausgestellt. Könnte aber auf der anderen Seite praktischer Inhalt jemals nichtbegrifflich sein und damit nach der Unmöglichkeit solchen Inhalts im naturwissenschaftlichen und alltäglichen Fall die egalitaristische These zum Wahrnehmungsinhalt quasi übererfüllt werden? Es sollte nun leicht erhellen, dass auch dies nicht sein kann. Für normative oder deIm Gespräch teilte mir Christopher Peacocke mit, dass er nicht glaubt, dass kausaler Inhalt Teil des Szenario-Inhaltes sein könnte, was ich als Indiz dafür werte, dass die Auslassung der ›Festigkeit‹ in späteren Schriften eine Korrektur seines Ansatzes darstellt.
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ontische Inhalte ergibt sich dies direkt: Es wäre absurd anzunehmen, ein Individuum könnte den Eindruck von etwas Gesolltem haben, ohne ein minimales begriffliches Verständnis von sich selbst als einem Handelnden mit gewissen Zielen, einer Zukunft und einem stets zu besorgenden Wohlergehen zu besitzen. Das anschauliche Erfassen deontischer Eigenschaften würde sogar ein noch weitaus komplexeres Verständnis eines Systems von Normen respektive gesellschaftlicher Institutionen verlangen. Analog können wir schließlich auch bei evaluativen Eigenschaften feststellen, dass der Wert einer Sache nicht unabhängig von dem Wert anderer Sachen verstanden werden kann, also ebenso ein kontextübergreifendes Verständnis eines Systems von Werten voraussetzt. Selbst die primitive gustatorische Wahrnehmung einer Speise als ›lecker‹ assoziiert noch den Nährwert der Mahlzeit und die Abwesenheit von Giftstoffen. Unabhängig davon gilt aber die allgemeine Supervenienz des Praktischen auf das Nicht-Praktische und damit auch des Evaluativen auf das Nicht-Evaluative. Gut oder schlecht ist eine Sache nur, weil sie bestimmte physikalische, biotische, psychische oder soziale Eigenschaften besitzt, die sie mitkonstituieren, sicher aber nicht nur, weil sie ein Objekt in Raum und Zeit mit einer gewissen Oberflächenstruktur ist. Da die Bekanntschaft mit all jenen subvenienten Eigenschaften wiederum ein begriffliches Verständnis voraussetzt, müssen wir auch evaluativen Inhalt und praktischen Inhalt generell als begrifflich ansetzen. 23 Damit zeigt sich somit, dass sich auch unter den Rahmenbedingungen eines reinen oder starken Nonkonzeptualismus keinerlei Gefahr für die These T1 ergibt, sondern sich vielmehr ihre Gültigkeit als Folgerung aus dem ergibt, was unter den bislang betrachteten Wahrnehmungstheorien als perzeptiver Inhalt veranschlagt wird.
Man könnte noch auf die Idee kommen, dass man doch etwa ein ›schönes Blau‹ sehen können müsste und dass ein solch voraussetzungsloser evaluativer Inhalt demnach potentiell nichtbegrifflich strukturiert sein könnte. Bei eingehendem Studium enthüllt sich ein derartiger Eindruck aber als zutiefst assoziativ, weil wir ihn wenigstens implizit beispielsweise mit dem Himmel oder Wasser u. ä. in Verbindung bringen und damit mit entsprechenden Begriffen.
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Blackburn über moralische Blindheit
Nach dieser Betrachtung bietet es sich an, ein paar Worte zu einigen inegalitaristischen Theoretikern zu verlieren, die offenbar die Idee praktischer Anschauung (anders als die naturwissenschaftlicher Anschauung) für reichlich obskur halten. Etwa Simon Blackburn richtet sich in seinen Schriften gegen ein ›perzeptives Modell‹ der Moralbegründung, dass er vor allem David Wiggins und John McDowell zuschreibt (vgl. Blackburn 1993a: 158; Blackburn 1998: 92 ff.). In diesem Zuge scheint er zu glauben, dass aus seinen Belegen dafür, dass Werteigenschaften nicht mit sekundären Qualitäten – paradigmatisch Farbeigenschaften – identifiziert werden können, folgt, dass praktische Eigenschaften nicht wahrgenommen werden können und wir daher ein ›anderes‹ Modell der praktischen Begründung benötigen. Insbesondere führt er dabei als Argument an, dass wir im Gegensatz zu nichtveridischen Wahrnehmungsillusionen, die wir gut mit der Dysfunktionalität sensorisch-rezeptiver Mechanismen (natur-)wissenschaftlich erklären können, keinerlei analoge Erklärung für eine ›moralische Blindheit‹ besitzen, bei der ein Denker beispielsweise nicht sieht, dass jemand korrupt ist (vgl. Blackburn 1993a: 160). Daran sind zwei Dinge merkwürdig. Erstens handeln die entsprechenden Texte von McDowell und Wiggins gar nicht davon, dass Werteigenschaften sekundäre Qualitäten sind, und mir ist auch kein anderer Denker bekannt, der dies jemals behauptet hätte, auch wenn es sicherlich manche gibt, die Werte und Farben auf mehr oder weniger fruchtbare Weise verglichen haben (vgl. McDowell 1988b; Wiggins 1998). Sollte aber dennoch irgendjemand solch identifikatorische Absichten hegen, lässt sich nun auch ganz unabhängig von den Argumenten Blackburns allein einer Betrachtung perzeptiven Inhalts entnehmen, dass damit ein grober Schnitzer verbunden wäre. Denn sekundäre Qualitäten wie etwa die Röte eines Gegenstandes sind Eigenschaften, die sowohl modalitätsspezifisch als auch (potentiell) nichtbegrifflich perzeptiv repräsentiert werden können. Eine praktische Eigenschaft wie ›gut‹ hingegen ist sowohl amodal wie begrifflich repräsentiert, kann also ein angemessenes begriffliches Verständnis vorausgesetzt potentiell sowohl gehört, gesehen sowie erschmeckt werden. 24
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Für die Abgrenzung praktischer Eigenschaften zu gleichfalls verwechslungsgefähr-
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Wie sich im letzten Abschnitt erwiesen hat, hätte es zweitens recht katastrophale Folgen, wenn man aus dem Umstand, dass praktische Eigenschaften nicht wie sekundäre Qualitäten nichtbegrifflich angeschaut werden können, schließen würde, dass diese nicht wahrgenommen werden können. Denn dies verlangte die Übernahme eines Wahrnehmungsspartanismus und hätte damit als zweite altgriechische Konsequenz, dass man sich ebenso auf die drakonische Elimination jedes abgeleitet-begrifflichen Gehalts aus der Sinneswahrnehmung verpflichten würde. Umgekehrt ist es unter konzeptualistischem Vorzeichen eine Trivialität, dass die Fähigkeit zu praktischer Anschauung komplementäre begriffliche Fähigkeiten voraussetzt. Die moralische Blindheit, nie eine rein perzeptive, sondern immer auch eine intellektuelle Schwäche, unterscheidet sich damit aber nicht von einer ›physikalischen Blindheit‹. 25
v.
Wahrnehmbarkeit und ontische Dependenz
Zum Beschluss dieser komparativen Erörterung perzeptiven Inhaltes möchte ich noch auf einige Spezialprobleme eingehen, die sich scheinbar ergeben, wenn man die Wahrnehmbarkeit praktischer Eigenschaften unter dem Gesichtspunkt ihrer ontischen Dependenz von gewissen ›heiklen Konstitutiva‹ betrachtet. Dabei geht es mir an dieser Stelle nicht um die Entwicklung einer angemessenen praktischen Metaphysik, sondern nur um die Frage, ob diesbezügliche Antworten eventuell einen negativen Einfluss auf meine komparative These zum perzeptiven Inhalt haben könnten. Die kurze Antwortet lautet: nein. Zudem scheint mir, dass sich diese Antwort relativ unvermittelt aus dem bisher Gesagten ergibt. Dennoch deuten einige Kommentare verschiedener Theoretiker darauf hin, dass an dieser Stelle ein ernsthaftes Problem vermutet wird, weshalb es wohl nicht schaden kann, explizit auf diesen Punkt einzugehen. Mit ›heiklen Konstitutiva‹ meine ich dabei die ontischen Abhängigkeiten, die sich im Rahmen diverser ethischer und metaethischer deten sekundären Qualitäten des körperbezogenen ›viszeralen‹ Modus siehe zudem Kap. 4.3. 25 Diesen Punkt machen auch Church (2010) und McBrayer (2010a), übersehen dabei allerdings die nonkonzeptualistischen Varianten.
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Theorien für praktische Eigenschaften ergeben. So könnte man in metaethischer Perspektive zwar von der Existenz praktischer Eigenschaften ausgehen, aber glauben, dass diese konstitutiv geistabhängig sind. Dabei gibt es offenbar verschiedene Optionen. Man könnte eine Form des Konstruktivismus akzeptieren und einige oder alle praktischen Eigenschaften für ontisch abhängig von den Theorien und Überzeugungen von Individuen oder von einem real oder idealerweise erlangten Konsens oder Vertragsschluss einer Gemeinschaft vorstellen. Mit etwas mehr metaphysischer Chuzpe könnte man sich sogar ontologische Varianten des Subjektivismus oder Kulturrelativismus vorstellen und glauben, dass ›gut‹ eigentlich eine je individuen- oder kulturbezogene Fülle von Werteigenschaften meint und deshalb besser je mit einem Index ausgestattet werden müsste (gut1, gut2, …, gutn = ›gut für Individuum/Kultur n‹). Wenden wir uns hingegen den ›inhaltlichen‹ ethischen Theorien zu, könnten wir uns wahlweise praktische Eigenschaften als ontisch abhängig von bestimmten Folgen von Handlungen oder Ereignissen (Konsequentialismus), als abhängig von dem Urteil des Tugendhaften oder des Idealen Beobachters (Tugendethik) oder als abhängig von den Absichten von Akteuren vorstellen (Deontologie). Diese Liste ist sicher noch nicht vollständig und ihre Elemente sind auch nicht wechselseitig exklusiv. Dies spielt jedoch keine Rolle, da wir in jedem Fall dasselbe Argumentationsschema ansetzen können. Denn angenommen, eine oder mehrere der obigen ontologischen Positionen seien korrekt, wie würde sich dies auf die Frage der Wahrnehmbarkeit auswirken? Ich denke, es erhellt leicht, dass es sich in einem absoluten Sinn, der allein T1 gefährden könnte, überhaupt nicht auswirken würde. Allenfalls hätte es kontextuell einen Einfluss auf die erwartbare Häufigkeitsverteilung von Anschauungsgehalten. Alles, was durch die Diagnosen der ontischen Dependenz indiziert ist, ist nämlich nur, dass wir vernünftigerweise unseren Begriff von den gemeinten praktischen Eigenschaften so modifizieren sollten, dass er jene Abhängigkeiten umfasst. Auch nach solch einer Modifikation wäre jedoch weiterhin alles oben Gesagte über Wahrnehmungsbegriffe applizierbar. Das soll heißen, wenn wir von spartanistischen Versionen des Nonkonzeptualismus ausgehen, dann wird weiterhin gelten, dass praktische Eigenschaften, denen jeweils komplexe, nicht auf nichtbegrifflichen Inhalt gegründete Begriffe gegenüberstehen, nicht wahrnehmbar sind, aber auch keinerlei naturwissenschaftlich oder alltäglich Praktische Anschauung
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bedeutsamen Gegenstände. Gehen wir aber von einer schwach nonkonzeptualistischen oder rein konzeptualistischen Wahrnehmungstheorie aus, dann wird es weiterhin keine Möglichkeit geben, den Begriff einer praktischen Eigenschaft, ob ontisch dependent oder nicht, von möglichen Anschauungsinhalten absolut auszuschließen. 26 Dazu einige illustrative Beispiele: Man betrachte etwa aus konsequentialistischer Perspektive das mutmaßliche Problem der Abhängigkeit der praktischen Eigenschaften einer Handlung von ihren Folgen. Angenommen also, die anvisierte Handlung habe nur die praktische Eigenschaft PP, weil diese Handlung gewisse Konsequenzen K haben wird. Dann wird es einen Begriff der Form ›Ereignisse die Konsequenzen K zeitigen‹ geben, der unter günstigen Umständen ermöglicht, dass Denker Vorkommnisse als solche wahrnehmen, die Konsequenzen K nach sich ziehen, und sukzessive ebenso ermöglicht, dass Entitäten als im Besitz von PP wahrgenommen werden. 27 Dieser Punkt lässt sich auch als eine Präzisierung der Ausführungen von Cullison (2010) verstehen. Dieser argumentiert vornehmlich aus konzeptualistischer und phänomenologischer Perspektive und hält wie ich praktische Eigenschaften grundsätzlich für wahrnehmbar, rätselt aber dennoch, wo wohl die Linie zwischen wahrnehmbaren und nicht-wahrnehmbaren zu ziehen wäre, weil er meint, eine solche Linie müsse gezogen werden (vgl. ebd. 165). Die korrektere Antwort wäre aber, dass eine absolute Linie hier weder gezogen werden kann, noch gezogen werden muss. Sie kann nicht gezogen werden, weil es weder eine apriorische noch eine endliche empirische Methode gibt, um eine Klasse ›rein theoretischer‹ Begriffe zu ermitteln, und sie muss nicht gezogen werden, weil sich kontextuell die Frage des Wahrnehmbaren jeweils durch Artikulation der Anschauungsgehalte aller betroffenen Denker beantworten lässt. Daneben wäre zu Cullison kritisch anzumerken, dass dieser viel zu schnell von einer These zum Wahrnehmungsinhalt zu einer These zum Wahrnehmungswissen übergeht. Denn weder impliziert die bloße Existenz eines Wahrnehmungsinhaltes p automatisch, dass der betroffene Denker auf dieser Grundlage zu einem Urteil, dass p, berechtigt ist, noch implizierte eine perzeptive Berechtigung, dass der Denker diesen Inhalt auch weiß. 27 Ein dieser Sorge verwandter Gedanke scheint hinter dem eher skurrilen Einwand zu stehen, wir könnten unmöglich sinnlich wahrnehmen, was gesollt ist, weil sich jedes Sollen notwendig auf die Zukunft bezieht, auf eine Handlung, die ipso facto ›noch nicht da‹ ist, während sich perzeptiver Inhalt notwendig durch seine Gegenwärtigkeit auszeichnet. Aber auch dies ist ein Scheinwiderspruch. Denn einerseits sollten wir wohl annehmen, dass wir mindestens gegenwärtig stattfindende Handlungen bei anderen wahrnehmen können und diese damit prinzipiell auch als gesollt oder nicht-gesollt wahrnehmen können. Andererseits kann man sich das von einem selbst Gesollte als die praktische ›Lücke‹ vorstellen, die in der Welt aktuell noch deshalb vorhanden ist, weil die gesollte Handlung noch nicht stattgefunden hat. So lässt sich dann plausibel rekonstruieren, dass man beispielsweise den Ertrinkenden so wahrnimmt, als sollte ihm von A geholfen werden, wobei A ich selbst bin. 26
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Eine analoge Antwort können wir im Falle eines ontologischen Kulturrelativismus praktischer Eigenschaften formulieren. Angenommen es gäbe eine Werteigenschaft ›gutK‹, die konstitutiv abhängig ist von der KulturK, den mentalen Zuständen und Praktiken ihrer und nur ihrer Mitglieder. Wäre dies so, dann sollte dies mittelfristig dazu führen, dass wir erkennen, dass einige Instanziierungen eines mutmaßlich globalen Guten lediglich Instanziierungen von gutK sind und einen entsprechenden Begriff erwerben, der uns bei hinreichender Übung und günstigen Umständen ermöglicht, uns Anschauungsinhalten der Form ›Dies ist gutK‹ zu erfreuen. Dabei könnte einen zusätzlich die Sorge plagen, dass unter diesen Bedingungen IndividuenK wahrscheinlich prädestiniert sein werden, diesen Begriff zu besitzen und entsprechende Anschauungsinhalte aufzuweisen. Angenommen, wir wären vielmehr Mitglieder der KulturW, würde dadurch eine epistemische Asymmetrie zu uns entsteht, denen diese Freuden vorenthalten bleiben. Man könnte sich dann vorstellen, dass zwischen KulturW und KulturK Missverständnisse aufkommen, weil IndividuenK häufig über guteK Dinge sprechen, während IndividuenW auf guteW Dinge verweisen. Dennoch bleibt es wahr, dass es Denker gibt, die jeweils entsprechende begriffliche Anschauungsgehalte aufweisen. Auf der anderen Seite wäre aber ohne gute Zusatzgründe überhaupt nicht einzusehen, warum IndividuenW nicht in der Lage sein sollten, den Begriff ›gutK‹ zu erwerben und dies wird sie mit Übung auch zu Anschauungsinhalten der Form ›Dies ist gutK‹ befähigen. Vielmehr sollten wir wohl von genau dieser Möglichkeit ausgehen. Denn wenn die praktische Realität tatsächlich kulturrelativ-pluralistisch beschaffen ist, sollte es prinzipiell einigen Denkern möglich sein, Evidenzen für diese ihre Struktur zu erwerben. Ansonsten könnte kein Denker jemals begründet an diese ontische Struktur glauben und sie bliebe rein spekulativ. Ich bezweifle zwar, dass dies ein sonderlich gutes Paradigma in der praktischen Metaphysik ist, aber selbst unter Hinzuziehen dieses Härtefalls ergibt sich keine Gefahr für T1. In diesem Sinne möchte ich auch einigen Suggestionen entgegensteuern, die sich bei Jürgen Habermas auffinden lassen. Bei ihm findet sich auf den Punkt gebracht folgendes Narrativ: Werte und Normen verdanken ihre Existenz der historisch gewachsenen, eingespielten intersubjektiven Praxis partikularer Gemeinschaften. Mit ihren partikularen, evaluativen und deontischen Einstellungen imprägniert ergäbe sich nun für Mitglieder der Gemeinschaft bei der Betrachtung ihrer Praktische Anschauung
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Umwelt der »transzendentale[-] Schein eines moralischen Realismus« (Habermas 1999b: 345). Hier läge aber ein Irrtum vor, weil die Individuen Werte und Normen dabei als etwas quasi-naturgesetzlich Gegebenes auffassen würden, während es eigentlich darauf ankäme, dass das »moralische Universum […] als ein Konstruiertes durchschaut« (ebd. 332) wird. Auch wenn ich vermute, dass Habermas bei diesen Thesen durch noble, progressive Hintergedanken angeleitet wird, muss man sich doch klarmachen, dass diese Version der Irrtumstheorie so nicht stimmen kann. Habermas legt hier nahe, dass wenn ein X ›konstruiert‹ ist, d. h. seine Existenz durch das intentionale Handeln rationaler Individuen verursacht wurde und Individuen nun glauben, sie würden Xe wahrnehmen, dies allein verbürgt, dass diese sich deshalb im Irrtum befinden. Aber dies ist bei näherer Betrachtung eine ganz merkwürdige Ansicht. Denn es würde ja bedeuten, dass, falls jemand beispielsweise eine Mikrowelle wahrnimmt, er sich notgedrungen darüber im Irrtum befindet, dass diese sich im Hinblick auf ihren artifiziellen Charakter deutlich von etwa Bäumen, Steinen und Planeten unterscheidet, oder – um die Analogie noch etwas weiter zu spinnen – das ihm dadurch der Gedanke unmöglich würde, dass diese nicht notwendig die beste mögliche Mikrowelle ist, dass es andere gute Modelle dieses Geräts geben könnte oder dass sie eines Tages kaputt gehen könnte und durch eine neue ersetzt werden müsste. Eine Analogie, zugegeben. Aber einerseits wäre es auch im Falle des moralischen Gemeinsinns mindestens zweifelhaft, ob diesem grundsätzlich der angesprochene Irrtum nachgesagt werden darf. Generell befindet sich dieser nämlich – andere Länder, andere Sitten – keineswegs im Irrtum über die konstruktive Natur von Aspekten der praktischen Realität. Ein zweiter Aspekt, und damit komme ich zum Schluss, von Habermas’ Irrtumstheorie scheint mir zu sein, dass dieser praktische Begründung immer aus Sicht eines ›idealen Diskurses‹ versteht. Ein idealer Diskurs aber ist letztlich ein Diskurs unter vollständiger Information, über dessen Teilnehmer gesagt werden kann, dass sie sich selbst und dass ihnen die Gemeinschaft, in der sie leben, völlig transparent ist. Unter diesen Bedingungen aber wird ein epistemischer Faktor überhaupt keine Rolle spielen, nämlich empirische Erfahrung! In dieser Perspektive wäre etwas wie praktische, sinnliche Anschauung nicht zwangsläufig eine Quelle von Fehlern in der praktischen Deliberation. Dennoch würden Diskursteilnehmer einer zweiten Art von Irr84
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Perzeptive Berechtigung
tum erliegen, wenn sie glaubten, empirische Erfahrung könne überhaupt relevant sein, wo sie doch bereits alles wissen. Unter realen Bedingungen hingegen, wird sich nie eine solche vollständige Transparenz über die individuelle oder soziale Natur einstellen und dies bringt mit sich, dass unvollständig informierte Denker sich im praktischen Denken empirisch informieren lassen können. Es bliebe nur noch zu prüfen, ob sie dies auch auf rationale Weise tun können.
2.3. Perzeptive Berechtigung Das Ergebnis des letzten Abschnittes beläuft sich auf einen Beleg für die Korrektheit einer egalitaristischen These zum Inhalt der sinnlichen Anschauung. Diese egalitaristische These besagt, dass es unmöglich ist, diesbezüglich zwischen Praxis, Alltag oder Naturwissenschaft zu diskriminieren, weil ein genuin perzeptiver Inhalt unter Umständen überhaupt epistemologisch ausgeschlossen ist, weil keine Elemente dieser thematischen Klassen nichtbegriffliche Inhalte darstellen können oder weil es neben kontextuellen keine absoluten Individuationskriterien für Wahrnehmungsbegriffe gibt, bei einem gleichzeitig phänomenologisch im wahrsten Sinne des Wortes anschaulichen inhaltlichen Pluralismus der Sinneswahrnehmung. Von einer Behauptung über den Inhalt der sinnlichen Anschauung unterschieden sind Behauptungen zur epistemischen Berechtigung zu einem Anschauungsurteil durch nicht-inferentielle Aneignung jenes Anschauungsgehalts. Der Übergang von der einen zur anderen thetischen Kategorie ist sicherlich nicht-trivial. Ohne Mühe können wir uns ein Individuum vorstellen, das einen geflügelten, rosa Elefanten vor seinem Fenster sieht, ohne dass wir ihm raten würden, diese seine Wahrnehmungsepisode zum Anlass für die Ausbildung einer Überzeugung über einen rosa Elefanten vor seinem Fenster zu nehmen. Dies würden wir offenkundig deshalb nicht tun, weil wir prima facie ihren Inhalt für repräsentational inkorrekt halten würden. Bislang hatte ich mich auf die möglichen Inhalte der Sinneswahrnehmung konzentriert und dabei offengelassen, ob diese Inhalte jeweils auch veridisch, d. h. repräsentational korrekt sind. 28 Jetzt aber ist es an Ich lasse hier offen, ob wir die Korrektheit von perzeptiven Repräsentationen ebenso wie die Korrektheit von doxastischen Repräsentationen als ›wahr‹ bezeichnen und damit
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der Zeit, den schlichten Umstand zu berücksichtigen, dass die Dinge nicht so erscheinen müssen, wie sie sind. Zu diesem Anlass sollte ich auch präzisieren, dass ich ›wahrnehmen‹ und ›sehen‹ gegenüber dem umgangssprachlichen Gebrauch bis dato in einem veriditätsneutralen Sinne verwendet habe. Üblicherweise impliziert der Verweis auf beide wie in ›Alexander sieht einen rosa Elefanten‹ aber repräsentationalen Erfolg und zieht damit die ontologische Verpflichtung auf die Existenz des originell kolorierten Tieres in der Umgebung des Wahrnehmenden nach sich. Da es ab jetzt erforderlich ist, diese Unterscheidung im Auge zu behalten, sollten wir daher im neutralen Sinne besser sagen, dass ein Denker sieht, als ob p, oder glaubt zu sehen, dass p. Es dürfte nun unkontrovers sein, dass die ultimativ relevante Frage nicht ist, was wir glauben können zu sehen, sondern vielmehr, ob wir glauben dürfen, was wir sehen. Der letztlich entscheidende Punkt richtet sich nicht allein auf die Anschauungsgehalte, sondern vielmehr darauf, ob diese Gehalte durch einen Denker als ihr Subjekt zum Zwecke des Wissens produktiv genutzt werden können. Da aber die Wurzel des Problems dabei in einer möglichen Inkorrektheit von perzeptiven Gehalten liegt, muss die Argumentation eines Befürworters einer perzeptiven Berechtigung gegenüber einem Zweifler offenbar schematisch die Form einer Erklärung für die (wahrscheinliche) repräsentationale Korrektheit dieses perzeptiven Gehaltes annehmen, weil nur in diesem Fall ein entsprechendes Urteil wahrscheinlich wahr und der Übergang von der Perzeption zu diesem Urteil epistemisch berechtigt bzw. rational sein kann. In komparativer Perspektive wiederum müsste ein Befürworter gleicher perzeptiver Berechtigung für die zwei Gruppen von Anschauungsgehalt zeigen, dass wir für die erste Klasse eine ebenso gute Erklärung für ihre wahrscheinliche Korrektheit finden können wie für die zweite. Für praktisch-moralische Inhalte besteht die Zusatzschwierigkeit, dass manch Theoretiker von vornherein nicht bereit ist, diese Inhalte als repräsentational oder wahrheitswertfähig zu beschreiben. Andere mögen prinzipiell bestreiten, dass Transitionen von und zu mentalen Zuständen mit praktischem Inhalt rational genannt werden können oder darauf bestehen, dass dabei ›eine andere Art‹ von Rationalität einden Ausdruck ›veridisch‹ lediglich als Chiffre für eine Repräsentation, die zugleich perzeptiv als auch wahr ist, ansehen oder ob wir das Wahrheitsprädikat zur Bezeichnung von Urteilen oder Überzeugungen reservieren sollten.
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schlägig ist. Daher sind an dieser Stelle erneut einige der Vorannahmen relevant, die ich oben im Einleitungskapitel erwähnte. Während für die Betrachtung perzeptiven Inhaltes die Deskriptivität (I) und kognitive Suffizienz (IV) angenommen wurde, sind für die Erörterung der perzeptiven Berechtigung die Prämissen zur Wahrheitstheorie (II/II’), zur Metaphysik (III/III’) und zur Begründungs- und Rationalitätstheorie (V/V’) relevant. Dies liegt daran, dass eine These über die (gleiche) Gültigkeit einer epistemischen Wahrnehmungsnorm in jedem Fall voraussetzen muss, dass auch praktische Urteile überhaupt wahr oder falsch sein können und dass im Wahrheitsfall eine praktische Tatsache existiert, deren Bestehen mit dem Urteil behauptet und von ihm repräsentiert wird. Weiterhin müssen wir in die Ceteris-Paribus-Klauseln die Bedingung aufnehmen, dass eine spezifische epistemische Norm in Anwendung auf praktisch-moralische Inhalte nicht in Sinn oder Gültigkeit durch eine Überlegung aus einem anderen Bereich der Begründungstheorie modifiziert wird. All dies dient, wie bereits ausgeführt, dem Zweck, klar die Probleme isolieren zu können, welche sich im Rahmen der Wahrnehmungstheorie (bzw. der Emotionstheorie) lösen lassen und welche nicht. Das Programm für diesen Abschnitt wird nun wie folgt aussehen. Ich möchte zunächst nachvollziehen, wie dem Projekt einer explanatorischen Begründung der perzeptiven Berechtigung in seiner ursprünglichen Variante bei Harman eine inegalitaristische, praxisskeptische Stoßrichtung gegeben wird, und einige kritische Kommentare zum epistemologischen Hintergrund dieses explanatorischen Arguments machen (i). Ich werde dann einen Schritt zurücktreten, um zum Zwecke der anschließenden Erörterung zu skizzieren, welche Strategien zur Verteidigung einer perzeptiven Berechtigungsnorm wir überhaupt komparativ oder non-komparativ vernünftigerweise anwenden können (ii). Hernach komme ich dann zu vier Arten von Argumenten, die landläufig gegen die gleiche perzeptive Berechtigung für praktische Inhalte vorgebracht werden, welche sich auf die evolutionstheoretische Erklärbarkeit praktischer, mentaler Inhalte (iii/iv), die kausale Ineffektivität praktischer Eigenschaften (v), die Apriorität von moralischen Prinzipien (vi) oder die konative Natur des praktischen Denkens stützen können (vii). Es wird sich zeigen, dass keine dieser vier Angriffe erfolgreich ist und T2 somit im hier vorgezeichneten epistemologischen Kontext aufrechterhalten werden kann. Wie dem auch sei, obzwar ich damit zu dem minimalen Resultat gelange, dass sich aus Praktische Anschauung
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einer Betrachtung der perzeptiven Berechtigung kein unabhängiges Argument für den erkenntnistheoretischen Inegalitarismus ergibt, ist die folgende Erörterung ob der allgemeinen, egalitaristischen Rahmenbedingungen auch an dieser Stelle nicht völlig autonom. In diesem Zuge hoffe ich allerdings die inferentielle Übersicht dahingehend zu verbessern, dass ich ebenso verdeutlichen möchte, dass wider den etwaigen Anschein alle angeschnittenen Alternativpositionen im Vergleich nicht weniger petitiös sind als der allgemeine Egalitarismus. Dies bedeutet, es lässt sich anhand der Theorie perzeptiver Berechtigung in keinem Fall ein unabhängiges Argument gegen die allgemeine egalitaristische Hypothese zu Ethik und Naturwissenschaft formulieren.
i.
Harman über moralische ›Beobachtung‹
Gilbert Harmans bekanntes Argument zur moralischen Beobachtung (vgl. Harman 1977, 1986; Harman 1988) setzt in etwa da ein, wo meine Betrachtung des perzeptiven Inhalts endet, indem der Autor zu Beginn schlicht zugesteht, dass unter der Prämisse der allgemeinen Theorieabhängigkeit aller naturwissenschaftlichen wie praktischen mentalen Inhalte zunächst einmal kein Anlass besteht in puncto Anschauungsgehalt zwischen diesen beiden Bereichen zu diskriminieren (vgl. Harman 1977: 4 f.). Nichtsdestotrotz sieht Harman eine ernsthafte Disanalogie zwischen praktischem (ethischen) und naturwissenschaftlichem Fall schwelen: Bei der Beobachtung eines Physikers von Elementarteilchen mit Hilfe eines Partikeldetektors – im Beispiel die Wahrnehmung eines Protons durch die in einer Nebelkammer erzeugte Dunstspur – müssten wir zwangsläufig die wahrgenommene Entität bzw. naturwissenschaftliche Tatsachen postulieren. Dieses Postulat ist erforderlich, um zu erklären, dass der Physiker überhaupt einen solchen Anschauungsinhalt verzeichnet und nur deshalb, weil wir dieses Postulat benötigen, können wir die Beobachtung als berechtigte Grundlage für ein Urteil über das Proton und derivativ als Evidenz für die Wahrheit der Sätze der Elementarteilchenphysik ansehen. Im praktischen Fall hingegen, z. B. bei der Anschauung von einem Akt der Tierquälerei als etwas Falschem, kämen wir ohne ein Postulat von praktischen Eigenschaften oder Tatsachen aus. Um zu erklären, dass ein Denker die Tierquälerei als etwas Falsches wahrnimmt, bräuchten wir nämlich lediglich auf eine entsprechende moralische Sensibilität rekurrieren und 88
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weil dies so ist, gibt es keine Möglichkeit, die Wahrnehmung als rationale Grundlage für ein praktisches Urteil respektive als Evidenz für eine Moraltheorie anzusehen. Das praktische Denken hätte somit explanatorisch ein ›gespaltenes Verhältnis‹ zur empirischen Erfahrung. Mit den Worten Harmans: »But if his having made that observation could have been equally well explained by his psychological set alone, then the observation would not have been evidence for the existence of that proton and therefore would not have been evidence for the theory. His making the observation supports the theory only because […] it is reasonable to assume that there was a proton going through the cloud chamber, causing the vapor trail. Compare this case with one in which you make a moral judgment immediately and without conscious reasoning […] In neither case is there any obvious reason to assume anything about ›moral facts‹, […] It would seem that all we need assume is that you have certain more or less well articulated moral principles that are reflected in the judgments you make, based on your moral sensibility […] The explanatory chain appears to be broken in such a way that neither the moral principle nor the wrongness of the act can help explain why you observe what you observe.« (ebd. 122 f.)
Es ist zu beachten, dass das explanatorische Argument bei Harman, wie auch analog bei den meisten anderen sympathetischen Autoren, sowohl eine begründungstheoretische als auch eine ontologische Pointe hat, wobei letztere auf die Elimination praktischer Tatsachen und Eigenschaften zielt. Da ich hier die Faktizität des praktischen Denkens als gegeben annehme (in dem Sinne, in dem die Faktizität des naturwissenschaftlichen Diskurses anzunehmen ist), soll es mir im Folgenden nur um die Gültigkeit des Arguments als ein begründungstheoretisches gehen. Dieses können wir nun in expliziter Form so ausbuchstabieren: P1. Ein Denker mit einem Anschauungsgehalt, als ob p bzw. als von einer vorhandenen Entität E, ist berechtigt durch diesen zu urteilen, dass p, genau dann, wenn sein Anschauungsgehalt normalerweise am besten durch das Vorhandensein der Tatsache, dass p bzw. die Entität E, erklärt werden kann (weil damit die perzeptive Repräsentation durch genau das verursacht wird, was diese auch repräsentational korrekt macht). P2. Naturwissenschaftliche Anschauungsgehalte PNW werden am besten durch die Existenz korrespondierender Tatsachen PNW und Entitäten ENW erklärt. Praktische Inhalte werden nicht am besten Praktische Anschauung
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durch die Existenz praktischer Tatsachen PP und Entitäten EP erklärt, sondern durch eine ethische Sensibilität. K. Es gilt eine epistemische Norm der perzeptiven Berechtigung für naturwissenschaftliche, nicht aber für praktische Anschauungsinhalte. Harman bestreitet somit weder die Existenz praktisch-moralischer Anschauungsgehalte noch (zunächst) die Existenz entsprechender Tatsachen, sondern er bestreitet, dass wir erstere rational als Beleg für letztere ansehen können. Ich möchte nun den genauen Gang des Arguments und seine praxisskeptische Wendung vorerst außer Acht lassen und mit einigen grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich des epistemologischen Kontextes beginnen, der dabei implizit ist. Zunächst einmal provoziert Harmans Darstellung einige Nachfragen über den angelegten kausalitätstechnischen Apparatus. Denn neben der mutmaßlichen, begründungstheoretischen Disanalogie von Ethik und Naturwissenschaft besteht eine zweite Disanalogie der beiden Beispiele darin, dass hierin ebenfalls eine Verursachung durch ein Ereignis (Protonenflug) mit der Verursachung durch eine Eigenschaft (Falschheit) verglichen wird. Tatsächlich scheint es nun recht plausibel zu sein, dass eine Kausalrelation nur zwischen zwei Ereignissen bestehen kann. Dies würde aber bedeuten, dass das Argument, sofern gültig, nicht nur gegen die perzeptive Berechtigung bei der Wahrnehmung praktischer, sondern auch gegen die perzeptive Berechtigung naturwissenschaftlicher Eigenschaften (z. B. ›positiv geladen‹) sprechen würde. Zweitens ist auch der simultane Rekurs auf die Verursachung durch Tatsachen nicht unproblematisch. Abgesehen davon, dass viele Wahrheitstheoretiker die Rede von Tatsachen als redundant betrachten 29, bedeutet offenkundig die Akzeptanz der Idee von Tatsachen als logisches Postulat und ›Wahrmacher‹ unserer wahren Überzeugungen noch nicht, dass diese auch kausal effektiv sein können und wir damit naturwissenschaftlich-effektive und praktisch-ineffektive Tatsachen vergleichen können. Drittens wäre zu überlegen, inwieweit es eigentlich sinnEtwa Wrights Minimalismus schließt eine eher deflationäre Sicht des Tatsachenjargons ein (vgl. Wright 1992: 27). Dabei ist es überraschend, dass Wright, obschon er in seiner Abhandlung einen quietistischen Tenor hinsichtlich der metaethischen Debatte anschlägt, er trotz dessen und trotz des deflationären Aspekts schließlich in der Erklärungskraft naturwissenschaftlicher Tatsachen eine wesentliche Disanalogie zwischen den beiden Bereichen sieht (ebd. 85 f.).
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voll ist, in atomistischer Manier repräsentationale Partikel einer Anschauung mit Partikeln der ›Außenwelt‹ kausal in Verbindung zu bringen. Wird der Eindruck einer schönen, roten Tomate bei normaler Wahrnehmung durch das Vorhandensein einer schönen, roten Tomate hervorgerufen oder der Eindruck von der Tomate durch die Tomate, der von ›rot‹ durch die Instanz von Röte, der von ›schön‹ durch die Instanz von Schönheit? Sinneswahrnehmung hat einen weitgehend holistischen Charakter. Dies zeigt sich schon daran, dass die Wahrnehmung einer Oberfläche als von einer bestimmten Farbe immer in Zusammenschau mit den allgemeinen Lichtverhältnissen gesehen wird, und auch in einem abstrakteren Sinne gilt, dass jedes Detail des Wahrnehmungsfeldes üblicherweise ›im Lichte‹ anderer Aspekte der Umgebung angeschaut wird. Diese Konstellation würde aber die von Harman angedachte Prüfung des Bestehens atomistischer Kausalrelationen zumindest erheblich erschweren. Es ist recht plausibel, weshalb ich dies auch oben vorgeschlagen habe (s. 2.1.ii), einen perzeptiven Zustand als ein Ganzes als durch die Umgebung direkt verursacht zu definieren. Ob wir aber die Korrektheit einzelner Aspekte seines Inhaltes durch diese Methode ermitteln können, steht auf einem anderen Blatt Papier. Wie dem auch sei, die meiner Ansicht nach gravierendste Hürde der skizzierten epistemologischen Szenerie ergibt sich, wenn wir die von Harman gesuchten Erklärungen einmal mit einer eher alltäglichen und immanenten Art von Erklärungen für die Korrektheit von Anschauungsinhalten vergleichen. Betrachten wir noch einmal kritisch die Anschauung eines Denkers, als ob ein rosa Elefant vor seinem Fenster vorbeiflöge, und im Vergleich dazu die Anschauung eines herkömmlichen Elefanten im Zoo. Welche Art von Erklärung würden wir wohl für die wahrscheinliche Korrektheit der letzteren bzw. die wahrscheinliche Inkorrektheit der ersteren Episode anführen? Nun, offenbar eine Erklärung durch ein Zitat anderer Wahrnehmungsepisoden oder inferentiell abgeleiteter Überzeugungen beispielsweise durch Anführen der zahlreichen Gelegenheiten, bei denen man im Zoo oder im Fernsehen graue Exemplare gesehen hat, oder der Hypothese, dass Hautfarbe und Flügellosigkeit mit der genetischen Ausstattung der Tiere zusammenhängt. Solche Erklärungen durch Rekurs auf andere direkt oder indirekt perzeptiv erworbene Überzeugungen liefern selbstverständlich keine Antwort auf die Frage, ob wir denn überhaupt jemals berechtigt waren, unseren Anschauungsinhalten Glauben zu schenken. Dadurch wird die Praktische Anschauung
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Motivation Harmans verständlich, die Anforderungen an eine Erklärung der perzeptiven Berechtigung so stark zu verschärfen, dass diese radikal antiskeptische Stärke besitzen. Denn es sollte klar sein, dass sich legitim nur dann behaupten lässt, dass die Protonenwahrnehmung ultimativ im Gegensatz zur Wahrnehmung des Nicht-Gesollten durch Protonen verursacht wurde, wenn sich skeptische Dämon- oder Gehirn-im-Tank-Szenarien ausschließen lassen. Immerhin rührt die Brisanz dieser Gedankenexperimente ja gerade daher, dass wir – wenigstens oberflächlich betrachtet – Perzeption allgemein und daher auch die Protonenwahrnehmung ebenso gut durch die gauklerischen Künste von Dämonen und bösen Wissenschaftlern erklären können. Deshalb ist prima facie nicht zu sehen, warum wir die Erklärung durch Postulat der Entitäten, die eine Anschauung als vorhanden repräsentieren, als die beste Erklärung ansehen sollten. Diese Einstellung ist aber sicher nicht die einzige, die wir zu dem Problem einnehmen können. Denn sicher ebenso verbreitet ist die Auffassung, dass wir angesichts der radikalen Skepsis nicht über den Gemeinsinn hinauskommen. Etwa ist ja die Überlegung recht vernünftig, dass wir bei jeder Form von Begründung immer schon die Korrektheit basaler empirischer Urteile voraussetzen müssen, weshalb es nicht möglich ist zu entscheiden, ob diese Urteile denn überhaupt jemals korrekt waren. Dies könnte eine quietistische Bescheidung angesichts der radikalen Skepsis motivieren oder der pragmatistische Gedanke, dass zwar einerseits die skeptische Position selbst zu voraussetzungsreich und kontraintuitiv ist, um vernünftig zu sein, wir aber andererseits auch keine Letztbegründung der Gültigkeit unserer empirischen Überzeugungen liefern können. Aus letzterer Sicht ließe sich dann ebenfalls einwerfen, dass die Suche nach Tatsachen welcher Art auch immer, als Legitimationsinstanz unserer begründeten Überzeugungen sich einer Verkehrung der Erklärungsrichtung schuldig macht. Man könnte nämlich sagen, dass wir erst annehmen, dass bestimmte unserer Überzeugungen gut begründet sind und aus diesem Grund dann auch annehmen, dass ihnen gewisse Tatsachen ›korrespondieren‹. Nicht aber prüfen wir erst, ob es bestimmte Tatsachen gibt, und nehmen dann an, dass einige unserer Überzeugungen begründet sind. Etwa Brandom adoptiert diese Position (vgl. Brandom 1994: 322 ff.). Kurzum, es bestehen gute Gründe für die Sicht, dass das Modell, dass Harman für sein explanatorisches Argument aufzieht, auf dem unter anderem von Putnam viel ge92
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scholtenen ›Gottesstandpunkt‹ beruht, der uns aus unserer endlichen epistemischen Perspektive gar nicht zur Verfügung steht (vgl. Putnam 1981: Kap. 3). Auch wenn ich mich im Weiteren nicht lediglich auf diese Fundamentalkritik an explanatorischen Argumenten verlassen möchte, verdient doch, denke ich, die Ansicht einige Sympathie, dass diese mit dem Hinweis abzulehnen sind, dass die Entscheidung über ihre Gültigkeit die Einnahme eines unmöglichen Standpunktes erfordert. Dabei sollte klar sein, dass unsere Überlegungen zum Wahrnehmungsinhalt in dem Maße an Relevanz gewinnen, in dem wir quietistisch oder pragmatistisch die Nähe zum Gemeinsinn suchen, weil uns auf diesem Standpunkt nur eine ›interne‹ Konsistenzprüfung von Überzeugungen und Anschauungsinhalten verbleibt, Anschauungsinhalte, die, wie sich zeigte, unweigerlich auch praktischer Art sind.
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Evolutionstheoretische Erklärungen basaler perzeptiver Berechtigung
Zum Zwecke der Untersuchung werde ich von jetzt an die Grundlinien des epistemologischen Kontextes von Harmans explanatorischem Argument akzeptieren. Bevor ich auf dieses zurückkomme, möchte ich noch einige allgemeine Überlegungen zur Erklärung der Korrektheit von perzeptivem Inhalt vorwegnehmen. Dies dient der Systematizität und hilft mittelbar, einige recht krude Mängel bei der Verwendung explanatorischer Argumente aufzudecken, die sich bei anderen inegalitaristisch motivierten Begründungsstrategien ergeben. Schließlich erlaubt die folgende Betrachtung einzusehen, warum Harmans Argument selbst für sich genommen klar inkonklusiv ist und unabdingbar von der Gültigkeit einer Gemengelage weiterer Überlegungen abhängt, denen ich mich in den nächsten Abschnitten zuwende. Dazu möchte ich mich noch einmal dem Ansatz von Christopher Peacocke zuwenden. Peacocke akzeptiert die Auffassung, dass wir angesichts der Denkbarkeit skeptischer Szenarien eine Erklärung für die Korrektheit perzeptiver Inhalte liefern müssen. Die Hauptprämisse seines anschließenden Arguments, deren Rechtfertigung ich hier übergehe (vgl. Peacocke 2004: 75 ff.), lautet, dass eine Erklärung perzeptiven Inhalts komplexitätsreduzierend sein muss. Sein Hauptargument verläuft auf dieser Grundlage in zwei Schritten. So sei erstens eine ErkläPraktische Anschauung
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rung perzeptiver Inhalte durch natürliche Evolution besser als alle herkömmlichen 30 skeptischen Erklärungen, weil letztere entweder i) bei Erklärung durch Chaos eigentlich überhaupt keine Erklärung für das Phänomen liefern oder ii) bei einer Erklärung durch Dämon- oder Tankszenarien nicht komplexitätsreduzierend sind. Eine evolutionstheoretische Erklärung hingegen erklärt die Genese komplexer perzeptiver Zustände durch primitive Mechanismen der Variation und Selektion (vgl. ebd. 86 ff.). Daneben würde die evolutionstheoretische Erklärung bestätigen, dass unsere perzeptiven Inhalte meistens korrekt sind, weil ein repräsentationsfähiges Wesen oder seine Spezies nicht überlebt hätten, wenn sich sein/ihr Wahrnehmungsapparat nicht so entwickelt hätte, dass dieser eine ›kausale Sensibilität‹ gegenüber der Umgebung dahingehend besitzt, dass er nur dann einen perzeptiven Inhalt, als ob p*, generiert, wenn p (vgl. ebd. 88). Dies bedeutet aber, dass die durch ihn generierten Inhalte meistens korrekt sein werden und da dies so ist, gilt wiederum auch die Berechtigung seitens eines Denkers, seiner Sinneswahrnehmung bei Abwesenheit von Gegengründen Glauben zu schenken. Zwei weitere Dinge sind an Peacockes Überlegung zu beachten. Erstens ist die Erklärung der perzeptiven Berechtigung der Konzeption nach eine Erklärung a priori. Das Argument lautet also nicht, dass die Wahrnehmungsinhalte durch die natürliche Evolution erklärt werden, so wie sie tatsächlich stattgefunden hat und wie sie (mehr oder weniger gut) von der empirischen Evolutionsbiologie beschrieben wird, sondern dass überhaupt irgendetwas wie ein solcher Prozess stattgefunden haben muss (vgl. ebd. 98). Dies ist im gegenwärtigen Kontext deshalb interessant, weil einerseits tatsächlich nicht zu sehen ist, wie eine Erklärung perzeptiver Berechtigung anders als apriorisch verlaufen könnte, da schließlich jede empirische Erklärung ipso facto die Korrektheit der Zustände, die sie erst erklären will, als gegeben annehmen muss und damit unweigerlich zirkulär sein wird. Andererseits sind, soweit ich sehe, alle oder fast alle Freunde inegalitaristisch-explanatorischer Argumente Empiristen. Dies aber sollte ad hoc weitere Zweifel an der Plausibilität jener Position erwecken. Denn wie sollte von einem Peacocke versieht das Argument mit einem offenen Ende, da er keine Methode sieht, um auszuschließen, dass es neben den Standardfällen nicht eventuell weitere skeptische Szenarien geben könnte, die mit der evolutionstheoretischen Erklärung konkurrieren (vgl. ebd. 98).
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empiristischen Standpunkt ein antiskeptisches und inegalitaristisches Argument entwickelt werden können, derart, dass wir wissen können, dass ultimativ unsere naturwissenschaftlichen Anschauungsgehalte tatsächlich im Gegensatz zu den praktischen von den Gegenständen, von denen sie handeln, verursacht und daher korrekt sind. Der zweite zentrale Punkt ist, dass Peacocke seine Erklärung der perzeptiven Berechtigung auf nichtbegriffliche Inhalte der Sinneswahrnehmung und auf primäre Wahrnehmungsbegriffe, die direkt auf diese Inhalte gegründet sind, beschränkt. Der dahinterstehende Grundgedanke ist dabei, dass es für die Erklärung der Korrektheit perzeptiver Zustände zunächst ratsam ist, sich auf die Gehalte zu beschränken, die plausiblerweise durch eine epistemische Struktur seitens des Denkers hervorgebracht wird, die nicht als erworben, sondern als angeboren gelten und daher rein evolutionstheoretisch erklärt werden kann. In diesem Zuge liegt es nun nahe zu sagen, dass diese Unterscheidung mit der zwischen rein perzeptiven und intellektuellen Leistungen deckungsgleich ist, d. h. zwischen nichtbegrifflichen Repräsentationen und komplexeren, begrifflichen Leistungen, die ein vorgängiges und kontextübergreifendes Verständnis von Aspekten einer Situation voraussetzen. Daher nennt Peacocke Inhalte, die auf diese Weise kontextunabhängig sind, auch ›instanz-individuiert‹ (vgl. ebd. 69). Es ist in diesen Fällen, wo es plausibel ist, dass durch eine evolutionstheoretische Erklärung der Genese der perzeptiven Gehalte gewährleistet ist, dass diese meistens genau dann einen Gehalt, als ob p*, haben werden, wenn p, wenn also die Welt in der Umgebung so beschaffen ist, wie der Gehalt sie repräsentiert. Dies rechtfertigt dann die Akzeptanz einer entsprechenden epistemischen Norm der perzeptiven Berechtigung: »A perceptual experience which represents a content as correct and which is instance-individuated with respect to that content is also one which entitles a thinker to judge that content, in the absence of reasons for doubting that he is perceiving properly.« (vgl. ebd. 70)
Nun stellt sich die Frage, und damit komme ich gleich zum Punkt, ob wir nicht ebenso eine rein evolutionstheoretische Erklärung für die Korrektheit komplexerer begrifflicher Anschauungsinhalte finden könnten? Peacocke selbst würde dies wohl bestreiten, weil der nonkonzeptualistischen Idee nach alle abgeleiteten Begriffe kontextübergreifend auf eine Gemengelage punktueller Wahrnehmungsepisoden und Praktische Anschauung
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damit auf empirische Evidenz gegründet sind. Demnach wären sie erworben, nicht angeboren. Auch wenn dies recht merkwürdig anmutet, könnten wir jedoch stattdessen so etwas wie einen Begriffsnativismus annehmen, der einen Denker von Geburt an mit einem begrifflichen Verständnis grundlegender Aspekte seiner Umwelt ausstattet. Es sollte klar sein, dass nichts weniger erforderlich ist, um die These zu plausibilisieren, dass eine rein evolutionstheoretische Erklärung der Korrektheit komplexer begrifflicher Inhalte existiert. Denn die bloße Prämisse, dass Denker von Natur aus lediglich mit der Fähigkeit ausgestattet sind, bestimmte Begriffe auszubilden, anstelle des Besitzes dieser Begriffe selbst, würde automatisch bedeuten, dass wir eine Fülle weiterer Elemente mit in die Erklärung einbeziehen müssen, nämlich a) biographisch erworbene Evidenzen, b) die allgemeine Rationalität des Denkers bei der Berücksichtigung dieser Evidenzen und c) die Möglichkeit, dass der Denker Opfer von ›epistemischem Pech‹ geworden ist, weil er in seiner Umwelt stark irreführenden Evidenzen ausgesetzt war. Die letzte Möglichkeit wäre weiterhin gegeben, selbst wenn wir annehmen, dass basale nichtbegriffliche Wahrnehmungsinhalte meistens korrekt repräsentieren. Bei Nichtvorliegen all dieser Bedingungen muss damit gerechnet werden, dass ein Individuum ein falsches begriffliches Verständnis von seiner Umwelt ausbildet, weshalb auch seine perzeptiven Episoden, sofern sie durch dieses Verständnis mitkonstituiert werden, in diesen Hinsichten häufig fehlrepräsentieren werden und damit keine entsprechenden Urteile epistemisch legitimieren können. Wie dem auch sei, es scheint sich unglücklicherweise zu ergeben, dass selbst ein verwegener Begriffsnativismus uns nicht gegen die Notwendigkeit des Einbezugs ontogenetischer Faktoren gefeit macht. Denn wir können sicherlich nicht davon ausgehen, dass ein Denker nur im Besitz einzelner Begriffe geboren wird. Damit wir eine entsprechende Zuschreibung tätigen können, müssen wir wenigstens eine genetische Ausstattung mit basalen Begriffsclustern annehmen, in die ein einzelner Begriff inferentiell eingebettet ist. Ohne diese zusätzliche Zuschreibung könnten wir einen einzelnen Begriff gar nicht individuieren. Das heißt, durch die Interdependenz von Bedeutung und Überzeugungen müssen wir komplementär zum Begriffsnativismus einen Theorienativismus annehmen (s. 2.2.ii). Diese Minimaltheorie der Welt würde aber Implikationen für zu erwartende empirische Erfahrung generieren, mit der die tatsächliche Erfahrung eines Individu96
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ums durch Irrationalität oder epistemisches Pech in Konflikt geraten kann. Dadurch würde eine Pervertierung selbst auf genetischer Grundlage ursprünglich reliabler begrifflicher und repräsentationaler Fähigkeiten möglich. Selbst unter nativistischer Prämisse bräuchten wir also zur Erklärung der Korrektheit begrifflicher Wahrnehmungsgehalte von allen Begriffe verwendenden Wesen, die zum Zeitpunkt t0 + 1 ihrer epistemischen Biographie beleuchtet werden, noch so etwas wie eine ›Proviso-Bedingung‹. Diese müsste die Behauptung der Korrektheit begrifflich verfasster Perzeption um die Bedingung ergänzen, dass die natürlich gegebene Disposition zur korrekten begrifflichen Repräsentation komplexer Situationsaspekte nicht durch Irrationalität oder epistemisches Pech angesichts von Erfahrung zum Zeitpunkt t0 in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sagen wir beispielsweise, ein Individuum hätte natürlicherweise einen Begriff der materiellen Gegenstände in seiner Umgebung, z. B. von Steinen und Fressfeinden, würde aber zu Beginn seines theoretischen Lebens nur mit Schaumgummisteinen und Plastikfressfeinden konfrontiert, könnte dies seine Auffassung so verfälschen, dass er zukünftig seine Umgebung in dieser Hinsicht als weich oder ungefährlich fehlrepräsentiert. Daraus folgt, dass selbst dann, wenn wir Peacockes obige Erklärung akzeptieren und sowohl eine rein evolutionstheoretische Erklärung für nichtbegriffliche Inhalte und unabgeleitete Wahrnehmungsbegriffe sowie für entsprechende Wahrnehmungsurteile annehmen als auch die – gelinde gesagt – recht gewöhnungsbedürftige These eines Begriffsnativismus für höherstufige Begriffe, die Behauptung immer noch falsch wäre, dass wir die Korrektheit komplexer begrifflicher Inhalte rein evolutionstheoretisch erklären können. Dies gilt zumindest für alle ›minimal erwachsenen‹ Wesen und es sind nur diese, denke ich, die üblicherweise in epistemologischen Zusammenhängen für uns von Interesse sind. Da sich nun im Abschnitt über Wahrnehmungsinhalte ergeben hat, dass praktische, naturwissenschaftliche sowie alltägliche Inhalte komplexe begriffliche Inhalte darstellen, erhalten wir nun folgende wichtige Einsicht: Es gibt keine rein evolutionstheoretische Erklärung der perzeptiven Berechtigung für komplexe begriffliche Anschauungsgehalte, weder für praktische noch für naturwissenschaftliche (bzw. alltägliche)! Jede solche Erklärung wird unter dem Gesichtspunkt der epistemischen Biographie von Denkern zwangsläufig unterkomplex sein. Praktische Anschauung
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Wenden wir uns nun wieder dem explanatorischen Argument Harmans zu, ergibt sich die Bedeutsamkeit dieses Gedankens in Zusammenschau mit der Tendenz einer evolutionsbiologischen Lesart von Harmans Einwand auf Seiten einiger Inegalitaristen. Denn wir können nun sehen, warum solche Schachzüge einen fundamentalen Mangel besitzen. Etwa Allan Gibbard behauptet, dass es im Unterschied zu praktischen Urteilen für ›gewöhnliche Prosaüberzeugungen‹ (d. h. nicht-praktische Alltagsurteile) eine evoutionstheoretische Erklärung ihrer Korrektheit gibt: »Ordinary, prosaic beliefs about our surroundings are prime cases of natural representations. Clearly we do have a system that adjusts features of our descriptive beliefs to correspond to features of the world: the system includes our observational capacities and many of our cognitive ones. The correspondence is somewhat arbitrary – this claim is vague, but it will come out true on any reasonable way of making it precise. It seems clear enough what the evolutionary explanation of this capacity must be. A genetic propensity towards having the capacity must have been selected for, among our ancestors …« (vgl. Gibbard 1990: 109)
Gibbard spricht in dem Zitat zwar nur von Urteilen, aber wir dürfen annehmen, dass es sich dabei um Wahrnehmungsurteile handeln soll, die ihrerseits rational auf Wahrnehmungsinhalte gegründet sein müssen. Beschränken wir uns somit auf Wahrnehmungsinhalte, dann sollte es immer noch skeptisch stimmen, wenn Gibbard ausführt, seine These zu ›Prosaüberzeugungen‹ sei zwar vage, aber zwangsläufig in jeder Interpretation korrekt. Die Schlussfolgerung, die sich m. E. ergibt, ist nämlich vielmehr, dass die These zwangsläufig entweder falsch oder irrelevant sein wird. Einerseits könnte der Autor hier mentale Inhalte im Auge haben, die sich auf materielle ›natürliche‹ Entitäten der Umwelt richten, Bäume, Tiger, matschige Pfade, für die keine rein evolutionäre Erklärung existiert, weshalb die These falsch wäre. Andererseits könnte Gibbard sich tatsächlich nur auf instanz-individuierte Inhalte beschränken wollen. In diesem Fall wird die These für die Argumentation des Autors jedoch vollkommen nutzlos, da Gibbard in dem zitierten Kapitel gerne eine Disanalogie zwischen praktischen und nicht-praktischen (bzw. normativen und nicht-normativen) Urteilen aufzeigen möchte, durch den Verweis auf ›natürliche Repräsentation‹ jedoch nur eine Differenz zwischen basalen und höherstufigen, begrifflichen Inhalten erhält. 98
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Eine analoge Inkonsequenz findet sich auch bei Simon Blackburn. Bei ihm wird an der nachfolgenden Stelle zudem gut deutlich, dass er wie auch Gibbard eine epistemologische These über die Korrektheit nicht-praktischer perzeptiver Zustände mit der psychologischen These einer Differenz von kognitiven und ›konativen‹ Zuständen paart: »The point is that the state of mind starts theoretical life as something else – a stance, or conative state or pressure on choice and action […] The stance may be called an attitude, although it would not matter if the word fitted only inexactly: its function is to mediate the move from features of a situation to a reaction […] It is noteworthy that the account will insist upon the nonrepresentative, conative function for the stance. The evolutionary success that attends some stances and not others is a matter of the behaviour to which they lead. In other words, it is the direct consequences of the pressure on action that matter […] Now contrast the kind of evolution already sketched with any that might be offered for, say, our capacity to perceive spatial distance. Again, what matters here is action. But what we must be good at is acting according to the very feature perceived. A visual-motor mechanism enabling the frog’s tongue to hit the fly needs to adapt the trajectory of the tongue to the place of the fly relative to the frog, and an animal using perceived distance to guide behavior will be successful only if it perceives distances as they are. It is because our visual mechanisms show us faroff things as far-off and near things as near that we work well using them. That is what they are for. We can sum up this contrast by saying that although the teleology of spatial perception is spatial, the teleology of ethical commitment is not ethical. The good of spatial perception is to be representative, but the good of ethical stances is not.« (Blackburn 1993b: 168 f., Herv. von mir, D. B.)
Die obige Gegenüberstellung hat noch einige weitere hintergründige Nuancen, wie etwa die bekannte Unterscheidung der dualen ›Passensrichtung‹ (direction of fit) mentaler Zustände, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Im gegenwärtigen Kontext sollten uns aber zumindest einige Dinge zu denken geben. Zunächst ist es recht unklar, wie Blackburn eigentlich den Repräsentationsbegriff einführt, der auf die ›konativen‹ Zustände nicht anwendbar sein soll. Einerseits scheint er schlicht vorauszusetzen, dass manche Zustände gegenüber anderen repräsentational sind, weshalb Zirkularität droht, mindestens fehlt aber eine Erläuterung, warum Zustände, die, wie er scheibt, ›direkte Konsequenzen für das Handeln‹ haben, nicht repräsentational sein können? Andererseits scheint Blackburn gerade in den letzten beiden Sätzen darauf hinauszuwollen, dass kognitive und konative Zustände Praktische Anschauung
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irgendwie auf verschiedene Weise, durch ihre unterschiedliche Teleologie, evolutionär erfolgreich sein können. In diesem Fall wäre aber sicher anzumerken, dass der repräsentationale Charakter eines Zustandes weder durch einen teleologisch besonderen, noch durch evolutionären Erfolg überhaupt zu erklären ist. Ihre ›Teleologie‹ ist es, wahr bzw. veridisch, nicht aber evolutionär erfolgreich zu sein (vgl. Goldman 1986: 98), auch wenn wir den Umstand, dass sie (wahrscheinlich) wahr sind, in einigen Fällen evolutionär erklären können. Der wichtigste Punkt sowohl gegen die epistemologische als auch psychologische Pointe der Darstellung aber ist, dass Blackburns Rekurs auf eine rein räumliche Wahrnehmung uns wiederum nur eine Unterscheidung zwischen nichtbegrifflichen und begrifflichen Inhalten liefert. Wenn nach Blackburn nur solche Zustände als repräsentational korrekt angesetzt werden können, die von der Art reiner Raumwahrnehmung sind, dann schließt dies alle Zustände mit alltäglichem und naturwissenschaftlichem Inhalt aus, und wenn nur die Zustände überhaupt als ›repräsentational‹ bezeichnet werden können, die diesen Charakter haben, werden auch jene Zustände als ›konativ‹ bezeichnet werden müssen, was die Differenz ad absurdum führen würde. In der Tat werden ja sicherlich nicht nur praktische auf der Liste der Urteile stehen, die zwischen Wahrnehmung und Handlung ›mediieren‹, sondern eben alle Urteile, die nicht perzeptiv, sondern deliberativ geurteilt werden. An diesen beiden Beispielen lässt sich somit ersehen, warum eine Argumentation nach dem Schema ›Praktische und normale Urteile unterscheiden sich in der Eigenschaft E, weil bei normalen Urteilen evolutionstheoretisch erklärt werden kann, dass sie E besitzen, während für praktische Urteile gilt …‹ zwangsläufig falsch sein wird. Denn der erste Teil der Begründung ist falsch: Es gibt keine evolutionstheoretische Erklärung für normale Urteile bei jedem angemessenen Umfang der Klasse ›normaler‹ Urteile! Mit dem Ziel, an dieser Stelle ein inegalitaristisches Argument zu entwickeln, zeigt sich damit, dass neben der unzureichenden kontrastiven Erklärung ›normaler‹ Anschauungsgehalte auch die psychologischen Ausführungen von Blackburn und Gibbard auf äußerst schwachen Füßen stehen. Dies erwähne ich deshalb, um dem Eindruck vorzubeugen, es ergäbe sich aus der Theorie der Sinneswahrnehmung der beiden Autoren ein starkes Argument gegen meine obigen Prämissen der Repräsentationalität des praktischen Denkens und der Prämisse der Kognitiven Suffizienz (s. 1.2) Auf einen etwas elaborierten Versuch 100
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Gibbards, jene Differenzen zu rechtfertigen, komme ich unten noch einmal zurück.
