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German Pages 658 Year 2016
Literatur und praktische Vernunft
Literatur und praktische Vernunft Herausgegeben von Frieder von Ammon, Cornelia Rémi und Gideon Stiening
ISBN 978-3-11-041030-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041035-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041042-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Friedrich Vollhardt als Festschrift anlässlich seines 60. Geburtstags
Tabula gratulatoria Wolfgang Adam, Osnabrück Elena Agazzi, Bergamo Simone de Angelis, Graz Marc-Aeilko Aris, München Oliver Bach, München Maximilian Benz, Zürich Klaus Birnstiel, Basel Günter Blamberger, Köln Ute von Bloh, Potsdam Thomas Borgard, München Georg und Anna Braungart, Tübingen Hermann Breulmann SJ, Berlin Sylvia Brockstieger, Heidelberg Chiara Conterno, Verona Heinrich Detering, Göttingen Astrid Dröse, Tübingen Hans-Edwin Friedrich, Kiel Klaus Garber, Osnabrück Klaus Grubmüller, Göttingen Hans-Ulrich Gumbrecht, Stanford Lutz Hagestedt, Rostock Sven Hanuschek, München Christine Haug, München
VIII | Tabula gratulatoria
Wolfgang Harms, München Markus Hien, Würzburg Andreas Höfele, München Beate Kellner, München Klaus Kipf, München Diethelm Klippel, Bayreuth Susanne Köbele, Zürich Gerhard Kurz, Gießen Manfred Landfester, Gießen Gerhard Lauer, Göttingen Susanne Lepsius, München Steffen Martus, Berlin Florian Mehltretter, München Thomas Meinecke, Eurasburg Katja Mellmann, Göttingen Jan Mohr, München Ralph Müller, Fribourg Michael Multhammer, Siegen Guido Naschert, Weimar Otto Neudeck, München Hugh Barr Nisbet, Cambridge Claus-Michael Ort, Kiel Judith Pfeiffer, Köln Hans Pleschinski, München Gerhard Regn, München
Tabula gratulatoria | IX
Wolfgang Riedel, Würzburg Julia Röthinger, München Erik Schilling, München Hans-Jürgen Schings, Berlin Werner Schneiders, Münster Oliver R. Scholz, Münster Jan Schröder, Tübingen Sebastian Speth, Magdeburg Carlos Spoerhase, Berlin Wolf-Dieter Stempel, München Stefanie Stockhorst, Potsdam Claudia Stockinger, Göttingen Michael Stolleis, Frankfurt am Main Peter Strohschneider, München/Bonn Carolin Struwe-Rohr, München Anette Syndikus, München Dénis Thouard, Paris Theo Verbeek, Utrecht Achim Vesper, Frankfurt am Main Herfried Vögel, München Michael Waltenberger, München Dirk Werle, Heidelberg Marianne Willems, München Simone Winko, Göttingen Norbert Christian Wolf, Salzburg
Inhaltsverzeichnis Frieder von Ammon, Cornelia Rémi, Gideon Stiening Festspiele der praktischen Vernunft Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag | 1
Grundlegung Dieter Henrich Moderne Kultur und ›wahre‹ Philosophie Perspektiven einer Bilanz Hegels von 1802 | 9
Spätmittelalter und Frühe Neuzeit Jan-Dirk Müller Schade und Schädlein Über die Grenzen berechnender Klugheit und exemplarischen Erzählens | 49 Michael Schilling Flugblätter religiöser Dissidenten in der Frühen Neuzeit | 61 Wilhelm Kühlmann Vom Tode, von der Ehe und vom Anreiz des Unvernünftigen Romeo und Julia bei Johannes Bisselius SJ (1601–1682) und Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) | 85 Wilhelm Schmidt-Biggemann Besold und Andreae Eine Konversions- und Dissoziationsgeschichte aus der Zeit des Dreißigjähriges Krieges | 101 Eric Achermann Calculemus! Zum egoistischen Helden im Roman der Frühen Neuzeit | 147
XII | Inhaltsverzeichnis
Rosmarie Zeller Literatur als Mittel zur Glückseligkeit Die Sulzbacher Übersetzung von Boethius’ Trost der Philosophie und ihr Kontext | 173 Martin Mulsow Eine Reformationsgeschichte als Geschichte des Humanismus Hermann von der Hardts ungedruckte Historia literaria reformationis und die Entdeckung der Vorreformation um 1717 | 191 Anita Traninger Serendipity und Abduktion Die Literatur als Medium einer Logik des Neuen (Cristoforo Armeno, Voltaire, Horace Walpole) | 205
Aufklärung Klaus W. Hempfer »Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques« Zum Verhältnis von ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹ in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts | 233 Hanspeter Marti Frühaufklärerische Schulrhetorik Das Beispiel des Oratorikprofessors und späteren Theologen Samuel Werenfels (1657‒1740) | 253 Frank Grunert Feindschaft, Freundschaft, Sicherheit Zur Klugheitslehre von Christoph August Heumann | 295 Elisabeth Décultot Lesen versus Sehen? Winckelmanns Umgang mit den gegenständlichen und schriftlichen Quellen zur antiken Kunst | 317
Inhaltsverzeichnis | XIII
Christoph Bultmann Drei Ringe und Ein Opal Matthew Tindals Religionsphilosophie als ein Faktor für Lessings Nathan der Weise. Mit einem Nachdruck von Tindals Abhandlung Reasons against restraining the press von 1704 | 335
Um 1800 Monika Fick Goethes Iphigenie auf Tauris und der Stoff von Atreus und Thyest | 357 Jörg Robert »Die Kunst, o Mensch, hast du allein« Kunstreligion und Autonomie in Schillers Gedicht Die Künstler | 393 Barbara Mahlmann-Bauer Friedrich Schillers Prinzipien der Geschichtsschreibung und die Geschichte der französischen Unruhen | 413 Liliane Weissberg Das Projekt der Aufklärung und der »Tugendbund« | 465 Gideon Stiening Zwischen gerechtem Krieg und kluger Politik Naturrecht, positives Recht und Staatsraison in Kleists Michael Kohlhaas | 485 Ralph Häfner »Sandbänke« und »Korallenstämme« Adolf Ellissen als Herausgeber von Montesquieus Geist der Gesetze | 523
XIV | Inhaltsverzeichnis
Moderne Achim Aurnhammer »Im Anfang war das Wort!« – »Im Anfang war die Tat!« Wort und Tat in Stefan Georges Ideal des Heroischen | 537 Udo Roth »Uns ist so kannibalisch wohl!« Wissenschaft und Literatur im Spannungsfeld der Weltanschauungen um 1900 | 555 Paul Michael Lützeler Literarische Kooperation und politisches Engagement Broch und Kahler im Princetoner Exil | 573 Walter Hettche Günter Eichs lyrische Ordnungen Mit einem Seitenblick auf Ilse Aichingers Gedicht »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße« | 589
Verzeichnis der Schriften Friedrich Vollhardts | 615 Personenregister | 637
Frieder von Ammon, Cornelia Rémi, Gideon Stiening
Festspiele der praktischen Vernunft Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag
1 Apollon und Kalliope Ihre Blicke treffen sich nicht – und doch sind diese beiden einander so intensiv und aufmerksam zugewandt, dass sie sich in dieser Zuwendung gleichsam umschlingen, wenn auch ohne jede körperliche Berührung, ohne auch eine Form von Leidenschaft zu signalisieren. Im Gegenteil wirken beide Figuren körperlich und physiognomisch gefasst; sie sitzend, er stehend, deuten beide eine Hierarchie an, die nicht unmittelbar ihrem Geschlechterverhältnis entspringt. Dabei stützt er, dessen Mantel weite Teile seines Oberkörpers frei gibt, sich auf einen Stab, der mit einem Lorbeerzweig geschmückt ist, während sie, deren Chiton und Mantel nur ihre Arme unbedeckt lassen, eine Lyra in der rechten Hand hält, die sie ihm zu übergeben andeutet. Die Abbildung – eine Vasenmalerei aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert1 – lebt von der Gleichzeitigkeit von mentaler Anspannung und körperlicher Gefasstheit beider Figuren. Wir sehen das Liebespaar, das den größten Sänger der griechischen Mythologie zeugte: Orpheus. Mehrfach hat die Kunst der Antike versucht, die Beziehung zwischen dem olympischen Gott Apollon und der Muse Kalliope im Bild zu fassen. Stets wurde diese Liebe, aus der neben Orpheus auch Linos, der Lehrer des Herakles, hervorgegangen ist, als eine erotische dargestellt, charakterisiert zwar durch Innigkeit, nicht aber durch wilde Leidenschaft – bleibt doch auch Orpheus, jener Sänger, der Natur, Menschen und Götter mit seiner Kunst zu überzeugen weiß,
|| 1 Der von der Forschung nur als »Maler von München 2325« bezeichnete Künstler (vgl. Corpus Vasorum Antiquorum 2 [1944], Tafel 76, 3–3, 78 2–3, 6), von dem mehrere Vasenmalereien überliefert sind, verfertigte diese attische rotfigurige Pelike um 430 v. Chr.; dass hier Apollon und Kalliope abgebildet sind, ist nachgewiesen bei Florian Knauß (Hg.): Die Unsterblichen – Götter Griechenlands. Ausstellungskatalog. München 2012, S. 146; für ausführliche Informationen über diese Vasenmalerei sowie großzügige Hilfe bei der Verwendung als Abbildung danken die Herausgeber Frau Dr. Astrid Fendt von der Staatlichen Antikensammlung und Glyptothek München.
2 | Frieder von Ammon, Cornelia Rémi, Gideon Stiening
stets Gegenspieler des ekstatischen Dionysos, dessen Künste unrettbar überwältigen. Zu fassen und zu gestalten war hier ein bestimmtes Verhältnis von zunächst erotischer, später sexueller Leidenschaft und kunstfertiger Vernünftigkeit, das eine übermenschliche, wenn auch keineswegs göttliche Genialität praktischer Ästhetik hervorbrachte: Orpheus’ Gesang.2 Dabei zeigt der Lorbeerzweig in Apollons Hand an, dass seine Zuneigung zu Kalliope nicht seine erste oder einzige ist, weil jene Pflanze auf die unglückliche Liebe zu Daphne verweist, mit der sich Amor am spottenden Olympier rächte.3 Erkenntnis und moralische Gesinnung sind zwar Dichtung und Wissenschaft zugetan, aber doch nicht ausschließlich ihnen. Dass allerdings Kalliope ihre Leier an Apollon zu übergeben scheint und damit die in der Haltung beider Figuren angedeutete Hierarchie bestätigt, deutet an, dass es letztlich das Licht der Erkenntnis und die Überzeugung moralischer Gesinnung sind, welche der Dichtung und den Wissenschaften den rechten Weg weisen. Die intensive und folgenreiche Verbindung Apollons und Kalliopes ist in ihrer Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft also ebenso komplex wie einzigartig. Angemessen darstellen ließ sie sich daher nur, indem man sowohl dem Gott als auch der Muse Eigenschaften zuschrieb, die eine Affinität beider Figuren durch Gemeinsamkeiten und durch Unterschiede nahelegten. So ist der olympische Gott zunächst einer des Lichts, der Heilkraft, der moralischen Gesinnung und der Mäßigung, d. h. der Erkenntnis sowie der noch ununterschiedenen technisch-praktischen, moralisch-praktischen und prudentiellen Vernunft. Auf der Grundlage dieser substanziellen Vernünftigkeit ist er zugleich Beschützer der olympischen Musen, die zu seinem Gefolge gehören; mit drei von ihnen zeugt er Nachkommen. Apollons Liebe zu Kalliope und ihren Schwestern lässt erkennen, dass unterschiedliche Formen einer auf Praxis ausgerichteten Vernunft einerseits und die verschiedenen Künste anderseits für die Antike in einem engen, allerdings nicht notwendigen Verhältnis zueinander standen. Dabei sind Kalliope mit der epischen Dichtung und der Rhetorik gerade jene Sprachkünste zugeordnet, die rational rekonstruierbaren Regeln gehorchen. Nicht zufällig ist Kalliope als vernünftigste und also »edelste« unter den Musen zugleich auch Schutzgöttin der Philosophie und der Wissenschaften und damit jener Wissensformen, die Apollon verkörpert. Doch umfasst ihr Herrschaftsbereich noch weit mehr als die Felder der praktischen Vernunft; er erstreckt sich auf sämtliche Wissenschaften, auf die Physik und die epische Dichtung ebenso || 2 Siehe hierzu und zum Folgenden Hesiod: Theogonie, 75ff. 3 Siehe hierzu Ovid: Metamorphosen I, 452–567.
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wie auf den kreativen Umgang mit den normativen Gebieten praktischen Wissens. Die Dichtung steht dabei jedoch stets an erster Stelle. Es gibt folglich eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Apollon und Kalliope. Sinnlichkeit und Vernunft werden durch beide Figuren in je unterschiedlicher Gewichtung korreliert und so kultiviert; nach Hesiod tragen sie in sich eine Tendenz zum je anderen. Dabei beruht diese Tendenz auf einer formalen Differenz: Die Muse Kalliope ist dem olympischen Gott Apollon als Mitglied seines Gefolges untergeordnet. Das Vasengemälde, das diesem Band als Titelbild dient, illustriert diese facettenreiche Affinität zwischen Apollon und Kalliope: Es veranschaulicht ein enges und sinnliches, aber zugleich von Vernunft gezügeltes Verhältnis. Für Betrachter, die der verwickelten Handlungsstränge der griechischen Mythologie kundig sind, ist zu erahnen, dass dieses Verhältnis nicht statisch und dauerhaft bleibt, sondern in vielfältigen Annäherungen immer wieder neu zu formen und zu gestalten ist.
2 Literatur und praktische Vernunft Überzeugend wirkt das Vasengemälde auch, weil es verdeutlicht, dass Dichtung und Literatur einerseits, die Felder der praktischen Vernunft andererseits zwar eine Beziehung zueinander eingehen können, aber nicht notwendig aufeinander angewiesen sind. Selbst im Zeitalter postmoderner Vernunftverachtung dürfte man sich darauf verständigen können, dass sich eine solche enge und leidenschaftliche Verbindung von Dichtung und praktischer Vernunft in zahlreichen historischen Beispielen nachweisen lässt. Dabei braucht man jedoch keineswegs umgehend an Gottsched zu denken, der Dichtung streng auf die Grundsätze einer rationalistischen Moral verpflichten möchte,4 oder an jene »Praxis«, zu der Literatur nach dem linguistic turn a priori erklärt wird.5 Schon der Antike nämlich war zum einen die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie geläufig. Ziel dieser Distinktion, die als erster Aristoteles präzise formuliert hat, ist es, zwei Arten von Sätzen voneinander zu unterscheiden: Sätze, die in Handlungskontexten auf Ziele, Zwecke und || 4 Siehe hierzu u. a. Frederic Beiser: Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing. Oxford 2009, S. 72–100. 5 Vgl. hierzu u. a. Stephan Mussil: Literatur und Geist. Überlegungen zur Theorie der literarischen Praxis. In: Alexander Löck, Jan Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Berlin, New York 2010, S. 427–449.