iii. Über evolutionstheoretische Pseudoerklärungen praktischer Inhalte und moralische Grundausstattung Ein weiteres inegalitaristisches Argument erhält man, wenn man komplementär zu ihrem Versuch die Korrektheit komplexer, nicht-praktischer Inhalte zu erklären, die Präsuppositionen von Blackburn und Gibbard zu praktischen Inhalten ausbuchstabiert. In besonders expliziter Form findet sich die entsprechende Überlegung aber bei Richard Joyce (2002). Auch Joyce’ Argument konzentriert sich auf doxastische Inhalte, aber sein Argument lässt sich ebenso als auf die Korrektheit perzeptiver, praktischer Inhalte bezogen lesen. Während die Überlegung des letzten Abschnittes lautete, dass sich die Korrektheit nichtpraktischer Anschauungsinhalte evolutionstheoretisch erklären lässt, ist Joyce der Auffassung, dass eine evolutionstheoretische Rekonstruktion praktischer Inhalte zu der Einsicht führt, dass diese repräsentational unverlässlich sind und daher nicht zu einem Urteil berechtigen können: Er schreibt: »The innateness of moral judgments [!] undermines these judgments being true for the simple reason that if we have evolved to make these judgments irrespective of their being true, then one could not hold that the judgments are justified.« (Joyce 2002: 159)
Dieser Satz bringt zum Ausdruck, dass wir mit Begriffs- und Theorienativismus auch bei Joyce recht ungewöhnliche Prämissen akzeptieren müssen, um seinen Erörterungen überhaupt weiter folgen zu können. In ihrer Essenz bestehen diese nun einerseits in der Aufführung der bekannten evolutionsbiologischen Überlegungen von Axelrod (1984) und anderen. Demnach können wir den moralischen Phänotyp von Individuen, insbesondere ihre Bereitschaft zu kooperativem und altruistischem Verhalten sowie beteiligte mentale Inhalte, als evolutionär erfolgreiche Adaption gänzlich eigeninteressierter, d. h. auf das eigene Überleben und Fortpflanzung ›bedachter‹ Organismen verstehen. Auf dieser Grundlage gelangt Joyce zu dem Schluss, dass wir keinerlei Zusammenhang zwischen dem Vorkommnis mentaler praktischer Inhalte und den praktischen Tatsachen, die sie intendieren, herstellen können. Praktische Anschauung
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Durch diese epistemische Unabhängigkeit aber seien sie als Begründungsinstanz diskreditiert: »Suppose that the actual world contains real categorical requirements – the kind that would be necessary to render moral discourse true. In such a world humans will be disposed to make moral judgments (most generally, to believe that categorical requirements exist), for natural selection will make it so. Now imagine instead that the actual world contains no such requirements at all – nothing to make moral discourse true. In such a world humans will still be disposed to make these judgments (most generally, to believe that categorical requirements exist), just as they did in the first world, for natural selection will make it so. What this shows is that the process that generates moral judgments exhibits an independence relation between judgment and truth, and these judgments are thus unjustified.« (ebd. 163)
Ich werde hier nicht auf die zahlreichen evolutionsbiologischen Prämissen von Joyce’ Argument eingehen. Der Autor ist offenbar der Ansicht, dass die Evolutionstheorie hinreichend erwiesen habe, bestimmte Merkmale menschlicher Individuen müssten sich so und nicht anders entwickelt haben, während andere wohl eher von einer fulminanten Spekulation sprechen würden, die empirisch nicht bestätigt ist. Denn selbst wenn wir die nativistischen und evolutionstheoretischen Annahmen akzeptieren, sehen wir, dass das Argument so nicht richtig sein kann. So merkt Wielenberg (2010) an, dass – unter der Annahme praktisch-moralischer Tatsachen, die Joyce, natürlich, negiert – es bereits durch die Supervenienz moralischer auf nicht-moralische Tatsachen ausgeschlossen ist, dass es Welten gibt, in denen moralische Tatsachen eliminiert sind, aber Individuen dennoch weiterhin moralische Überzeugungen halten. Denn jeder, der auf der Existenz moralischer Tatsachen beharrt, wird selbstverständlich ebenso darauf bestehen, dass es gewisse niederstufige Tatsachen gibt, die konstitutiv für sie sind, etwa die Existenz empfindungsfähiger Lebewesen, v. a. aber die Existenz rationaler Individuen. Beginnen wir also das Gedankenexperiment mit der Annahme moralischer Tatsachen in unserer Welt, müssen wir nicht nur die moralischen, sondern auch die subvenienten Tatsachen eliminieren, um zu einer möglichen Welt ohne moralische Aspekte zu gelangen. Eine solche Welt aber wäre wüst und leer und dies bedeutete, dass in einer solchen Welt keine Individuen existieren könnten, die überhaupt irgendwelche praktischen Überzeugungen besitzen. Das
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heißt, die gesuchten ›Joyce-Welten‹ sind keine möglichen, sondern unmögliche Welten (vgl. ebd. 454 ff.). 31 Nicht unmöglich hingegen wäre prima facie eine Welt, in der die praktischen Tatsachen deutlich anders beschaffen sind als in der aktuellen Welt, in der Individuen aber nach wie vor dieselben praktischen Überzeugungen besitzen, sagen wir, eine Welt, in der es mindestens einen Denker gibt. Folgen wir Joyce’ Argumentation, könnte die Möglichkeit dieser Vorstellung unter Umständen ausreichen, um die praktischen Inhalte von Denkern in den meisten Fällen inkorrekt werden zu lassen und eine entsprechende epistemische Berechtigung zu unterminieren. Können wir also das Argument nicht in diesem Sinne modifizieren? Ich denke, wir können es, gelangen dann zu einem völlig unrealistischen Szenario, dass uns eine weitere abstruse Konsequenz dieses Gedankenstrangs enthüllt. Denn eine Konstanz praktischer Überzeugungen bei solch veränderten Umständen ergibt nur dann Sinn, wenn wir uns Individuen als vollständige Ignoranten vorstellen! Nur bei perfekter Ignoranz gegenüber empirischer Erfahrung könnte das Überzeugungssystem eines Individuums gegenüber einer solch veränderten Welt immun sein, und zwar wegen der Supervenienz des Moralischen wiederum nicht nur in Bezug auf praktische, sondern auch in Bezug auf nicht-praktische Erfahrung. Eine solche Welt ist zwar – wenigstens analytisch – nicht unmöglich, aber es wäre seltsam davon auszugehen, dass unsere Welt von dieser Art ist, weil wir damit das ubiquitäre Faktum von biographisch und soziokulturell gefärbter Varianz praktischer und nicht-praktischer Überzeugungen ignorieren würden. Joyce, der unter anderem den Begriff des Verbotenen für angeboren hält (vgl. Joyce 2002: 162), muss schweigen gegenüber der dann überraschenden Tatsache, dass die Liste von Personen äußerst lang ist, die den Satz ›Alles ist erlaubt‹ unterschrieben haben. 32 Selbst wenn wir somit davon ausgehen, dass praktische Deliberation ob im individuellen oder soziokulturellen Kontext eine recht beliebige, nicht-rationale Angelegenheit ist, wäre das evolutionstheoretische Argument nach wie vor falsch. Daneben wird an dieser Stelle die Position Wielenberg diskutiert an der genannten Stelle die Position von Ruse (1986) bzw. ›Ruse-Welten‹, der ein zu Joyce analoges Argument anführt, bringt denselben Punkt aber auch gegen Joyce vor. 32 Dabei ist es interessant zu sehen, wie sich dabei evolutionstheoretisch motivierter Skeptizismus und Kulturrelativismus im Bereich der Ethik gegeneinander ausspielen lassen. 31
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von Joyce erneut inkonsistent, da dieser selbst von einer ›Plastizität‹ und damit empirischen Formbarkeit von begrifflichen Fähigkeiten ausgeht (vgl. ebd. 161). Angesichts dieser haarsträubenden Implikationen stellt sich die Frage, warum Autoren wie Joyce hartnäckig davon ausgehen, dass irgendein derartiges Abkanzeln praktischer Repräsentationen funktionieren könnte? Dies führt mich noch einmal auf den Artikel von Wielenberg. Dieser merkt an, dass wir bei einer evolutionstheoretischen Erklärung der Merkmale einer Spezies beachten müssen, dass die spezifische Funktion eines Merkmals, die die Überlebenswahrscheinlichkeit von Exemplaren dieser Spezies erhöht und deshalb zur natürlichen Selektion dieses Merkmals geführt haben mag, bei aktuellen Exemplaren nicht zwingend der einzige Zweck sein muss, den dieses Merkmal erfüllt. Auf dieser Grundlage gelangt er zu zwei wichtigen Folgerungen. Erstens könnten wir – unter deontologischen und universalistischen Vorzeichen – einerseits die Disposition von Menschen, sich selbst und engste Verwandte mit einer rechteanalogen ›moralischen Außengrenze‹ auszustatten, als evolutionär adaptives Verhalten beschreiben. Zweitens aber könnten wir es als ebenso evolutionär vorteilhaft ansehen, wenn Individuen die Disposition besitzen, ähnliche Dinge gleich zu behandeln, weil diese Strategie wahrscheinlich zu mehr wahren Überzeugungen führt. Dies Zusammengenommen genügt aber, um zu erklären, warum Menschen die Disposition besitzen, alle Menschen als Träger von Rechten anzusehen, und warum entsprechende moralische Überzeugungen wahrscheinlich korrekt sein werden, solange wir davon ausgehen, dass es eine so beschaffene moralische Realität gibt (vgl. Wielenberg 2010: 442 ff.). Ich würde nun dem Autor aus den oben genannten Gründen nicht ganz darin zustimmen, dass wir damit tatsächlich die Korrektheit der praktischen Überzeugungen von Denkern selbst erklären können. Dennoch macht Wielenberg einen entscheidenden Punkt, den ich allerdings etwas anders formulieren würde. Der Punkt ist, dass, selbst wenn wir Individuen bis zu ihrer Geburt als Spielball ›egoistischer Gene‹ porträtieren, wir dennoch dieselben Kapazitäten, die wir seitens eines Denkers postulieren müssen, um zu erklären, dass dieser in der Lage sein kann in einer komplexen Umwelt sein genetisch aufgefasstes Eigeninteresse zu verfolgen, ebenso nutzen können, um zu erklären, dass dieser Denker zu praktischen Einsichten fähig ist, die über dieses Eigeninteresse weit hinausgehen. Wir können dies, sobald wir berück104
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sichtigen, dass jene Kapazitäten bei rationalen Individuen wesentlich in einer durch allgemeine Begriffe vermittelten Flexibilität in der Bewältigung praktischer Anliegen bestehen wird. Autoren wie Joyce hingegen versuchen, bei Denkern eine Art von genetischem Determinismus zu diagnostizieren, der allein zum Behelf der epistemologischen Unterminierungsthese die gewollte Unabhängigkeit von praktischen Denkern und empirischer Erfahrung herstellen könnte. Dabei wird aber einerseits die erwähnte Funktionsoffenheit von Merkmalen übersehen und andererseits die begriffliche Flexibilität von Denkern. Sobald wir die Vernachlässigung dieser beiden Punkte, die hier als unumstößliche anthropologische These verkauft wird, aufgeben, ist der Weg frei, das praktische Denken nicht mehr als einen ›festverdrahteten‹, intrinsisch einsichtslosen Prozess zu verstehen. Gewiss, in einer Momentaufnahme ist es verlockend, angesichts eines ursprünglichen Narzissmus von Individuen, diesen quasi eine natürliche moralische ›Engstirnigkeit‹ gegenüber einer naturwissenschaftlichen ›Weltoffenheit‹ zuzuschreiben. Aber ebenso wie am Anfang der epistemischen Biographie von Denkern eine beschränkte Vorstellung von Wert und Ordnung steht, steht dort auch eine nur schmale Kenntnis von der Landkarte der Natur. Weiten wir hingegen das Bild aus, ergibt sich, dass Individuen in eben demselben Maße, wie sich ihnen Gelegenheit bietet, die weißen Flecken auf der Landkarte der Natur auszufüllen, sich ihnen auch Gelegenheit zur Komplettierung der moralischen Landkarte bietet. Denker werden normalerweise ausgehend von einem Verständnis der eigenen Bedürfnisse, Empfindungs- und Vernunftfähigkeit entdecken, dass es in ihrer Umgebung noch andere Gestalten mit den gleichen Eigenschaften gibt, die ebenso einen Anlass zum Handeln darstellen. Dies ist eine sehr natürliche Beschreibung des Sachverhalts, während Dämonisierungen und Stereotypisierungen von anderen Personen oder Gemeinschaften mangelnde empirische Erfahrung, epistemisches Pech oder starke Irrationalität erfordern. Dies bedeutet, dass wir die natürliche epistemische Ausstattung von Denkern vernünftigerweise als eine ›moralische Grundausstattung‹ ansehen können. Selbst wenn wir völlig ignorieren, dass das evolutionäre Argument in seiner Grundform bei Joyce auf spektakulär kontraintuitiven Prämissen beruht und rasch in Inkonsistenzen führt, ist angesichts all dessen nicht zu sehen, wie wir allein durch evolutionstheoretische Überlegungen den epistemischen Berechtigungscharakter von speziell praktischen Inhalten abweisen könnten. Praktische Anschauung
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Kulturtheoretische Erklärungen perzeptiver Berechtigung
Wenn eine rein evolutionstheoretische Rekonstruktion begrifflicher Inhalte nicht möglich ist, wäre zu überlegen, welche alternative Erklärung wir für diese zum Zweck der Veriditätssicherung anführen könnten. Der oben bereits erwähnte Peacocke liefert im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie keine Erklärung für diese Art der perzeptiven Berechtigung, die er »informational entitlement« (Peacocke 2004: 102) nennt, geht aber davon aus, dass eine solche existiert. Ich denke, wir können jedoch über den Autor hinaus wenigstens ein grobes Schema für eine solche Begründung aufstellen. Im gegenwärtigen komparativepistemologischen Kontext stellen sich dabei weiterhin drei Fragen: A) Wie lassen sich komplexe, praktische oder naturwissenschaftliche Anschauungsinhalte erklären? B) Gibt uns diese Erklärung Anlass für die Annahme, dass diese Inhalte wahrscheinlich korrekt und deshalb epistemisch berechtigend sind? C) Gibt die Erklärung Anlass für die Annahme, dass wir im praktischen Fall im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen auf Frage B eine negative Antwort geben müssen? Zum ersten Punkt: Bereits oben war der relativ triviale Sachverhalt angeklungen, dass wir mindestens biographisch erworbene, basale Evidenzen postulieren müssen, um zu erklären, warum ein Denker höherstufige begriffliche Anschauungsgehalte verzeichnet, zum Beispiel von einer Katze vor ihm und nicht nur von einer katzenförmigen Gestalt. Daneben gilt mindestens für menschliche Denker (auch wenn wir nicht einfach die Klasse der Wesen mit begrifflichen Fähigkeiten mit der Klasse der sprachmächtigen, sozialen Wesen zusammenwerfen dürfen), dass diese Evidenzen in einem kulturellen Kontext und vor dem Hintergrund traditioneller Überlieferung erworben werden. Das bedeutet, um die komplexen Anschauungsgehalte der Denker zu erklären, von denen wir überhaupt Kenntnis haben, müssen wir auf etwas wie McDowells Konzeption der ›Bildung‹ bzw. der ›zweiten Natur‹ rekurrieren, die Denker ontogenetisch erwerben, und komplementär auf die kulturelle Evolution von Wissen (vgl. McDowell 1994b: Kap. 4). Um die berühmt gewordene Fähigkeit der Inuit, vielfältige Arten von Schnee durch bloßes Hinsehen zu erkennen, zu erklären, müssen wir sowohl die stammesgeschichtliche Genese dieser Fähigkeit als auch die aktuelle Weitergabe an einzelne Individuen erwähnen. Nichts weniger als weite Teile der Geschichte der Physik und die langjährige Aneignung ihrer Resultate durch einen Physiker könnte erklären, warum 106
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dieser situativ einen Anschauungsgehalt von einem Proton verzeichnet und warum dieser Gehalt wahrscheinlich repräsentational korrekt ist. Schließlich müssen wir auf die empirische Erfahrung mit den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens bei variierenden natürlichen und sozialen Umständen verweisen, um das individuelle Verständnis praktischer Erfordernisse zu erklären. Um nun endlich auf Harmans Überlegung zurückzukehren, demonstriert uns dies, warum sein explanatorisches Argument für sich genommen klar inkonklusiv ist. Denn ebenso wenig, wie sich in dem Beispiel des Tierquälens der praktische Anschauungsgehalt, als von etwas Falschem, ausschließlich durch eine ›moralische Sensibilität‹ erklären lässt, weil dieser Eindruck einen klaren Anlass in der Beschaffenheit der Situation hat, lässt sich umgekehrt auch die Beobachtung des Physikers nicht ohne seine biographisch erworbene ›physikalische Sensibilität‹ allein durch situative Reize erklären. Harman macht nicht deutlich, warum wir den Verweis auf ›moralische Sensibilität‹ oder ›mehr oder weniger artikulierte moralische Prinzipien‹ (s. o.) irgendwie tiefsinniger deuten müssen, als eine verklausulierte, dabei aber redundante Wiederholung der Theorieabhängigkeit praktischer Anschauung, die sie prima facie in keiner Weise von der naturwissenschaftlichen unterscheidet. Da wir in beiden Fällen offenkundig sowohl ein soziokulturell erworbenes, theoretisches Verständnis als auch den situativen Anlass in die Erklärung der Anschauungsgehalte einbeziehen müssen, ergibt sich hier Analogie, nicht Disanalogie. Dies ist ein offensichtliches Ungenügen, auf das schon mehrere Autoren hingewiesen haben (vgl. Brink 1989: 185; Korsgaard 1996: 45 ff.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht eventuell das Argument durch Modifikation verstärken können, was mich zum zweiten Punkt führt. Denn der bloße Verweis auf die kulturelle Evolution von begrifflichen Fähigkeiten allein erklärt ja noch nicht, dass dieser Prozess auch zu wahrscheinlich korrekten komplexen Anschauungsinhalten führt. Neben einer Bildung ist ja auch eine Verbildung seitens von Individuen vorstellbar. Daraus lässt sich ersehen, dass wir nur dann jene Vorgänge als Erklärung für eine perzeptive Berechtigung verwenden können, wenn wir sie als einen weitestgehend rationalen Prozess der Berücksichtigung von Evidenzen ansehen können, und zwar von Evidenzen, die sowohl ausreichend als auch nicht irreführend sein müssen, damit adäquates Urteilen in einem Bereich möglich wird. Dies legt etwa fol-
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gendes Schema für die Begründung perzeptiver Berechtigung für komplexe, begriffliche Inhalte nahe: I. Wenn ein Denker einen komplexen, begrifflichen Anschauungsgehalt, als ob p, der Art P verzeichnet, dann ist die beste Erklärung für dieses Vorkommnis, dass der Denker im Laufe seiner Biographie entweder selbst oder durch kulturelle Überlieferung rationale Evidenzen erworben hat (die seine ›P-Sensibilität‹ konstituieren), die für die Wahrheit von p sprechen und den Anschauungsgehalt zusammen mit der Situation verursachen. II. Deshalb ist der Anschauungsgehalt, als ob p, wahrscheinlich repräsentational korrekt. III. Deshalb ist der Denker berechtigt, bei Abwesenheit von Gegengründen zu urteilen, dass p, auf der Grundlage seines Anschauungsgehalts, als ob p. Das Problem mit dieser Begründung ist allerdings, dass sie in vielen Fällen falsch sein wird. Es benötigt nicht sonderlich viel Vorstellungsvermögen, um hierzu mehr oder weniger weit hergeholte Beispiele zu produzieren. Jemand könnte beispielsweise Feuerwehr- und Polizeiautos verwechseln und deshalb erstere als Gefährte von Ordnungshütern sehen (oder anhand ihrer Sirene hören) und Physiker hätten nach einer Machtübernahme der Phlogistontheoretiker im 19. Jh. Anschauungen mit falschem physikalischen Gehalt verzeichnen können. Dies führt zu der Frage, von welchem Standpunkt aus wir eigentlich die in der Begründung genannte Rationalität und Evidenzlage beurteilen und auf die beste Erklärung schließen sollen. Es ist verlockend, dabei in die Vogelperspektive zu wechseln, um dies vom Standpunkt vollständiger Information über die Wahrnehmungssituation zu beurteilen. Darin läge aber eine intrinsische Unwahrhaftigkeit, da uns dieser Standpunkt offenkundig nicht zur Verfügung steht und wir damit durch die Hintertür unsere epistemische Lage als eine solch wohlinformierte Perspektive einführen würden. Zudem würde es die Kriterien an eine Urteilsberechtigung auf absurde Weise verschärfen, da in diesem Fall alle Denker, die in der Vergangenheit bestimmte Anschauungen aufgrund von unzureichender oder irreführender Evidenz für veridisch hielten, nicht berechtigte und damit irrationale, nicht-inferentielle Transitionen vollzogen haben. Plausibel scheint aber eher, dass von ihrem Standpunkt aus jene Übergänge völlig vernünftig waren. Ebenso müssten wir unter Umständen viele unserer eigenen
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Wahrnehmungsurteile als irrational ansehen, sollte sich unsere theoretische Auffassung in einem Bereich zukünftig deutlich ändern. Daneben wissen wir seit Goodman (1983), dass sich gravierende Schwierigkeiten bei dem Versuch ergeben, zulässige induktive Generalisierungen unabhängig von dem bestehenden Weltwissen zu charakterisieren. Vielmehr deutet viel auf eine unauflösliche Interdependenz von Methode und Theorie hin und, da bisher meines Wissens keine akzeptable Lösung für jenes Problem vorgestellt worden ist, müssen wir schließen, dass sich die Rationalität von Transitionen und speziell die Rationalität perzeptiver Transitionen nicht unabhängig von der Evidenzlage von Denkern charakterisieren lässt. Aus diesem Grund sollten wir uns darauf beschränken, die Rationalität von Übergängen aus individueller Perspektive zu bestimmen. Dies liefe auf den Vorschlag hinaus, dass ein Denker berechtigt ist, sich einen komplexen Anschauungsgehalt, als ob p, anzueignen, wenn sich von seinem Standpunkt sagen lässt, dass die beste Erklärung für diesen perzeptiven Gehalt ist, dass er ausreichende und nicht irreführende Evidenzen rational erworben hat, die für die Wahrheit von p sprechen und das Schema für die Begründung einer solch individuellen perzeptiven Berechtigung sollte dementsprechend etwa so lauten: (IPB) Wenn ein Denker einen komplexen, begrifflichen Anschauungsgehalt, als ob p, der Art P verzeichnet und von seinem Standpunkt aus die beste Erklärung für diesen ist, dass er biographisch auf rationale Weise ausreichende und nicht irreführende Evidenzen in diesem Bereich (eine P-Sensibilität) erworben hat, die für die Wahrheit von p sprechen, und zusammen mit den Gegebenheiten der Situation den Anschauungsgehalt verursachen, dann ist der Denker bei Abwesenheit von Gegengründen berechtigt zu urteilen, dass p, auf der Grundlage dieses Anschauungsgehaltes. 33 Es bietet sich an, bei dieser Gelegenheit einen kurzen Kommentar zu zwei Vorstellungen darüber einzufügen, wie Denker üblicherweise zu Wahrnehmungsurteilen mit komplexem begrifflichem Gehalt gelangen. Die erste können wir die Indikatorsicht nennen. Nach ihr gelangt ein Denker letztlich inferentiell zu einem solchen Wahrnehmungsurteil, indem er von dem Gehalt basaler repräsentationaler Eigenschaften seiner Sinneswahrnehmung (z. B. q* = als von einer katzenförmigen Gestalt) und unter Zuhilfenahme von Prinzipien (q* ßß02ßß p = X ist eine Katze) auf dieses Urteil schließt. Bei dem zweiten Ansatz hingegen handelt es sich um eine Aneignungssicht, nach der der komplexe Gehalt selbst bereits in der Sinneswahrnehmung repräsentiert ist und 33
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Akzeptieren wir diese Formulierung des Problems und nehmen ebenso als gegeben an, dass im alltäglichen und naturwissenschaftlichen Bereich die Bedingungen für eine perzeptive Berechtigung grundsätzlich erfüllt sind, lautet die abschließende Frage, ob es irgendeinen Grund gibt anzunehmen, dass diese Bedingungen speziell im praktischen Fall unerfüllbar sind. Tatsächlich fällt es mir schwer, in diesem Punkt überhaupt Anlass für Zweifel zu sehen, weshalb ich mich auf Mutmaßungen stützen muss, was hier eine Ablehnung der egalitaristischen These provozieren könnte. Gewiss geht es in praktischen Dingen oft alles andere als rational zu und lassen Umfang und Qualität von Evidenzen zu wünschen übrig. Aber dies lässt sich für jeden Bereich der Deliberation behaupten. Daneben ist es jedoch sehr plausibel, dass Denker in vielen Fällen eine ausreichende Sensitivität für praktische Erfordernisse erworben haben, so dass sie auch eine perzeptive Berechtigung für entsprechende Anschauungsgehalte besitzen. Eine Möglichkeit, dies zu bestreiten, könnte in dem Verweis auf den chronischen Dissens von Individuen in praktischen Fragen liegen. Die Abwesenheit von Konsens könnte den Entscheid darüber, welcher Erwerb von welchen Überzeugungen biographisch als rational gelten deshalb nicht-inferentiell angeeignet werden kann. Deduktive Aktivität ist nicht erforderlich. Meine Position zu diesem Thema ist neutral. Es wird m. E. schlicht von den begrifflichen Fähigkeiten des Denkers abhängen, ob es für ihn erforderlich ist, sich sein Urteil erst perzeptiv zu erschließen oder ob der komplexe Gehalt selbst bereits Eingang in die Sinneswahrnehmung findet, so dass er direkt sieht, dass etwas so und so ist, und sich deshalb diesen Gehalt doxastisch aneignet. Gegen etwas wie die Aneignungssicht wird häufig gerade im metaethischen Kontext die Vorstellung unbewusster Inferenzen ins Spiel gebracht, um die Idee zu diskreditieren, bei den zuletzt genannten handele es sich um ›echte‹ nicht-inferentielle Transitionen (vgl. Sturgeon 2002: 203). Dazu wäre anzumerken, dass dieser Punkt, falls korrekt, notwendig auf alle komplexen Gehalte ausgedehnt werden müsste. Zweitens sollte man betonen, dass es zumindest vom Standpunkt bewusster Verstandestätigkeit phänomenologisch adäquater ist, dabei von einer ›echten‹ nicht-inferentiellen Aneignung zu sprechen. Demgegenüber wirkt drittens der Begriff einer ›unbewussten Inferenz‹ wie ein Oxymoron, da wir Inferenz üblicherweise als eine bewusste, regelgeleitete Aktivität verstehen. Da dies so ist, halte ich es für angemessener, nicht von unbewussten Inferenzen zu sprechen, sondern vielmehr zu sagen, dass das Individuum gar keine inferentiellen Schlüsse zu ziehen braucht, weil es diese Inferenzen bereits in der Vergangenheit gezogen hat, und so fest perzeptive Dispositionen ausgebildet hat. Psychologisch gesprochen liegt hier eine Struktur vor, kein Prozess. Wenn man will, sollte man daher eher von versunkenen Inferenzen sprechen.
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kann, verunmöglichen. Dazu wäre allerdings zu bemerken, dass es eine Übertreibung wäre zu sagen, dass dieser in jeder Wahrnehmungssituation akut ist. Dies ist empirisch falsch und lässt sich aus semantischen Gründen unter Verweis auf die Bedingungen der Interpretation ausschließen. Dagegen ist es sicher korrekt zu sagen, dass Dissens seitens anderer Beobachter häufig einen in der Norm erwähnten Gegengrund darstellen und so die perzeptive Berechtigung eines Individuums unterminieren kann. Aber dies wird einerseits nicht global der Fall sein und bestätigt als Ausnahme andererseits ipso facto die Gültigkeit der epistemischen Norm im praktischen Bereich. Ein zweiter Stein des Anstoßes könnte in dem Zitat von Gestalten wie dem Rassisten, dem Bösen, dem Egoisten, dem Amoralisten und anderer Figuren aus dem moralphilosophischen Gruselkabinett liegen. Diese sehen die Welt offenbar auf monströse Weise anders als normale Individuen, weswegen wir ihnen gerne grundsätzlich eine perzeptive Berechtigung absprechen würde. Dies scheint jedoch auf Grundlage des bisher Gesagten nicht möglich. Dabei sind aber drei Punkte zu beachten. Zunächst einmal impliziert der Umstand, dass es rational ist, ein Urteil zu fällen, nicht, dass dieses Urteil wahr ist, ebenso wenig wie die Wahrheit eines Urteils seine Rationalität garantiert. Wenn also ein Rassist perzeptiv zu dem Urteil ›Diese Person hat einen schlechten Charakter‹ auf der Grundlage der Wahrnehmung eines Menschen mit anderer Hautfarbe berechtigt wäre, liegt er damit noch lange nicht richtig. Dieser Hinweis ist nicht besonders originell, doch gewinnt man mitunter den Eindruck, dass Wahrnehmungsurteile häufig fälschlich als solche begriffen werden, die unfehlbar wahr sind, und kann daher nicht schaden. Das heißt, eine perzeptive Berechtigung zu einem Wahrnehmungsurteil gilt, wenn überhaupt, dann nur lokal und reversibel. Ob es nun zweitens solche Fälle gibt, wird davon abhängen, wie wir die epistemische Ausstattung jener Figuren beurteilen, welche weiteren Anforderungen wir zum Beispiel im Detail an epistemische Rationalität stellen. Es könnte Fälle des rationalen Rassismus, des rational Bösen etc. geben und so gepolte Denker könnten auch eine perzeptive Berechtigung für ihre praktischen Anschauungsgehalte besitzen. Dies mag ein unschönes Resultat sein, ist aber nunmehr schlicht das Pech des Epistemologen, da wir gerade gesehen haben, dass wir die Rationalität von Transitionen nicht anders als vom Standpunkt des Denkers beschreiben können, der diese vollzieht. Daher könnten Individuen mit einer deutlich verschiedenen Theorie des Guten, Richtigen und GePraktische Anschauung
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sollten auch zu deutlich unkonventionellen Wahrnehmungsurteilen berechtigt sein. Dass dies aber sehr häufig der Fall sein wird, ist drittens sehr unwahrscheinlich. Ziehen wir etwa den Rassisten heran, wird sich in den allermeisten Fällen seine epistemische Situation auch von seinem Standpunkt aus als irrational und empirisch ungedeckt erweisen. Er wird beispielsweise keine Erfahrung mit fremden Gemeinschaften besitzen oder sich vorschneller Generalisierungen bei der Zuschreibung von Charaktereigenschaften schuldig gemacht haben und durch diese Umstände wird seine perzeptive Berechtigung jeweils unterminiert. Auf ähnliche Weise können wir schließlich auf das Zitat des Fremden antworten, der beim Eintritt in einen für ihn neuen soziokulturellen Kontext praktische Anschauungsgehalte verzeichnet. Wir müssen keine merkwürdigen Varianten des Kulturrelativismus annehmen, um zuzugestehen, dass selbstverständlich das, was gut, richtig oder gesollt ist, mit den natürlichen und kulturellen Bedingungen des Kontextes variieren wird. Da nun der Fremde mit diesem Kontext ipso facto nicht vertraut ist, besitzt er in dieser Umgebung auch keine Kompetenz, weshalb es wahrscheinlich ist, dass seine praktischen Anschauungsgehalte durch irrelevante oder irreführende Evidenzen verursacht sind, was wiederum aus seiner Perspektive perzeptive Berechtigungen in praktischer Hinsicht auslöscht. Der Fall des Fremden zeigt außerdem, warum es methodologisch unlauter wäre, aus einem Vergleich des Physikers mit dem ›Moralisten‹, die sich vor variierenden soziokulturellen Kontexten bewegen, eine Disanalogie zu konstruieren, da wir damit offensichtlich Kompetenz und Inkompetenz gegenüberstellen und dann trivialerweise zu dem Ergebnis unterschiedlicher Korrektheitswahrscheinlichkeiten von Anschauungsinhalten gelangen. Dieses Ergebnis lässt sich aber nicht generalisieren. Da dies nun, soweit ich sehe, die einzigen Möglichkeiten sind, um unter dem Gesichtspunkt kultureller Prägung von Denkern etwas an der egalitaristischen These zu beanstanden, schließe ich, dass wir weiterhin keinen Grund haben, diese zu bestreiten.
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Über kausale Ineffektivität praktischer Eigenschaften und explanatorischen Reduktionismus
Eine weitere Komponente von Harmans explanatorischem Argument, wenn wir uns nun der ontologischen Seite des Problems zuwenden, ist 112
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die Idee, dass praktische Eigenschaften kausal ineffektiv sind. Sowohl bei Harman als auch bei der Diskussion der perzeptiven Berechtigung für basale Inhalte hatten wir gesehen, dass wir eine gute Rekonstruktion einer solchen epistemischen Norm geliefert haben, wenn wir begründen können, dass der Wahrnehmungsapparat von Denkern so beschaffen sein wird, dass er wahrscheinlich genau dann einen Anschauungsgehalt, als ob p* / als von einer Eigenschaft E, hervorbringen wird, wenn p oder E tatsächlich gegeben sind und diesen Gehalt verursachen. Damit dieses Modell plausibel wird, müssen wir jedoch an die Wirkmächtigkeit der betreffenden Eigenschaften glauben. Harman behauptet nun, der Verteidiger perzeptiver Berechtigung für praktische Anschauungsgehalte hätte einem moralischen Epiphänomenalismus nichts entgegenzusetzen, der zwar hypothetisch die Existenz praktischer Eigenschaften für möglich hält, nicht aber ihre kausale Effektivität (vgl. Harman 1986: 63). 34 Sofern wir jene Art der kausal-explanatorischen Rekonstruktion perzeptiver Berechtigung als alternativlos ansehen, bedeutete dies erneut, dass es für die Rationalität praktischer Wahrnehmungsurteile schlecht aussieht. Die von Harman eingeschlagene Argumentationslinie hat jedoch ihrerseits recht kontraintuitive Konsequenzen. Um dies zu illustrieren, lohnt ein Blick auf eine weitere Bemerkung Harmans, die der Idee praktischer Verursachung im Wahrnehmungsfall die Aura der Rätselhaftigkeit verleiht: »We cannot just make something up, saying, for example, that the wrongness of the act affects the quality of the light reflected into Jane’s eyes, causing her to react negatively. That would be an example of wrongness manifesting itself in the world in a way that could serve as evidence for and against certain moral claims, but this is not something we can believe in.« (ebd.)
Es ist diese Unterstellung gegenüber den Freunden praktischer Verursachung, die Dworkin mit viel Humor eine ›Moralonenfeldtheorie‹ genannt hat. Damit meint er die Vorstellung, die einzige Möglichkeit sich gegen das explanatorische Argument zu verteidigen, sei die Phantasmagorie von Moralpartikeln (morons), die auf mikrophysikalischer Ich übergehe hier einen Zwischenschritt in der Debatte, der aus Sturgeons Vorschlag eines kontrafaktischen Kausalitätstests besteht à la ›A verursacht B, wenn B nicht aufgetreten wäre, wäre A nicht aufgetreten‹ (vgl. Sturgeon 1988: 246 f.) und Harmans legitimer Entgegnung, wie auf dieser Seite beschrieben, dass dies den Epiphänomenalismus nicht ausschließt.
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Ebene kausale Wirksamkeit entfalten (vgl. Dworkin 1996: 104 f.). In Harmans Argument ist nämlich die hartnäckige Überzeugung implizit, dass jede Form der Kausalität physikalische Kausalität sein muss. Tatsächlich wäre die Idee hinreichend absurd, dass praktische Eigenschaften ihre Wirksamkeit auf dieser Ebene entfalten müssen. Aber nähmen wir das daran gekoppelte Bedenken ernst, liefe es offenbar darauf hinaus, dass wir grundsätzlich überhaupt keine supervenienten Eigenschaften, ob biologische, psychische, soziale oder praktische, als kausal effektiv ansehen dürften, sofern wir nicht im gleichem Atemzug reduktionistisch die Eigenschaftsidentität mit Komplexen von basalen physikalischen Qualitäten akzeptieren, so dass ihre Kausalität in der physikalischen aufgeht. Ansonsten würde der Epiphänomenalismus in allen Bereichen drohen, in denen diese Eigenschaftsidentität nicht aufrechterhalten werden kann und, da Harman die kausale Effektivität ebenso als ein ontologisches Kriterium ansetzt, die Elimination all jener irreduziblen Bereiche. Harman, der ein solch reduktionistisches Projekt verfolgt, wäre diese Schlussfolgerung nun sicher recht. Ich hingegen hatte bei der Festlegung des Rahmens dieser Abhandlung darauf bestanden, dass praktische Eigenschaften nicht reduzierbar auf physikalische sind (Prämisse VI), eine Diskussion des Reduktionismus damit ausgeklammert und möchte auch jetzt nicht von diesem Pfad abweichen. Insofern kann ich an dieser Stelle keine starke Widerlegung bieten. Auf der anderen Seite fragt sich jedoch, warum wir uns neben seiner bloßen Denkbarkeit von der Position des Epiphänomenalismus beeindrucken lassen sollten? Abgesehen davon, dass der Verweis auf die unumstößliche Wahrheit des Reduktionismus gewissermaßen ein ›Spielverderber-Argument‹ darstellte (selbstverständlich kann es nur physikalische Ursachen geben, wenn alles Reale letztlich als etwas Physikalisches beschrieben werden muss), sollte man doch meinen, dass solange wir nicht gezwungen sind, dieses ultimative Zugeständnis zu machen, wir versuchen sollten, soweit als möglich unsere alltägliche und szientifische Erklärungspraxis durch metaphysische Einschübe nicht zu unterminieren, wenn uns diese Praxis als sinnvoll erscheint. Dies soll Folgendes bedeuten: Shafer-Landau hat darauf hingewiesen, dass das explanatorische Argument bei Harman von der Vorstellung der kausalen Geschlossenheit des Bereichs des Physikalischen getragen wird sowie von der Vorstellung, dass die kausale Wirksamkeit irreduzibler, supervenienter Eigenschaften zwangsläufig auf eine kau114
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sale Überdetermination hinauslaufen würde. Aus diesem Grund erscheint der Epiphänomenalismus als die einzige gangbare Alternative (vgl. Shafer-Landau 2003: 106). Wie der Autor aber ebenfalls anmerkt, wäre es ebenso möglich, von einem Prinzip der kausalen Vererbung auszugehen. Diesem Prinzip nach übernehmen superveniente Eigenschaften ihre kausale Effektivität ganz oder partiell von ihren Basiseigenschaften, ohne dass dabei irgendwelche zusätzlichen Kräfte und eine Verletzung des Prämisse der kausalen Geschlossenheit angenommen würde (vgl. ebd. 109). Die bloße Denkbarkeit der kausalen Erbschaft allein zeigt noch nicht die Überlegenheit gegenüber der Idee epiphänomenaler Wirkungslosigkeit. Aber – und dies ist der entscheidende Punkt – ich denke, wir haben jeden Grund das erstere metaphysische Bild akzeptabler zu finden, wenn sich eine sinnvolle Erklärungspraxis bezüglich bestimmter höherstufiger Eigenschaftsklassen aufzeigen lässt. Denn dies würde uns eine bruchlose Integration von jener Praxis und metaphysischer Spekulation gestatten. Relevanz hat diese Überlegung zunächst im Falle psychologischer und soziologischer Erklärungen, wo wir offenkundig von einer kausalen Wirksamkeit mentaler und sozialer Entitäten ausgehen. Damit dieser Gedanke aber auch im Falle praktischer Eigenschaften tragfähig wird, müssen wir nachweisen, dass sich hier ebenso eine solch sinnvolle Erklärungspraxis auffinden lässt. Von David Brink stammt nun die Behauptung, dass Letzteres tatsächlich der Fall ist. Etwa könnten wir eine Revolution durch die Ungerechtigkeit der Gesellschaft erklären, grausame Handlungen durch die Bösartigkeit des Handelnden oder aufrichtige Meinungsäußerungen durch Ehrlichkeit (vgl. Brink 1989: 187). Tatsächlich kann man jenen Phrasen sicher die korrekte explanatorische Form zusprechen. Brinks moralische Erklärungen sind Erklärungen, aber, so muss man leider hinzufügen, sehr schlechte Erklärungen! Sie sind schlechte Erklärungen, weil sie weitgehend nichtssagend sind und uns nichts über die Details der Gesellschaft, den konkreten Anlass des Aufstandes oder die Motivation der Akteure verraten noch über die Spezifika der Psyche, die zu aufrichtigem oder grausamem Handeln geführt haben. Die Erklärung von Revolutionen durch die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft ist daher nicht besser als ihre Erklärung durch den oberflächlichen Hinweis, irgendetwas müsse dort ›grundlegend schief gelaufen‹ sein, und die Anspielung auf die Bösartigkeit von Handelnden ist meist Ausdruck einer verständnislosen Dämonisierung der gemeinten Person. Praktische Anschauung
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Daher weist Robert Audi berechtigterweise darauf hin, dass die Art von moralischen Erklärungen, die Brink anführt, sofern wir sie alltäglich ernst nehmen, vielmehr eine ›illuktionäre Rolle‹ spielen, insofern sie nur auf die eigentliche Erklärung hinweisen. Die eigentliche explanatorische Arbeit würde aber durch den Rekurs auf niederstufige Eigenschaften geleistet. Wir würden eine Revolution letztlich nicht durch die Ungerechtigkeit der Gesellschaft erklären, sondern durch Polizeibrutalität oder das Verhängen willkürlicher Ausgangssperren und wir würden Individuen offenbar nicht den Besitz einer genuinen Erklärung für gesellschaftliche Prozesse zusprechen, sofern sie über das bloße Zitat von Ungerechtigkeit nicht solche sozialen Details anführen könnten. Daher plädiert Audi schließlich zwar nicht für eine Reduktion moralischer Eigenschaften, jedoch für eine ›Naturalisierung moralischer Erklärungen‹ (vgl. Audi 1997: 143 f.). Es ist nun diese Plausibilität eines explanatorischen Reduktionismus bezüglich praktischer Eigenschaften, die den gerade vorgeschlagenen Begründungsschritt zu durchkreuzen droht, da wir im moralischen Fall offenbar gerade keine sinnvolle Erklärungspraxis nachweisen können und daher auch keinen Grund haben, der Idee kausaler Vererbung gegenüber der epiphänomenalistischen Sicht den Vorzug zu geben. Ich meine allerdings, dass Audi seinerseits zwei zentrale, dabei zusammenhängende Punkte übersieht. Der erste bemerkenswerte Punkt ist, dass die von Audi anvisierte Reduktionsbasis moralischer Erklärungen selbst in gleich doppelter Hinsicht ungenügend ist. Denn erstens reicht auch der Verweis auf die Polizeibrutalität und andere soziale Phänomene sicherlich in keinem Fall, um eine sukzessive Revolte zu erklären, weil wir mindestens dazu auch die Perspektive von Akteuren mitdenken müssen, die glauben müssen, dass solche Phänomene existieren, bevor sie Gegenmaßnahmen ergreifen. Zweitens müssen wir aus der Perspektive von Akteuren nicht nur ihren Glauben an Polizeibrutalität voraussetzen, sondern auch ein spezifisches evaluatives und deontisches Verständnis dieser Ereignisse. Ansonsten bliebe es eine offene Frage, warum die relevanten Akteure Polizeibrutalität nicht für eine verdienstvolle Gratis-Dienstleistung der Regierung halten. Audi führt in einer Fußnote aus, dass wir bei potentiellen dichten ethischen Begriffen wie ›Polizeibrutalität‹ jeweils auch eine wertneutrale Fassung des Ausdrucks für die Erklärung annehmen können, übersieht dabei aber, dass eine solche wertneutrale Version des Begriffs in der Perspektive von Akteuren eben gerade nicht die notwendige Erklärungsleis116
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tung erbringen kann (vgl. ebd. 141). Damit bekommen wir nun aber nicht die intendierte Reduktion praktischer Erklärungen auf nichtpraktische, weil wir wenigstens den Glauben von Akteuren mit einbeziehen müssen, dass in ihrer Situation gewisse evaluative oder deontische Eigenschaften vorliegen. So betrachtet scheint der explanatorische Reduktionismus vielmehr in einem recht allgemeinen Punkt zur praktischen Begründung aufzugehen, der darin besteht, dass Akteure etwas nicht deshalb tun, weil es (formal) richtig ist, sondern weil substantielle praktische Gründe vorliegen, die für die Handlung sprechen. Audi, der ›moralische Eigenschaften‹ hier vor allem bezogen auf die Klasse des (Nicht-) Gesollten bzw. des konklusiv Richtigen oder Falschen versteht (vgl. ebd. 140), bekommt dadurch zwar eine Reduktion des Moralischen auf das Nicht-Moralische, aber nur in dem Sinne einer (inferentiellen) Rückführung des Normativen auf das Evaluative oder Deontische und damit zunächst einmal keine vollständige Elimination des Praktischen aus der Erklärung. Bei der Rekonstruktion der Handlungsgründe von Akteuren bleibt der Rekurs auf den Tatbestand unerlässlich, dass diese irgendetwas für gut, schlecht, geboten, verboten etc. halten, und zwar ›den ganzen Weg nach unten‹, ohne dass wir irgendwann auf ein Fundament stoßen, wo wir ohne diese genuin praktische Kennzeichnung ihrer Situationsauffassung auskämen. Dass wir in diesem Zuge den Glauben von Akteuren an das Vorliegen praktischer Eigenschaften für eine gute Erklärung individueller oder kollektiver Aktion benötigen, bedeutet natürlich noch nicht, dass wir die vorgestellten Eigenschaften selbst für die Erklärung benötigen. Dies führt mich zu meinem zweiten kritischen Kommentar zu Audis Argument. Dieser begründet den explanatorischen Reduktionismus neben den obigen Beispielen im Detail mit der ›epistemischen Dependenz‹ moralischer Eigenschaften: »Unlike, say, temperature and elasticity, moral properties are not only ontologically dependent, but also epistemically dependent, on their base properties: roughly, knowing a particular to have a moral property depends on knowing it to have one or more of a certain range of base properties, and justifiedly believing it to have a moral property depends on justifiedly believing it to have (or at least on being justified in believing it to have) one or more base properties in this range.« (vgl. ebd. 140)
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Das Interessante ist nämlich, dass es offenbar mindestens eine Ausnahme von dieser Regel gibt, die zudem im gegenwärtigen Kontext äußerst zweckdienlich ist, und zwar bei der Sinneswahrnehmung. Denn ein Denker wird angesichts der Reichhaltigkeit einer Wahrnehmungsepisode nie verpflichtet sein, alle Inhalte der Anschauung auch zu glauben, sondern bestenfalls berechtigt, diese zu glauben. Dadurch wird es für ihn aber optional, welchen Teil des perzeptiven Inhaltes er für die Transition zu einer Überzeugung nutzt. Angenommen nun, ein Denker besäße eine generelle perzeptive Berechtigung für seinen Anschauungsinhalt, der von einem Gegenstand mit der Eigenschaft P handelt, aber nur weil die basalere, für P konstitutive Eigenschaft Q mitrepräsentiert ist. Dann könnte der Denker von einem wahrgenommenen Gegenstand begründet glauben, dass P(a), ohne dass er begründet glaubt, dass Q(a), oder begründet glaubt, dass P(a), weil Q(a), und das ist ein Gegenbeispiel gegen Audis Behauptung der allgemeinen epistemischen Dependenz. Damit wird ebenfalls evident, dass die einzige Ausnahme von Audis Dependenzthese, gegenwärtig auch die einzig signifikante ist, da es uns ja genau um die Erklärung praktischer Anschauungen ging! Hier spricht nun offenbar nichts gegen die Erklärung, dass A mitunter glaubt, dass X gut, richtig oder gesollt ist, weil er diese Eigenschaften wahrgenommen hat. In diesen Fällen berufen wir uns auf genau die praktischen Eigenschaften, von denen diese Überzeugungen handeln, und zwar auf irreduzible Weise, weil es unserem Verständnis des nicht-inferentiellen Charakters perzeptiver Transitionen entspricht, dass Denker sich hier selektiv Inhalte aneignen können, ohne ihre Überzeugungen inferentiell oder diskursiv zu stützen. Dies sieht wie eine zirkuläre Begründung für die perzeptive Berechtigung bei praktischen Inhalten aus, ist es aber nicht. Vielmehr hatte ich bereits in den letzten Abschnitten geschildert, dass wir komparativ ebenso guten Grund haben, eine perzeptive Berechtigung für praktische Anschauungsgehalte zu akzeptieren, wie bei allen anderen komplexen, begrifflichen Inhalten dieser Art. In diesem Abschnitt hat sich nun gezeigt, dass wir gegen den Epiphänomenalismus auf das Prinzip der kausalen Vererbung bestehen können und dass dies dann die plausiblere Sichtweise ist, wenn sich eine sinnvolle Erklärungspraxis bezüglich praktischer Eigenschaften aufzeigen lässt. Auf dieser Ebene ist es nun aber nicht mehr erforderlich, die Rationalität von praktischen Wahrnehmungsurteilen zur Disposition zu stellen. Wir können 118
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uns auf genau dieses Beispiel berufen, um der Rede von irreduziblen praktisch-moralischen Erklärungen Sinn zu verleihen. Denn am Ende ist dies genau das Bild, das wir erwarten sollten, solange wir überhaupt von der Existenz praktischer Eigenschaften ausgehen: Praktische Eigenschaften für sich genommen sind kausal irrelevant, aber sie können kausal relevant werden, wenn Denker durch (größtenteils) empirische Erfahrung direkt oder indirekt Bekanntschaft mit ihnen machen, so dass sie hernach ihr praktisches Denken und sukzessive ihr Handeln erklären. Die Erklärungsleistung in Bezug auf Fragmente praktischer Deliberation ist ein völlig ausreichender Nachweis einer sinnvollen Erklärungspraxis gegenüber dem moralischen Epiphänomenalismus. Zum Beschluss dieses Abschnittes lohnt es sich, noch auf einige weitere mögliche Entgegnungen auf das Argument der kausalen Effektivität einzugehen. Dies erlaubt etwas Licht auf das Verhältnis seiner epistemologischen und seiner ontologischen Pointe zu werfen. Es könnte nämlich so wirken, als könnten wir ultimativ diese Scheidung von Erkenntnistheorie und Metaphysik nicht aufrechterhalten, wo doch ein starkes unabhängiges ontologisches Argument gegen die Existenz praktischer Eigenschaften auch alle diesbezüglichen Urteilsberechtigungen unterminieren müsste. Dabei sollte noch einmal betont werden, dass bei Harman die ontologische Forderung nach der Elimination praktischer Entitäten aus der epistemologischen Überlegung abgeleitet ist, nicht umgekehrt. Nur weil durch die mutmaßliche kausale Ineffektivität praktischer Eigenschaften die (perzeptive) Begründung unserer praktischen Überzeugungen unterminiert wird, werden auch unsere diesbezüglichen ontologischen Festlegungen hinfällig. Angesichts dieser Argumentationslinie bin ich in der Replik recht großzügig verfahren, insofern ich sowohl die Problemstellung überhaupt als auch die Relevanz des Kausalkriteriums akzeptiert habe. Es wäre sicherlich ebenso aussichtsreich, das Kausalkriterium und jede erkenntnistheoretische oder ontologische Folgerung daraus von vornherein mit der Begründung abzulehnen, dass in einer Plausibilitätsabwägung unser Vertrauen in die Glaubwürdigkeit vieler praktischer Propositionen schwerer wiegt als irgendeine kausaltechnische Spekulation. Daneben könnte man sie auch deshalb ablehnen, weil eine Elimination des Evaluativen oder Normativen schon aus dem Grund nicht zu haben ist, weil der Diskurs, dessen explanatorische Exzellenz dabei voPraktische Anschauung
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rausgesetzt wird, also der Naturwissenschaftliche, selbst evaluativ und normativ aufgeladen ist (vgl. Dworkin 1996: 117 ff.; Shafer-Landau 2003: 110 ff.). Dies sind gute, aber recht allgemeine Repliken. Dagegen wollte ich hier zeigen, dass wir speziell im Wahrnehmungsfall die Forderung nach kausaler Effektivität voll akzeptieren können. Über das Prinzip der kausalen Vererbung und die Nicht-Anwendbarkeit von Audis reduktionistischem Argument können wir die Vorstellung voll bewahren, dass praktische Eigenschaften bei hinreichenden begrifflichen Fähigkeiten des Wahrnehmenden seine praktischen Anschauungsinhalte verursachen. Damit sind aber sowohl der Weg hin zur epistemologischen Unterminierung wie der Weg zur ontologischen Elimination im Stile Harmans versperrt. Soweit ich sehe, gibt es außerdem nur noch zwei rein ontologische Argumente, die auf Überlegungen zur Kausalität beruhen. Das eine ist der von Shafer-Landau im Anschluss an Jaegwon Kim genannte starke Kausaltest der ontologischen Glaubwürdigkeit (vgl. Shafer-Landau 2003: 110), das andere ist der Test der kosmologischen Rolle von Wright (vgl. 1992: Kap. 5). Nach dem ersten Test müssten wir für superveniente Eigenschaften nicht nur ›ererbte‹, sondern autonome kausale Kraft nachweisen, um ihrer Elimination zu entgehen. Nach dem zweiten Test würde sich die Plausibilität ontologischer Festlegungen danach bemessen, in welchem Umfang diese für bereichsübergreifende Erklärungen relevant sind, in welchem Umfang praktische Eigenschaften beispielsweise auch physikalische Ereignisse erklären. Gleich welche Attraktivität beide Argumente aber prima facie besitzen mögen, haben wir auf dieser Ebene nun allen Grund sie abzulehnen. Beide Testverfahren sind zu schwach, um in Harmans Szenario einen epistemologischen Einwand darzustellen. Denn hier genügt die kausale Effektivität praktischer Eigenschaften schlechthin. Das Postulat nicht-ererbter Kräfte ist für eine Rekonstruktion perzeptiver Begründung praktischer Urteile nicht erforderlich. Ebenso genügt es, dass praktische Eigenschaften zunächst allein basale Wahrnehmungsurteile über sie erklären, da dieses Moment mittelbar auch einen Einfluss auf das praktische Denken und das rationale Handeln hat. Damit stehen wir an einem Punkt, an dem wir offenkundig über begründete praktische Überzeugungen verfügen können, Überzeugungen, aus denen ontologische Verpflichtungen auf praktische Eigenschaften folgen und denen nicht mehr gegenübersteht als die Beschwörung von Erklärungsleistungen, die dieselbe kosmische Tiefe und Ursprünglichkeit 120
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besitzen wie die naturwissenschaftlichen. Letzteres entpuppt sich als die bloße Wiederholung eines Gemeinplatzes zur naturwissenschaftlichen Ontologie, stellt aber mitnichten ein Argument gegen Erklärungen da, deren Rahmen auf Systeme beschränkt ist, die wie ethische oder soziale Systeme deutlich geringere kosmische Verbreitung finden.
vi. Praktische perzeptive Berechtigung und Audis moralischer Apriorismus Obwohl wir mit der Kritik bereits recht weit fortgeschritten sind, lohnt es sich, noch einmal die Aufmerksamkeit auf Harmans Behauptung zu lenken, wir könnten den praktischen Inhalt sinnlicher Anschauungen im Gegensatz zur Naturwissenschaft allein durch Rekurs auf eine ›moralische Sensibilität‹ erklären. Es hatte sich ergeben, dass wir zwar ob der Theorieabhängigkeit jeder praktischen Anschauung lokal in jedem Einzelfall eine solche praktische Sensibilität schon voraussetzen müssen, wir jedoch global diese Sensibilität ebenso wie die einer ›physikalischen Sensibilität‹ als einen Prozess der Bildung von Denkern erklären können, indem diese entweder direkt oder indirekt durch kulturelle Überlieferung Evidenzen über das Gute, Richtige und Gesollte erwerben. Ich hatte ausgeführt, dass Harmans Versuch, dabei eine Disanalogie zu konstruieren, misslungen ist. Es zeigt sich aber, dass die bisherige Argumentation noch eine Lücke hat. Denn wir könnten zugestehen, dass wir zwar lokal sowohl physikalische wie moralische Sensibilität schon voraussetzen müssen, wir aber, so die weit stärkere Präsupposition, im moralischen Fall diese Sensibilität quasi immer schon voraussetzen müssen. Landläufig gibt es zwei Möglichkeiten, wie wir ein solches ›immer schon‹ lesen können, nämlich entweder als Nativismus (Konativismus) oder als Apriorismus moralischer Überzeugungen. Die erste Option, nach der das praktische Denken durch bestimmte naturgegebene konative ›Einstellungen‹ geprägt ist, hatte ich oben bereits im Rahmen der Ablehnung einer evolutionstheoretischen Erklärung komplexer begrifflicher Inhalte verworfen, werde aber im nächsten Abschnitt noch einmal auf sie zurückkommen. Widmen wir uns daher zunächst der zweiten Option. Nehmen wir einen moralischen Apriorismus an, dann sind wenigstens einige der ›moralischen Prinzipien‹, von denen bei Harman Praktische Anschauung
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als Konstitutiva einer moralischen Sensibilität die Rede ist, praktische Überzeugungen, die a priori und damit ipso facto nicht-empirisch gewusst werden können, und zwar potentiell im Gegensatz zu allen physikalischen Prinzipien. Auf welche Weise ist dies aber für das gegenwärtige Problem einer perzeptiven Berechtigung für praktische Anschauungsinhalte relevant? Robert Audi merkt hierzu im Anschluss an seine Ausführungen zum explanatorischen Reduktionismus an, dass die Supervenienzrelation zwischen moralischen und niederstufigen Eigenschaften offenbar analytisch qua begrifflicher Wahrheit gilt, nicht nomologisch, d. h. qua einer naturgesetzlichen Konstitutionsbeziehung wie beispielsweise bei der Supervenienzrelation zwischen biologischen und physikalischen Eigenschaften. Da dies so sei, könne man im praktischen Fall nicht von einer kausalen Relation sprechen und deshalb auch nicht von einer kausalen Vererbung von Kräften niederstufiger an praktische Eigenschaften. Audi bezeichnet deshalb die Berufung auf praktische (moralische) Eigenschaften nicht als explanatorisch, sondern als bloß klassifikatorisch (vgl. Audi 1997: 144 ff.). Akzeptieren wir die Analytizitätsthese, scheint es erneut um die Behauptung gleicher perzeptiver Berechtigung im praktischen Fall schlecht zu stehen. Es lohnt sich, dieses Problem zunächst richtig einzuordnen. Zunächst einmal können wir sagen, dass, sofern an dieser Stelle eine Schwierigkeit begründet liegt, diese sich dann aus einer komparativen Erkenntnistheorie der intellektuellen Anschauung bzw. der apriorischen Einsicht ergeben muss. Ich hatte zwar oben als Prämisse gesetzt, dass sich keine solchen Differenzen zwischen Praxis und Naturwissenschaft ergeben werden, aber dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass letztendlich unsere Ansichten zu apriorischen Formen der Begründung in unsere Wahrnehmungstheorie ›von außen‹ intervenieren. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings ebenfalls erneut zu betonen, dass alle Theoretiker, die bislang eine Form der komparativen Skepsis vertreten haben, meines Wissens allesamt Empiristen sind, weshalb ihnen dieser Zug von vornherein nicht zur Verfügung steht. Dies bedeutet aber nicht, dass damit auf Gedanken zum Apriori gegründete Differenztheorien nicht letztlich doch ein Problem für den allgemeinen erkenntnistheoretischen Egalitarismus werden könnten. Da es nun an dieser Stelle völlig aussichtslos ist, eine angemessene Behandlung der apriorischen Begründung zu liefern, muss ich mich leider mit einigen kurzen Anmerkungen begnügen. Wie sich gleich zeigen wird, sind diese aber hinreichend, um zu erweisen, dass an dieser Stelle 122
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keine Gefahr für die egalitaristische These zur sinnlichen Anschauung droht. Die erste Anmerkung betrifft zwei Unklarheiten bei Audis Gegenüberstellung von begrifflichen und nomologischen Supervenienzrelationen. Erstens, wenn wir überhaupt davon ausgehen, dass es apriorische Wahrheiten gibt, ist es prima facie auch möglich, dass es naturwissenschaftliche Wahrheiten a priori gibt. Beispielsweise könnte man das Urteil ›Jeder komplexe materielle Gegenstand ist aus einfacheren Teilen zusammengesetzt‹ für ein Urteil a priori halten. Da nun beispielsweise biologische Entitäten offenbar solch komplexe Gegenstände sind, bedeutete dies, dass auch sie und die für sie konstitutiven physikalischen Eigenschaften partiell ›im Lichte‹ apriorischer Prinzipien gesehen werden, selbst wenn die genaue Beschaffenheit dieser Konstitutionsbeziehung natürlich kontingent ist. Daher ist gar nicht klar, dass sich begriffliche und nomologische Konstitutionsbeziehungen wirklich ausschließen müssen. Dieses Fragezeichen lässt sich durch einen zweiten Punkt vergrößern, der Audis Version des Apriorismus betrifft. Denn dieser legt mit seinen Ausführungen nahe, dass die anvisierten moralischen Prinzipien gewissermaßen ›im Kopf‹ sind und deshalb eben nur klassifikatorisch, nicht explanatorisch verwendet werden können. Dabei ist aber eine alles andere als sakrosankte Gegenüberstellung von Realität und Begriff im Spiel. Die Alternative wäre, dass auch moralische Prinzipien sich durch eine ontologische Unabhängigkeit von den doxastischen Zuständen von Individuen auszeichnen, insofern sie wahr bleiben, selbst wenn niemand sie glaubt. In diesem Zuge könnte man aber meinen, dass auch diese moralischen Prinzipien Tatsachen sind, die gewissermaßen das Grundgefüge jeder möglichen Welt und damit auch unserer Realität betreffen, und dass auch die Weise, wie Denker diese Tatsachen begreifen, irgendwie erklärt werden müsse. Daran schließt sich der Gedanke, dass auch hier eine Form der Kausalität beteiligt sein könnte, die ›bewirkt‹, dass Denker apriorische Wahrheiten einsehen. 35 Ist dies so, dann wäre die Gegenüberstellung von nomologischen und begrifflichen Beziehungen auch in dieser Hinsicht fragwürdig. Die letzten beiden Punkte sind etwas essayistisch, sollten aber als denkbare Einwände kurz erwähnt werden, selbst wenn ihr Erfolg nicht Diesen Punkt erwägt Bonjour bei seiner Verteidigung apriorischer Einsicht (vgl. Bonjour 1998: 156 ff.).
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besonders relevant ist. Denn entscheidend ist, dass wie auch immer wir uns zu Audis aprioristischem Argument verhalten, dies auf die Gültigkeit der komparativen These gleicher perzeptiver Berechtigung für praktische Anschauungsgehalte keinen Einfluss haben wird. Um dies zu sehen, müssen wir uns noch einmal die Idee der ›kausalen Sensibilität‹ gegenüber Aspekten der Situation in Erinnerung rufen, die oben für die Rekonstruktion der perzeptiven Berechtigung basaler Inhalte verwendet worden ist. Harman suggeriert in seinen Texten, dass eine Rekonstruktion einer entsprechenden epistemischen Norm nur über eine richtige Kausalverbindung geschehen kann. Das ist aber falsch. Denn es reicht zu zeigen, dass ein Denker wahrscheinlich nur dann einen Anschauungsgehalt, als ob p, aufweisen wird, wenn p. Der Grund für diesen Zusammenhang muss aber nicht zwingend in einer geeigneten kausalen Verbindung zwischen Anschauung und Situation liegen. Genau eine solche Rekonstruktion der Rationalität praktischer Wahrnehmungsurteile wäre aber der Rekurs auf apriorische moralische Prinzipien. Demnach wäre nur die Erklärung, warum Individuen praktische Anschauungsinhalte verzeichnen, eine andere als bei ›normalen‹, nicht-praktischen Inhalten. Letztere würden kausal rekonstruiert, während die Erklärung der praktischen Inhalte einen Rekurs auf Propositionen a priori erfordert. Dies kann so vorgestellt werden, dass die begrifflichen Fähigkeiten eines Denkers so sind, dass bei Gelegenheit die für apriorische Prinzipien konstitutiven Begriffe eine Sinneswahrnehmung so mitstrukturieren, dass eine begriffliche Wahrheit in ihr repräsentiert ist. Da aber auch diese Prinzipien wahrscheinlich wahr sind, wird auch ihre praktische Anschauung wahrscheinlich repräsentational korrekt sein. Dies bedeutete, dass es gemäß meiner zweiten egalitaristischen These (T2) immer noch korrekt wäre zu sagen, dass wenn Denker auf der Grundlage ihrer naturwissenschaftlichen Anschauungsgehalte zu einem Urteil berechtigt sein können, sie ebenso berechtigt sind auf der Grundlage ihrer praktischen Anschauungsgehalte entsprechende Urteile zu fällen. Die Unterschiede zwischen Praxis und Naturwissenschaft bestünden nicht im Punkt der Gültigkeit einer epistemischen Norm der perzeptiven Berechtigung, sondern lediglich in der Weise, wie diese Berechtigung jeweils erklärt werden muss. Zur Illustration kann der Vergleich mit der mathematischen Sinneswahrnehmung herangezogen werden. Ein hinreichend geschulter 124
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Mathematiker könnte geometrische Figuren vor sich auf ein Blatt Papier notieren und auf dieser Grundlage perzeptiv zu dem Urteil gelangen, dass ein bestimmter mathematischer Satz wahr ist. Man darf sich hierbei nicht von einer geahnten Spannung zwischen dem Umstand täuschen lassen, dass jener Denker in dem Beispiel ein Urteil auf der Grundlage seiner aktuellen Sinneswahrnehmung fällt, und dem Umstand, dass dieses Urteil eine apriorische Wahrheit darstellt. Für den Status apriorischer Gültigkeit genügt es nämlich, dass es eine Weise gibt, wie die Begründung des Urteils unabhängig von empirischer Erfahrung rekonstruiert werden kann (vgl. Peacocke 2004: 164). Es ist nicht erforderlich, dass die Begründung in jedem Fall so rekonstruiert wird, und wäre auch nicht sonderlich einleuchtend. Ein schönes Beispiel dazu ist eine Weise, wie die Gültigkeit der Summenformel n/2 (n + 1) für alle natürlichen Zahlen von 1 bis n anschaulich gemacht werden kann. Wenn man zwei kongruente, rechtwinklige Dreiecke, deren längste Seite jeweils nach Einheitsabständen abgestuft ist, so aufeinanderlegt, dass sich ein Rechteck mit den Seitenlängen n und n + 1 ergibt, erhellt daraus, dass jedes Dreieck genau die Hälfte seiner Fläche umfassen muss. Dass dies so ist, kann wörtlich gesehen werden, ändert aber natürlich nichts daran, dass dieses Urteil auch streng deduktiv aus nicht-empirischen Prämissen hergeleitet werden kann. Es ist diese letztere Begründungsweise, die seinen apriorischen Status verbürgt. Wenn damit ein moralischer Apriorismus auch kein Problem für meine Hauptthese darstellt, ergibt sich doch eine Schwierigkeit der folgenden Art in einem etwas weiter gefassten methodologischen Vergleich der beiden Diskurse: Sei p ein moralisches Prinzip a priori und q eine Ableitung aus diesem Prinzip unter Hinzunahme weiterer empirischer Prämissen r1, …, rn. Dann ist es in der Tat unmöglich, dass entsprechende vorstellbare Anschauungsgehalte jemals einen Test des Prinzips p markieren. Denn gilt dieses Prinzip a priori, dann gilt es in jeder möglichen Welt oder in der aktuellen Welt, wie auch immer die aktuelle Welt beschaffen ist. Das heißt, eine Anschauung, als ob p oder als ob q, wäre keine Bestätigung von p bzw. wäre nur eine Bestätigung der empirischen Prämissen r1–rn und eine Anschauung, als ob ~p oder als ob ~q, wäre niemals ein echter Gegengrund gegen p bzw. wahlweise ein echter Gegengrund gegen eine der empirischen Prämissen r1–rn oder ein Beleg für die repräsentationale Inkorrektheit des Anschauungsinhaltes. Bei Annahme von praktischen Prinzipien a priori hätte Harman, dessen Beobachtungsbegriff ebenfalls die Konnotation der Praktische Anschauung
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empirischen Testbarkeit von Überzeugungen hat, somit in dem Punkt recht, dass ein solcher empirischer Test jener Prinzipien ipso facto ausgeschlossen ist. Mit Hinblick auf das nächste Kapitel ist es aber von Bedeutung, an dieser Stelle nicht über das Ziel hinauszuschießen. Hier scheint mir wiederum Robert Audi die aprioristische Note der Moral etwas zu übertreiben. Ich würde ihm zwar darin recht geben, ohne hier dafür zu argumentieren, dass es hochplausibel ist, dass wenigstens einige moralische Wahrheiten a priori eingesehen werden können, glaube aber nicht, dass diese Begründungsweise in dem Umfang möglich ist, wie Audi es darstellt. Unter anderem suggeriert der Autor, dass ›Durch die Regierung angeleitete Polizeibrutalität ist ungerecht‹ ein Urteil a priori ist, weil es zu unserem Begriff von Ungerechtigkeit gehöre, dass Dinge wie übertriebene Gewaltanwendung der Ordnungshüter beteiligt sind (vgl. Audi 1997: 144 ff.). Aber dies würde bedeuten, dass wir quasi unabhängig von jeder Erfahrung wissen können, dass etwas wie eine rechtsstaatliche Demokratie die vollkommen gerechte Regierungsform ist, während wir tatsächlich eine Fülle von empirischer Erfahrung benötigen, um zu wissen, was überhaupt eine ›Regierung‹, eine ›Polizei‹, eine ›Gesellschaft‹ ist. Sicher gibt es überwältigende Gründe dafür, jene Sätze für wahr zu halten, aber dies sind überwiegend empirische Gründe, keine apriorischen. Dabei mag es Grenzfälle geben. Ist zum Beispiel das Tötungsverbot ein Urteil, dass a priori gewusst werden kann, weil es mehr oder weniger aus unserem Begriff von Menschenwürde folgt? Wie auch immer wir jedoch in solchen Einzelfällen entscheiden, wird es stets darauf hinauslaufen, dass die meisten praktischen Überzeugungen empirische Überzeugungen sind. Es bedarf eines Minimums an praktischer Erfahrung, um Überzeugungen über die Grundlagen des Wohlergehens von Personen und das Wesen einer guten gesellschaftlichen Ordnung rational auszubilden. Ist dies aber der Fall, dann sind solche Überzeugungen auch empirisch fallibel. Sie mögen zentrale empirische Moralurteile darstellen, d. h. solche, die wir prima facie zuungunsten anderer Hintergrundannahmen bei widerspenstiger Erfahrung nicht verwerfen würden, sind aber dennoch prinzipiell testbar! Damit lassen sich die obigen Punkte zur Rekonstruktion der perzeptiven Berechtigung im praktischen Fall wie folgt zusammenfassen: (I) Sofern ein praktischer Anschauungsinhalt, als ob p, rein empirischer Natur ist, dürfen wir weiterhin von dem Prinzip der kausalen Ver126
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erbung ausgehen und deshalb die Berechtigung nach dem kausal-explanatorischen Modell Harmans begründen, und (II), sofern der praktische Anschauungsinhalt ganz oder partiell apriorischer Natur ist, können wir die Berechtigung ganz oder partiell durch Rekurs auf apriorisch gewusste moralische Prinzipien erklären.
vii. Gibbard über artifizielle Repräsentation, Konation und die Konstruktion der sozialen Realität Zum Beschluss dieser komparativen Erörterung von perzeptivem Inhalt und perzeptiver Berechtigung möchte ich noch einmal auf die Position von Allan Gibbard eingehen. Gibbard kann als der gegenwärtig prominenteste Vertreter eines komparativ-skeptischen Inegalitarismus gelten. Er selbst bezeichnet seine in ›Wise Choices, Apt Feelings‹ entwickelte Position als einen Normexpressivismus, also eine semantische These, hebt daneben aber auch primär auf die non-repräsentationale, non-faktische und non-kognitive (konative) Natur des praktischen Denkens ab. Interessanterweise ist es aber erst in seinem Kapitel über ›Natürliche Repräsentation‹, wo er anhand einer Überlegung zur Sinneswahrnehmung sowohl eine Begründung als auch überhaupt erst eine Artikulation des kontrastiven Sinns seiner inegalitaristischen Auffassung in Angriff nimmt. Erst hier findet sich die programmatische Frage: »What are we denying if we claim that normative judgments are not strictly factual?« (Gibbard 1990: 105)
Da ich selbst mit der Annahme von Faktizität, Repräsentationalität, Deskriptivität und Kognitivität des praktischen Denkens in dieser Abhandlung diametral entgegengesetzte Prämissen adoptiert habe, möchte ich im Folgenden exemplarisch die Schwächen von Gibbards Argumentation zur Sinneserfahrung herausstellen. Das Ziel ist erneut der Nachweis, dass der Autor keine unabhängigen wahrnehmungstheoretischen Argumente für eine inegalitaristische Position liefert. Gibbards Erörterung ist nicht leicht nachzuvollziehen. Dies demonstriert schon der Umstand, dass der Autor selbst im Zuge des gesamten Kapitels wiederholt betont, dass seine Begründung jeweils nicht hinreichend ist, um eine epistemologische Differenz zwischen praktischem und naturwissenschaftlichem Denken zu etablieren (vgl. Praktische Anschauung
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ebd. 108; 110; 112; 116), was ihn aber nicht daran hindert, am Ende doch zu einer inegalitaristischen Konklusion zu kommen. Um nachzuvollziehen, warum der Autor hier dennoch einen entscheidenden Punkt vermutet, muss ich kurz auf die Details seiner Ausführungen eingehen. Gibbard setzt bei seinen Begriffen der ›natürlichen Repräsentation‹ und der ›artifiziellen Repräsentation‹ an. Erstere unterscheidet er später von ›natürlichen Konationen‹. Über natürliche Repräsentation schreibt er: »A system of natural representation for a feature S of the world is a system one of whose natural functions is to adjust some feature R of the world to correspond to S – again by a scheme of correspondence that is somewhat arbitrary. R can then be called a natural representation of subject matter S« (ebd. 109)
Mit ›Korrespondenz‹ sei dabei gemeint: »›Correspondence‹ here is a weak notion: A corresponds to B if A tends to vary systematically in response to B.« (ebd.)
Die artifizielle Repräsentation unterscheidet sich von der natürlichen dadurch, dass sie nicht rein evolutionär, sondern durch intentionales Handeln (mental oder nicht-mental) von Individuen hervorgebracht wurde. Ich hatte nun oben bereits angemerkt, dass der Begriff von natürlicher Repräsentation belanglos sein wird, weil er entweder zu weit und inkonsistent oder zu eng und damit für die Diskriminierung praktischer Urteile nutzlos ist (s. 2.3.ii). Daran lässt sich erkennen, dass der entscheidende Begriff bei näherer Betrachtung der der artifiziellen Repräsentation ist. Als solche fasst Gibbard nämlich im Gegensatz zu praktischen die ›theoretischen‹ Urteile der Physik (vgl. ebd. 120). Die eigentliche Frage lautet deshalb, ob es legitim ist, praktischen Urteilen im Gegensatz zu physikalischen den Status artifizieller Repräsentationen abzusprechen? Einen ersten Punkt zugunsten einer Bejahung dieser Frage scheint Gibbard hinter den Ausdrücken ›Korrespondenz‹ und ›systematische Kovariation‹ zu vermuten. Diese Ausdrücke sind jedoch sehr vage. Es findet sich keinerlei Erläuterung, was es bedeuten soll, dass eine Repräsentation mit dem Repräsentierten ›systematisch variiert‹. Fassen wir den Ausdruck intuitiv auf, dann bedeutet er im perzeptiven Sinne, dass ein Denker meistens einen Anschauungsgehalt, als ob p, verzeichnen 128
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wird, wenn p. Wie sich aber gezeigt hat, ist es problemlos vorstellbar, dass diese Bedingung im praktischen Fall üblicherweise erfüllt ist. Da der Ausdruck ›systematische Variation‹ aber grundsätzlich vage bleibt, bleibt auch der durch ihn erläuterte Begriff von ›Repräsentation‹ vage. An der zweiten Station führt Gibbard den Terminus der ›natürlichen Konation‹ ein und versichert, dass praktische Urteile als solche verstanden werden können, da ihre Funktion nicht die Repräsentation von Sachverhalten ist, sondern die Handlungskoordination zwischen Individuen zu leiten (vgl. ebd. 110). Wiederum, und auch dies gibt der Autor an derselben Stelle zu, ist zu sagen, dass die koordinierende Funktion von praktischen Urteilen ein Gemeinplatz ist. Praktische Urteile sagen, was individuell oder kollektiv zu tun ist. Daher sind sie trivialerweise sowohl handlungsleitend als auch handlungskoordinierend. Dies würde mittelbar auch für praktische Tatsachen gelten, deren Existenz Gibbard – natürlich – bestreitet. Da sich aber auf diesen Gemeinplatz keine erkenntnistheoretische Differenz begründen lässt, ist zu betonen, dass die Einführung von besonderen ›Konationen‹ an dieser Stelle systematisch völlig unmotiviert ist und die Differenz zu repräsentationalen Zuständen unklar bleibt. Interessant ist außerdem, dass Gibbard komplementär zu den zwei Arten von Repräsentation keine ›artifiziellen‹ Konationen einführt. Der dritte Schachzug im Text führt auf eine Unterscheidung von substantiellen Tatsachen und Beobachtertatsachen sowie die Absicht Gibbards zu prüfen, ob mutmaßliche ›praktische Tatsachen‹ wohl in eine der beiden Klassen fallen könnten. Zum Sinn dieser Unterscheidung finden wir dabei den folgenden Kommentar: »When subject and observer are the same or they are related, the distinction may seem hard to draw. The observer is part of the scene. The question, though, is always this: why does the judgment naturally represent what it does? Is it solely because of what the fact has to do with the subject, regardless of who is observing? –Or is it also because of who is observing? If the properties of the observer matter, is that at least partly because he is the observer? Suppose I judge something I have done, and the judgment naturally represents, say, my feeling repugnance at the deed. Why, then, my own repugnance? – That is the question. Is it because it is I who did the deed? Or is it because it is I who am making the judgment? In the first case my judgment naturally represents a substantive fact; in the second, an observer fact.« (ebd. 111)
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Bei lockerer Betrachtung sieht es so aus, als würde Gibbard hier zwischen Tatsachen, die die begrifflichen Fähigkeiten von Wahrnehmenden betreffen, und solchen unterscheiden, die nicht diese Fähigkeiten betreffen. Unter diesem Vorzeichen wirkt es jedoch erneut, als dürften wir eine Parität von praktischer und naturwissenschaftlicher Anschauung annehmen, da wir z. B. zugestehen können, dass es von dem Besitz des Begriffs ›grausam‹ abhängen wird, ob ein Wahrnehmender Handlungen als grausam wahrnehmen wird und dass die Tatsache, dass der Wahrnehmende über diesen praktischen Begriff verfügt, eine Beobachtertatsache darstellt, die Tatsache, dass X grausam ist, hingegen eine ›substantielle‹. Lesen wir es so, dann wäre es ebenfalls trivial, dass mutmaßliche praktische Tatsachen substantielle und keine Beobachtertatsachen darstellen und wir bräuchten nicht weiter zu überlegen. In diesem Lichte bekommt man jedoch ein Problem mit der direkt im Anschluss getroffenen sybillinischen Festlegung des Autors: »Do normative judgments naturally represent some special kind of substantive fact about the situation judged? It seems the answer must be no. On the speculative account I have sketched, normative judgments will depend not only on features of the situation judged, but on discussion in the observer’s own community and the consensus that emerges from that discussion.« (ebd. 112)
Denn abgesehen davon, dass es kaum relevant sein dürfte, ob normative Urteile Tatsachen natürlich repräsentieren, da sie in Gibbards Terminologie dann als ›artifiziell‹ zählen müssten (s. o.), gibt es ein Rätsel auf, wie Gibbard die Abhängigkeit normativer Urteile von dem ›Konsens normativer Diskussion‹ als Indiz dafür nehmen kann, dass diese non-faktisch zu interpretieren sind, und dafür, dass das Praktische nicht wahrnehmbar ist. Denn wiederum wird es auch im naturwissenschaftlichen Fall von der naturwissenschaftlichen Diskussion abhängen, was ein Denker wahrnehmen kann, nicht nur von den ›Eigenschaften der Situation‹ und Gleiches lässt sich bei Abkoppelung alltäglicher Urteile sagen – wenn etwa jemand etwas als einen Wal und nicht als einen Fisch wahrnimmt. Dies deutet darauf hin, dass die anvisierten Differenzen letztlich in Gibbards idiosynkratischen Zuschreibungen an eine ›normative Diskussion‹ begründet sind. Gibbard unternimmt noch zwei weitere Schritte, bevor er zu einem Fazit kommt. Der erste von diesen führt ihn zu einer kurzen Erörterung von dichten Werturteilen, wie in seinem Beispiel das Urteil 130
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Perzeptive Berechtigung
›Jim ist hochnäsig‹ (»Jim is getting uppity«, ebd. 113), dass von einem Sklavenhalter über einen Schwarzen geäußert wird. Bei Urteilen dieser Art gesteht der Autor zu, dass diese in der Tat repräsentational sind, aber, so sein Zusatz, diese Urteile würden nicht-praktische Tatsachen repräsentieren, nämlich in dem Beispiel die Tatsache ›Jim unterwirft sich nicht mehr unter Weiße‹, nicht aber eine gesonderte evaluative Tatsache. Ein ›Außenseiter‹, der über andere Wertvorstellungen verfügt, könnte dem letzteren Urteil zustimmen, das Werturteil wegen seiner divergenten normativen ›Einstellungen‹ jedoch ablehnen. Wiederum ergibt sich, dass dieses Beispiel recht prätentiös ist. Denn einerseits würden wir als Nicht-Sklavenhalter das Urteil wohl ablehnen und die Annahme, dass in diesem Fall keine solche evaluative Tatsache existiert, aber nicht deshalb, weil überhaupt keine praktischen Tatsachen existieren, sondern weil das Urteil einfach falsch ist und die Weise, wie der Sklavenhalter zu ihm gelangt, irrational. Auf der anderen Seite könnten wir uns als ›Außenseiter‹ durchaus vorstellen, dass es soziale Kontexte gibt, in denen andere Regeln der Tugend gelten, etwa Regeln der Keuschheit, um ein weniger kontroverses Beispiel zu wählen. In solchen Kontexten mag es immer noch so sein, dass wir als Außenseiter, nicht in der Lage sind, den Wert bestimmter Handlungsweisen zu erkennen, weil wir mit diesem Kontext nicht vertraut sind und der einschlägigen Urteilskompetenz ermangeln. Dies spricht aber nicht gegen die Existenz entsprechender praktischer Tatsachen. Diese Beschreibung des Sachverhalts ist sicher ihrerseits voraussetzungsreich. Dies gilt aber auch für Gibbards Darstellung, der darauf drängen muss, dass die tiefsinnige Interpretation solcher Beispiele auf die Non-Faktizität des praktischen Denkens führt, was er bei diesen Beispielen aber nicht zeigen kann, sondern voraussetzen muss. Noch etwas anderes ist merkwürdig an der ›Suche nach den praktischen Tatsachen‹, als die der Autor die Argumentation mitunter bezeichnet. Es fällt nämlich auf, dass Gibbards Verständnis von ›substantiellen Tatsachen‹ im Laufe der Erörterung eine gewisse Wandlung erfährt und letztlich mit der Klasse nicht-praktischer Tatsachen zusammenfällt. Dass die Erforschung des Wesens einer möglichen praktischen Realität unter diesem Vorzeichen aber nicht von Erfolg gekrönt sein kann, ist von vornherein unvermeidbar. Denn wenn es etwa eine normative Tatsache ›gibt‹, die dem Urteil ›Karl sollte F tun‹ entspricht, dann wird dies die Tatsache sein, dass Karl F tun sollte, so wie dem Praktische Anschauung
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Sinneswahrnehmung
Urteil ›Die Tatze ist auf der Latte‹ die Tatsache, dass die Tatze auf der Latte ist, ›korrespondiert‹. In diesem Zuge verwundert es nicht, dass Gibbard im fünften und letzten Schritt die Identifikation von praktischen Tatsachen mit Tatsachen darüber, was ›adaptiv passend‹ (adaptively fitting) ist, ablehnt (vgl. ebd. 117). Denn angenommen, wir verstehen dies quasi-evolutionstheoretisch, dann wäre dies eine komplexe Tatsache darüber, was ultimativ dem Überleben eines Individuums dient, und diese Tatsache ist natürlich nicht identisch mit Tatsachen darüber, was getan werden sollte. Dass der von Gibbard verwendete Identitätstest der offenen Frage à la Moore genau dieses Ergebnis erbringt, ist dann keine Überraschung mehr (vgl. ebd. 118). Man sollte somit klar herausstellen, dass angesichts der Inkonklusivität all der genannten Punkte die Ankündigung von Gibbard nicht im Ansatz eingelöst wird, ein Spezifikum von praktischen Urteilen anhand des Repräsentations- und Wahrnehmungsbegriffs herauszustellen. Zugleich beschleicht einen das Gefühl von Redundanz, wenn er am Ende völlig unabhängig von den vorherigen Begründungsschritten anhand eines nicht weiter erläuterten explanatorischen Arguments zu dem Ergebnis kommt, dass die ›theoretischen‹ Urteile der Physik als artifizielle Repräsentationen im Gegensatz zu praktischen Urteilen einen Rekurs auf Tatsachen erforderlich machen: »Even supposing there are normative facts, we can explain why we have the normative beliefs we do without citing any normative facts. To explain, in contrast, why atomic physicists have the beliefs they do, we have to talk about atoms […] If the speculative evolutionary story I have told is correct, then we have another explanation of these beliefs.« (ebd. 121)
Um diese Aussage zu verstehen, muss man wissen, dass die ›spekulative evolutionäre Geschichte‹ dabei auf die bereits erwähnte ›normativen Diskussion‹ als Konstitutivum praktischer Urteile verweist. Was aber versteht Gibbard unter normativer Diskussion? Dies verrät der Autor in seinem Kapitel über normative Psychologie: Die normative Diskussion ist ein ›Mechanismus‹ (ebd. 74), der durch ›gegenseitige Beeinflussung‹ (ebd. 73) von Individuen zu einer langfristigen Angleichung von Handlungsdispositionen, emotionalen Reaktionen und normativen Einstellungen führt. Diesem sozialen Mechanismus stehe seitens von Individuen ein ›psychischer Mechanismus‹ gegenüber aus
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Perzeptive Berechtigung
›Überredbarkeit‹ (persuadability), ›Beständigkeit‹ (firmness) und ›konsens-produzierenden Dispositionen‹ (ebd. 77). Man muss sich die Implikationen dieser Schilderung vollständig vor Augen führen: Praktisches Denken, individuell oder diskursiv, ist demnach wesentlich ein arationaler Prozess. Es gibt demnach keine Begründung gegenüber sich oder anderen, sondern nur ›Einflüsse‹. Es wird nichts erkannt und daher gibt es natürlich komplementär auch keine erkennbaren Tatsachen in diesem Prozess. Vielmehr stehen am Anfang und Ende jener Wechselwirkungen nur die konativen Einstellungen der beteiligten Individuen und da all dies der Fall ist, lassen sich praktische Urteile selbstverständlich semantisch nur expressivistisch deuten. Vor allem aber ist der praktische Diskurs ebenso kein empirischer Diskurs. Von einem Einfluss empirischer Erfahrung ist bei Gibbard nicht die Rede. Die brennende Frage dabei lautet aber: Wenn dies das betrübliche Schicksal des praktischen Denkens ist, was verhindert eine Übertragung des gleichen Schemas auf den naturwissenschaftlichen Fall? Und es stellt sich heraus, dass Gibbard hier eine Antwort leider schuldig bleibt! Bei all seinen Begründungsschritten erhalten wir eine diskriminatorische Konklusion nur dann, wenn wir die jeweilige Differenz bereits voraussetzen. Daher ist einerseits nicht zu sehen, wie der Autor hier einem generellen Skeptizismus entkommen will, der sich notgedrungen bei einer Übertragung dieses arationalistischen Modells ergibt. Die Argumentation ist letztlich auf fulminante Weise zirkulär: Weil Gibbard zuvor ein arationalistisches Modell der Praxis entwickelt, kann er dies natürlich bei der Behandlung der Repräsentationalität voraussetzen und damit alle gewünschten Unterschiede im Vergleich mit den Naturwissenschaften diagnostizieren. Wie kann Gibbard also glauben, dass irgendwo ein unabhängiges Argument vorläge? Ich kann mir nur noch einen weiteren Hintergedanken vorstellen, der bei Gibbards Gegenüberstellung implizit sein könnte. Dieser führt mich noch einmal zurück auf Gibbards Idee von ›Korrespondenz‹. Bei dem Nachdenken über mögliche empirische Grundlagen des praktischen Denkens könnte einem folgendes Bild vorschweben: Angenommen wir stellen uns eine Welt ohne Individuen und Gemeinschaften, eine Welt der reinen Natur und ihrer Gesetze vor, dann ergibt es Sinn, dass es eine eindeutige Antwort darauf gibt, wie diese Welt beschaffen ist und dass wir diese Tatsachen durch empirische Erfahrung erkennen könnten, wären wir ein Teil von ihr. AnPraktische Anschauung
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Sinneswahrnehmung
genommen nun, wir addieren rationale Individuen zu dieser Welt hinzu, dann scheint es so, als müssten diese, orientierten sie sich im praktischen Denken an ihrer empirischen Erfahrung, völlig orientierungslos sein. Denn, so könnte man fragen, wie sollten diese Denker irgendetwas Praktisches in der Welt vorfinden können, wo doch die soziale Realität, ihre Werte und Normen, erst erdacht und sukzessive durch das intentionale Handeln von jenen Denkern konstruiert werden muss? Wie sollte es also in dieser Welt von Roh-Individuen irgendetwas geben können, was ihren praktischen Überzeugungen ›korrespondiert‹ und das durch empirische Erfahrung zugänglich werden könnte? Eine berechtigte Frage. Aber man muss sich klar machen, dass das Paradoxale dabei auf einer falschen Sichtweise beruht. Denn tatsächlich ist uns eine soziale Realität selbst immer schon vorgegeben. Ihre ReKonstruktion bleibt zwar stets aufgegeben, aber dennoch muss sie auf der anderen Seite nicht mehr konstruiert werden, sondern ist bereits konstruiert. Damit ist sie ebenso wie die Bedürfnisse und Ziele, die individuelle und kooperative Tätigkeit von Personen, die sie mitkonstituieren, und schließlich die unbelebte Natur ein Vorkommnis in der Welt und ist aus der Perspektive von Denkern je weitgehend unerkannt oder besser: undurchschaut. Damit kann sie im Zuge der Erfahrung durch jeden Denker potentiell in all ihren guten, schlechten, verbotenen und gesollten Zügen, kurz: ihrer ganzen Ambivalenz empirisch zugänglich werden und so das praktische Denken anleiten. Dass wir aber diese Anleitung irgendwie anders verstehen sollten als im Falle der Naturerkenntnis, dafür hat sich bislang noch kein triftiger Grund ergeben. Es empfiehlt sich in diesem Zuge zum Abschluss dieser komparativen Betrachtung der perzeptiven Berechtigung noch einmal meine Beweislage offenzulegen. Ich habe in diesem Abschnitt behauptet, die Position Gibbards sei zirkulär und dies mit dem Endzweck, den Eindruck abzuwehren, bei ihm ergäbe sich ein unabhängiges Argument für eine Form des erkenntnistheoretischen Inegalitarismus anhand einer Überlegung zur Sinneswahrnehmung. Dies bedeutet hingegen noch nicht, dass sie falsch ist. Ebenso schließt der petitiöse Charakter seiner Erörterung nicht aus, dass meine eigene Darstellung der praktischen Anschauung ebenso petitiös ist. Denn in der Tat ist auch diese bislang zirkulär, da sich das Resultat praktischer Anschauungsgehalte und gleicher perzeptiver Berechtigung für diese nur deshalb einstellt, weil ich 134
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Exkurs I: Reliabilismus und Behaviorismus
von Anfang an anders als Gibbard die Deskriptivität, Kognitivität, Repräsentationalität und Faktizität praktischer Urteile (im Sinne der Naturwissenschaften) angenommen habe. Daraus erhellt, dass der perzeptive Egalitarismus seine volle Plausibilität erst im Rahmen eines allgemeinen erkenntnistheoretischen Egalitarismus erhält, zu dessen Verteidigung mindestens noch eine komparative Erörterung von Semantik, Psychologie, Metaphysik und nicht-wahrnehmungsbezogener Theorie der Begründung erforderlich wäre (s. Kap. 5). Auf der anderen Seite scheint selbst Gibbard mittlerweile nicht mehr davon überzeugt, dass sich in einem jener Bereiche nennenswerte Differenzen aufzeigen lassen, da er neuerdings bekundet, dass er nunmehr viele differenzlogische Formulierungen für das ›moralische Problem‹ für verfehlt hält und sogar die Rede von moralischen ›Intuitionen‹ zulässt (vgl. Gibbard 2002). Daneben lässt sich auf das methodologische Prinzip verweisen (siehe Kap. 1), die Einführung neuer erkenntnistheoretischer Kategorien nur anhand triftiger Gründe zu akzeptieren und ansonsten von einer Abwesenheit fundamentaler Differenzen auszugehen. Letzteres empfiehlt in Bezug auf diese Abhandlung die Akzeptanz der allgemeinen egalitaristischen Hypothese. Da sich nun aber unter diesem Vorzeichen bei der Betrachtung der Sinneswahrnehmung gerade keine solchen Differenzen ergeben, während offenkundig zentrale Inegalitarismen sich wesentlich darauf verlassen, dass es hier eine solche Differenz geben muss, bleibt es eine offene Frage, warum die epistemologische Sonderbehandlung des Praktischen notwendig ist. 36
2.4 Exkurs I: Reliabilismus und Behaviorismus Die gesamte bisherige Erörterung wurde von dem Grundgedanken getragen, dass wir bei der epistemologischen Betrachtung der Sinneswahrnehmung primär nach rationalen Transitionen zwischen den Wahrnehmungsinhalten und Wahrnehmungsurteilen von Denkern
In dem gerade zitierten Artikel Gibbards reformuliert dieser seinen Expressivismus und spitzt diesen nun auf den Begriff der Entscheidung zu. Ich bezweifle, dass sich in einer komparativen Erkenntnistheorie der Logik von praktischen und naturwissenschaftlichen Entscheidungen Differenzen auffinden lassen, kann dies aber hier nicht mehr ausführen.