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Normen ausgerichtet sind, und Sätze, die über Ursachen, Wirkungen und Mittel urteilen.6 Die erste Art solcher Sätze findet sich beispielsweise in ethischen, politischen oder auch theologischen Sachverhalten und Theorien; dagegen suchen ontologische, erkenntnistheoretische oder naturwissenschaftliche Begriffe und Theorien, die zweite Art zu erfassen. Setzt man dieses Verständnis von praktischer Vernunft voraus so lässt sich nicht nur, aber in besonderem Maße seit der Frühen Neuzeit ein sehr enges, bisweilen gar leidenschaftliches Verhältnis zwischen der Literatur und den Feldern der praktischen Vernunft, Ethik, Politik, Recht und Religion, beobachten. So hat Kurt Wölfel ganz zu Recht schon vor einiger Zeit Lessings Ringparabel ein »Festspiel der praktischen Vernunft« genannt.7 Zum anderen lässt sich ebenfalls seit der Antike auch eine präzise bestimmte und so auch begrenzte Korrelation zwischen Dichtung und Vernunft überhaupt ausmachen, die gleichfalls als erster Aristoteles formuliert hat. Gegen alle ihre Kritiker – von Platon über Kant bis Baudrillard – gehört es nämlich zur historischen Substanz der Literatur, dass sie in ihren vielfältigen Gestalten versucht, mit dem sprachlich veranschaulichten Besonderen auf ein Allgemeines zu verweisen,8 dessen poetische Reflexion die Dichtung allererst von der Geschichtsschreibung unterscheidet. Solches Allgemeine, auf das die literarische Reflexion abzielt, ist jedoch a priori in den vernünftigen Begriff zu fassen9 – sei es seinem Inhalte nach auch »höher denn alle Vernunft« (Phil 4,7). Bereits seit der Antike also wird Literatur in unterschiedlicher Weise auf die Vernunft einschließlich ihrer praktischen Seite bezogen – nicht allein im Hinblick auf die Funktionen der Literatur, sondern auch durch kritische Reflexion der Bedingungen, unter denen sie sprachlich und historisch überhaupt möglich wird.
|| 6 Siehe hierzu Aristoteles: Über die Seele. Griechisch-Deutsch. Hg. von Horste Seidl. Hamburg 1995, S. 192/193ff. 7 Kurt Wölfel: Über Lessing Dramen. In: Gotthold Ephraim Lessing: Dramen. Hg. und mit einem Nachwort von Kurt Wölfel. Frankfurt a. M. 1984, S. 845. 8 Siehe hierzu Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 13–15 (Kap. 9). 9 Siehe hierzu Andreas Kablitz: Die Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg 2013, S. 219ff.
Festspiele der praktischen Vernunft | 5
3 Friedrich Vollhardts Forschungen zwischen scientia poetica und philosophia practica universalis Das Verhältnis zwischen Literatur einerseits und Ethik, Politik und Theologie andererseits ist einer der vielen Schwerpunkte in der Arbeit Friedrich Vollhardts, dem die Beiträge des nachfolgenden Bandes zum 60. Geburtstag gewidmet sind. Seine Auseinandersetzung mit diesem Gebiet begann bereits in seiner preisgekrönten Dissertation, im Rahmen seiner Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie »Die Schlafwandler« Hermann Brochs.10 Methodisch behutsam setzte er hier philosophische und literarische Texte in ihrer historisch gewachsenen Form ausdifferenzierter Modernität zueinander in Beziehung. Das sich in dieser Studie anbahnende Problem einer methodisch abgefederten Korrelation von Sozial- und Ideengeschichte der Literatur blieb seitdem ein zentraler Gegenstand von Vollhardts Forschungen. Anders gestaltet sich das Verhältnis von Literatur und praktischem Wissen in der Frühen Neuzeit, dem zweiten historischen Schwerpunkt der Arbeiten Vollhardts. Wer sich mit den Texten dieses Zeitraums wissenschaftlich beschäftigen möchte, hat eine entscheidende Voraussetzung zu berücksichtigen: Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nämlich galten literarische und philosophische bzw. wissenschaftliche Reflexionen als Formen der Gelehrsamkeit nicht als substanziell verschieden. In seiner Habilitationsschrift Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert wies Vollhardt diesen Sachverhalt für das Feld der politischen und ethischen Theoriebildung und deren Einfluss auf die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts nach.11 Am Beispiel moraldidaktischer Literatur dokumentierte er, wie stark das Naturrecht als zentrale politische Theorie der Aufklärung seit Pufendorf Form und Gehalt jener Literatur in ihrer noch vormodernen, aber zusehends säkularisierten Prägung beeinflusst. Am Werk Gotthold Ephraim Lessings, das seit über zwei Jahrzehnten zu den bevorzugten Forschungsgegenständen Friedrich Vollhardts gehört, lässt sich das gesamte Problemfeld des Verhältnisses von Literatur und praktischer Ver|| 10 Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie »Die Schlafwandler« (1914–1932). Tübingen 1986. 11 Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001.
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nunft präzise vermessen. Denn Lessing hat – nicht allein im Hinblick auf den aufklärerischen Toleranzdiskurs12 – die literarischen, theologischen und philosophischen Reflexions- und Darstellungsformen des 18. Jahrhunderts nahezu vollständig aufgegriffen und ihre Grenzen mühelos überwunden – ohne sie jedoch einzureißen. Vielmehr definiert er diese Grenzen im Sinne des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts neu und bekräftigt damit Leistung und Potential dieser Formen in ihrem vielfältigen Neben- und Miteinander. Friedrich Vollhardt hat die Wege und Umwege von Lessings Denken in vielen Facetten erforscht und dabei jene systematische Einheit in ihrem historischen Wandel zu bestimmen unternommen, die Lessing auszeichnet. Auch hier wird man – mit Wölfel – von Festspielen der praktischen Vernunft sprechen können. Die in diesem Band zusammengeführten Studien können weder das weit gespannte Thema noch die Beiträge Friedrich Vollhardts zur Beantwortung der damit verbundenen Fragen hinreichend reflektieren. Sie wollen aber ein Anstoß sein für weitere Auseinandersetzungen mit der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit und der Moderne, die im Sinne Vollhardts Literatur, Philosophie, Theologie, Ethik, Politik, Recht und Geschichte auf produktive Weise miteinander verbinden. Die Herausgeber danken Jacob Klingner und Maria Zucker vom DeGruyterVerlag für ihre große Unterstützung bei der Entstehung und Fertigstellung dieses Bandes. Darüber hinaus – und nicht zuletzt – danken sie allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge.
|| 12 Vgl. hierzu die beiden jüngst erschienenen Bände Friedrich Vollhardt (Hg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2015 sowie Achim Aurnhammer/Giulia Cantarutti/Friedrich Vollhardt (Hg.): Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Berlin/Boston 2016.
| Grundlegung
Dieter Henrich
Moderne Kultur und ›wahre‹ Philosophie Perspektiven einer Bilanz Hegels von 1802
1 Einleitung Hegels Abhandlung Glauben und Wissen erschien im Juli 1802. Der Text füllte das erste Heft des zweiten Bandes des ›kritischen Journals‹, das Schelling mit Hegel zusammen herausgab. Hegels Abhandlung will die bedeutendsten Positionen der Philosophie der Zeit als ›Positionen der Reflexionsphilosophie‹ in ihrem Zusammenhang analysieren. Aus diesem ihnen gemeinsamen Grundzug folgt, dass sie dem, was sie als Wissen verstehen, eine andere Weise der Gewissheit zuordnen und dem Wissen gegenüberstellen. Dies, dass sie mit einem Glauben abschließen, unterscheidet sie alle von der Philosophie, die nun, nachdem sie vorausgegangen waren, zuerst in Schellings Werk, hervortreten konnte. Hegel bestimmt damit der ›wahren‹ Philosophie (I, 155)1 zugleich einen historischen Ort – und zwar einen solchen, an dem sie nicht nur wirklich auftritt, sondern der ihr – so wie jeder Philosophie – notwendig zukommt: Die Bedingungen, unter denen sie entsteht, sind zugleich ihre internen Voraussetzungen. Sie muss sich von ihnen abstoßen und frei machen, ist aber damit von ihrem Vorausgehen zugleich abhängig. Das gilt in dreifacher Hinsicht: (a) Die begrifflichen Ressourcen des Denkens müssen herausgearbeitet sein und (b) die Aufgabe der wahrhaften Philosophie muss von dem her einsichtig sein, wodurch sich die vorausgehenden Positionen der Philosophie als beschränkt und als unzureichend für einen angemessenen Gedanken von einem Absoluten erweisen. Zudem (c) muss die Philosophie erkennen, wodurch die vorausgehenden philosophischen Konzep|| 1 Auf die Abhandlung wird hier (innerhalb des Textes in Klammern) nach dem ersten Band der ersten Werkausgabe verwiesen, der von Karl Ludwig Michelet herausgegeben wurde (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Erster Band. Philosophische Abhandlungen. Hg. von Karl Ludwig Michelet. Berlin 1832, hier S. 1–157). Gründe dafür nennt der nachfolgende Abschnitt 2. Für den Leser ergeben sich aus dem weitgehenden Fehlen von Seitenkonkordanzen derzeit leider bei jeder Zitierweise Probleme der Nachverfolgung. Sie mindern sich hier dadurch, dass die Interpretation auf die vier letzten Absätze des Textes von Glauben und Wissen konzentriert ist. Frei an den Wortlaut der Texte angelehnte Paraphrasen stehen im Folgenden in einfachen Anführungszeichen.
10 | Dieter Henrich
tionen mit der Bildung ihrer Zeit verbunden waren; und sie muss aus dieser Bildungswelt die für sie wesentlichen Momente hervorheben und sie in ihrer Begrenztheit begreifen, indem sie ihnen ihren Platz im Ganzen eines tieferen Verstehens einzuräumen weiß.2 Der letzte Zug ist charakteristisch für Hegels Denkweise und für das besondere Potential der historischen Analyse, das mit ihr verbunden ist. Es hat in der Folge die Phänomenologie des Geistes entstehen lassen. Seither hat er das Interesse derer auf sich gezogen, die dem Zusammenhang zwischen der allgemeinen Bildungsgeschichte und deren Manifestationen in der Kunst, der Religion und der Philosophie nachgingen und sich des Gewichts der Frage bewusst waren, was eigentlich ›Bildung‹ bedeutet und wie die Geschichte, der sie unterliegt, verständlich zu machen ist. Die Beziehung von Philosophie auf die Bildung ›ihrer‹ Zeit durchzieht die Anlage und die Analysen von Hegels Abhandlung im Ganzen. Die grundlegende Bedeutung dieser Perspektive tritt jedoch nur in einer Einleitung und einem kürzeren Schlusstext ausdrücklich hervor. Beide bilden den Rahmen, in den Hegels kritische Diagnosen der Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes hineingestellt sind. Hegel betrachtet diese drei, deren Autoren alle drei noch am Leben waren und die Debatte der Zeit immer noch bestimmten, als die in Wahrheit schon vergangene ›vollständige‹ Herausbildung der Reflexionsphilosophie und der Glaubenslehre, die der wahren Philosophie unmittelbar vorausgeht. Er stellt sie in seiner kritischen Analyse so gegeneinander, dass diese Vollständigkeit einsichtig wird. Doch Einleitung und Schlusstext geben über den Anspruch und den besonderen Zugriff des kritischen Textes erst den eigentlichen Aufschluss. Im Folgenden soll der Schlussteil näher betrachtet werden. Einer der Gründe dafür ist, dass in dem Text ein Thema betont wird, das in der philosophischen Debatte der Zeit durch Jacobis ›Sendschreiben an Fichte‹ von 1799 eine herausragende Bedeutung erhielt: ›das Nichts‹. Auf ein solches Nichts – wie immer es zu verstehen ist – nimmt Jacobi mit seinem Vorwurf gegen Fichte in jenem ›Sendschreiben‹ Bezug, dessen Philosophie laufe auf einen ›Nihilismus‹ hinaus. In der Intellektualgeschichte der Moderne und in der Literatur war ein solches ›Nichts‹ schon seit langem auf bedrängende Weise gegenwärtig gewesen. Hegel will nun, so wie es seiner allgemeinen Zugangsweise entspricht, über diesen Befund im Gang des Philosophierens selbst Rechenschaft geben. Das
|| 2 Zu Hegels Begriff von Bildung und seinen Besonderheiten vgl. Ernst Lichtenstein: Von Meister Eckart bis Hegel. Zur philosophischen Entwicklung des deutschen Bildungsbegriffs. In: Friedrich Kaulbach/Joachim Ritter (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Berlin 1966, S. 260–298.
Moderne Kultur und ›wahre‹ Philosophie | 11
setzt voraus, dieses ›Nichts‹, das Jacobi ›so sehr verabscheute‹ (I, 133, 105f.), in der Philosophie selbst zu adaptieren und ihm den ihm zustehenden, zuvor aber verweigerten Platz einzuräumen.