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Praktische Anschauung
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Sinneswahrnehmung
fragen. Natürlich aber kennen wir auch Ansätze, die diese internalistische Fragestellung zugunsten einer externalistischen Perspektive aufgeben möchten. Bei der Exposition des komparativen Problems der praktischen Anschauung hatte ich oben die Demonstration versprochen, dass die Korrektheit meiner egalitaristischen Hauptthese auf relevante Weise von allen gängigen wahrnehmungstheoretischen Kontexten unabhängig ist. Ich möchte dieses Versprechen nun auch für jene Positionen einlösen. Da sich mit externalistischen Positionen jedoch eine deutliche Verschiebung der theoretischen Ausgangslage ergibt, wäre es falsch zu erwarten, dass ›auf relevante Weise unabhängig‹ dabei bedeuten könnte, dass der perzeptive Egalitarismus im Sinne von T1 und T2 in allen epistemologischen Kontexten wahr sein wird, da seine These nun sinnlos und/oder irrelevant ist. Die zwei Fragen, an denen wir uns im Folgenden orientieren müssen, sind vielmehr: I) Welche zum perzeptiven Egalitarismus analoge These ergibt sich jeweils in externalistischer Perspektive und II) ist diese analoge These wahr, d. h. gilt der perzeptive Egalitarismus hier in einem analogen Sinn?
i.
Zur Moralisierung von Brandoms Sozialperspektivismus
Die erste Position, für die sich diese Analogiefrage stellt, ist der Reliabilismus. Dieser plädiert bekanntlich dafür, in der tripartistischen Analyse des Wissens die Bedingung der Nichtzufälligkeit so auszubuchstabieren, dass Überzeugungen durch eine verlässliche Methode zustande gekommen sein müssen, damit ein Denker im Glauben an sie gerechtfertigt sein kann (vgl. Goldman 1979: 183; Goldman 1986: Kap. 5). Auch für den Reliabilismus lassen sich wiederum non-komparative und komparative Fragen erheben, nämlich i) ist der Reliabilismus die richtige Theorie perzeptionsanaloger, nicht-inferentieller Begründung oder sogar von Begründung allgemein? ii) Wenn der Reliabilismus korrekt wäre, erlaubte diese Theorie dann eine Diskriminierung von praktischer und naturwissenschaftlicher Begründung? Wie im Vorherigen werde ich mich auf die Beantwortung der zweiten Frage beschränken. Auch diese Bescheidung entbindet jedoch nicht von dem Erfordernis, zunächst non-komparativ eine plausible Variante des Reliabilismus auszuwählen. Dies wiederum erfordert einen kurzen kritischen Kommentar. Denn in der Tat ist der Reliabilismus in seiner ursprünglichen Fas136
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Exkurs I: Reliabilismus und Behaviorismus
sung bei Goldman entgegen meiner obigen Darstellung (s. 2.1.iii) nicht nur ein Versuch, das Rechtfertigungsproblem zu externalisieren. Er ist auch ein Versuch, es zu naturalisieren, indem er nicht mehr danach fragt, ob für ein Urteil die besten Gründe gesprochen haben oder ob es rational war, es zu fällen, sondern nur, ob es durch eine verlässliche Methode generiert wurde. Nun wirkt es so, als ließe sich diese Verlässlichkeit mehr oder weniger leicht empirisch ermitteln und in diesem Zuge feststellen, dass jemandes Berichte über die Anwesenheit von Scheunen üblicherweise verlässlich, in einer Region von Scheunenattrappen hingegen unverlässlich sind – um hier Goldmans Beispiel aufzugreifen. Worauf jedoch unter anderen Robert Brandom hingewiesen hat, ist, dass sich im Rahmen dieses einfachen Verlässlichkeitsexternalismus ein gravierendes Bezugsklassenproblem ergibt. In Bezug auf eine Region von Scheunenattrappen mögen jemandes Urteile unverlässlich sein, in Bezug auf die ganze Welt, die schließlich relativ wenige Attrappen enthält, sind sie aber verlässlich. Damit lässt sich ähnlich zu der fehlenden Differenzierung zwischen richtigem und unrichtigem Sprachgebrauch bei einer rein nicht-normativen Beschreibung von Gesprächen nicht mehr zwischen epistemischer Sitte und Unsitte unterscheiden, weil nun jeder Prozess der Urteilsbildung durch geschickte Beschreibung der ›Methode‹ als ein verlässlicher ausgegeben werden kann (vgl. Brandom 1994: 206 ff.). Brandom selbst schlägt eine pragmatische Lösung des Bezugsklassenproblems durch (Wieder-)Einbettung der Frage nach der Verlässlichkeit in eine soziale Begründungspraxis vor. Demnach hinge es grundsätzlich von den praxisimpliziten Normen ab, ob eine behauptende Festlegung eines Denkers von anderen Gesprächspartnern (›Kontoführern‹) als eine epistemisch berechtigte angesehen wird. Dies zieht nach sich, dass diese ihrerseits diskursive Festlegungen auf die betreffenden Inhalte eingehen werden und dies solange tun, wie sich keine triftigen Gegengründe gegen diese Praxis ergeben. Hinsichtlich des Problems der Sinneswahrnehmung liefe dies auf eine Ersetzung der bisherigen Fragestellung durch die Frage hinaus, ob in bestimmten Kontexten ein Individuum als ›verlässlich diskriminierender Beobachter‹ (reliably discriminating reporter) zählt. In diesem Fall können seine nicht-inferentiellen Festlegungen als Gesprächsgrundlage akzeptiert werden (vgl. ebd. 214). Da dieser pragmatisch-normativ gewendete Reliabilismus m. E. relativ plausibler ist, werde ich hier von dieser Variante ausgehen. Praktische Anschauung
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Damit ergeben sich offenbar zwei wesentliche Abänderungen für das komparative Problem praktischer Anschauung. Erstens fragen wir nun nicht mehr nach einer internen epistemischen Relation zwischen perzeptiven und doxastischen Zuständen eines Denkers, sondern nach der externen Relation zwischen seinen nicht-inferentiellen Urteilen und der intersubjektiven, epistemischen Anerkennung dieser Urteile im Einklang mit diesbezüglichen sozialen Gesprächsnormen. Zweitens bekommt damit offenkundig der Aspekt der Öffentlichkeit eine relativ höhere Gewichtung. Auch in internalistischer Perspektive ist zwar die öffentliche Rationalität Teil des Bildes. Einerseits kann die An- oder Abwesenheit von Rationalität bei sich sozialisierenden Denkern zu Bildung oder Missbildung führen und stellt damit eine Einflussgröße auf die perzeptive Berechtigung bei komplexen begrifflichen Anschauungsgehalten dar. Andererseits repräsentiert der öffentliche Widerspruch anderer Individuen eine potentielle Quelle von Gegengründen, welche eine lokale Urteilsberechtigung unterminieren können. Dennoch ist es unter diesem Blickwinkel für eine perzeptionsanaloge Urteilsberechtigung nicht erforderlich, dass andere Denker gleichartige Anschauungsgehalte aufweisen noch dass sie einem entsprechenden Urteil zustimmen. Unabdingbar ist im Rahmen von Brandoms Sozialperspektivismus hingegen, dass die Urteilsberechtigung von Anderen zuerkannt wird. Als Paradigma kann hier der Fährtenleser herangezogen werden, der nach Meinung seiner Begleiter prädestiniert ist, durch Betrachtung der Umgebung Spuren zu finden, die diese niemals entdecken würden. Dementsprechend wäre nun in analoger Form zu überlegen, ob die faktisch zu verzeichnende intersubjektive Akzeptanz nicht-inferentieller Beobachtungsberichte im Vergleich von Praxis und Naturwissenschaft zu einer inegalitaristischen Sicht führt und/oder ob wir komparativ triftige Gegengründe gegen eine solche Verfahrensweise im praktischen Bereich benennen können? Das heißt, wir müssen in etwa die Gültigkeit der folgenden reliabilistischen Gleichheitsthese prüfen: (RG) Es gibt Kontexte, in denen Sprecher sich ein- oder wechselseitig die Berechtigung zu nicht-inferentiellen Beobachtungsberichten mit naturwissenschaftlichem Inhalt zuerkennen bzw. diese Berichte als verlässlich einstufen, und es gibt Kontexte, in denen eine solche Berechtigung für nicht-inferentielle praktische Urteile zugesprochen wird. In keinem der beiden Fälle ergeben sich triftige Gegengründe gegen diese Praxis. 138
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Da wir dabei auf die faktisch stattfindende Begründungspraxis rekurrieren, ist dies eine größtenteils empirische Frage und eine Antwort daher nicht ganz frei von Spekulation. Aber eine recht plausible, wenn auch vorläufige Antwort lässt sich meiner Ansicht nach dennoch finden. Wiederum nehme ich an, dass eine positive Antwort im naturwissenschaftlichen, respektive alltäglichen Fall als gegeben vorausgesetzt werden kann. Etwa Brandom hält Urteile über ›μ-Mesonen‹ in den passenden Kontexten ebenso für nicht-inferentiell akzeptabel wie Urteile über Katzen (vgl. ebd. 224). Im Bereich praktischer Urteile hingegen lassen sich ad hoc leicht mindestens vier Bereiche/Kontexte angeben, in denen anderen Denkern eine perzeptionsanaloge Urteilsberechtigung zugesprochen wird. Erstens ist dies der Fall, wenn sich der soziale Kontext von Individuen entlang von Variablen wie Kultur, Milieu, Bildungsgrad, Alter, Geschlecht usw. ändert, so dass diese als Fremde sich praktisch an den Urteilen von Denkern orientieren müssen, die mit dieser Umgebung vertraut sind. Zweitens wird es sehr wahrscheinlich mindestens einige Exemplare des Tugendhaften geben, d. h. Individuen, deren ausgezeichnete Kenntnis des Menschen, der Grundlage von Gemeinschaft, sozialer Interaktionen etc. diese anerkanntermaßen zu verlässlichen, nicht-inferentiellen, praktischen Urteilen befähigt. Drittens ließe sich die Kirche in einem hinreichend weiten institutionellen Sinn als ein Ort nennen, an welchem dem Personal von Mitgliedern derartige Urteilsberechtigungen zugesprochen werden. Viertens dürften sich Individuen wechselseitig mindestens die Kompetenz zusprechen, jeweils verlässlich nicht-inferentiell Werturteile hinsichtlich ihrer basalen Bedürfnisse zu fällen. Ließen sich im praktischen Fall aber nicht triftige Gegengründe formulieren, um jene Pragmatik zu untergraben? Es fällt mir, ehrlich gesagt, schwer, dafür einen Anlass zu sehen. Man könnte zum einen von vornherein darauf bestehen, dass anders als im naturwissenschaftlichen Denken seitens jedes Denkers die epistemische Pflicht besteht, selbst Gründe für ein praktisches Urteil aufzustellen, bevor er eine solche Festlegung bei sich oder anderen anerkennt. Damit dies aber nicht eine völlig unmotivierte Forderung bleibt, sollte diese wohl mit der These verknüpft sein, dass dies zu einer relativen Verbesserung unserer praktischen Urteilskraft führt. Es ist aber nicht zu erkennen, wie dies bei der völligen Aufgabe jener Praktiken der Fall sein könnte, drückt das Zuerkennen nicht-inferentieller Urteilsberechtigung doch wie in allen anderen Diskursbereichen eine Ungleichverteilung von Praktische Anschauung
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praktischer Kompetenz aus. Auf der anderen Seite liefe es auf eine heillose Überforderung von Denkern und eine Überintellektualisierung von praktischen Diskursen hinaus, würde man fordern, dass jedem jederzeit die Züge der praktischen Realität völlig transparent sein müssen. Dies wäre in Bezug auf alle realen Gespräche darüber, was zu tun ist, gewissermaßen eine sehr unpraktische Sicht auf die Dinge. Daneben könnte man meinen, dass wir unter Umständen im Zuge der Forschung empirisch feststellen werden, dass alle oder wenigstens die meisten der genannten Urteilsklassen unverlässlich sind. Wiederum ist dies zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber alles andere als wahrscheinlich. Sicher kennen wir viele Kontexte, in denen spontan geäußerte praktische Urteile eher falsch und damit unverlässlich sind, und die empirische Psychologie dürfte uns künftig auch weiterhin über neue Kontexte aufklären, in denen dies der Fall ist. Aber abgesehen davon, dass sie uns ja auch potentiell darüber aufklären könnte, dass unsere spontanen praktischen Urteile manchmal weit verlässlicher sind, als wir jetzt glauben, scheinen doch die obigen Beispiele keineswegs in diese Kategorie zu fallen. Ganz im Gegenteil haben die betroffenen Individuen hier offenkundig üppige Evidenz für die Verlässlichkeit der praktischen Urteile und dies ist auch der Grund, warum sie in diesen Fällen nicht-inferentielle Urteilsberechtigungen zuerkennen. Schließlich könnte man der Idee erliegen (da der Begriff der Verlässlichkeit sich gut als ein gradueller auslegen lässt), dass vermutlich praktische Beobachtungsberichte allgemein unverlässlicher sind als naturwissenschaftliche. Dieser Einwand gegen die Gleichheitsthese übersieht jedoch, dass der Vergleich von Verlässlichkeit in einem absoluten Sinn kaum Sinn ergibt, da pragmatisch diese immer relativ zu einem Kontext eingeschätzt werden wird und muss. Deshalb mag es zwar einerseits sein, dass es global betrachtet niemanden gibt, der sonderlich verlässlich über das Vorliegen von richtigen oder falschen Handlungen nicht-inferentiell Urteilen kann, aber ebenso ließe sich ja über den Physiker sagen, dass sein Urteil über die Anwesenheit von ›μ-Mesonen‹ nur unter sehr spezifischen, experimentellen Bedingungen als verlässlich eingeschätzt wird bzw. werden sollte, nicht bei einem Spaziergang im Park. Andererseits können wir über den Daumen feststellen, dass viele praktische Inhalte sehr viel verlässlicher situativ und nicht-inferentiell geurteilt werden können als manche naturwissenschaftliche. Hier stehen Urteile über freundliche Gesichter Urteilen über Katzen weitaus näher als Urteile über Elementarteilchen. Daher 140
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sollten wir schließen, dass alles in allem überragende Gründe für die Gültigkeit der reliabilistischen Gleichheitsthese sprechen. Dies aber ist gleichbedeutend mit der analogen Wahrheit des perzeptiven Egalitarismus unter diesem Vorzeichen. Empfiehlt es sich aber unter diesem gleichermaßen günstigen Stern die metaethische Betrachtung von nicht-inferentiellen Begründungsweisen grundsätzlich unter reliabilistischem Vorzeichen durchzuführen? Einige neuere Arbeiten schwenken auf diese Linie ein, eine Präferenz, die sich wohl daraus ergibt, dass der Reliabilismus es durch Absehen von der internen psychischen Verfassung von Denkern gestattet, einige moralpsychologische Probleme zu umschiffen (vgl. Shafer-Landau 2003: Kap. 12; Wielenberg 2010). Dennoch sind hier einige Zweifel angebracht. Dazu ein abschließender Punkt: Es sticht ins Auge, dass Brandoms Externalismus, indem dieser sich nur dafür interessiert, wann Denker nicht-inferentielle Beobachtungsberichte von Anderen anerkennen (dürfen), sich auf eine Frage beschränkt, die hinsichtlich des Problems der perzeptiven Berechtigung bloß sekundär ist. Denn damit Individuen Anlass für die Akzeptanz fremder Beobachtungsberichte erkennen können, ist es erforderlich, dass diese gelegentlich jene Beobachtungsberichte mit ihren eigenen Beobachtungen in einen konsistenten Zusammenhang bringen können. Beispielsweise könnte die Verlässlichkeit des Fährtenlesers nie beurteilt werden, wenn die Begleiter den Bären nicht später selbst im Gebüsch entdecken könnten, und eben der gleiche Punkt ließe sich in Bezug auf praktische Inhalte machen. Dadurch zeigt sich, dass wir das Problem individueller Anschauungsgehalte und rationaler Transitionen von ihnen wieder einführen müssen, um Brandoms Frage überhaupt lösen zu können, und dass der internalistischen Perspektive aus diesem Grund unverändert Priorität zukommt (vgl. McDowell 1996: 293 f.).
ii.
Zur Moralisierung von Quines Behaviorismus
Zuletzt wäre noch auf den Behaviorismus in der Wahrnehmungstheorie einzugehen. Dabei sind natürlich die Schriften von Quine der naheliegende Ausgangspunkt. Im Behaviorismus geben wir die normative Frage der Rationalität von Wahrnehmungsurteilen sowohl im internalistischen als auch im externalistischen Sinne auf und fragen lediglich noch nach der Existenz von ›Beobachtungssätzen‹. Diese zeichnen Praktische Anschauung
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sich dadurch aus, dass sie situativ angesichts bestimmter Umweltreize (an den Körperoberflächen) die allgemeine Zustimmung der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft finden. Das heißt, Beobachtungssätze sind durch eine hohe Korrelation von Reizen und verbalen Verhaltensäußerungen definiert. Ich werde mich bei der Behandlung des Behaviorismus auf einige kurze Kommentare beschränken, weil einerseits die Diskussion um den Behaviorismus weitgehend abgeschlossen ist und die gängigen Einwände bekannt sein dürften und weil andererseits Olaf Müller (2008) hier bereits jüngst eine Anwendung von Quines Ansatz auf den Bereich der Moral unternommen hat. Zunächst muss ich zugestehen, dass ich dabei anders als Müller sehr viel pessimistischer bin, was eine sinnvolle Übertragung der Konzeption auf das komparative Problem praktischer Anschauung anbetrifft. Dies liegt daran, dass sich in Bezug auf einzelne Schriften diverse Unklarheiten und methodologische Probleme in der Theorie ergeben, aber auch schon schlicht daran, dass Quine in verschiedenen Arbeiten auch verschiedene Versionen seiner ›Beobachtungssätze‹ vorstellt, so dass wir uns vor einer Applikation einer Fülle von Ambiguitäten gegenübersehen. Diese lassen es zweifelhaft erscheinen, dass es eindeutige Antwort darauf gibt, was nach Quine als ein Beobachtungssatz zählen könnte (vgl. Quine 1960: 42; Quine 1969: 86 f.; Quine 1978: 24; Quine 1993: 108). Da ich mich an dieser Stelle nicht mit einem ausgedehnten texthermeneutischen Kommentar aufhalten möchte, will ich nur die wesentlichen Problemkategorien des perzeptiven Behaviorismus nennen. Zu diesen wären zuvorderst die zahlreichen Probleme der Methodologie zu zählen, die zur Ermittlung der Beobachtungssätze herangezogen wird. Denn es stellt sich der begründete Verdacht, dass wir unter behavioristischem Vorzeichen gar keine Möglichkeit haben, um herauszufinden, was eine ›Situation‹, ein ›Reizmodul‹, Reizgleichheit oder Reizidentität darstellt, ohne auf eine ›mentalistische‹ Beschreibung der epistemischen Lage von Beobachtern zweiter Ordnung bzw. von ›Feldlinguisten‹ zu rekurrieren und damit das Modell wieder zu kippen. Zweitens wäre zu beachten, dass Quines Beobachtungssätze sowohl eine semantische als auch eine rechtfertigungstheoretische Funktion erfüllen sollen, insofern sie einerseits die Sätze sind, die beim Spracherwerb vom Kind oder Feldlinguisten als erste gelernt werden und andererseits die Sätze, auf die sich eine Wissenschaftlergemeinde quasi als ›Diskursanker‹ bei Meinungsverschiedenheiten beruft (vgl. 142
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Exkurs I: Reliabilismus und Behaviorismus
Quine 1969: 88). Quine scheint nun grundsätzlich der Auffassung zu sein, dass die so anvisierten Satzklassen zusammenfallen. Aber das kann nicht stimmen. Denn während die Beobachtungssätze in semantischer Hinsicht durch die allgemeine Zustimmung bei Reizgleichheit in vielen Situationen individuiert sind, sind sie in rechtfertigungstheoretischer Hinsicht durch Zustimmung bei Reizidentität in einer Situation bestimmt. Das diese Klassen nicht zusammenfallen können, zeigen Sätze wie ›Er ist ein Junggeselle‹, den Quine selbst als Beispiel anführt (vgl. Quine 1960: 44). Denn während dieser Satz gelegentlich durchaus rechtfertigungstheoretisch als Beobachtungssatz zählen kann, nämlich genau dann, wenn alle Sprecher über das gleiche einschlägige Wissen über die Person verfügen, wird er mitnichten die situationsübergreifende Zustimmungsstabilität besitzen, um auch semantisch als Beobachtungssatz zu zählen, wie beispielsweise Sätze wie ›Das ist ein Hase‹. Da ich nun die semantischen Probleme des Sprachund Begriffserwerbs in dieser Abhandlung ausklammere, konzentriere ich mich im Folgenden auch bei Quine auf die rechtfertigungstheoretische Komponente, was bedeutet, dass wir nun ausschließlich nach Sätzen suchen, die allgemeine Zustimmung in einer Situation provozieren. 37 Damit haben wir uns aber noch nicht eines dritten Problems entledigt, das parallel zu dem gerade Genannten verläuft. Dieses besteht darin, dass Quine und wir mit ihm auf der Suche nach Beobachtungssätzen sind, nicht aber nach Beobachtungsurteilen. Denn während man im gegenwärtigen Modell der Vorstellung wenigstens einige Plausibilität abgewinnen kann, dass wir die konventionelle Bedeutung von Lautfolgen durch systematische Korrelation von Reiz und Sprachverhalten ermitteln und diese hernach in Sätzen wie ›Dies ist rot / ein Hase / grausam‹ notieren können, können wir leicht ersehen, dass sich das Sprachverhalten nicht in allen Einzelfällen nach der Konvention richten muss. Wenn also Quine in ›The Web of Belief‹ auf ihren Rechtfertigungscharakter zugeschnitten über Beobachtungssätze sagt:
Daneben scheint es aber auch in Quines Szenario sehr plausibel, dass es auch in semantischer Hinsicht mindestens einige Beobachtungssätze mit praktischem Inhalt geben wird. Schließlich muss es in jeder beliebigen Sprachgemeinschaft ja irgendwie möglich sein, ein praktisches Vokabular zu erlernen, und dies wird, etwa bei dichtem, ethischem Vokabular, üblicherweise durch Konfrontation mit paradigmatischen Situationen geschehen.
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»In calling it an observation sentence we mean that it is a form of words that can be used to report a present event or situation, and that other witnesses can then be counted on to concur if queried at the time.« (Quine 1978: 24)
Dann ergibt sich leicht, dass jede Wortfolge unter geeigneten Umständen verwendet werden kann, um allgemein zustimmungsfähig einen ›Bericht‹ zu äußern, und dies bedeutet, dass jeder Satz in diesem Sinne ein Beobachtungssatz ist und damit natürlich auch Sätze mit konventionell praktischer Bedeutung. Dies ist zwar absurd, aber dennoch eine logische Konsequenz aus Quines Aussage. Viertens erscheint mit der obigen Definition die Klasse der Beobachtungssätze auch in einer weiteren Hinsicht überbordend. Denn solange wir den mentalen Haushalt von Individuen völlig außer Acht lassen und deren Zustimmung zu Sätzen in einer einzelnen Situation abprüfen, sollte sich ergeben, dass dann die Klasse der Beobachtungssätze mit der Klasse aller geteilten Überzeugungen – unter der wiederum mindestens einige praktische Überzeugungen sein werden – identisch ist, weil natürlich jeder (konventionell aufgefassten) Sätzen zustimmen wird, wenn er glaubt, dass sie wahr sind. Zum Zwecke der Differenzierung können wir schließlich nicht auf die Wahrnehmungsinhalte dieser Individuen verweisen und auf die Urteile, die nicht-inferentiell auf diese gegründet sind. Ein solch ›mentalistischer‹ Zug ist im Behaviorismus nicht erlaubt. Darüber hinaus dürfte auch die Einschränkung auf Sätze über ›gegenwärtige Ereignisse oder Situationen‹ kaum Linderung versprechen. Fünftens lautet eine offene Frage, welche Rolle Quine Hintergrundinformationen bei der Bestimmung von Beobachtungssätzen einräumt. Zweideutigkeit besteht einerseits in dem Punkt, ob die Unabhängigkeit von Hintergrundinformationen Teil der Definition von Beobachtungssätzen ist oder ob dies vielmehr eine Erklärung dafür ist, dass einige Sätze Beobachtungssätze sind, und andererseits, ob im ersten Fall Beobachtungssätze durch die Unabhängigkeit von geteiltem Hintergrundwissen oder durch die Unabhängigkeit von ungeteiltem Hintergrundwissen individuiert sind (Quine 1960: 42 ff.). Auch hier ergeben sich je unterschiedliche Klassen von Beobachtungssätzen und unter der Annahme der allgemeinen Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung müssten wir schließen, dass es nach der ersten Option überhaupt keine echten Beobachtungssätze gibt oder dass – wie allerdings
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auch Quine weiß – wir nur einen graduellen Begriff der ›Beobachtungsnähe‹ definieren können. Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Quine ›Sprachgemeinschaft‹ in einem absoluten Sinn (alle Sprecher) und in einem relativen Sinn (alle Experten) kennt. Nun erhellt wiederum leicht, dass wir die Sprachgemeinschaft im absoluten Sinn kaum für eine rechtfertigungstheoretische Untersuchung heranziehen können – auch wenn diese in semantischer Hinsicht eine Rolle spielen mag. Denn dies würde erneut zu dem absurden Ergebnis führen, dass je mehr Wissen einzelne Experten in einem Bereich erwerben, welches sich in einem spezialisierten Fachvokabular ausdrückt, ihre spontanen Beobachtungsberichte desto weniger als Beobachtungssätze zählen würden. Halten wir uns hingegen an den relativen Sinn laufen wir in einen bösartigen Zirkel, weil wir zur Bestimmung von Beobachtungssätzen eine klare Vorstellung von den Mitgliedern der relevanten Sprachgemeinschaft benötigen, diese Sprachgemeinschaft aber gar nicht bestimmen können, ohne zu sagen, dass ihre Mitglieder bestimmten Beobachtungssätzen zustimmen werden. Quines eigenes Kriterium der ›allgemeinen Flüssigkeit des Dialogs‹ (vgl. Quine 1969: 87) ist weitgehend nichtssagend. Damit wird das Pendeln zwischen der Klasse der relevanten Sprecher und der Klasse der Beobachtungssätze aber zu einer willkürlichen Angelegenheit und wir können erneut jeden oder keinen Satz zu einem Beobachtungssatz machen, wenn wir nur die Sprachgemeinschaft entsprechend anpassen. All dies zusammengenommen lässt mich zu dem Schluss tendieren, dass der Behaviorismus im Grund völlig unanwendbar ist, um mit theoretischem Nutzen hier irgendeine interessante Klasse von (praktischen) Beobachtungssätzen zu ermitteln. Wenn wir uns aber dennoch um eine Anwendung bemühen wollen, wäre mein bester Vorschlag, dass wir etwa Folgendes annehmen: i) dass es doch irgendeine unabhängige Methode gibt, um eine bestimmte Menge von ›Umweltreizen‹ (Reizmodul) herauszugreifen und zu entscheiden, was genau als ›Teil der Beobachtungssituation‹ angesehen werden kann; ii) dass wir nur verbale Äußerungen betrachten, die nachweislich in konventioneller Bedeutung verwendet werden oder eine konventionelle Übersetzung des ursprünglichen Satzes darstellen, und wir dies irgendwie unabhängig feststellen können; iii) dass wir abschwächend nur nach fast sofortiger und fast genereller Zustimmung aller relevanten Sprecher fragen und iv) die relevanten Sprecher diejenigen sind, deren BerufsPraktische Anschauung
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bezeichnung offiziell auf ›Physiker‹, ›Chemiker‹ etc. lautet (Naturwissenschaft) oder schlicht alle Mitglieder der Weltgemeinschaft überhaupt (Praxis, Moral). Daneben gehe ich davon aus, dass v) der Einfluss von Hintergrundwissen für die Bestimmung der Beobachtungssätze selbst irrelevant ist, aber unter Umständen erklären kann, warum diese observational sind. Mit diesen Annahmen würden wir zu folgender, partiell modifizierter Definition eines Beobachtungssatzes im rechtfertigungstheoretischen Sinn gelangen: (BS) Ein Satz B ist ein Beobachtungssatz genau dann, wenn B in mindestens einer Situation, in konventioneller Bedeutung (bzw. in einer konventionellen Übersetzung von B) geäußert wird und angesichts derselben Reizmuster fast sofortige Zustimmung bei fast allen relevanten Sprechern hervorruft. Dementsprechend sollte die dem perzeptiven Egalitarismus analoge behavioristische Gleichheitsthese lauten: (BG) Es gibt sowohl naturwissenschaftliche als auch praktische Beobachtungssätze. Ist diese Gleichheitsthese wahr? Nun, die Antwort ist zwar ohne Rückgriff auf empirische Studien ähnlich wie bei der komparativen Bewertung des Reliabilismus nicht gänzlich frei von Spekulation, aber wenn wir uns hier auf unser spontanes Urteil verlassen, müssen wir zu dem Schluss gelangen, dass überhaupt nicht zu sehen ist, wie sie falsch sein könnte! Denn wir müssen dazu nur die brettharten Fälle von moralischem Scheitern anführen, Fälle von Raub, Mord oder Vergewaltigung, um zu sehen, dass wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dabei allgemeine Zustimmung zu Sätzen wie ›Dies ist falsch/ schlecht/grausam‹ ernten werden, sollten wir irgendwann in der Lage sein, die Weltgemeinschaft oder eine repräsentative Untermenge von ihr in diesen Szenarien zu positionieren. Tatsächlich ergibt sich, dass wir die behavioristische Gleichheitsthese weitaus einfacher bestätigen können als die vorherigen analogen Thesen. Denn da wir im Behaviorismus den mentalen Haushalt von Denkern als Blackbox behandeln, brauchen wir dazu nicht einmal über perzeptiven Inhalt, die Rationalität von Wahrnehmungsurteilen oder die wechselseitige Akzeptanz von nicht-inferentiellen Festlegungen zu diskutieren. Deshalb glaube ich, um noch einmal auf den zweiten, oben erwähnten Autor zurückzukommen, anders als Olaf Müller nicht, dass wir sonderlich große theoretische Anstrengungen unternehmen müssen, um nach Quine eine Konzeption moralischer Beobachtungssätze 146
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zu entwickeln. Dass es solche geben wird, ist zwangsläufig wahr, leider sogar, wie man hinzufügen muss, trivialerweise wahr. Daneben befürchte ich, dass die von Müller (vgl. 2008: 134) gewählten Sätze wie ›Dies ist sichtbares Unrecht‹ oder ›Dies sieht wie Unrecht aus‹ als paradigmatische Beispiele für moralische Beobachtungssätze nach Quine keine sehr gute Wahl sind. Denn erstens verwenden beide Beispiele mit den Ausdrücken ›sichtbar‹ und ›sieht aus‹ mentalistisches Vokabular, was behavioristisch eigentlich unzulässig ist – abgesehen davon, dass damit unkritisch ein Vorverständnis des Sichtbaren vorausgesetzt wird. Zweitens erfordert die Unterscheidung von Recht und Unrecht allgemein sehr komplexe begriffliche Fähigkeiten, weshalb Sätze über Unrecht über den Daumen gepeilt relativ beobachtungsfern sein werden, sagen wir gegenüber einigen dichten Werturteilen. Drittens wäre zu beachten, wenn wir entgegen der obigen Definition nicht absolut, sondern graduell nach der ungefähren, an der Zustimmungsrate der Sprecher gemessenen Beobachtungsnähe von Sätzen fragen, dass eine plausible Ordnung entgegen Müllers Ansicht (vgl. ebd.) so aussehen sollte: ›sieht aus wie Unrecht‹ > ›ist Unrecht‹ > ›ist sichtbares Unrecht‹. Denn einerseits wissen wir seit Sellars, dass der ›Sieht-AusOperator‹ üblicherweise wie die Abschwächung eines Urteils wirkt (Sellars 2000: § 22), wodurch ein Sprecher hier nur zustimmen muss, dass irgendwelche Evidenzen vorliegen, dass etwas Unrecht sein könnte. Deshalb wäre solch ein Satz tatsächlich beobachtungsnäher als ein entsprechendes Ist-Urteil. Andererseits erfordert die Zustimmung zu ›Dies ist sichtbares Unrecht‹ nicht nur die Akzeptanz des Ist-Urteils, sondern zusätzlich den Glauben, dass dieses in der Situation rein perzeptiv erkannt werden kann, und wird daher relativ geringer ausfallen. Zuletzt noch zwei allgemeinere Anmerkungen zur Verwendung von Quines Behaviorismus in der ethischen Erkenntnistheorie: Ich hatte gerade behauptet, die Existenz moralischer Beobachtungssätze sei auch nach Quine trivialerweise gegeben. Dies scheint auf einer Linie mit Müllers Intention, die ›Respektabilität der Ethik‹ gegen den ›größten Naturalisten aller Zeiten‹ im Rahmen von dessen eigener Theorie zu verteidigen (vgl. Müller 2008: Kap. 1). Es gibt allerdings eine Komplikation. Denn wenigstens unter einer Lesart will Quine sagen, dass etwas nur dann ein Beobachtungssatz sein kann, wenn die allgemeine Zustimmung zu ihm allein durch i) Identität des Reizmoduls und ii) gleiches Hintergrundwissen aller Sprecher erklärt werden kann. Praktische Anschauung
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Dies würde im Fall praktischer Sätze aber erfordern, dass wir keine zusätzlichen ›konativen Einstellungen‹ und dergleichen postulieren müssen, um hier Zustimmung zu erklären, und dies würde Quine gewiss bestreiten (vgl. Quine 1978: 134 ff.). Das heißt, wir müssen auch an dieser Stelle eine Bedingung der kognitiven Suffizienz für das praktische Denken ansetzen, um reibungslos eine Gleichheitsthese verteidigen zu können, und dies demonstriert, dass (prima facie) Quines Inegalitarismus nicht allein auf der Grundlage seiner Beobachtungstheorie abgewehrt werden kann. Ebenso wäre schließlich – wenig originell aber weiterhin korrekt – anzumerken, dass gleichfalls die Rechtmäßigkeit normativer Fragestellungen gegen die quinesche Herangehensweise verteidigt werden muss, die unweigerlich auf deren Elimination zusteuert, und dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Quines Behaviorismus, ob im ethischen oder einem beliebigen anderen Bereich der Deliberation, eine gänzlich unwirtliche Umgebung für jede Untersuchung darstellt, die sich nicht nur psychologisch, sondern genuin erkenntnistheoretisch versteht.
2.5 Exkurs II: Gegenstandsbezug Ich möchte nun der theoretischen Option des Externalismus wieder den Rücken kehren und von der Sinneswahrnehmung als einer besonderen Klasse mentaler Zustände ausgehen, die potentiell berechtigten Anlass für einen Übergang zu einem doxastischen Zustand bietet. In dieser Standardperspektive wäre noch zu überlegen, wie sich die gegenwärtige komparative Theorie der praktischen sinnlichen Anschauung eigentlich zu dem zweiten großen Komplex der Wahrnehmungsphilosophie verhält, die das Verhältnis von Wahrnehmungsinhalt und Gegenstand betrifft. Bekanntlich steht dabei eine theoretische Entscheidung zwischen indirektem und direktem Realismus an. Nach der ersten Konzeption müssen wir uns das Verhältnis von Wahrnehmung und Gegenstand als das eines repräsentationalen Inhalts zu einer davon unterschiedenen Tatsache bzw. eines Konglomerats von Tatsachen vorstellen. Deshalb ist gelegentlich auch von einem ›Repräsentationalismus‹ (vgl. Peacocke 1992: 63 ff.), einer ›Bild-Original-Theorie‹ (vgl. Mackie 1976: 37) oder in negativer Abgrenzung von einer ›InterfaceKonzeption der Wahrnehmung‹ die Rede (vgl. McDowell 1988a: 218;
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Putnam 1999: 9). 38 Die zuletzt genannten zwei Autoren und andere gehen demgegenüber von einem unvermittelten Zugang zur Realität aus, wonach der Inhalt der Wahrnehmung im Normalfall die Welt nicht nur (re-)präsentiert, sondern die Welt ist (ebd. u. vgl. Smith 2002, 2006; Willaschek 2003), während es zu einer Divergenz von Wahrnehmungsinhalt und Realität nur im Falle von Illusionen oder Halluzinationen käme. Das heißt, der direkte Realismus impliziert eine ›disjunktivische Sicht‹ des Wahrnehmungsinhaltes. Dies gesagt, könnte es den Anschein haben, als stünde der Repräsentationalismus in einer impliziten logischen Verbindung mit einem ethischen Inegalitarismus. Doch obwohl sich wohl eine historisch-statistische Korrelation zwischen diesen beiden Auffassungen diagnostizieren lässt, denke ich, dass wir bei näherer Begutachtung feststellen müssen, dass sich dabei bestenfalls ein sehr schwacher systematischer Zusammenhang ergibt. Dennoch wirkt es so, als ließe sich aus repräsentationalistischer Perspektive schnell ein gutes Argument für eine inegalitaristische, v. a. eine irrtumstheoretische Sicht der Praxis finden. Dieses gestaltet sich so: Erstens gehen wir von dem besagten Zwei-Ebenen-Modell der Wahrnehmung aus, bei dem sich ›Bild‹ und Original gegenüberstehen. Zweitens konzipieren wir erfolgreiche Erkenntnis, d. h. perzeptive repräsentationale Korrektheit als eine Relation der Ähnlichkeit zwischen Bild und Original. Drittens bietet diese Modell offenbar eine einfache Möglichkeit für die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten, indem man sagt, dass die primären ›Eigenschaften der Dinge selbst‹ sind, während die sekundären Qualitäten nur Eigenschaften der Repräsentation, nur ›im Geiste‹, sind und bietet damit Anlass für eine Irrtumstheorie für sekundäre Qualitäten. Letztere behalten danach offenbar nur noch den Status ›bloßer Erscheinungen‹. Die Repräsentation wird gewissermaßen auf dem Weg zur individuellen Bewusstheit ›eingefärbt‹, während die ›wirkliche‹ Welt farblos ist. Dies ist eine Sicht, die Locke als Schöpfer dieser Unterscheidung nahezulegen scheint, wenn er schreibt:
Der indirekte Realismus kann dann durch die Elimination der ›Außenwelt‹ noch zum Phänomenalismus gesteigert werden, in dem die Dinge nur noch ›logische Konstruktionen aus Sinnesdaten‹ sind und der in einer Lesart die – durchgehend schwierig zu deutende – Position von Ayer (1940) ist.
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»… such qualities which in truth are nothing in the objects themselves, but powers to produce various sensations in us by their primary qualities, i. e., by the bulk, figure, texture and motion of their insensible parts, as colours, sounds, tastes, etc., these I call secondary qualities.« (Locke 1997: VIII § 10)
Viertens ließe sich nun schließen, dass unter anderem auch praktische Eigenschaften sekundäre Qualitäten sind, weshalb aus der Irrtumstheorie für sekundäre Qualitäten qua Modus Ponens eine Irrtumstheorie der Moral folgte und dies scheint genau das zu sein, was Hume an berühmter Stelle zum Ausdruck bringt: »Vice and virtue, therefore, may be compar’d to sounds, colours, heat and cold, which according to modern philosophy, are not qualities in objects, but perceptions in the mind: And this discovery in morals, like that other in physics, is to be regarded as a considerable advancement of the speculative sciences …« (Hume 2000: 3.1.1)
Aus dieser Perspektive schiene es nun aber unglaubwürdig, dass, wie oben behauptet, praktische Eigenschaften wahrgenommen werden können, weil praktische Inhalte als ›bloßer Schein‹ in keinem Sinne mehr repräsentational korrekt oder inkorrekt und damit auch in keinem Sinne erfolgreiche Anschauung sein könnten. Obwohl es nun sein mag, dass einige Autoren sich von analogen Überlegungen haben leiten lassen, zeigt doch bereits der Durchgang durch das Argument, dass die Arbeit dabei keineswegs von dem Repräsentationalismus, sondern den zahlreichen Zwischenschritten geleistet wird. Daneben lässt sich leicht sehen, dass selbst wenn Werte etc. sekundäre Qualitäten wären – was sie nicht sind – und selbst wenn für letztere eine partielle Irrtumstheorie richtige wäre – was keineswegs alternativlos ist – und selbst wenn wir die Beziehung von Repräsentation und Welt als eine Frage der hinreichenden Ähnlichkeit konzipieren würden – was uns (Ähnlichkeit in welcher Hinsicht?) vor große Schwierigkeiten stellt –, sich daraus immer noch keine revisionären Konsequenzen gegen den perzeptiven Egalitarismus ergäben. Der Reihe nach. Zunächst einmal ist es gewiss nicht Humes Intention und, wie oben erwähnt, wohl auch von keinem anderen Theoretiker, eine Subsumtion von praktischen Eigenschaften unter sekundäre Qualitäten vorzuschlagen, sondern nur, diese in gewissen Hinsichten zu vergleichen. Die Frage lautet damit zweitens eher, ob ein sinnvoller Vergleich der beiden Eigenschaftsklassen auf eine allseitige Elimination hinausläuft. Dazu wäre anzumerken, dass Lockes Darstellung der se150
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kundären Qualitäten keineswegs auf eine eliminatorische, sondern auf eine dispositionale Analyse hinausläuft, wonach diese mit ›Kräften der Gegenstände, gewisse Sinneseindrücke zu produzieren‹ identifiziert werden können. Dies führt auf die Standardanalyse von z. B. der Eigenschaft ›rot‹ als die Disposition von Gegenständen, bei Standardbeobachtern unter Standardbedingungen Sinneseindrücke von rot’ hervorzurufen. Dabei stellt rot’ eine sinnliche Eigenschaft dar, die tatsächlich non-repräsentational ist, d. h. keinerlei Korrektheitsbedingungen unterliegt, aber von der sekundären Qualität ›rot‹ unterschieden werden muss. Im Gegensatz zu den rein sinnlichen Eigenschaften unterliegen Repräsentationen von sekundären Qualitäten damit durchaus Korrektheitsbedingungen, die durch die in der Definition genannten Standardbedingungen fixiert werden und somit eben nicht nur ›im Kopf‹ sind. Das heißt, selbst wenn wir auf dieselbe Weise eine dispositionale Analyse praktischer Eigenschaften unternähmen, was horrend unterkomplex wäre, gäbe es für komplementäre praktische (Anschauungs-)Inhalte Korrektheitsbedingungen und einen Unterschied von Sein und Schein. Selbst wenn außerdem eine partielle Irrtumstheorie bezüglich der Auffassung des Gemeinsinns von diesen Eigenschaften richtig wäre, was man sicher auch bezweifeln kann, wäre der Gemeinsinn dennoch in dem Punkt, dass auch die Zuschreibung praktischer Eigenschaften epistemisch gelingen oder fehlschlagen kann, nicht im Irrtum. Was nun drittens die Frage der Ähnlichkeit von repräsentationalem Wahrnehmungsbild und Welt anbetrifft, so ist einerseits diese Rede wegen der Zahllosigkeit von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, die sich zwischen beliebigen Entitäten benennen lassen, gewiss ominös. Deshalb formulieren zeitgenössische Repräsentationalisten diese Verbindung anders, zum Beispiel als eine Instanziierungsrelation zwischen repräsentationalem Typus und Umgebungstoken (vgl. Peacocke 1992: 64). Andererseits ließe sich bei lockerer Betrachtung auch bei der Wahrnehmung sekundärer Qualitäten von Ähnlichkeit zwischen Repräsentation und realer Situation sprechen, sofern dies nicht mehr bedeutet, als dass die Situation so ist, wie sie wahrgenommen wird. Dies zeigt zu guter Letzt an, dass wir unter repräsentationalistischer Perspektive nur dann zu einer starken Irrtumstheorie der betrachteten Eigenschaften gelangen, wenn wir entweder einen starken Dualismus oder – und dies dürfte bei der gegenwärtigen Debattenlage die einzig relevante Option sein – einen reduktionistischen NaturalisPraktische Anschauung
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mus adoptieren. Nur bei einer dichotomischen Gegenüberstellung von Geist und Welt oder bei der vorausgehenden Prämisse, dass die Welt nur die Welt der Naturwissenschaften ist, gelangen wir zu der Sicht, dass praktische oder ›gefärbte‹ Anschauungsinhalte nur ›bloße Erscheinungen‹ sind, die nie repräsentational korrekt sein können. Daher sollten wir besser die folgende Diagnose stellen: Da der Repräsentationalismus als solcher den Bezug zur Welt nicht schon durch die bloße Gegebenheit von Sinneswahrnehmung für gewährleistet hält, muss er, wie wir oben bei Peacocke gesehen hatten, um dem Skeptizismus zu entgehen, eine Spekulation darüber anstellen, ob die Welt ›auf der anderen Seite‹ grundsätzlich so vorgestellt werden kann, wie es uns die Sinneswahrnehmung vorspiegelt. Dadurch wird es verführerisch, als Anhaltspunkt ausschließlich unsere ›besten‹, d. h. naturwissenschaftlichen Theorien heranzuziehen. Der Schluss lautet in diesem Zuge zwangsläufig, dass die Welt jenseits ihres perzeptiven Anscheins, so wie sie ›wirklich‹ ist, nur so ist, wie es die Naturwissenschaften sagen, und wir alle anderen mutmaßlichen Entitäten und damit auch praktische Eigenschaften aus unserem Weltbild entfernen müssen. Eigentlich ergibt sich jedoch aus der Betrachtung der theoretischen Resultate der Naturwissenschaften bis auf weiteres nur, dass all jene Entitäten in einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt nicht vorkommen. Dass aber der Glaube an sie reine Illusion ist, folgt nicht ohne anspruchsvolle Hintergrundannahmen. Deshalb könnte man dem Repräsentationalismus die Tendenz nachsagen, diesen Fehler zu begehen – der genannte Peacocke ist hier eine Ausnahme – aber gerade deshalb gibt es an dieser Stelle keinen logischen Zusammenhang. Auf der anderen Seite ließe sich urteilen, dass dem direkten Realismus in der Wahrnehmungstheorie eine Ablehnung jener skeptischen Szenarien als obsolet eingeschrieben ist, die, wie oben bei Harman, eine Spekulation der Art befördern, dass jenseits unserer Wahrnehmungsepisoden leider keine praktischen Eigenschaften vorhanden sein könnten, die diese in den relevanten Hinsichten verursachen. Da der direkte Realismus den epistemischen Zugang zur Welt nicht für ein grundsätzliches Problem, sondern für immer schon gegeben hält, bietet sich für ihn die pragmatistische Lösung an. Diese nimmt Anschauungsinhalte und damit natürlich auch praktische Anschauungsinhalte für bare Münze, solange sich keine ernsthaften Gegengründe ergeben.
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Das Mysterium der praktischen Anschauung?
2.6 Das Mysterium der praktischen Anschauung? Anhand von Gesprächen und der metaethischen Literatur habe ich den Eindruck gewonnen, dass eine große Mehrheit der festen Überzeugung ist, dass die Idee moralischer Sinneswahrnehmung höchst abstrus ist und seit den Anfängen der metaethischen Debatte im 20. Jh. nichts von ihrem mysteriösen Charakter eingebüßt hat. Wenden wir uns aber unbefangen der Sinneswahrnehmung selbst zu, kommen wir zu dem Ergebnis, dass für diesen Unglauben erst einmal überhaupt kein Grund besteht. Ansonsten müsste jener Zweifel bei einem feinkörnigeren Gedanken zum Wahrnehmungsinhalt oder zum rationalen Wahrnehmungsurteil Fuß fassen können. Es sieht aber ganz im Gegenteil so aus, als könnten wir den Wahrnehmungsbegriff drehen und wenden, wie es uns gefällt, wir kommen auf keinen diskriminatorischen Standpunkt. Betrachten wir perzeptiven Inhalt, stellen wir fest, dass eine ganze Reihe wahrnehmungstheoretischer Konzeptionen (Kohärentismus, Reliabilismus, Behaviorismus) schon vom Prinzip her keine Diskriminierung bereichsspezifischer Urteilsklassen erlauben. Wählen wir hingegen eine geeignete, internalistische Perspektive (Konzeptualismus, Nonkonzeptualismus), lautet das Ergebnis, dass es die Begrifflichkeit aller fraglichen Inhalte ist, die eine Homogenität praktischer und naturwissenschaftlicher Inhalte instituiert. Aber auch beim Prüfstein der perzeptiven Berechtigung zeigt sich, dass wir für jeden Schritt von Harmans klassischem Argument inklusive seiner denkbaren Erweiterungen überzeugende Repliken formulieren können. Dazu ist es nicht einmal erforderlich, die zahlreichen epistemologischen Präsuppositionen im Hintergrund des explanatorischen Arguments anzugreifen. Denn wir können entweder das Erfordernis einer kausalen Rekonstruktion der Berechtigung akzeptieren, weil moralische Eigenschaften kausal effektiv sind, solange die Supervenienzbeziehung zwischen ihnen und basaleren Eigenschaften als normal vorgestellt wird. Oder wir können diese Supervenienzbeziehung als einen analytischen Zusammenhang vorstellen und dann die perzeptive Berechtigung gegen Harman non-kausal rekonstruieren. Was schließlich die erweiterte Fragestellung anbetrifft, warum wir perzeptive Repräsentationen eines bestimmten Themas als verlässlich ansehen sollten, stellen wir fest, dass die oft herangezogenen rein evolutionstheoretischen Argumente für die betrachteten Inhalte unerhebPraktische Anschauung
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lich sind. Dies liegt erneut an der begrifflichen Natur moralischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Für diese wäre eine analoge kulturtheoretische Rekonstruktion heranzuziehen, die jedoch wiederum für beide Bereiche generalisiert werden kann. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass letztlich das größte Mysterium der praktischen Anschauung nicht diese selbst im Vergleich zu ›normaler‹ Sinneswahrnehmung ist, sondern dass die größte Mysteriösität vielmehr den Zweifel am perzeptive Egalitarismus umweht. Denn, sofern sich der philosophieinterne Gemeinsinn am allgemeinen Gemeinsinn orientierte, wäre ein perzeptiver Inegalitarismus vollkommen unmotiviert, da landläufig Individuen ihre Wahrnehmung präphilosophisch für praktisch gehaltvoll halten und davon ausgehen, sich unter günstigen Umständen von ihr in dieser Hinsicht rational anleiten lassen zu können. Lässt man sich hingegen philosophiehistorisch inspirieren, wäre in Bezug auf den Logischen Empirismus wiederum zu sagen, dass auch die dort vertretenen Versionen des Nonkonzeptualismus (alias Sinnesdatentheorien) letztlich, wie oben ausgeführt, keinen besonderen Anlass für eine inegalitaristische Position bieten. Es ist allerdings stets im Hinterkopf zu behalten, dass die Diagnose einer perzeptiven Unterschiedslosigkeit von Praxis und Naturwissenschaft unter dem Stern einer umfangreichen ceteris-paribus-Bedingung steht, die unter Aussparung der Sinneswahrnehmung eine allgemeine epistemologische Gleichförmigkeit der beiden Deliberationsbereiche ansetzt. Da dies eine bloße Prämisse ist, ist damit nicht ausgeschlossen, dass es ein unabhängiges Argument für eine inegalitaristische Position in einem jener anderen Problemfelder geben könnte, etwa im Bereich der Moralpsychologie, das ultimativ die egalitaristische Position im Bereich der sinnlichen Anschauung gefährdet. Wie dem auch sei, wenn ich mich nicht täusche, dann ist es in Bezug auf die Entwicklung der metaethischen Debatte wahr, dass alle zeitgenössischen inegalitaristischen Positionen, ob sie als komparativer Skeptizismus oder als Differenztheorie auftreten, explizit oder implizit auf die Existenz eines unabhängigen Arguments gerade im Bereich der sinnlichen Anschauung angewiesen sind. Ebenso vermute ich, dass all diese Positionen ein solches Argument nicht entwickeln können, ohne die semantischen, psychologischen oder ontologischen Oppositionen vorauszusetzen, die sie eigentlich perzeptionslogisch erst einführen möchten. Diese Zirkularität hatte sich oben modellhaft bei Gibbard ge154
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zeigt. Wäre dies so, was ich an dieser Stelle noch nicht behaupte, sondern nur andenke, dann müssten wir zu dem Schluss kommen, dass der erkenntnistheoretische Inegalitarismus zwar vielleicht nicht inkonsistent, als Ganzes aber systematisch redundant ist. Solange wir bar eines unabhängigen Arguments bei der generellen Homogenitätsannahme verbleiben, spricht jedenfalls alles für und nichts gegen die Sicht, dass Individuen praktische Urteile auf rationale Weise auf sinnliche Anschauung gründen können, wenn diese Möglichkeit im Falle unserer ›besten Wissenschaften‹ besteht. Darüber hinaus bietet diese Sicht ein gut verträgliches Gegenmittel gegen die Kolonialisierung der Empirie durch die Naturwissenschaften einerseits, gegen die Unterkomplexität einer evolutionstheoretisch angeleiteten Primitivisierung des praktischen Denkens andererseits. Ebenso vermeiden wir so den Eindruck einer gewissen Weltenthobenheit des praktischen Denkens, der sich bei Theorien einstellen mag, die die Vernunft, den Diskurs oder den Vertrag ins Zentrum ihrer Überlegung stellen. Diese Instanzen nehmen gewiss alle ihren legitimen Platz in einer vollständigen Theorie praktischer Begründung ein, können aber potentiell darüber hinwegtäuschen, dass auch Fragmente praktischer Deliberation auf Gedeih und Verderb wesentlich durch je individuelle Erfahrung in- und präformiert sind. Unter Absehung von dem genannten Vorbehalt würde dies bedeuten: Praktisches Denken ist größtenteils empirisches Denken und die Ethik als seine selbstbewusste Fortführung im Rahmen der Forschung ist dieser nicht nur in relevanten Hinsichten ähnlich, sondern ist eine empirische Wissenschaft.
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Angenommen, die Ethik sei eine empirische Wissenschaft. Dann lautet die erste Aufgabe, basale empirische Urteile zu verstehen. Diese Aufgabe besteht im Kern in einer epistemologischen Beschreibung der Transitionen zwischen sinnlicher Anschauung und praktischem Anschauungsurteil. Das letzte Kapitel hat dies in komparativer Art getan. Basale Übergänge zwischen Sinneswahrnehmung und praktischem Urteil sind, so lautete das Ergebnis in Kurzform, normal aufzufassen und dieses ›normal‹ bedeutet in dieser Abhandlung: So wie sie in den Naturwissenschaften verstanden werden, was auch immer diese Auffassung, unsere Theorie der Sinneswahrnehmung, sei. Diese Einsicht kann jedoch nicht darüber hinwegtrösten, dass wir einige weiterführende Aspekte damit noch gar nicht berührt haben. Mit Blick auf den Blick könnte man etwa den Gedanken hegen, dass eine weitere Dimension des komparativen Problems durch den Grad der Disziplin markiert wird, mit dem die Tätigkeit der Sinneswahrnehmung ausgeübt wird oder werden kann. Denn einerseits dürfte unkontrovers sein, dass, so wie das Glück oft wie der Regen kommt, sich auch die Freuden sinnlicher Anschauungsinhalte oft eher zufällig einstellen. Ein Spaziergänger mag beim nachmittäglichen Schlendern durch den Park sporadisch allerlei Entdeckungen machen: Dass die Eichhörnchen ihre Hülsenfrüchte vergraben, dass die Imbissbude östlich vom Springbrunnen unter neuem Management steht, dass es allmählich nach Winteranfang riecht und dergleichen. Wenn wir uns bei diesem Vorgang die Umstände und die begrifflichen Fähigkeiten des Spaziergängers als günstig vorstellen, hindert uns offenbar nichts an der Sicht, dass dieser dabei tatsächlich jene Entdeckungen macht und es rational ist, wenn er diese perzeptiv geurteilten Inhalte als solche einordnet. Letzteres ändert jedoch nichts an dem Tatbestand des weitgehend kontingenten Zustandekommens der involvierten Anschauungsinhalte. 156
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Dem gegenüber ist es kein Geheimnis, dass wir, so wie wir mit etwas Mühe unser Wohlergehen zu einem guten Teil selbst besorgen können, mit dem Willen zum Wissen und etwas organisatorischem Kalkül ausgestattet, auch absichtlich Einfluss nehmen können auf die Wahrnehmungssituation, in der wir uns je befinden. Praktizieren wir dies, haben wir es nicht mehr nur mit der sinnlichen Anschauung per se zu tun, sondern nunmehr mit einer reglementierten Form der Sinneswahrnehmung, die neben der Beschaffenheit der Umwelt und den begrifflichen Fähigkeiten des Wahrnehmenden auch dessen epistemische Ziele als Variable kennt. Denn letztere bedingen oft, dass der Wahrnehmende überhaupt in eine Situation gelangt, in der er eine spezifische Umgebung vorfindet und spezifische begriffliche Fähigkeiten aktiv oder passiv zum Einsatz bringen kann. Unter den Bedingungen perzeptiver Disziplin wird ebenso die Koordination mit anderen Denkern zum Zwecke der Herstellung einer Öffentlichkeit der Wahrnehmungssituation praktikabel. Schließlich lässt sich spekulieren, dass so eine günstigere inferentielle Einbettung von individuellen Wahrnehmungsurteilen ermöglicht wird. Zur Bezeichnung einer solch reglementierten Form der Sinneserfahrung habe ich den Ausdruck der Beobachtung gewählt. Zwar war im letzten Kapitel von dieser bereits einige Male auf entdifferenzierte Weise die Rede. Dies lag daran, dass viele Autoren ›Beobachtung‹ und ›Sinneswahrnehmung‹ mehr oder weniger synonym gebrauchen. Dennoch hat ersterer Ausdruck schon bei Harman und anderen – wenn wir uns an die Spezifika der Anschauung des Protons im Partikeldetektor und der kontingenten Betrachtung des Quälens eines Tieres erinnern – eine szientifische Nuance. Wenn wir die Farbsättigung daher auf dieser Achse erhöhen, gelangen wir zu einem gegenüber der Sinneswahrnehmung an sich kontrastreicheren Begriff von Beobachtung, der diese primär mit der angesprochenen reglementierten Form von Anschauung in Verbindung bringt. Für diesen schlage ich folgende Arbeitsdefinition vor: (B) Beobachtung ist eine individuelle Wahrnehmungsepisode, die im Rahmen der absichtlichen und kollektiven Organisation von Sinneswahrnehmung und der Manipulation von Wahrnehmungssituationen auftritt und die die Formulierung oder Prüfung empirischer Hypothesen als ihr vorrangiges epistemisches Ziel hat. Dieser Definition entspringen weitere komparative Fragen, die die Übertragbarkeit dieses engeren Beobachtungsbegriffs vom naturwissenschaftlichen auf das praktische Denken betreffen. Das heißt, im DePraktische Anschauung
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tail haben wir offenbar die folgenden Aspekte zu beleuchten: Zunächst stellte sich die Frage, inwieweit wir auch praktische Anschauungsgehalte potentiell als Quelle oder Test praktischer Hypothesen ansehen können (3.1.). Sodann wäre zu überlegen, ob wir unter der Annahme, dass nicht ein, sondern mehrere Beobachter bei lockerer Betrachtung Teil derselben Wahrnehmungssituation sind, auch im praktischen Fall davon ausgehen können, dass der Richtstuhl der empirischen Erfahrung eine Konvergenz der praktischen Überzeugungen jener Denker provozieren wird (3.2.). Daneben besteht, soweit ich sehe, bei manchem Theoretiker die Vermutung, dass die praktische Sinneswahrnehmung, wenn sie für die Erkenntnis des Guten, Richtigen und Gesollten tatsächlich förderlich sein soll, einen ›besonderen Modus‹ annehmen muss, in welchem sie sich von der absichtsvollen Beobachtung methodologisch durch ihre Interessenlosigkeit absetzt. In diesem Zuge könnte man meinen, die praktische Anschauung sei letztlich der ästhetischen Kontemplation analog oder müsse sogar mit dieser identifiziert werden, und es wäre zu prüfen, ob dies eventuell eine gute Form sein könnte, hier eine metaethische Grenzlinie zu ziehen (3.3.). Viertens ist klar, dass Teile der naturwissenschaftlichen Forschung sich einer weitgehenden Manipulation der Randbedingungen von Beobachtungssituationen bedienen, d. h. die Form von Experimenten, genauer: von Laborexperimenten, annehmen. Dieser Umstand weckt die komparative Neugier, ob es dann wohl auch genuin ethische Laborexperimente gibt oder gegeben hat. Selbst wenn es aber keine ethischen Laborexperimente gibt, wäre immer noch zu überlegen, warum es sie dann eigentlich nicht gibt? Sind diese prinzipiell ausgeschlossen und welches Prinzip besorgt dann ihre Unmöglichkeit? (3.4.) Oder wäre bei Abwesenheit solcher Negativ-Prinzipien vielleicht der Versuch einer Einführung ethischer Experimente zum Zwecke der epistemischen Verbesserung des praktischen Denkens ratsam? Thematisieren wir die Ratsamkeit einer Tätigkeit, ist damit angezeigt, dass wir diese damit implizit nicht nur einer singulären, sondern einer ganzheitlichen praktischen Beurteilung unterwerfen. In diesem Zuge wäre es zudem interessant zu wissen, welche praktische Meta-Bewertung von praktischer und naturwissenschaftlicher Sinneswahrnehmung sowie Beobachtung sich empfiehlt (3.5.). Zuvor jedoch noch ein Wort dazu, wie sich dieses neue Themenfeld in die gegenwärtige Abhandlung einfügt. Um es kurz zu machen, würde ich sagen, dass wir die Punkte 1–3 der komparativen Erkennt158
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nistheorie zuschlagen sollten, da dabei noch die fundamentalen Erfahrungsrelationen von Ethik und Naturwissenschaft berührt sind. Eine komparative Theorie von Punkt 4 kann hingegen schon deshalb nicht so klassifiziert werden, weil selbstverständlich die Naturwissenschaft ihre Erfahrungsrelationen nicht generell als Laborexperiment organisiert, beispielsweise nicht in der Astrophysik oder der Erforschung wildlebender Tiere. Daher sollten wir diesen Punkt besser einer komparativen Wissenschaftstheorie von Ethik und (Teilen der) Naturwissenschaft zuschlagen. Der letzte Punkt wiederum markiert überhaupt kein wissenschafts- oder erkenntnistheoretisches Problem, sondern berührt vielmehr die ›inhaltliche‹ Frage, wie wir perzeptive Praktiken vornehmlich non-epistemologisch zu bewerten haben. Angesichts dessen sollte die Schlussfolgerung eigentlich lauten, dass die letzten beiden Aspekte dem vorliegenden Projekt thematisch fremd sind. Ich denke, es lohnt sich aber dennoch auf sie einzugehen, weil dies einerseits Gelegenheit zu einer weiteren Kontrastierung des genauen Sinns des perzeptiven Egalitarismus bietet, und andererseits, weil der begründete Verdacht besteht, dass einige Autoren versuchen, aus einer negativen metatheoretischen Bewertung praktischer Anschauung ein inegalitaristisches Argument abzuleiten.