2 Textprobleme Bevor auf den Inhalt des Schlusstextes eingegangen werden kann, ist in diesem besonderen Fall ein Problem der Textgestalt zu erörtern und aufzulösen. Die wenigen Seiten dieses Textes weisen in den meist gebrauchten Ausgaben nicht dieselbe Gliederung der Absätze auf. Dabei weist die Akademie-Ausgabe,3 die sich in der Zukunft als verbindlich durchsetzen sollte, nur zwei Absätze aus. Die verbreiteten Ausgaben von Hermann Glockner4 und der ›Theorie-Werkausgabe‹ des Suhrkamp-Verlags5 folgen weitgehend dem 1. Band von ›Hegel’s Werke‹, die bald nach Hegels Tod von 1832 an zu erscheinen begannen. Sie weisen mit dieser ersten Werkausgabe vier Absätze auf. Ich meine nun, dass die Gliederung in vier Absätze der Intention Hegels entspricht, und werde ihr auch deshalb folgen, weil in der Akademie-Ausgabe die Anlässe für diese Abweichung nicht erörtert sind. Ihr gegenüber nehme ich, wie die verbreiteteren Ausgaben, einen zusätzlichen Absatz mit dem Beginn in der Zeile 22 von Seite 413 der AkademieAusgabe an, und einen weiteren mit Beginn Zeile 34 derselben Seite. Die Absätze wurden offenbar von Karl Ludwig Michelet, dem Herausgeber des ersten Bandes von 1832, eingefügt. Es wird nicht zu ermitteln sein, ob Michelet etwa in Hegels Nachlass ein Exemplar des Kritischen Journals fand, in dem diese Absätze markiert waren. Die Akademie-Ausgabe von 1968 folgt jedenfalls korrekt dem Text dieses Journals, das nur den einen Absatz aufweist, der in der Akademie-Ausgabe in Zeile 10 der Seite 413 zu finden ist.6 || 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Bd. 4: Jenaer kritische Schriften. Hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler. Hamburg 1968 (als erster Band der Gesamtausgabe erschienen). 4 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. von Hermann Glockner. Bd. 1: Aufsätze aus dem kritischen Journal der Philosophie und andere Schriften aus der Jenenser Zeit. Stuttgart 31958. 5 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ediert. Bd. 2: Jenaer Schriften 1801–1807. Hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970. 6 Es ist anzumerken, dass die Akademie-Ausgabe in ihrer Behandlung von Absätzen im Original nicht den Prinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe genügt. Im Kritischen Journal
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Wenn man eine weitere Gliederung in Absätze gegenüber dem Text des Journals überhaupt vornehmen will, so kann dies nur an den beiden Stellen geschehen, an denen Michelet Umbrüche einfügte. Denn die Absätze, die sich so ergeben, enthalten nur einen einzigen, einen jeweils wahrhaft überlangen Satz. Die Sätze entfalten jeweils eine komplexe Entwicklung eines Gedankens. In sie sind über die Folge der Absätze in wachsendem Ausmaß Seitenblicke auf zusätzliche Argumente und Perspektiven eingefügt – mit der Folge, dass der letzte Absatz in seinen Entwicklungen, die meist der weiteren Explikation bedürfen, ein Paradebeispiel für Hegels Vortragsstil bietet, der wegen seiner gedrängten, nur mühsam beherrschten Fülle als stockend wahrgenommen worden ist. Schelling selbst stimmte mit August Wilhelm Schlegel im Tadel zumal am Stil und dem Mangel an ›Klarheit‹ von Hegels Text überein.7 Aus der gedrängten Fülle von Hegels Texten ergeben sich aber zugleich ein besonderes Interesse an ihnen und die Notwendigkeit zu ihrer Explikation. Ein wichtiger Grund für die Einfügung von zwei Abschnitten in den Text konnte sich für Michelet daraus ergeben, dass die überlangen Sätze, die dem Abschnitt im Journal folgen, einen ebenso guten Grund für Hegel ergeben hätten, einen Absatz vorzusehen, wie der Text vor und nach dem Absatz, der sich wirklich in dem Journal findet. Im Folgenden wird gezeigt werden, dass die Sätze jeweils einen neuen Einsatz in der Führung eines Gedankenganges nehmen, der an den vorausgehenden angeschlossen ist, ihn aber nicht unmittelbar weiterführt. Dies wäre nicht ebenso leicht zu erkennen, wenn man der Gliederung des Textes im Kritischen Journal folgt und die drei letzten Riesensätze zu einem Absatz zusammengebunden lässt. So hätte also Michelet als treuer Hegelianer die Absätze um der Verständlichkeit des Ganzen willen und in Übereinstimmung mit dem Rhythmus von Hegels Gedankengang einfügen können. Michelet hatte aber auch einen Grund aus dem Textbefund des Journals selbst, auf eine Weise in den Text einzugreifen, die einer historisch-kritischen Ausgabe in der Tat nicht angestanden hätte: Der Text von Hegels Aufsatz um-
|| treten doppelte Absätze neben einfachen Absätzen auf – eine Unterscheidung, die für das Verständnis durchaus Bedeutung haben kann. Die Akademie-Ausgabe ignoriert diesen Unterschied durchweg. Michelet beachtet ihn wenigstens häufig, wenn auch durchaus nicht konsequent. So hat Michelet an einer Stelle dort, wo in Hegels Text nur ein Gedankenstrich stand, einen Absatz eingefügt, was die Akademie-Ausgabe korrigiert hat (Hegel: Gesammelte Werke [Anm. 3], S. 160 oben). Daraus ergibt sich einerseits, dass es Michelet schon zuzutrauen wäre, aus einem gegebenen Anlass Absätze einzufügen. Anderseits erweist sich die AkademieAusgabe als nicht hinreichend aufmerksam auf den Informationsgehalt der Gestaltung von Absätzen. 7 Hegel: Gesammelte Werke [Akademie-Ausgabe] (Anm. 3), S. 538f.
Moderne Kultur und ›wahre‹ Philosophie | 13
fasst im Journal genau 192 Seiten und also 18 Bogen, den Bogen in Oktav nach der sich aus der Faltung des Bogens ergebenden Seitenzahl. Auf der Schlussseite 188 (nach vier am Anfang stehenden Seiten mit römischer Bezifferung) reicht der Text bis nahezu an den unteren Rand. Die Seite 188 hat 23 Textzeilen, statt der 30 Zeilen, die dem normalen Satzspiegel entsprechen. Jeder Absatz hätte dazu geführt, dass eine Zeile freizulassen war. Zudem hatte der vorausgehende Absatz zu enden, wohin sein Text reichte, also gegebenenfalls auch am Anfang seiner letzten Zeile. Zu Beginn des nächsten Absatzes war die neue Textzeile einzurücken. Auf Seite 187, wo die Absätze hätten auftreten müssen, wäre somit ein Verlust von wahrscheinlich sechs Zeilen eingetreten. Auf Seite 188 wäre in der Folge davon der Text am unteren Rand mit einer Zeile Abstand zu Ende gegangen. Damit hätte man am Text selbst nicht unmittelbar erkennen können, dass das Ende der ganzen Abhandlung nunmehr erreicht war. Der Schlussstrich nach einem Abstand in der Mitte der Zeile, der nach jedem Textteil des Journals vorgesehen und üblich war, hätte keinen Platz mehr gefunden. Im wirklichen Text von Hegels Abhandlung findet er sich nun, den Regeln gemäß, drei Zeilen unterhalb des Textendes. Die Schriftsetzer des Verlegers Cotta in Tübingen waren intelligente Menschen, die in unserer Zeit wohl alle einen akademischen Titel führen könnten. Zudem waren sie von Haus und von der Verlagsseite aus an Sparsamkeit gewöhnt. Als sich abzeichnete, dass sie auf dem zwölften Bogen Hegels Text mit allen Absätzen nicht hätten unterbringen können, konnten sie kaum zu einer Kürzung des Textes, wohl aber zum Weglassen von Absätzen veranlasst sein, wenn dadurch Hegels Text auf der letzten Seite des Bogens für das Journal einen regulären Abschluss finden konnte. Hegel hätte als Autor und noch mehr als Mitherausgeber des Journals dem Verfahren kaum widersprochen, da ökonomische Gründe und solche der Buchherstellung gleichermaßen dazu nötigten. Man kann Michelet, der mit der Praxis der Drucker in Hegels Lebenszeit noch vertraut war, wohl eher zutrauen, dass er diesen Zusammenhang durchschaute, als dass er einzig in pädagogischer Absicht in Hegels Text Absätze einfügte, die Hegel nicht vorgesehen hatte.8 So haben wir also viele gute Gründe
|| 8 Die Herausgeber der Akademie-Ausgabe haben über die Bogenzahl von Hegels Abhandlung berichtet (Hegel: Gesammelte Werke [Anm. 3], S. 531) und auch den Strich reproduziert, mit dem der Schlussteil von Hegels Text von dem Vorausgehenden abgetrennt ist. Den Strich am Schluss des Ganzen zu reproduzieren, war nach ihren Editionsrichtlinien wohl nicht erforderlich. In einer künftigen Auflage sollte aber auf einen plausiblen Grund für das Fehlen der Absätze im Original des Drucks, die Michelet dann einfügte, hingewiesen werden.