3.1. Testbarkeit Kommen wir aber zunächst zum Problem der Testbarkeit praktischer Überzeugungen. Um dazu eine Lösung nicht von Beginn an unnötig zu erschweren, ist es zweckdienlich, vorerst von den weiteren Komponenten des Beobachtungsbegriffs abzusehen. Das heißt, ich möchte zunächst nur die epistemische Lage eines einzelnen Denkers ohne Hinzunahme von Zweit- oder Drittbeobachtern betrachten und gleichsam vernachlässigen, ob seine Lage durch seine realisierten epistemischen Ziele bedingt ist oder die absichtliche Manipulation der Wahrnehmungssituation involviert. In den nächsten Abschnitten können wir dann sukzessive Komplikationen einführen. Werden die praktischen Überzeugungen dieses ›monologischen‹ Denkers nun empirisch testbar sein bzw. eigentlich relevant: Ist die empirische Testbarkeit praktischer Überzeugungen komparativ irgendwie problematischer als die naturwissenschaftlicher Überzeugungen? Im Vorlauf zu einer Antwort lohnt es sich, mit einer Präzisierung des BePraktische Anschauung
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griffs empirischer Testbarkeit anzufangen. Denn Testinstanzen für Überzeugungen kennen wir viele: Es gibt den Konsistenztest, Gedankenexperimente und damit eng verwandte literarische Experimente, es gibt die introspektive Selbstvergewisserung über die eigenen Überzeugungen, das diskursive Zur-Diskussion-Stellen von Meinungen und im praktischen Bereich einen von der perzeptiven Überprüfung partiell verschiedenen Test gegen Emotionen (s. Kap. 4.4.iv). Da es bei all diesen Prozessen um eine Art der Überprüfung von Überzeugung und ebenso meist um empirische Inhalte geht, sollten wir zur Vermeidung von Doppeldeutigkeiten ein Schema für empirische Tests konkretisieren: (SET) Wenn der Schluss T ^ h1 ^ h2 ^ … ^ hn � B aus Sicht des Denkers D eine gültige Inferenz darstellt, wobei – zu einem fixen Zeitpunkt t für D – T einen unbeobachtbaren ›theoretischen‹ Inhalt, h1-hn eine Anzahl von Hintergrundannahmen und B einen Inhalt markiert, hinsichtlich dessen die Welt beobachtbar ist, dann ist B ein empirischer Test für T, insofern Ds Beobachtungsurteil, dass B, als Bestätigung, für sein alternatives Beobachtungsurteil, dass ~B, hingegen als Gegengrund gegen T zählen würde. Zu diesem Schema gleich zwei Anschlusskommentare. Erstens könnte es Verwunderung hervorrufen, dass ich mit ihm eine Differenz zwischen Beobachtung und Theorie evoziere, während ich bei der Diskussion perzeptiven Inhalts eher auf eine Destruktion dieser Unterscheidung abgezielt habe (s. 2.2.). Deshalb sollte ich noch einmal hervorheben, dass ich oben nur für ihre Einebnung argumentiert habe, sofern diese als eine absolute Differenz begriffen wird. Auch wenn wir die These fallen lassen, dass sich unser Begriffsschema notwendig immer ›mit genau derselben Seite‹ der empirischen Erfahrung zuwendet, ist damit aber nicht die Möglichkeit einer kontextuellen Unterscheidung von Beobachtung und Theorie ausgeschlossen. Vielmehr bleibt es – trivialerweise – wahr, dass in jeder einzelnen Wahrnehmungssituation für jeden Denker gilt, dass die meisten seiner Überzeugungen nicht (zumindest nicht rational) perzeptiv geurteilt werden können. Sie stehen in einem geringeren oder größeren ›inferentiellen Abstand‹ zu seinen Beobachtungsurteilen. Da sich der perzeptive Kontext auch auf ein ganzes Kollektiv von Beobachtern beziehen lässt, ist damit ebenso nicht ausgeschlossen, dass diese Differenz von Beobachtung und Theorie unter Extrapolation individueller Erfahrungen aus vergangenen Wahrnehmungssituationen sowie die Übergänge zwischen den beiden 160
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Instanzen (Operationalisierung) auf reversible Weise institutionalisiert werden können, um die epistemische Praxis zu erleichtern. Worauf es mir oben ankam, war nur, dass, wie auch immer wir kontextuell diese Differenz ziehen, es ex ante gleichermaßen plausibel sein wird, praktische Inhalte im Vergleich mit naturwissenschaftlichen zu den perzeptiven Inhalten zu zählen. Zweitens ist noch eine kurze Erläuterung dazu nötig, was ich in dem Testschema SET mit einem ›Beobachtungsurteil B‹ meine. Da ich oben bereits alles über basale Transitionen hin zu einem Wahrnehmungsurteil von verschiedenen theoretischen Standpunkten aus gesagt habe, möchte ich hier Beobachtungsurteile B möglichst theorieneutral fassen. Dies soll bedeuten, B ist, was auch immer in der je vorausgesetzten Theorie der Sinneserfahrung als Wahrnehmungsurteil bzw. entsprechendes Analogon angesehen wird, etwa ein durch kausalen Kontakt mit der Umgebung verursachtes Urteil, ein Urteil für das der Denker eine perzeptive Berechtigung besitzt, eine diskursiv zugestandene nicht-inferentielle Festlegung oder ein Urteil, dessen Äußerung spontan angesichts von ›Umweltreizen‹ allgemeine Zustimmung hervorruft usw. Für die weitere Darstellung ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass im Rahmen einiger Theorien die Klasse der Wahrnehmungsurteile äußerst spärlich ausfällt. Legen wir etwa einen spartanistischen Nonkonzeptualismus zugrunde, würden nur Urteile wie ›Dort ist eine weiße, katzenförmige Gestalt vor dunklem Hintergrund‹ als echte Wahrnehmungsurteile zählen, gegen die die empirische Hypothese ›Nachts sind alle Katze grau‹ nicht direkt getestet werden kann. Da sich plausiblerweise aus dem ersten Urteil unter Zuhilfenahme von Hintergrundannahmen (›Wenn sich eine katzenförmige Gestalt in meinem Sichtfeld befindet, ist es wahrscheinlich eine Katze‹ ; ›Wenn der Hintergrund größtenteils dunkel ist, ist es wahrscheinlich Nacht‹ usw.) das Urteil ›Dies ist eine weiße Katze bei Nacht‹ ableiten lässt, ist dies auch an sich nicht weiter relevant, weil es nur die Länge der Inferenz aus SET erhöht. Zur Erleichterung der Darstellung bietet es sich an, ein Beobachtungsurteil B gegebenenfalls durch einen ›handlicheren‹ Inhalt zu ersetzen, der sich als Ergebnis von B und der Kette niederstufiger Inferenzen B ^ h1 ^ … ^ hk � Bpe ergibt. Wir können diese inferentielle Bündelung zu Bpe ein perzeptiv erwogenes Beobachtungsurteil nennen. Seine Einführung ist nicht zwingend erforderlich, erlaubt aber im Folgenden einen etwas laxeren Umgang mit der Rede von Beobachtungsurteilen. Praktische Anschauung
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Mit diesem Vorverständnis von empirischen Tests können wir nun überlegen, ob es im Vergleich mit naturwissenschaftlichen merkwürdig wäre, von einer empirischen Testbarkeit praktischer Überzeugungen auszugehen? Andererseits könnte man ad hoc allerdings ebenso fragen, ob wir an dieser Stelle überhaupt noch Anlass haben, diese Möglichkeit zu bezweifeln? Denn sofern ein Denker überhaupt über praktische Überzeugungen und überhaupt zu gewissen Beobachtungsurteilen gelangt, werden letztere zwangsläufig direkt oder indirekt im inferentiellen Kontakt mit praktischen Inhalten stehen und sich diesen gegenüber potentiell widerspenstig verhalten. Interessanterweise müssen wir dazu nicht einmal die im letzten Kapitel verteidigte These annehmen, dass das Beobachtungsurteil selbst praktischen Inhalt besitzen kann. Denn wegen der Supervenienz praktischer auf niederstufigere, nicht-praktische Eigenschaften, können auch Beobachtungen dahingehend, dass die konstitutiven Eigenschaften nicht so sind wie gedacht, ein praktisches Urteil untergraben. Für die Möglichkeit der gleichen Testbarkeit praktischer Überzeugungen brauchen wir also genau genommen nicht einmal den perzeptiven Egalitarismus vorauszusetzen. Ich sehe somit, ehrlich gesagt, nicht, welches tiefschürfende Rätsel an dieser Stelle noch verborgen sein könnte. Daher kann ich den Grundgedanken von Morton Whites (1981) diesbezüglich bahnbrechender Studie nur unterschreiben. Dieser lautet, dass es keinen Grund gibt, bei der rekonstruktiven Adaption der gerade beschriebenen, vornehmlich aus den Naturwissenschaften bekannten epistemischen Struktur vor der Ethik halt zu machen, sondern dass wir besser von einem ›Korporatismus‹ ausgehen sollten, der praktische Überzeugungen ebenso wie nicht-praktische vor das Tribunal der Erfahrung stellt (vgl. ebd. 17 ff.). Gegenüber den Details von Whites Arbeit und der von Müller (2008), der direkt an diese anschließt, scheinen mir allerdings einige wichtige Präzisierungen und Korrekturen geboten, die ich im verbleibenden Teil dieses Abschnittes beschreiben möchte. Erstens müssen wir als einschränkende Bedingung für die praktischen Inhalte, die in das Schema für empirische Tests eingesetzt werden dürfen, deren Non-Apriorität annehmen. Denn, wie ich bereits bei der Erörterung perzeptiver Berechtigung ausgeführt hatte (s. 2.3.v), ist p ein Inhalt a priori, dann ist er wahr in jeder möglichen Welt bzw. wahr in der aktuellen Welt, was auch immer die aktuelle Welt ist. Deshalb kann er unter Umständen perzeptiv geurteilt, aber durch empirische Erfahrung weder bestätigt noch übertrumpft werden. Apriorität 162
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eines Inhaltes verunmöglicht zwar nicht eine perzeptive Urteilsberechtigung für diesen Inhalt unter günstigen Bedingungen, wie das Beispiel mathematischer Sinneswahrnehmung demonstriert, aber es verunmöglicht die empirische Testbarkeit. Was hingegen durchaus möglich ist, ist, dass bestimmte Inhalte als apriorisch fehlidentifiziert werden und im Zuge der Forschung überraschend verworfen werden müssen, z. B. das Urteil ›Der physikalische Raum ist ein euklidischer Raum‹. Ebenso wäre es denkbar, dass ein apriorischer Inhalt aufgrund empirischer Erfahrung angezweifelt wird, ein Denker also diesbezüglich seine Gewissheit verliert. In diesem Fall müsste man aber wohl sagen, dass dieser Übergang genau genommen irrational ist. Ist der Inhalt genuin a priori, kann er nicht auf rationale Weise empirisch übertrumpft werden und wir müssten, falls dieser Inhalt gelegentlich als perzeptiver Inhalt fungiert, von einer Art ›Applikationstheorie‹ der empirischen Erfahrung in dieser Hinsicht ausgehen. Wie dem auch sei, auch wenn es höchstplausibel ist, dass mindestens einige praktische Inhalte Inhalte a priori sind, wird dies dennoch für die meisten nicht gelten und das bedeutet, dass diese somit auch empirisch testbar sind. White übergeht in seiner Studie die Einschränkung der NonApriorität. Dies liegt daran, dass sein ›Korporatismus‹ lediglich eine Erweiterung von Quines Holismus um den Bereich des praktischen Denkens darstellt. Der Holismus macht es in semantischer Perspektive unglaubwürdig, dass wir von einzelnen Inhalten in Isolation von anderen sagen können, sie hätten für sich genommen eine bestimmte Bedeutung und gälten durch die spezielle Kombination der für diese Bedeutung konstitutiven Begriffe a priori. Daher stellt der Holismus ein Argument für den Empirismus dar und in diesem Zuge verwundert es nicht, dass White es prinzipiell für möglich hält, dass selbst die Gesetze der Logik im Lichte neuer Erfahrung verworfen werden (vgl. White 1981: 25). Während die Angelegenheit für White (und Quine) an dieser Stelle tatsächlich entschieden sein dürfte, muss man doch im Lichte der Gegenwartsdebatte sagen (vgl. z. B. Bonjour 1998: Kap. 3), dass zum Apriorismus bei weitem noch nicht das letzte Wort gesprochen ist und wir daher die obige Bedingung mindestens als einen möglichen Vorbehalt ansetzen sollten. In diesem Zuge sind als zweite Präzisierung auch noch einige Kommentar zu der Idee von White und Müller angebracht, dass wir bei jedem empirischen Test stets Konjunktionen von Überzeugungen testen (vgl. Müller 2008: Kap. 5; White 1981: 21 ff.), was im WesentPraktische Anschauung
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lichen eine Umformulierung des holistischen Gedankens von Quine ist, dass wir unsere Überzeugungen stets ›als Ganzes‹ dem Erfahrungstribunal gegenüberstellen. Diese These kann auf verschiedene Weise verstanden werden und nur eine davon richtig. Sie ist richtig, insofern wir unter der Annahme, dass eine Vorhersage über Beobachtbares durch die Inferenz T ^ h1 ^ … ^ hn � B(pe) zustande kam und dass bei der tatsächlichen Beobachtung aber ~B(pe) resultierte, prima facie die Konsistenz unseres Überzeugungssystems durch beliebiges Verwerfen entweder des Beobachtungsurteils, der empirischen Hypothese T oder einer der Hintergrundannahmen h1–hn widerherstellen können. Hingegen wäre es falsch zu behaupten, bei jedem empirischen Test wären alle doxastischen Anpassungen gleich plausibel. Selbst wenn wir von der Existenz genuin apriorischer Einsichten absehen, werden verschiedene Überzeugungen eines Denkers nämlich immer noch verschieden zentral, d. h. unterschiedlich gut begründet, sein, weshalb nicht alle Anpassungen gleichermaßen vernünftig sind. Falsch wäre es ebenso hinsichtlich unseres Erkenntnisinteresses von einer Parität zu sprechen. Denn bei jedem absichtlichen empirischen Test wird die Hypothese T, nicht aber die Hintergrundannahmen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dieses Interesse mag man als logisch irrelevant ansehen. Dazu wäre aber anzumerken, dass wir komplementär zu diesem Interesse die Struktur des Tests üblicherweise so anlegen werden, dass die Hintergrundannahmen relativ gewiss, die Hypothese hingegen relativ ungewiss ist. Deshalb wird bei einer fehlgeschlagenen empirischen Prüfung meist das Verwerfen von T die naheliegende Option sein. Andererseits bringt das Erkenntnisinteresse zwangsläufig mit sich, dass nur die für die Inferenz hin zu einem erwarteten Beobachtungsurteil verwendeten Hintergrundannahmen h1– hn explizit Teil der testbezogenen Deliberation sein werden. Dies schließt aber nicht aus, dass es letztlich eine weitere implizite Annahme hk sein könnte, die verworfen werden muss. 39 Schließlich neigt White zu einer dichotomischen Gegenüberstellung von Sinneserfahrung auf der einen und unserem Überzeugungssystem bzw. einer ausgewählten Konjunktion von Überzeugungen auf der anderen Seite (vgl. ebd. 18). Dies suggeriert, dass der ›Aufprall‹ widerspenstiger empirischer Erfahrung sich quasi über alle Überzeugungen bzw. eine konjunktive Untermenge gleichverteilt. Tatsächlich aber wird nach jeder Erfahrungskonzeption jede Beobachtung einen klar definierten doxastischen Druckpunkt besitzen. Dies soll bedeuten, dass eine einzelne kritische Beobachtung stets einen klar umrissenen propositionalen Inhalt hat und durch diesen Inhalt auch zunächst
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Dies gesagt, möchte ich ein Beispiel Whites für empirische Tests im praktischen Bereich kommentieren. Ich führe es in konzentrierter Fassung auf (vgl. ebd. 30): Ü1. Der Modus Ponens ist eine gültige logische Schlussregel. Ü2. Einen Menschen zu töten, ist (immer) falsch. Ü3. Jeder lebende Fötus im Körper eines Menschen ist ein Mensch. Ü4/V. Die Mutter tötet den Fötus in ihrem Körper und dies ist falsch. B. Die Mutter tötet den Fötus in ihrem Körper und dies ist richtig. Der Grundgedanke des Beispiels wäre, dass Ü1–Ü4 inferentiell auf die Vorhersage führt, dass die Mutter etwas Falsches tut, wenn sie abtreibt, während dem Beispiel nach die anschließende Beobachtung B in praktischer Hinsicht mit der Vorhersage konfligiert. Dies impliziert zunächst die Negation der Konjunktion von U1–Ü4. 40 Nach Auffassung von White ist es nun zwar einerseits denkbar, die Beobachtung als fehlerhaft zurückzuweisen, prinzipiell aber ebenso möglich, jede der Ausgangsüberzeugungen zu verwerfen, um Konsistenz zurückzuerlangen (vgl. ebd.). Abgesehen von der Option, das logische Gesetz in Ü1 zu verwerfen, was wegen dessen wahrscheinlicher Apriorität nicht rational möglich sein dürfte, lautet die besondere Pointe des Beispiels, dass wir in der Abwägung von nicht-praktischen und praktischen Überzeugungen gegebenenfalls die nicht-praktischen zugunsten der praktischen verwerfen könnten. Das heißt, unter Umständen könnten wir den Gedanken, dass Föten Menschen sind, fallen lassen, um die Generalität des Tötungsverbots aufrechtzuerhalten. Ich halte dieses Beispiel für misslungen. Dabei will ich gar nicht bestreiten, dass es eventuell situativ für einen Beobachter rational sein könnte, ad hoc Ü3 zu verwerfen, um Ü2 beizubehalten. Whites Ausnur mit doxastischen Inhalten in Konflikt gerät, die sich in ›logischer Nähe‹ zu ihm befinden. Es mag dann und wird oft so sein, dass dieser Konflikt im Nachhinein inferentielle Konsequenzen zeitigt, die weiter ins Innere unseres Überzeugungssystems hinreichen, aber dies ist dann bereits das Nachspiel der Beobachtung. Wir sollten die holistische These also nicht so verstehen, als würde sie uns dazu zwingen, den Gedanken aufzugeben, dass sich in der empirischen Erfahrung stets nur ganz bestimmte Erfahrungsinhalte und ganz bestimmte Überzeugungen gegenüberstehen. 40 White würde hier davon ausgehen, dass wir den nicht-praktischen Teil gegen unsere Sinneserfahrung, den praktischen Teil hingegen gegen unsere Emotionen testen. Ich werde argumentieren, dass dies bei genauerer Betrachtung eine unechte Alternative ist und wir bei Auflösung der Dichotomie empirisch/praktisch ebenso die Dichotomie von Emotion und Sinneswahrnehmung fallen lassen sollten. An dieser Stelle übergehe ich diese Komplikation vorerst. Praktische Anschauung
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führungen suggerieren aber, dass wir es in einem weiteren epistemischen Kontext immer noch als vernünftig ansehen würden, wenn ein Denker Ü3 aufgibt, weil er an seinem moralischen Grundsatz festhalten möchte, und dies ist ein Trugschluss. Im Nachspiel der Beobachtung werden wir es allenfalls als gestattet ansehen, wenn ein Individuum die widerspenstige Beobachtung aus dem Beispiel und die geahnte Plausibilität eines generellen Tötungsverbotes als Anlass dafür nimmt, über seinen Begriff eines Menschen zu reflektieren. In dessen Folge mag er zu dem Ergebnis kommen, dass Föten einige relevante Eigenschaften von auf der Straße anzutreffenden Menschen abgehen, während er vorher implizit diesbezüglich falsche Annahmen hatte, beispielsweise davon ausging, dass Föten einfach nur sehr kleine Menschen sind. Dies wird aber der Grund sein, weshalb es am Ende – eine entsprechende moralische Interpretation von Abtreibungen vorausgesetzt – vernünftig sein könnte, Ü3 zu verwerfen, ebenso wie selbstverständlich auch das vorausgesetzte Tötungsverbot nur deshalb Sinn ergibt, weil Menschen üblicherweise gewisse schützenswerte Eigenschaften besitzen, die sie deontologisch unantastbar machen. Alles andere wäre an dieser Stelle eine Verkehrung der Begründungsrichtung und ein Urteilen nach dem Prinzip ›Weil nicht sein kann, was nicht sein darf‹. Ich stimme daher Olaf Müller im Wesentlichen zu, wenn er die Grundanlage von Whites Beispiel verwirft (vgl. Müller 2008: 94 f.). Dennoch unterläuft Müller ein Missverständnis bei der Interpretation dieses kritischen Punktes. Nach seiner Darstellung stünden die ›Ehre‹ und der ›Respekt‹ vor der Ethik erneut auf dem Spiel, wenn zwischen praktischen, supervenienten und nicht-praktischen, konstitutiven Eigenschaften keine Symmetrie dahingehend besteht, dass bei widerspenstiger Erfahrung Überzeugungen aus beiden Kategorien nach dem Belieben des betroffenen Denkers verworfen werden können. Dass diese Art der Willkür aber nicht gestattet ist, ist lediglich der unstrittigen Supervenienz des Praktischen auf das Nicht-Praktische geschuldet, die auf der Ebene der mentalen Inhalte einen repräsentationalen Bezug praktischer Aspekte auf ihre konstitutiven Basiseigenschaften erfordert. Dass in dieser Hinsicht tatsächlich eine Asymmetrie von praktischen und beispielsweise physikalischen Eigenschaften besteht, summiert sich aber mitnichten zu einer Differenz hinsichtlich erkenntnistheoretischer Prinzipien – wenn es dies ist, was Müller mit ›Respektabilität‹ meint. Dass Überzeugungen über konstitutive Eigenschaften grundsätzlich 166
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nicht zugunsten praktischer Überzeugungen verworfen werden können, tangiert weder den Tatbestand der gleichen Wahrnehmbarkeit des Praktischen noch den der empirischen Testbarkeit. Daher ist Whites These zu dem Beispiel zwar falsch, aber es ist völlig irrelevant, dass sie falsch ist. Ungünstig ist dieses Ergebnis momentan nur deshalb, weil wir damit noch immer kein illustratives Beispiel für einen empirischen Test praktischer Überzeugungen gegeben haben. In der Tat stellt sich bei mir der Eindruck ein, dass White und andere Autoren in diesem Punkt völlig richtig liegen, aber mit ihren Beispielen für gehörige Verwirrung sorgen. Daher möchte ich als dritte Korrekturmaßnahme noch einige weitere Fälle von empirischen Tests benennen, die schlechte bzw. wenigstens nicht paradigmatische Beispiele für die Tests praktischer Überzeugungen darstellen. Anschließend komme ich dann zu einigen genuinen Beispielen für eine observational angeleitete Korrektur praktischer Urteile. So können wir erstens leicht ersehen, dass es eine ganze Reihe möglicher empirischer Tests gibt, die nicht genuin praktisch sind, aber dennoch praktische Begriffe involvieren. Angenommen wir wüssten von einem Individuum, dass es momentan den folgenden bewussten Gedanken hegt: ›Das ist aber unmoralisch!‹. Dann können wir ihn selbstverständlich zum Gegenstand einer ganzen Reihe empirischer Untersuchungen machen. Wir könnten psychologisch untersuchen, was ihn zu diesem Gedanken bewogen haben mag. Wir könnten neurologisch untersuchen, was in seinem Gehirn vor sich geht, während er diesen Gedanken denkt. Wir könnten auch soziologisch uns dafür interessieren, ob es andere Individuen gibt, die zurzeit einen Gedanken gleichen Inhalts hegen und auf ähnliche Weise zu diesem Gedanken gelangt sind usw. Bei Beobachtungsurteilen und Hypothesen im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen werden praktische Begriffe involviert sein. Aber da diese Urteile jeweils intentionale Kontexte generieren – ›Während A denkt, ›Das ist aber unmoralisch!‹, zeigt sein Gehirn diese und jene Aktivität‹ – sind sie selbst keine praktischen Urteile im engeren Sinne. Was demgegenüber bei jenen Studien offen bliebe, wäre, ob denn das, woran A denkt, tatsächlich unmoralisch ist. Diese empirische Frage steht nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Daher sollten wir in Bezug auf diese empirischen Tests, besser nicht von praktischen, sondern von praxisrelevanten Erfahrungstests sprechen. Praktische Anschauung
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Daneben führen eine Reihe der bereits erwähnten Autoren im praktischen Bereich Beispiele nach folgendem Schema an (vgl. Harman 1986: 59; Müller 2008: 78): P1. A ist ein guter Mensch. P2. Handlungen der Weise H sind (immer) verboten. K1. Also: A wird nichts Verbotenes tun. K2. Also: A wird jetzt nicht H tun. B. A tut H. _ A tut nicht H. Störend an Beispielen dieses Schemas ist, dass damit erneut suggeriert wird, praktische Begriffe könnten nicht in Beobachtungsurteilen fungieren. Dass ›verboten‹ aber in einem Beobachtungsurteil vorkommt, ist ebenso möglich, wie dass die Begriffe ›Individuum A‹ ›tut‹ oder ›Handlungsweise H‹ in ihm auftauchen. Wichtiger aber ist, dass das Schema erneut keinen genuinen praktischen Erfahrungstest darstellt, da offenkundig die Fragen, warum Handlungsweise H verboten ist oder warum A ein guter Mensch ist, selbst nicht sein Thema sind. Was hier primär getestet wird ist vielmehr ein hypothetischer Kausalzusammenhang zwischen bestimmten Charaktereigenschaften und sukzessiven Handlungsweisen eines Akteurs. Dass dieses Schema so große Aufmerksamkeit gefunden hat, dürfte daran liegen, dass die genannten Autoren die Erklärungskraft praktischer Eigenschaften mit der Vorhersagekraft praktischer Urteile zusammenwerfen. Da man im Anschluss an Harman hinter dem explanatorischen Aspekt ein metaethisches Problem vermuten könnte, glauben sie, sie müssten die Frage der Testbarkeit an derartigen Beispielen diskutieren. Dazu ist zweierlei anzumerken. Erstens, wie ich im letzten Kapitel ausgeführt hatte, genügt es nachzuweisen, dass praktische Eigenschaften das praktische Denken erklären, um den explanatorischen Einwand zu entkräften, eine Erklärung auch des (nicht-mentalen) Handelns praktisch Denkender wäre zwar wünschenswert, aber dazu gar nicht erforderlich. Zweitens lässt sich aber nun die Frage der Vorhersagekraft gänzlich isoliert von der explanatorischen Frage erörtern. Es ist ein Missverständnis zu denken, eine Prognose über zukünftige Beobachtungen müsse notwendig eine Prognose über einen Kausalzusammenhang involvieren. Dass dies falsch ist, zeigt bereits die Prognosekraft mathematischer Urteile. Denn selbstverständlich lässt sich das Urteil ›2 + 2 = 4‹ zur Prognose nutzen, nämlich zu der Prognose, dass wir niemals zwei Pärchen einer Art X wahrnehmen werden, die zusammengenommen mehr als vier Individuen abgeben – es sei denn, man wolle 168
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sagen, die Tatsache, dass zwei plus zwei vier ergibt, ›bewirke‹, dass zwei Pärchen der gleichen Art niemals mehr als vier Individuen darstellen. Ebenso lassen sich praktische Urteile für Prognosen nutzen, indem nämlich unabhängig von ihren kausalen Folgen ihre evaluativen Konsequenzen prognostiziert werden. 41 Selbstverständlich lässt sich etwa aus dem Satz ›Alle freundlichen Handlungen, sind (konklusiv) gut‹ die Prognose ableiten, dass wir niemals eine Handlung beobachten werden, die freundlich, aber nicht konklusiv gut ist. Damit ist zu guter Letzt der Weg für die Beispiele frei, die wirklich paradigmatisch für empirische Tests praktischer Überzeugungen sind und illustrieren, wie Individuen ihr praktisches Wissen bzw. ihre praktischen Überzeugungen durch empirische Erfahrung entwickeln: Einzelne Individuen werden ihre epistemische Biographie oft mit überbordenden Allsätzen beginnen, wie ›Alle grausamen Handlungen sind schlecht‹, ›Höflichkeit und Freundlichkeit bedingen einander‹, ›Diebstahl zeugt von Verschlagenheit‹, ›Man sollte sich nie gegenüber anderen respektlos verhalten‹. Im Zuge neuer und überraschender Erfahrung werden sie aber potentiell einsehen, dass es auch notwendige Grausamkeiten gibt, dass zwischen Höflichkeit, Freundlichkeit und Unterkühlung ein Unterschied besteht, dass Diebstähle rein aus der Not heraus begangen werden können, dass Differenzen zwischen Verschlagenheit, Gerissenheit und Schlitzohrigkeit vorliegen und das Respektverletzungen sehr angenehm sein können, wenn sie auf charmante Weise vollführt werden. Lassen wir den nicht überzeugenden Teil von Whites Beispiel aus, können wir auch die Prüfung des Tötungsverbotes durchaus als Gegenstand empirischer Tests ansehen. Als Prima-FaciePrinzip verstanden könnte dieses ein praktischer Grundsatz a priori sein, als rigoroser Allsatz wird er aber Gegenstand empirischer Kritik sein, so dass sich, von relativ unkontrovers nach relativ umstritten geordnet, im Lichte neuer Erfahrung ergeben könnte, dass Tötung aus Deshalb ist es auch doppelt merkwürdig, welche Korrespondenz Müller in diesem Punkt mit Carnap pflegt. Letzterer schreibt, »From the statement ›Killing is evil‹ we cannot deduce any proposition about future experiences.« (Carnap 1996: 24/25, zitiert nach Müller 2008) Woraufhin Müller entgegnet: »… Carnap hat recht, dass der von ihm angeführte moralische Satz alleine keine verifizierbaren Konsequenzen nach sich zieht« (Müller 2008: 89). Denn beide Aussagen sind falsch. Das Urteil ›Töten ist (immer) schlecht‹ impliziert die (günstigenfalls) beobachtbare, evaluative Konsequenz, dass wir niemals eine Tötungshandlung beobachten werden, die gut ist, und dies völlig unabhängig von Zusatzprämissen. 41
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Notwehr, Tötung im Zuge legitimer militärischer Konflikte, Tötung bei Schwangerschaftsabbrüchen oder Tötung als Sterbehilfe nicht verboten sind. Sicher, ein Denker könnte in vielen dieser Fälle auch inferentiell zu entsprechenden Modifikationen gelangen, aber stellen wir uns seine Umgebung und seine begrifflichen Fähigkeiten als günstig vor, kann er dies auch beobachten und in vielen realen Fällen wird dies auch wirklich die Weise sein, wie jene doxastischen Reformen angeleitet werden. Dies demonstriert uns, dass praktische Überzeugungen, sofern sie nicht a priori gelten, in gleicher Weise wie naturwissenschaftliche Überzeugungen dem Tribunal der Erfahrung gegenüberstehen.
3.2. Experimentum Crucis und Konvergenz Imaginieren wir die Empirie zur Illustration als einen Gerichtshof, dann sollten wir für eine angemessene Detailtreue in den Gerichtssaal nicht nur den Angeklagten und den Richter, sondern auch Verteidiger, Staatsanwalt und Schöffen hineindenken. Ebenso sollten wir der Statik des Bildes eine gewisse Dynamik verleihen. Diese müsste wohl darin bestehen, dass vor dem Gerichtshof sukzessive Beweismaterial vorgelegt wird, das entweder für oder gegen die Schuld des Angeklagten spricht. Dabei dürften wir nun zumindest hoffen, dass wir mit einer zunehmenden Fülle von Indizien auf einige stoßen werden, die eindeutig die Schuld oder Unschuld des Angeklagten belegen, so dass wir ausgehend von potentiell divergenten Vormeinungen zu dem Fall unter den Personen im Raum zu dem optimalen Resultat eines einstimmigen Urteilsspruchs gelangen. Übersetzen wir diese juristische Allegorie zurück in ihr reales Pendant, liegt es nahe, die beisitzenden Schöffen, vielleicht auch Staatsanwalt und Verteidiger, mit den Zweitbeobachtern zu identifizieren, die den Protagonist einer Beobachtung unter dem Anklagepunkt perzeptiver Irrationalität schuldig oder freisprechen können, wenn dafür im wahrsten Sinne des Wortes in ihren Augen Anlass besteht. Hinsichtlich des genauen Verlaufs dieses Prozesses drängt sich die Ahnung auf, dass die Beobachtung analog zu hieb- und stichfesten Indizien in einem Gerichtsverfahren auf rationale Weise bei allen beteiligten Beobachtern eine Konvergenz von den Überzeugungen bewirken wird, die diese Beobachtungssituation betreffen. Eine Episode kollektiver empirischer Erfahrung mit der richterlichen Gabe, doxastische Di170
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vergenz in Konvergenz zu überführen, nennen wir traditionell ein Experimentum Crucis. Da uns auch diese epistemische Instanz dem Hörensagen nach wiederum vornehmlich aus den Naturwissenschaften bekannt ist, wäre zu überlegen, ob wir die Rede von einem observationalen Test praktischer Überzeugungen auch beibehalten können, wenn wir diesen als ein kollektives Projekt mehrerer Beobachter vorstellen. Oder sollten wir sagen, dass damit das Andichten des Gerichtshofes der empirischen Erfahrung an das Nachdenken über das Gute, Richtige und Gesollte endgültig kafkaesk wird? Offenbar können wir unter der Überschrift eines Experimentum Crucis verschiedene Dinge verstehen. Zunächst einmal können wir uns ein theoretisch noch unbedarftes Individuum vorstellen und dann überlegen, welche empirische Erfahrung dieses wohl benötigen könnte, um unsere Sicht der Dinge nachzuvollziehen. Das heißt, wir setzen voraus, dass wir sowohl um die Beschaffenheit der belebten und unbelebten Natur als auch darum, was zu tun ist, wissen, und fragen nun welche empirischen Erfahrungsepisoden wohl individuell unabdingbar sein werden, um dieses Wissen zu erwerben. Dass wir im naturwissenschaftlichen Bereich solch entscheidende Erfahrungen benennen können, scheint erst einmal recht offensichtlich. Als Beispiel könnten wir hier etwa den rutherfordschen Streuversuch anführen. Bei diesem werden α-Teilchen auf eine dünne Goldfolie geschossen und auf der Kehrseite deren Ablenkungswinkel gemessen. Die relative Seltenheit starker Ablenkungen zeigt dabei, dass die α-Teilchen die Goldfolie meist ungehindert passieren können. Daraus wiederum kann geschlossen werden, dass die Atommasse im Atom nicht gleich verteilt ist, sondern sich fast vollständig auf den relativ kleinen Atomkern konzentriert. So trägt das Experiment zum Verständnis eines zentralen Aspekts des zeitgenössischen Atommodells bei. Können wir solch entscheidende Erfahrungen auch im praktischen Bereich auffinden? Nun, es dürfte beispielsweise eine sehr realistische Schilderung abgeben, wenn wir sagen, dass es für das individuelle Verständnis vom menschlichen Wohlergehen und einer guten Ordnung äußerst bedeutend ist, dass selbst die Erfahrung harmonischen Zusammenlebens in Familien und Gemeinschaften gemacht wurde und dass dieses Verständnis sich durchaus radikal – und durchaus rational – anders entwickeln kann, wenn stattdessen vornehmlich die Erfahrung von Streit und Konflikt gemacht wurde. Dabei müssen wir dem betroffenen Individuum nicht einmal Unkenntnis grundlegender, potentiell Praktische Anschauung
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apriorischer Moralprinzipien zuschreiben. Doch auch, wenn er oder sie prinzipielle Dinge wie die Würde von Vernunftwesen oder die Erforderlichkeit gesellschaftlicher Ordnung anerkennt, können wir doch einen von dem unseren deutlich unterschiedenen moralischen Phänotyp erwarten. Denn der oder die Betroffene könnte zu der Auffassung gelangen, dass gelungene Kooperation und soziale Harmonie zwar vielleicht nicht unmöglich, insgesamt aber doch recht unwahrscheinlich sind, und es daher für besser halten, wenn jeder gewissermaßen auf seinem eigenen Waldstück wohnen bleibt. Ich denke, dies ist eine gelungene Parallelisierung. Dabei ist allerdings Folgendes zu beachten. Man könnte die Formel vom Experimentum Crucis so auffassen, dass hier eine inhaltlich genau bestimmte Beobachtung absolut notwendig ist, um eine bestimmte Überzeugung bzw. eine Gemengelage von Überzeugungen (rational) zu erwerben. Dies bedeutete, dass es umgekehrt in Ermangelung dieser Beobachtung unmöglich wäre, dass ein Denker begründet diese Überzeugung(en) erwirbt. Auch wenn es denkbar ist, dass solche Fälle vorkommen, werden sie aber sehr selten sein. Denn selbst wenn wir die natürlich real meist gegebene Möglichkeit, Überzeugungen durch Hörensagen von anderen Beobachtern zu erwerben, vernachlässigen, können prinzipiell viele Wege zum Wissen führen. Deshalb können wir uns bei jeder Überzeugung p, die auf der Grundlage einer spezifischen Beobachtung B erworben wurde, ad hoc vorstellen, dass diese auch i) inferentiell aus anderen Überzeugungen abgeleitet werden könnte oder ii) auch durch eine andere Beobachtung B’ begründet werden könnte. Für die Unmöglichkeit einer solchen Substitution in einigen Fällen, müsste hingegen demonstriert werden, dass sich aus unseren empirischen Theorien zusätzlich starke Gründe ergeben, dass eine Überzeugung für alle Zeit nur durch Beobachtung B erworben werden kann, und es ist nicht zu sehen, wie dies gelingen könnte. Daher fahren wir besser mit der These, dass nach allem, was wir wissen, bestimmte individuelle Beobachtungen für den Erwerb bestimmter praktischer oder naturwissenschaftlicher Wissensfragmente stark förderlich sind, ebenso wie andere umgekehrt diesen Erwerb stark behindern und dass die obigen Beispiele paradigmatisch für solche Beobachtungen sind. Zu einer zu dieser etwas anders gelagerten Fragestellung gelangen wir hingegen, wenn wir nicht nur einen von ›uns‹, sondern einen beliebigen Zweitbeobachter mit einem ebenso beliebigen Erstbeobachter hy172
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pothetisch in einer Beobachtungssituation verorten und dann fragen, inwieweit die situativen Beobachtungen dieser beiden wohl entscheidend für eine Angleichung ihrer Überzeugungen, Urteile oder Theorien sein werden? Bei dieser Frage sind mehrere Aspekte mit variierendem Schwierigkeitsgrad zu beachten. Bevor ich dazu komme, lohnt es sich zur Einführung einen Blick auf eine Aussage zu werfen, die sich bei Alan Goldman findet. Dieser schreibt: »When moral disputes arise in any context, observational or otherwise, it may not help to position the disputants in direct causal relations to the object of disagreement.« (Goldman 1988: 181)
Wenn wir von dem in dem Zitat thematisierten Kausalitätsproblem bei praktischen Beobachtungen absehen, dass ich oben bereits erörtert habe, kann man diese Aussage auf drei Arten verstehen. Nach der ersten Interpretation will Goldman sagen, dass wenn ein Denker B1 glaubt, dass p, während ein Denker B2 glaubt, dass ~p, die perzeptive Konfrontation der beiden mit derselben Beobachtungssituation nie dazu führen wird, dass anschließend entweder beide glauben, dass p, oder beide glauben, dass ~p. Gegen diese Ansicht lassen sich aber leicht Gegenbeispiele produzieren. Angenommen, B1 glaubt, dass der neue Film eines Regisseurs schlecht ist und dass er dies glaubt, weil er in der Vergangenheit einige schlechte Filme dieses Regisseurs gesehen hat. Angenommen ebenso, B2 glaubt, dass der neue Film des Regisseurs gut ist und dass er dies glaubt, weil er eine wohlwollende Kritik eines renommierten Filmkritikers gelesen hat. Dann ist es in keiner Weise unrealistisch, das Beispiel so fortzuschreiben, dass seine beiden Protagonisten nun eine Vorführung des Films besuchen und hernach konsensuell zu dem Urteil gelangen, dass er gut (schlecht) ist. Bei dieser Gelegenheit wäre außerdem anzumerken, dass die Details der doxastischen Konvergenz in dem Beispiel keineswegs nur so ausgefüllt werden können, dass beide Denker symmetrisch die gleiche Beobachtung machen. Stellen wir uns nämlich vor, B2 sei selbst der Filmkritiker, können wir uns die Konvergenz auch so imaginieren, dass B1 nicht deshalb glaubt, dass der Film gut ist, weil er selbst dies beobachtet, sondern weil B2 dies beobachtet und er dessen Urteil für verlässlich hält. In dieser Interpretation wäre Goldmans These also genau genommen gleich doppelt falsch. 42 42
Bei dieser Gelegenheit bietet es sich an, in Ergänzung zu dem, was oben bei der Dis-
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Zweitens ließe sich Goldmans Aussage auch mit dem Fokus auf praktische Überzeugungen betrachten. Das ›könnte nicht helfen‹ mag dann besagen, dass, während eine kollektive praktische Beobachtung in einigen Fällen nicht zu Konvergenz führt, eine naturwissenschaftliche Beobachtung immer Konsens über das Beobachtete zeitigt. Doch auch kussion des Reliabilismus gesagt wurde, noch einige Worte zum Thema praktischer Expertise zu verlieren. Goldman zieht diese Möglichkeit nicht explizit in Betracht. Dies könnte aber daran liegen, dass er die Möglichkeit, sich in einer Beobachtungssituation streng analog zum Modell des Fährtenlesers auf das praktische Urteil in dieser Hinsicht kompetenter Beobachter zu verlassen, von vornherein als unplausibel ausschließt. Sollte dies so sein, muss ich sagen, dass ich nicht genau verstehe, welches epistemologische Rätsel hinter der Annahme praktisch-moralischer Experten verborgen sein könnte. Mancher Theoretiker scheint diesen Gedanken zu verwerfen, weil er dies unter dem Gesichtspunkt individueller Selbstbestimmung für irgendwie ungünstig hält. Dabei ist aber einerseits offensichtlich, dass es gar nicht darum geht, den Gedanken praktischen Expertentums generell zu verwerfen, sondern lediglich darum zu sagen, dass es beispielsweise in Bezug auf die individuelle Lebensführung eben je die Individuen selbst sind, die die Experten darstellen, und nicht etwa die Philosophenkönige, die Beamten einer staatlichen Bürokratie, die Kulturimperialisten etc. Eigentlich ist also nur umstritten, wer in welcher Hinsicht als praktisch kompetent zählen sollte. Andererseits ist die Existenz praktischer Experten auch in einem weiteren Rahmen eine zwangsläufige Folge der epistemischen Arbeitsteilung von Individuen, die das praktische Denken ebenso regiert wie jeden anderen Bereich der Deliberation. Daher ist nicht zu sehen, warum man die ansonsten sicher noble Aufforderung zum Selbstdenken zu dem Erfordernis verabsolutieren sollte, dass jeder Denker jederzeit jedes seiner praktischen Urteile inferentiell oder nicht-inferentiell, nicht aber durch Hörensagen begründen muss. Ein zweiter interessanter Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass, wie mir scheint, dieselben Theoretiker die den Gedanken praktischer Experten für anrüchig halten, auf der anderen Seite für den Bereich der Moral eine epistemische Asymmetrie postulieren, die auf ›besondere Art‹ den Chancen einer diskursiven Verständigung in praktischen Fragen abträglich ist. Aber diese beiden Thesen sind klar inkompatibel, da Expertentum und epistemische Asymmetrie in einem logisch reziproken Bedingungsverhältnis stehen. Experte zu sein heißt schließlich nichts anderes, als über gewisses Wissen oder die Fähigkeit zu gewissen Inferenzen oder Beobachtungen zu verfügen, im asymmetrischen Kontrast zu anderen Denkern. Das heißt, wenn im Bereich der Moral epistemische Asymmetrien vorliegen, dann muss es auch moralische Experten geben, und, wenn dieser Tatbestand auf spektakuläre Weise diskursive Verständigung in diesem Bereich verunmöglichen würde, dann müsste dies auch in jedem anderen Bereich, in dem es Expertentum gibt, geschehen. Lassen wir stattdessen diese viel zu grobschlächtigen Gegenüberstellungen beiseite und wählen eine weniger verfängliche Beschreibung der Sachlage, sollten wir hingegen Folgendes sagen. Erstens sind epistemische Asymmetrie und Expertentum omnipräsente Phänomene, die sich zu jeder Zeit, bei allen Denkern und allen Bereichen der Deliberation feststellen lassen. Solche Asymmetrien lassen sich selbst bei dem Wissen um völlig alltägliche Sachverhalte diagnostizieren. Beispielweise könnte ich in einem entlegenen
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in dieser Interpretation ist die These inakzeptabel. Denn angenommen, wir stellen uns einen Sauerstofftheoretiker und einen Phlogistontheoretiker in einer Situation vor, in der gerade ein Stück Kohle verbrannt wird. Beide werden deutlich andere Vorgänge beobachten bzw. genauer: Der Sauerstofftheoretiker wird einen Anschauungsgehalt verzeichnen, als ob sich dort gerade Kohlenstoff mit Sauerstoff zu Kohlendioxid verbindet, während sein Kollege sieht, als ob dort gerade das Phlogiston aus der Kohle entweicht. Wegen ihrer unterschiedlichen Ausgangstheorien und der Theorieabhängigkeit zumindest der genannten Aspekte ihrer sinnlichen Anschauung, wird diese Beobachtung konvergenzstrategisch folgenlos bleiben. Bei einem oberflächlichen Vergleich von Ethik und Naturwissenschaft mag man dem naiven Eindruck erliegen, eine naturwissenschaftliche Beobachtung würde immer, eine praktische hingegen fast nie kollektiv gleiche Überzeugungen (bzw. ›Gleichheit der Versuchsprotokolle‹) erbringen. Aber es sollte klar sein, dass diese Gegenüberstellung mehr als holprig ist. Vielleicht schwebt manchem eine Parodie vor, in der ein Pädagoge, ein Banker, ein Inder, ein alter Griechen etc., also stark heterogene Beobachter nebeneinanderstellt werden: Werden diese nicht in der Tat stets divergente praktische Beobachtungsberichte Waldgebiet eine Wildkatze beobachten, die gleich darauf im Unterholz verschwindet, so dass es physikalisch unmöglich sein könnte, für irgendeinen anderen Beobachter jemals diese Beobachtung zu verifizieren. Zweitens sollten wir uns hüten, den Tatbestand epistemischer Asymmetrie generell so auszulegen, dass Denker auf der rechten Seite der Ungleichung immer epistemisch weniger erfolgreich sein werden. Denn die Asymmetrie wird sich stets auf gewisse kognitive Ressourcen beziehen, die jedoch bei günstigen oder widrigen Umständen mehr oder weniger nützlich sein können. So lassen sich beispielsweise selbst, was das introspektive Wissen um die eigenen basalen Bedürfnisse und mentalen Zustände anbetrifft, leicht Fälle finden, in denen ein zweiter Betrachter ohne ›direkten‹ Zugang zu diesen Sachverhalten doch ›von außen‹ besser über diese urteilt, z. B. bei Selbsttäuschung des betroffenen Individuums. Daher ergibt es alles in allem mehr Sinn, von der epistemischen Asymmetrie unter Denkern in einem Bereich auf einen privilegierten Zugang der Denker auf der linken Seite der Ungleichung zu schließen (vgl. Davidson 2001b). Dieses epistemologische Verhältnis lässt sich zur Veranschaulichung gut mit der asymmetrischen Kriegsführung analogisieren: Obwohl eine konventionelle Armee bei oberflächlicher Betrachtung in mancher Hinsicht überlegen ist, besitzen doch auch die Guerilla eigene, andersartige militärische Ressourcen (Ausdauer und Zeit, Sympathie im Volk, Flexibilität), die ihnen zum Sieg verhelfen kann. Fälle von absoluter Dominanz bei Konflikten, denen im epistemologischen Bereich der exklusive Zugang zu Sachverhalten entspräche, werden hingegen recht selten sein und, falls sie existieren, sich jedenfalls nicht allein dem Bereich der Moral zuschlagen lassen. Praktische Anschauung
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produzieren? Ich denke nicht. Denn selbst bei einer Auswahl von solch, über den Daumen abgeschätzt, heterogenen Beobachtern wird es immer noch eine Fülle von Situationen geben, in denen diese gleiche praktische Beobachtungsberichte abgeben werden. Dies lässt sich empirisch mit hinreichender Gewissheit behaupten und folgt ansonsten bereits aus semantischen Gründen. Daneben sollte es einleuchten, dass der pauschale Vergleich solcher Konstellationen mit naturwissenschaftlich erwartbaren Beobachterkonstellationen methodologisch in mindestens zweifacher Hinsicht unsauber wäre. Erstens setzen wir dabei von vornherein im ethischen Fall Theoriedivergenz als Paradigma und Theoriegleichheit als Ausnahme an, während wir im naturwissenschaftlichen Fall Paradigma und Ausnahme genau umgekehrt vorgestellt werden. Zweitens ist der Vergleich der zwei Chemiker und der praktischen Beobachtern der eben erwähnten Parodie auch dahingehend schief, dass die Chemiker durch ihre berufliche Ausbildung in der gleichen Hinsicht als gleichermaßen kompetent gelten können. Im praktischen Fall hingegen lassen sich bei den Beobachtern partiell verschiedene praktische Kompetenzen diagnostizieren, weshalb jeweils nur bestimmte von ihnen verlässliche Beobachtungsberichte produzieren werden, wenn wir die Beobachtungssituation nach historischer Epoche, kulturellem Kontext oder gesellschaftlichem Subsystem variieren, während das Urteil anderer analog zu einem Laienurteil während eines chemischen Experiments ceteris paribus als irrelevant gewertet werden muss. Wie dem auch sei, lassen wir diese komparativen Unreinheiten beiseite, lässt sich doch wenigstens zunächst für die Naturwissenschaften anführen, dass angesichts singulärer Erfolglosigkeit von observationalen Konvergenzbestrebungen die Situation doch sicher nicht so aussichtslos ist, wie dies dem Anschein nach der Fall sein könnte. Denn auch wenn wir uns ein unversöhnliches Aufeinanderprallen von Phlogiston- und Sauerstofftheoretikern vorstellen können, lässt sich doch wenigstens in wissenschaftshistorischer Perspektive sagen, dass der Streit zwischen den beiden Theorien durchaus entschieden werden konnte. Die Experimente von Lavoisier, der durch Wägung der Edukte und Produkte von Verbrennungsreaktionen zeigen konnte, dass dabei keineswegs ein Wärmestoff entweicht, sondern vielmehr Sauerstoff dem resultierenden Oxid hinzugefügt wird, haben diese Entscheidung erzwungen. Und diesem Experiment lassen sich leicht weitere angliedern: Das Hafele-Keating-Experiment, dass den in der 176
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speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagten Effekt der Zeitdilatation zeigt, das Meselson-Stahl-Experiment, dass in der Biologie den Entscheid zwischen semikonservativer, konservativer und dispersiver Theorie der DNA-Replikation brachte, und auch schon der oben erwähnte Streuversuch von Rutherford, durch den das thompsonsche Atommodell verworfen wurde – um nur einige Beispiele zu nennen. Sollten wir daher diese erfreulichen Nachrichten aus der Wissenschaftsgeschichte nicht extrapolieren und schließen, dass sich langfristig immer mindestens eine Beobachtungssituation finden lässt, die einen Entscheid zwischen zwei naturwissenschaftlichen Lehrmeinungen erbringt, und in diesem neuen Aspekt einen Kontrast zu Ethik erblicken? Das heißt, wir könnten als dritte mögliche Interpretation von Goldmans These nunmehr so formulieren: Für jedes beliebige Paar divergierender naturwissenschaftliche Überzeugungen Ü1 und Ü2 bzw. partiell konfligierender naturwissenschaftlicher Theorien T1 und T2 gibt es mindestens ein Experimentum Crucis, das die Wahrheit von entweder Ü1 (T1) oder Ü2 (T2) demonstriert und daher bei allen vollständig rationalen Beobachtern diesbezüglich zu einer theoretischen Angleichung führt, während dies nicht für beliebige Paare praktischer Überzeugungen oder Theorien gilt. Dieser Punkt weist erkennbar große Ähnlichkeit mit bekannten Dissens-Argumenten aus der Metaethik auf, nach denen wir Meinungsverschiedenheiten vollständig rationaler Denker (sowie die Abwesenheit psychischer Störungen, begrifflicher Vagheit) in der Naturwissenschaft, nicht aber in der Ethik durch ›unterschiedliche Informationen‹ erklären können (vgl. Mackie 1977: 36; Stevenson 1937: 29; Wright 1992: 92 ff. u. a.). Denn wenn naturwissenschaftlicher Dissens von zwei rationalen Individuen durch Differenzen in ihrer epistemischen Biographie bedingt ist, sollte offenbar eine Untermenge der ungeteilten Beobachtungen empirisch entscheidend sein. Wir dürfen dann Konsens erwarten, sobald wir allen Individuen die jeweils fehlenden Beobachtungen ermöglichen. Da wir damit ein neues Thema aufmachen, nämlich die Diskussion der Chancen auf eine globale Konvergenz von Diskursen vis-àvis der geltenden epistemischen Gesprächsnormen, würde ich die Debatte an dieser Stelle gerne abbrechen. Leicht ersichtlich hätten wir dabei für eine befriedigende Antwort noch eine Fülle weiterer Aspekte zu erörtern. Dazu würde etwa gehören, welchen Sinn wir überhaupt im Praktische Anschauung
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Allgemeinen und insbesondere in der Ethik der Idee globaler Konvergenz von Beobachtern untereinander und hin zur Realität abgewinnen können sowie die damit wahrscheinlich verbundenen Idealisierungen nach dem Schema vom ›Ende der Forschung‹. Aber auch rein empirisch wäre mit Rückblick auf die Geschichte der Naturwissenschaften anzumerken, dass es entgegen der obigen, reichlich selektiven Darstellung ihrer Komplexität nicht gerecht würde, wenn man sie so darstellte, als wäre jeder Fall von Theoriekonkurrenz letztlich eindeutig durch ein bestimmtes Experiment entschieden worden. Wie wir spätestens seit den wissenschaftshistorischen Studien von Thomas Kuhn wissen, spielen bei Theorieumbrüchen oft eine Fülle sekundärer, d. h. nicht direkt observationaler Faktoren eine Rolle. Dazu gehört, wie gut eine Theorie konsistent mit unserem Weltbild überhaupt ist, inwiefern ›Anomalien‹ durch ad-hoc-Annahmen abgefedert werden können, wie plausibel und erklärungsmächtig die Alternativtheorien, wie langlebig die Hauptvertreter einer Position sind o. ä. (vgl. Kuhn 1976: v. a. Kap. 9). Daher wäre noch zu prüfen, ob die historischen Daten wirklich kontrastiv eine starke Konvergenzthese allein für die Naturwissenschaften verbürgen. Denn umgekehrt könnte man schließlich auch den Wandel von Werten und Normen partiell als empirisch angeleitet begreifen, beispielsweise den Übergang vom westfälischen zum postwestfälischen Völkerrecht (der natürlich in gebührendem inferentiellem Abstand zu einer Unzahl direkter Einzelbeobachtungen gedacht werden muss). Schließlich wären auch abstraktere epistemologische Erwägungen einzubeziehen. Dazu gehörte, inwieweit wir überhaupt theorieunabhängig die empirisch erworbenen ›Informationen‹ von Individuen bestimmen können. Selbst wenn dies aber möglich sein sollte, könnte man immer noch bezweifeln, dass tatsächlich intersubjektiv in jedem Fall Konsens herrscht, nachdem allen Beobachtern alle relevanten Informationen observational präsentiert wurden. Angenommen, ein Denker ist von einer Theorie T1 auf der Grundlage von Beobachtungsdaten D1 überzeugt, während ein zweiter Denker T2 auf der Grundlage von D2 glaubt. Wird nun dem ersten Denker D2 präsentiert, könnte er immer noch rational T1 für die plausiblere Theorie halten, weil er D2 ›im Lichte‹ von T1 anders betrachtet als ein Denker, der theoretisch noch unbedarft ist. Eventuell könnte also selbst bei vollständig rationalen Denkern Informationsgleichheit nicht zu Konsens führen, weil diese im Zuge der Angleichung von 178
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Beobachtungsdaten diese auf der Grundlage ihrer Ausgangstheorie gewichten. 43 Meine beste ad-hoc-Replik, die ich in dieser Abhandlung aber nicht mehr vollständig entwickeln kann, wäre, dass am Ende eine Antwort auf die Frage, ob globale Konvergenz in einem Diskurs möglich ist, spekulativ bleibt, weil wir dafür kein letztgültig anwendbares Identifikationskriterium besitzen, dass wir jedoch andererseits in jedem Diskurs diese Möglichkeit voraussetzen müssen. Deshalb lässt sich dieser Punkt nicht für ein inegalitaristisches Argument im Bereich der epistemischen Gesprächsnormen verwenden. Wichtiger an dieser Stelle ist hingegen, dass, selbst wenn die obige These wahr wäre und es in der Ethik einige ›harte Fälle‹ gäbe, die niemals durch neue kollektive empirische Erfahrung entschieden werden können, diese These trotzdem viel zu schwach wäre, um dem Gedanken abträglich zu sein, dass auch die kollektive Beobachtung des Guten, Richtigen und Gesollten prinzipiell eine epistemisch sinnvolle Tätigkeit ist. Dafür können wir, wie sich zeigt, schnell zahllose Beispiele anführen. Daneben sollte man zwei Dinge nicht vergessen. Erstens muss bei einer kollektiven Beobachtung Gleichheit der Beobachterberichte nicht das einzige Erfolgskriterium sein. Denn Divergenz könnte schließlich existierenden Dissens überhaupt erst ans Licht bringen und dadurch zu dessen Auflösung beitragen, so dass auch in diesem Fall observational etwas gelernt wurde. Zweitens ergibt sich daraus komplementär, dass die Frage, ob in einer Situation Individuen wohl verschiedene praktische Beobachtungsurteile fällen werden, oft erst hinterher entschieden werden kann. Deshalb lässt sich nicht ex ante der Sinn praktischer Beobachtungen abspenstig machen. Das Beste bzw. das Schlimmste, was wir damit aus Goldmans These herausholen können, ist somit der minimale Punkt, dass es eventuell einige harte Fälle von praktischem Dissens gibt, die sich im Gegensatz zu den Naturwissenschaften niemals durch kollektive Beobachtung auflösen lassen, ohne dass wir bisher ein klares Verständnis davon besitzen, welches diese Fälle sein könnten und ohne dass damit die grundsätzliche Durchführbarkeit solcher empirischer Tätigkeit im praktischen Bereich unterminiert würde.
Ein verwandtes, aber deutlich elaborierteres Argument zu diesem Aspekt präsentiert Crispin Wright (1992: 157 ff.).
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3.3. Ästhetische Kontemplation Auf eine weitere Möglichkeit, einen Kontrast zwischen dem Erfahrungsbezug von Ethik und Naturwissenschaften zu ziehen, bin ich beim Lesen von Martin Seels ›Ethisch-Ästhetischen Studien‹ gestoßen. Diese Möglichkeit bestünde darin zu sagen, die Ethik hätte im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zwar kein gespaltenes Verhältnis zur sinnlichen Anschauung, es käme bei ihr vielmehr darauf an, diesen Bezug auf eine bestimmte Weise herzustellen. In diesem Zuge analogisiert Seel die Betrachtung des Praktischen und die ästhetische Kontemplation. Letztere bringt er in Opposition zur (wissenschaftlichen) Beobachtung. Mit den Worten des Autors: »Auch die praktische Kontemplation ist ein nicht-realisierendes Verhalten, dem es vollzugsorientiert um eine bestimmte Art der sinnlichen Wahrnehmung – und um den Gegenstand dieser Wahrnehmung – geht. Insofern gleicht sie der ästhetischen Kontemplation. Einige Unterschiede jedoch sind festzuhalten. Zum einen handelt es sich bei dem Objekt dieser Wahrnehmung um einen ganz bestimmten Gegenstand. Es handelt sich um ein Gegenüber – um ein menschliches (oder auch tierisches) Individuum, das ein potenzieller Interaktionspartner menschlichen Handelns ist. Zweitens vollzieht sich die praktische Kontemplation vorrangig im Modus des Sehens. Drittens kommt es hier nicht allein auf die sinnliche Anschauung an. Die Betrachtung der Individualität des Anderen hat hier eine stark imaginierende Komponente; wir stellen uns vor, wie es ist oder wie es sein könnte, dieser – oder diese – Andere zu sein.« (Seel 1996: 268) Und: »Die Aggression eines Anstarrens ist der praktischen Kontemplation ebenso zuwider wie die Kalkulation eines Beobachtens.« (ebd. 269)
Seel erläutert leider seinen Beobachtungsbegriff nicht weiter, deshalb müssen wir bei der Bestimmung des Kontrastes etwas archäologisch vorgehen. Zunächst ist klar, dass die drei genannten Spezifika i) eines besonderen Gegenstandes, ii) der Vorrangigkeit des visuellen Modus und iii) dem Vorhandensein imaginierender Komponenten keinen Kontrast etablieren können, weil Beobachtung i’) gar nicht über ihren Gegenstand individuiert ist, ii’) sinnliche Anschauung sich (bei Menschen) immer primär visuell gestaltet und iii’) Beobachtung, wenn sie unter Einsatz begrifflicher Fähigkeit geschieht, stets eine imaginative Komponente hat. Daraus erhellt, dass der wesentliche Kontrast dabei eigentlich in der ›Vollzugsorientierung‹ bzw. der Zweck- oder Absichtslosigkeit der praktischen Kontemplation liegt, in der sie der ästheti180
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schen Kontemplation gleicht, von einer Beobachtung aber unterschieden ist. Da sich diese begriffliche Opposition durchaus mit meiner Bestimmung von ›Beobachtung‹ oben deckt, möchte ich sie kurz im Raum stehen lassen und zunächst zwei anderen Fragen nachgehen. Denn von vordergründigem Interesse wäre erstens, ob wir nicht sagen sollten, dass praktische, sinnliche Anschauung als Beobachtung der praktischen Einsicht eher abträglich, als zweckfreie Kontemplation hingegen zuträglich ist? Ich bin mir nicht ganz sicher, dass Seel dies sagen will. Da es aber dem Tenor des Textabschnittes entspricht, lege ich diese Lesart um des Argumentes willen zugrunde. Tatsächlich ergibt es ja zunächst einmal viel Sinn, dass die ästhetische Kontemplation als solche, wie Seel sie nennt, ein ›Verweilen‹ beim Gegenstand und qua Absichtslosigkeit das gleichwertige Nebeneinandertreten von wahrnehmbaren Phänomenen ermöglicht und so dem Betrachter Handlungsalternativen bzw. ›Spielräume‹ eröffnet, was sein praktisches Urteilsvermögen erweitert (vgl. ebd. 56 ff.). Nichtsdestotrotz scheint dieser gewiss förderliche Einfluss der Kontemplation auf das praktische Denken überhaupt nicht auszuschließen, dass ein Denker ebenso mit voller Absicht ein bestimmtes praktisches Wissen observational erwerben kann. Unter Voraussetzung von allem, was ich oben über perzeptive Berechtigung für praktische Urteile gesagt habe, könnte sich ein Individuum allein mit dem epistemischen Ziel, das relative Elend des Prekariats in Berlin-Neukölln zu beobachten, dort hinbegeben und dadurch zu wahren praktischen Überzeugungen über diesen Teil der Welt gelangen. Dies ist komparativ nicht unwahrscheinlicher als der Erwerb von Überzeugungen über die Architektur der dortigen Gebäude. Der Anschein eines Problems rührt daher, dass Seel Absichtlichkeit mit Egoismus gleichsetzt. In ethischer Perspektive motiviert dies die Sorge, dass ein Beobachter als Beobachter die Situation allein ›im Lichte‹ seiner egoistischen Interessen betrachten könnte. Daher würde er vom Standpunkt einer universalistischen Moral wahrscheinlich zu falschen Überzeugungen gelangen, z. B. dass das Elend des Viertels völlig belanglos ist. Da der moralische Egoismus aber eine selten vertretene Theorie ist, lässt sich der Egoist nicht als Standardbeobachter anführen und diese Art der observationalen Irreführung bliebe die Ausnahme. Sollten wir demgegenüber nicht wenigstens zugeben, dass ästhetische Kontemplation im Sinne einer absichtslosen Betrachtung in den Praktische Anschauung
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Naturwissenschaften keine Rolle spielt? Ich glaube, auch dies müssen wir verneinen. Denn so wie ein praktisch Denkender durch absichtslose Kontemplation in der Lage sein sollte, sich neue Handlungsalternativen zu erschließen, seine Ziele, seine evaluativen, deontischen oder normativen Überzeugungen zu hinterfragen, sollte es einem naturwissenschaftlich Denkenden, z. B. bei widersprüchlichen experimentellen Daten oder konfligierenden Theorien, kontemplativ möglich sein, unter Umständen neue Alternativen in der naturwissenschaftlichen Theoriebildung zu erschließen. Deshalb sind an diesem Punkt auch einige Nachfragen zu Seels Begriff der ›theoretischen Kontemplation‹ angebracht, den er einige Seiten zuvor prägt (vgl. ebd. 262 ff.). Bei diesem ist nämlich einerseits unklar, was die theoretische überhaupt von der praktischen Kontemplation unterscheidet, außer dem primären Thema dieser geistigen Tätigkeit. Daneben scheint selbst in diesem Punkt keine echte Differenz zu bestehen, da der Autor letztlich selbst den »Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Gerechten« der theoretischen Kontemplation zuschlägt (ebd. 264). Andererseits ist auch die simultane Verhältnisbestimmung der theoretischen Kontemplation zum (natur-)wissenschaftlichen Denken gewöhnungsbedürftig, wenn Seel ausführt, dass erstere nicht »wie die heutige Wissenschaft – ganz zu recht – an ihren Resultaten gemessen wird« (ebd. 263). Denn Letzteres mag bei einer funktionalistischen Betrachtung der Wissenschaft ›von außen‹ korrekt sein, sagt aber methodologisch nichts über die Weise, wie einzelne Wissenschaftler zu ihren Resultaten gelangen. In diesem Punkt ist nämlich eher zu vermuten, dass ein Naturwissenschaftler, der ein brillantes Buch über Festkörperchemie schreiben will, weniger erfolgreich sein wird, wenn er sich ständig darauf konzentriert, ein brillantes Buch zu schreiben, als wenn er sich auf die Festkörperchemie konzentriert. Letzteres wird aber häufig wesentlich eine »Tätigkeit eines selbstgenügsamen reflexiven Erkennens« (ebd.) sein, die Seel der theoretischen Kontemplation zuschreibt. Dieser letzte Gedanke sollte uns nun, denke ich, drittens und letztens auch stutzig machen, was die einleitende Gegenüberstellung von ästhetischer Kontemplation und Beobachtung in puncto ihrer Zweckfreiheit anbetrifft. Im Sinne des oben angedachten absichtlichen Tests empirischer Hypothesen und Seels Phrase von dem ›Kalkül der Beobachtung‹ könnte man meinen, eine wissenschaftliche Beobachtung müsse stets folgenden Verlauf nehmen: Der Beobachter begibt sich in 182
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die Beobachtungssituation S zu t, um entweder zu beobachten, dass p, oder zu beobachten, dass ~p, und er verlässt S, sobald er entweder p oder ~p beobachtet hat. Obwohl kurz und prägnant, dürfte dies aber eine recht satirische Beschreibung einer Beobachtung abgeben. Denn an einen redlichen Beobachter sollten wir wohl die epistemologische Forderung stellen, dass er auch ein Auge für scheinbar unwichtige Randphänomene hat, die ex ante nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, jedoch überraschen und an Relevanz gewinnen können. Eventuell könnte das vorrangige Resultat der Beobachtung schlussendlich nicht p (bzw. ~p) heißen, sondern dass p _ ~p einfach nicht der Punkt ist! Daran lässt sich ersehen, dass eine Beobachtung sich, um zum epistemischen Fortschritt beitragen zu können, von speziellen epistemischen Zielen freimachen muss, um ihre Funktion auf bestmögliche Weise erfüllen zu können. Umgekehrt muss hingegen auch für die Kontemplation Absicht wenigstens in einem minimalen Sinne unterstellt werden, um zu erklären, dass sie sich bei einem Denker überhaupt ereignet. Damit zeigt sich, dass eine dichotomische Gegenüberstellung von absichtlicher Beobachtung und ästhetischer Kontemplation gar nicht sinnvoll ist. Eher sollte man sie als Endpunkte eines Kontinuums ansehen, das irgendwo zwischen diesen Endpunkten seine Optima hat. Kurzum: Eine Beobachtung muss spielerisch sein, um eine gute Beobachtung zu sein. 44 Ein weiterer Aspekt, der unter dem Stichpunkt der ›ästhetischen Kontemplation‹ interessieren könnte, wäre, wie die praktische, sinnliche Anschauung abgesehen von einer zweckfreien Betrachtung mit der Wahrnehmung des Schönen verbunden ist. Dazu nur ein kurzer Kommentar: Bei der (Sinnes-) Wahrnehmung des Schönen geht es um einen bestimmten Gegenstand der Wahrnehmung (d. h. eigentlich eine Klasse von Eigenschaften). Insofern ist die ästhetische Wahrnehmung in diesem Sinne sicherlich von der praktischen Sinneswahrnehmung unterschieden, da z. B. das Gesollte mitunter recht hässlich sein kann und schöne Dinge (wider den Ästhetizismus) sicherlich nicht die einzig handlungsrelevanten Aspekte der (praktischen) Realität sind. Man könnte aber in grober Abschätzung sagen, dass es gewisse für das Schöne konstitutive Eigenschaften gibt, etwa Eleganz, Einfachheit oder Harmonie der Teile, die meistens auch konstitutiv für das Gute, Richtige oder Gesollte sind. Daher ließe sich mutmaßen, dass ein Beobachter, dessen begriffliche Fähigkeiten ihn besonders für die Wahrnehmung des Schönen qualifizieren, ceteris paribus, eine höhere Sensibilität für die praktischen Aspekte einer Situation besitzen wird als ein Beobachter, der weder besondere praktische, noch besondere ästhetische Kompetenzen besitzt. Ein analoger Punkt ließe sich bei der Zusammenschau der Schönheit einer Theorie und der Korrektheitswahrscheinlichkeit dieser Theorie machen.
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3.4. Laborexperimente Wenn man mir bis hierhin folgen kann, dann spricht prinzipiell nichts gegen eine empirische Testbarkeit praktischer Überzeugungen, die in inferentiellem Abstand zu Beobachtungsurteilen stehen, es spricht prinzipiell nichts dagegen, sich auch im praktischen Bereich solche Tests als ein kollektives Projekt vorzustellen, und wir sollten nicht davon ausgehen, dass es anders als im naturwissenschaftlichen Bereich dem praktischen Wissen abträglich sein wird, wenn eine kollektive Beobachtung durch absichtliche Planung und im Lichte epistemischer Ziele herbeigeführt wird. Zusammengenommen mit den Punkten des letzten Kapitels führt dies auf das Resultat, dass es – im Rahmen meiner schon bekannten ceteris-paribus-Klauseln – keine besonderen epistemologischen Probleme des Erfahrungsbezugs der Ethik gibt. Offen bleibt damit aber noch der eingangs erwähnte wissenschaftstheoretische Punkt, wie sich das praktische Denken zu einer in den Naturwissenschaften häufig gegebenen Möglichkeit, den Erfahrungsbezug zu organisieren, verhält, nämlich zur Durchführung von Experimenten. ›Experiment‹ in seiner Kernbedeutung fällt zwar mit dem Gedanken eines (empirischen) Tests zusammen (lat. ›experimentum‹ = ›Test, Versuch‹) und verweist damit an sich noch nicht auf ein weiterführendes Problem. Halten wir uns aber an die anspruchsvollere Verwendung des Ausdrucks in szientifischen Kontexten, involviert ein Experiment im engeren Sinne die Manipulation der Wahrnehmungssituation. Dabei haben wir es offensichtlich mit einem Kontinuum zu tun. An einem Ende der Skala muss der Grad der Manipulation nicht mehr umfassen als die bloße Auswahl eines bestimmten Beobachtungstandpunktes in einer bestimmten Beobachtungssituation, z. B. der Gang nach draußen und der Blick zum Sternenhimmel. Bewegen wir uns von dort aus die Skala entlang, gelangen wir zu Beobachtungsstadien, die neben der puren Standpunktselektion die allmähliche Hinzunahme von Instrumenten (z. B. Tele- oder Mikroskopen) involvieren kann, wie auch die Manipulation des Beobachteten selbst, so dass wir schließlich hypothetisch zu einem Punkt gelangen sollten, an dem der Beobachter in spe vollständige Kontrolle über alle Aspekte der Beobachtungssituation hat. Diesen zweiten Endpunkt des experimentellen Kontinuums können wir das ideale Laborexperiment nennen. Den Erfahrungsbezug im Rahmen eines idealen Laborexperiments herzustellen, hat offenbar den Vorteil, dass sich auf diese Weise Regelmäßigkeiten in der Welt 184
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leichter erkennen lassen. Durch die vollständige Kontrolle der Beobachtungssituation lässt sich ein einzelnes Merkmal als abhängige Variable behandeln, um hernach durch Variation der Randbedingungen zu prüfen, welcher andere Aspekte oder welche Gemengelage anderer Aspekte dieses Merkmal hervorgebracht hat. Daneben gewährleistete die manipulative Kontrolle ebenso die Wiederholbarkeit, d. h. die Reliabilität, der Beobachtung. Dadurch können bloß zufällige Koinstanziierungen von Merkmalen ausgeschlossen werden. Diese erfreuliche Eigenschaft von Laborexperimenten belebt das Interesse daran, ob sich dann wohl auch der Erfahrungsbezug des praktischen Denkens auf diese streng reglementierte Weise organisieren ließe? Ist dies prinzipiell unmöglich und absurd? Nun, wenn es so absurd ist, dann sollte es offenbar recht einfach sein, die Gründe dafür zu nennen. Diese, so ist dabei allerdings jetzt schon klar, können nicht auf der erkenntnistheoretischen Ebene liegen (jedenfalls nicht solange wir uns allein im Rahmen einer Theorie der empirischen Erfahrung bewegen). Da einen an diesem Punkt diverse Ahnungen überfallen können, lohnt es sich, mit einigen Bemerkungen zu Laborexperimenten in den Naturwissenschaften zu beginnen. Zunächst einmal sollte es einleuchten, dass kein Laborexperiment, weder in den Naturwissenschaften noch sonst irgendwo, ideal sein wird. Hypothetisch können wir uns zwar eine gottgleiche, manipulative Kontrolle über Beobachtungssituationen vorstellen. Unter allen realen Bedingungen hingegen gilt, dass ein Experimentator selbst unter günstigen Laborbedingungen höchstens nur die Randbedingungen manipulieren kann, um die er weiß, und dieses Wissen ist jeweils endlich. Deshalb wird auch die Liste manipulierter oder manipulierbarer unabhängiger Variablen endlich sein. Dies bedeutet, dass ein Beobachter, der im Rahmen eines Laborexperiments einen Zusammenhang zwischen den Merkmalen VU und VA beobachtet oder aber beobachtet, dass VA unabhängig von VU1 und VU2 auftritt, dabei so etwas wie die Abwesenheit ›verborgener Kräfte‹ voraussetzen muss. So muss er etwa selbst bei einem einfachen Fallexperiment, bei dem er Bewegung und Beschleunigung eines Gegenstandes unabhängig von dessen Form oder Größe durch das Vorhandensein einer Kraft namens Gravitation erklärt, irreguläre Umstände ausschließen, wie dass sich sein Labor selbst in freiem Fall befindet, während tatsächlich ein Elektromagnet die zufällig metallischen Gegenstände von unten anzieht, dass zwei gegeneinander laufende Luftströme die Bewegung der Gegenstände herbeiführen oder dass ein AntigravitaPraktische Anschauung
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tions- und Beschleunigungsstrahl (vom Mars) auf die Gegenstände gerichtet ist. Es gibt eine prinzipiell unendliche Liste von Ausnahmebedingungen, die die Erklärungsleistung im Rahmen eines Laborexperiments sabotieren können. Dies ist ein Effekt, der sich zudem potenziert, wenn das Laborexperiment unter veränderten Bedingungen wiederholt werden soll. Denn seine Reproduktion wird natürlich nie eine vollständige Gleichheit der Versuchsbedingungen liefern – insofern ist jede, auch die naturwissenschaftliche Beobachtungssituation einzigartig – sondern lediglich eine Gleichheit in den relevanten Hinsichten. Dies verlangt jedoch ein normatives Urteil, dass die neue Situation bezüglich ihrer Randbedingungen der Regel gemäß ist. Selbst strenge Laborexperimente stehen damit unter einem umfangreichen und unabdingbaren Normalitätspostulat. Daneben zeigt sich dadurch – Hilary Putnam hat auf diese Argumentationslinie bereits vor einiger Zeit hingewiesen –, dass unsere Erklärungen über den (kausalen) Zusammenhang der Dinge gar nicht darauf ausgerichtet sind, ausnahmslos zu gelten oder etwas wie die ›totale Ursache‹ eines Phänomens anzugeben. Vielmehr können sie nur im Rahmen von Normalbedingungen als gültig verstanden werden. Dies gilt schon für ganz alltägliche Erklärungen wie ›Wenn die Heizung angeschaltet wird, wird das Zimmer (immer) warm‹. Denn auch letztere sieht von irregulären Randbedingungen wie z. B. dem Vorhandensein eines an die Heizung angeschlossenen Kühlaggregats ab (vgl. Putnam 1992: 86 ff.). 45
Stellt man den zitierten Text von Putnam dem ethischen Partikularismus gegenüber, wie er gegenwärtig prominent von Jonathan Dancy vertreten wird (vgl. Dancy 1993: Kap. 4–6; Dancy 2004), wäre außerdem zu überlegen, ob man den resultierenden Streit mit dem ethischen Generalismus nicht auflösen oder zumindest beträchtlich abschwächen könnte, wenn man den ethischen mit dem naturwissenschaftlichen Partikularismus vergleicht und dabei feststellt, dass die Position schlicht sehr viel unspektakulärer ist, als sie erscheinen könnte. Denn selbst, wenn es richtig wäre – wie etwa Dancys bekanntes Beispiel der lügenden Polizisten demonstrieren soll, die ein Trainingsspiel mit dem Ziel der besseren Erkennung lügender Gauner spielen –, dass die ›evaluativen Kräfte‹, die normalerweise den Status einer Handlung in Richtung ihres (Nicht-)Gesolltseins ›bewegen‹, mitunter einen Vorzeichenwechsel erfahren können, ändert dies offenbar nichts an dem Sinn oder der Nützlichkeit moralischer Prinzipien, an denen die Generalisten festhalten wollen. Wenn physikalische und evaluative Erklärungen ohnehin an die Annahme normaler Randbedingungen gebunden sind, sollte man vielleicht auf die Nennung allzu absurder Beispiele so reagieren, wie der Gemeinsinn oft auf die philosophische Spekulation allgemein reagiert, nämlich mit Repliken wie ›Ja, aber du weißt, was ich meine!‹. Denn, was er oder sie meint, ist offenbar, dass sich die Erklärung
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Laborexperimente
Neben dem Normalitätspostulat gibt es einige weitere Facetten von Laborexperimenten, die wir beachten sollten. Dazu gehört, dass gerade wegen ihres nicht-idealen Charakters diese üblicherweise gewisse Idealisierungen involvieren, etwa die Betrachtung des Labors als ein kausal perfekt isoliertes System oder das Absehen von Störungen, wie z. B. dem Luftwiderstand bei der Messung der Fallbeschleunigung. Ebenso impliziert der Status einer Beobachtung als Laborexperiment ipso facto, dass es sich bei dem Beobachteten um ein partiell absichtlich herbeigeführtes Artefakt handelt. Dabei sollte man sich allerdings hüten, den artifiziellen, laborexperimentellen Ursprung vieler naturwissenschaftlicher Überzeugungen mit dem Gedanken gleichzusetzen, dass deshalb die physikalische Realität als Ganzes von uns ›konstruiert‹ ist. Die natürliche Sichtweise ist vielmehr, dass es die Künstlichkeit der Laborsituation überhaupt erst ermöglicht, auch Erkenntnisse über Vorgänge in der Welt zu gewinnen, die nicht oder wenigstens in geringerem Grade durch intentionales Handeln von Experimentatoren initialisiert werden. 46 Ein weiterer Gedanke zu naturwissenschaftlichen Laborexperimenten ist, dass man von der Allgegenwart der Naturgesetze ausgehend zu der Idee einer ubiquitären Gleichförmigkeit des Natürlichen gelangt und davon wiederum zu der Vorstellung einer (relativen) Häufigkeit zufällig günstiger Randbedingungen in diesem Bereich. Ebenso könnte es so erscheinen, dass komplementär die Kontrollierbarkeit der ungünstigen Randbedingungen mit relativ einfachen technologischen Mitteln besorgt werden kann. Ein einfaches Fallexperiment lässt sich offenbar überall auf der Erde und zu jeder Tageszeit durchführen und an Technologie benötigen wir kaum mehr als eine Sanduhr. Dass dieser Befund jedoch nicht einmal ansatzweise generalisiert werden kann, lässt sich unschwer erkennen. Schon chemische Experimente, die den Einsatz seltener Substanzen erforderten, können sich als äußerst schwierig erweisen. Mit ausreichend epistemischem Pech können sie und/oder ihre Wiederholung sogar unmöglich sein. Wie ungünstig die Rahmenbedingungen für naturwissenschaftliche Labor-
von vornherein gar nicht auf derart irreguläre Umstände bezogen hat und dass vom Gegenüber deshalb interpretatorische Nachsichtigkeit eingefordert wird. 46 Daher ist der im letzten Satz gebrauchte Begriff eines Artefakts auch verschieden von dem ansonsten in experimentellen Kontexten üblichen, wo ›Artefakt‹ als ein Fehler angesehen wird, der sich durch die verwendete Messmethode ergibt. Praktische Anschauung
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experimente sein können, lässt sich beispielsweise an dem Aufbau und Betrieb von Teilchenbeschleunigern wie dem LHC in Genf ersehen. Alltäglich sind die Chancen auf die Beobachtung der Zerfallsprodukte der Kollision von Protonen oder Bleiionen praktisch gleich null, können aber mit großer Mühe deutlich verbessert werden. Angesichts der hohen Gesamtkosten, dem Arbeitseinsatz und den aufgebauten Datenkapazitäten, die alle astronomisch genannt werden können 47, würde es jeder Realität spotten zu sagen, die experimentellen Randbedingungen seien dort ›einfach‹ zu realisieren gewesen. Das Beispiel demonstriert so, dass auch die Realisierung naturwissenschaftlicher Laborexperimente engmaschige natürliche, ökonomische, soziale und technologische Voraussetzungen haben kann. Ich habe all diese Vorbemerkungen zu Laborexperimenten in den Naturwissenschaften gemacht, weil man ad hoc vermuten könnte, genuin praktische Laborexperimente, die versuchten unter kontrollierten Rahmenbedingungen Beobachtungsurteile über das Gute, Richtige oder Gesollte zu gewinnen, könnten nie die Idealität der naturwissenschaftlichen Laborpraxis erreichen oder müssten an der Komplexität der praktischen Realität scheitern. Wenn wir uns jedoch an dieser Stelle nicht auf eine selektive Wahrnehmung einiger Standardbeispiele beschränken, sondern die Komplexität vieler zeitgenössischer Laborexperimente in den Naturwissenschaften mit einbeziehen, sehen wir, dass es letztlich keinen Grund gibt, die Möglichkeit praktischer Laborexperimente aus konzeptionellen oder technologischen Gründen auszuschließen. Dies ist nicht der Grund, warum praktisch Denkende ihren Erfahrungsbezug nicht in dieser Form organisieren. Um dies plastisch zu sehen, wäre es allerdings schön, wenn man wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon hätte, wie ein praktisches Laborexperiment beschaffen sein könnte. Das beste Beispiel dafür dürfte wahrscheinlich die ›Truman-Show‹ aus dem gleichnamigen Film sein. Um die Wenigen, die den Streifen nicht gesehen haben, einzuweihen: Die Geschichte handelt von Truman, der sein komplettes Leben in einer künstlichen Miniaturwelt verbringt, in einem (nahezu) perfekt nachgebildeten Küstendorf auf einer Halbinsel, über die sich eine riesige Kuppel wölbt, die sie von der Außenwelt abschneidet und ansonsten als Miniatur-Firmament dient. Trumans Heimat ist neben ihm auch mit einer großen Zahl anderer Personen bevölkert, die jedoch allesamt 47
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(vgl. CERN 2009)
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Laborexperimente
Schauspieler sind und ihr Show-Leben nur vortäuschen, während Truman selbst der einzige Uneingeweihte ist. Der Anlass für diese Kreation geht dabei auf das Profitstreben eines Unternehmens zurück, das Trumans Leben gewinnbringend mit Hilfe einer Unzahl von versteckten Kameras in Echtzeit und rund um die Uhr im Fernsehen überträgt. Das Szenario führt gut vor Augen, warum ein Vergleich mit physikalischen Experimenten in Teilchenbeschleunigern sinnvoll ist. Ebenso wie bei Protonenkollisionen sind vom alltäglichen Standpunkt die Rahmenbedingungen für die Beobachtung eines ganzen Lebens oder einer ganzen gesellschaftlichen Ordnung denkbar ungünstig, könnten aber unter großen Aufwendungen offenbar durchaus in die Tat umgesetzt werden. Eine Truman-Show wäre zwar ein Milliardenprojekt, würde eine Unzahl an Mannstunden erfordern und zudem eine hohe Datenmenge produzieren, aber es ist nicht zu sehen, warum dies sie unmöglich machen würde. Da praktische Tatsachen unter anderem auf soziale und psychische Tatsachen supervenieren und schon letztere hochkomplex sind, zeigt uns der Vergleich nur, dass wir hier ähnlich große Investitionen tätigen müssten wie im Bereich der ebenfalls komplexen Elementarteilchenphysik, was sich natürlich neben anderen Faktoren negativ auf die Wiederholbarkeit des Experiments auswirken wird. Man könnte meinen, dass unsere Kontrollmöglichkeiten in einem Truman-Szenario stark begrenzt wären. Aber wie oben ausgeführt, wird letztlich kein reales Laborexperiment dem idealen Typus entsprechen. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als wären die Optionen für eine Manipulation der Beobachtungssituation tatsächlich recht üppig. Im Film wird Trumans Leben zwar relativ eintönig als kitschige Seifenoper inszeniert, aber wenn wir die eingesetzten Schauspieler entsprechend instruieren, könnten diese auch originellere Lebensverläufe anleiten. Truman könnten mehr oder weniger soziale Kontakte mit mehr oder weniger freundlichen Personen ermöglicht werden oder der Einfluss von Schicksalsschlägen geprüft werden – im Film stirbt etwa sein nominaler Vater bei einem Bootsunglück. Bei Durchführung längerer Versuchsreihen könnte man verschiedene Charaktertypen, verschiedene Trumans also, mit variierenden Lebensverläufen ausstatten oder sie gar mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen, kulturellen Kontexten, Milieus oder Epochen konfrontieren, z. B. dem Leben in einer rechtsstaatlichen Demokratie oder dem Leben in einer mittelalterlichen Theokratie. Zwar wird es wegen der Komplexität sozialer Praktische Anschauung
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Situationen jeweils eine große Anzahl intervenierender Variablen geben, aber insofern wir in dem genannten Szenario kontrolliert wenigstens einige unabhängige Variablen manipulieren können, um anschließend den Wert der abhängigen Variable zu beobachten, nämlich die Güte von Trumans Leben bzw. sein Glück oder gar die Güte seiner gesellschaftlichen Ordnung, kann man die Truman-Show wörtlich als eine als Laborexperiment organisierte praktische Beobachtung begreifen. Als Störfaktoren müssten wir dabei selbstverständlich in Betracht ziehen, dass wir etwa in konsequentialistischer Perspektive die evaluativen Eigenschaften des Szenarios nicht unabhängig von seiner Wirkung auf den Rest der Welt einschätzen könnten und zudem unsere Wertung dadurch getrübt wird, dass wir Truman im Lichte des Umstandes sehen, dass sein Leben unfrei und voller Täuschung ist. Aber dies zeigt wiederum nur, dass wir wie in allen Laborexperimenten mit einigen Idealisierungen arbeiten und jenen Mikrokosmos als isoliertes System behandeln müssen. Auf ähnliche Weise müssten wir mit dem Umstand umgehen, dass die Künstlichkeit des praktischen Labors auf der Ebene der sozialen Interaktion die Ergebnisse durch die jeweilige Unauthentizität der Schauspieler tendenziell verfälschen dürfte – jedenfalls stärker verfälscht als die Unauthentizität der normalen sozialen Realität. Da aber die Künstlichkeit der Laborsituation, wie wir gesehen hatten, es nicht ausschließt, dass durch sie generalisierte Aussagen über sonstige, nicht-manipulierte Teile der Welt getroffen werden können, sollte auch dies kein prinzipielles Problem sein. 48 Schließlich könnte man sich noch einige technische Detailprobleme bei der Durchführung des Experiments vorstellen. Im Film etwa scheitert es am Ende, weil Truman unter anderem durch die recht altbackene Performanz der Schauspieler, den Einbau von Werbeslogans in die Dialoge und durch unvollständige Kulissen die Täuschung durchschaut. Dies dürfte allerdings eher ein Indiz dafür sein, dass innerhalb der Fiktion das Experiment aufgrund der Kommerzialisierung unterfinanziert war und wir in der realen Praxis schlechte Schauspieler und
Daneben könnte einem noch in den Sinn kommen, dass es seitens der Experimentatoren einen praktischen Bias geben wird, der sie Trumans Leben nur ›im Lichte‹ ihre persönlichen evaluativen Standards sehen lässt. Da dies aber nur eine Variation des Einwandes des unauflöslichen praktischen Dissenses ist, gehe ich darauf nicht erneut ausführlich ein.
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Ethik, Politik und praktische Anschauung
Schleichwerbung vermeiden müssten. Auf der Ebene des Instrumentariums merkt der Protagonist der Show im Film kritisch an, dass die Schöpfer seiner Miniaturwelt keine Kamera ›in seinem Kopf‹ installiert hätten, um seine Zufriedenheit zu testen. Doch abgesehen von der damit verbundenen, problematischen Philosophie des Geistes sollte sich auch diese technische Hürde mit etwas neurochirurgischem Geschick überwinden lassen. Die Schlussfolgerung lautet deshalb, dass, was auch immer es ist, es jedenfalls nicht an den konzeptionellen oder technischen Anforderungen von Laborexperimenten liegt, dass sie im praktischen Bereich nicht durchgeführt werden können.
3.5. Ethik, Politik und praktische Anschauung Dennoch: Die eindeutige, unleugbare Differenz von Teilchenbeschleuniger und Truman-Show ist, dass ersterer in unserer Gegenwart wirklich existiert und letztere nur Fiktion ist. Was ist die tiefere Ursache dafür? Eine pessimistische Erklärung könnte lauten, dass schlicht noch niemand genug kriminelle Energie aufgebracht hat, um ein praktisches Laborexperiment dieser Art in die Tat umzusetzen, eine optimistischere hingegen, dass die Unzulässigkeit von Experimenten wie die Truman-Show dem Gemeinsinn nur allzu deutlich bewusst ist. Denn es ist klar, dass derartige Forschungsprojekte alles in allem verboten sind und dass der zynische Flair seiner Beschreibung im letzten Abschnitt daher rührt, dass dabei mit Leben, Rechten und Wohlergehen von Personen gespielt würde. Daher müssen wir unsere Hoffnungen auf die Durchführung praktischer Laborexperimente vernünftigerweise begraben. Zuwiderhandlung würde uns an dieser Stelle in eine Unterart eines ›amoralischen Experientialismus‹ führen, dessen Anhänger die empirische Forschung evaluativ ausschließlich unter dem Gesichtspunkt neuen Wissens betrachten und damit zwangsläufig als Monstrositäten enden müssen, wie sie uns aus der Geschichte der Medizin oder der Psychologie nur allzu gut bekannt sind. Obschon damit praktisch nutzlos, liefert der komparative Gedankengang zu den Laborexperimenten doch den kleinen Bonus, dass wir auf diese Weise nun klar erkennen können, dass die wissenschaftstheoretischen Differenzen von Ethik und (Teilen der) Naturwissenschaft weder in epistemologischen Differenzen begründet sind noch in den konzeptionell-technologischen Anforderungen der Laborpraxis, sonPraktische Anschauung
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dern vielmehr in substantiellen moralischen Erwägungen. Das Labor wäre zwar aus rein wissenschaftstheoretischer Sicht durchaus eine gute Weise, praktisches Wissen zu erwerben, aber während diese Art der Praxis alles in allem naturwissenschaftlich ratsam ist, steht sich in dieser Hinsicht das praktische Wissen vernünftigerweise selbst im Wege. Dieses Resultat sollte uns allerdings nicht dazu verführen, die normative Legitimität praktischen Beobachtens global in Zweifel zu ziehen. Die Anrüchigkeit von praktischen, ebenso wie von vielen psychologischen oder soziologischen Laborexperimenten liegt/läge in der manipulativen Einstellung der Experimentatoren begründet, die unweigerlich zu einer Verletzung von Rechten und zur Schmälerung des Wohlergehens der Versuchspersonen führen muss. Dies impliziert jedoch klarerweise nicht, dass die individuelle oder kollektive praktische Beobachtung, die ohne Manipulation auskommt und sich mit der absichtlichen Wahl eines bestimmten Standpunktes in der (praktischen) Realität begnügt, gewissermaßen als Feldexperiment organisiert wird, deshalb ebenfalls moralisch bedenklich wäre. Dies schiene mir auch recht absurd, denn genau genommen führt schließlich jedes Individuum mit jedem Tag aufs Neue ein solches Feldexperiment durch. Dies gibt mir Gelegenheit, noch einige allgemeinere Kommentare zur Ethik der praktischen Anschauung loszuwerden. Es gibt eine gewisse Tendenz bei einigen Theoretikern, eine ethische Erkenntnistheorie als ethisch oder gar politisch bedenklich einzustufen, die versucht, das praktische Denken als mit dem naturwissenschaftlichen Denken in puncto empirisch-nichtinferentieller Urteilsweisen grundsätzlich gleichförmig zu verkaufen. Nun sollte von vornherein klar sein, dass derartige Anschlussschwierigkeiten sicherlich keine der bisher angestellten epistemologischen Argumente entkräften können. Aber auch wenn derartige Gedankengänge die hiesigen nicht entkräften können, können sie sie doch vergällen und auch das wäre schon ein Verlust. Deshalb möchte ich kurz darauf eingehen. Um die anvisierten Positionen zunächst ansatzweise in der jüngeren metaethischen Debatte zu verankern: Besonders die Vertreter der Kritischen Theorie zweiter und dritter Generation, wie sich beispielsweise an Habermas Replik auf Putnam oder an Honneths Replik auf McDowells ›Herausforderung‹ ablesen lässt, scheinen die starke Vermutung zu hegen, dass – angenommen, dies wäre tatsächlich die Begründungsstruktur der Naturwissenschaften – es äußerst ungünstig wäre, wenn Denker tatsächlich auch epistemisch berechtigt wären, 192
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nicht-inferentiell, d. h. unter anderem perzeptiv, genuin praktische Urteile zu fällen (vgl. Habermas 1999c; Honneth 2001). Wenn ich richtig sehe, sind die Sorgen 49 dabei zweigestaltig. Die Vermutung ist grob, dass sich bei nicht-inferentiell urteilenden, praktischen Denkern einerseits zwangsläufig despotische Potentiale entfalten, andererseits aber politisch-progressive Potentiale dieser Denker gehemmt werden. Bei näherer Betrachtung fällt es mir jedoch schwer, eine dieser beiden Sorgen für berechtigt zu halten. Abgesehen davon, dass ein epistemisch berechtigtes, praktisches Wahrnehmungsurteil ja keinesfalls wahr sein muss und dass der Widerspruch eines Gesprächspartners bzw. Zweitbeobachters jeweils ein guter, die Berechtigung unterminierender Gegengrund sein kann, leuchtet es doch ein, dass zum Beispiel ein praktischer Wahrnehmungsinhalt, als ob p, allenfalls zu dem Glauben berechtigt, dass p, nicht aber etwa zu dem Glauben, dass alle Individuen physisch angegriffen oder verhaftet werden sollten, die glauben, dass ~p. Jedenfalls nicht ohne zahlreiche und anspruchsvolle (und unplausible) Zusatzannahmen. Tatsächlich ist die Sicht angebracht, dass die allgemeine Rationalität beim Erwerb praktischer Begriffe und Überzeugungen, die die Grundlage der perzeptiven BerechHabermas gibt zu bedenken, dass die Analogisierung von ethischem Denken und (natur-) wissenschaftlicher Theoriebildung »zur Unterdrückung legitimer Differenzen führen« kann (Habermas 1999c: 288). Honneth ist der Ansicht, dass McDowells Konzeption der ›zweiten Natur‹ nicht erlaube, »die hermeneutischen Reparaturleistungen angemessen zu verstehen, die die Subjekte ohne die Hilfe moralischer ›Tatsachen‹ an ihrer entzweiten Lebenswelt vornehmen müssen, sobald sie einmal in die Situation eines Konfliktes ihrer moralischen Wahrnehmungsweisen geraten sind […] für den intersubjektiven Versuch der argumentativen Dissensbewältigung [muss] auch die Möglichkeit eingeräumt werden, daß darin ein gewisser Lernzwang zum Tragen kommt […] Insofern wirkt der Sinn fürs Moralische, der über die jeweilige Wahrnehmungsfähigkeiten hinausgeht, wie eine Instanz der argumentativen Nötigung, die den Prozeß der Traditionsvermittlung der [sic] Richtung einer Erweiterung der moralischen Gemeinschaft nehmen läßt; die zweite Natur, begriffen als ein fragiles Netzwerk von einsozialisierten Wertüberzeugungen, wird im Fall von Dissensen nicht einfach wirkungsgeschichtlich reproduziert, sondern unter den reflexiven Anstrengungen der Beteiligten moralisch erweitert.« (ebd. 400 f.). Honneths Befürchtung eines politisch bedenklichen Dogmatismus, die hier mehrmals anklingt, ist natürlich nicht völlig unverständlich. Aber man muss sich, denke ich, doch klar machen, wie irreführend die obigen Aussagen sind. Dies würde bedeuten, dass wenn wir in der Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften auf die (Sinnes-)Wahrnehmung rekurrieren, wir bestreiten müssten, dass ›Lernen‹ oder ›argumentative Dissensbewältigung‹ möglich sind und dass der ›Sinn fürs Physikalische‹ über einzelne Wahrnehmungssituationen weit hinausgeht. Aber nichts davon ist der Fall!
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tigung von Denkern für entsprechende Inhalte ist, auch dafür sorgen wird, dass diese keine imperialistischen Gesprächsstrategien an den Tag legen werden. Aus einer nicht-inferentiellen Urteilsberechtigung für einen Inhalt p folgt genau genommen nicht einmal, dass Denker A Denker B überhaupt mitteilen sollte, dass p, falls letzterer vom Gegenteil überzeugt ist – A könnte es ja für besser halten, wenn B dies selbst herausfindet. Da gegen Formen des ›Intuitionismus‹ in der Ethik daneben mitunter ein Dogmatismusvorwurf mitschwingt, sollte schließlich noch darauf hingewiesen werden, dass eine lokale perzeptive Berechtigung vernünftigerweise nicht per se zeitlos gültig bleibt und im Zuge zukünftiger Deliberation selbstverständlich der Kritik erliegen kann. Was nun die politischen Sorgen anbetrifft, scheint mir der Hintergedanke bei ihnen zu sein, dass, wenn ein Denker seine provinziellen Wertmaßstäbe nicht immer radikal kritisch hinterfragt, sondern sich mitunter lebensweltlich auf seine praktischen Wahrnehmungsurteile verlässt, dieser nicht anders kann, als zu einer völligen Affirmation der bestehenden Gesellschaftsordnung zu gelangen. Diese Idee geht jedoch gleichfalls in die falsche Richtung. Ein halbwegs aufmerksamer Beobachter kann doch nicht nur den Wohlstand wahrnehmen, sondern auch den Missstand! Tatsächlich liefert es eine vollkommen realistische Darstellung, wenn wir sagen, dass der Wille zur politischen Reform oft in konkreter empirischer Erfahrung wurzelt. Daher verstehe ich letztlich nicht die Motivation, warum man aus abstrakten metaethischen Erwägungen die sinnliche Anschauung als Quelle praktischer Urteile partikular verunglimpfen wollen könnte. 50 Da ich diese Probleme letztlich für nicht sonderlich gravierend halte, möchte ich zum Abschluss lieber noch die Aufmerksamkeit auf einen interessanteren, durchaus ethischen und sogar politischen Aspekt der praktischen, empirischen Erfahrung lenken. Nehmen wir als Beispiel die Person A, die das Folgende glaubt: B gehört zur Gruppe G ^ alle Personen aus G haben einen schlechten Charakter ^ man sollte den Ein weiterer Punkt an dieser Stelle wäre, dass es auch schon deshalb kaum Sinn ergibt, perzeptive und diskursive Begründungsweisen für praktische Urteile gegenüberzustellen, weil diese sich letztlich nicht dichotomisch auseinanderdividieren lassen. Denn ein handelsüblicher Dialog, sehen wir einmal von der Telekommunikation ab, besteht ja keinesfalls nur aus isolierten, irgendwie ätherisch transferierten Sprechakten, sondern setzt unabdingbar die Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers in seiner ganzen Leibhaftigkeit voraus.
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Umgang mit Personen schlechten Charakters meiden (etwa weil dies einen schlechten Einfluss auf den eigenen Charakter hätte). Nehmen wir außerdem an, Person B hätte eigentlich einen guten Charakter und dass sich dies im Umgang mit ihm auch zeigen würde. Mit guten Gründen ausgestattet, meidet A jedoch rational die Situation, die allein oder zumindest besonders geeignet ist, die praktischen Überzeugungen als falsch zu erweisen, auf denen sein Vermeidungsverhalten beruht – ein unschönes Ergebnis, gerade, wenn man bedenkt, welche Gruppen man für G einsetzen könnte. Man könnte dem entgegenhalten, Person A könnte nie rational zu obigen Überzeugungen gelangen, die notgedrungen grobe Stereotype über Personengruppen darstellen müssen, weshalb auch sein entsprechendes Handeln nicht als vollständig rational zählen könnte. Dies mag in vielen Fällen auch zutreffen, könnte aber insgesamt doch eine etwas zu hoffnungsfrohe epistemologische Annahme sein. Es spielt aber im Grunde auch keine Rolle. Denn unter Absehung von seinen Details ist das Beispiel nur Ausdruck der allgemeinen Einsicht, dass die praktischen Überzeugungen von Denkern, die sich üblicherweise mehr oder weniger perfekt im Handeln nach ihnen richten, in Folge auch ihre Beobachtungsmöglichkeiten vorstrukturieren werden. Deshalb werden sie sie auch oft dazu veranlassen, gerade den Situationen aus dem Weg zu gehen, die aus der Vogelperspektive prädestiniert sind, Teile ihres praktischen Überzeugungssystems einem harschen, experientialen Gerichtsurteil zu unterwerfen. Das Problem ist also nicht, dass sie nicht in der Lage wären, zu gewissen wahren, praktischen Beobachtungsurteilen zu gelangen, wenn sie sich in bestimmten Beobachtungssituationen befänden, sondern vielmehr, dass sie aus praktischen Erwägungen gar nicht in diese Situation gelangen werden. Ein anderes, anschauliches Beispiel dazu wäre der Fall des ›Hypertraditionalisten‹ – um mir einen Ausdruck von Olaf Müller auszuborgen – dessen Tagesablauf durch seine festen evaluativen und deontischen Überzeugungen bis ins kleinste Detail reguliert wird und unter anderem den exklusiven Umgang mit Personen vorschreibt, die einem ähnlichen Lebensstil frönen. Seine existentielle Praxis wird wahrscheinlich bedingen, dass er sich (fast) nie in Situationen befinden wird, die Zweifel an dieser Praxis schüren könnten. Wie dem auch sei, wir haben die Sachlage bis jetzt noch unvollständig beschrieben, indem wir bislang nur auf die nicht-epistemischen Werte und Pflichten von Personen abgehoben haben. In diesem ZuPraktische Anschauung
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sammenhang kann das ›sollte‹ im Eingangsbeispiel und das des Hypertraditionalisten jedoch nicht unbesehen als ein konklusives Sollen eingestuft werden. Denn ebenso wird jedes Individuum den Wert der Wahrheit akzeptieren müssen, aus dem sich auch die epistemische Pflicht nach Maximierung wahrer und Minimierung falscher Überzeugungen herleitet. Dies aber gebiert wiederum eine Pflicht nach beständiger (Selbst-)Prüfung von Überzeugungen, im Falle empirischer und damit auch empirisch-praktischer Überzeugungen aber wird diese Pflicht oft am besten durch einen Test durch Beobachtung (außerhalb des Labors) erfüllt werden. Dabei ist es kein Geheimnis, dass individuelle Pflichten miteinander und somit auch epistemische mit nichtepistemischen Pflichten konfligieren können. Das Truman-Laborexperiment würde etwa einen solchen Konflikt provozieren. Der beachtenswerte Kontrast zu jenem und dem gegenwärtigen Fall ist aber, dass, während oben die Abwägung von Werten und Pflichten alles in allem gegen diese epistemische Praxis sprach, wir nun sagen würden, dass die epistemischen Pflichten mitunter die nicht-epistemischen überwiegen und alles in allem für eine epistemische Praxis sprechen können. Offenbar würden wir sagen, dass Person A oben alles in allem testweise Umgang mit Person B pflegen sollte, um zu testen, ob diese wirklich einen schlechten Charakter hat. Unter Bedingungen der endlichen Vernunft steht uns allerdings realistisch betrachtet diese Vogelperspektive nicht zur Verfügung. Daher ergibt es mehr Sinn zu sagen, dass aus individueller Perspektive eines Denkers gegenüber den durch ihn angenommenen Werten und Pflichten die epistemische Pflicht zur Prüfung eben dieser Annahmen ceteris paribus desto schwerer wiegt, je unsicherer und fragwürdiger jene Werte und Pflichten geworden sind. Daher wird zwar das epistemische Gebot für den Hypertraditionalisten, der mit eingefleischter Gewissheit an überlieferten Sitten, Konventionen und Gebräuchen festhält, relativ weniger schwer wiegen, als für den ›Avantgardisten‹, der seiner Ansicht nach überkommene Wertvorstellungen und die gesellschaftliche Ordnung überwinden möchte. 51 Dennoch muss auch der Hypertraditionalist zugestehen, dass prinzipiell eine epistemische Dabei wird sich hier allerdings wohl kaum eine absolute Divergenz zwischen den beiden Personentypen ergeben, da kaum jemand etwa das Folterverbot für so zweifelhaft halten wird, dass es ihm als eine gute Idee erschiene, empirisch zu testen, ob Folter denn wirklich so schlimm ist, wie alle sagen
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Ethik, Politik und praktische Anschauung
Pflicht zur Prüfung von praktischen Überzeugungen besteht und daher in einer Gemeinschaft politisch diese Möglichkeit sichergestellt werden muss. So gelangen wir also im Rahmen der Theorie der empirischen Erfahrung zu einem epistemologischen Argument für den Liberalismus: Eine Gesellschaftsordnung muss so beschaffen sein, dass sie Individuen oder Gruppen von Individuen Raum dafür lässt, ihre Existenzweise im Vergleich mit dem Gemeinsinn anormal zu gestalten, um alternative Lebensstile und Systeme von Normen zu erproben und eventuell zu beobachten, dass diese besser oder schlechter sind als die Althergebrachten. Zumal das Manipulationsverbot weit schwächer wiegt, wenn es nicht Wissenschaftler im Labor, sondern die Individuen selbst sind, die mit ihrem eigenen Leben spielen. So gelangen wir alles im allem zu einem wichtigen Punkt für die politische Agenda: In einer guten Gesellschaft muss es Raum für praktische Experimente geben.
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In den letzten beiden Kapiteln wurde eine komparative Erkenntnistheorie der Sinneswahrnehmung mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Modus der Beobachtung entwickelt und im Rahmen dieser der perzeptive Egalitarismus von Ethik und Naturwissenschaft verteidigt. Dieses Kapitel widmet sich einer komparativen Erkenntnistheorie der Emotionen. Es eruiert die Existenz und Gestalt von korrekten Transitionen zwischen Emotion und Urteil. Außerdem untersucht es, welche epistemischen Normen den Umgang mit emotionalen Zuständen regieren, und zwar unter Voraussetzung entsprechender epistemischer Relationen in anderen Bereichen der Deliberation, insbesondere dem Nachdenken über die Beschaffenheit der meist unbelebten Natur. Ihre Grundfrage ist zweigestaltig und im Vergleich mit dem der Sinneswahrnehmung von analoger Struktur. Sie fragt nämlich erstens nach etwaigem emotionalen Gehalt dieser Zustände eines Denkers und zweitens nach einer emotionalen epistemischen Berechtigung zu einem Urteil auf der Grundlage dieses Gehalts, d. h. nach der Art einer potentiellen Rechtfertigungsbeziehung zwischen Emotion und Urteil. Anthropomorph: Was sagen Emotionen, wie sagen sie es und dürfen wir glauben, was sie sagen? Nach einer Lektüre dieser letzten Sätze lässt sich allerdings nicht mehr verhehlen, dass in der so exponierten Fragestellung einige Präsuppositionen zum Grundriss der Bühne einer sinnvollen Auseinandersetzung mitschwingen. Das mittlerweile nicht mehr unbekannte methodologische Problem der Komparatistik, das der Wahl des epistemologischen Kontextes, taucht auch in einer vergleichenden Emotionstheorie erneut auf und zwingt dazu, zweierlei Einschränkungen zu rechtfertigen, die meinem diplopischen Blick auf das Phänomen (einmal im Lichte der allgemeinen Erkenntnistheorie, einmal im Lichte der Emotionstheorie) entspringen. Denn indem ich erstens das erkenntnistheoretische Problem als das normativ-epistemischer Relationen zwi198
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schen einem (potentiellen) Gehalt der Emotionen eines Denkers und einem Urteil dieses Denkers ansehe, sage ich damit, dass das Problem nicht das der Korrelation von Umweltreizen und bestimmten behavioralen Verhaltensmustern ist und auch nicht das Problem, inwiefern andere Denker aus einer ›externen‹ Perspektive bestimmte nicht-inferentielle Urteile im Lichte ihrer Vorstellungswelt als verlässlich einschätzen können. Im Kapitel über Sinneswahrnehmung hatte ich diese schwach internalistische Prämisse durch eine Kritik des wahrnehmungstheoretischen Behaviorismus und des Reliabilismus begründet. Hier gehe ich hingegen nicht mehr auf diese Positionen ein, sondern setze voraus, dass sie nicht den richtigen Zugang zum Problem darstellen. Ebenso werde ich zweitens in diesem Kapitel davon ausgehen, dass der reine Kohärentismus in der Theorie der Rechtfertigung falsch ist, d. h. die Sicht, dass es keinerlei non-doxastische Repräsentation und daher auch keine nicht-inferentiellen epistemischen Berechtigungsnormen gibt. Wie ich gleichfalls bei der Erörterung der Sinneswahrnehmung ausgeführt habe, läuft diese Position darauf hinaus, dass sich durch die Abwesenheit perzeptiven Gehaltes ipso facto keine inegalitaristischen Konklusionen hinsichtlich der Sinneswahrnehmung ziehen lassen. Da es nun aber – um leicht vorzugreifen – recht plausibel ist, dass wir es unter ›Emotion‹ ebenfalls mit von Urteilen unterschiedenen Erfahrungszuständen zu tun haben, sollten sich in kohärentistischer Perspektive auch in diesem Bereich keine inegalitaristischen Folgerungen ergeben. Deshalb darf es als wenig gewinnbringend gelten, speziell auf diese Position einzugehen. In Anbetracht der Debatte zur Emotionalität hat dieser Ausschluss des Kohärentismus allerdings noch eine besondere Bewandtnis. Es ist kein Geheimnis, dass dabei viel Aufhebens um die durch Hume benannte Vorstellung des praktischen Denkens als ›Sklave der Leidenschaften‹ gemacht wird, die vielfach zur Selbstbeschreibung einer metaethischen Position herangezogen wird. 52 Wenn man nun erst einmal ohne hermeneutische Tiefe im Freistil über diese Phrase kontempliert, was macht es dann aus der Perspektive der Gegner eigentlich so schwierig sich jenen Slogan anzueignen? Warum ist es nicht möglich, über die Jüngst z. B. affirmativ in Schroeders ›Slaves of the Passions‹ (2007), verworfen in Solomons ›Not Passion’s Slave‹ (2003) und etwas neutraler in Blackburns ›Ruling Passions‹ (1998).
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rhetorische Spitze dieser ja nur vagen anthropomorphen und politischen Metapher mit einem milden Lächeln hinwegzugehen? Sofern es nur der Gedanke einer Asymmetrie zwischen praktischem Denken und Emotion ist, der in der Versklavungsidee zum Ausdruck kommt, ließe sich ja immerhin erwägen, dass eine gewisse Asymmetrie ja auch im Verhältnis von abstrakter theoretischer Deliberation und partikularen Wahrnehmungsurteilen vorliegt. Diesen muss die Deliberation stückweit ›dienen‹ und deren rationalem Richtspruch ›Gehorsam‹ schulden, solange ihre Aufgabe vor allem in der Systematisierung und Integration empirischer Erfahrungen im Rahmen einer allgemeinen Theorie liegt. Die befürchtete Asymmetrie muss also so aufgefasst werden, dass sie vom Standpunkt der praktischen Vernunft irgendwie ungünstig ist und, spinnen wir die Allegorie des Sklaven weiter, dann sollte dies wohl heißen, dass durch die Leidenschaften die praktische Vernunft entweder in ihrer Selbstständigkeit oder ihrem Wohlergehen beeinträchtigt ist. Kurz gesagt, was an der Versklavungsidee Zähneknirschen hervorruft, ist offenkundig die Konnotation von Unfreiheit und Schaden, die das praktische Denken durch den Einfluss von Emotionen erleiden könnte. In diesem Zuge sollten wir annehmen, dass dem Joch der praktischen Vernunft nicht nur eine Herrschaft, sondern eine Schreckensherrschaft der Leidenschaften gegenübersteht, und es ist eine solche Herrschaftsform, die wir bei der Bezeichnung politischer Verhältnisse üblicherweise auch mit dem Namen der Tyrannei belegen. Unter dieser Überschrift nun können wir die politische Metapher in zwei erkenntnistheoretische Thesen übersetzen, je nachdem ob das Augenmerk auf der Unfreiheit oder dem Schaden der praktischen Vernunft liegt, Thesen, die recht gut das Wesen zweier Grundeinstellungen zum Phänomen der Emotionalität beschreiben. Denn beziehen wir den Gedanken der Unfreiheit auf die praktische Vernunft als ein Vermögen, dann ist es naheliegend zu sagen, dass diese hier offenbar als Spielball von fremden Kräften vorgestellt wird, die sie selbst mit gutem Willen nicht als Ihresgleichen anerkennen kann. Vernunftfremd aber sind Phänomene, die außerhalb des Raums der Gründe nur im Raum der Ursachen angesiedelt sind. Porträtieren wir aber die Leidenschaften vor dieser dunklen Kulisse, dann stellen wir sie als etwas dar, das nicht nur schweigt, sondern zum Sprechen prinzipiell unfähig ist, und ihre Herrschaft als eine Tyrannei der bloßen Ursachen. Legen wir das politische Verhältnis von Vernunft und Emotion so aus, dann sollten wir dieser Deutung auf der epistemologischen Ebene die Position eines ara200
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tionalen Sentimentalismus beifügen, der behauptet, dass die Leidenschaften i) über keinerlei repräsentationalen Gehalt verfügen und daher ii) prinzipiell keine epistemischen und somit keine rationalen Beziehungen zum Denken unterhalten können. Auf der anderen Seite ließe sich die Herrschaft der Leidenschaften als eine vorstellen, die nicht oder wenigstens nicht unabwendbar die Unfreiheit der praktischen Vernunft bedingt, aber dennoch dafür sorgt, dass diese beträchtlichen Schaden nimmt, weil der Einfluss der Leidenschaften sie zu Handlungen verführt, die nicht ihrem Wohlergehen dienen, und das Wohlergehen, so lautet meine Vorannahme, besteht auch im Falle der praktischen Vernunft im Erfolg bei der Suche nach der Wahrheit über das, was zu tun ist. Sehen wir es so, stellen wir offenkundig den Regenten als einen Täuscherdämon dar und seine Herrschaft als eine Tyrannei durch Vorspiegelung falscher Sachverhalte. In diesem Lichte müssen wir es dann wohl als die subversive Aufgabe der praktischen Vernunft ansehen, dem Einfluss der Leidenschaften ausnahmslos zu widerstehen, indem sie ihren Botschaften Misstrauen entgegenbringt, Botschaften, die als verständliche Botschaften einen Angriffspunkt der Kritik und einen Ausweg in die Freiheit der Vernunft eröffnen. Sehen wir es so, dann wählen wir die epistemologische Position eines intellektualistischen Sentimentalismus, der gegenüber dem Arationalismus den Leidenschaften zwar i) repräsentationalen Gehalt und damit die prinzipielle Möglichkeit epistemischer Relationen zum Denken zubilligt, aber von einer chronischen Fehlrepräsentation der praktischen Realität durch diese ausgeht und daher ii) keine epistemische Berechtigungs-, sondern eine Verbotsnorm für Urteile auf der Grundlage emotionalen Gehalts ansetzt. Es ist allerdings, und damit komme ich zum Punkt, eine Zweideutigkeit in der Stoßrichtung der gerade vorgestellten Positionen zu beachten. Denn je nach epistemologischem Kontext können ihre Hauptthesen in einem mehr oder weniger spektakulären Sinn aufgefasst werden. Betrachten wir nämlich die Angelegenheit aus der Perspektive eines allgemeinen Kohärentismus und bleiben bei dem zarten Vorgriff, dass es sich bei Emotionen um eine Art von Erfahrungszuständen handelt, dann erscheint der arationale Sentimentalismus lediglich als eine partikulare Konsequenz dieser Theorie der Begründung, nach der es grundsätzlich keine rationalen, sondern eben nur kausale Beziehungen zwischen Erfahrung und Denken gibt, nicht nur bei Emotionen, sondern auch bei handelsüblicher Sinneswahrnehmung. Tatsächlich aber Praktische Anschauung
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operieren alle gegenwärtigen Versionen jener Erkenntnistheorie der Emotionen, die auf der Ahnung der ›Intelligibilität‹, ›Rationalität‹ oder ›Repräsentationalität‹ von Emotionen aufbauen 53, ebenso wie ihre Gegner, analog zu der in der Einleitung vorgestellten vergleichenden Skepsis unter der impliziten, komparativen Prämisse, dass es überhaupt sinnvoll ist, in Bezug auf Erfahrung von repräsentational gehaltvollen Zuständen zu sprechen. Erst auf dieser Grundlage kann dann pointierter geschlossen werden, dass Emotionen im Unterschied zu normalen Erfahrungszuständen nicht bzw. ebenso wie diese repräsentational gehaltvoll sind. Da ich, wie oben erwähnt, denke, dass sich unter kohärentistischem Vorzeichen aus prinzipiellen Gründen keine inegalitaristischen Thesen aus einer Erkenntnistheorie der Emotionen ziehen lassen, ist diese komparative Lesart des arationalen Sentimentalismus jedenfalls die Lesart, die ich im Weiteren voraussetze. Das heißt, um dem anvisierten Streit die Bühne zu sichern, gehe ich in diesem Kapitel davon aus, dass entweder der Konzeptualismus oder Nonkonzeptualismus in der Wahrnehmungstheorie korrekt ist und, da ich weiterhin komparativ Erfahrungszustände mit naturwissenschaftlichem Gehalt als paradigmatisch betrachte, schließe ich ebenso spartanistische Versionen des Nonkonzeptualismus aus (vgl. Kap. 2.2). Legen wir auf der anderen Seite beim Kohärentismus den Akzent auf seinen Ausschluss nicht-inferentieller Formen der Begründung, ergibt sich nun ein analoges Bild für den intellektualistischen Sentimentalismus. Die Bewertung einer rein nicht-inferentiellen Transition von einer Emotion zu einem Urteil als irrational kann als Folgerung aus der allgemeinen Überzeugung gelesen werden, dass es nie rational ist auf der Grundlage eines Erfahrungsgehaltes allein ein Urteil zu fällen. Etwa könnte man für perzeptive Gehalte fordern, ein Denker müsse immer auch die begründete Überzeugung besitzen, dass er unter Normalbedingungen wahrnimmt. Wiederum beschleicht einen allerdings der Verdacht, dass die Vorstellung, man müsse angesichts der trügerischen praktischen Petitionen der Leidenschaften stets Zurückhaltung üben, und zwar durch die Ausbildung der generellen Disposition, nie auf ihrer Grundlage zu einem Urteil zu gelangen, üblicherweise von So finde ich etwa bei vielen Klassikern aus der jüngeren Emotionstheorie, die den repräsentationalen Charakter von Emotionen hervorheben, etwa bei De Sousa (1987), Kenny (1963), Lyons (1980), Nussbaum (2001) oder Stocker (1996) keinerlei explizite Auseinandersetzung mit dem Kohärentismus.
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der komparativen Überzeugung begleitet wird, dass es im Gegensatz zu diesen überhaupt Erfahrungszustände gibt, auf Grundlage derer eine nicht-inferentielle Transition legitim ist. Jedenfalls ist es auch bei der zweiten Position diese komparative Lesart, die in der folgenden vergleichenden Erörterung für mich von Interesse ist. Es sind nun diese relational aufgefassten Positionen eines arationalen und eines intellektualistischen Sentimentalismus, denen ich einen ebenso relational zu verstehenden rationalen Sentimentalismus 54 entgegenstellen möchte. Sein zentraler Gedanke ist die These, dass die Hauptthesen der beiden Alternativpositionen falsch sind. Entsprechend besteht das Argumentationsziel dieses Kapitels darin zu zeigen, dass komparativ zwei Paare von Ansichten jeweils nicht zusammenbestehen können, nämlich einerseits die Ansicht, dass Emotionen nicht-repräsentationale Zustände sind, und die, dass es Erfahrungszustände mit repräsentationalem (naturwissenschaftlichem) Gehalt gibt, sowie andererseits die Ansicht, dass für Emotionen eine epistemische Verbotsnorm gilt, während für den Inhalt ähnlicher Zustände eine Berechtigungsnorm angenommen wird. Entgegen anderer denkbarer Varianten eines rationalen Sentimentalismus werde ich diese Position hier jedoch in der Version einer Anschauungstheorie der Emotionen verteidigen, die ihm eine dritte komparative, und zwar psychologische Pointe gibt: Unter dem relationalen Vorbehalt wird meine unten entwickelte Antwort lauten, dass eine Emotion eine Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt ist. Diese zentrale Behauptung fächert sich dabei in vier (respektive zwei mal zwei) Komponenten auf. Dabei ist wohl die erste Komponente, deren Verteidigung mich über weite Teile des Kapitels beschäftigen wird, die Bedeutendere, da sie insbesondere auf die Einebnung der Dichotomie von Sinneswahrnehmung und Emotion hinausläuft. Meine erste Antwort auf die Was-ist-Frage in der Emotionstheorie soll lauten, dass wir unter den anvisierten Zuständen einige paradigmatische Fälle finden, die sich von gewöhnlichen perzeptiven Zuständen klassifikatorisch nicht sinnvoll unterscheiden lassen. Ich werde also sagen, in jenen Fällen gilt: Emotion ist Sinneswahrnehmung, nur eben eine solche mit praktischem Gehalt. Diese Unterklasse werde ich im hiesigen Kontext auch einfache Anschauungen nennen, um sie besser von einer zweiten Form der Anschauung zu unterscheiden, die ein besseres Modell für 54
Diesen Ausdruck übernehme ich von D’Arms und Jacobson (2000a).
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letztlich die meisten emotionalen Zustände darstellt. Jene haben durch ihre Non-Doxastizität und Repräsentationalität wichtige Eigenschaften mit einfachen Anschauungen gemein, unterscheiden sich aber durch ihre komplexere, ›indirekte‹ Kausalkette, die sie vom Repräsentierten trennt, weshalb ich für sie den Titel einer komplexen Anschauung reserviere. In epistemisch-normativer Hinsicht werde ich anschließend für Emotionen im Sinne dieser beiden Anschauungstypen argumentieren, dass für sie dieselben epistemischen Normen gelten, wie für entsprechende Anschauungen mit nicht-praktischem bzw. naturwissenschaftlichem Gehalt. Der komparative rationale Sentimentalismus lässt sich also kondensiert auf folgende zwei Thesen bringen, von denen die erste psychologisch etwas über die betreffende Art von Zuständen aussagt, die zweite etwas über die epistemische Berechtigung auf der Grundlage jener Zustände: T3. Emotion ist eine Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt. Diese praktischen Anschauungen zerfallen in zwei Klassen von Zuständen, nämlich a) einfache Anschauungen (Sinneswahrnehmungen) und b) komplexe Anschauungen. T4. Für einfache und komplexe Anschauungen mit praktischem Gehalt gelten dieselben epistemischen Normen wie für einfache und komplexe Anschauungen mit naturwissenschaftlichem Gehalt. Dabei ist zu beachten, dass diese beiden Behauptungen nicht nur unter der gerade thematischen Präsupposition der Richtigkeit einer konzeptualistischen oder nonkonzeptualistischen Wahrnehmungstheorie stehen, sondern ebenso unter den in der Einleitung getroffenen Prämissen. So wird etwa durch die provisorische ontologische Festlegung auf praktische Tatsachen und Eigenschaften gewährleistet, dass ein mentaler Zustand mit praktischem Gehalt wie der emotionale prinzipiell geeignet ist, jene praktischen Aspekte korrekt zu repräsentieren, und durch den psychologischen Ausschluss irreduzibel konativer Zustände postuliert, dass Emotionen nicht deshalb keine genuin anschauungsartigen Zustände sein können, weil sie ›eigentlich‹ Zwitterwesen sind, gekreuzt aus normaler Anschauung und zum Beispiel ›Wünschen‹. 55 Diese Prämisse bedingt auch, dass ich unten ›Wunschtheorien‹ der Emotionen, wie man sie nennen könnte, die emotionale Zustände als ganz oder partiell durch nichtkognitive Zustände konstituiert vorstellen, nicht diskutiere (vgl. Gordon 1987; Marks 1982; Wollheim 1999). Dies halte ich für konsequent, da ich diese Ansätze aus sehr viel
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Die Verteidigung des rationalen Sentimentalismus in Form einer Anschauungstheorie setzt sich dabei aus folgenden Schritten zusammen: Die nächsten Abschnitte konzentrieren sich zunächst ausschließlich auf die Fälle von Emotionen, die vernünftigerweise als einfache sinnliche Anschauungen behandelt werden können. Dabei wird im nächsten Abschnitt zuvorderst durch eine kurze Phänomenologie der Emotionalität herausgearbeitet werden, dass diese Emotionen als repräsentationale Zustände aufgefasst werden sollten, ebenso aber, dass uns diese Einsicht wider die ›Urteilstheorie‹ von Solomon und Nussbaum nicht dazu verführen sollte, sie als doxastische Zustände zu behandeln (4.1.). Zweitens gilt es, diese Anschauungsidee weiter auszubuchstabieren und gegen einige ad-hoc-Einwände zu verteidigen, um den Gedanken abzuwehren, nach welchem Emotionen am Ende doch non-perzeptive Zustände ›sui generis‹ sind (4.2.). Der weitaus längste, dritte Abschnitt widmet sich einerseits einer kritischen Beurteilung der sogenannten ›Gefühlstheorien‹ in der Tradition von William James und systematisch einer Eruierung des Verhältnisses von Emotion und der viszeralen Wahrnehmung körperlicher Vorgänge, insbesondere der besonderen Sinnesqualitäten der Letzteren (4.3.). Dieser Abschnitt nimmt deshalb den größten Raum ein, weil die Gefühlstheorien m. E. die größte Gruppe von Emotionstheorien stellen und weil das Problem einer Integration des Gefühls das vielleicht Gravierendste in der Emotionstheorie sein dürfte. Gerade aber in Theorien, die in der einen oder anderen Weise die Rationalität oder Intelligibilität von Emotionen hervorheben, zu denen schließlich auch die Anschauungstheorien gehören, wird dieses Problem gerne vernachlässigt. Die Grundidee der in den ersten drei Abschnitten entwickelten Anschauungstheorie der Emotionen ist an sich nicht neu. 56 Ich denke, eine Neuerung der nachfolgenden Erörterung liegt dennoch in der Präzisierung des Sinns, in welchem Emotionen als Anschauungen betrach-
weiter gehenderen psychologischen und erkenntnistheoretischen Erwägungen ablehne, die die Prämisse der kognitiven Suffizienz betreffen, aber nicht Gegenstand dieser Abhandlung sind. 56 Diese Wahrnehmungstheorie der Emotionen knüpft an die Grundlinien der Ansätze von (Döring 2007; Johnston 2001; Putnam 1998; Roberts 2003) und mit Abstrichen von (de Sousa 1987) an und weist daneben gravierende Ähnlichkeiten zu vielen Äußerungen der umfangreicheren metaethischen Programme von Wiggins und McDowell auf (vgl. v. a. McDowell 1994b, 1998a, 1998c, 1998d, 1998e; Wiggins 1988, 1998). Praktische Anschauung
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tet werden sollten. Zudem dürfte, soweit ich sehe, eine Weiterentwicklung in einem klareren Verständnis der Relation von Emotion und Gefühl liegen. Daneben zeigt sich, dass die Gemeinde der Anschauungstheoretiker letztlich kopfstärker ist, als man vermuten könnte, weil eine salomonische Pointe der Erörterung sein wird, dass auch die Urteils- und Gefühlstheorien, sobald wir einige terminologische Barrieren und Vagheiten beiseite geräumt haben, sich als im Kern als anschauungstheoretisch entpuppen. Eine Neuerung liegt schließlich auch in der Addition einiger dringend erforderlicher Argumentationsschritte bei der Generalisierung der Anschauungstheorie (4.4.). Dazu gehört, dass die anfängliche Identifikation einiger Emotionen mit (einfachen) Anschauungen nicht völlig ungeniert generalisiert wird. Zu einer Generalisierung gelange zwar auch ich, aber nur mutatis mutandis, insofern im vierten Abschnitt zunächst eine sorgfältige Charakterisierung der erwähnten komplexen Anschauungen erfolgen muss sowie ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich mit einfachen Anschauungen. Dies gilt auch für die Frage der epistemischen Berechtigung auf der Grundlage emotionaler Zustände. Denn während durch den Umstand, dass einige Emotionen einfache sinnliche Anschauungen sind, in diesen Fällen ipso facto dieselben egalitaristischen Thesen, die oben für die praktische Sinneswahrnehmung entwickelt wurden, Geltung besitzen, sind im Falle komplexer Anschauungen, ob mit praktischem oder nicht-praktischem Gehalt, zusätzliche Erwägungen von Belang. Schließlich möchte ich noch in Rekapitulation der Ergebnisse kurz auf die Frage eingehen, inwiefern Emotionen im Lichte der hier entwickelten Konzeption als ›kognitiv‹ bzw. ›rational‹ zu gelten haben (4.5.). Bei der Betrachtung der neueren Metaethik und der Durchsicht der parallel, aber dabei recht abgelöst geführten Emotionsdebatte drängt sich der deutliche Eindruck auf, dass in beiden Dialogen im Grunde dieselben Streitfragen auf der Tagesordnung stehen. Auch für diese Wahrnehmung aus der Vogelperspektive liefert dieses Kapitel eine Erklärung: Während dort praktischer Gehalt allgemein bedacht wird, liegt die Aufmerksamkeit hier auf praktischem Gehalt, sofern er angeschaut wird.
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Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie
4.1. Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie Wenn ich nun von Emotionen spreche, meine ich damit zuvorderst diejenigen Zustände, die paradigmatische Beispiele für Emotionen sind. Dazu gehören Freude, Trauer, Wut, Furcht, Ekel, Scham, Schuld, Empörung, Eifersucht, Neid, Liebe, Hass. Dies ist eine offene Liste, die nicht suggerieren soll, dass dies die einzigen oder die einzigen zentralen Typen von Emotionen sind (tatsächlich meine ich, dass das richtige Verständnis von Emotion als Anschauung mit praktischem Gehalt zwangsläufig zu der Einsicht führen muss, dass jede derartige, endliche Liste unvollständig bleiben muss). Da ich mich aber nicht mit einer langen Typologie aufhalten möchte, werde ich ein Vorverständnis davon voraussetzen, welche Zustände diesen paradigmatischen Beispielen hinreichend ähnlich sind.
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Eine Bestandsaufnahme
Obwohl ich aber ein solches Vorverständnis annehme, scheint es mir dennoch dringlich geboten, mit einer explorativen Phänomenologie der Emotionen einzusetzen. Zwar sollte dieses Vorverständnis implizieren, dass im Grunde jeder in etwa weiß, was damit zusammenhängt, wenn jemand eine emotionale Episode erfährt. Nichtsdestotrotz sind nach meinem Dafürhalten einige Charakterisierungen von Emotionen fest im Gemeinsinn verankert, die einerseits mit einer angemessenen Beschreibung des Phänomens im Widerspruch stehen und andererseits für das bloße Vorhaben einer Erkenntnistheorie der Emotionen zum Problem werden. Dazu gehört in erster Linie die der oben beschriebenen ersten Art von Sentimentalismus entsprechende Vorstellung, dass Emotionen ein irgendwie ›arationaler‹ Teil des mentalen Haushaltes von Individuen sind, während dies für andere mentale (Erfahrungs-) Zustände nicht gedacht wird. Der Glaube an die Arationalität von Emotionen muss Stirnrunzeln angesichts des Projektes einer Erkenntnistheorie der Emotionen hervorrufen, weil nur das sinnvoll Gegenstand einer epistemologischen Betrachtung sein kann, was sich durch seine Empfänglichkeit für Gründe auszeichnet. Dabei ist es wiederum nicht sonderlich originell, tut aber auch nicht weh, anzumerken, dass diese Vorstellung säuberlich von der Idee, dass Emotionen irrational sind, separiert werden Praktische Anschauung
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muss. Komplementär müssen zwei Grundbedeutungen von ›rational‹ im Sinne eines Vermögens und im Sinne einer aktuellen Verstandesleistung auseinandergehalten werden. Mit letzterer These müssen wir uns im Rahmen des momentanen Unterfangens nicht auseinandersetzen, da sie in einer Deutung sicher unproblematisch, in einer anderen sicher falsch ist. Dass viele emotionale Episoden und ihre inferentiellen Konsequenzen irrational sind, kann und sollte zugestanden werden. Andererseits aber bedeutet die Diagnose der Irrationalität bereits ein implizites Eingeständnis, dass es grundsätzlich auch rationale Transitionen von und zu emotionalen Zuständen geben kann, die Gegenstand einer erkenntnistheoretischen Betrachtung sein können. Im Gegensatz zur Arationalität ist daher der Glaube, dass alle Emotionen immer irrational sind, eine unmögliche Position, da wir uns bei ›absoluter‹ Irrationalität auch epistemologischer Bewertungsstandards entledigen würden, die für die Diagnose dieser Irrationalität unabdingbar sind. Halten wir uns daher an die Arationalitätsthese, ist auf der positiven Seite ihrer Bilanz zu verzeichnen, dass wir bei vielen Aspekten emotionaler Episoden eines Individuums sehr weitgehend von seiner internen epistemischen Verfasstheit absehen können. Wenn wir einen Zustand als eine Emotion bestimmten Typs identifiziert haben, werden wir üblicherweise charakteristische körperliche Veränderungen verzeichnen, die das Auftreten der Emotion begleiten. Dazu gehören einerseits die Modifikation physischer und neurophysischer Prozesse, andererseits der behaviorale Ausdruck, Mimik und Gestik sowie mit meist geringerer Reliabilität gewisse Verhaltensprofile. Eine Untersuchung jener Aspekte der Emotionalität kann im Optimalfall zu einer konstitutiven, neurologischen Erklärung der Emotion führen. Ebenso kann eine genealogische, evolutionstheoretische Erklärung unter Umständen eine interessante Spekulation über den Zusammenhang zwischen beobachtbaren emotionalen Zuständen, ihrer körperlichen Realisierung und gewissen Ereignissen in der Gattungsgeschichte der menschlichen Spezies liefern, z. B. wie bestimmte behaviorale Reaktionsmuster unter besonderen biotopischen Konstellationen dem Überleben und der Fortpflanzung dienlich waren. All diese Phänomene erlauben, die Frage rationaler Transitionen von und zu einer Emotion seitens eines Denkers zurückzustellen. Die Vernachlässigung von Rationalität und individuellen Gründen wird aber bereits dann ein Problem, wenn wir in die Untersuchung ebenso eine genealogische, sozio208
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Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie
kulturelle Erklärung einer Emotion einflechten wollen. Selbst ›von außen‹ betrachtet variieren Emotionen mit dem, was in einer Gemeinschaft als gut, richtig, gesollt und damit als (praktischer) Grund angesehen wird, respektive welche inferentiellen Beziehungen zwischen praktischen und nicht-praktischen Urteilen als legitim eingestuft werden. Einen Rekurs auf die praktischen Überzeugungen von Akteuren verlangt außerdem jede strategisch-teleologische Betrachtung der Handlungskonsequenzen einer Emotion sowie die Möglichkeit, Verhalten überhaupt als Handeln anzusehen – sofern es eine Emotion ist, die ein Verhalten veranlasst. Dazu gehören auch die kommunikativen Aspekte emotionaler Episoden, die entweder das Vorliegen eines solchen Zustandes selbst kommunizieren oder aber per ›Ansteckung‹ Emotionen bei Anderen induzieren. Der zentrale Punkt und die essentielle Komponente aller Emotionalität, die jedoch klar die Inkompatibilität mit der Arationalitätsthese demonstriert, ist, dass Emotionen nicht nur zufällig mit den praktischen Überzeugungen eines Individuums und der Gemeinschaft, in die es eingebettet ist, variieren, sondern dass es die Erklärung für diese Kovariation ist, dass Emotionen selbst mentale Zustände mit repräsentationalem Gehalt sind, die unter günstigen Bedingungen sowohl selbst – in bestimmtem Sinne – begründet sind als auch selbst als Gründe fungieren können. Diese Repräsentationalitätsthese soll zweierlei besagen, nämlich dass emotionale Zustände a) begrifflichen Gehalt aufweisen und b) Korrektheitsbedingungen unterliegen (eben weil sie solch begrifflichen Gehalt besitzen), insofern als es davon abhängt, wie die Welt beschaffen ist, ob es so ist, wie der Gehalt der Emotion es darstellt. Wenn wir den folgenden Ausdruck als verständlich voraussetzen, lässt sich sagen: Emotionen haben eine Geist-Welt-Passensrichtung (mind-to-world-direction of fit) (vgl. Döring 2007: 15 ff.). Abhängig von der Beschaffenheit der Welt gibt es eine Vielzahl von Hinsichten, in denen eine Emotion fehlrepräsentieren kann. Nehmen wir als Beispiel die Furcht vor den sich nähernden Schwiegereltern. Furcht hat als Zustand einen klar umrissenen propositionalen Gehalt, nämlich dass ein Gegenstand (die Schwiegereltern, das ›target‹ der Emotion) bestimmte Eigenschaften aufweist (ihre Fähigkeit zu verletzender Kritik, der ›focus‹ der Emotion), die dem ›formalen Objekt‹ der Emotion, im Falle der Furcht die ›Gefährlichkeit‹ bzw. genauer die hohe Wahrscheinlichkeit anzeigt, dass der Gegenstand etwas als wertvoll Betrachtetes zerstört, schädigt oder an seiner Entstehung hindert, Praktische Anschauung
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etwa die Beziehung zu seiner Frau oder die Selbstachtung des Betroffenen. 57 Dieser propositionale Gehalt ist in der Situation aber nicht bloß vorgestellt, sondern steht unter dem Diktat von Korrektheitsbedingungen, die erfüllt sein können oder nicht. So können die ›normalen‹, d. h. nicht-praktischen Aspekte der Situation anders sein als es scheint, weil z. B. a) die sich nähernden Personen nicht die Schwiegereltern sind oder b) diese mittlerweile ihre Tendenz zu beißender Kritik zugunsten der Tugend eines wohlmeinenden Kommentars aufgegeben haben. Aber auch die praktischen Aspekte der Situation können anders sein, als es die Emotion ›sagt‹, weil etwa c) der zunehmend selbstbewusste Protagonist des Beispiels die mühsame Diskussion mit den Schwiegereltern mittlerweile eigentlich als gutes Training zum Zwecke der Selbstbehauptung einschätzt oder c’) die Beziehung zu seiner Frau ohnehin schon in Trümmern liegt und er schon an Scheidung denkt. Gegen die in meinen Augen recht natürliche Rede von den ›praktischen Aspekten einer Situation‹ könnte man dabei ontologische Bedenken hegen. Da ich aber die Existenz praktischer ebenso wie naturwissenschaftlicher Tatsachen voraussetze, gehe ich gleichfalls davon aus, dass der emotionale Gehalt diese praktischen Aspekte ebenso richtig oder falsch repräsentieren kann, wie die nicht-praktischen Aspekte. Um also die Repräsentationalitätsthese noch einmal explizit zu den vorhergehenden Prämissen in Beziehung zu setzen: Ich will sagen, dass Emotionen repräsentational sind, sofern Erfahrungszustände überhaupt (wider den Kohärentismus) repräsentational sind, und dass Emotionen auch hinsichtlich ihres praktischen Gehaltes repräsentational sind, sofern praktischer Gedankeninhalt überhaupt (so wie naturwissenschaftlicher Inhalt) als repräsentational aufgefasst werden kann (s. Prämisse III’ der Einleitung). Diese phänomenologische Bestandsaufnahme demonstriert, dass Emotionen in den folgenden, sehr entscheidenden Hinsichten rationale mentale Zustände sind: Denn i) stehen sie unter dem normativen Diktat von Korrektheitsbedingungen und ii) sind sie psychologisch und normativ offen für rationale Kritik, weil wir üblicherweise sowohl tatsächlich das Verschwinden der Emotion beobachten, sofern ein Individuum erkennt, dass die Welt anders ist, als es ihm emotional erschien (a–c’), aber andersherum prima facie denken, dass sie zumindest verschwinden sollte, sofern widerspenstige Fakten bewusst werden; iii) be57
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Diese Terminologie stammt von De Sousa (vgl. 1987: 114 ff.).
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Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie
trachten Akteure ihre emotionalen Zustände nicht selten selbst als Gründe für praktische Schlussfolgerungen. Es lohnt sich, bereits an dieser Stelle anzumerken, dass Emotionen hingegen nicht, jedenfalls nicht notwendig ›rational‹ in einem weiteren Sinne sein müssen, insofern die Rede von rationaler Kritik nicht impliziert, dass eine aktuelle Emotion Ergebnis eines korrekten Schlusses sein muss. Begründet und rational zu sein, muss nicht, wie man in Vorausschau auf den Vergleich von Sinneswahrnehmung und Emotion sagen kann, in der Realisierung einer inferentiellen Beziehung bestehen, sondern kann auch eine nicht-inferentielle Verstandesleistung bezeichnen, die in einem spontanen, aber richtigen Erfassen der Bedeutsamkeitsstruktur einer Situation besteht. Aus dem Tatbestand des repräsentationalen Gehaltes von Emotionen, ihrer Korrektheitsbedingungen und ihrer Offenheit für rationale Kritik, folgt nun analytisch, dass es irgendwelche epistemischen Normen geben muss, die Transitionen von und zu einem emotionalen Zustand regieren. Denn Begründet-Sein, Offenheit für Gegengründe und (potentiell) die Möglichkeit, selbst einen Grund darzustellen, heißt für einen mentalen Zustand, in epistemisch-normativen Relationen zu stehen. Genau dies verbürgt aber die Falschheit des arationalen Sentimentalismus und umgekehrt die Legitimität einer Epistemologie der Emotionen. Diese ist zunächst nur eine Aspekttheorie des Phänomens. Die erkenntnistheoretische Betrachtung der Emotionen als repräsentational gehaltvolle Zustände unterscheidet sich allerdings von anderen Aspekttheorien, die etwa ihre physiologische Realisierung oder ihren mimischen und gestischen Ausdruck untersuchen, dadurch, dass ihr Priorität bei der Identifikation des Phänomens zukommt. Die physiologischen und behavioralen Begleitumstände einer Emotion sind kontingent. Was aber einen mentalen Zustand zu einer Emotion bestimmten Typs macht, ist ihr (praktischer) repräsentationaler Gehalt.
ii.
Die Urteilstheorie der Emotionen nach Nussbaum und Solomon
Es gibt nun eine recht naheliegende Option, die erkenntnistheoretische Frage mit einem Schnellschuss zu beantworten, damit aber den Beitrag von Emotionen zu begründeten, praktischen Überzeugungen deutlich Praktische Anschauung
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zu übertreiben. Nach dieser Theorievariante liefern Emotionen nicht nur Gründe für praktische Überzeugungen, sondern sie sind identisch mit ihnen, weil Emotionen selbst Urteile darstellen. Eine solche Urteilstheorie wird in der jüngeren Debatte prominent von Nussbaum und Solomon vertreten. Die Autoren schreiben: »We have noted that emotions are interestingly similar to beliefs. We can now explain this similarity by claiming that emotions are judgments – normative and often moral judgments.« (Solomon 2003: 7)
Und: »This view holds that emotions are appraisals or value judgments, which ascribe to things and persons outside the person’s own control great importance for the person’s own flourishing. It thus contains three salient ideas: the idea of a cognitive appraisal or evaluation; the idea of one’s own flourishing or one’s important goals and projects; and the idea of the salience of external objects as elements in one’s own scheme of goals.« (Nussbaum 2001: 4)
Diese Identifikation von Emotion mit praktischen (Wert-)Urteilen ist keineswegs unplausibel. Denn Urteile sind paradigmatisch für Zustände mit repräsentationalem Gehalt. Die epistemischen Normen, die den Umgang mit Emotionen regieren, wären damit dieselben wie die von Urteilen. Es muss allerdings zum Schaden der genannten Ansätze darauf hingewiesen werden, dass es einige krasse Disanalogien zwischen dem Phänomen Emotion und handelsüblichen Urteilen gibt. Diese Disanalogien lassen sich unter den Stichpunkten der Trägheit, der Unartikuliertheit und der Divergenz zusammenfassen. 58 Trägheit: Urteile haben die Eigenschaft, dass sie üblicherweise von einem rationalen Individuum sofort wiederrufen werden, sobald sich aus seiner Sicht starke Gründe gegen sie ergeben. Übertragen wir diese Einsicht auf den emotionalen Fall, sollte man erwarten, dass eine emotionale Episode endet, sobald die Gründe für die Annahme der Richtigkeit ihres Gehaltes klar übertrumpft oder unterminiert sind. Dies ist aber nicht der Fall. Das klassische Beispiel ist die Flugangst, die oftmals chronisch fortbestehen kann, obwohl sich für den Betroffenen gute Gründe ergeben zu urteilen, dass Fliegen nicht gefährlich ist. Emotionen zeichnen sich deutlich durch eine relative Inflexibilität gegenüber praktischen Deliberationsprozessen aus.
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Für ähnliche Einwände (vgl. Griffiths 1997: 27 ff.; Roberts 2003: 84 ff.)
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Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie
Ich sehe zwei mögliche Repliken auf diesen Trägheitseinwand. Die erste verwiese auf die Möglichkeit der theoretischen Akrasie. Theoretische Akrasie ist die zur praktischen Willensschwäche analoge Möglichkeit des (mentalen) Handelns wider besseres Wissen, beispielsweise des Fällens eines Werturteils wider bessere epistemische Gründe. Demnach könnte der Denker im gegebenen Fall schlicht theoretisch willensschwach sein und daher scheitern, sein praktisches Urteil, dass mit der Emotion identisch ist, trotz besseren Wissens zu korrigieren. Diese Replik hat allerdings zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist keinesfalls unumstritten, was überhaupt Willensschwäche im praktischen Fall ist bzw. welche mentalen Mechanismen hier am Werke sind, so dass wir durch die Replik ein äußerst grobes Modell auf die Emotionstheorie übertrügen, ohne die Legitimität dieser Analogie genau abschätzen zu können. Das gewichtigere Problem ist aber, dass wir als Kontrastfolie eine einigermaßen klare Vorstellung benötigen, was es für einen Denker zu einem gegebenen Zeitpunkt überhaupt bedeuten könnte, tatsächlich theoretisch willensstark zu sein und im Lichte besserer Gründe seine Emotion zu korrigieren. Ich meine aber, dass wir dieser Idee keinen Sinn abgewinnen können. Unsere beste Vorstellung theoretischer Enkrasie in der Zusammenschau von Emotionen und praktischen Urteilen ist nicht, dass ein Denker qua theoretischem Entschluss jede als repräsentational unangemessen erkannten emotionalen Gehalte zu eliminieren vermag. Unsere beste Vorstellung von theoretischer Willenstärke ist vielmehr, dass es einem Denker gelingt, im Lichte besser Gründe ein praktisches Urteil trotz der Emotion zu fällen und damit die Souveränität der Deliberation gegenüber dieser Einzelevidenz zu bewahren. Die zweite Replik gegen den Trägheitseinwand verweist auf das, was man deliberative Friktion nennen könnte. Die entsprechende Überlegung findet sich bei Nussbaum (vgl. 2001: 35 f.). Praktische Urteile allgemein oder Werturteile, auf welche Nussbaum den emotionalen Gehalt zuschneidet, sind komplex, in dem Sinne als sie auf vielfältigen, nicht-praktischen Urteilen basieren. Dies entspricht dem Gedanken, dass praktische Eigenschaften auf einer verschachtelten Gemengelage nicht-praktischer, einfacherer Eigenschaften supervenieren. Daher ist es plausibel, auch eine komplexe, inferentielle Einbettung praktischer Urteile in das Überzeugungssystems eines Individuums anzunehmen. Trotz besserer Einsicht in die Falschheit eines praktischen Urteils mag es nun sein, dass die inferentiellen Beziehungen dieses Urteils nicht Praktische Anschauung
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instantan aufgelöst werden können. Es braucht Zeit, bis quasi die ›kognitive Therapie‹ der Reflexion so weit fortgeschritten ist, dass alle epistemisch gebotenen Anpassungen des Überzeugungssystems vorgenommen sind. In der Zwischenzeit aber kann es jeweils wieder zu geteilter Aufmerksamkeit für kontradiktorische Evidenzen und zu falschen Inferenzen kommen, so dass ein Fortbestehen der Emotion als ein praktisches Urteil nichts Verwunderliches an sich hat. So mag ein Denker zu dem Schluss gelangen, dass Fliegen nicht gefährlich ist. Aber er mag andere, dem zuwiderlaufende Urteile haben wie ›Zu Fliegen ist lebensmüde‹ oder ›Fliegen bedeutet ein ernsthaftes Risiko für die Gesundheit‹ oder ›Autofahren erlaubt eine bessere Kontrolle des Transportrisikos als Fliegen‹, die mit dem neuen Urteil direkt oder indirekt konfligieren. Dagegen ist wiederum zweierlei einzuwenden. Erstens läuft diese Schilderung darauf hinaus, dass die Emotion eben nicht das anfängliche Werturteil ›Dies, das Fliegen, ist gefährlich‹ ist, sondern allenfalls selbst eine Gemengelage unzähliger Werturteile, die die Emotion mitkonstituieren, so dass selbst nach Verwerfen einzelner Werturteile die Emotion fortbesteht. Denn, dass der Denker jenes Werturteil aufgegeben hat, war ja die Prämisse. Zweitens kann man wohl niemanden dazu zwingen, die Urteilstheorie aufzugeben, sofern er oder sie den Urteilsbegriff auf Biegen und Brechen nur weit genug ausdehnt. Dennoch ist anzumerken, dass es dabei schlicht eine bessere theoretische Alternative gibt, die relative Trägheit von Emotionen zu erklären, ohne unsere mentale Begrifflichkeit zu überdehnen, nämlich nach dem Modell der Anschauung! Konzeptualisiert man das Verhältnis von Emotion und Urteil nach dem Verhältnis von Anschauung und Urteil, bereitet es keine Schwierigkeiten, die Trägheit von Emotionen als die relative Unabhängigkeit perzeptiver Zustände gegenüber der Deliberation zu verstehen, ohne dabei den Gedanken ihrer langfristigen, rationalen Interdependenz aufgeben zu müssen. Dies ist die angemessenere Beschreibung des Sachverhalts. Unartikuliertheit: Die zweite Disanalogie zwischen Emotion und einem praktischen Urteil ist der Grad der Artikulation von Urteilen. Wenn jemand ernsthaft ein praktisches Urteil fällt, müssen wir annehmen, dass ihm der Gehalt dieses Urteils bewusst ist. Dazu gehört ein aktives Beherrschen der für es konstitutiven Begriffe, etwa die Fähigkeit auf Nachfrage erläuternd begriffliche Zusammenhänge des Urteilsgehalts explizit zu machen und zentrale inferentielle Konsequen214
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Phänomenologie der Emotionen und die Urteilstheorie
zen des Urteils zu realisieren. Dieses Merkmal weisen Emotionen in vielen Fällen nicht auf. Zwar sind auch Emotionen meist bewusste mentale Zustände und sind als Emotion eines bestimmten Typus, so denke ich (s. u.), durch ihren begrifflichen, praktischen Gehalt individuiert. Es bereitet aber im Gegensatz zu einem praktischen Urteil keine Schwierigkeiten, sich diesen Gehalt als einen impliziten begrifflichen Gehalt vorzustellen, ohne den Gedanken fallen zu lassen, dass das betreffende Individuum dennoch diese und keine andere Emotion erfährt. So mag jemand große Freude angesichts eines bevorstehenden Abendessens empfinden, ohne zu wissen, dass dies deshalb so ist, weil er weiß, dass eine für ihn wichtige Person anwesend sein wird. Daher mag je nach Artikulation des emotionalen Gehalts entweder der eigentliche Gegenstand der Emotion oder die Eigenschaft, die das Abendessen zu einem freudigen Anlass macht (die Anwesenheit der Person) ihm nicht bekannt sein. Einem anderen mag es sogar misslingen, die Emotion selbst überhaupt zu identifizieren. So mag jemand zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht in der Lage sein, einen emotionalen Zustand als Verachtung gegenüber einem Familienmitglied zu artikulieren, etwa weil diese Einsicht normativen Vorstellungen von harmonischem Familienleben entgegensteht. Auch hier ist das Modell der Anschauung leistungsfähiger: Auch die begrifflichen Gehalte einer Sinneswahrnehmung sind einem rationalen Individuum wenigstens prinzipiell zugänglich, insofern diese perzeptiven Gehalte bei entsprechender Aufmerksamkeit und Abwesenheit von Störungen Gegenstand des expliziten (Selbst-)Bewusstseins werden können. Diese Möglichkeit, nicht aber die Realisierung dieser Möglichkeit ist die Bedingung dafür, dass das Individuum überhaupt diese perzeptiven Bewusstseinsinhalte hat. Divergenz: Die Aspekte von Trägheit und Unartikuliertheit lassen sich letztlich beide unter den allgemeineren Einwand subsumieren, der die klar gegebene Möglichkeit der Divergenz des repräsentationalen Gehalts einer Emotion und einem Urteil mit analogem repräsentationalem Gehalt konstatiert. Erstens kann ein Individuum in einem emotionalen Zustand sein, ohne ein entsprechendes praktisches Urteil zu fällen, dass die Akzeptanz des praktischen repräsentationalen Gehaltes der Emotion involviert. Arnold könnte Boris lieben, ohne dass er bewusst urteilt, dass ihrer beider Beziehung und häufiges Zusammensein von großem intrinsischem Wert ist. Damit hängt direkt der bereits oben erwähnte Umstand zusammen, dass Emotionen nicht-rational Praktische Anschauung
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im dritten Sinne genannt werden können, als ihr Auftreten nicht die Beteiligung aktiver, inferentieller Verstandestätigkeit verlangt. Zweitens kann ein Denker ein Werturteil fällen, zu dem er inferentiell gelangt ist, ohne eine Emotion zu erfahren, deren repräsentationaler Teil dieser Inhalt ist. Man kann zum Beispiel urteilen, dass eine Art von Nahrung wie Fast Food außerordentlich gesundheitsgefährdend ist, ohne Ekel angesichts dieser Objekte zu empfinden. Drittens aber, wie das Beispiel der Flugangst bereits demonstriert hat, gibt es zahllose Fälle einer klaren Inkonsistenz zwischen dem repräsentationalen Gehalt von Emotionen und dem Gehalt von praktischen Urteilen. Dieser Tatbestand entspringt eindeutig einer phänomenologischen Beschreibung. Ein Urteilstheoretiker, der glaubt, dass bei Emotion und praktischem Urteil einfach nur zwei Urteile involviert sind, müsste nun jedoch erklären, wie es psychologisch möglich sein kann, in zahllosen Fällen einen direkten Widerspruch zu glauben und zu erklären, dass dies vor allem oder vielleicht sogar ausschließlich im Falle von Emotionen möglich ist. Denn ad hoc ist es zwar unbestreitbar, dass alle Personen mindestens einige Überzeugungen besitzen, die logisch inkompatibel sind. Dies bereitet kein Kopfzerbrechen, solange diese Widersprüche implizit und unbewusst bleiben. In der hiesigen Situation handelt es sich aber, gerade bei Akzeptanz der Urteilstheorie, per Definitionem um zwei bewusste Zustände mit kontradiktorischem Gehalt und es ist nicht zu sehen, wie man es schaffen könnte, gleichzeitig und bewusst p und nicht-p zu urteilen. Ich bin nicht sicher, ob man sagen kann, dass dies durch den Begriff eines Urteils selbst analytisch unmöglich ist, psychologisch dürfte es jedoch ausgeschlossen sein. Selbst wenn es aber in Einzelfällen nicht ausgeschlossen wäre, müsste der Urteilstheoretiker noch erklären, warum es gerade im Kontext der Emotionalität mit großer Häufigkeit zu simultanen, kontradiktorischen Urteilen kommt. Auf der anderen Seite haben wir mit dem Wahrnehmungsmodell wiederum eine völlig unproblematische Weise, diese Divergenz zu erklären. Denn selbstverständlich kann jemand einen perzeptiven Gehalt, als ob p, verzeichnen, während er aufgrund unterminierender Evidenzen nicht zur Bildung eines Urteils, dass p, gelangt und vice versa. Jemand kann so wahrnehmen, als stünde vor ihm ein Mensch, er urteilt aber nicht so, weil er ebenso weiß, dass er sich in einer Fabrik für Schaufensterpuppen befindet. Ich schließe aus diesen Gründen, dass die Urteilstheorie der Emotionen falsch ist und wir nun sowohl einen 216
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guten Anlass wie eine gute Überleitung zur Entwicklung eines perzeptiven Modells für Emotionen haben. 59
4.2. Emotion als einfache praktische Anschauung Bei der Übertragung des Modells der Sinneswahrnehmung im Sinne eines allgemeinen Modells der Anschauung auf die Emotionen ist allerdings Vorsicht geboten. Zahlreiche Binnendifferenzen und Aspekte dürfen dabei nicht durcheinander gebracht werden. Das Ziel dieses und des nächsten Abschnittes ist vorerst der Beleg und die sukzessive Verteidigung der These, dass in den Fällen, in denen der Gegenstand einer Emotion wie der der simultanen, ›normalen‹ Sinneswahrnehmung nach unserem Alltagsverständnis zufolge anwesend ist, die beste Charakterisierung von Emotion dafür spricht, perzeptive und affektive Zustände nicht zu trennen, sondern miteinander zu identifizieren. Solche Fälle sind beispielsweise die erwähnte Furcht vor den Schwiegereltern, die Wut auf einen uneinsichtigen Gesprächspartner, der einem am Tisch gegenübersetzt, der Ekel vor verdorbener Nahrung vor einem auf dem Teller oder die Zuneigung gegenüber dem Partner auf dem Balkon an einem Sonntag im August. In jenen Fällen möchte ich sagen, dass ›Emotion‹ und ›normale Sinneswahrnehmung‹ lediglich Chiffren für verschiedene repräsentationale Inhalte einer Perzeption sind. ›Emotion‹ bezeichnet dabei insbesondere den praktischen, begrifflichen Gehalt einer Sinneswahrnehmung gegenüber ihrem nicht-praktischen, begrifflichen und möglicherweise nichtbegrifflichen Gehalt. Zur Kontrastierung gegenüber einem später eingeführten Anschauungstyp bezeichne ich Sinneswahrnehmungen allgemein auch als einfache Anschauungen. Das Plädoyer für die Identität von einigen emotionalen Zuständen und einfacher Anschauung ist dabei scharf zu trennen von einer Generalisierung der Anschauungsthese für Emotionen und von einer These der epistemischen Berechtigung zu einem Urteil auf der Grundlage von Emotionen, zwei Aufgaben, die erst später erledigt werden sollen (s. Abschnitt 4.4.).