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dafür, in der Exegese den Ausgaben zu folgen, die nicht den Prinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe unterstellt worden sind.9
3 Zur ersten Klimax (Abschnitt 2 und 3) Wir haben nun die Möglichkeit, die vier Absätze zu beziffern und einem jeden ein besonderes Thema zuzuordnen. Die Abfolge dieser Themen ergibt sich aus dem Ziel der Schrift, die in diesen Absätzen zum Abschluss kommt: Sie soll aus der Kritik einer Beschränkung, die allen Philosophien, die der ›wahren‹ Philosophie vorausgehen, gemeinsam ist, das Profil dieser neuen, der eigentlichen Philosophie hervortreten lassen. Dabei soll insbesondere deutlich werden, dass diese wahre Philosophie Themen in sich zu integrieren und ihnen dadurch gerecht zu werden hat, welche in der Kultur der Zeit bedeutsam geworden waren. Die ›Reflexionsphilosophie der Subjektivität‹ konnte sich nur de facto in sie verwickeln, ohne sie von dem Grund ihrer eigenen Begrenztheit begreifen und damit allererst in eine philosophische Gestalt transformieren zu können. Zunächst sind alle vier Absätze kurz zu charakterisieren. Danach wird näher auf sie eingegangen.10 ABSATZ 1 stellt heraus, was die kritisierten Formen der Philosophie miteinander verbindet und wodurch sie zu einem vollendeten Zyklus werden, dessen Vollendung die historische Voraussetzung für das Hervortreten der wahren Philosophie ist. ABSATZ 2 zeigt auf, worin dennoch ein innerer Zusammenhang zwischen der Philosophie, die zu Ende gekommen ist, und der wahren Philosophie gelegen ist. ABSATZ 3 legt dar, dass alles eigentlich nur an einem einzigen Punkte lag, an dem sich die kritisierte Philosophie dagegen sperren musste, in den Standpunkt der wahren Philosophie ›überzuschlagen‹. ABSATZ 4, der gedrängteste, reichste und bedeutendste der vier Sätze, bestimmt, wodurch die
|| 9 Anders als die Ausgabe des Meiner-Verlags von Hans Brockard und Hartmut Buchner (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften [III]. Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Hg. von Hans Brockard/Hartmut Buchner. Hamburg 1986). 10 Interpretationen der Abhandlung finden sich bei Markus Kleinert: Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard. Berlin 2005, S. 7–34, und Günther Ralfs: »Glauben und Wissen«. Eine Interpretation von Hegels Journal-Aufsatz aus dem Jahre 1802. In: G. R.: Lebensformen des Geistes. Hg. von Hermann Glockner. Köln 1964, S. 214–258; vgl. auch Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart 1986, S. 141f.
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wahre Philosophie der kulturellen Erfahrung gerecht werden kann, in welche die kritisierten Philosophien nur eingebunden sind, und wie sie sich dadurch zugleich über sie erhebt. Der ERSTE SATZ stellt zunächst die Trias der kritisierten Philosophien als Ergebnis einer ›Revolution‹ und in ihrem Unterschied gegen den ihnen noch ›vorausgehenden Dogmatismus der Reflexionsphilosophie‹ dar. Schon diese frühere Epoche stand unter dem Zeichen von ›Reflexion‹. Hegel charakterisiert sie als ›Dogmatismus des Seins‹ und als ›Metaphysik der Objektivität‹. Reflexion ist das Verfahren, durch das etwas als bestimmt gesetzt wird, was bedeutet, dass sie es durch einen Gegensatz charakterisiert.11 Jede Reflexionsphilosophie ist also eine Position, die dies Verfahren auf das ›Absolute‹ anwendet, das als solches über jedem Gegensatz zu denken ist und dies Absolute damit doch unvermeidlich in ein Entgegengesetztes verwandelt. Hegel spricht von der früheren Reflexionsphilosophie in einer Übereinstimmung mit Kant als von dem ›Dogmatismus des Seins‹, der durch Kant selbst in einen anderen Dogmatismus, den des Denkens, transformiert wurde – in eine ›Reflexionsmetaphysik‹, die ›das Absolute‹ in eine andere Trennung, nämlich die des Denkens unter dem Prinzip Subjektivität überführt. Dass diese Position sich in drei Formen ausdifferenzieren muss, und wie sich die drei voneinander unterscheiden, hatte Hegel im Gang der Abhandlung mehrfach dargelegt: Für alle drei ist die innere Form des Subjektes zugleich die Grundlage für die Objektivität der Gedanken. Dass diese Form dem endlichen Subjekt innewohnt, führt dazu, dass die Idee des Ganzen in ein unerreichbares Jenseits transponiert werden muss. Jacobi stellt, anders als Kant, die Differenz zwischen dem endlichen Subjekt und der Idee der Identität von Subjekt und Objekt an den Anfang und lässt die Vermittlung zwischen beiden selbst zu einem subjektiven Prozess werden. Fichte hingegen setzt Jacobis lebendige Subjektivität in die absolute Form selbst hinein. Damit wird der Gegensatz explizit als ein unlösbarer gesetzt: die subjektive Form kann sich von dem entgegengesetzten Objektiven niemals lösen, sondern ist in einem unendlichen Prozess der Entgegensetzung und des Sich-Entgegensetzens an sie gebunden.
|| 11 In der vermutlich im Winter 1801/1802 gehaltenen Vorlesung über Logik und Metaphysik ist dem unendlichen Erkennen, das ›Spekulation‹ heißt, »das endliche Erkennen, oder die Reflexion« gegenübergestellt (Hegel: Gesammelte Werke [Akademie-Ausgabe] [Anm. 3] Bd, 5, S. 271, vgl. S. 659). Um zum unendlichen Erkennen zu gelangen, muss das endliche »vernichtet« werden.
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In unserem Zusammenhang tritt diese Verhältnisbestimmung hinter die Diagnose Hegels zurück, die das Verhältnis dieser Trias zu Kultur und ›Bildung‹ ihrer Zeit herausstellt. Die Revolution der Philosophie beruht zunächst darauf, dass sich die Philosophie in die neuere Kultur der Subjektivität eingegliedert hat. Sie hat die zuvor geltenden Gedanken von Seelending und Weltding in der ›Farbe‹ des Innern – gemäß der ›neuen modischen Kultur‹ bekleidet. So spricht sie vom Ich, von Erscheinungen und geglaubten Wirklichkeiten sowie von einem Absoluten als einem ausgezeichneten Gegenstand der Vernunft. In dieser Diagnose Hegels vollzieht sich eine erste Distanzierung von den Philosophien seiner Zeit, indem er sie charakterisiert als bestimmt von einer eigentlich wunderlichen, wenngleich im gesamten Geschichtsprozess wohl notwendigen Voraussetzung. Eine zweite Distanzierung ergibt sich daraus, wie der Prozess der Entfaltung der Philosophie zu einer Trias von Philosophien unter dieser Voraussetzung beschrieben wird. Sie gehören der ›Bildung‹ der Zeit an. Unter dieser Bildung versteht Hegel die in einer Zeit wirksame Kraft, die Elemente, welche in der Verfassung eines ›Systems der Lebens-Verhältnisse‹12 zusammengehören, herauszuarbeiten und somit jedes für sich und somit in seiner Beschränkung, aber gemäß der ihm möglichen Vollständigkeit und Vollkommenheit hervortreten zu lassen. Wenn dies ›Bilden‹ vollständig zu Ende gebracht wurde, kann sich nur in dessen Resultat manifestieren. Dann aber ist die Möglichkeit eingetreten, dass sich die Philosophie aus der Bindung an die Bildung ihrer Zeit erhebt. So sie es tut, so sprengt sie die Einschränkung auf einen besonderen Gehalt und Gesichtspunkt, durch die philosophische Systeme ein eingeschränktes Prinzip haben. Aufgrund eben dieser Einschränkung gehören diese Philosophien der Welt der Bildung einer Zeit an, die ihrerseits aus der Trennung des einander Zugehörigen hervorgeht. Der erste Satz schließt mit einer Wendung, die anzeigt: Die wahre Philosophie kann nur aus der Vollendung der philosophischen Bildung hervorgehen. Dass die wahre Philosophie nicht irgendwann die Grenzen der Bildung einfach durchbrechen kann, erklärt sich für Hegel noch nicht aus einem inneren Prinzip der Entwicklung des Geistes, das Perioden der Entgegensetzung auf solche der unmittelbaren Einheit folgen lässt, der wiederum die eigentliche Vermittlung zur Einheit nachfolgen wird. Es versteht sich daraus, dass die Bildung in der Entgegensetzung einen Reichtum an Einzelheiten und formalen Mitteln ›bildet‹, || 12 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: G. W. F. H.: Werke (Anm. 1), S. 159–296, hier S. 175.
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deren Endlichkeit als Fixierung gegeneinander nur zu ›vernichten‹ bleibt, so dass sich eine Totalität als ›vollendete Erscheinung‹ darstellen kann. Was als die wahre Philosophie nun neu hervortritt, beruht nicht auf weiteren Endlichkeiten, dehnt also den Bereich des zu Thematisierenden nicht weiter aus. Heraus tritt vielmehr nur das Prinzip, dem zufolge die Endlichkeit, auf deren Mannigfaltigkeit die philosophische Bildung konzentriert ist, in einer ›ewigen Bewegung‹ entspringt und ebenso ›sich ewig vernichtet‹, wie Hegel im zweiten Satz sagt. In diesem ZWEITEN SATZ erklärt Hegel nunmehr, was die wahre Philosophie mit den Philosophien der Reflexion verbindet: Sie beschreibt, was diese beherrscht, mit den ihr eigenen Mitteln als eine Seite ihrer selbst. Das Prinzip der Philosophie der Reflexion ist die dem Endlichen entgegengesetzte Unendlichkeit, die es ausschließt, zu einem Absoluten zu gelangen. Diese Unendlichkeit hat in der wahren Philosophie jedoch eine Entsprechung: Sie ist dasjenige Denken, das in jedem Gegensatz als Negation präsent ist und ihn damit zugleich aufhebt – eine Bewegung also, die das Entgegengesetzte eintreten lässt und ebenso aufhebt, so dass es schließlich in der Vernichtung aller Gegensätze resultiert. Dies aber ist die Voraussetzung dafür, dass nunmehr die ganze Wahrheit des Absoluten als solche hervortritt, in der Endlichkeit und Unendlichkeit nicht geschieden sind. Eine ›Seite‹ dieser Wahrheit ist eben die Selbstaufhebung des Endlichen insofern, als der Prozess des Endlichen, der ins Nichts des Endlichen führt, selbst zugleich als eine Weise von Unendlichkeit gefasst werden kann: Er ist unendlich, insofern er in einer ›ewigen‹ Bewegung die Selbstaufhebung alles Endlichen begründet. Indem Hegel in seinem zweiten Satz dies herausstellt, gebraucht er Formulierungen, von denen man denken muss, dass sie für die Entwicklungsdynamik eine allgemeine Bedeutung haben. Sie führen zugleich darauf hin, dass im vierten Satz eine Diagnose der Beziehung der wahren Philosophie, so wie Hegel sie gegenwärtig hervortreten sieht, in ihrem Verhältnis zur Bildungswelt der eigenen Gegenwart gewonnen wird – eine Gegenwart, auf deren Vergehen Hegel im Zusammenhang mit dem Auftritt der wahren Philosophie meint rechnen zu können: Die Fixierung von Gegensätzen, auch die des Gegensatzes gegenüber dem Absoluten, ist die ›negative Seite‹ des Absoluten selbst, des Hervorgangs einer Endlichkeit, die selbst ›unendlich ist‹, also einer Endlichkeit, die sich selbst ›ewig vernichtet‹. Diese sich selbst fixierende und sich ›ewig vernichtende‹ Endlichkeit nennt Hegel ein ›Nichts‹, das in anderen Worten die ›reine Nacht der Unendlichkeit‹ ist – also das völlige Verschwinden jedes in Wahrheit bedingt Unbedingten in einem Übergegensätzlichen. Aus eben diesem Nichts
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muss sich die Wahrheit erheben, dass es ein ›geheimer Abgrund‹ und als solcher ›die Geburtsstätte‹ der Wahrheit sei. Zu dieser Aufgipfelung eines der Mystik nahen Sprachgebrauchs scheint Hegel ganz aus sich und aus Treibgut spekulativer Religiosität seiner Jugendzeit inspiriert worden zu sein, ohne die Absicht, eine Quelle zu zitieren. Die Wahrheit tritt hervor als das Offenbarwerden eines Geheimnisses, das notwendig verborgen bleibt und das doch der wirkliche Ursprung dieser Wahrheit ist. So ist es auch die wahre Philosophie, welche die Philosophien der Bildung, indem sie ihren Ursprung als in einem Nichts begründet erkennt, über sich selbst und die eigentliche Bewandtnis aufklären kann, welche den Fixierungen innewohnt, die sie ›bilden‹.
4 Zum Schlussakkord (Absatz 3 und 4) Dass die Wahrheit in nur einem Schritt gegen ihre Verdunklung hervortritt, hat aber zur Voraussetzung, dass die vorausgehenden Philosophien selbst zusammengenommen die Reflexionsphilosophie der Subjektivität ausmachen. Sie haben die Unendlichkeit als ›Subjektivität‹ aufgefasst und damit fixiert. Damit sind sie aber der ›positiven Idee‹, für die ›das Seyn‹ nicht ›außer dem Unendlichen, Ich, Denken‹ ist, näher gekommen als der ›Dogmatismus der Objektivität‹. So kann Hegel im DRITTEN SATZ die Leistung, welche die wahre Philosophie zu erbringen hat, in ihrer Ausdehnung als weit geringer fassen als die Arbeit, welche sowohl von der Metaphysik der Objektivität wie von der Metaphysik der Subjektivität zu leisten war. Die erstere musste ein System allererst herausbilden, das dann die andere in allen seinen Zügen ›umzuschmelzen‹ hatte. Die wahre Philosophie hat sich eigentlich nur der Tendenz der Metaphysik der Subjektivität entgegenzustellen, das Prinzip wiederum in Gegensätzen zu fixieren. Dies Prinzip ist dem Absoluten der wahren Philosophie insofern schon nahe. Denn sein ›innerer Charakter‹ ist Negation, die Hegel hier in Schellings Begriffssprache als eigentlichen Charakter der ›Indifferenz‹ identifiziert. Dies Bild entspricht zwar kaum der Mühe, mit der Schelling seine Philosophie der Natur mit Fichtes Mitteln aufbaute und dem Zögern, über das er sich dann schließlich aus Fichtes Dominanz herauswand. Es entspricht aber Hegels Wahrnehmung von Schellings Weg während der Zeit seiner eigenen Bemühung, sich in Kants Schatten und Hölderlins Umkreis den eigenen Weg zu bahnen. Es war Hegels Plan für die Jenaer Zeit, seinen Freund in der Sicherheit, auf eigenem Grund zu stehen, zu bestärken und ihn dahin zu bringen, dass diese Überzeugung bald und kraftvoll zum Ausdruck kam.