In diesem Zusammenhang wäre dann auch anzumerken, dass Moores Paradoxon nicht für Emotionen gilt, was eine Identifikation mit Urteilen und Überzeugungen gleichfalls unplausibel macht.
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i.
Das klassifikatorische Argument für die Anschauungsthese
Dies gesagt, gilt es nun, ein positives Argument für die Identität von Emotion und einfacher, praktischer Anschauung zu präsentieren. Dieses Argument besteht lediglich in zwei einfachen Schritten, nämlich erstens einer genauen Artikulation der Eigenschaften von perzeptiven Zuständen und der Facetten und Binnendifferenzen des Inhaltes solcher Zustände sowie zweitens der Demonstration, dass in Anbetracht der Eigenschaften affektiver Zustände jede Ablehnung der Identität von einigen Emotionen und Sinneswahrnehmungen eine Fehlklassifikation darstellt. Auf dieser Grundlage lässt sich dann zeigen, dass die gängigen Ad-hoc-Einwände gegen diese Identität auf einem zu einseitigen Verständnis von Sinneswahrnehmung beruhen. Die Frage nach den Charakteristika perzeptiver Zustände führt uns zurück auf das, was im Kapitel über Sinneswahrnehmung über deren generische Eigenschaften gesagt wurde. Dort hatten sich drei Eigenschaften perzeptiver Zustände herauskristallisiert, sofern wir diese, wie momentan veranschlagt, unter konzeptualistischem oder nonkonzeptualistischem Vorzeichen betrachten (s. 2.1.ii–iii.). Sinneswahrnehmung ist a) repräsentational, b) non-doxastisch und c) durch ihren Gegenstand ›direkt‹ verursacht, was bedeuten soll, dass jene Zustände, die zeitlich unmittelbar auf die Präsentation der Situation folgen, wahrscheinlich nicht aufgetreten wären, wenn die Situation anders beschaffen gewesen wäre, und dass der Zustand nicht inferentiell vermittelt ist. Legen wir aber jene Eigenschaften als notwendig und hinreichend für Sinneswahrnehmung zugrunde, erhellt daraus, dass wir auch die anvisierten emotionalen Zustände als perzeptiv klassifizieren müssen. Im letzten Abschnitt hatte sich bereits ergeben, dass diese Emotionen sowohl repräsentational gehaltvoll sind, als auch wegen ihrer Trägheit, partiellen Unartikuliertheit und der Divergenz zwischen ihnen und praktischen Urteilen vernünftigerweise als non-doxastisch angesehen werden müssen. Daneben entspringt es ebenso einer natürlichen Beschreibung des Sachverhalts, dass sie die Kausalbedingung erfüllen. Der Ekel vor dem Essen auf dem Teller oder die Wut auf den uneinsichtigen Gesprächspartner am gegenüberliegenden Ende des Tisches stellt sich zeitlich ebenso unmittelbar auf die Präsentation dieser Situation ein wie die ›normale‹ Wahrnehmung anderer nicht-praktischer Eigenschaften der Situation und sowohl Ekel als auch Wut wären wahr218
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scheinlich nicht aufgetreten, wenn die Situation anders, also das Essen nicht ekelhaft und die Debatte nicht ärgerlich gewesen wäre. Ebenso ist die Genese der Emotion nicht inferentiell vermittelt. Es wäre eine phänomenologisch grobe Fehlcharakterisierung zu sagen, der Denker hätte in diesen Fällen auf der Grundlage von Prämissen, d. h. anderer doxastischer Zustände, seinerseits auf die Emotion geschlossen. Letzteres impliziert hingegen nicht, dass Überzeugungen und begriffliche Fähigkeiten des Denkers nicht in anderer, nicht-inferentieller Weise unter die Ermöglichungsbedingungen dieser emotionalen Zustände gezählt werden sollten (s. u.) und auch nicht, dass eine Emotion jemals nur praktischen Gehalt repräsentieren könnte, da dieser nur auf der Grundlage nicht-praktischen Gehaltes und entsprechender nicht-praktischer begrifflicher Fähigkeiten vorgestellt werden kann – auf beide Punkte komme ich in Kürze zurück. Dieser kurze Kommentar zur Kausalität jener emotionalen Episoden bringt natürlich explanatorische Bedenken bezüglich praktischer Inhalte in Erinnerung. Daher möchte ich ebenso kurz den gegenwärtigen Stand der Argumentation in diesem Punkt in Erinnerung rufen: In der komparativen Erörterung der praktischen Sinneswahrnehmung hatte ich ontologische und epistemologische Varianten explanatorischer Argumente unterschieden. Ontologische Argumente hatte ich dabei von vornherein durch existentielle Präsumtion praktischer Eigenschaften und Tatsachen ausgeklammert. Epistemologische Argumente hingegen zielen darauf, unter anderem unter Verweis auf die Evolutionstheorie die epistemische Berechtigung einer praktischen Wahrnehmung partikular, d. h. inegalitaristisch zu unterminieren. Diese Argumente hatte ich dahingehend kritisiert, dass sie viel zu stark sind, insofern komparativ bei Annahme ihrer Gültigkeit nicht nur die perzeptive Berechtigung auf der Grundlage praktischer, sondern die Berechtigung auf der Grundlage (fast) aller begrifflichen Wahrnehmungsinhalte unterminiert wird. Der wesentliche Punkt dabei war, dass wir rein evolutionstheoretische Erklärungen, wenn, dann vor allem für nichtbegriffliche Wahrnehmungsinhalte heranziehen können, während wir für begriffliche Inhalte eine ›kulturalistische‹ Erklärung benötigen, die dann aber im praktischen ebenso wie im naturwissenschaftlichen Fall zur Verfügung steht (s. Abschnitt 2.3.i–iii.). Die Details will ich an dieser Stelle nicht wiederholen, sondern setze im Folgenden voraus, dass die explanatorischen Gegenargumente nicht gültig sind. Man kann es damit so formulieren, dass die komparative Kritik Praktische Anschauung
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dieser Bedenken unter der Überschrift der praktischen Sinneswahrnehmung eine doppelte Pointe besitzt, weil sie nicht nur gegen eine inegalitaristische Theorie der perzeptiven Berechtigung sondern auch gegen eine inegalitaristische, psychologische Theorie des Umfangs der Klasse perzeptiver Zustände gewendet werden kann, weil wenigstens einige emotionale Zustände perzeptive Zustände sind, wenn wir überhaupt der Sinneswahrnehmung komplexen, begrifflichen, z. B. naturwissenschaftlichen Gehalt, zusprechen wollen. Schließlich lohnt es sich, hier noch ein weiteres Charakteristikum der betreffenden Emotionen anzusprechen, das zwar unter dem gegenwärtigen klassifikatorischen Gesichtspunkt optional ist, aber im nächsten Abschnitt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Emotion und Gefühl, d. h. von einer bestimmten Form der introspektiven Körperwahrnehmung, relevant wird. Die betrachteten emotionalen Zustände sind nämlich non-introspektiv. Ihr Gegenstand ist nicht (jedenfalls nicht zentral) der Körper, eins seiner Teile oder ein körperlicher Vorgang, sondern ein Objekt außerhalb der Körperoberflächen, das ›normal‹ unter unabdingbarer Beteiligung der ›äußeren‹ Sinne, Augen, Ohren etc. wahrgenommen wird (die Schwiegereltern, die Nahrung, der Partner usw.) – jedenfalls in den hier betrachteten Fällen. 60 Dieser Punkt ist natürlich nicht unstrittig. Denn es ist ja gerade die Grundidee der klassischen James-Lange-Theorie, dass Emotion ›eigentlich‹ mit einer Wahrnehmung körperlicher Veränderungen zu identifizieren ist. Ich werde im nächsten Abschnitt jedoch dafür argumentieren, dass dieser Aspekt auch nach einer Tiefenansicht des Phänomens erhalten bleibt. Unkontrovers dürfte aber sein, dass der non-introspektive Charakter einer groben phänomenologischen Beschreibung entspringt, d. h. Emotionen erscheinen zumindest so. Da auch jene Körperwahrnehmung Sinneswahrnehmung ist, ist die Non-Introspektivität aber keine allgemeine Eigenschaft perzeptiver Zustände. Hingegen sind es die Repräsentationalität, Non-Doxastizität und die direkte Kausalität (Non-Inferentialität) der beschriebenen emotionalen Zustände, die notwendig und hinreichend ist, um wenigsZwei Ausnahmen sind leicht ersichtlich 1) der Fall, wo z. B. eine Emotion auftritt, auf der Grundlage der Betrachtung des Körpers ›von außen‹, weil etwa ein Knochenbruch oder ein Karzinom entdeckt wird, und 2) eine Emotion die Teil einer introspektiven Körperwahrnehmung ›von innen‹ ist, wenn etwa körperlich empfundene Magenschmerzen als Anzeichen einer Krankheit wahrgenommen werden. Darauf komme ich noch zurück (s. 4.4.i.)
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tens das erste minimale Ergebnis zu sichern, dass sie vernünftigerweise als perzeptive Zustände klassifiziert werden sollten (womit wohlgemerkt noch nichts über ihre epistemische Legitimationskraft gesagt ist). Diese Einsicht soll nun durch einige Bemerkungen zu den Details des Gehaltes der emotionalen Repräsentation präzisiert werden. Dies dient dem Nachweis, dass dieser ihr Gehalt sich nahtlos in die Subkategorien perzeptiven Gehalts einfügt und der Vorbereitung einer Replik auf die diversen Einwände gegen die Anschauungsthese, die, wie sich gleich zeigen wird, alle auf einem zu einseitigen Verständnis der Sinneswahrnehmung bezüglich ihrer Subkategorien beruhen. Jene Einwände scheitern an einem klaren Verständnis des Doppelaspekts, dass Emotionen gehaltvolle Zustände sind und dabei ebenso einen bestimmten Gehalt besitzen. Erstens hatte ich gesagt, dass der besondere Anschauungsgehalt von Emotionen praktischer Gehalt ist. Zu prüfen wäre noch, ob diese recht allgemeine These irgendwie eingeschränkt werden sollte. Um es kurz zu machen, ich glaube, dass hier keine Einschränkung vorgenommen werden sollte, da alternative Auffassungen offensichtlich zu kurz greifen. Etwa Nussbaum und Solomon verstehen emotionalen Gehalt als evaluativ, respektive als normativ und ›moralisch‹ (s. o.). Ich kann nicht genau ersehen, wie weit die Autoren die betreffenden Kategorien fassen. Im Rahmen meiner Terminologie greifen sie aber jeweils zu kurz, weil emotionale Zustände sicher sowohl evaluativen, deontischen als auch normativen Gehalt aufweisen können. Diese Sicht passt einerseits besser zu dem, was bei der Behandlung der Sinneswahrnehmung oben über Wahrnehmungsbegriffe allgemein gesagt wurde, als auch besser zur Alltagsphänomenologie der Emotionen, die neben den evaluativen Gehalten von Furcht, Ekel oder Liebe (›ist gefährlich/ekelhaft/ liebenswert‹) auch die Emotionen der Schuld, Pflicht, Ehre oder Achtung kennt. 61 Diese Emotionen haben aber unzweideutig deontischen oder normativen Gehalt, d. h. verkörpern den Eindruck, dass etwas richtig oder konklusiv gesollt ist – Schuld als emotionaler Zustand wäre Man möchte hierbei eventuell lieber von einem Pflicht- oder Ehrgefühl etc. sprechen. Aufgrund meiner spezifischen Differenzierung zwischen ›Emotion‹ und ›Gefühl‹ im nächsten Abschnitt halte ich es allerdings für angemessener, von einer Pflichtemotion usw. zu sprechen. Zwar gibt es auch nach meinem Ansatz ein Pflichtgefühl, dieser Ausdruck bezeichnet aber etwas anderes als die anvisierte praktisch-anschauliche Repräsentation.
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beispielsweise undenkbar ohne die selbstbezügliche Unterstellung einer gravierenden Regelverletzung. Zweitens gilt es zu verstehen, dass emotionaler als praktischer Gehalt immer begrifflicher Gehalt ist. Um eine evaluative Sicht auf einen Angreifer, auf Nahrung oder einen Freund oder Partner einzunehmen, verlangt es nach einem kontextunabhängigen begrifflichen Verständnis der physikalischen, biologischen, psychologischen und sozialen Eigenschaften des Objekts einerseits, als auch eines begrifflichen Verständnisses des betreffenden Wertes in seiner Relation zu anderen Gütern andererseits. Man kann eine wahrscheinliche Gefährdung der Gesundheit nicht als eine Gefahr per se sehen, ebenso wenig, wie man sie so denken kann, ohne die Bedeutsamkeit von Gesundheit für das Wohlergehen von Geschöpfen und ihre instrumentelle Relevanz für die Realisierung von anderen Werten zu verstehen. Gleichfalls kann man keine deontischen Eigenschaften einer Situation anschaulich erfassen, ohne ein elaboriertes Verständnis geordneter, interpersoneller Beziehungen zu besitzen und mutatis mutandis im Falle normativer Eigenschaften. Dies ist ersichtlich derselbe Punkt, den ich oben bei der Betrachtung der Sinneswahrnehmung hervorgehoben hatte: Praktischer, perzeptiver Gehalt ist begrifflicher Gehalt und daher ist ipso facto auch emotionaler Gehalt begrifflicher Gehalt (s. 2.2.iii.). Dieses Resultat entspringt einer Reflexion auf die Elemente, die an der praktischen Anschauung beteiligt sind. Daneben müssen wir diese Auffassung vertreten, um nicht in unerträgliche Aporien bei der Erklärung zu geraten, wie zwei praktischen Beobachtern gänzlich andere praktische Anschauungsinhalte scheinbar ›gegeben‹ sein können – wenn wir z. B. die praktische Haltung des Moralisten und des Bösen gegenüberstellen. Daraus folgt drittens im Umkehrschluss, dass wir den repräsentationalen Inhalt derjenigen emotionalen Episoden, die als einfache, sinnliche Anschauungen aufgefasst werden können, nie als einen nichtbegrifflichen, rein sinnlichen Gehalt verstehen dürfen. Praktischer Gehalt ist also nicht ›gegeben‹. 62
Damit widerspreche ich Mark Johnston. In seinem Artikel, den ich ansonsten sehr schätze, spricht er von ›sinnlichen Werten‹ (vgl. Johnston 2001: 182). Zwar verweist er an anderer Stelle auch auf die Notwendigkeit begrifflicher Fähigkeiten für die (affektive) Wertwahrnehmung, scheint aber dennoch zu meinen, dass wenigstens einige praktische Eigenschaften vorbegrifflich, rein anschaulich erfasst werden können.
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Viertens ist der praktische Gehalt einer Emotion amodal aufzufassen. Das heißt, die Repräsentation ist nicht an eine spezielle Sinnesmodalität geknüpft. Auch wenn einige praktische Gehalte mit hoher interkontextueller Beständigkeit an eine besondere Modalität geknüpft sein mögen, gilt, dass praktische Eigenschaften prinzipiell sowohl ertastet, erschmeckt etc. werden können, während dies nicht für Farben oder Klänge gilt. Fünftens ist praktischer Gehalt immer höherstufiger Gehalt. Dies soll bedeuten, dass eine Supervenienzbeziehung zwischen praktischen Eigenschaften und ihren nicht-praktischen, für sie konstitutiven Eigenschaften besteht. Dies impliziert, dass auf der Ebene der Repräsentation praktischer Gehalt nie isoliert vorgestellt werden kann, sondern nur auf der Basis der – wenigstens impliziten – Korepräsentation niederstufiger nicht-praktischer Inhalte. Dabei ist es dringend erforderlich, diese simultane Konstitutionsbeziehung nicht mit einer inferentiellen Beziehung zu verwechseln, bei der auf der Grundlage einer nicht-praktischen Repräsentation und praktisch-moralischer Prinzipien eine Transition zu einer praktischen Überzeugung vollzogen wird.
ii.
Anschauungstheorie, De Sousas Sorgen und die ›sui-generis-Theorie‹
Die Exposition der Anschauungsthese für einfache Emotionen und die fünf Aspekte ihres repräsentationalen Inhaltes im Gepäck ist man nun für eine Reihe von Einwänden gegen diese Sicht gewappnet. Ronald De Sousa bemüht in seiner Erörterung der Emotionalität mehrfach die Analogie der Sinneswahrnehmung. Tatsächlich beschließt er seine Abhandlung mit der Konklusion: »Emotions are a kind of perception – perception of the axiological level of reality. And the reality they reveal is one that is tragically rich with an irreconcilable plurality of value.« (de Sousa 1987: 332, vgl. auch 45 u.114)
Obwohl der Autor wiederholt das Modell der Sinneswahrnehmung für seine Emotionstheorie heranzieht, sieht er sich schließlich dennoch genötigt, die Identifikation von Emotion und Sinneswahrnehmung abzulehnen und erstere als ein Phänomen sui generis zu veranschlagen. Der Verweis auf Sinneswahrnehmung bleibt für ihn eine bloße Analogie (vgl. ebd. 149 ff.). Komplementär unterscheidet er einen besondePraktische Anschauung
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ren Typus von ›axiologischer‹ Rationalität, der die epistemischen Relationen zwischen Emotion und praktischem Denken regiert. Die Inkonsequenz des Schwankens zwischen Identifikation und bloßer Analogisierung von Emotion und Sinneswahrnehmung liegt bei dem Autor in einer Reihe von Disanalogien begründet, die er im Falle von Emotionen zu entdecken glaubt. Da ich den Glauben an diese mutmaßlichen Disanalogien im Zusammenhang mit den gerade genannten Punkten als sehr verbreitet einstufe, lohnt es sich, mit ihnen zu beginnen: E1: Keine Emotionsorgane: De Sousas erste Sorge lautet, dass wir der ›normalen‹ Sinneswahrnehmung spezifische Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Gaumen, Haut) zuordnen können, während es keine spezifischen ›Emotionsorgane‹ für die Wahrnehmung praktischer Eigenschaften gibt (vgl. ebd. 150). So einleuchtend dieser Einwand sein mag, so leicht ist die Erwiderung. Denn das Argument erlaubt lediglich eine Diskriminierung von modalitätsspezifischer und amodaler Sinneswahrnehmung, aber nicht von Sinneswahrnehmung und Nicht-Sinneswahrnehmung. Für die meisten begrifflichen Gehalte aber gilt, wie wir gerade gesehen haben, dass sie unabhängig von einer besonderen Sinnesmodalität als Teil eines perzeptiven Zustandes fungieren können. Ein Auto kann gesehen, gehört oder ertastet werden, ohne dass es noch spezielle ›Auto-Organe‹ geben müsste, und ebenso können wir im Falle praktischer, begrifflicher Wahrnehmungsinhalte antworten. E2: Generative Trägheit: Eine kurze Antwort erlaubt auch die Befürchtung, dass eine Disanalogie zwischen Sinneswahrnehmung und Emotion in der relativen generativen Trägheit der Letzteren bestehen könnte. Perzeptive Prozesse seien demnach charakteristischerweise schnell, emotionale ›Reaktionen‹ eher langsam (vgl. ebd. 153). Dazu zwei Anmerkungen. Erstens gilt die Schnelligkeit perzeptiver Prozesse vor allem für visuelle und akustische Wahrnehmung, während wir bei haptischer, olfaktorischer oder gustativer Wahrnehmung ebenfalls relative Langsamkeit entdecken können, also eine Verzögerung eines ›von außen‹ beobachtbaren Reizes der Körperoberflächen und der Genese eines entsprechenden Erfahrungsgehalts. Wir bekommen damit also allenfalls eine graduelle Unterscheidung perzeptiver Prozesse hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit. Zweitens sind aber gerade in Bezug auf begriffliche Wahrnehmungsgehalte gelegentlich sehr üppige Verzögerungen zu diagnostizieren. Solche stellen sich zum Beispiel dann ein, 224
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wenn zwar potentielle sinnliche Gehalte der Wahrnehmung ›gegeben‹ sind, aber man trotzdem in einem anderen Sinn nicht weiß, was man sieht. Bekommt man etwa eine Photographie vorgelegt, die nur einen winzigen Ausschnitt einer behaarten Körperoberfläche zeigt, mag man zögern, ob es sich dabei um menschliche Haut oder Fell auf dem Rücken eines Chihuahuas handelt. Dennoch mag man bei näherer Betrachtung an der Form der Poren die menschliche Haut erkennen, was dazu führt, dass man das Foto in Folge als Ausschnitt menschlicher Haut sieht. E3: Ansteckung: Problematisch scheint auch der Umstand zu sein, dass wir durch die intrinsische Trägheit emotionaler Episoden häufig eine kontingente Übertragung der impliziten Wertung auf andere Objekte als den ursprünglichen ›Fokus‹ der Emotion feststellen können (vgl. ebd.). Anton ist wütend auf Balthasar, aber nachdem sich der Grund für seinen Zorn auf diesen verflüchtigt hat, überträgt er seine Wut auf Mitarbeiter in seinem Büro. Ein solches Beispiel einer emotionalen ›Ansteckung‹ lässt einen gewissen Deutungspluralismus zu, vor allem wenn es so schnörkellos vorgetragen wird. Darunter sind sicher auch epistemologisch optimistische Interpretationen – etwa könnte es ja sein, dass seine Mitarbeiter schon seit längerer Zeit ärgerlicherweise auf seine Kosten die Beine hochlegen und er durch seine vorherige Erregung erst jetzt diesen Sachverhalt in seinen evaluativen Implikationen richtig betrachtet. Aber ich will annehmen, dass dies nicht so ist und es sich tatsächlich um eine Fehlrepräsentation der Situation handelt. In diesem Fall ist aber schlicht zu antworten, dass die Möglichkeit emotionaler Ansteckung allenfalls etwas über die Irrtumsanfälligkeit eines Zustandes aussagt, aber nichts darüber, ob ein Zustand mit repräsentationalem Gehalt als ein perzeptiver Zustand klassifiziert werden kann. Damit greift dieser Einwand potentiell bestimmte komparative oder non-komparative Thesen zur epistemischen Berechtigung auf der Grundlage von Emotion an, aber nicht die Klassifikation einigen Instanzen von Emotion und einfacher Anschauung. E4: Ideologie- und Sozialisationsabhängigkeit: Eine Entgegnung auf die letzten Bedenken De Sousas, die der Autor unter dem Stichwort der ›Subjektivität‹ oder ›Objektivität‹ von Emotionen diskutiert, gestaltet sich wegen der Vieldeutigkeit dieser Differenz schwieriger. Zunächst gilt es, analytisch epistemologische von ontologischen Konnotationen von ›subjektiv‹ zu scheiden, insofern diese Vokabel sich einmal auf die mentalen Zustände und die partikulare epistemische Lage eines Praktische Anschauung
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Denkers richten kann und einmal auf die Eigenschaften dieses Denkers als Konstitutivum für bestimmte Entitäten. Den Ausführungen des Autors entnehme ich, dass sich seine vierte und fünfte Sorge auf eine epistemische Form der Subjektivität sowie auf die konstitutive Subjektivität praktischer Eigenschaften richten. 63 Was zunächst die gemeinte epistemische Subjektivität anbetrifft, gibt De Sousa zu bedenken, dass emotionale Episoden offenkundig stark mit biographischen und kulturellen Faktoren, individuell erworbenen Evidenzen und Überzeugungen sowie gemeinschaftlicher Weltanschauung variieren, im Gegensatz zu ›normaler‹ Sinneswahrnehmung (vgl. ebd. 152 f.). Dieser Einwand erlaubt allerdings die Replik, dass diese Gegenüberstellung wiederum äußerst unbefriedigend ist. Denn mit dem Verweis auf die genannten Faktoren allein lassen sich nur begriffliche und nichtbegriffliche Komponenten der Sinneswahrnehmung voneinander abgrenzen. Damit ein Individuum begriffliche Wahrnehmungsgehalte verzeichnen kann, muss es biographisch die Beherrschung jener Begriffe erlernt haben und dies wird kaum möglich sein, ohne in eine Kultur hineingeboren zu sein. Dies gilt für den Physiker wie für den Moralisten. Dass ein einschlägiger Begriffserwerb stattgefunden hat, muss stets zu den Ermöglichungsbedingungen korrespondierender Wahrnehmungsinhalte gezählt werden und da die Beherrschung einzelner Begriffe nicht ohne die Beherrschung vieler anderer Begriffe gedacht werden kann, mit denen sie in inferentiellen Beziehungen stehen, konstituiert dies zugleich die ›Theorieabhängigkeit‹ der Sinneswahrnehmung. Die einzige Möglichkeit, so eine Differenz zwischen Emotion und Sinneswahrnehmung zu konstruieren, wäre die Akzeptanz eines spartanistischen Nonkonzeptualismus um den Preis, dass dann auch keine komplexen, naturwissenschaftlichen Inhalte mehr die Wahrnehmung strukturieren könnten. De Sousa selbst unterscheidet fünf Bedeutungen der ›Subjektivität‹ von Zuständen unter den Stichpunkten a) Phänomenologie, b) Perspektivität, c) Relativität, d) Projektion und e) Handeln (vgl. ebd. 145 ff.). Als Erläuterung dazu: Während ich e aufgrund meiner Vernachlässigung handlungstheoretischer Frage ausklammere, summieren sich einerseits a und b zu epistemischen Bedeutungen von ›subjektiv‹, so wie in diesem Unterabschnitt beschrieben, während c und d m. E. beide in der ontologischen Subjektivität kondensieren. De Sousa beschreibt ›Projektion‹ als Sicht, dass der (praktische) Gegenstand von Emotionen lediglich ›Schatten unserer Entscheidungen‹ ist (vgl. ebd. 146). Sobald wir diese Metapher übersetzt haben, sehe ich aber nicht mehr, wie dieser Punkt von der These der konstitutiven Abhängigkeit einer Entität von Eigenschaften des Subjekts, die der Autor unter ›Relativität‹ nennt, unterschieden sein soll.
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Damit erledigt sich aber bereits das Problem der epistemischen Subjektivität für die Anschauungsthese. Denn zwar gibt es einige weitere epistemische Bedeutungen von ›subjektiv‹. Diese werden von dem Autor aber nicht zugunsten einer ›sui-generis-Theorie‹ ins Feld geführt, und zwar deshalb, weil auch De Sousa klar ist, dass diese Bedeutungen offenkundig bei Emotionen entweder nicht einschlägig sind oder kein Problem für die Anschauungsthese darstellen. Erstens, wenn ›subjektiv‹ die epistemologische Konnotation einer bloßen Erscheinung haben soll, wäre es falsch, emotionalen Gehalt so zu bezeichnen. Eine ›bloße Erscheinung‹ ist eine solche, die keinen Unterschied zwischen Sein und Schein zulässt, also keinerlei Korrektheitsbedingungen unterliegt, beispielsweise mit entsprechenden epistemologischen Hintergrundannahmen, ›Qualia‹ bzw. sinnlichen Eigenschaften einer Wahrnehmung. Emotionaler Inhalt aber ist repräsentationaler Inhalt und unterliegt ipso facto Korrektheitsbedingungen, wie oben beschrieben, d. h. kann qua dieser Bedingungen erfolgreich oder nicht erfolgreich repräsentieren. Dieser Punkt ist deshalb relevant, weil ›Wahrnehmen‹ wie auch ›Erkennen‹ ein Erfolgsbegriff ist und sich eine klare Differenz zur ›normalen‹ Sinneswahrnehmung ergäbe, wenn es keinen Sinn gäbe, nach dem der emotionale Gehalt Erfolg oder Misserfolg haben kann. Hingegen lässt sich zweitens die Individualität von Emotionen nicht bestreiten, was hier lediglich bedeuten soll, dass eine emotionale Erfahrung stets jemandes Erfahrung ist. Da dies trivialerweise eine Eigenschaft von mentalen Zuständen überhaupt ist, wäre es aber obskur, hieraus irgendwelche weiterreichenden epistemologischen Folgerungen ableiten zu wollen. Drittens kann man für emotionale Inhalte die grobe Diagnose einer epistemischen Asymmetrie bei der Verzeichnung dieser Erfahrungsinhalte stellen – grob, weil diese Eigenschaft Emotionen nur im Großen und Ganzen, aber nicht strikt generalisiert zukommt. Eine epistemische Asymmetrie für Anschauungsinhalte liegt vor, wenn die besonderen Eigenschaften eines Denkers ihn mehr als andere Denker befähigen, Anschauungsinhalte eines thematischen Kontextes P und mit einer größeren Korrektheitswahrscheinlichkeit aufzuweisen. Bei Emotionen, also Anschauungen mit praktischem Inhalt, lässt sich eine derartige Asymmetrie offenbar bedingt durch drei Umstände beobachten, und zwar insbesondere bei praktischen Anschauungen, die in irgendeiner Weise in ihrem Inhalt implizit oder explizit auf das IndiviPraktische Anschauung
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duum verweisen, das sie hat. Denn durch die ursprüngliche Bekanntschaft mit sich selbst wird ein Denker i) besonderes Wissen und begriffliche Fähigkeiten haben, die sein eigenes Wohlergehen und Handeln betreffen, weshalb er für diesbezügliche praktische Anschauungen empfänglicher ist. Da jeder Denker sich notwendig selbst der Nächste ist, hat er ebenso einen Vorteil, ii) in den situativen Kategorien von Standpunkt und Perspektive, d. h. einen Ortsvorteil in Raum und Zeit, sowie der relativen Position zum Gegenstand der Anschauung, der perspektivisch je partiell verschieden erscheinen kann. Schließlich wird, wenn wir es als Daumenregel annehmen, dass unter dem Gesichtspunkt vernünftiger Arbeitsteilung jeder Denker sein Glück meist selbst besorgen sollte, ein Denker iii) eine gesteigerte Aufmerksamkeit für ihn betreffende praktische Sachverhalte besitzen. Auf der anderen Seite gilt aber diese Asymmetrie nicht für alle praktischen Anschauungsgehalte. Zum Beispiel könnte ein Elternteil gewisse praktische Anschauungen zum Wohlergehen seines Kindes aufweisen, bei diesen aber an Korrektheit und Verlässlichkeit von einem Pädagogen übertroffen werden, der durch seine langjährige Arbeit mit Kindern ein besonderes Gespür, d. h. besondere begriffliche Fähigkeiten, für deren Bedürfnisse entwickelt hat. Andererseits liegt eine epistemische Asymmetrie auch nicht nur bei Anschauungen mit praktischem Inhalt vor. Ziehen wir erneut den Vergleich mit naturwissenschaftlichen Anschauungen heran, zeigt sich schnell, dass sich auch bei diesen intersubjektiv Asymmetrien aufgrund von Wissen, Standpunkt oder Aufmerksamkeit ergeben. 64 Dieser Aspekt ist also ebenfalls komparativ nicht signifikant, weshalb sich daraus weder gravierendere inegalitaristische Thesen ableiten lassen, noch a fortiori ein Argument gegen die gegenwärtige Minimalposition, dass wenigstens einige Emotionen den Charakter einfacher, sinnlicher Anschauungen besitzen. 65 Als Überleitung sei daneben noch angemerkt, dass die epistemische Asymmetrie keinesfalls mit dem folgenden Punkt der ontologischen Relativität verwechselt werden sollte. Obwohl es häufig so sein S. 3.2., Fußnote 4. Die letzten beiden Punkte der Individualität und der epistemischen Asymmetrie sind dabei vor allem von Davidson inspiriert, der diese am Ende seines bekannten Artikels als die einzigen verständlichen epistemischen Varianten des ›Subjektiven‹ herausstellt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Davidson die Asymmetrie auf den privilegierten Zugang zu den eigenen mentalen Zuständen bezieht, während es mir eben um den epistemischen Zugang zu praktischen Eigenschaften geht (vgl. Davidson 2001b).
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mag, dass epistemische Asymmetrie eine direkte Folge einer ontologischen Konstitutionsbeziehung zwischen Individuum und Erkenntnisgegenstand ist, sind dies doch zwei klar verschiedene Aspekte. E5: Relativität: Die finale Sorge De Sousas gründet sich in dem Umstand, dass der primäre Gegenstand der emotionalen Repräsentation, die praktischen – bzw. bei dem Autor ›axiologischen‹ – Eigenschaften, konstitutiv abhängig sein könnten von den mentalen Eigenschaften des Subjekts dieser Repräsentation, etwa seinen Überzeugungen, Evidenzen und Zielen oder weitreichender, von den mentalen Eigenschaften anderer Denker seiner Kultur, Epoche, seines Milieus usw. (vgl. de Sousa 1987: 151 f.). Diese metaphysische Frage bezüglich praktischer Eigenschaften, die üblicherweise unter der Überschrift ihrer ›Geistabhängigkeit‹, der ›Projektivismus-Detektivismus-Debatte‹ oder des ›Euthyphro-Problems‹, bei De Sousa im Zusammenhang der Wahrnehmungsanalogie aber unter dem Stichwort ihrer ontologischen Relativität bzw. ›Subjektivität‹ thematisiert wird, hatte ich selbst bereits einige Male angeschnitten (s. 1.4. u. 2.2.v.). Daher lässt sich die Replik zu diesem Punkt ebenfalls recht kurz fassen. De Sousa scheint zu glauben, dass die Wahrheit der ontologischen Relativität einen Einfluss auf die Plausibilität der Anschauungsthese haben könnte. Wie ich aber bereits bei der Behandlung der Sinneswahrnehmung hervorgehoben habe, hat die Relativität des in einer Anschauung Repräsentierten in Bezug auf Individuum, Kultur und Epoche keinerlei Einfluss auf die Frage, ob diese Repräsentation den Status eines perzeptiven Zustandes haben kann. Denn eine etwaige ontologische Subjektrelativität einer Eigenschaft würde lediglich einen bestimmten metaphysischen Aspekt von ihr markieren und dies sollte letztlich einen rationalen Einfluss auf unseren Begriff von dieser Eigenschaft haben. Dies sagt aber nichts darüber aus, ob dieser Begriff potentiell einen Wahrnehmungszustand strukturieren kann (s. 2.2.v.). Dass dies für praktische Begriffe aber möglich ist, dafür hatte ich oben bereits ausgiebig argumentiert. Daher möchte ich mich an dieser Stelle auf einen kurzen Kommentar beschränken. Dieser betrifft den ›Projektivismus‹, den De Sousa in diesem Kontext als Kontrastfolie zitiert. Gehen wir von einem schlichten Projektivismus aus und sagen etwa, dass alle Wertungen eines Individuums lediglich ›Spiegelbilder seiner Wünsche und Begierden‹ sind oder, wie De Sousa schreibt, lediglich ›Schatten seiner Entscheidungen‹ (vgl. ebd. 146). Dann müssten wir immer noch ein Etwas postulieren, das eben die ›Projektion‹ dieses Wunsches oder eines KonPraktische Anschauung
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glomerats von Wünschen ist, und sofern der Betreffende sich einen Begriff hiervon gemacht hat, kann er bei entsprechender begrifflicher Geübtheit und Beschaffenheit der Situation diesen praktisch bedeutsamen Zug von ihr auch anschauen. 66 Die Anschauungsthese ist also neutral gegenüber einer möglichen ›Geistabhängigkeit‹ praktischer Eigenschaften und ihrer Aliase. E6: Reiz-Reaktions-Schema: Ein weiterer Einwand, den ich wegen seiner Geläufigkeit gerne über De Sousa hinaus in diese Liste aufnehmen möchte, ist schließlich die Idee, dass Emotionen als Sinneswahrnehmung radikal fehlklassifiziert sind, weil sie vielmehr Reaktionen auf Sinnesreize sind als ein Teil von ihnen. Entsprechende Bemerkungen finden sich beispielsweise bei Wedgwood und Peacocke (vgl. Peacocke 2004: 259; Wedgwood 2001b: 219 f.). Aber auch allgemein scheint die Rede von emotionalen ›Reaktionen‹ durchaus der üblichen Sprech-
Es ist zwar für die Argumentation nicht relevant, im Hinblick auf gängige Vorstellungen in der Emotionstheorie lohnt es sich aber, wenigstens kurz eine mutmaßliche Form der ontologischen Relativität ins Auge zu fassen. Diese betrifft die These der Jemeinigkeit, wie man sie gut heideggerisch nennen könnte. Diese behauptet, dass der praktische Inhalt aller Emotionen einen wenigstens impliziten Verweis auf das Individuum enthält, das diese Emotion erfährt. Nussbaum etwa glaubt, dass die ›Idee des eigenen Wohlergehens, eigener Ziele und Projekte‹ essentieller Teil des emotionalen Gehaltes ist (vgl. Nussbaum 2001: 4, s. Zitat oben). Dieser Standpunkt ist für mich aber nur schwer nachzuvollziehen. Denn Episoden des Mitleids (oder der ›Mitfreude‹) können sich auch auf fremde Personen beziehen, die in keinerlei relevanten sozialen Relationen zum Betrachter stehen und deren Schicksal nicht den mindesten Einfluss auf dessen Wohlergehen, Ziele oder Projekte hat. Selbst bei eingehendem Studium ist diesen Zuständen kein dahingehender impliziter Verweis anzusehen. Eine generalisierte Jemeinigkeitsthese für Emotionen ist also entweder falsch oder allenfalls in einem trivialen Sinne wahr. Denn das gerade Gesagte schließt nicht aus, dass man im Mitleid quasi ›sich selbst in dem Anderen sieht‹. Da wir diese Behauptung aber kaum wörtlich auffassen können, lässt sie sich nur so verstehen, dass man, um Mitleid erfahren zu können, über einen Begriff des Wohlergehens der Bezugsperson verfügen muss, und die Möglichkeit des Erwerbs dieses Begriffs mag eng an den Umstand geknüpft sein, dass man selbst eine Person mit den dazugehörigen Merkmalen ist. Dieser Punkt fällt aber mit dem Obigen zusammen, wonach ein Begriff des Guten, Richtigen und Gesollten unter die Ermöglichungsbedingungen praktischer, begrifflicher Erfahrungsinhalte gezählt werden muss, und darf nicht mit einer generellen, wörtlich verstandenen Jemeinigkeit emotionalen Inhalts verwechselt werden. So lassen sich auch die Befürchtungen zähmen, dass die oft beobachtete Parteilichkeit von Emotionen irgendetwas Schicksalhaftes an sich hat – als würde emotionaler Gehalt notwendig immer nur egoistisch das Wohlergehen einer Person ›bedenken‹. Vernünftig wäre vielmehr die Sicht, dass emotionaler Gehalt genauso parteiisch oder unparteiisch ist, wie das praktische Denken im Allgemeinen. 66
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weise zu entsprechen. Daher lohnt es sich, kurz die Schwierigkeiten dieses Jargons anzuschneiden. Zunächst einmal ist die Anwendung des Reiz-Reaktions-Schemas in diesem Fall eine heikle Übertragung behavioristischer Kategorien auf den internen mentalen Haushalt einer Person. Es ist richtig, dass wir unter Prämissen eines reduktiven Behaviorismus (gegenüber dem methodologischen) lediglich Reize der Körperoberflächen und körperliche Reaktionen kennen und es ist naheliegend, dann Emotionen als ›Reaktionen‹ zu klassifizieren. Da ich aber den Behaviorismus aus offensichtlichen Gründen ablehne 67 und perzeptive wie emotionale Zustände als genuin mentale Phänomene behandle, die nicht auf behaviorale Reiz-Reaktionsmuster reduziert werden können, ist fraglich, welche Relevanz das Schema für eine Unterscheidung von Emotion und Perzeption spielen könnte. Wenn wir als Reiz jede Stimulation des Körpers bezeichnen, ist die sukzessive sinnliche (Re-)Präsentation dieser Reize bzw. der Gegenstände und Ereignisse, die sie hervorgerufen haben, ebenso eine ›Reaktion‹ auf den Reiz wie eine eventuelle Emotion. Wenn wir ›Reaktion‹ als mimische, gestische oder behaviorale Konsequenz eines Reizes betrachten, ist eine Emotion ebenso wenig eine Reaktion wie eine ›normale‹ Sinneswahrnehmung. Insbesondere sind Emotionen keine (nicht-mentalen) Handlungen! Es mag zwar sein, dass der repräsentationale Gehalt einer Emotion rationale oder irrationale inferentielle Konsequenzen zeitigt, die einen Akteur schließlich zu einer Handlung bewegen. Furcht angesichts eines Objekts mag zum Weglaufen oder anderweitigem Vermeidungsverhalten anleiten. Diese Symptome der Emotion sind aber von der emotionalen Repräsentation selbst deutlich verschieden und haben zudem nichts schicksalhaftes an sich, weshalb sie nur bedingt als ihr Indikator taugen. Denn ebenso mag ein Akteur meinen, er sollte der Gefahr weiterhin ›ins Auge sehen‹ oder er mag es für zweckdienlich halten, sich seine Furcht weder mimisch noch gestisch anmerken zu lassen. Dennoch mag man den Eindruck gewinnen, dass es irgendwo ›in der Mitte‹ eine klare Grenze zwischen perzeptiver Repräsentation und emotionaler ›Reaktion‹ geben mag. Aber wie sollte dies möglich sein? Ich hatte die einschlägigen Einwände bereits im Rahmen der Diskussion des perzeptiven Behaviorismus in Kapitel 2 diskutiert. Diese lassen sich leicht auf einen Behaviorismus der Emotionstheorie übertragen. Daher scheint es mir legitim, eine erneute Diskussion des Behaviorismus unter diesem Vorzeichen hier auszulassen.
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Hier sehe ich nur drei Optionen, die alle in eine Sackgasse führen. Erstens könnten wir als Kriterium die bewusste Erfahrung eines Denkers anführen. In diesem Fall ist aber zu bemerken, dass die emotionale ›Reaktion‹ im Sinne eines anschaulichen Bewusstseins der praktischen Eigenschaften der Situation häufig auftritt, bevor etwa soziale und naturwissenschaftliche Aspekte explizit erfahren werden. Ein Denker mag einen klaren Eindruck der Bedrohlichkeit der Umgebung gewinnen, ohne dass ihm natürliche Ereignisse, Dialoge, Gestik und Verhalten von Menschen um ihn herum anschaulich bewusst sind. Zweitens könnte man meinen, in der zeitlichen Abfolge mentaler Ereignisse ergäbe sich der klare phänomenologische Tatbestand, dass während einer emotionalen Episode ein Gefühl als Reaktion auf die ›normale‹ Sinneswahrnehmung auftritt, weshalb es sinnvoll ist, diese beiden repräsentationalen Gehalte zu trennen. Während diese Beschreibung aber durchaus richtig ist, wäre es ein Fehler, deshalb die Emotion als non-perzeptiv zu beschreiben. Denn die Emotion ist nicht das Gefühl! Einer Charakterisierung des Verhältnisses von Emotion und Gefühl widme ich mich zwar erst im nächsten Abschnitt, aber bereits an dieser Stelle lässt sich einsehen, dass hier keine Identität vorliegt. Ein Gefühl liefert nämlich lediglich eine bestimmte Repräsentation körperlicher Vorgänge. Obwohl ich nun unten argumentieren werde, dass für alle erwartbaren Denker gilt, dass ein solches Gefühl konstitutiv für jede emotionale Repräsentation ist, ist es doch keinesfalls mit ihr identisch. Denn die emotionale Repräsentation ›handelt‹ wesentlich von einer praktischen Affektion eines Denkers durch ein externes Objekt und geht damit – wenigstens in den bislang betrachteten Fällen – weit über das Gefühl hinaus. Für die emotionale Repräsentation lässt sich die besagte Trennung von Reiz und Reaktion aber nicht wiederholen. Denn hier ergibt sich das Bild einer integrierten Erfahrung. Diese mag sich zwar nach Komponenten zeitlich abgestuft konstituieren, sobald die Situation aber auf bestimmte Weise praktisch repräsentiert ist, ist sie ebenso auf charakteristische Weise ›bodenlos‹, d. h. nicht durch eine weitere Repräsentation vermittelt wie gewöhnliche perzeptive Zustände. Man mag dennoch weiterhin an der Überzeugung festhalten wollen, es müsse sich diese Unterscheidung aufrechterhalten lassen, weil Emotionen immer nur auf der Grundlage von ›normaler‹ Sinneswahrnehmung auftreten können. Dazu ist aber drittens zu sagen, dass dies, sofern wir dieses Verhältnis nun nicht mehr als das einer zeitlich ge232
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trennten Abfolge von Repräsentationen inklusive einer asymmetrischen Kausalbeziehung auffassen können, nur auf die Diagnose einer Beziehung der Supervenienz zwischen einfachen und höherstufigen Inhalten einer Repräsentation hinausläuft, der auf der Ebene des Repräsentierten in diesem Fall die Supervenienz praktischer auf nichtpraktische Eigenschaften entspricht. Dieser Umstand ist unkontrovers. Wollte man diesen aber als Relation von ›Reiz‹ und ›Reaktion‹ verkaufen, würde man einerseits einer Verwechslung einer generativen mit einer konstitutiven Relation unterliegen. Andererseits handelte man sich unerträgliche wahrnehmungstheoretische Qualen ein, wollte man auf diese Weise Emotionen generell ihren perzeptiven Charakter absprechen. Wegen der Ubiquität der Supervenienzrelation, etwa zwischen ›ist ein Auto‹ und ›hat vier Räder, ein Lenkrad und ist aus Blech‹, müsste man demnach auch die Repräsentation eines Autos als Auto als non-perzeptiv auffassen. Der natürliche Boden dieses Regresses wäre aber ein nonkonzeptualistischer Spartanismus, der alle höherstufigen begrifflichen Inhalte ausschließt. Da diese Alternative wegen ihrer komparativen Irrelevanz aber, wie oben bereits erwähnt, ausgeschlossen werden kann, zeigt sich nun, dass die Berufung auf das Reiz-Reaktion-Schema nur ein weiterer ungeschickter Versuch ist, die Dichotomie von Emotion und Sinneswahrnehmung zu retten. Da dies die einzigen mir bekannten Einwände sind, aus denen heraus eine Anschauungstheorie zugunsten einer ›sui-generis-Theorie‹ abgelehnt wird, schließe ich damit, dass die ›sui-generis-Theorie‹, sofern sie Emotionen als eine besondere Art von Zuständen begreift, falsch ist, da die entsprechende Erwägungen nicht besonders stichhaltig sind, möchte ich sogar sagen, offensichtlich falsch. Die plausible Sicht ist vielmehr, dass wenigstens einige emotionale Zustände zu den einfachen Anschauungen gehören, Anschauungen, deren Gehalt jedoch nach Thema, Begriffshaftigkeit, Modalität und Komplexität ausdifferenziert ist.
iii. Die Urteilstheorie als Anschauungstheorie Es ist zweckdienlich, zum Abschluss dieser Exposition meiner Auffassung von Emotionen einige Ähnlichkeiten und Unterschiede zu bereits genannten Ansätzen herauszustellen. Ronald De Sousa, mit dessen theoretischen Grundlinien ich durchaus übereinstimme, schwankt in Praktische Anschauung
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seiner Abhandlung zwischen der Wahrnehmungssicht und einer ›sui generis‹-Sicht. Daher sollte ich nochmals betonen, dass nach meiner Auffassung Emotionen in den bislang betrachteten Fällen ganz gewöhnliche Sinneswahrnehmungen sind und dass das ›Eigenartige‹ an ihnen lediglich ihr repräsentationaler Gehalt ist, der praktischer, begrifflicher Gehalt ist. Robert C. Roberts Wahrnehmungstheorie der Emotionen hingegen fasst Emotionen abwechselnd als »in-terms-ofexperience« (Roberts 2003: 68) bzw. als ›anliegenbasierte Deutung‹ (»concern-based construal«, ebd. 64 u. Kap. 2.3) auf. Schließlich bezeichnet der Autor wie De Sousa Emotionen als eine ›Art von Wahrnehmung‹ (vgl. ebd. 87). Roberts unterscheidet dabei eine ›in-terms-of experience‹ von einer primitiveren, rein sinnlichen Wahrnehmung (»sensation«, vgl. ebd. 68). Ich bin nicht ganz sicher, weil sich bei dem Autor relativ wenige entsprechende Hinweise finden, aber Roberts Ausdruck scheint genau das zu meinen, was ich mit begrifflichem Wahrnehmungsinhalt meine. 68 Wenn nicht, liegt ein Unterschied vor, ansonsten ergibt sich hier wenigstens eine terminologische Klärung. Dennoch halte ich auch Roberts Rede von einer ›Art von Wahrnehmung‹ an dieser Stelle für sowohl leicht missverständlich als auch für zu undifferenziert. Denn einerseits suggeriert sie, dass wir es bei Emotionen mit einer besonderen Art von Zuständen zu tun haben, während es eigentlich nur um eine besondere Art von Inhalt mancher perzeptiver Zustände geht. Andererseits aber können wir wenigstens einige dieser Zustände als gewöhnliche perzeptive Zustände bzw. einfache Anschauungen klassifizieren, während wir aber auf der anderen Seite für den großen Rest eine Theorie komplexer Anschauungen benötigen. Schließlich schürt die entdifferenzierte Rede von Wahrnehmungsarten Spekulationen, wonach wir eine ›besondere ethische Sensibilität‹ für die Entdeckung praktischer Eigenschaften postulieren müssen. Das einzig besondere an einer ethischen, respektive praktischen Sensibilität gegenüber einer ›physikalischen Sensibilität‹ ist jedoch lediglich, dass der Verstand dabei mit anderen Begriffen operiert, An anderer Stelle bezeichnet Roberts Emotionen auch als ›Organisation von Sinneseindrücken‹ (vgl. ebd. 71) oder als ›Synthese multipler Elemente in eine integrierte Ganzheit‹ : »… an important part of the concept of a construal [Roberts’ concept of emotion] is that it is a construct or synthesis of multiple elements into an integrated whole …« (ebd. 79). Auch diese Festlegungen kann ich nicht anders interpretieren, als dass es dabei ganz schlicht um die nicht-inferentielle Subsumtion einer Entität unter einen Begriff geht, d. h. die Entität wird als etwas gesehen.
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ob er schließt oder anschaut. Für eine theoretisch fruchtbare Bestimmung von Emotionen genügt es also nicht zu sagen, Emotionen seien eine Art von Wahrnehmung. Man muss auch sagen, welche Art es denn ist. Zu guter Letzt lohnt es sich nochmals auf die ›Urteilstheoretiker‹ zurückzukommen. Diese Position hatte ich oben an Nussbaum und Solomon festgemacht. Dies entspricht auch ihrer primären Selbstkennzeichnung. Bei näherer Betrachtung wird aber zunehmend fraglich, ob sich die Auffassung der Autoren eigentlich von der hiesigen unterscheidet. Etwa Solomon führt an einer Stelle aus: »… but what is ›constituted‹ in emotions is not knowledge but meanings. In my more recent work, I prefer to talk more in terms of emotions setting up ›scenarios‹, within which our experiences and our actions are endowed with personal meaning.« (Solomon 2003: 20)
Diese Aussage steht aber in klarem Widerspruch zu der These, dass Emotionen praktische Urteile sind. Denn, sofern der Inhalt eines solchen Urteils wenigstens in einigen Fällen begründet und korrekt ist, d. h. die Welt so beschaffen ist, wie es sagt – und hiervon geht Solomon sicher aus – dann sind diese Urteile Fälle von Wissen, was in dem Zitat aber gerade bestritten wird. Sinneswahrnehmungen selbst hingegen sind keine Fälle von Wissen, selbst wenn sie die Welt korrekt repräsentieren, sondern können allenfalls rational zu Wissen anleiten, wenn ihr Inhalt berechtigt geurteilt wird. Unter der Annahme, dass Solomon letztlich ebenso die Wahrnehmungstheorie vertritt, entstünde hingegen kein Widerspruch. 69 Eine ähnliche Tendenz ergibt sich bei Nussbaum, die nach ihrer nominalen Festlegung auf die Urteilstheorie Emotionen auch als »ways of seeing« (Nussbaum 2001: 27) bezeichnet. Diese Oszillation führt sie auch im weiteren Text fort: »It is not always easy, or even desirable, to distinguish an instance of seeing X as Y, such as I have described here, from having a belief that X is Y. […] for now I continue to use the language of belief« (ebd. 28). Und: »For now we are begining [sic] to have some idea of what it is to understand Dass dem so ist, dafür spricht auch die Anmerkung von Roberts, wonach Solomon ihm mitgeteilt habe, dass ihre Emotionsbegriffe, sein nominal doxastischer und Roberts wahrnehmungsanaloger, identisch sind (vgl. Roberts 2003: 98).
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emotions as a certain sort of vision or recognition, as value-laden ways of understanding the world.« (ebd. 88, Herv. von mir, D. B.)
Gerade das erste Zitat offenbart eine geradezu dezisionistische Festlegung auf die Urteilstheorie. Wenn nun aber aus Nussbaums Sicht die Wahl zwischen Wahrnehmungs- und Urteilstheorie ein Akt der Willkür ist, wir aber oben mit den Phänomenen der Trägheit, der Unartikuliertheit und der Divergenz einige Aspekte aufgetan haben, die klar für eine Wahrnehmungssicht sprechen, sollte diese Theorie mit Nussbaums Ansatz voll kompatibel sein, wenn er auf diese Weise unterbestimmt ist. Daraus schließe ich, dass die Urteilstheorie am Ende lediglich eine Übertreibung der Wahrnehmungstheorie ist, die angesichts der repräsentationalen Eigenschaften dieser Zustände Emotionen vorschnell als potentielles praktisches Wissen klassifiziert, anstatt sich mit der These zu begnügen, dass diese unter günstigen Umständen diesem förderlich sein können. Wie dem auch sei, diese Aussage ist unter der einschränkenden Prämisse zu verstehen, dass wir gegen einen reinen Kohärentismus überhaupt mit perzeptiven und doxastischen zwei Klassen von Zuständen mit repräsentationalem Gehalt unterscheiden wollen, eine Entscheidung, die ich in dieser rein komparativen Untersuchung nicht fällen werde. Daneben ist die These, dass Emotion eine Anschauung mit praktischem begrifflichem Gehalt ist, vorläufig noch auf die einfachen Fälle beschränkt, in denen der Gegenstand der Emotion auch nach herkömmlichem Verständnis wahrnehmbar ist. Die Ausweitung auf Emotionen im Allgemeinen steht noch aus. Bevor ich mich dieser Aufgabe zuwende, ist noch ein weiteres zentrales Problem zu lösen, mit dem gleichzeitig eine weitere Gattung von Emotionstheorien in den Blick gerät. Diese Theorierichtung sieht das wesentliche Charakteristikum der Emotionalität im Gewahrwerden körperlicher Veränderungen und besitzt damit augenscheinlich einen Startvorteil bei der Integration des Gefühls.
4.3. Zur Integration des Gefühls Bislang hatte ich dafür plädiert, Emotionen in einigen Fällen als gewöhnliche sinnliche Anschauungen zu betrachten, weil sie nach unserem besten Urteil alle für normale Sinneswahrnehmung einschlägigen Charakteristika aufweisen. Sie besitzen a) repräsentationalen Gehalt, 236
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Zur Integration des Gefühls
d. h. unterliegen Korrektheitsbedingungen, und zwar repräsentationalen Gehalt begrifflicher und praktischer Art; sie sind b) non-doxastisch, und c) ihr Gehalt ist prima facie ebenso durch die Bekanntschaft mit der Situation ›direkt‹ verursacht wie andere perzeptive Inhalte. Es wirkt allerdings evident, dass die bisherige Schilderung auch in jener begrenzten Fallzahl zwei essentielle Komponenten von Emotionen noch unberücksichtigt lässt. Erstens ist man geneigt einzuwerfen, dass Emotionen nicht ›kühl‹ die praktisch bedeutsamen Züge einer Situation erfassen, sondern daneben eine Weise haben, wie diese sich anfühlen. Man möchte sagen, Emotionen haben nicht nur einen begrifflichen Inhalt, sondern besitzen auch eine spezifische sinnliche Qualität, etwa das, was wir gemeinhin mit der ›erhöhten Temperatur‹ emotionaler Zustände meinen. Ohne einen klaren Begriff von diesem Element bietet es sich an zu sagen: Dieses Element liefere die Antwort auf die Frage, wie es ist, in einem emotionalen Zustand, wie es ist, wütend, froh oder beschämt zu sein. Gefühl kennen wir aber auch noch in einem zweiten, allgemeineren Sinn, in dem dieser Ausdruck auf eine bestimmte Form der introspektiven Körperwahrnehmung verweist, wie zum Beispiel auf das Gefühl eines vollen Magens. Auch in diesem allgemeineren Sinn ergibt sich, dass Gefühl auch in der emotionalen Repräsentation eine wesentliche Rolle spielt. In der letzten Sektion hingegen hatte ich ausgeführt, dass Emotionen als einfache Anschauungen einen non-introspektiven Charakter haben. 70 Dieser Befund ist nun einigermaßen paradox. Er scheint zu indizieren, dass die obige Bestimmung von Emotion als Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt am Ende doch falsch, wenigstens aber unvollständig ist, weil sie die Kategorie des Gefühls mit jener doppelten Nuance missachtet. Die Logik dieses Abschnitts intendiert nun eine Integration des Gefühls in die Anschauungstheorie der Emotionen nicht direkt. Um deren Plausibilität zu erhöhen, möchte ich vielmehr im Folgenden bei der Theoriegattung ansetzen, die beansprucht, die affektive Komponente von Emotionen besonders gut darstellen zu können, nämlich
Die Unterscheidung von ›Emotion‹ und ›Gefühl‹ entspricht nicht ganz dem Usus. Gängig ist die Gegenüberstellung von ›Gefühl‹ (statt ›Emotion‹) und ›Empfindung‹. Ich wähle die erste Terminologie, weil ich sie für die engste Anlehnung an englisch ›emotion‹ und ›feeling‹ halte. Statt ›Gefühl‹ gönne ich mir allerdings auch ›Empfindung‹ als Alternativbezeichnung.
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bei den ›Gefühlstheorien‹ (feeling theories). Auf dieser Grundlage möchte ich demonstrieren, dass wir von diesem Ausgangspunkt vernünftigerweise schließlich ebenso bei einer Wahrnehmungstheorie landen, wie durch die Erörterung der letzten beiden Abschnitte (i, ii). Diese Sektion beschreitet also in der ersten Hälfte einen zweiten Weg zu demselben Ziel. An diesem Punkt angekommen erweist sich das Problem des Gefühls lediglich als ein Spezialproblem innerhalb der Anschauungstheorie. Bar eines überzeugenden Ansatzes mache ich im Folgenden einen eigenen Lösungsvorschlag für das Verhältnis von Emotion und Gefühl (iii). Dessen Pointe wird sein, dass die Anschauungsthese für Emotion nicht modifiziert werden muss, weil Gefühl letztlich nicht begrifflich notwendig für Emotion ist. Gefühle sind hingegen nomologisch notwendig für die emotionale Repräsentation erwartbarer repräsentationsfähiger Wesen. Für diese aber wird sich zeigen, dass die Beschreibung des Gefühls nicht mehr ist als eine Detailbeschreibung der besonderen Anschauung, der hier die primäre Aufmerksamkeit gilt, nämlich der praktischen Anschauung. Es ist m. E. lediglich ein Detailverständnis dessen notwendig, was eine Anschauung zu einer praktischen Anschauung macht, um jede gefühlstheoretische ›Hybridisierung‹ der Anschauungstheorie zu vermeiden.
i.
Die klassische Gefühlstheorie
Wenn man das Nachdenken über Emotionen beim Begriff des Gefühls beginnt, ist es naheliegend, Emotionen mit physiologischen Symptomen in Verbindung zu bringen. ›Fühlen‹ deutet zunächst und zumeist eine introspektive Bekanntschaft mit dem eigenen Körper an. In Anbetracht der körperlichen Veränderungen, die emotionale Episoden begleiten, das hitzige Gemüt, der furchtgeborene, kalte Schweiß, die Beklemmung der Magengrube oder die Ermattung in der Trauer, ist es naheliegend, genau in diesem Gewahrwerden den Kern der Emotionalität zu sehen und Emotionen schlicht als die Wahrnehmung von körperlichen Veränderungen zu definieren. Tun wir dies, erhalten wir die Kernthese der klassischen Gefühlstheorie, auch James-Lange-Theorie genannt. William James bringt sie auf den Punkt:
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»Our natural way of thinking about these standard emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My thesis on the contrary is that the bodily changes follow directly the PERCEPTION of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur IS the emotion [sic].« (James 1884: 189 f.)
Es ist zweckdienlich hervorzuheben, was keine Unterschiede zwischen der klassischen Gefühlstheorie und der im letzten Abschnitt exponierten Anschauungstheorie sind. Es ist nicht so, dass Emotionen nur in der letzteren Konzeption Wahrnehmungen sind, und auch nicht so, dass sie nur nach dieser repräsentationale Zustände sind. Vielmehr ist die Essenz der James-Lange-These, dass Emotionen eine andere Form der Wahrnehmung sind, nämlich introspektive Körperwahrnehmung, und dass sie durchaus repräsentieren, allerdings lediglich charakteristische physiologische Veränderungen im Körper desjenigen, der sie empfindet. Um diese beiden Gattungen auseinanderzuhalten, werde ich im Folgenden dennoch die Gefühlstheorie der Anschauungstheorie gegenüberstellen, selbst wenn diese Terminologie nicht vollends befriedigend ist. So plausibel diese Sicht der Materie anmutet, so schnell ergibt sich ein guter Einwand gegen sie. Nennen wir ihn den Einwand des mangelnden Differenzierungsvermögens. Denn sofern wir lediglich die körperlichen Veränderungen betrachten, die während einer emotionalen Episode auftreten, scheint es recht schwer zwischen Emotionstypen zu unterscheiden, zum Beispiel Wut von Empörung und Eifersucht oder Angst vom Schuldgefühl (besser: der Schuldemotion). Dies lässt sich gut im Selbstversuch erproben, ist aber auch ein Ergebnis des bekannten psychologischen Experiments von Schachter und Singer (1962). Die Autoren hatten dabei bei zwei Gruppen von Probanden durch Verabreichung von Adrenalin künstlich einen physiologischen Erregungszustand induziert und diese anschließend einen Fragebogen, unter anderem zur Eruierung ihrer emotionalen Befindlichkeit, ausfüllen lassen. Als Probanden getarnte Schauspieler täuschten nun in der einen Gruppe Aggressivität, in der anderen Erheiterung vor. Im Ergebnis zeigten die beiden Gruppen signifikante Unterschiede (es gab zur Kontrolle Placebo-Gruppen) in der Interpretation ihres emotionalen Zustandes, was darauf hindeutet, dass die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen nicht hinreichend für die Individuierung eines Emotionstyps ist. Praktische Anschauung
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Allerdings ist zweifelhaft, welche Schlüsse sich aus der Studie der Autoren ziehen lassen. Das wohl ernsthafteste Problem ist das der ›Konfabulation‹ (vgl. Griffiths 1997: 82). Rationale Prozesse, die auf künstliche Weise extern manipuliert werden, können Individuen dazu veranlassen, völlig willkürliche, spekulative Erklärungen für ihren Zustand zu finden. Diese Verwirrung lässt jedoch keinen Schluss auf Emotionen unter Normalbedingungen zu. Daneben aber lässt sich der Studie wie auch dem phänomenologischen Selbstversuch vorwerfen, dass nicht gewährleistet ist, dass die ›Datenbasis‹ groß genug ist. Eine Untersuchung, die sich nicht nur auf die adrenalininduzierte Erregung versteift, sondern auch andere physiologische Prozesse und ihre Modifikation ins Auge fasst, könnte schließlich doch in der Lage sein, Emotionstypen anhand ihres somatischen Profils zu unterscheiden. Ich denke, die Kritik an der einfachen Gefühlstheorie sollte sich nicht auf dieses Argument beschränken, da die Verbesserung des Differenzierungsvermögens eine reelle Möglichkeit der empirischen Forschung ist. Dies gilt – aus Sicht der Freunde von Urteils- oder Wahrnehmungstheorien – a fortiori, weil die Unterscheidbarkeit zweier mentaler Zustände, selbst wenn wir diese als perzeptives Erfassen evaluativer Eigenschaften auffassen, auch auf der (neuro-)physiologischen Ebene, wenigstens solange wir über menschliche Emotionen sprechen, im Grunde genau das ist, was wir erwarten sollten. Die Wahrnehmung bestimmter praktischer Eigenschaften steht auch zu bestimmten Handlungstypen in engen inferentiellen Beziehungen und da Handlungen für gewöhnlich zum Zwecke ihrer Ausführung einen Körper erfordern, sollte dieser Umstand auch eine somatische Ausdifferenzierung implizieren. Dies ist letztlich nicht der Punkt. Der eigentliche, einfache und doch zwingende Grund gegen die klassische Gefühlstheorie ist, dass der repräsentationale Inhalt einer Emotion (in den anvisierten Fällen) nicht den eigenen Körper zum Gegenstand hat. Nennen wir diesen Punkt den Einwand des falschen Gehalts. Der Körper ist schlicht nicht das Thema der emotionalen Repräsentation! Wer sich fürchtet, fürchtet sich nicht (fast nie) vor seiner verkrampften Magengrube, sondern vor den Schwiegereltern, dem Prüfer oder der nächsten Wirtschaftskrise. Ohne diese praktisch bedeutsamen Gegenstände könnte ein Individuum seinen Zustand unmöglich als Furcht auffassen. Tatsächlich ist es üblicherweise sogar so, dass die emotionale Episode gerade dann endet, wenn jemand seine körperliche Erregung als ohne jeden Anlass in 240
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der Welt versteht. Das heißt, die klassische James-Lange-Theorie individuiert den falschen repräsentationalen Gehalt für Emotionen und alle elaborierteren Versionen, die sich noch als Gefühlstheorie begreifen, müssen diesen dringenden Punkt der spezifischen Intentionalität von Emotionen irgendwie integrieren.
ii.
Goldies ›exterozeptives‹ Fühlen
Einen solchen Integrationsversuch stellt die Theorie Peter Goldies dar. Der Autor hat zwei leitende Gedanken. Einerseits plädiert er dafür Gefühle als eine notwendige Komponente emotionaler Episoden anzusehen. Andererseits hält auch er wegen des Arguments des falschen Gehalts die klassische Gefühlstheorie für unzureichend, weil sie der speziellen Intentionalität von Emotionen nicht Rechnung trägt. 71 ›Gefühl‹ ist dabei auch für Goldie, die Antwort auf die Frage, wie es ist, eine Emotion zu erfahren (vgl. Goldie 2000: 19). Als ›Heilung‹ für das Problem führt er nun das zentrale Begriffspaar von ›weltgerichtetem‹ oder exterozeptivem Fühlen (feeling towards) und körperlichem Fühlen (bodily feeling) ein. Der primäre Begriff ist dabei der des ›feeling towards‹, da er die Gleichberücksichtigung von Empfindungskomponente und (korrekter) Intentionalität bei Emotionen ermöglichen soll. 72 Goldie schreibt: »Feeling towards is thinking of with feeling, so that your emotional feelings are directed towards the object of your thought. So, for example, if I feel disgusted by the pudding, my feelings of disgust are directed towards some perceived or imagined property or feature of the pudding – its sliminess, perhaps – which I apprehend as disgusting.« (ebd. 19)
Einen in den wesentlichen Punkten zu Goldie analogen Ansatz, der sich folglich den gleichen hier aufgeworfenen Problemen ausgesetzt sieht, stellt die Konzeption ›gefühlter Bewertungen‹ (felt evaluations) von Bennett Helm (2001) dar. Goldie kann somit als exemplarisch für eine Gattung von Hybridtheorien angesehen werden, die Repräsentationalität und Affektivität von Emotion auf letztlich synkretistische Weise in Beziehung setzen. 72 ›Feeling towards‹ ist dabei ein Ausdruck, der, soweit ich sehe, zuerst bei Moore in einem Nebensatz auftaucht. Moore erörtert Emotionen und Gefühle kurz im Kontext ästhetischer Erfahrung und hebt dabei ebenfalls auf die besondere Intentionalität der Gefühle im Kontext von Emotionen ab (vgl. Moore 1903: § 79, 82 u. 116). 71
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Dem gegenüber ist das körperliche Fühlen wie folgt bestimmt: »Bodily feeling involves consciousness – from the inside, so to speak – of the condition of your body, or of changes to it, such as muscular reactions (including changes in facial expression), hormonal changes, and changes to the autonomic nervous system …« (ebd. 51)
Goldie macht leider an keiner Stelle explizit, wie sich sein Begriff des exterozeptiven Fühlens genau zu seinem Begriff von Emotion verhält. Erschwerend kommt hinzu, dass er noch zwischen ›Emotion‹ und ›emotionaler Episode‹ bzw. ›emotionaler Erfahrung‹ differenziert (vgl. ebd. 11), Unterscheidungen, die ich für nicht besonders glücklich halte. 73 Aus seiner Beschreibung des Sachverhalts (vgl. ebd. 18 ff.) leite ich aber die begründete Vermutung ab, dass das ›feeling towards‹ seiner Auffassung nach das ist, was einen mentalen Zustand zu einer emotionalen Episode macht, d. h. für diese spezifisch ist. Da ich wiederum ›Emotion‹ und ›emotionale Episode‹ synonym verwende, nehme ich an, dass Goldies Emotionsbegriff letztlich mit dem des exterozeptiven Fühlens zusammenfällt. Mit dem ersten Begriffspaar in unmittelbarem Zusammenhang steht Goldies zweite zentrale Unterscheidung zwischen einer direkten Intentionalität des exterozeptiven Fühlens und einer ›geliehenen‹ Intentionalität körperlicher Gefühle (vgl. ebd. 51). Intentionales Fühlen beziehe sich üblicherweise unvermittelt auf ein externes Objekt, z. B. als Furcht vor X, das in seiner praktischen Bedeutsamkeit emotional repräsentiert wird. Körperliche Gefühle hingegen, z. B. ein Schmerz in Goldie führt zur Differenz von ›Emotion‹ und ›emotionaler Episode‹ aus: »An emotion, I argue, is a complex state, relatively more enduring than an emotional episode, which itself includes various past episodes of emotional experience, as well as various sorts of disposition to think, feel, and act, all of which can dynamically interweave and interact. What holds these diverse elements together is their being part of a narrative.« (ebd. 11). Wenn dies eine Definition von Emotionen sein soll, halte ich sie für eine furchtbare terminologische Festlegung. Es fragt sich, wie ›Emotion‹ dann überhaupt noch unterschieden sein soll, von einer (partiellen) ›Theorie der Praxis‹, ›Lebenseinstellung‹ oder ›Weltanschauung‹. Goldie ist motiviert durch die umgangssprachliche Rede von z. B. ›der Liebe Romeos‹ oder Ähnlichem, was auszuschließen scheint, dass es sich dabei lediglich um einen aktuellen perzeptiven Zustand handelt. Aber man sollte sich an dieser Stelle von dieser laxen Rede nicht beeindrucken lassen. Dass eine einzelne emotionale Erfahrung allein aufgrund ihres begrifflichen Charakters selbstverständlich sowohl eine epistemische Vorgeschichte als auch ein epistemisches Nachspiel hat, sollte nicht dazu verführen, den Emotionsbegriff gleich auf diese ganze Vorgeschichte auszudehnen.
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der Brust, könnten ›indirekt‹ intentional sein, wenn sie während einer Emotion, etwa als Folge von Trauer, auftreten und daher als durch das Objekt der Emotion hervorgerufen vorgestellt werden. Diese Intentionalität sei aber von der direkten der Emotion ›geliehen‹, da quasi der externe Objektbezug einer körperlichen Veränderung erst als Folge der emotionalen Repräsentation hergestellt werden kann. Ich möchte nun zunächst herausstellen, dass Goldies Position trotz einer anderen Terminologie und des Ansatzes bei der klassischen Gefühlstheorie bei näherer Betrachtung entlang aller zentralen Strukturmerkmale der im letzten Abschnitt entworfenen Wahrnehmungstheorie entspricht. Denn in der Charakterisierung von exterozeptivem Fühlen als ›Denken an mit Fühlen‹ macht auch Goldie deutlich, dass er Emotionen a) als mentale Zustände – denn wie sonst sollen wir ein ›Denken an‹ verstehen – b) mit repräsentationalem (intentionalem) Gehalt auffasst, die zudem nach Art der normalen Sinneswahrnehmung c) non-introspektiv und zudem d) ohne inferentielle Vermittlung durch ihren Gegenstand direkt verursacht sind. Daneben betont auch Goldie, analog zu der im Rahmen der Kritik der Urteilstheorie erlangten Einsicht, dass Emotionen e) non-doxastische Zustände sind, da er sie als »intentional element which is neither belief nor desire« (ebd. 11) bezeichnet. Vielmehr gelte: »… it is an intentional episode which can involve imagination, or perception, or some combination of imagination and perception, often mutually influential […] The sort of imagining I have in mind is much closer to perception – it has a perceptual quality …« (ebd. 20)
Goldies Verweis auf die von Sinneswahrnehmung unterschiedene ›Imagination‹ lese ich als Hinweis, dass wir nicht alle Emotionen, wenigstens nicht auf direkte und theoretisch unproblematische Weise, als einfache sinnliche Anschauungen auffassen können, sondern auch eine Theorie komplexer Anschauungen benötigen (s. Kap. 4.4.). Sofern wir uns aber auf eine eingeschränkte Klasse der Emotionen bei Präsenz ihres Gegenstandes konzentrieren, ergibt sich hier Übereinstimmung in allen Punkten mit dem alleinigen Unterschied, dass Goldie über diese Punkte hinaus für eine besondere Aufmerksamkeit auf das Problem des Gefühls plädiert. Dies soll keine Unterstellung geringerer Originalität sein, sondern nur diese Theoriesymmetrie herausstellen, um ein weiteres Mal zu demonstrieren, dass offenbar eine Anschauungstheorie der Emotionen eine hoch konsensfähige Theorie ist. Praktische Anschauung
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Was nun aber die Details der anvisierten Integration des Gefühls durch Goldies Theorie angeht, scheinen sich mir doch einige beträchtliche begriffliche Unschärfen zu ergeben, die es fraglich werden lassen, ob hier überhaupt in irgendeiner Weise eine Integration geleistet wird. Da ist zunächst das Vorhaben einer Integration des Gefühls selbst. Goldie wehrt sich zu Beginn gegen eine bloße ›Add-On-Theorie‹ (vgl. ebd. 4), die das Gefühlselement lediglich nachträglich zur Emotionstheorie hinzuaddiert. Angenommen wir wüssten in etwa, was dies bedeuten soll, scheint Goldies eigener Vorschlag doch kaum besser zu sein als eine solche ›Add-On-Theorie‹, wenn er das exterozeptive Fühlen als ›Denken an mit Fühlen‹ bestimmt. Sodann ist einigermaßen mysteriös, wie Goldie sich das genaue Verhältnis von Intentionalität und Fühlen in diesem Rahmen vorstellt. Etwa schreibt er: »First, I consider and reject the idea that the intentionality of emotion can be fully captured by feelingless beliefs and desires. I introduce as an antidote the notion of feeling towards: the feeling one has towards the object of one’s emotion is both essentially intentional and essentially involves feeling.« (ebd. 11)
Denn erstens, wenn es darum geht zu sagen, der emotionale, mentale Zustand sei etwas anderes als ›gefühllose Überzeugungen und Wünsche‹, scheint es ausreichend, die Idee perzeptiver Zustände mit praktischem Gehalt einzuführen, als eine Art von mentalem Zustand, der weder Überzeugung, Urteil, noch Wunsch ist. Auf dieser Grundlage brauchen wir aber nur ein besonderes ›Denken an‹, kein ›Fühlen‹ als ein davon kategorial verschiedenes Etwas. Zweitens geht Goldie ungeprüft von der These, dass emotionale als intentionale Zustände ein Fühlen involvieren, zu der These über, dass diese Zustände auch durch das Gefühl intentional sind. Dies folgt aber nicht. Gefühle könnten ein notwendiges Begleitphänomen bestimmter intentionaler Zustände sein, ohne dass diese Zustände wegen des Gefühls intentional sind. Drittens stehen bei Goldie die zwei Arten des Fühlens, das exterozeptive und das körperliche, unverbunden gegenüber. Während einer emotionalen Erfahrung kann auch der Körper gefühlt werden, aber nach Goldie ist es nicht so, dass diese Körperrepräsentation irgendwie an der emotionalen Repräsentation beteiligt wäre. Vielmehr fasst er die ›direkte Intentionalität‹ der Emotion als fundamental und die des körperlichen Fühlens als die abgeleitete, ›geliehene‹ Form auf. In dieser Konstellation stellt sich aber die Frage, was dann überhaupt noch die Beschreibung des intentionalen Fühlens als ein Fühlen rechtfertigt. 244
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Solange Emotion in der klassischen James-Lange-Theorie noch analog zu körperlichen Gefühlen gedacht ist, ergibt sich dieser Zusammenhang klar, bei Goldie aber fehlt jede Motivation, Emotion und diese Form der Körperwahrnehmung als zwei Unterarten einer Kategorie anzusehen. Die geringe Plausibilität dieses Resultats deutet im Umkehrschluss darauf hin, dass irgendetwas an der begrifflichen Fassung der zwei Arten der Intentionalität schief und wohl vielmehr die mutmaßlich unabgeleitete emotionale Repräsentation in einem bestimmten Sinn von der körperlichen ›geliehen‹ ist. Viertens hat der Ausdruck des Gefühls, wie bereits angemerkt, zwei Konnotationen, nämlich a) die eines körpergerichteten perzeptiven Zustands und b) eines sinnlichen Elements dieses Zustandes (also wie es ist, in diesem Zustand zu sein). Während nun kaum ersichtlich ist, warum wir auf der Grundlage von Goldies Theorie etwas wie die anvisierte Körperwahrnehmung in die Emotionstheorie einfügen müssen, ist auch keineswegs klar, warum wir überhaupt ein zusätzliches sinnliches Element der emotionalen Erfahrung postulieren müssen, zu dessen Integration es weiterer theoretischer Anstrengung bedarf? Goldies Äußerungen hierzu sind einigermaßen widersprüchlich. Etwa schreibt er: »… thinking of and grasping the saliences of a thing is one matter, and having feelings towards that thing is another. Whilst it is no doubt true that, in grasping certain saliences, one is likely to, or will tend to, have the emotional experience, this by no means need happen.« (ebd. 59)
Und bald darauf: »The difference between thinking of X as Y without feeling and thinking of X as Y with feeling will not just comprise a different attitude towards the same content – a thinking which earlier was without feeling and now is with feeling. The difference also lies in the content, although it might be that this difference cannot be captured in words.« (ebd. 60)
Unter der fortlaufenden Annahme, dass wir ›Denken an‹ als einen repräsentationalen Zustand mit – im Falle von Emotionen – praktischem Gehalt deuten müssen, vertritt Goldie somit drei Thesen: Ta. Es gibt einen Unterschied zwischen einem repräsentationalen Zustand (mit praktischem Gehalt) mit und einem ohne Gefühl. Tb. Ein Unterschied zwischen repräsentationalen Zuständen ist immer ein Unterschied im Inhalt dieser beiden repräsentationalen Zustände. Praktische Anschauung
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Tc. Ein Zustand kann einen Gegenstand / eine Situation (praktisch) angemessen, d. h. a) korrekt und b) in relevanten Hinsichten vollständig repräsentieren, ohne ein Gefühl zu involvieren. Aber diese drei Thesen sind klar inkompatibel. Wenn zwei Repräsentationen einer Situation sich immer durch ihren Inhalt unterscheiden (Tb), dann müssen wir schließen, dass eine von zwei praktischen Repräsentationen, eine mit, eine ohne Gefühl, entweder inkorrekt oder unvollständig ist. Somit wäre Tc falsch. Es sei denn, Ta ist falsch und es gibt letztlich keinen Unterschied zwischen einem Zustand mit und ohne Gefühl, weil ›Gefühl‹ letztlich nur ein terminologisches Phantom ist, das nichts bezeichnet. Oder Tb ist falsch und ein Unterschied zwischen zwei repräsentationalen Zuständen muss nicht notwendig ein Unterscheid im Inhalt der Repräsentationen sein. Während es nun Tc ist, die Goldie zuvor affirmiert, laufen seine Beispiele gerade darauf hinaus, dass diese These falsch ist. Dies wiederum, so möchte ich argumentieren, wirft in der Konsequenz ein schlechtes Licht auf die Idee, dass wir mit ›Gefühl‹ überhaupt ein zusätzliches Element einer Emotion benannt haben, das nicht in der Rede vom praktischen, begrifflichen Gehalt einer Anschauung aufgehoben ist. Goldie gibt zunächst vier illustrative Beispiele. Das erste ist der Fall einer Person, die auf dem Eis herumläuft und plötzlich ausrutscht, woraufhin sich bei ihr Furcht vor weiteren Ausflügen auf das Eis einstellt. Dieser Fall wird von Goldie so analysiert, dass das Eis nur als gefährlich ›gedacht‹ wurde, während die Gefahr von der Person nun ›gefühlt‹ wird (vgl. ebd. 59). Das zweite Beispiel handelt von der Beobachtung eines Gorillas im Zoo, bevor und nachdem der Beobachter bemerkt, dass die Tür vom Käfig des Tieres offen steht. Auch dieser Fall wird so beschrieben, dass erst der Gorilla als gefährlich ›gedacht‹, dann aber nach dem Bemerken der offenen Tür in ›emotional relevanter Weise gefühlt‹ wird (vgl. ebd. 61). Die dritte Fallstudie handelt von einem Professor, der um zwölf Uhr mittags weiß, dass um zwölf Uhr mittags eine Sitzung stattfindet, aber erst dann von seinem Schreibtisch aufspringt und zum Sitzungssaal rennt, nachdem er realisiert, dass zwölf Uhr mittags und damit die Sitzung jetzt ist. Goldie bringt dieses Beispiel nicht mit Emotionen in Verbindung. Die Analogie soll aber wohl darin bestehen, dass der Protagonist zunächst lediglich den ›nüchternen‹ Gedanken an die mittägliche Sitzung hegt und dass dieser Gedanke ›heiß‹ wird, sobald die Einsicht hinzutritt, dass der Zeitpunkt dieses Gedankens derselbe ist wie der, an welchem die Sitzung beginnt. 246
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Ich denke, wir können zugestehen, dass die Beispiele zeigen, dass jeweils seitens ihrer Protagonisten zwei repräsentationale Zustände mit verschiedenem Gehalt involviert sind. Im Bestreben, einen Platz für ein besonderes ›Gefühl‹ in der emotionalen Erfahrung zu finden, entsteht aber ein merkwürdiger Eindruck, wenn wir genau prüfen, wie diese Unterschiede im Gehalt vernünftigerweise charakterisiert werden müssen. Denn in allen drei Beispielen können wir diese Unterschiede leicht als Unterschiede im begrifflichen Gehalt der Repräsentation angeben. Etwa im Falle des Eises lässt sich sagen, dass sich durch den Sturz aus Sicht des Akteurs schlicht die Wahrscheinlichkeit eines Schadens durch einen Spaziergang auf dem Eis erhöht hat. Während er vorher das Eis nur als gefährlich repräsentierte, repräsentiert er es nun als sehr gefährlich. Im zweiten Fall können wir den Unterschied so formulieren, dass während der Gorilla vorher als ein Tier repräsentiert wurde, dass Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit Schaden zufügen kann, sofern sie in seinen Einflussbereich geraten, wird er nach der Entdeckung der offenen Tür durch den Akteur als ein Wesen repräsentiert, das ihm selbst gefährlich werden kann bzw. die Situation wird durch ihn als eine aufgefasst, in der er einer der Menschen ist, die sich in jenem Einflussbereich befinden. Die Analyse des letzten Beispiels im Sinne einer begrifflichen Differenz liefert Goldie selbst: Die zusätzliche Einsicht, dass zwölf Uhr mittags jetzt ist, verändert die Weise, wie die Situation des Professors durch diesen begriffen ist. Die Beispiele liefern das gewünschte Ergebnis, dass wir jeweils zwei verschiedene Zustände haben und dass diese sich in ihrem repräsentationalen Inhalt unterscheiden (Tb) und sofern wir ihren Abstand formal mit der Chiffre ›Gefühl‹ belegen (Ta), erhalten wir natürlich als Ergebnis, dass dieser Unterschied einer des Gefühls ist. Aber nun ist es nicht mehr so, dass beide repräsentationalen Zustände die Situation angemessen repräsentieren. Im Gorilla- und dem Professorbeispiel wird die Situation im zweiten Zustand korrekt eingeschätzt. Im Falle des Eises kann man sich streiten, ob das Objekt ex post richtig repräsentiert wird oder der Akteur die Gefahr nun überschätzt, weil er durch den Sturz traumatisiert wurde. Aber nur einer von beiden kann angemessen sein und die praktische Bedeutsamkeit der Situation richtig darstellen. 74 Also ist es falsch, dass man praktische Eigenschaften in jedem Fall Da wir über praktische Inhalte sprechen, könnte man werttheoretisch zu bedenken geben, dass es unter Umständen nicht nur eine richtige Antwort auf die Frage nach der
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ohne ›Gefühl‹ erfassen kann, weil durch ›Gefühl‹ ein zusätzlicher begrifflicher Gehalt in die Erfahrung einfließt, der eine Differenz in ihrem praktischen Gehalt markiert (~Tc). Dies wirft allerdings ein schlechtes Licht auf die Bemühung, einen Platz für ›Gefühl‹ im Sinne eines sinnlichen Elements der Erfahrung zu finden, die wir durch die Einführung der Wie-es-ist-Rede angeregt hatten. Damit scheint es, als wäre Ta zwar nicht falsch, aber als wäre sie eine kolossal irreführende Weise, den wahren Sachverhalt zu charakterisieren, weil es keineswegs so ist, dass die Differenz zwischen ›Denken an mit Gefühl‹ und ›Denken an ohne Gefühl‹ auf ein besonderes sinnliches Element verweist. Vielmehr haben wir in allen Beispielen nur zwei verschiedene praktische, begriffliche Repräsentationen, nichts weiter, und dies bedeutet ein Genügen von ›Denken an‹ allein. Der Zusatz ›mit Gefühl‹ ist unnötig. Tatsächlich liefert Goldie mit den Beispielen einen guten Ansatz, wie wir Unterschiede in der ›Temperatur‹ von Emotionen – gelegentlich auch ihre ›Dringlichkeit‹ oder ›Intensität‹ genannt (vgl. Nussbaum 2001: 77 ff.) – als rein begrifflichen Unterschied praktischer Inhalte charakterisieren können. Beschränken wir uns auf evaluativen Gehalt, können wir sagen, dass dieser sich entlang von drei Dimensionen abhängig davon unterscheiden kann, ob etwas a) hohen oder geringen Wert (positiv, negativ) besitzt, b) dieser Wert mit hoher/geringer Wahrscheinlichkeit realisierbar/bewahrbar/bedroht o. ä. ist und c) ob sich diese Wahrscheinlichkeit auf einen Zeitpunkt bezieht, der in geringer oder großer Distanz zur Gegenwart des Betrachters liegt. Demnach würde einem ›hitzigen‹ Gemüt allein eine Repräsentation eines Gegenstandes von hohem Wert (z. B. das nackte Leben) entsprechen, das vielleicht mit großer Wahrscheinlichkeit bedroht ist (durch den Gorilla) und jetzt nach einer Handlung verlangt, während etwas von geringem Wert, was nur mit geringer Wahrscheinlichkeit in ferner Zukunft realisierbar (bedroht o. ä.) ist, einen ›kalt‹ lässt. Diese ›Temperaturunterschiede‹ wären allein Unterschiede im begrifflichen Gehalt einer praktischen Repräsentation der Lage. Um dies noch einmal in einen anderen Bedeutsamkeitsstruktur der Situation gibt, sondern eventuell mehrere sich an Angemessenheit nicht überbietende, aber potentiell inkommensurable praktisch-anschauliche Deutungen der Situation gibt. Diese Komplikation hat allerdings, soweit ich sehe, keinen Einfluss auf den Tatbestand, dass wir die jeweiligen Inhalte weiterhin als rein begriffliche Inhalte beschreiben können, so dass auch unter dieser Konstellation das Problem fortbesteht, ob wir überhaupt ein zusätzliches Element namens ›Gefühl‹ in der emotionalen Erfahrung verorten müssen.
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Kontext zu stellen: Diese Überlegungen zur Intensität von Emotionen bieten ebenfalls einen guten Weg, die analoge Unterscheidung Humes aus dem ›Treatise‹ zwischen ›violent passions‹ und ›calm passions‹ als Differenz praktischer begrifflicher Gehalte zu fassen (vgl. Hume 2000: § 2.3.3). Orientieren wir uns an diesen Beispielen, ergeben sich also keinerlei revisionäre Konsequenzen für die These, dass Emotion als praktischer begrifflicher Gehalt einer Anschauung angemessen beschrieben ist. Eine Komplikation ergibt sich erst aus Goldies viertem Beispiel, das die Analogie von Gefühl und Farbwahrnehmung bemüht. Goldie verweist hier auf den Farbenblinden: »… the colour-blind person who can reliably pick out red things because he has a constant companion who points out to him all and only things of that colour. This person can have the demonstrative thought ›That ball is red‹, but that thought will differ in respect of its content from that of a thought also expressed as ›That ball is red‹ had by a person who is using his normal ability to see colours.« (Goldie 2000: 60)
Dazu habe ich zwei Anmerkungen. Erstens liefert Goldie über die bloße Erwähnung der Existenz von Farbblindheit keinerlei Rechtfertigung für die Legitimität der Analogie zu Gefühlen. In Anbetracht des inflationären Gebrauchs der Sekundäre-Qualitäten-Analogie bedarf es aber eines Belegs, in welcher Hinsicht genau Farbwahrnehmung und Gefühl gleichgeschaltet werden sollen und warum dies plausibel ist. Dies gilt a fortiori, weil es entgegen Goldies Suggestion bei vielen Beispielen so aussieht, als bräuchten wir gerade kein zusätzliches sinnliches Element namens ›Gefühl‹ zu postulieren. Zweitens, angenommen wir akzeptieren die Analogie, dann könnten wir in Betracht ziehen, dass farbige und farblose bzw. gefühlsbetonte und gefühllose repräsentationale Zustände sich irgendwie unterscheiden. So, wie es Goldie allerdings beschreibt, ist fraglich, ob dieser Unterschied auch ein Unterschied im Inhalt dieser Zustände ist. Die Konstellation, bei der ein Dritter den Farbenblinden jeweils verlässlich auf rote Gegenstände hinweist, ist zwar recht ominös, weil hier die Beurteilung schwierig ist, ob der Farbenblinde jeweils nur Worte wie ›Dies ist rot‹ artikuliert oder ob er auch ihre Bedeutung verstanden hat. Sollte es aber so sein, dass wir den simultanen Gedanken des Farbenblinden korrekt als den Gedanken ›Dies ist rot‹ beschreiben können, dann scheint die naheliegende Konsequenz eher zu sein, dass dieser Gedanke gerade denselben Inhalt hat, Praktische Anschauung
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wie der eines Farbsehers. Wenn es nun dennoch einen Unterschied zwischen der farbigen (gefühlsbetonten) Repräsentation und der farblosen (gefühllosen) Repräsentation gibt, dann ist die logische Folgerung, dass dieser sinnliche Unterschied kein Unterschied im repräsentationalen Inhalt ist. Also ist Tb falsch und Unterschiede zwischen repräsentationalen Zuständen sind nicht notwendig inhaltliche Unterschiede. Wenn Gefühlsunterschiede aber keine inhaltliche Differenz markieren, dann ist die zweite logische Folgerung, dass diese Differenz dann epistemisch irrelevant ist, weil sie die Frage korrekter rationaler Transitionen von und zu emotionalen Zuständen nicht tangiert, da es rationale Transitionen nur zwischen gehaltvollen Zuständen geben kann. Dies bedeutet wiederum, dass wir uns im Rahmen einer Erkenntnistheorie der Emotionen keine Sorgen über Gefühle machen müssten, weil wir mit dem Verweis auf den praktischen begrifflichen Gehalt Emotionen in allen epistemisch relevanten Hinsichten vollständig beschrieben haben. Die Diskussion von Goldies Theorie führt somit zu zwei Resultaten. Einerseits ergibt sich die konsensfördernde Einsicht, dass Goldies Gefühlstheorie im Ausgang von der klassischen James-Lange-These letztlich Emotionen unter der Chiffre des ›exterozeptiven Fühlens‹ trotz anderer Terminologie ebenso als praktische Anschauungen auffasst, wie dies von anderen Wahrnehmungstheoretikern und mir favorisiert wird. Andererseits gibt Goldies Theorie trotz seiner konträren Absichtsbekundungen keinen konkreten Aufschluss, was innerhalb dieser Theorie genau das Problem des Gefühls ist oder was eine echte Lösung dieses Problems sein könnte. Insbesondere erhalten wir keine Auskunft darüber, wie das Verhältnis von introspektiver Körperwahrnehmung und Emotion vorgestellt werden muss, eine Erklärungsleistung, die traditionell eine Domäne der Gefühlstheorie ist. Dabei wirft es ein schlechtes Licht auf die Theorie, wenn der Autor sich selbst nicht genötigt fühlt, eine ›substantielle Charakterisierung‹ dessen zu liefern, was ›Gefühl‹ nach seinem Dafürhalten essentiell bedeuten könnte (vgl. ebd. 61). Wegen all jener Schwierigkeiten empfiehlt es sich, bei der Behandlung des Gefühlsproblems noch einmal neu anzusetzen.
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iii. Emotion und viszerale Körperwahrnehmung Ich hatte diesen Abschnitt eingeleitet mit der Intuition, dass die Kategorie des ›Gefühls‹ eine essentielle Komponente von Emotionen markiert und dass deshalb eine reine Anschauungstheorie, wie ich sie im Vorherigen artikuliert habe, unvollständig ist. Fassen wir die vorstehenden Überlegungen zusammen, dann soll ›Gefühl‹ einerseits die informative Antwort auf die Frage sein, wie es ist, eine emotionale Episode zu durchlaufen. Andererseits ist Gefühl offenbar etwas, was viel mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers zu tun hat. Wenn wir nun aber im Sinne der klassischen Gefühlstheorie bei James sagen, dieser Zusammenhang erkläre sich so, dass Emotionen schlicht eine Gruppe von Gefühlen sind, schieben wir Emotionen eine falsche Botschaft unter, denn sie handeln normalerweise nicht vom Körper, sondern von externen Objekten. Nennen wir hingegen wie Goldie Emotionen ein ›exterozeptives Fühlen‹, um repräsentationalen und Gefühlsaspekt zusammenzuführen, gelangen wir zwar erneut zu einer Theorie, die auf den Wahrnehmungscharakter von Emotion abhebt, integrieren aber Gefühle nur dem Namen nach. Es zeigt sich an der Darstellung des zweiten Autors, dass das ›feeling towards‹ nur eine Worthülse ist, die das Problem nur verdeckt bzw. verdeckt, ob es überhaupt ein Problem gibt. Da dies zwei recht unbefriedigende Lösungen sind, möchte ich noch einmal neu ansetzen. Unter Fortführung des Zwischenergebnisses, dass Emotion schlicht Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt ist, möchte ich die folgenden drei Fragen beantworten. 1. Was ist das Verhältnis zwischen einer Anschauung mit praktischem Gehalt und der introspektiven Körperwahrnehmung? 2. Was ist das Verhältnis zwischen dem ›Gefühl‹ als Komponente der emotionalen Repräsentation und ›Gefühl‹ als Komponente von Körperwahrnehmung? 3. Was ist die logische Modalität des Zusammenhangs von praktischer Repräsentation und Körperwahrnehmung, ist er rein kontingent, gesetzmäßig, begrifflich? Ich möchte zunächst noch einmal die Körperwahrnehmung betrachten, die den Ansatzpunkt der klassischen Gefühlstheorie bildet. Dies scheint mir vernünftig, da ad hoc viel dafür spricht, dass diese gegenüber emotionalen Repräsentationen die einfacheren Gehalte darstellen. Von welcher Art der Körperwahrnehmung ist dabei aber überhaupt die Rede? Wenn man beispielsweise Kopfschmerzen, eine flaue Praktische Anschauung
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Magengrube, ein Drücken im Zeh, Herzklopfen oder eine allgemeine physische Erregung fühlt – d. h. mit Damasios Worten ein ›Körperschema‹ erzeugt (vgl. Damasio 1994: 145) – handelt es sich ja offenkundig nicht um den gleichen Typ von Repräsentation, wie wenn man seinen Körper oder den von anderen im Spiegel betrachtet, seinen Magen knurren hört oder wenn ein Arzt das pochende Herz unter dem Ultraschallgerät wahrnimmt. Der erste, niemandem unbekannte Punkt ist, dass es sich bei dem Gefühl gegenüber visuellen, akustischen oder olfaktorischen Eindrücken um eine besondere Modalität der Wahrnehmung handelt. Nennen wir diesen Modus und entsprechende, perzeptive Einzelrepräsentationen viszeral. 75 Wie können wir über den Umstand, dass sie einen besonderen Sinnesmodus und ein besonderes Thema haben, nämlich körperliche Zustände und Ereignisse, viszerale Repräsentationen im Detail weiter beschreiben? Nun, hinsichtlich des Themas können wir ihnen bei normalen Subjekten zunächst einmal bestimmte, körperbezogene begriffliche Inhalte zuschreiben, die abhängig von den begrifflichen Fähigkeiten recht simpel (z. B. das Fühlen von Herzklopfen, was nur ein Grundverständnis der Organe des Körpers erfordert) oder hochkomplex und detailreich sein können (z. B. wenn man mit viel medizinischem Grundwissen unter Umständen eine Verengung seiner Herzkranzgefäße fühlt). Wenn wir den geeigneten theoretischen Standpunkt zum perzeptiven Inhalt einnehmen, können wir viszeralen Repräsentationen auch nichtbegriffliche Inhalte zuschreiben, die unabhängig von der begrifflichen Versiertheit des Subjekts bei normalem Wahrnehmungsapparat repräsentiert sein können. Vielleicht können wir primitive Schmerzempfindungen dazu zählen – dabei wäre zu beachten, dass Schmerz nicht notwendig mit der Ko-Repräsention einer bestimmten Wertung verknüpft ist, hier also keine Revision der oben vertretenen These erforderlich wird, dass praktischer Inhalt nicht nichtbegrifflich sein kann. Schmerz ist nicht dasselbe wie Leid. AbhänMan ist an dieser Stelle natürlich versucht nachzufragen, wie sich dieser Sinnesmodus zur haptischen Wahrnehmung verhält, insbesondere ob wir ersteren nicht an den Tastsinn assimilieren sollten, da man denken könne, beide Repräsentationstypen seien modal gleich und hätten nur eine andere Ausrichtung (Körperoberflächen, Körperinneres). Letzteres ist ja durch die Bezeichnung als ›Gefühl‹ in beiden Fällen angezeigt. Dieses Problem möchte ich übergehen, da es mir für die folgende Darstellung nicht relevant zu sein scheint und es auch ansonsten hauptsächlich wichtig wäre, das Gefühl von den ›Fernsinnen‹ des Sehens und Hörens zu unterscheiden.
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gig von den Hintergrundüberzeugungen kann Schmerz als gut, weil Anzeichen für Heilung, Genesung oder Folge verdienter Strafe, wahrgenommen werden. Es leuchtet jedoch ein, dass die Aufzählung begrifflicher und nichtbegrifflicher repräsentationaler Inhalte allein nicht genügt, um zu erklären, was gegenüber modal andersartiger Wahrnehmung das Besondere an der viszeralen Präsentation ist. Man könnte nun den in Kapitel zwei gewählten kausalen Ansatz weiterfolgen und sagen, dass eine Repräsentation zu einer perzeptiven dadurch wird, dass sie durch die Umgebung direkt verursacht wird und dass sie zu einer modal spezifischen Perzeption wird, wenn die Verursachung durch eine Sinnesreizung an einer bestimmten Stelle, dem Auge, dem Ohr, oder eben dem Körperinneren erfolgt. Wir könnten dann mutmaßen, dass diese Weise der Verursachung stets in der Wahrnehmung mitrepräsentiert wird und dass dies den Unterschied zwischen den Sinnesmodalitäten markiert. Die gängigere Lösung, die, soweit ich sehe, eher im Sinne der Gefühlstheoretiker ist, führte auf die Behauptung, jede Wahrnehmung hätte besondere ›Qualia‹, phänomenale oder sinnliche Eigenschaften, die gegenüber den repräsentationalen Eigenschaften der Wahrnehmung für ihre spezifische ›Kolorierung‹ verantwortlich sind. Um das bekannte Beispiel von Peacocke aufzugreifen, können wir es so darstellen, dass wir in der Wahrnehmung einer Rose nicht nur das Objekt und die sekundäre Qualität ihres Rot-seins, sondern ebenso die rein sinnliche, non-repräsentationale Eigenschaft rot’ verorten können, die den modalitätsspezifischen Sinneseindruck der bloßen Röte an sich betrachtet ausmacht (vgl. Peacocke 2007: 3). Rot’ ist die sinnliche Antwort auf die Frage, wie es ist, rote Dinge visuell wahrzunehmen. Ziehen wir nun die Parallele zur viszeralen Repräsentation, können wir analog sagen, die Wahrnehmung von Kopfschmerzen, Herzklopfen und flauem Magen wird ebenso sinnliche Eigenschaften aufweisen, die charakteristisch für diese Sinnesmodalität sind. Analog zu rot’ im visuellen oder zimt’ im olfaktorischen Fall, könnten wir vielleicht flau’ oder schmerz’ als sinnliche Eigenschaften der viszeralen Wahrnehmung ansetzen – Es kommt hier nicht darauf an, ob wir etwaige sinnliche Eigenschaften damit terminologisch angemessen beschreiben, sondern nur darauf, den Grundgedanken zu illustrieren. Akzeptieren wir also diesen Rahmen, haben wir nun ein einigermaßen klares Verständnis davon, dass Gefühl im Sinne viszeraler Wahrnehmung etwas Praktische Anschauung
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mit dem eigenen Körper zu tun hat, und davon, worauf die Wie-Es-IstFrage diesbezüglich zielt. Im Wiederaufgreifen der ersten der drei obigen Fragen wäre nun zu überlegen, welchen Zusammenhang wir zwischen ›Gefühl‹ als viszerale Körperwahrnehmung und Repräsentationen mit praktischem Inhalt herstellen können? Oder, da dieser Zusammenhang phänomenologisch recht evident ist, besser: Wie können wir verstehen dass es eine intime Verknüpfung von praktischer und viszeraler Repräsentation gibt? Es genügt jedenfalls nicht, wenn wir sagen, Emotion sei schlicht eine praktische Repräsentation plus Gefühl. Denn dies lässt offen, wie sich dann der verblüffende Umstand ergibt, dass Emotionen üblicherweise auch gefühlt werden. Es genügt aber genauso wenig zu sagen, eine Emotion repräsentiere die praktischen Aspekte der Umwelt, indem sie gefühlt wird oder durch das Gefühl. Denn dies erscheint bei oberflächlicher Betrachtung erst einmal falsch. 76 Denn das Thema des Gefühls ist der Körper und nicht die externen Objekte der emotionalen Repräsentation. Wir müssen somit deutlich ausführlicher werden, um repräsentationalen und viszeralen Aspekt hermeneutisch zusammenzuführen. Ich denke nun, der beste Weg um dieses Paradox aufzulösen, führt über die Artikulation dessen, was es eigentlich heißt, dass ein mentaler Zustand nicht irgendeine, sondern eine praktische Repräsentation der Umwelt darstellt. Denn wenn wir sagen, dass die emotionale Repräsentation evaluativen, deontischen oder normativen Gehalt hat, dann bedeutet dies, dass der Denker, der diese Emotion erfährt, nicht nur wahrnimmt, sondern als ein Handelnder affiziert wird. Praktische Anschauungen ›sagen‹, dass etwas ein Exemplar von Gefahr, Arroganz, Großzügigkeit ist, und legen so Werturteile nahe, die wiederum dafür sprechen, dass ein bestimmter Handlungstyp (Weglaufen, Empörung, Ausdruck von Dankbarkeit) der Situation angemessen wäre. Handeln ist jedoch nicht möglich ohne einen Körper und ein bestimmter Handlungstyp ist nicht ausführbar ohne charakteristische körperliche Veränderungen, die den Körper auf die Handlung in spe ausrichten. So können wir verstehen, In diesem Punkt wäre also der jüngeren Kritik von Whiting rechtzugeben (vgl. Whiting 2012: 97 ff.). Der Autor irrt aber, insofern dies kein schlagender Einwand gegen die Anschauungstheorie ist, wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen.
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dass eine praktische Anschauung, die von einem Individuum als hinreichender Anlass für die Ausbildung praktischer Überzeugungen dient, dieses Individuum auch auf charakteristische Weise ›bewegen‹ wird. Gegen diesen zweiten Schritt kann man zwei Bedenken vorbringen. Erstens könnte man einwenden, dass die praktische Repräsentation eines Objektes als mit bestimmten evaluativen oder deontischen Eigenschaften ausgestattet nicht genügt, um einen Akteur zur Ausführung eines bestimmten Handlungstyps zu bewegen. Offenbar haben derartige Stellungsnahmen nur Prima-Facie- oder Pro-Tanto-Charakter und können deshalb nicht allein eine Handlung rationalisieren. Es ist jedoch augenfällig, dass dieser Einwand wenigstens auf emotionalen Gehalt, der einem normativen Sollensurteil analog ist, nicht zutreffen kann, denn der Gedanke ›ich sollte X tun‹ konnotiert, dass bis auf weiteres die Abwägung aller verfügbaren Gründe auf X führt. Es ist nun wichtig zu ergänzen, dass auch Emotionen, die sich vornehmlich durch evaluativen oder deontischen Gehalt auszeichnen, diesen Gehalt in paradigmatischen Fällen in dem Sinne aufweisen, als er bereits ähnlich eines Sollensurteils eine Abwägung praktischer Aspekte resümiert. Wenn man sagt, Furcht zeichne sich als Typus durch den propositionalen Gehalt ›Dies ist gefährlich‹ aus, dann schließt das Zusprechen der Gefährlichkeit ein, dass es sich dabei um einen dominanten Aspekt handelt, der andere positive oder negative Aspekte übertrumpft. Furcht suggeriert, dass es vor allem gefährlich ist, nicht dass es gefährlich ist, vor allem aber auch ein mordsmäßiger Spaß. Empörung besagt, dass die Bezugsperson sich einer ernsthaften Verfehlung schuldig gemacht hat, nicht dass sie tugendhaft, aber auch ein Schelm ist. An solchen Beispielen lässt sich ablesen, dass die Angabe des propositionalen Gehaltes einer Emotion in einem Satz für die Übersichtlichkeit der Darstellung zwar kaum zu vermeiden ist, im Grunde aber eine fast peinliche Ellipse darstellt. Denn selbstverständlich steht hinter jeder Einzelemotion eine praktische Theorie der Situation und hinter dieser steht ein praktisches Weltbild. Dies führt dazu, dass der intendierte Gehalt letztlich um ein Vielfaches nuancierter ist, als das konventionell verknappte Zitieren von Gefahr. Das zweite Bedenken könnte vonseiten einer nonkognitivistischen Einstellungspsychologie vorgebracht werden. Aus dieser Perspektive könnte man der Darstellung entgegenhalten, dass eine praktische Repräsentation allein, ob vorläufig oder bereits wohlerwogen, nie ganz Praktische Anschauung
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oder partiell zu einer Handlung bewegen kann, weil das motivationale Element stets erst durch die richtige Einstellung hinzutritt. ›Einstellung‹ ist dabei eine Chiffre für von kognitiven unterschiedene konative Zustände, paradigmatischerweise Wünsche. Wäre dies so, könnten wir nicht vom praktischen Gehalt einer Emotion über deren handlungsleitenden Charakter auf komplementäre körperliche Veränderungen schließen. Obwohl dieser Einwand fundamentaler ist als der erste, lässt sich doch an seinen Prämissen erkennen, dass ich im gegenwärtigen Rahmen gar nicht zu einer Replik verpflichtet bin. Denn ich hatte durch meine Annahme der ›Kognitiven Suffizienz‹ im Einleitungskapitel ausgeschlossen, dass der Verweis auf mentale Zustände wie Wünsche oder Einstellungen psychologisch zulässig ist. In weiterer Perspektive wäre aber selbstredend auf diesen Punkt einzugehen. Ich möchte mich mit der Bemerkung begnügen, dass es mir ad hoc sehr viel sinnvoller erscheint, die Erklärung, warum von zwei Akteuren, die ihre Situation augenscheinlich praktisch gleich auffassen, sich nur einer zu einer bestimmten Handlungsweise verleitet sieht, durch eine Nuancierung der involvierten mentalen Inhalte zu führen. Eine rein kognitivistische Erklärung zu liefern ist besser als die theoretisch völlig unergiebige Aussage, einem der beiden hätte eben die richtige Einstellung gefehlt. Akzeptieren wir also unter Aussparung des letzten Punktes den Schritt von der praktischen Repräsentation zur Handlungsleitung und den Schritt von der Handlungsleitung zur körperlichen Veränderung, die charakteristisch für die beteiligten praktischen Inhalte ist. Nun benötigen wir lediglich einen weiteren Schritt, um die Verbindung von Emotion und Gefühl verständlich zu machen. Denn wenn wir sagen, eine praktische Repräsentation wird jeweils von charakteristischen körperlichen Veränderungen begleitet, dann können wir erwarten, dass bei allen repräsentationsfähigen Wesen, deren Wahrnehmungsapparat über einen viszeralen Modus verfügt, jede dieser Veränderungen wenigstens minimal in der Sinnesmodalität (re-)präsentiert wird, die auf den eigenen Körper spezialisiert ist. Jede praktische Repräsentation wird also unter Normalbedingungen 77 auch viszerale Eigenschaften aufweisen. Da aber Emotionen eine Art von praktischer Repräsentation Eventuell kann man sich schwere, psychische Störungen dazu denken, die diesen reliablen Zusammenhang durchbrechen. Ob dies möglich wäre, ist eine empirische Frage.
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sind und ›Gefühl‹ eben primär auf die viszeralen Eigenschaften von Repräsentationen verweist, können wir dies auch so ausdrücken: Bei Menschen oder hinreichend ähnlichen Wesen ist ein Gefühl Teil jeder Emotion. Diese Darstellung ist m. E. die beste Weise, die Relation von Gefühl und Emotion nicht nur zu konstatieren, sondern auch zu verstehen, warum sie überhaupt besteht. Neben dieser synchronen Verbindung gibt es aber noch eine zweite Weise, die Intimität von Emotion und Gefühl anhand der Genealogie praktischer Begriffe verständlich zu machen. Viele evaluative Begriffe wie Gesundheit, Sicherheit, Schmerzfreiheit sind zunächst und zumeist stark auf die körperliche Unversehrtheit von Individuen bezogen, welchen abstrakteren Sinn wir diesen Termini auch ansonsten noch verleihen können. Daher ist es ebenso vernünftig anzunehmen, dass bei Wesen mit viszeralem, körperbezogenem Sinnesmodus dieser psychologisch unabdingbar für den Erwerb praktischer Begriffe ist. So lässt sich auch diachron nachvollziehen, dass das Gefühl auch bei erwachsenen Begriffsverwendern noch synchron an der Repräsentation praktischer Umweltaspekte beteiligt ist. Ich möchte nun zu der zweiten, oben angeschnittenen Frage kommen, wie sich das rein körperliche Gefühl (bodily feeling) zum Gefühl als Teil einer Emotion (emotional feeling) verhält. Um nicht in die gleichen Unklarheiten wie Goldie zu geraten, sollten wir gleich zu Beginn noch einmal festhalten, dass beide, sowohl das primitive Hungergefühl als auch der flaue Magen angesichts der Schwiegereltern, eine Unterklasse der Repräsentationen mit viszeralen Eigenschaften sind. Dies ist es, was überhaupt die Bezeichnung ›Gefühl‹ in beiden Fällen rechtfertigt! Während körperliche Gefühle aber rein viszerale Repräsentationen darstellen, sind Emotionen in den allermeisten Fällen amodal. Bei ihnen sind die viszeralen Eigenschaften nur ein Teil, und zwar ein peripherer Teil. Ich denke, dieser letzte Punkt ist hinreichend evident. Interessanter sind hingegen zwei Detailfragen, die wir im Anschluss an Goldie noch zum Verhältnis emotionaler und körperlicher Gefühle stellen müssen. Die erste ist, ob es klug ist zu denken, dass emotionale Gefühle Vorrang vor den körperlichen haben, insofern sie repräsentational der grundlegendere Typus sind, während letztere abgeleitet sind? Ich meine, wir sollten hier mit einem klaren Nein antworten. Denn die rein viszeralen, körperlichen Gefühle sind die primitiveren, emotionale GePraktische Anschauung
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fühle hingegen die komplexeren, amodalen Repräsentationen. Psychologisch wird eine emotionale Repräsentation erst dann und auf Grundlage einer Vielzahl perzeptiver und begrifflicher Fähigkeiten möglich, von denen die viszerale nur ein Baustein ist. Das heißt, es ist die emotionale Repräsentation, die in diesem Sinne von der rein viszeralen ›abgeleitet‹ ist. Goldies Beispiel, in dem man als Folge der emotionalen Resonanz auf ein Objekt zusätzlich auch noch Kopfschmerzen bekommt und diese hernach auf das Objekt der Emotion bezieht, sind ein Sonderfall, der die üblichen Konstruktionsprinzipien auf den Kopf stellt. Die zweite Detailfrage ist, ob wir nicht sagen sollten, dass es in der emotionalen Repräsentation schließlich der ›Gefühlsanteil‹ ist, der den ›Wertanteil‹ ausmacht? Ist es nicht vernünftig, es so darzustellen, dass in der Empörung über den sich vordrängelnden Fahrgast in der U-Bahn es das begleitende Gefühl ist, das diesem ansonsten neutralen Szenario die Note einer negative Wertung verleiht? Goldie scheint dies zusammen mit anderen Autoren (vgl. Prinz 2004: 77 f.) mit seinem Modell eines auf ein externes Objekt ›gerichteten Fühlens‹ (feeling towards) bejahen zu wollen. Ich denke hingegen, wir sollten den Autoren in diesem Punkt nicht folgen. Denn ein Gefühl repräsentiert Zustände und Ereignisse des Körpers, aber keine körperexternen Entitäten und daher auch nicht deren praktische Eigenschaften. Allenfalls durch Magie 78 könnten wir daher eine viszerale Körperwahrnehmung zur Repräsentation externer Evaluation verleiten. Bedeutet dies aber, dass dem vorgestellten Begriff von Emotion als praktische Anschauung nun bei der Detailanalyse repräsentationalen Inhaltes Unheil droht? Wenn der praktische repräsentationale Inhalt der Emotion einerseits bestenfalls abgeleitet von einem rein körperlichen Gefühl ist, wir aber andererseits kein Element in der Wahrnehmung benennen können, das das Evaluative, Deontische oder Normative (re-)präsentiert, müssen wir dann nicht zu dem Ergebnis kommen, Oder durch einen sehr abseitigen Begriff von Repräsentation wie bei Prinz, der sagt, das flaue Gefühl repräsentiere die Gefahr ebenso wie der Rauch das Feuer ›repräsentiere‹ (vgl. Prinz 2004: 52 ff.). Da dieser Repräsentationsbegriff aber nicht der Richtige für die Erörterung mentaler Inhalte ist, ist hier Whiting beizupflichten, wenn dieser die Wertrepräsentation durch ein Gefühl merkwürdig findet (cf. Whiting 2012: 99 f.). Die nachfolgenden Ausführungen zeigen jedoch, dass es auch eine nicht-magische Weise gibt, diesen Punkt zu verstehen, weshalb Whitings hieran anschließender Einwand gegen die Wahrnehmungstheorie nicht erfolgreich ist. 78
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dass hier ein Irrtum vorliegt? Wäre es richtiger zu sagen, eigentlich lägen in den Fällen von Emotion, die ich unter Sinneswahrnehmung subsumiert habe, zwei getrennte Eindrücke vor, nämlich einmal die visuelle, akustische etc. Wahrnehmung des Bezugsobjektes, die an sich wertneutral ist, und einmal die viszerale Wahrnehmung körperlicher Veränderungen, während der Eindruck praktischer Repräsentation nur scheinbar vorliegt? Nun, dies wäre eine Möglichkeit. Würden wir dies aber allein aus dem Umstand folgern, dass wir reflexiv komplexe Repräsentationen in ihre einfacheren Bestandteile zergliedern können, wäre das ein Missgeschick, das man den Fehler aus der Dekonstruktion taufen könnte. Dieser besteht darin, dass man das Verhältnis von konstitutiven Basisinhalten und komplexeren Inhalten einer Repräsentation mit dem Verhältnis von ›echten‹ und ›illusionären‹ Inhalten gleichsetzt. Zur Illustration kann man den Fall der Emotion gut mit der Betrachtung eines Fußballspielers vergleichen, der gerade ein Tor schießt. Während man am rechten Rand des Sichtfeldes noch das muskulöse Schussbein unter der Wucht der Anstrengung nachschwingen sieht, knallt am linken Rand des Sichtfeldes bereits der Ball unhaltbar unter die Latte ins Netz. Doch ›wo‹ ist nun der Sachverhalt, von dem wir gerade gesprochen hatten, der Sachverhalt, dass der Spieler ein Tor schießt, d. h. eine kausale Beziehung zwischen Spieler, Bein, Ball und Tor in unserem Sichtfeld besteht, zu verorten? Ist das Moment der Verursachung eher im Fuß des Spielers oder in seinem Kopf oder beim Ball, der in das Netz klatscht? Offenbar ist keine dieser Antworten zutreffend. Bedeutet dies aber, dass unser Eindruck, dass der Spieler ein Tor geschossen hat, nur ein scheinbarer war? Natürlich nicht. Der entscheidende Punkt ist, dass in solchen Wahrnehmungsepisoden komplexe repräsentationale Inhalte auf niederstufige Inhalte als Ganzes supervenieren, ohne mit irgendeinem dieser niederstufigen Komponenten identisch zu sein, ebenso wie bestimmte komplexe Tatsachen nur der Fall sind, weil bestimmte einfachere Tatsachen der Fall sind. Der Eindruck des geschossenen Tores ist also weder im Fuß, noch im Kopf, noch im Tor allein, sondern ergibt sich aus der Synthese all dieser Einzeleindrücke, ebenso wie es nur der Fall ist, dass der Spieler ein Tor schoss, weil er sein Bein so und so bewegte, er entsprechende Absichten hatte, der Torwart den Ball nicht halten konnte usw. Die Analogie zur Emotionalität ergibt sich leicht. Der Eindruck der Gefahr, der Eindruck, dass dieses Objekt dort mich mit großer Praktische Anschauung
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Wahrscheinlichkeit und bald (körperlich) verletzen wird, superveniert auf niederstufige, repräsentationale Eigenschaften der Wahrnehmung des Tigers, seiner Zähne, der räumlichen Nähe, meiner Erstarrung usw., ist aber nicht dasselbe wie all diese Elemente. Daher ist es falsch zu sagen, die Emotion repräsentiere Werte durch das Gefühl. Insbesondere wäre es falsch, den evaluativen Aspekt mit viszeralen sinnlichen Eigenschaften (flau’) oder mit nichtbegrifflich repräsentierten sekundären Qualitäten zu verwechseln. Werte sind nie, auch nicht im Bauch, ›gegeben‹. Adäquat wäre vielmehr die Darstellung, dass die praktischen, repräsentationalen Eigenschaften der Emotion auf alle niederstufigen, repräsentationalen Inhalte supervenieren, von denen die viszeralen eine wichtige, aber nicht die einzige Komponente sind. Man kann allerdings ergänzen, dass die klassische Gefühlstheorie wenigstens stückweit recht hat. Denn phänomenologisch scheint es plausibel, dass einige Emotionstypen viszerale Eigenschaften aufweisen, die andere Emotionstypen keinesfalls haben können. Deshalb kann auf der Grundlage eines bestimmten Gefühls zwar nicht eindeutig ein Emotionstyp bestimmt werden, aber man kann zumindest eingrenzen, um welchen es sich handelt. So kann man das für Zorn charakteristische Gefühl von Erregung vielleicht nicht von der Erregung bei Empörung oder Eifersucht unterscheiden, aber ausschließen, dass es sich um Trauer oder Ekel handelt. Durch eine detaillierte, introspektive Beschreibung des Gefühls ließe sich diese Peilung u. U. verbessern. Der Fall gliche dann wieder dem Betrachter des Fußballspiels. Angenommen er hätte seinen Kopf um 30ßgradß nach rechts gewendet, so dass das Tor aus dem Blick gerät, dann hätte er sich ganz auf den Fuß des Spielers konzentrieren und so vielleicht ungefähr auf die Flugbahn des Balls schließen können, auch wenn er nicht sicher gewusst hätte, ob es ein Tor ist oder nicht. Somit schaut die klassische Gefühlstheorie gewissermaßen in die richtige Richtung, auch wenn sie schlussendlich etwa 30ßgradß vom Kurs abweicht. Der letzte offene Punkt betrifft den exakten Grad der Intimität von Emotion und Gefühl, d. h. die logische Modalität dieser Relation. Die Gefühlstheorie qua Gefühlstheorie geht von einer begrifflich notwendigen Relation aus, da sie Emotion als Unterart von Gefühl definiert. Ich dagegen hatte Emotion als Anschauung mit praktischem Gehalt definiert und damit vorerst ausgeschlossen, dass der Zusammenhang von Emotion und Gefühl, obschon vorhanden, einer der begrifflichen Notwendigkeit ist. Von Seiten der Anschauungstheorie 260
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muss es aus diesem Grund darum gehen zu zeigen, dass wir auf der Grundlage ihrer Hauptthese, dass Emotion praktische Anschauung ist, eine enge Beziehung der beiden Größen erklären können, ohne zuzugestehen, dass dieser so eng wird, dass Gefühl Teil unseres Begriffs von Emotion ist. Oben hatte ich nun bereits ausgeführt, dass es vernünftig ist anzunehmen, dass die Emotionen eines repräsentationsfähigen Wesens mit viszeralem Modus unter Normalbedingungen immer solch modalitätsspezifische Eigenschaften haben werden. Mit einer evolutionsbiologischen Erwägung können wir dies jedoch auch auf einer überindividuellen, gattungsübergreifenden Ebene plausibilisieren. Denn es ist davon auszugehen, dass es für einen Organismus von überragendem Überlebenswert ist, einen möglichst unmittelbaren Zugang zu Informationen über seinen Körperzustand und seine Körperfunktionen zu haben, so dass er bei Missständen wie Hunger, Durst, Unterkühlung oder Verletzungen Gegenmaßnahmen ergreifen kann (vgl. Damasio 1994: 232). Das heißt, wir können uns zwar vorstellen, dass ein Wesen existieren könnte, das wie wir (praktisch) repräsentieren und denken kann, aber über keinen viszeralen Modus verfügt und daher vollkommen gefühllos repräsentiert. Dieses Wesen hätte ›kalte‹ Emotionen und seine Vorstellbarkeit verbürgt deshalb, dass es sich zwischen Emotion und Gefühl um keinen begrifflichen Zusammenhang handelt. Auf der anderen Seite jedoch ist es kaum vorstellbar, wie eine Gattung ohne den für den Selbsterhalt essentiellen viszeralen Zugang zum eigenen ›Körperschema‹ lange überleben könnte. Daher ist evolutionsbiologisch nicht zu erwarten, dass dieser Fall jemals eintritt. Wenn ein Organismus überhaupt fähig ist, Repräsentationen zu bilden, muss er auch über einen viszeralen Zugang zum Körper verfügen, weshalb sich wieder die obige, konstante Koinstanziierung von praktischer Anschauung und viszeralen Elementen ergäbe. Es dürfte somit eine belastbare These sein, hier von einem nomologischen Zusammenhang von Emotion und Gefühl zu sprechen. Natürlich steckt darin etwas empirische Spekulation. An dieser Stelle kommt es jedoch nur darauf an, dass wir immer noch eine weit mehr als kontingente Relation diagnostizieren können, wenn wir sagen, dass starke evolutionäre Kräfte diese Relation stützen, selbst wenn sie nicht streng nomologisch gilt. Dies spräche nämlich dafür, dass die Gefühlstheorie zwar von der zutreffenden Ahnung einer engen psychologischen Verbindung von Emotion und Gefühl getragen wird, dann aber begriffliche und nomoPraktische Anschauung
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logische Notwendigkeit verwechselt. Gefühlstheoretiker könnten natürlich darauf bestehen, dass der Ausdruck ›Emotion‹ eigentlich einen Begriff meint, der nur auf praktische Anschauungen zutrifft, wie sie bei Menschen oder menschenähnlichen, repräsentationsbildenden Tieren vorkommen, so dass die Verbindung wieder analytisch gälte. Ich glaube aber nicht, dass unsere begrifflichen Ahnungen zum umgangssprachlichen Ausdruck ›Emotion‹ diese Festlegung zulassen. Zentral für unseren alltäglichen Emotionsbegriff ist die Idee einer praktischen und nondoxastischen Repräsentation. Die Intuitionen hinsichtlich des Gefühls sind weniger eindeutig. Oft ist damit, wie wir gesehen hatten, selbst bei Gefühlstheoretikern wie Goldie nicht mehr als die Intensität oder Dringlichkeit gemeint, die mit einem Eindruck verbunden wird. Dieses Moment kann aber als Facette des begrifflichen Gehalts allein beschrieben werden, ohne dass der Rekurs auf viszerale, rein sinnliche Eigenschaften notwendig wird. Daher ist es alles in allem, denke ich, die bessere Lösung, die enge Verbindung von Emotion und Gefühl so wie gerade geschehen nachzuvollziehen, ohne den Bogen mit der Behauptung der Analytizität dieser Verbindung zu überreizen. Gefühl ist nicht Teil unseres Begriffs von Emotion, aber dieser viszerale Aspekt folgt aus dem Gedanken praktischer, begrifflicher Anschauung in Anwendung auf biologisch erwartbare repräsentationsfähige Wesen.
4.4. Generalisierung der Anschauungsthese und emotionale epistemische Berechtigung Bislang hat sich die Untersuchung darauf konzentriert, Folgendes zu zeigen: Einige der mentalen Zustände, auf die wir Bezug nehmen, wenn von Emotionen die Rede ist, sind repräsentationale Zustände, also Zustände, die Korrektheitsbedingungen unterliegen, und repräsentational sind sie überdies in einem perzeptiven, begrifflichen und praktischen Sinn. In diesem Zuge hatte ich ausgeführt, dass die Repräsentationsthese der der Non-Repräsentationalität, die Anschauungstheorie einer Urteilstheorie oder ›sui-generis-Theorie‹ des Phänomens überlegen ist und gegen entsprechende Einwände verteidigt werden kann. Ebenso wurde erörtert, wie der Gedanke eines Gefühls, das in einer intimen Relation zur emotionalen Repräsentation steht, integriert werden kann, ohne die Differenz von Emotion und rein viszera262
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ler Körperwahrnehmung zu verschleiern oder die Anschauungsthese gefühlstheoretisch zu hybridisieren. Dies alles ändert nichts daran, dass die bisherigen Ergebnisse bisher in ihrer Tragweite noch deutlich, sogar radikal beschränkt sind, und zwar in gleich zweierlei Hinsicht. Zum einen ist die Gültigkeit der Anschauungsthese in ihrer Reichweite bisher ausschließlich auf jene Fälle beschränkt, in denen das Objekt der Emotion nach herkömmlichem Verständnis anwesend ist und in denen dieses Objekt nicht der Körper, eines seiner Teile oder ein körperliches Ereignis ist. Bei der Begründung dieser Einschränkung hatte ich darauf hingewiesen, dass damit jedoch bei weitem nicht alle Fälle emotionaler Zustände, ja nicht einmal die zentralen Fälle erfasst werden. Tatsächlich sind es vielmehr nur die Fälle, für die, wenn man mir bis hierhin folgen kann, die These ohne größere Schwierigkeiten verteidigt werden kann, dass emotionale perzeptive Zustände sind. Von hier ist es jedoch ein weiterer Schritt zu einer Generalisierung dieser Anschauungsthese (i), dessen Logik sicherlich nicht trivial ist und daher einer argumentativen Untermauerung bedarf. Nicht-trivial ist zum anderen auch der Übergang von einer konkreten Vorstellung über den Inhalt der emotionalen Repräsentation zu einer These über eine epistemische Berechtigung auf der Grundlage dieses Inhaltes. Denn ebenso wie im Falle der Sinneswahrnehmung kann auch im Fall der Emotionen in einer sorgfältigen Betrachtung nicht ungedeckt vorausgesetzt werden, dass aus dem Erweis der Repräsentationalität allein auch eine Berechtigung zu praktischen Urteilen folgt (ii). Da sich zudem ergibt, dass Emotionen letztlich in epistemologisch verschiedene Klassen mentaler Zustände, nämlich einfache und komplexe Anschauungen, fallen, ist zudem auch eine differenzierte Erörterung der sie regierenden epistemischen Normen zu liefern (iii). Auf dieser Grundlage lassen sich dann einige weitere epistemologische und psychologisch-klassifikatorische Fragen zur Emotionalität klären (iv–v).
i.
Zur Generalisierung der Anschauungsthese: Rein viszerale Emotionen und komplexe Anschauungen
Damit die Hauptthese dieses Kapitels, dass Emotion allgemein eine Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt ist, als glaubwürdig erscheinen kann, bedarf es zweier Ergänzungen zu Inhalt und Art der Praktische Anschauung
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emotionalen Repräsentation und dies bedeutet konkret eine Erweiterung um rein viszerale Emotionen und Emotionen, die unter komplexe Anschauungen fallen. Obschon ich diese Fälle bislang vernachlässigt habe, lässt sich nicht bestreiten, dass praktische Anschauungen sowohl möglich sind als auch tatsächlich vorkommen, die ausschließlich den Körper betreffen und diesen rein viszeral repräsentieren. Oben hatte ich ausgeführt, dass Emotionen üblicherweise non-introspektiv sind, also einen Gegenstand betreffen, der außerhalb der Körperoberflächen liegt. Üblicherweise heißt aber nicht immer und die Behauptung allgemeiner Extrospektivität wäre sicher falsch. Eine Person kann die Augen schließen, ihre Ohren zuhalten etc. und dennoch einen stechenden Schmerz in den Eingeweiden empfinden, den sie als Symptom einer Krebserkrankung auffasst, und angesichts dessen Furcht empfinden, ein repräsentationaler Zustand, dessen Thema ein ›inneres‹, körperliches Ereignis ist. Oben hatte ich Beispiele dieser Art ausgeklammert, weil sich am Kontrast zu extrospektiver Wahrnehmung besonders klar die Differenz zwischen Emotion und rein viszeraler Körperwahrnehmung herausstellen lässt: Es ist eine Sache, körperliche Erregung, Beklemmung, kalten Schweiß und andere physiologische Veränderungen rein viszeral wahrzunehmen, eine andere, sich als durch ein Objekt praktisch affiziert zu erfahren. Jetzt, wo dieser Kontrast erhellt wurde, ist es hingegen nicht mehr erforderlich, diese Beschränkung weiter aufrechtzuerhalten. Denn auch bei den rein viszeralen Emotionen besteht noch ein Kontrast zwischen einem viszeralen Anschauungsgehalt, der Körperteile, ihre Funktionalität und/oder Dysfunktionalität repräsentiert, und einer Meta-Bewertung dieser Entitäten, die potentiell ebenfalls Teil dieser modalitätsspezifischen Anschauung sein kann. Worauf es ankommt ist lediglich, dass auch in dieser Anschauung eine klare Differenz zwischen nicht-praktischen und praktischen Inhalten bestehen bleibt, weshalb auch in dieser Perspektive Emotionen nicht mit dem viszeralen Präsentationsmodus an sich identifiziert werden können. Dieser Befund lässt sich an dem Unterschied zwischen dem Gefühl von Schmerz und dem Gefühl von Unlust veranschaulichen: Während ersteres eine Dysfunktionalität am Körper repräsentiert, repräsentiert nur das Gefühl der Unlust diese Dysfunktionalität praktisch, beispielsweise als etwas Schlechtes. So können wir ein Hungergefühl während einer gewollten Diät von einem Gefühl eines besorgniserregenden Nahrungsmangels unterscheiden, 264
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das in dieser Situation abwesend ist. Wir können ebenso Damasios klinisches Beispiel der postoperativen Erfahrungswelt eines Patienten anführen, der abnorme und extreme Schmerzempfindungen infolge selbst leichter Berührungen empfindet, aber nach der Operation gegenüber diesen Schmerzen gleichgültig geworden ist, sie also nicht mehr als negativ bewertet (vgl. Damasio 1999: 74 ff.). Die logische Konsequenz dessen ist, dass im Gegensatz zu einem Gefühl von Schmerz das Gefühl von Unlust (oder Lust) ebenso eine praktische Anschauung mit negativem (positivem) evaluativem Gehalt und daher eine rein viszerale Emotion ist, mit den zwei Besonderheiten, dass der Gegenstand dieser Emotion der Körper ist und dieser rein viszeral in der Erfahrung repräsentiert ist. Es ist somit nicht vernünftig zu sagen, wie dies die klassische Gefühlstheorie veranschlagt, dass alle Emotionen Gefühle sind, sondern vielmehr zu sagen, dass einige Gefühle Emotionen sind! Gegenüber den rein viszeralen verlangt die zweite Klasse von Emotionen einige ausführlichere Bemerkungen. Um zunächst zu verdeutlichen, welche Zustände hier gemeint sein sollen, möchte ich zunächst einige kontrastive Beispiele anführen: Oben hatte ich mich auf Fälle konzentriert, in denen das (externe) Objekt der Emotion in einem unkontroversen Sinne anwesend und wahrnehmbar ist, etwa bei der Furcht vor einem sich nähernden Raubtier. Natürlich gibt es zahllose Beispiele, die nicht diesem Typus entsprechen. Bei Furcht vor Wirtschaftskrisen, Einsamkeit oder dem militärischen Feind, Wut auf ein ungerechtes Gerichtsurteil, Trauer über den Verlust eines Verwandten ist der Gegenstand der Emotion vielmehr meist in der Situation, in der sie auftritt, abwesend. Einige Emotionstypen wie Sehnsucht oder Nostalgie bedingen die Abwesenheit ihres Gegenstandes sogar logisch. Anlass der emotionalen Erfahrung in diesen Fällen sind vielmehr Vorstellungsbilder, Erinnerungen, abstrakte theoretische Inhalte und/oder Komplexe von Überzeugungen – das Bild des Verstorbenen oder Abgereisten vor dem ›inneren Auge‹, die Erinnerung an die Kindheit oder eine ›Theorie‹ des Zustandes der heimischen Wirtschaft oder des Verlaufs eines Gerichtsprozesses – d. h. nach gewöhnlichem Verständnis non-perzeptive, mentale Zustände. Es ist nun die Art emotionaler Zustände in diesen Kontexten, für die ich die Bezeichnung komplexe Anschauungen gewählt habe, um sie heuristisch von den bisher behandelten einfachen Anschauungen alias Sinneswahrnehmungen zu unterscheiden. Praktische Anschauung
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Warum aber verdienen auch diese emotionalen Zustände den Titel einer Anschauung und warum heißen sie nicht einfach, sondern komplex? Was den ersten Punkt anbetrifft, so lautet die erste wichtig Einsicht, dass auch diese Zustände ebenso wie einfache Anschauungen repräsentationalen Gehalt besitzen, und zwar im Falle der gerade angeführten Beispiele für Emotionen Gehalt praktischer und begrifflicher Art. Nehmen wir ein Exemplar von Trauer über einen Verstorbenen, so bleibt es trotz der Abwesenheit ihres Gegenstandes wahr, dass dieser Zustand eine Situation auf fallible Weise in einem evaluativen Lichte und in allgemeinen Begriffen darstellt. Zweitens sind auch diese Zustände non-doxastisch. Eine Person kann intensiven Zorn gegenüber einem Arbeitskollegen empfinden, in welchem der Kollege als Autor eines ernsthaften Fehlverhaltens repräsentiert ist. Dennoch mag sie ebenso der Überzeugung sein, dass dieses Fehlverhalten letztlich nicht besonders gravierend oder aufgrund mildernder Umstände entschuldbar ist, weshalb ihr die im Zorn inbegriffene, negative Wertung als unangemessen gilt, und sich in Folge dessen der Transition zu einem entsprechenden Werturteil verweigern. Es gibt auch bei diesem Beispiel eine klare Differenz zwischen den gemeinten Zuständen und dem Zustand oder dem Übergang in den Zustand des Glaubens an den Inhalt dieser emotionalen Zustände. Wir können hier somit unumwunden dieselben Divergenzphänomene hinsichtlich von Emotion und Urteil feststellen, die bereits oben gegen die Urteilstheorie der Emotionen angeführt wurden. Obwohl hingegen diese Divergenz besteht, liegt es drittens dennoch auf der Hand zu sagen, dass ebenso wie einfache auch komplexe Anschauungen prinzipiell geeignet sind, eine nicht-inferentielle Grundlage für praktische Urteile abzugeben. Nicht-inferentiell heißt diese Grundlage, weil der Übergang von ihr zu einem Urteil nicht den Charakter eines material- oder formallogischen Schlusses nach einer allgemeinen Regel hat, sondern den einer Aneignung (endorsement) des entsprechenden Gehaltes. 79 Dabei bietet es sich an, Urteilskraft für genau diese Fähigkeit zur nicht-inferentiellen Transition von komplexen Anschauungen zu einem Urteil zu reservieren und im Rahmen Dabei ließe sich noch darüber streiten, ob diese Aneignung als Ausbildung eines neuen doxastischen Zustandes oder eher als mentale ›Umetikettierung‹ des Anschauungszustandes selbst in eine ›Überzeugung‹ verstanden werden sollte. Dieser Frage gehe ich nicht weiter nach.
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praktischen Urteilens dürften Transitionen dieser Art den Kernbestand der Weisen ausmachen, wie nach langläufiger Auffassung der Tugendhafte zu einem Urteil gelangt. Dabei ist es wichtig, bei dieser Bemerkungen zu beachten, dass dies bislang eine rein psychologische Beschreibung ist, wie Denker wegen der prinzipiellen Eignung praktischer Anschauungen zu rationalen Transitionen faktisch urteilen, was noch nicht impliziert, dass derartige Transitionen auch tatsächlich rational sind. Viertens sind komplexe Anschauungen nicht nur in ihrer Konsequenz, sondern auch in ihrer Genese nicht-inferentiell. Die Idee ist nicht, dass ihr repräsentationaler Gehalt Ergebnis einer inferentiellen Tätigkeit ist, sondern vielmehr Ergebnis einer reflexiven Verstandestätigkeit, bei der ein (praktischer) Gesamteindruck aus einer Gemengelage von Vorstellungsbildern, Überzeugungen etc. erwächst. Robert Audi, der diese wichtige Differenzierung zwischen inferentieller und reflexiver Genese vorgenommen hat, bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Lesens eines Gedichtes und einer sukzessiven Einschätzung des Gelesenen als melancholisch, kitschig oder sentimental, die als spontaner und logisch unvermittelter Eindruck aufkommt (vgl. Audi 2005: 46). Dabei geht es nicht darum, dass diese Einschätzung nicht auch als Ergebnis einer komplexen Inferenz auf der Grundlage einzelner niederstufiger Überzeugungen über das Gedicht verstanden werden könnte, sondern nur darum, dass dies in vielen Fällen nicht die akkurate Beschreibung ihrer Genese ist. Um eine zu der ersten parallele Unterscheidung Audis aufzugreifen: Während inferentielle Urteile jeweils in einzelnen Überzeugungen oder Wahrnehmungsfragmenten lokal gegründet (locally grounded) sind, sind reflexive Urteile global gegründet (globally grounded) in den den Gegenstand betreffenden Inhalten als Ganze (vgl. ebd. f.). In dieser Hinsicht besteht ebenfalls eine Analogie zu begrifflichen Gehalten einfacher Anschauungen, ob praktisch oder nicht-praktisch: Auch die Wahrnehmung eines Autos als Auto in einer gegebenen Situation kann als global und nicht-inferentiell gegründet auf eine Mannigfaltigkeit einfacherer Anschauungsinhalte vorgestellt werden, also auf die Anschauung der Reifen, dem Metall, dem Lenkrad und dem kontextuellen Gewahrsein einer normalen Umgebung. Schließlich lohnt es sich an dieser Stelle noch, einmal explizit hervorzuheben, dass ich alle bei komplexen Anschauungen involvierten Transitionen als empirische Transitionen begreife. Audi scheint der Praktische Anschauung
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Auffassung zu sein, dass Zustände dieser Art auch Urteile a priori rechtfertigen können. Da dies keine komparative Erörterung apriorischer Rechtfertigung ist, werde ich diese Frage an dieser Stelle nicht erörtern, möchte aber doch darauf hinweisen, dass die Möglichkeit und Charakteristika einer reinen Anschauung (intellektuellen, rationalen o. ä. Anschauung) noch einmal ein eigenes Thema bilden. Die Anschauungen, die ich hier betrachte, sind mindestens partiell auf Zustände gegründet, die selbst einen rein empirischen Ursprung haben. 80 Was somit die Bezeichnung der beschriebenen Zustände als ›Anschauung‹ rechtfertigt, ist ihr repräsentationaler und non-doxastischer Charakter sowie der Umstand, dass sie analog zu einfachen Anschauungen sowohl in ihrer Genese wie in ihrer epistemischen Konsequenz nicht-inferentiell genannt werden müssen. Diese Parallele führt jedoch zu der Frage, welche Disanalogien dann eigentlich eine Einteilung von Anschauungen in einfache und komplexe rechtfertigt. Bereits im Kapitel über Sinneswahrnehmung hatte ich dazu ausgeführt, dass einige übliche Kriterien zur Identifizierung einfacher Anschauungen (sinnliche Eigenschaften, Feinkörnigkeit) nicht taugen, um exklusiv perzeptive Zustände herauszugreifen. Dies gilt auch für komplexe Anschauungen, da diese unter anderem auch auf Vorstellungsbilder gegründet sein können, etwa die bildliche Vorstellung der Person, auf die man wütend ist oder wegen der man trauert. Da ich dort schließlich eine Kausalbedingung vorgeschlagen hatte, um ›normale‹ Sinneswahrnehmungen zu identifizieren, bietet es sich nun an, dieses Kriterium auch zur Unterscheidung von einfachen und komplexen Anschauungen zu verwenden. Oben hatte ich gesagt, dass Sinneswahrnehmung bzw. einfache Anschauung ein repräsentationaler, non-doxastischer Zustand ist, der – unter einschlägiEntgegen der Auffassung Audis, der glaubt, dass das dies auch bei reinen Anschauungen möglich ist, möchte ich allerdings die Vermutung wagen, dass nicht-inferentielle Urteile a priori nicht in dieser Weise global gegründet sind. Bei Einsichten in die Wahrheit etwa von Prima-Facie-Pflichten oder von Urteilen wie ›Alle Würfel haben 12 Kanten‹ scheint diese Einsicht lediglich von dem Verständnis der das Urteil konstituierenden Begriffe abzuhängen, so dass diese nicht auf eine Gemengelage unterschiedlicher Inhalte global gegründet sind. Daher erscheint es plausibel zu sagen, dass global gegründete Inhalte, die Audi im Sinn hat, mit den hier thematischen empirischen Anschauungen zusammenfallen, während apriorische Anschauungen vielmehr lokal gegründet sind. Da letzteren Audis primäre Aufmerksamkeit gilt, scheint mir für diese das Beispiel der Einsicht in die Wahrheit von ›Dies ist ein sentimentales Gedicht‹ dann aber unpassend.
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gen sinnlichen und begrifflichen Ermöglichungsbedingungen – von dem Objekt, das er repräsentiert, direkt und auf die richtige Weise verursacht wurde (s. 2.1.ii.). Komplexe Anschauungen hingegen sind nicht direkt, sondern nur indirekt durch den Gegenstand verursacht, von dem sie handeln. Eine Relation der direkten Verursachung besteht bei ihnen vielmehr zu den den Gegenstand betreffenden Vorstellungen, welche ihrerseits direkt oder indirekt auf Sinneserfahrung basieren können, beispielsweise Erinnerungen an das Gesicht oder an gemeinsame Erlebnisse mit dem Betrauerten. Dabei ist, wie gerade ausgeführt, auch diese intrarepräsentationale Kausalrelation wie bei repräsentational unvermittelten, einfachen Anschauungen nicht-inferentiell und global gegründet (reflexiv). Dem entsprechend können wir nun festlegen: (KA) Eine komplexe Anschauung ist ein repräsentationaler und non-doxastischer mentaler Zustand, der von Vorstellungen, die ihren Gegenstand betreffen, nicht-inferentiell, global, direkt und auf die richtige Weise, im Verhältnis zu ihrem Gegenstand aber nur repräsentational indirekt verursacht worden ist. Der Punkt ist also, dass die Kausalverbindung zwischen Anschauung und Gegenstand im Fall komplexer Anschauungen ›länger‹, vielschichtiger und vielgestaltiger ist als bei einfachen, da auch andere, ihrerseits interagierende repräsentationale Zustände als Glieder hinzutreten. Wegen dieser kausalen Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit nenne ich diese Anschauungen ›komplex‹. Dabei lohnt es sich, in komparativer Perspektive bereits an dieser Stelle explizit hervorzuheben, dass komplexe Anschauungen selbstverständlich nicht immer praktische Anschauungen sind. Der Anschauungstyp selbst ist ubiquitär und inhaltsneutral, d. h. sofern ein Denker über geeignete begriffliche Fähigkeiten, Überzeugungen und Vorstellungsbilder in einem beliebigen Bereich des Denkens verfügt, wird er auch hier derartige Anschauungen verzeichnen, also auch im naturwissenschaftlichen Fall. Es bereitet keine Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass ein Physiker, der in seinem Fach geschult und mit einer Materie hinreichend vertraut ist, spontan und nicht-inferentiell zu gewissen Auffassungen darüber gelangt, welche Ursachen beispielsweise ein im Experiment beobachtetes Phänomen hervorgebracht haben. Nachdem sich alles in allem Urteils-, Gefühls- und sui-generisTheorien des Phänomens abweisen lassen, zeigt sich somit am Ende, Praktische Anschauung
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dass die Frage, ob Emotionen Anschauungen sind, im Grunde falsch gestellt ist. Die interessante Frage ist vielmehr, zu welcher Art von Anschauung ein Emotionstoken gehört, und die erschöpfende Antwort lautet, dass Emotionen entweder einfache oder komplexe Anschauungen sind (welche gelegentlich auch rein viszeralen Gehalt besitzen können). Mit anderen Worten: Emotion ist praktische Intuition! Genau diese generalisierte psychologische These ist es aber, die sich detailliert in meiner aus der Einleitung bekannten dritten Hauptthese ausdrückt: T3. Emotion ist eine Anschauung mit praktischem, begrifflichem Gehalt. Diese Anschauungen zerfallen in zwei Arten von Zuständen, nämlich a) einfache Anschauungen (Sinneswahrnehmungen) und b) komplexe Anschauungen.
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Epistemische Berechtigung für einfache Anschauungen
Nachdem das psychische Wesen von Emotionen derart auf den Betriff gebracht ist, lautet die Anschlussfrage, ob es angesichts einer praktischen Anschauung, ob einfach oder komplex, auch rational ist, auf dieser Grundlage ein praktisches Urteil zu fällen. Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich zwei verbreitete Auffassungen in der Erkenntnistheorie der Emotionen vorgestellt, nämlich den arationalistischen und den intellektualistischen Sentimentalismus. Dabei war es die Pointe des ersteren, den repräsentationalen Charakter von Emotionen zu bestreiten, während die zweite Position zwar die Repräsentationalität von Emotionen nicht zwingend ausschließt, aber bestreitet, dass es rationale Übergänge von einer Emotion zu einem Urteil geben kann. Die arationale Position ist also zentriert auf die Behauptung der Abwesenheit von emotionalem Gehalt, während der intellektualistische Sentimentalismus die Abwesenheit einer emotionalen epistemischen Berechtigung zu einem praktischen Urteil auf der Grundlage dieses Gehaltes diagnostiziert. Die Arationalitätsthese impliziert allerdings logisch eine negative Antwort zur emotionalen Berechtigung, da epistemische Berechtigung nur von Zuständen ausgehen kann, die in irgendeinem Sinne repräsentational gehaltvoll sind – Gründe entspringen keiner epistemischen Dunkelheit. Diesen beiden epistemologischen Ansichten hatte ich oben einen rationalen Sentimentalismus entgegengestellt, der positiv sowohl auf 270
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die Frage nach repräsentationalem Gehalt wie nach epistemischer Berechtigung antwortet. Während nun durch die Beschreibung komplexer Anschauungen die Erörterung des emotionalen Inhaltes und seiner Kausalrelationen abgeschlossen ist, ist eine Diskussion der komplementären epistemischen Normen noch nachzuholen. Bei diesem Projekt ist zuvorderst in Erinnerung zu rufen, dass ich den rationalen Sentimentalismus gegenüber einer denkbaren absoluten Version in seinen beiden Aspekten nach wie vor als bedingt verstehe. Bedingt ist er hinsichtlich der Repräsentationalitätsthese, weil ich diese Erkenntnistheorie der Emotionen unter der gegen Alternativtheorien (Kohärentismus, Reliabilismus, Behaviorismus) gerichteten Prämisse entwickle, dass es erstens überhaupt sinnvoll ist, von einer Theorie der Anschauung auszugehen, die perzeptive Zustände als repräsentational gehaltvoll interpretiert, und zweitens, dass es überhaupt sinnvoll ist, das erfahrungsbezogene, epistemologische Problem als das berechtigter und deshalb rationaler Transitionen von Erfahrungszuständen zu einem Urteil anzusehen. Das ›überhaupt‹ verweist dabei auf paradigmatische Erfahrungszustände und dies sind die Anschauungsgehalte der Naturwissenschaften oder des Alltags. Die Konditionalität der Repräsentationsthese hat also auch in der Emotionstheorie eine komparative Pointe und ebenso komparativ möchte ich nun auf das Problem der Berechtigung eingehen. Dabei liegt es auf der Hand, dass sich nun eine schnelle, komparativ-konditionale Antwort auf die Frage nach der emotionalen Berechtigung für einfache Anschauungen geben lässt: Oben im Kapitel zur Sinneswahrnehmung hatte ich ausgeführt, dass die Annahme praktischer Anschauungsgehalte nicht weniger plausibel ist als die alltäglicher oder naturwissenschaftlicher Gehalte. Ebenso hatte sich gezeigt, dass wir hinsichtlich komplexer begrifflicher Gehalte dieselbe (kulturalistische) Erklärung für eine praktische wie für eine naturwissenschaftliche Berechtigung finden können. Deshalb war die egalitaristische Konklusion geboten, dass eine epistemische Berechtigungsnorm für praktische Wahrnehmungsinhalte dann gilt, wenn sie auch für naturwissenschaftliche (bzw. alltägliche) Inhalte gilt. Das Ziel der ersten drei Abschnitte dieser komparativen Erkenntnistheorie der Emotionen hingegen war es vielmehr zu zeigen, dass ›Emotion‹ in vielen Standardfällen psychologisch nichts weiter ist als die praktischen, begrifflichen Anschauungsgehalte, von denen in der Erörterung der Sinneswahrnehmung die Rede war, dass sich mithin hinter einer Theorie der Emotionen in Praktische Anschauung
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diesen Fällen nichts weiter verbirgt, als eine detaillierte Beschreibung dessen, was es heißt, praktisch anzuschauen. Daraus folgt, dass wir nun eine konditionale Berechtigungsnorm für emotionale Zustände als einfache Anschauungen (kNEA) formulieren können, indem wir schlicht den Wortlaut der in Kapitel 1 formulierten konditionalen Norm für praktische Sinneswahrnehmung anpassen. Also: (kNEA) Wenn ein Denker sich in einem emotionalen Zustand mit dem praktischen, begrifflichen Gehalt, als ob p, befindet und dieser Zustand den Charakter einer einfachen Anschauung hat, dann ist er in Abwesenheit von Gegengründen auf der Grundlage seiner Anschauung berechtigt zu urteilen, dass p, wenn diese epistemische Berechtigung für einfache Anschauungen mit naturwissenschaftlichem Inhalt gilt.
iii. Epistemische Berechtigung für komplexe Anschauungen Mehr Schwierigkeiten bereitet hingegen eine schnelle Antwort auf die Berechtigungsfrage bei komplexen Anschauungen. Denn für diese Fälle hatte ich bisher weder etwas über eine Anschauungsnorm überhaupt, d. h. für Berechtigung bei komplexen Anschauungen mit alltäglichem oder naturwissenschaftlichem Inhalt, gesagt noch komparativ etwas über epistemisch-normative Differenzen von komplexen Anschauungen mit praktischem und nicht-praktischem Gehalt. Da das Ziel erneut der Nachweis einer egalitaristischen Konklusion ist, gehe ich zunächst auf Letzteres ein. Bei der Begründung der epistemischen Berechtigung für perzeptive Zustände mit naturwissenschaftlichem Gehalt hat sich ergeben, dass ein Argument die beste Erklärung für diese komplexen begrifflichen Inhalte der einzige Lösungsansatz für das Berechtigungsproblem ist, das von seiner Struktur her prima facie eine inegalitaristische Diskrimination erlaubt. Eine entsprechende Erklärung (z. B. die Beobachtung von Elementarteilchen) kann jedoch nicht allein auf die evolutionäre Genese des perzeptiven Apparates des Wahrnehmenden und der Weise, wie die Welt ist, rekurrieren, sondern muss ebenso auf die kulturelle Genese der begrifflichen Fähigkeiten dieses Individuums, seine ›zweite Natur‹, abheben. Während nun eine rein evolutionstheoretische Erklärung für praktische Inhalte ebenfalls nicht zur Verfügung steht, ist wiederum diese ›kulturalistische‹ Erklärung auch für passive Verstan272
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desleistungen im Bereich von Werten, Normen und Gesolltem verfügbar. Aus diesem Grund war es letztlich sinnvoll, eine egalitaristische Berechtigungsnorm für den Bereich der Ethik und der Naturwissenschaften zu akzeptieren. Die komparative Anschlussfrage lautet nun: Wenn wir diesen Egalitarismus im Bereich einfacher Anschauungen akzeptieren, könnte es dann immer noch sein, dass nunmehr bei komplexen Anschauungen zwar eine Urteilsberechtigung für naturwissenschaftliche Inhalte existiert, nicht aber für praktische Inhalte? Ich meine nicht. Zunächst einmal handelt es sich bei komplexen Anschauungen allgemein wiederum um repräsentationale Zustände mit begrifflichem Inhalt. Dies bedeutet, es ist aussichtslos, eine Differenz von Praxis und Naturwissenschaft durch Verweis auf die evolutionäre Genese hinzubekommen. Wichtiger als dies ist aber die folgende Überlegung: Eine Begründung einer epistemischen Berechtigung für einen komplexen Anschauungsgehalt p nach dem explanatorischen Modell muss zeigen, dass die beste Erklärung, warum sich ein Individuum in diesem Zustand befindet, eine veriditätssichernde Erklärung ist, d. h. eine Erklärung, die es wahrscheinlich macht, dass dieser repräsentationale Gehalt korrekt und ein entsprechendes Urteil wahr ist. Eine solche Erklärung involviert offenbar zwei Schritte, indem sie zeigen muss, a) dass die repräsentationalen Zustände (Überzeugungen, Vorstellungsbilder usw.), die die komplexe Anschauung verursachen, wahrscheinlich korrekt sind und b) dass die Weise, wie dabei dieser Anschauungsgehalt nicht-inferentiell bzw. reflexiv verursacht wird, gewährleistet, dass dieser in einem Sinnzusammenhang mit seinen repräsentationalen Ursachen steht. Bei diesem Ansatz halte ich es nun aber für unplausibel, von einer Divergenz zwischen Praxis und Naturwissenschaft auszugehen. Das dahinterstehende Argument konzentriert sich auf den zweiten Schritt. Zunächst setze ich dazu als Prämisse, dass hinsichtlich der Korrektheitswahrscheinlichkeit der repräsentationalen Zustände im ersten Schritt keine Unterschiede zwischen den Arten von Gehalt bestehen. Die Berechtigung zur Akzeptanz jener Inhalte durch einen Denker kann unter folgende Arten fallen: Sie ist entweder i) inferentiell, ii) apriorisch, iii) diskursiv, iv) perzeptiv oder v) basiert selbst auf einer komplexen Anschauung. Hinsichtlich der perzeptiven epistemischen Berechtigung hatte sich aber bereits gezeigt, dass hier normative Gleichheit besteht und auf dieser Grundlage daher keine inegalitaristischen Konsequenzen gezogen werden können. Deshalb lässt sich Praktische Anschauung
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das Argument in jedem Fall auf dieser Stufe wasserdicht machen, indem man es auf komplexe Anschauungen einschränkt, die nur auf perzeptiven Zuständen bzw. Urteilen mit perzeptiver Berechtigung basieren, und auf komplexe Anschauungen, die iterativ auf solche zurückgeführt werden können (iii). Für alle anderen Fälle lässt sich sagen, dass ich einerseits in dieser Abhandlung einen generellen Egalitarismus in allen Bereichen annehme, der nicht die Sinneswahrnehmung oder Emotion direkt betrifft, weshalb wenigstens in diesem Rahmen kein Problem auftritt. Andererseits, sollten sich diese Annahmen als falsch erweisen, ließe sich wenigstens noch feststellen, dass das Problem dann nicht eines der komplexen Anschauung, sondern der inferentiellen, apriorischen oder diskursiven Transitionen ist, bei der unterschiedliche Korrektheitswahrscheinlichkeiten von Ausgangszuständen mit praktischen und naturwissenschaftlichen Inhalten mittelbar eine inegalitarische Norm auch für anschauliche Transitionen bedingen könnten. Im zweiten Schritt müsste nun die Begründung einer Berechtigungsnorm für komplexe Anschauungen zeigen, dass eine veriditätssichernde Erklärung besser ist als alle Alternativen. Da Konsequenz jeder möglichen Erklärung nur sein kann, dass die Korrektheit der Zustände entweder wahrscheinlich, rein zufällig oder vielmehr unwahrscheinlich ist, ist es naheliegend zu sagen, dass es dabei komplementär genau zwei Alternativen geben wird, nämlich eine Erklärung durch Chaos oder eine Erklärung durch systematische Verfälschung. Da ich mir eine Erklärung der systematischen Verfälschung nicht anders vorstellen kann als durch absichtliche Manipulation und eine solche Erklärung auf der Ebene komplexer Anschauungen für das Problemszenario konstitutive Rationalitätsannahmen unterwandern dürfte 81, konzentriere ich mich auf den Vergleich der anderen beiden Alternativen. Es ist nicht zu sehen, wie man die systematische Inkorrektheit komplexer Anschauungen anders erklären könnte als durch Dämon- oder Tankgehirnszenarien. Nehmen wir nun an, die Korrektheit perzeptiver Repräsentationen auf der ersten Stufe sei tatsächlich erwiesen, da ansonsten eine Diskussion der Berechtigung bei komplexen Anschauungen auf der zweiten Stufe obsolet würde. Dann müsste ein externer Manipulator in der Lage sein, bei einem Denker global falsche Anschauungen zu erzeugen, während gleichzeitig die Zustände, auf denen sie gründen, meistens korrekt wären. Unter diesen Umständen müsste der Denker aber ebenso global logische inkonsistente Zustände und Überzeugungen besitzen, in einem solchen Umfang, dass sich nicht mehr sinnvoll davon sprechen ließe, dass es sich noch um einen Denker handelt, weil der Grundsatz minimaler Rationalität (d. h. weitgehender Widerspruchsfreiheit) verletzt
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Wie müsste ein solches Plädoyer für veriditätssichernde gegenüber chaotischen Erklärungen aussehen? Nun, es liegt auf der Hand, dass argumentiert werden muss, dass die Weise, wie eine komplexe Anschauung von niederstufigen Repräsentationen verursacht wird, gewährleistet, dass dieser neue Zustand in seinem Inhalt nicht willkürlich ist, sondern in einem Sinnzusammenhang mit seiner Ursache steht. Wiederum sehe ich keine andere Möglichkeit, als hier gegen Chaos oder reinen Zufall die Kompetenz des Denkers anzuführen. Das Argument müsste lauten, dass es erneut die begrifflichen Fähigkeiten, seine studierte Verstandestätigkeit, seine Vertrautheit mit der Materie in einem Bereich sind, die konstitutiv für seine Fähigkeit sind, spontan komplexe Anschauungen zu haben. Mit anderen Worten, es müsste gezeigt werden, dass, wenn ein Denker keine solche Kompetenz hätte, er sich auch wahrscheinlich keiner derartigen komplexen Anschauungen erfreuen würde! Wie bereits angedeutet, gilt es an dieser Stelle nicht, diese Überlegung tatsächlich als Argument anzuführen, sondern nur zu prüfen, ob die Struktur dieses Arguments inegalitaristische Konsequenzen zulässt. Dass dies keineswegs der Fall ist, ist zuvorderst dadurch angezeigt, dass das Argument inhaltsneutral ist, sich also auf beliebige Begriffscluster anwenden lässt. Prima facie können wir uns ebenso einen ›Superphysiker‹ vorstellen wie den Tugendhaften, zwei Figuren, die durch ihre Kompetenz im jeweiligen Bereich unter günstigen Umständen in der Lage sind zu ›sehen‹, das heißt, komplex-anschaulich zu repräsentieren, was der Fall ist. Diese prompte Gleichschaltung könnte allerdings den Einwand hervorlocken, dass im Bereich des praktischen Denkens komplexe Anschauungen weit anfälliger für Störungen sind, weil eine korrekte anschauliche Repräsentation der praktischen Tatsachen stets durch egoistische Wünsche, Interessen oder Parteilichkeit des Denkers droht, verzerrt zu werden. Darauf ließe sich einerseits erwidern, dass all diese mentalen Instanzen ebenso die Anschauungen des ›Superphysikers‹ tangieren würden, etwa weil diese auf begrenzten Beobachtungsdaten oder dem Wunsch nach Bewahrung von Renommee und der Richtig-
ist. Daneben ließen sich auch hier selbstverständlich wieder Erwägungen der Komplexitätsreduktion als Bedingung an Erklärungen formulieren, wie diese oben im Fall der Sinneswahrnehmung vorgebracht wurden. Praktische Anschauung
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keit seiner vergangenen Forschungsergebnisse beruhen könnten, und andererseits, dass ein kausaler Einfluss von Interessen etc. keineswegs automatisch verzerrend wirken muss – es könnten dies ja genau die Dinge sein, die etwa bei einer situativen Überlegung, was getan werden sollte, genau die relevanten sind, weshalb ihr Einfluss vielmehr zur Angemessenheit des Anschauungsgehaltes beiträgt. Diese Replik ist allerdings nicht gänzlich befriedigend, da damit bereichsübergreifend lediglich qualitativ die Artgleichheit der Störungsquellen aufgezeigt wird, nicht aber erwiesen ist, dass diese im Falle der Praxis nicht quantitativ wirkungsvoller sein können und damit eine Fehlrepräsentation praktischer Tatsachen wahrscheinlicher machen als eine Fehlrepräsentation naturwissenschaftlicher Tatsachen. Genau dies müsste aber gezeigt werden, um den Schluss zu stützen, dass wir bei diesen Anschauungsinhalten ebenso zu einem praktischen wie zu einem naturwissenschaftlichen Urteil berechtigt sind. Dazu habe ich einen zweigliedrigen Kommentar. Erstens ist an diesem Punkt auf meine allgemeine Rationalitätsannahme für betroffene Denker zu verweisen. Wenn ein Denker bei der spontanen Generierung komplexer Anschauungen anfällig ist für verzerrende Einflüsse von Wünschen etc., dann ist anzunehmen, dass er global für diese Einflüsse anfällig und daher anfällig für Irrationalität ist. Diese Irrationalität kann aber nicht absolut werden, da wir sonst wiederum nicht mehr von einem Denker sprechen könnten, der überhaupt zu bestimmten Urteilen berechtigt sein könnte. Die Zuschreibung von Rationalität als Fähigkeit setzt voraus, dass die Überzeugungen und Transitionen eines Individuums größtenteils korrekt sind. Daher müssen wir annehmen, dass der verzerrende Einfluss sowohl global als auch im Bereich der Anschauungen marginal ist. Dies aber spricht wenigstens gegen die Erwartung, dass ausgehend von einem einfachen Erkenntnismodell ohne Sekundäreinflüsse, in welchem die Korrektheit praktischer und naturwissenschaftlicher Anschauungsgehalte gleich wahrscheinlich ist, wir bei Hinzunahme der genannten Störquellen nunmehr zu dem Ergebnis kommen, dass die Korrektheit naturwissenschaftlicher Inhalte weiterhin wahrscheinlich, die praktischer hingegen nur noch rein zufällig ist. Wenn also das ›ebenso berechtigt‹ so gelesen wird, dass ein Denker grundsätzlich berechtigt ist, ein praktisches Anschauungsurteil zu fällen, ebenso wie er grundsätzlich berechtigt ist, ein naturwissenschaftliches Anschauungsurteil zu fällen, dann sollte dies den Egalitarismus nicht gefährden – auch wenn dies 276
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nicht unmöglich ist. 82 Zweitens aber halte ich es für legitim, die Beweislast an dieser Stelle dem Inegalitaristen zu überantworten. Durch die Inhaltsneutralität des Arguments für die Urteilsberechtigung bei komplexen Anschauungen und die zu erwartende Marginalität der Differenz der ›Störungsquanten‹ im Vergleich von Praxis und Naturwissenschaft dürfen wir sehr gute Gründe erwarten, weshalb wir unser Erkenntnismodell an dieser Stelle verkomplizieren sollten. Diese Antwort ist zugegebenermaßen nicht vollends befriedigend, weil eine inegalitaristische Konklusion nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Dennoch können wir unter diesem leichten Vorbehalt eine konditionale Berechtigungsnorm für emotionale Zustände als komplexe Anschauungen (kNKA) akzeptieren: (kNKA) Wenn ein Denker sich in einem emotionalen Zustand mit dem Gehalt p befindet und dieser Zustand den Charakter einer praktischen komplexen Anschauung hat, dann ist er in Abwesenheit von Gegengründen berechtigt zu urteilen, dass p, auf der Grundlage seiner Emotion, als ob p, wenn diese Berechtigung bei naturwissenschaftlichen komplexen Anschauungen gilt. Dieser Konditional zeigt freilich nur eine inferentielle Verpflichtung auf, der nachzukommen ist, wenn eine Berechtigungsnorm für komplexe Anschauungen in paradigmatischen, d. h. den naturwissenschaftlichen Fällen akzeptiert wird. Dass wir eine solche Norm akzeptieren sollten, steht hingegen auf einem anderen Blatt Papier. Ich vermute, dass ad hoc viele einer Berechtigungsnorm für die Sinneswahrnehmung bzw. einfache Anschauungen gutmütig gegenüber stehen, während sie eine analoge Norm für komplexe Anschauungen eher skeptisch betrachten. Da es hier nur um das komparative Abschneiden praktischer Anschauungen geht, kann dieser Punkt aber offen bleiben. Es ist nur wichtig bei der erkenntnistheoretischen Beurteilung im Hinterkopf zu behalten, dass alle häufig gegen die emotionale Berechtigung vorgebrachten erkenntnistheoretischen Bedenken sich letztlich Nehmen wir an, der Einfluss der Störquellen sei = 0,02 und die Verlässlichkeitsschwelle liege bei p = 0,55. Dann würde, ausgehend von einem Modell mit einer allgemeinen Korrektheitswahrscheinlichkeit von 0,56 als Schwelle für eine prinzipielle Urteilsberechtigung, in einem modifizierten Modell die Wahrscheinlichkeit bei praktischen Anschauungen auf 0,54 sinken und damit die normativen Anforderungen nicht mehr erfüllen. Es wäre allerdings großes epistemisches Pech, wenn unter allen denkbaren Fällen gerade eine solche Konstellation zutreffend wäre.
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gegen komplexe Anschauungen im Allgemeinen richten. Sorgen, die sich auf den Dogmatismus, die intersubjektive Intransparenz, die gegenüber dem inferentiellen Schließen mangelnde Verlässlichkeit und die größere Ungenauigkeit von Urteilen richten, die auf Emotionen basieren, sind Sorgen, die wohlüberlegt auch auf komplexe Anschauungen mit nicht-praktischem Inhalt bezogen werden müssen. Das Argument in diesem Abschnitt macht es nachvollziehbar, warum dies so ist. Eine Ablehnung emotionaler Berechtigung ist also nicht gleichzusetzen mit einem inegalitaristischen Argument, da sie ebenso auf eine Ablehnung im naturwissenschaftlichen Fall verpflichtet und vice versa. Die beiden obigen konditionalen Aussagen kNEA und kNKA werden also nicht tangiert und angesichts der obigen Erwägungen haben wir weiterhin hinreichenden Grund, sie für wahr zu halten. Diese beiden Aussagen lassen sich nun abschließend zu meiner vierten Hauptthese zusammenfassen: T4. Für einfache und komplexe Anschauungen mit praktischem Gehalt gelten dieselben epistemischen Normen wie für einfache und komplexe Anschauungen mit naturwissenschaftlichem Gehalt.
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Non-Additivität oder: Der ultimative Prüfstein praktischen Denkens
Auf der Grundlage der Erörterungen zu emotionalem Gehalt und emotionaler Berechtigung ist es möglich, zu einer Reihe von epistemologischen Anschlussproblemen Stellung zu nehmen. Das erste davon betrifft eine Reihe gegensätzlicher Positionen in der einschlägigen Literatur zur Frage, ob praktische Urteile und Theorien sich an Emotionen oder an Sinneswahrnehmungen bewähren. Müller etwa plädiert für die Sinneswahrnehmung bzw. Beobachtung 83 (Müller 2002), bei White und Putnam 84 hingegen werden Emotionen favorisiert (vgl. PutWie bereits erwähnt, geht Müller nicht eigentlich von der Sinneswahrnehmung sondern von Quines Beobachtungssätzen aus. Da ich Implikationen und Nachteile dieses Ansatzes bereits oben in Kap. 2 in aller Ausführlichkeit diskutiert habe, lasse ich dieses Detail hier außer Acht. 84 Die Fairness gebietet bei Putnam den Hinweis, dass mir durch eine Uneindeutigkeit nicht gänzlich klar ist, ob die Autorin diese oder doch meine Position vertritt. So schreibt Putnam zwar einerseits: »[S]ome of our percepts [!] are what I have called 83
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nam 1998: 5 ff.; White 1981: 36 ff.). Peacockes Sicht wiederum ist es, dass (in qualifizierter Weise) sowohl Emotionen als auch Sinneswahrnehmung als Testinstanz praktischer Überzeugungen in Frage kommen, allerdings unter dem Zusatz einer Nonadditivitätsthese, nach welcher Emotion als Begründungsquelle letztlich auf andere Begründungsweisen reduzierbar ist (vgl. Peacocke 2004: 258 ff.). Hielten wir uns an die genannten Autoren, dann bieten sich demnach drei Theorieoptionen an, je nachdem ob a) Sinneswahrnehmung, b) Emotion oder c) beide zugleich – mit einer potentiellen begründungstheoretischen Asymmetrie zugunsten der Sinneswahrnehmung – die Testinstanz praktischer Überzeugungen und Theorien darstellen. Im Kapitel über Beobachtung war ich über dieses Problem hinweggegangen und hatte dabei implizit vorausgesetzt, dass es die Sinneswahrnehmung ist, die den Prüfstein darstellt. Jetzt aber liegt eine elaborierte Antwort auf der Hand, die die suggerierte Gegenüberstellung ad absurdum führt. Es zeigt sich nämlich, dass ›Emotion‹ und ›Sinneswahrnehmung‹ unechte Alternativen sind. Denn in vielen Standardbeispielen ist eine Differenzierung zwischen Sinneswahrnehmung und Emotion nicht sinnvoll. Wir können allenfalls zwischen nichtbegrifflichem und praktischem begrifflichem Wahrnehmungsgehalt einerseits, einfacher und komplexer Anschauung andererseits differenzieren. Dabei gilt in Bezug auf die erste Differenz, dass, sofern wir lediglich nichtbegrifflichen Gehalt als genuin perzeptiv ansehen, wir nicht nur praktischen, sondern auch alltäglichen und naturwissenvaluings, and some of our beliefs are the results of evaluations, are value judgments.« (Putnam 1998: 16). An anderer Stelle aber wiederum kontrastiert sie Perzeption und Wertungen (valuings): »I have defended the view that perceiving/valuing is only the beginning of a process of inquiry/evaluation at the end of which we are entitled to claim knowledge of facts and of values.« (ebd. 18) Oder sie fast Emotionen mit ›sensations‹ unter dem Überbegriff der Wahrnehmung zusammen: »In both cases there is a ›reference to an object other than the mental state [the emotion, the sensation] itself.‹ For both cases, I shall use the term ›perceive.‹« (ebd. 6). Diese Bestimmungen lassen es offen, ob Putnam ›valuings‹ für eine besondere Art von Wahrnehmung hält, die von ›normaler‹ Sinneswahrnehmung unterschieden, wenn auch ihr epistemisch gleichwertig ist (während ich nicht Arten von Wahrnehmung, sondern Arten von Wahrnehmungsgehalt unterscheide, nämlich praktischen und nicht-praktischen). Daneben ist der Kontrast von ›sensations‹ und ›emotions‹ irreführend, da erstere üblicherweise auf einen nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt abheben, während allenfalls eine Gegenüberstellung von begrifflichem Wahrnehmungsgehalt und begrifflich verfassten Emotionen sinnvoll wäre. Praktische Anschauung
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schaftlichen Wahrnehmungsgehalt ausschließen. Tun wir dies nicht, müssen auch Emotionen in Standardsituationen als Sinneswahrnehmung kategorisiert werden. Sinnvoll lassen sich bei der Spekulation, woran sich praktische Urteile bewähren, nur zwei Fragen stellen. Die erste fragt nach den epistemischen Normen, die praktische, einfache oder komplexe Anschauungen regieren, und zwar deshalb, weil eine Antwort zu Bestehen oder Abwesenheit einer Berechtigung zu anschaulichem Urteilen automatisch ergibt, ob diese Anschauungen als Prüfstein, d. h. als rationale Kontrolle, von praktischen Urteilen oder ganzen Theorien fungieren können. Die zweite Frage hingegen richtet sich auf die epistemischen Relationen, die zwischen den beiden Anschauungstypen bestehen, und verlangt insbesondere eine Erklärung, ob komplexe auf einfache Anschauungen reduzierbar sind. Die Berechtigungsfrage hatte ich oben in komparativer Perspektive diskutiert, daher gehe ich an dieser Stelle nur auf das Problem der Reduzibilität ein. Peacocke formuliert die Nonadditivitätsthese so: »For any emotion which is not irrational its representational content is one that is in principle inferable from other information (or misinformation) possessed by the person who has the emotion.« (Peacocke 2004: 258)
Und: »If the No Addition Thesis is correct then for emotions which are not irrational the content of the emotion is in some sense not telling us anything new. In this respect the emotions contrast sharply with perception and with memory. Perception and memories are not irrational, and they certainly give us new information which could not, in many cases, be inferred from what we already accept.« (ebd. 259)
Dabei ist zunächst ein Blick auf die Weise zu richten, wie Peacocke zwischen Emotion und Sinneswahrnehmung unterscheidet. Denn über seine Wahrnehmungstheorie hinaus führt er in seiner Erörterung der Emotionen noch die Differenz zwischen einem präsentationalen Repräsentationsmodus der Sinneswahrnehmung und einem reaktiv-affektiven Repräsentationsmodus von Emotionen ein: »While both perceptions and emotions have representational contents, they stand in different kinds of relation of those contents. A perception presents the world as being a certain way; the phenomenology of perception is presentational. An emotion, by contrast, is experienced as a reaction to some
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perceived or represented state of affairs. Its phenomenology is that of a reaction; more specifically, a reaction of affect […] To capture this difference between perception and emotion we may speak of perception as having a presentational relation to its representational content and emotion as having a reactive-affective relation to its representational content.« (vgl. ebd.)
Ich glaube jedoch nicht, dass diese Unterscheidung Peacockes besonders gelungen ist. Zunächst einmal kann der Unterschied zwischen Emotion und Sinneswahrnehmung nicht so gezogen werden, dass nur die Letztere die Welt auf gewisse Weise präsentiert, da auch Emotionen dies tun, eben nur auf praktische Weise – jedenfalls gilt dies, sofern wir überhaupt praktische Inhalte als repräsentational ansehen, eine Annahme, die Peacocke jedoch teilt, wie seine Unterschrift unter den ›moralischen Realismus‹ deutlich macht (vgl. ebd. 232 ff.). Was hingegen den ›reaktiven‹ Charakter von Emotionen anbetrifft, ist wiederum zweierlei zu beachten. Wenn der anvisierte Unterschied auf die Differenz von einfachen und komplexen Anschauungen abzielt, wobei letztere nur durch repräsentationale Vermittlung verursachte, also gewissermaßen ›reaktive‹ Zustände sind, lässt sich damit aus den bekannten Gründen keine Trennung von Sinneswahrnehmung und Emotion vollziehen. Sofern aber darüber hinaus auch emotionale Zustände angesprochen sind, deren Gegenstand situativ anwesend ist, so hatte ich bereits bei der Exposition der Anschauungsthese und in Auseinandersetzung mit Wedgwood erklärt, warum wir über ein Reiz-ReaktionSchema emotionale Zustände nicht als non-perzeptiv aussondern können, ohne alle höherstufigen, begrifflichen Inhalte auf spartanistische Weise auszuschließen. Insofern wirkt Peacockes Unterscheidung merkwürdig inkonsequent, weil er selbst durchaus glaubt, dass höherstufige Begriffe eine Sinneswahrnehmung strukturieren können. In Anbetracht des lakonischen Verweises auf die ›Phänomenologie der Emotionen‹ vermute ich zudem, dass Peacocke hier ebenso in der Tradition der klassischen Gefühlstheorie einer Verwechslung von emotionaler Repräsentation und viszeraler Körperwahrnehmung erliegt. Sofern ›Affekt‹ auf eine viszerale Wahrnehmung körperlicher Veränderungen hindeutet, können wir dieses ebenso perzeptive Ereignis (!) als Reaktion auf die Wahrnehmung eines externen Gegenstandes durch die äußeren Sinne ansehen. Aber wie sich zeigt, ist diese peripher zugängliche Repräsentation nicht die emotionale Repräsentation und hat keinen praktischen Gehalt, der in Standardfällen ›sagt‹, dass ein Denker sich von einem externen Objekt auf charakteristische Weise prakPraktische Anschauung
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tisch und darüber körperlich affiziert erfährt. Diese integrierte Erfahrung lässt sich nur um den Preis eines Wahrnehmungsspartanismus als irrtümlich dekonstruieren. Da also die Unterscheidung von präsentationalem und reaktiv-affektivem Modus in komparativer Perspektive kollabiert, zeigt sich, dass die Nonadditivitätsthese letztlich keine emotionsspezifische These ist, sondern letztlich nur eine implizite Wiederholung von Peacockes nonkonzeptualistischer Behauptung, dass höherstufiger begrifflicher Inhalt auf einfachere (Wahrnehmungs-)Begriffe, insbesondere aber dass begrifflicher auf nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt reduziert werden kann (vgl. Peacocke 1992: Kap. 3). Damit beläuft sich die These der Nonadditivität letztlich nur auf die Konjunktion der folgenden beiden Hypothesen: H1. Komplexe Anschauungen sind im Prinzip reduzibel auf a) einfache praktische und praxisrelevante Anschauungen, b) inferentielle Transitionen von diesen und c) eventuell Inhalte apriorischer praktischer Anschauung. H2. Einfache Anschauungen begrifflicher Art sind im Prinzip reduzibel a) auf den nichtbegrifflichen Inhalt von Anschauungen, b) inferentielle Transitionen von diesen und eventuell c) Inhalte apriorischer praktischer Anschauung. Ich werde offen lassen, ob diese Hypothesen wahr sind, schon deshalb, weil wir zu ihrer Prüfung mindestens eine Theorie des Begriffserwerbs und der apriorischen Anschauung benötigten, vor allem aber, weil sich zeigt, dass ihre Wahrheit für eine komparative Erkenntnistheorie der Emotionen irrelevant ist. Sofern begriffliche Anschauungen, ob einfache oder komplexe, sich gemäß H1 und H2 reduzieren lassen, lassen sich sowohl praktische wie naturwissenschaftliche so reduzieren. Daneben sei mir noch der Hinweis gestattet, dass die These der Reduzibilität nicht mit der Ablehnung einer epistemischen Berechtigung für begriffliche Anschauungsgehalte verwechselt werden sollte. Trotz einer ›prinzipiellen‹ Reduzibilität – was dieses ›im Prinzip‹ wäre noch zu klären – kann durchaus in Einzelfällen sinnlich-begrifflicher und komplexer Anschauung epistemische Berechtigung bestehen, wenn in dieser Situation der Anschauungsgehalt als wahrscheinlich korrekt und die anschauliche die wahrscheinlich beste Weise zu urteilen ist.
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v.
Existentielle Nützlichkeit von Emotionen: Über falsche Gründe, ›moralistische‹ Fehlschlüsse und die Angemessenheit von Emotionen
Dieser Abschnitt kreiste bislang ausschließlich um die Frage, ob der repräsentationale Gehalt einer praktischen Anschauung, ob einfach oder komplex, vernünftigerweise einen Grund für einen Denker darstellt, ein praktisches Urteil zu fällen. Zum Beschluss dieses Abschnittes ist es geboten, den Blickwinkel dieser erkenntnistheoretischen Perspektive etwas auszuweiten, um eine weitere wichtige Differenzierung einzuführen. Stellen wir uns die Situation eines Individuums vor, das anschaulich eine Situation als praktisch bedeutsam repräsentiert, dann leuchtet es ein, dass die epistemischen Gründe, die dieser Repräsentation entspringen, für dieses Individuum meist nicht die einzigen relevanten Gründe in dieser Lage sein werden. Denn zwar kann ein mentaler Zustand, in welchem ein Objekt, als wäre es praktisch bedeutsam, repräsentiert ist, durchaus für sich Bestand haben. Dies ändert aber nichts daran, dass der Denker selbst oder andere Denker sich auch über eine Bewertung den Kopf zerbrechen können, deren metarepräsentationaler Gegenstand nichts anderes ist als die praktische Bedeutsamkeit des mentalen Zustandes, in welchem ein Objekt als praktisch bedeutsam repräsentiert ist. Behält man dies im Hinterkopf, wird klar, dass aus diesen beiden Repräsentationen, was auch immer ihr Gehalt im Detail sein mag, in keinem Fall identische Urteilsberechtigungen erwachsen können. So vermeidet man dann die Verwechslung ›falscher Gründe‹ mit richtigen Gründen, die D’Arms und Jacobson im Umgang mit Emotionen moniert haben (D’Arms und Jacobson 2000a, 2000b) und vermeidet damit auch grundsätzlichere Zweifel an der Korrektheit einer repräsentationalistischen Emotionstheorie. Zu einem solchen Zweifel gelangen nämlich die beiden Autoren auf der Grundlage ihrer Kritik an einem moralistischen Fehlschluss in Bezug auf Emotionen. Ihre Kritik richtet sich dabei auf jene Theoretiker (Gibbard, Blackburn, Wiggins, McDowell), die die Korrektheit emotionalen Gehaltes unter dem Stichwort seiner Angemessenheit abhandeln (vgl. D’Arms und Jacobson 2000a: 66 f.). Denn diese Redeweise, so machen sie in einer Reihe von Beispielen deutlich, verrät eine intrinsische Ambiguität, da Emotionen offenkundig auf zweifache Weise ›angemessen‹ sein können. Ein Partygast könnte beim VernehPraktische Anschauung
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men einer humorvollen Bemerkung Belustigung ›angemessen‹ finden, obwohl es ›unangemessen‹ wäre zu lachen, weil die Bemerkung ebenso kränkend ist für Beistehende. Ein Redner könnte es beschämend finden, dass die Rückfrage eines Zuhörers auf einen peinlichen Fehler in seiner Argumentation deutet, aber ›unangemessen‹, Scham zu empfinden, weil diese Emotion ihn daran hindert, kühl und schnell eine Retourkutsche zu ersinnen. Ein Soldat mag einer furchterregenden Übermacht gegenüberstehen, aber seine Furcht macht ihn und seine Kameraden nur noch ungeeigneter, in der Schlacht zu bestehen (vgl. D’Arms und Jacobson 2000b: 729 ff.). Der ›moralistische Fehlschluss‹ besteht nun nach Auffassung von D’Arms und Jacobson darin, dass die von ihnen kritisierten Autoren erstens übersähen, dass die Erwägungen im zweiten Teil der letzten drei Beispiele falsche Gründe hinsichtlich der Korrektheit des emotionalen Gehaltes darstellen, und zweitens, dass eine ›moralische‹ Haltung des Denkers diesen sogar für die praktischen Eigenschaften einer Situation (Lustiges, Beschämendes, Furchterregendes) desensibilisieren kann. Sie schreiben: »While such good strategic and moral reasons can count in favor of (or against) feeling some sentiment, they seem like the wrong kind of endorsement or criticism of it. The trouble is that to call a response ›appropriate‹ is vague praise. Whatever one’s preferred normative locution, the point remains that only certain good reasons for or against having a response bear on the associated evaluative judgment. Until these reasons are identified, there is nothing to stop sentimentalism from yielding systematically wrong answers to evaluative questions. The theory is thus vulnerable to what we will call the : it offers no resources to differentiate (and hence to preclude conflating moral and prudential reasons for feeling a sentiment – such as that the joke was offensive or that you don’t want to fall from your friend’s good graces – from reasons bearing on whether X is ϕ.« (ebd. 731 f.)
Während ich nun den Autoren voll und ganz zustimme, dass die Rede von der Angemessenheit von Emotionen sträflich zweideutig ist, glaube ich nicht, dass sich daraus ein ernsthaftes Problem für die von ihnen kritisierte Position des rationalen Sentimentalismus ergibt, die ja in ihrer komparativen Variante auch die Meinige ist. Denn die Pointe des Arguments führt lediglich auf genau die Unterscheidung, die ich oben angesprochen hatte, nämlich die zwischen einer praktischen Repräsentation der Umwelt und einer praktischen Repräsentation dieser praktischen Repräsentation. Dies sind zwei Repräsentationen, die qua ihrer Gehaltsdifferenzen natürlich verschiedene Korrektheitsbedingungen 284
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besitzen, verschiedene praktische Gründe bereitstellen und in deren Zusammenspiel sich unterschiedliche Prima-Facie-Auffassungen darüber ergeben können, was der betroffene Denker tun sollte. Betrachtet man es so, verschwindet aber die Verwunderung, weil es genau das ist, was zu erwarten wäre, wenn man einmal ein Objekt bewertet und einmal den Zustand bewertet, in dem man sich beim Bewerten des Objektes befindet. Dies ist lediglich ein Sonderfall der Differenz zwischen einer Repräsentation und der Repräsentation dieser Repräsentation. Dazu noch einmal das Beispiel des Soldaten: Der praktische Gehalt seiner Furcht, die ein Objekt so repräsentiert, als ob es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zentrales Gut (das Leben des Soldaten) zerstören wird, hat in diesem Sinne klare Korrektheitsbedingungen und wir können annehmen, dass es die Zahl und die Blutrünstigkeit der gegnerischen Soldaten sind, die diesen Gehalt korrekt machen. Nichtsdestotrotz können wir auch annehmen, dass ebenfalls die Bedingungen erfüllt sind zu sagen, dass es schlecht ist, dass der Soldat sich fürchtet, da diese praktische Anschauung lähmende physiologische Konsequenzen haben wird und damit sein Schicksal weiter besiegelt. Aus dieser globalen Perspektive ließe sich dann urteilen, dass es besser wäre, wenn der Soldat keine Furcht empfinden, den Gegner nicht als blutrünstig und in der Überzahl ansehen würde, und, da er so hart wie möglich um sein Leben kämpfen sollte, es gut wäre, wenn er sie vermeidet, indem er zum Beispiel seine Gedanken von der gegnerischen Armee ablenkt und sich auf seine eigenen Fähigkeiten konzentriert. Diese globale Perspektive spricht aber mitnichten dagegen, dass es für die nonreflexive Emotion klare Korrektheitsbedingungen gibt. Hier drückt sich lediglich aus, dass eine lokale epistemische Tätigkeit eines Denkers nicht zwingend schon etwas über die existentielle Nützlichkeit dieser Tätigkeit verrät. 85 Daneben zeigt sich in komparativer Perspektive, dass es recht Falsch wäre es hingegen, wie D’Arms und Jacobson dies vorschlagen, die Emotion selbst auf der Metaebene zum Gegenstand einer normativen Beurteilung zu machen (vgl. D’Arms und Jacobson 2000a: 86). Als Anschauungen stehen Emotionen nicht unmittelbar unter voluntativer Kontrolle und da Sollen Können impliziert, wäre es ein Kategorienfehler, die Emotion als etwas zu behandeln, was getan oder nicht getan werden sollte. Dies soll heißen, ein Denker kann normativ danach beurteilt werden, ob er sich taktisch in die epistemische Position bringt, um einen Gegenstand praktisch anzuschauen, aber es kann nicht normativ bewertet werden, dass ein Denker den Gegenstand so und nicht anders praktisch anschaut, wenn er ihn anschaut.
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merkwürdig wäre, wenn hieraus ein Problem für emotionale Gehalte erwachsen würde, weil wir analoge Beispiele auch bei nicht-praktischen Repräsentationen finden können. Zum Beispiel könnte ein Naturforscher zwei schwarze Schwäne auf einem See beobachten und zu dem Schluss gelangen, dass er sich in einer Gegend befindet, in der viele schwarze Schwäne leben. Tatsächlich sind diese Schwäne aber die einzigen schwarzen, die unter Tausenden weißen in dieser Gegend leben. Deshalb lässt sich aus der gnoseologisch opulenten Vogelperspektive wiederum urteilen, dass es besser gewesen wäre, wenn er diese Beobachtung nicht gemacht hätte, weil er so eine falsche Überzeugung vermieden hätte. Aber auch dies spricht natürlich nicht gegen die Tatsache, dass die vorherige Beobachtung klare Korrektheitsbedingungen besitzt und diese auch erfüllt waren. Das Fazit lautet, dass oben zwar eine Doppeldeutigkeit korrekt diagnostiziert wurde, wir diese und das Verwenden falsche Gründe aber leicht vermeiden können, indem wir zwischen Emotion und der Nützlichkeit einer Emotion im Rahmen globaler, epistemischer und nichtepistemischer Erwägungen unterscheiden und dies wiederum nur als einen Sonderfall der Differenz zwischen einer Anschauung und der epistemischen wie nicht-epistemischen Nützlichkeit dieser Anschauung betrachten.
4.5. Kognitivität und Nonkognitivität von Emotionen In diesem Kapitel wird eine komparative Psychologie und Erkenntnistheorie der Emotionalität entwickelt. Sein Ergebnis lautet, dass die Subsumtion von emotionalen Zuständen unter die Anschauungen ceteris paribus die beste Klassifikation ist und dass für diese Zustände ebenso die gleichen epistemischen Normen gültig sind wie für Anschauungen ohne praktischen Inhalt. Obwohl in Thema und Thetik ähnlich, wird dieser Bereich häufig unter der Frage der ›Kognitivität‹ oder der ›Rationalität‹ von Emotionen abgehandelt. Daher möchte ich zum Abschluss einige Detailergebnisse unter dieser Überschrift wiederholen und ausführen, in welchem Sinne ich Emotionen für ›kognitiv‹ bzw. ›rational‹ halte und in welchem nicht. Emotionen sind ›rational‹ und/oder ›kognitiv‹ etc. in diesen Hinsichten: 1. Emotionen als Anschauungen mit praktischem, begrifflichem Gehalt stellen im Vergleich mit aus anderen Bereichen der 286
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Deliberation bekannten Arten von Zuständen keine eigene psychische Art dar. 2. Emotionen erfordern als Anschauungen im Rahmen passiver Verstandestätigkeit den strukturierenden Einsatz von Begriffen. 3. Emotionen als repräsentationale Zustände unterliegen Korrektheitsbedingungen, die abhängig von den eingesetzten praktischen Begriffen und dem Zustand der Welt festlegen, ob dieser Zustand korrekt oder inkorrekt repräsentiert. 4. Als repräsentationale Zustände haben Emotionen wenigstens die angemessene Form, um als Kandidaten für eine Berechtigungsnorm zu gelten, und ermöglichen damit potentiell eine rationale nicht-inferentielle Transition zu einem doxastischen Zustand. 5. Durch deliberative und kommunikative ›Therapie‹ ist es im Prinzip möglich, die repräsentationale Angemessenheit von emotionalen Zuständen zu verbessern, sowie es auch in nicht-praktischen Bereichen möglich ist, durch Übung einen ›besseren Blick‹ für gewisse Entitäten zu bekommen. Emotionen sind hingegen nicht kognitiv/rational in diesen Hinsichten: 1. Sie erfordern nicht zwingend aktive, inferentielle Verstandestätigkeit und nicht notwendig ›volles‹ Bewusstsein ihres Gehaltes seitens des Denkers, auch wenn dies gerade bei komplexen Anschauungen gelegentlich eine Vorbedingung für diese Art von Zuständen sein mag. 2. Der repräsentationale Charakter von Emotionen impliziert nicht, dass die emotionale Repräsentation in jedem Fall korrekt bzw. veridisch ist und nicht, dass nicht bei einer beträchtlichen Anzahl von Individuen teils beträchtliche praktische Fehlrepräsentationen von Situationen auftreten können. 3. Emotionen sind ebenfalls potentiell nicht rational/kognitiv, insofern ich nicht für eine entsprechende Berechtigungsnorm argumentierte habe, sondern nur für die Parität mit nicht-praktischen, begrifflichen Anschauungen, was die Option einer allgemeinen Verbotsnorm für begriffliche Anschauungsgehalte, ob einfach oder komplex, offen lässt. 4. Selbst unter Annahme einer generellen Berechtigungsnorm für Emotionen folgt wegen der einschränkenden Bedingungen und ihrer erforderlichen Kontextualisierung nicht, dass ein Denker, der immer den praktischen Gehalt seiner Emotionen auf Basis dieses Anschauungsgehaltes glaubt, der quasi stets ›seinem Herzen folgt‹, rational ist. 5. Emotionale Fehlrepräsentation kann unter Umständen auch global irrational genannt werden, wenn die Fehlrepräsentation genealogisch auf eine massive Verletzung epistemischer Pflichten zurückgeführt werden kann, z. B. eine mangelhafte Deliberation über soziale Situationen oder die Persönlichkeit und MoPraktische Anschauung
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tive anderer Akteure. Ich denke, dass diese salomonische Gegenüberstellung eine angemessene Beschreibung der intelligiblen Aspekte von Emotionen liefert und andererseits dem Vorwurf einer Überintellektualisierung des Phänomens entkommt.
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5 Zum erkenntnistheoretischen Egalitarismus
In der Einleitung zu dieser komparativen Erörterung der empirischen Erfahrung habe ich ausgeführt, dass meine Argumentation auf einer ganzen Reihe von ceteris-paribus-Bedingungen oder Homogenitätsannahmen über Ethik und Naturwissenschaft aufbaut. Diese Annahmen betrafen die Bereiche der Semantik (I–II), der Metaphysik (III), der Psychologie (IV), der Rechtfertigungstheorie (V) und umfassten schließlich das Postulat der Eigenständigkeit der Ethik selbst (VI). An vielen Stellen habe ich nun bereits erläutert, wieso wir zu jenem Zweck auf diese Prämissen angewiesen sind. Ich habe allerdings noch fast kein Wort darüber verloren, warum wir Grund haben, diese selbst für vernünftig zu halten oder warum jemand, der sie für wenig überzeugend hält, Grund haben könnte, sie zu übernehmen. Diese vielen offenen Punkte können auf diesen letzten Seiten natürlich nicht mehr eingeholt werden. Dennoch möchte ich zum Abschluss noch eine Skizze vorstellen, wie sich die Probleme der Sinneswahrnehmung und der Emotion aus meiner Sicht in den metaethischen Problemnexus einfügen und welche wesentlichen Gründe wir dort haben, um diesen im Geiste der Prämisse I–VI aufzulösen. Wahrheit und Bedeutung (I, II): Der skeptische oder differenzielle Inegalitarismus in der Metaethik wird häufig als eine semantische These vorgetragen. Diese kann die Idee ausdrücken, dass moralische Urteile sinnlos und moralische Begriffe nur ›Pseudo-Begriffe‹ sind (skeptisch) (vgl. Ayer 1946: 107) oder dass moralische Urteile eine besondere emotive bzw. expressive Bedeutung haben (differenziell) (vgl. Blackburn 1993c; 1998; Gibbard 1990; Kalderon 2007; Stevenson 1937; Timmons 1999). Sie kann auch beinhalten, dass moralische Urteile nicht wahrheitsfähig sind (skeptisch) – wiederum Ayer – oder wahrheitsfähig in einem speziellen Sinn sind (differenziell) (vgl. Habermas 1999a). Ich denke, man kann an dem semantischen Inegalitarismus positiv Praktische Anschauung
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Zum erkenntnistheoretischen Egalitarismus
hervorheben, dass er erkennt, dass es bei der Entwicklung einer allgemeinen Metaethik vernünftig ist, im Bereich der Wahrheits- und Bedeutungstheorie anzusetzen. Denn dies heißt nichts anderes, als sich zu Beginn an der Oberflächenphänomenologie der moralischen Deliberation und des moralischen Diskurses zu orientieren, also daran, wie wir gemeinhin über Moral reden und nachdenken. Entgegen der Suggestion der Inegalitaristen ist anhand dieser Phänomenologie aber oberflächlich nicht zu erkennen, woran wir einen solchen semantischen Unterschied festmachen sollen. Im Anschluss an die Kritik von Crispin Wright (1992: Kap. 1–2), wäre nämlich zu überlegen, was es fundamental bedeuten soll, dass ein Gedanke oder eine Behauptung sinnvoll sind? Dazu gehört offenbar, dass Gedanken und Behauptungen gegenüber Kopfschmerzen oder Aufschreien begriffliche Leistungen mit bestimmten Korrektheitsbedingungen sind. Die in einer Leistung wie ›Dies ist X‹ eingesetzten Begriffe teilen die Welt in die Dinge, die unter sie fallen, und solche, die nicht unter sie fallen. Daraus lässt sich ersehen, dass eine begriffliche Leistung im Normalfall eine sinnvolle Negation hat. Ebenso steht dadurch der Inhalt des Gedankens oder der Behauptung in Beziehungen der Konsistenz und Inkonsistenz zu anderen Inhalten wie ›Dies ist nicht X‹. Dass es aber solche Relationen gibt, heißt am Ende nichts anderes, als dass eine inferentielle Gliederung von Gedanken und Behauptungen untereinander besteht. Überzeugungen und Hintergrundüberzeugungen konstituieren bestimmte formal- oder materiallogische Implikationsbeziehungen, die bedingen, dass nicht jeder Gedanke mit jedem anderen zusammenstimmt und nicht alles aus allem folgt. Begriffliche Leistungen bedingen ein Willkürverbot. Setzen wir diese Eigenschaften aber als hinreichend für Bedeutung an, sieht es sehr danach aus, dass der Expressivismus entweder etwas offensichtlich Falsches oder etwas Unverständliches sagt. Denn auch moralische Äußerungen kennen eine sinnvolle Negation und stehen mit anderen moralischen und nicht-moralischen Inhalten in inferentiellen Beziehungen. In seiner skeptischen Form müsste der Expressivismus in letzter Konsequenz im radikalen Gegensatz zur Phänomenologie annehmen, dass das moralisches Urteilen völlig willkürlich erfolgt und zu jedem Zeitpunkt jeder beliebige Gedanke an den vorherigen gleichermaßen anschlussfähig ist. Was hingegen seine differenzielle Spielart anbetrifft, ist auf der rein semantischen Ebene erst einmal gar nicht zu erkennen, was es heißen soll, dass moralische Urteile eine andere ›Art‹ von Bedeutung haben. 290
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Schließlich impliziert die Existenz von Korrektheitsbedingungen, dass das bloße Faktum einer begrifflichen Leistung im Normalfall nicht automatisch die Erfüllung jener Bedingungen verbürgt. Nichts anderes scheinen wir aber zu meinen, wenn wir urteilen, dass es auch in der Ethik einen Unterschied zwischen einer begründeten oder nur dahingesagten und einer wahren Behauptung gibt. Auch das moralische Urteil ist Gegenstand von Regeln, die festlegen, wann eine Äußerung als verständlich zu zählen hat, und von Regeln, die festlegen, wann eine Äußerung als epistemisch ausgezeichnet zu akzeptieren ist. Wenn wir uns daher an die gerade geschilderten, minimalen Anforderungen an Wahrheit und Bedeutung halten (inferentielle Einbettung und Zuschreibbarkeit von Korrektheit oder Inkorrektheit), kommen wir offenbar nicht umhin, praktische Urteile als gleichermaßen bedeutungsvoll und wahrheitsfähig anzusehen. Daraus folgt gewiss noch lange nicht, dass wir gegenüber diesen minimalen Anforderungen, nicht noch weitere Bedingungen stellen können, die erfüllt sein müssten, damit praktische Urteile im ›wörtlichen‹ Sinne als sinnvoll und wahrheitsfähig gelten können. Nur deutet doch alles darauf hin, dass wir mit diesen zusätzlichen Kriterien schon den Kern der Wahrheits- und Bedeutungstheorie verlassen, so dass es unter dem Stichwort moralischer Bedeutung und moralischer Wahrheit eigentlich um einen psychologischen, rechtfertigungstheoretischen oder metaphysischen Punkt gehen müsste. Ob man metaethisch einen über den minimalen hinausgehenden ›maximalen‹ Wahrheitsbegriff veranschlagen kann, der dem der Naturwissenschaften analog ist, wäre dann eine diesen Bereichen systematisch nachgeordnete Frage. Rechtfertigungstheorie (V): Nach der Semantik ist es methodologisch naheliegend, Begründungen anzusehen. Einerseits haben viele Inegalitaristen bei näherer Prüfung einen epistemologischen Punkt im Sinn und andererseits dürfte das Begründen systematisch vor einer ›Tiefenpsychologie‹ praktischer Denker und der metaphysischen Frage rangieren, was es praktisch gibt (s. u.). Dabei empfiehlt es sich, wiederum zunächst zu überlegen, was wir überhaupt mit dem Anspruch sagen wollen könnten, im moralischen Fall handele es sich um eine besondere ›Art‹ von Begründung? Denn gewiss wollen wir über den trivialen Punkt hinauskommen, dass es andere Gründe, nämlich moralische sind, die privilegiert für moralische Überzeugungen angeführt werden, Praktische Anschauung
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ebenso wie biologische Gründe für biologische Überzeugungen genannt werden. Deshalb sollten wir erstens festhalten, dass wir fundamentale Differenzen an die epistemischen Normen knüpfen müssen, die in Deliberationsbereichen gelten. In der Ethik müssten grundsätzlich andere oder weniger Schachzüge gestattet sein oder sogar die Behauptung, es handele sich nicht einmal um Schach. Zweitens können wir epistemische Normen danach einteilen, ob sie sich i) auf inferentielles Begründen, ii) nicht-inferentielles Begründen (bzw. Begründet-sein) oder iii) diskursives Begründen zwischen mehreren Denkern beziehen. Halten wir uns an dieses Schema, können wir gleich etwas zu den inferentiellen Bezügen zwischen Urteilen sagen. Hier hat das Gedankenspiel zu Wahrheit und Bedeutung einen epistemologischen Mehrwert. Denn ebenso wie die inferentielle Einbettung von moralischen Inhalten seitens eines Denkers konstitutiv ist für seine moralischen, begrifflichen Fähigkeiten überhaupt, konstituieren jene Beziehungen auch Begründungsrelationen. Von diesen muss ein rationales Individuum in der Lage sein, bei Bedarf zumindest einige im Modus der Rechtfertigung zu realisieren. Gleich, ob dabei moralische oder nicht-moralische Inhalte im Spiel sind, könnten wir beispielsweise mit einem Individuum interpretationstheoretisch wenig anfangen, das die Gültigkeit des Modus Ponens konsequent missachtet. Gleichfalls muss ein Individuum fähig sein, bestimmte materiallogische Schlüsse im Bereich der Moral zu ziehen, etwa dass der Umstand, dass etwas grausam ist, dafür spricht, dass dieses dann prima facie etwas ist, was nicht getan werden sollte. Daran lässt sich ablesen, dass es angesichts der inferentiellen Gliederung ethischer Deliberation neben ihren begrifflichen Normen ebenso unklug wäre, diesem Bereich anhand der zu letzteren komplementären epistemischen Normen des logischen Schließens einen Sonderstatus zuzusprechen. Soweit ich sehe, ist jedoch auch dieser Punkt weitgehend unkontrovers. Der erste eigentlich umstrittene Bereich bei der erkenntnistheoretischen Deutung der Ethik liegt aus diesen Gründen m. E. im Bereich der nicht-inferentiellen Begründung. Traditionell unterscheiden wir dabei mindestens zwischen den Formen, die empirisch fundiert sind, also v. a. durch Sinneswahrnehmung, und Transitionen, die apriorisch vollzogen werden, also z. B. die Einsicht in Axiome der Logik und der Mathematik. Wie immer können wir auch an diesem Punkt einerseits allgemein-erkenntnistheoretisch überlegen, ob wir überhaupt solche nicht-inferentiellen Übergänge für epistemologisch legitim erachten, 292
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und andererseits, ob wir metaethisch eine differenzielle Sicht bevorzugen sollten. Das wesentliche Ergebnis dieser Abhandlung lautet, wie wir gesehen haben, dass ein solcher differenzieller Standpunkt im Bereich der empirischen Erfahrung unhaltbar ist, zumindest dann, wenn wir ansonsten allgemeine Gleichförmigkeit von moralischer und paradigmatischer Deliberation unterstellen. Es lassen sich anhand der Sinneserfahrung keine unabhängigen Argumente für den Inegalitarismus entwickeln. Ohne noch einmal auf die Einzelheiten einzugehen, lässt sich das Hauptproblem dieses Ansatzes so zusammenfassen, dass alle seine Argumente in Bezug auf perzeptive Repräsentation und Berechtigung entweder zu schwach (und nichts gegen die Moral vorbringen) oder zu stark sind (d. h. auch naturwissenschaftliche Empirie unterminieren würden). Die wesentliche Ursache dieses Fehltrittes wiederum liegt darin, dass die beiden Deliberationsbereiche methodologisch unsauber verglichen werden, wenn beispielsweise moralischer Inhalt mit nichtbegrifflichem Inhalt kontrastiert wird, der nur mutmaßlich ein intimeres Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Denken unterhält. Wenden wir uns dem Gebiet der apriorischen Begründung zu, bietet es sich an, zunächst einen naheliegenden Punkt festzuhalten. Sind wir nämlich der Ansicht, dass es so etwas wie Begründung a priori überhaupt nicht gibt, d. h. dass wir alle entsprechenden epistemischen Berechtigungsnormen als ungültig verwerfen, dann ergibt sich schon an dieser Stelle eine generelle Gleichförmigkeit der Moral, sofern wir das ›monologische‹ Denken eines Einzelnen betrachten. Dies ist deshalb einigermaßen bemerkenswert, weil die große Mehrheit komparativer Skeptiker in der Metaethik gerade Empiristen sind, so dass sich gegen sie das Plädoyer für eine egalitaristische Position um einen Schritt verkürzt. In einer komparativen Erkenntnistheorie apriorischer Begründung wären vor allem zwei Fragen zu beantworten. Ist es erstens plausibler von einer apriorischen Grundlage moralischer Prinzipien auszugehen im Gegensatz zu manchen naturwissenschaftlichen Prinzipien? Zweitens ist es wichtiger im Bereich der Moral ein solches Fundament zu verteidigen und wäre es umgekehrt dramatischer für die Ethik, wenn wir den Gedanken des Apriori verwerfen? Was die zweite Frage anbetrifft, können wir zum letzten Punkt gleich hinzufügen, dass es ebenfalls überrascht, dass die meisten Empiristen in der Metaethik den skeptischen Weg eingeschlagen haben, während es ad hoc auch Praktische Anschauung
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die undramatische theoretische Option gibt, bei Ablehnung eines ethischen Apriorismus Prinzipien des Handelns als auf fallible und potentiell reversible Weise auf empirische (Wert-) Erfahrung gegründet vorzustellen. Im Hinblick auf die drängendere erste Frage lässt sich einerseits non-komparativ konstatieren, dass mittlerweile eine ganze Reihe von Autoren sehr stichhaltig, wie ich denke, den Standpunkt untermauert haben, dass wir in der Epistemologie allgemein auf die Idee des Apriori angewiesen sind (vgl. Audi 2001; Bonjour 1998; Peacocke 2004). Andererseits spricht nicht nur einiges dafür, wenigstens einigen abstrakten Handlungsprinzipien diesen zu verleihen. Auch für einige sparsame naturwissenschaftliche Propositionen ließe sich dies postulieren, z. B. für die Proposition ›Alle Körper sind ausgedehnt‹. Sollten wir aus derartigen Erwägungen zu dem Schluss gelangen, dass sich das praktische Denken nicht anhand der Begründungstheorie für einzelne Individuen diskriminieren lässt, können wir den Blick noch auf den intersubjektiven Bereich ausweiten. Wie wir aber mit dem Faktum moralischen Dissenses umzugehen haben, ist einigermaßen schwierig zu beurteilen. Sicher können wir nicht beliebige Einzelfälle von moralischen Meinungsverschiedenheiten anführen, um daraus eine tiefschürfende epistemologische Pointe abzuleiten. Ebenso wenig wie Konsens allein für die Wahrheit einer Überzeugung spricht, spricht Dissens allein gegen ihre Wahrheit oder gar die These, dass sie überhaupt fähig ist, wahr zu sein. Wir müssen uns schon auf harte und chronische Fälle von Dissens beschränken. Für diesen Punkt stellt sich allerdings die Frage, auf welches Argument wir überhaupt hoffen dürfen, das verhindert, dass er sich auf eine Glaubensangelegenheit reduziert. Einerseits kann die differenzielle Sicht selbstredend für sich beanspruchen, dass in der Moral oft recht viele und recht gut informierte Individuen uneins sein können. Andererseits ist nicht zu sehen, wie daraus bereits folgen könnte, dass diese Fälle nicht nur hart, sondern unauflöslich hart sind, so dass wir daraus die weitreichenden metaethischen Konsequenzen zu ziehen genötigt sind, die viele unter dem Eindruck moralischen Dissenses bereit waren zu ziehen. Ich halte es für einen guten Ansatz, auch hier das Problem auf die normative Ebene zu heben und zu überlegen, ob wir tatsächlich sinnvoll andere epistemische Diskursnormen für die Praxis annehmen können. Eine sinnvolle Diskursnorm zu rationalem Hörensagen wäre es zum Beispiel zu veranschlagen, dass A berechtigt ist zu glauben, dass p, auf der Grundlage von B’s Urteil, dass p, wenn A B für einen sehr 294
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verlässlichen Berichterstatter hinsichtlich von p hält. Ähnlich sollte man in einem Diskurs mit Fällen von unauflöslichem Dissens eine Regel ansetzen, wonach es geboten ist, weitere Diskussion hinsichtlich von p zu unterlassen, wenn hinsichtlich der Wahrheit von p unauflöslicher Dissens besteht. Aber bereits an der Formulierung dieser Regel lässt sich erkennen, dass es unmöglich ist, sie anzuwenden. Fälle von unauflöslichem Dissens, Dissens der selbst bei Berücksichtigung aller relevanten Informationen und vollständiger Rationalität der Diskurspartner fortbestünde, selbst wenn es sie gäbe, ließen sich im Rahmen unserer endlichen epistemischen Ressourcen gar nicht eindeutig ermitteln, weil es stets eine gangbare Hypothese bleibt, dass eben noch nicht alle Informationen, ad-hoc-Annahmen berücksichtigt oder die Gültigkeit aller Schlüsse erwiesen ist. Deshalb ließen sich zwar leicht Normen ansetzen, die bei unklarer Beweislage eine Vertagung des Diskurses erlauben. Es ließe sich selbstredend ebenfalls für ein Zurückstellen der eigenen Meinung aufgrund der Gebote der Höflichkeit und der Diplomatie plädieren. Ob sich aber eine besondere Diskursnorm begründen lässt, die sich auf das Faktum unauflöslichen Dissenses gründet, ist mehr als fraglich. Psychologie (IV): Es gibt eine direkte Verbindung zwischen moralischer Semantik und moralischer Psychologie. Dies ist ein Punkt, den einige Theoretiker in ihrem Plädoyer gegen die komparative Skepsis übersehen, indem sie sich vornehmlich auf die Theorie der Begründung und die Metaphysik konzentrieren. Die eigentliche Pointe des moralischen Expressivismus ist nämlich eine psychologische. Es geht darum, zu sagen, mit dem moralischen Urteil, dass p, werde eine Einstellung ausgedrückt. ›Einstellung‹ verweist dabei mutmaßlich nicht auf einen mentalen Zustand, der mit dem herkömmlichen doxastischen Zustand des Glaubens, dass p, oder einer anderen kognitiven propositionalen Einstellungen identifiziert werden kann, sondern auf einen Zustand, der als von psychologisch fundamental anderer, konativer Art charakterisiert werden muss. Die Dichotomie von Kognition und Konation gründet dabei der Idee nach in dem motivationalen Element, das für jede Handlungserklärung angeführt werden muss und nur konativen Einstellungen eigen ist. Es sollte nun eine treffende Charakterisierung der zurückliegenden Debatte sein, wenn man sagt, dass die Zustände, die als paradigmatische Beispiele für Konationen angeführt werden, Emotionen und Praktische Anschauung
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Wünsche sind. Daraus erhellt, dass meine Ausführungen zur Emotionalität den ersten Teil einer vollständigen Abkehr vom Konativismus darstellen. Emotionen werden am besten als einfache oder komplexe Anschauungen mit praktischem Inhalt aufgefasst und sind daher mit einer Klasse kognitiver Zustände, nämlich den perzeptiven, identisch. Die meisten neueren Schriften zur Moralpsychologie setzen sich eher mit der Rolle von ›Wünschen‹ (desires) in der Handlungserklärung auseinander, während die Emotionstheorie etwas stiefmütterlich behandelt wird. Bekanntlich können wir dabei zwischen der Position des Humeanismus (Schroeder 2007; Smith 1994: Kap. 4; Williams 1981) unterscheiden, der Wünsche im Sinne einer eigenen psychischen Art als notwendig für jede Handlungserklärung ansieht, einer Hybridtheorie (vgl. McDowell 1998b; McDowell 1998e; Nagel 1970, 1986), die mindestens eine weitere Quelle von Motivation anerkennt – v. a. natürlich moralische Urteile – und schließlich dem reinen Kognitivismus, der in der Theorie des Handelns völlig ohne Rekurs auf Wünsche (im Sinne des Humeanismus) auskommt (Dancy 1993). Erwartbar bin ich der Ansicht, dass der reine Kognitivismus hier den gangbarsten Weg darstellt. Insbesondere sollte man an ihm m. E. positiv hervorheben, dass er richtig erkennt, dass das Hauptproblem des Humeanismus nicht in einer Vernachlässigung spezifisch moralischer Motive liegt, sondern viel grundsätzlicher in einem psychologisch unreflektierten Wunschbegriff, welcher als heißer Kern dieser Theorierichtung fungiert. Dazu nur zwei Beispiele. In seiner Analyse der ›Primärgründe‹, also dem psychologischen Zustand, der als direkte Ursache einer Handlung fungiert, bestimmt Davidson diese als jeweils zusammengesetzt aus einer Überzeugung und einer sogenannten ›Pro-Einstellung‹ (vgl. Davidson 1980: 1 f.). Viele Humeaner haben diese Analyse als Anhaltspunkt dafür genommen, dass es sich bei Pro-Einstellungen um eine eigene konative psychologische Art handeln muss. Dieser Schluss lässt sich Davidsons Ausführung aber mitnichten entnehmen, der lediglich eine lange Liste von mentalen Phänomenen unter diese Kategorie subsumiert. Ihr systematischer Zusammenhang bleibt in der Konzeption aber unverstanden. Ihr lässt sich zwar der – einigermaßen unspektakuläre – Punkt entnehmen, dass Überzeugungen wie ›2 + 2 = 4‹ oder ›Die Taxe ist vorm Amte‹ allein kein Handlungsmotiv abgeben können, also noch ein X hinzukommen muss, lässt aber offen, wie wir die Gleichung ›tiefenpsychologisch‹ zu ergänzen haben. 296
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Der gängigste Weg nun, die Kategorie ›Wunsch‹ näher zu beschreiben, führt über den Rekurs auf ihre besondere Passensrichtung (direction of fit). Während Überzeugungen auf die Wahrheit ihres repräsentationalen Inhaltes ›zielten‹, ginge es bei Wünschen vielmehr um die Realisierung der involvierten propositionalen Inhalte, so dass hier ›die Welt zum Geist passen‹ müsste. Da aber die Rede von Passensrichtungen, wie von Anscombe eingeführt, ebenfalls vage und metaphorisch ist, besteht weiterer Artikulationsbedarf (vgl. Anscombe 1957: 57; Searle 1983: 7 ff.). Es gibt viele Möglichkeiten, diesen Terminus auszubuchstabieren, die ich hier nicht mehr diskutieren möchte. Es lohnt aber der Hinweis, dass viele klassische Varianten offenbar nicht generell anwendbar oder zirkulär sind (vgl. Gregory 2012; Humberstone 1992; Schueler 1991). Daher besteht theoretischer Anlass, sich nach Alternativen umzusehen, die sich vollständig vom konativen Paradigma verabschieden. Eine solch rein-kognitivistische Moralpsychologie müsste in jedem Fall darauf hinauslaufen, ›Wünsche‹ als psychologische Kategorie zu eliminieren oder zu sagen, dass sie bei näherer Betrachtung einen Komplex von Zuständen markieren, die allesamt kognitiv sind, d. h. auf die repräsentationale Korrektheit ihres Inhaltes zielen. Es ginge erneut darum zu sagen, dass jede Differenz in der Handlungsmotivation nicht anhand anwesender oder abwesender Zustände, sondern stets anhand des Inhaltes dieser Zustände gemacht werden muss. Dieser Ansatz wäre von der Grundintuition getragen, dass die Auskunft, einem Akteur hätte situativ die richtige ›Einstellung‹ oder ein ›Wunsch‹ gefehlt, so und so zu handeln, keine Erklärung, sondern eine Wiederholung des Explanandums darstellt. Wiederum gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine solche Konzeption auszubuchstabieren. Die von mir favorisierte würde Primärgründe, also direkt handlungsverursachende mentale Zustände als Komplexe aus drei Klassen von Überzeugungen beschreiben, nämlich i) Zweck-Mittel-Überzeugungen, ii) evaluative Überzeugungen, wie die Welt aktuell hinsichtlich ihrer Salienz beschaffen ist, und iii) evaluative Überzeugungen, wie die Welt idealerweise wäre. Eine wesentliche Komponente dieser Konzeption wäre zudem eine Erkenntnistheorie der Wünsche und Ziele, die den Kognitivismus plausibilisiert, indem sie rein kognitiv beschreibt, wie handlungsrelevante Zustände logisch und psychologisch als auf empirische praktische Anschauungen gegründet vorgestellt werden können. Hier ließen sich aber durchaus Praktische Anschauung
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weitere Optionen in Betracht ziehen, die erlauben, dass wir in der Moralpsychologie insgesamt ohne eine differenzielle Sicht auskommen. Metaphysik (III, VI): Angenommen, wir sagen, dass die mentalen Zustände, die das praktische Denken je konstituieren, von der gleichen, nämlichen repräsentationalen Art sind wie naturwissenschaftliche, dann besteht keine Möglichkeit mehr, die These gehaltvoll zu formulieren, sie hätten eine andere Art von Bedeutung – sofern dies mehr bedeuten soll, als dass sie anderen Inhalt, nämlich praktischen besitzen. Wenn wir außerdem wie oben voraussetzen, dass sich die Logik dieser Zustände, die Weise, wie versucht wird epistemologisch zu gewährleisten, dass sie die Welt so darstellen, wie sie ist, nicht von der Weise unterscheidet, wie Begründung in paradigmatischen Fällen funktioniert, dann fehlt auch metaphysisch jegliche Motivation, das, wovon praktische Urteile handeln, aus unserer Ontologie zu eliminieren oder es in ein Sonderreich zu verbannen. Es gilt das Primat der Erkenntnistheorie vor der Ontologie. Wollen wir herausbekommen, was es gibt, müssen wir prüfen, was unsere begründeten Überzeugungen sagen, das es gibt. Einige von unseren begründeten Überzeugungen aber sagen, dass es gute und schlechte, richtige und falsche, gesollte und nicht gesollte Dinge gibt. Damit aber erzeugen sie auf natürliche und das heißt erneut gleiche Weise ontologische Verpflichtungen auf praktische Eigenschaften. Ebenso fehlt uns aber an dieser Stelle die Option, informativ zu sagen, diese ontologische Verpflichtungen führten auf eine besondere ›Existenzweise‹ des Ethischen. Auch Protonen und philosophische Abhandlungen existieren ›auf besondere Weise‹, aber dies heißt offenbar nur, dass sie etwas Besonderes sind, nicht dass sie auf besondere Weise sind (vgl. Hare 1985). Mit diesen Bemerkungen möchte ich ausdrücken, dass ich es für den deutlich besseren Weg halte, das Problem einer adäquaten Metaphysik der Moral als das einer detaillierten Beschreibung der praktischen Realität – d. h. der Teil der Realität, der ihre praktischen Aspekte umfasst – zu begreifen, anstatt sich das Resultat vorzunehmen, Werte und Normen seien nichts, seien nur ›in unseren Köpfen‹ oder in einer besonderen Sphäre des Seins. Darüber hinaus denke ich, dass wir am Ende die Diagnose stellen können, dass die Mehrheit der Autoren, die ihre metaethische Position differenziell anhand der bzw. gegen die fundamentalen Kategorien der Tatsachen und der Existenz ausdrücken, genau genommen einen inhaltlichen Punkt machen möchten, wie es sich 298
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in praktischer Hinsicht verhält. Dass viele dennoch meinen, es gäbe den ontischen Graben zwischen Sein und Sollen, Tatsachen und Werten, dürfte auch an einem vielerlei zu eingeschränkten Gebrauch ihres Begriffs von Realität liegen. Die Dominanz der Naturwissenschaften bei der Kartographierung unseres Weltbildes hat lange Zeit einen Naturalismus begünstigt, der Urteilen nur dann epistemologische Respektabilität zuspricht, wenn diese so vorgestellt werden können, dass sie wenigstens im Prinzip (am Ende der Forschung) durch naturwissenschaftliche Ausdrücke ersetzt werden können. Weder ist aber zu erkennen, wie diese Reduktion im moralischen Fall funktionieren könnte, ohne evaluative, deontische, normative Urteile ihrem spezifischen Sinn zu berauben, noch wieso ihnen Respektabilität grundsätzlich verwehrt werden sollte, wo sie den gleichen Prinzipien der Begründung gehorchen. Das praktische Denken ist offenbar auf gleiche Weise eigenständig und berechtigt wie das naturwissenschaftliche. Dies ist eine Haltung, die man einen NonNaturalismus nennen könnte. Man könnte jedoch ebenfalls der Auffassung sein, dass ebenso wie der Realitätsbegriff auch der der Natur zu eingeschränkt ist, und daher lieber die Bezeichnung ›non-reduktionistischer Naturalismus‹ wählen. Ein weiterer hinderlicher Gedanke, den wir der cartesianischen Tradition zuordnen können, ist, dass die Welt das ist, was vom Geist radikal verschieden ist. Auf diesen Punkt bin ich bereits in der Einleitung zu sprechen gekommen. Die Idee der intrinsischen Geistlosigkeit der Welt ist besonders für die Ethik ein metaphysisches Problem. Denn gewiss ist das, wovon ethische Urteile handeln, meist nicht vollständig unabhängig von den mentalen Zuständen Einzelner oder vom ›Geist‹ als abstrakte Kategorie. So ontologisch gravierend die Verbannung des Geistes aus der Realität für die Ethik wäre, so relativ unproblematisch lässt sich m. E. jedoch dieser Fallstrick vermeiden. Man muss nur bedenken, dass wir natürlich explikativ ›Realität‹ auf all das beschränken können, das völlig non-mental ist, dass wir aber dann ebenso stets einen umfangreicheren Begriff finden können, nach dem alles Geistige ebenso Teil der Welt ist, wie Flüsse und Seen. Diese letzten beiden Punkte sind bereits des Öfteren von anderen Autoren angesprochen worden. Mit ihnen zusammen hängt aber noch ein dritter, etwas weniger bekannter Punkt. Mit dem sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbild hängt auch ein Essentialismus zusammen, der Realität nur dem zuerkennt, was sich durch Ewigkeit und UnPraktische Anschauung
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veränderlichkeit auszeichnet, also beispielsweise eben die Gesetze der Physik (vgl. Habermas 1999a: 309 f. u. 321). Daher kann es nicht schaden hervorzuheben, dass sich ja auch die Naturgesetze nur an bestimmten Veränderungen zeigen können und dass auf der anderen Seite nicht zu sehen ist, warum der Umstand, dass das Moralische in vielerlei Hinsicht ›konstruiert‹ ist, ausschließen sollte, dass es in manch anderer Hinsicht eben nicht konstruiert ist, oder warum es als etwas Konstruiertes deshalb nicht oder weniger real sein sollte. Ich habe den Verdacht, dass viele der Ansicht sind, eine metaethische Interpretation, die die Ethik fundamental wie alle anderen Wissenschaften behandelt, räume der Reformation von Moralvorstellungen nicht genügend Raum ein und sei daher nicht progressiv genug. Es ist aber nicht zu sehen, warum wir zu diesem Standpunkt genötigt sind. Eine mit der essentialistischen Präsupposition eng zusammenhängende Idee ist schließlich, dass die Rede von Natur und Realität einen starken Generalismus bedingt. Hier stünden sich die Ubiquität der Naturgesetze, die überall gelten, und die Partikularität von Moralvorstellungen gegenüber. Was aber die Gesetze der Physik anbetrifft, darf es zumindest als umstritten gelten, dass diese selbst in perfekter Formulierung ausnahmslos gelten und nicht ihrerseits an im Hintergrund stehende Normalitätsannahmen geknüpft sind, die durchaus verletzt sein können (vgl. Putnam 1992: 86 ff.). Gewiss aber gilt für Regelmäßigkeiten, die wir im Bereich lebendiger Organismen oder von Wetterphänomenen feststellen können, dass diese sich nicht durch die genannte Ubiquität auszeichnen. So besteht denn auch kein Grund zur Sorge, dass die Behauptung, das praktische Denken sei eine Sache der Tatsachen und es sei unsere Angelegenheit, sie zu erkennen, uns dazu zwingen würde, die Besonderheit praktischer Situationen zu leugnen. Mitunter wird in einem Unterkapitel dieses Punktes einer ›realistischen‹ Position auch ein Monismus in der Theorie des guten Lebens zugeschrieben. Aber sofern es überhaupt verschiedene Individuen gibt und diese gesellschaftlich ihr Leben angesichts der Vielfalt praktischer Belange arbeitsteilig organisieren, müssen diese selbstverständlich ihr Leben auf je eigene Weise führen und dies in Abrede zu stellen, wäre grotesk. Dies zu sagen, heißt aber nicht zu sagen, das eigene Leben sei eine ganz und gar ›subjektive‹ Angelegenheit, sondern es heißt zu sagen, dass etwas nicht und das Gegenteil ganz gewiss der Fall ist.
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Diese kurzen Schlussbemerkungen reichen bei weitem nicht aus, um zufriedenstellend für eine allgemeine fundamentale Homogenität von Ethik und Naturwissenschaft zu argumentieren. Ich denke, sie demonstrieren aber, dass begründete Zweifel bestehen, ob die vielen Säulen, auf denen diese Abhandlung steht, so tönern sind, wie man auf den ersten Blick denken könnte. In jedem Fall bedürfte es einer Meta-Erklärung für den metaethischen Inegalitarismus, die erklärt, warum er so große Anfangsplausibilität genießt. Ein Weg wäre zu sagen, dass es aus der Vogelperspektive doch alles in allem viel bedauerlicher ist, wenn jemandem zentrale moralische Einsichten fehlen, als wenn er die Sätze der Thermodynamik nicht versteht. Die Komplexität des ethischen Fragens und, da es gegenüber dem naturwissenschaftlichen Fragen meist keinen Aufschub duldet, sein Mangel an Zeit bringen mit sich, dass der Einzelne nach eigenem Ermessen das Ziel praktischer Klugheit regelmäßig verfehlt. Dazu heißt ›der Einzelne‹ genau genommen ›wir alle‹, denn, was zu tun ist, ist eine Frage, die jeden angeht, im Gegensatz zur Beschaffenheit der unbelebten Natur an der einen oder anderen Stelle. Deshalb ist die Moral immer schon ein geeigneter gemeinsamer Bezugspunkt für den Verdacht, dass etwas falsch oder ganz anders ist mit dem praktischen Denken. Dass wir dennoch nicht der Neigung nachgeben sollten, diese Sorgen durch eine Einschränkung oder Verdoppelung unserer fundamentalen erkenntnistheoretischen Kategorien auszudrücken, ist eine These, von der ich bislang nur eine Druckstelle gelindert habe: Wenn wir auch ansonsten die Gewöhnlichkeit praktischer Überlegung akzeptieren können, dann wird uns diese Hypothese nicht abspenstig gemacht, wenn unser Blick zurück auf das große Auge der Anschauung fällt. Wenn die Welt uns zum Glauben an die Materie reizen kann, kann sie uns auch ergreifen.
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