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Doch Hegel sieht selbst mit dem Ziel, die wahre Philosophie aus deren bildenden Formen in reiner Gestalt hervortreten zu lassen, noch eine andere Aufgabe verbunden. In den gewichtigen Formulierungen des VIERTEN SATZES wird sie umrissen. Zwar ist sie von der Aufgabe gar nicht abzutrennen, einen Übergang von der Philosophie der Bildungen zur wahren Philosophie zu bahnen. Jedoch verlangt sie, dass dieser Übergang eine Instrumentierung einschließt, die über die Transposition eines philosophischen Systems in ein anderes hinausgeht. Denn die Systeme gehören historischen Situationen an, die als solche voneinander unterschieden werden müssen. Die bildenden Philosophien sind in ein Bildungssystem einbezogen, von dem die wahre Philosophie, indem sie heraustritt, freigeworden sein muss. Es fragt sich also, wie die wahre Philosophie, die das Bildungssystem hinter sich lässt, dennoch zu ihm in einer Beziehung steht. Die wahre Philosophie kann ihren Gehalt aus den Systemen der Bildungswelt gewinnen, indem sie deren Fixierungen aufhebt. Sie ist ihnen nur insofern entrückt, als sie unter ein neues Prinzip gestellt sind. Was zuvor erarbeitet worden war, wird in ihr also festgehalten. Das gilt nicht allein für die entwickeltste Philosophie der Bildung selbst. Indem für die wahre Philosophie Gegensätze nichts Letztes sind, kann sie die Grundzüge der Positionen, die sich zuvor einander entgegenstellen mussten, im Grunde ihrer Einseitigkeit durchschauen. Infolgedessen kann sie das Wesentliche in dem zusammenführen, was sie gegeneinander geltend machten, ohne dabei eine bloße Mixtur entstehen zu lassen. Man könnte meinen, dass im Unterschied dazu mit dem Wegfall der Fixierungen die Bindung der bildenden Philosophien an die Situation ihrer Zeit von der wahren Philosophie ohne Rest weggleiten könnte. Doch dagegen ist zunächst einmal zu bedenken, dass die Aufhebung der Fixierungen von Gegensätzlichem gegeneinander, welche in der wahren Philosophie geschieht, nicht den Gegensatz als solchen verschwinden lässt. Die Fixierung des Gegensätzlichen aufzuheben heißt nur, die Entgegensetzung nicht als Endzustand zu verstehen. Es heißt vielmehr, der im Entgegengesetzten selbst gelegenen Tendenz zum Übergehen in eine Einheit, die durch das Gegensätzliche bedingt ist, nicht etwa entgegenzuwirken wollen, sondern sie sich in freiem Fortschreiten entfalten zu lassen. Dieser Beziehung der Philosophie zu ihren Vorgängern entspricht nun das Verhältnis der wahren Philosophie zu dem Standpunkt, »den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert« hatten (I, 15).Was diese Philosophie charakterisiert und wodurch sie in die Bildung ihrer Zeit eingefügt ist, entsprechen einander in ihrem Prinzip. Die Vernunft als Subjektivität hat sich als ausgeschlossen vom Unbedingten anerkannt und ihre Betätigung in die
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Unterscheidung von Endlichem sowie Empirischem gesetzt. Zugleich hat sie sich in der Entgegensetzung gegen das Unendliche so fixiert, dass dieses ihr nur als ein reines Jenseits zu fassen bleibt. Das bewusste Leben der Menschen ist diesen Gegensätzen ausgeliefert. Ausschließende Verhältnisse laufen aber auf die Aufhebung des jeweils anderen hinaus. So kann sich von daher das Bewusstsein ausbreiten, dass nichts in sich selbst einen Halt geben kann, insbesondere aber, dass das Unendliche, dem man sich im Glauben zuwenden möchte, derselben Elimination unterliegt, die alles in Endlichkeit Fixierte betrifft. Diesseits aller theoretischen Konzepte breitet sich so ein Bewusstsein aus, in dem sich der Wegfall von in irgendeiner Bestimmtheit Fixiertem geltend macht. Es sieht sich unter Wirklichem, in dem nichts verlässlich ein Unbedingtes anzeigt. Diesem Bewusstsein hat bisher keine philosophische Konzeption in theoretischer Form Ausdruck gegeben. Es artikuliert sich, wie bei Pascal, in einzelnen (›empirischen‹) Feststellungen. Hegel wird annehmen, dass dies Bewusstsein in dem Vorwurf Jacobis gegen Fichte mitklingt, dessen Lehre sei Nihilismus – einem Vorwurf, der in seiner Gestalt als Kritik an einer Theorie seine Tiefendimension nicht auslotet. Der Vorwurf soll in seiner philosophischen Artikulation etwas abwehren, das für Jacobi ohnedies die Bewusstseinslage der Zeit durchherrscht. Jacobi kann ihm aber selbst mit seiner Glaubenslehre wiederum nichts Wirksames entgegensetzen – so wenig wie Fichte, der freilich selbst in seiner Wissenschaftslehre zunehmend das wirksame Palliativ gegen diese Verstrickung gesehen hat. Hegel aber weist der wahren Philosophie nicht nur zu, aus diesem Nihilismus der Bildungswelt herauszuhelfen. Dem zuvor schließt ihre Befreiungsleistung die Aufgabe ein, dem, was im Bewusstsein der Zeit nur ein kaum explizierter Grundzug war, nunmehr innerhalb der Philosophie den ihm gebührenden Platz zu geben. Was die Bildungsphilosophie als Grundbewusstsein ihrer Zeit noch verschleiert und nur sporadisch als erfahrene Wahrheit hat heraustreten lassen, muss begriffen und in den Zusammenhang des Gedankens eingefügt werden. Dann erst kann es seinen Sog verlieren, der dazu führt, latent die Stelle der ganzen Wahrheit selbst zu besetzen. Seit dem 17. Jahrhundert hatte sich der Gedanke eines ›Nichts schlechthin‹ aus der Dominanz des ›Seins‹, das den Gedanken von Gott bestimmte, zu lösen begonnen. Die alten Motive der Vanitas und der Hinfälligkeit alles Lebendigen konnten aus dem Bereich des Glaubens an den Erlöser heraustreten. Und es war möglich, zu einer distanzierten Betrachtung der Nichtigkeit der menschlichen Dinge anzusetzen. Die ›Härte‹ solcher ›Einsicht‹ und der ›unendliche Schmerz‹,
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den sie auslöste, waren dennoch die Erfahrung, die sich zumeist mit dieser Einsicht verband. In den Jahren, in denen Hegel öffentlich hervortrat, erschienen Zeugnisse dafür in bedeutenden literarischen Texten: der Brief Hyperions (in Band 1, Seite 167, (1797), die Schlusswendung der Nachtwachen von Bonaventura (Klingemann [1804]) und, dem Thema nahekommend, Jean Pauls Rede des toten Christus im Siebenkäs (1796ff.). Jacobi hatte seinen Vorwurf gegen Fichte in einem Sendschreiben veröffentlicht, das im Herbst 1799 erschienen war. Hegels Aufsatz über Glauben und Wissen war im Juli 1802 herausgekommen. Diese Daten zeigen, dass Hegel seinen Text in die unmittelbare literarische Umgebung seiner Zeit hat vernehmen lassen wollen. Es ist bemerkenswert, wie weit der Rahmen ist, in den Hegel dies Thema hineinstellt, von dem er zugleich sagt, ›der Abgrund des Nichts, worin alles Seyn versinkt‹, sei »vorher nur in der Bildung geschichtlich« wirklich gewesen. Ihm entspreche »das Gefühl: Gott selbst ist tot«, das ebenso der neueren Bildung zugehört. Der ›Abgrund des Nichts‹ hat offenbar eine viel weiter ausgedehnte Bedeutung als die, welche ihm durch moderne Bildung, die sich in den Endlichkeiten der Reflexion verstrickt, zugewachsen ist. Mit ihm gewinnt ein Grundzug des christlichen Glaubens neuerlich Bedeutung – wenn er auch in der untergründigen Präsenz im modernen Bewusstsein nicht in der gleichen Härte hervortritt – einer Härte, in der er aber wieder erscheinen wird, wenn er seinen Platz als Moment des philosophischen Wissens eingenommen haben wird. In ihm geht die Erfahrung der ›absoluten Freiheit‹ hervor, was hier heißt: eines vollständigen Ausgesetzt- und Auf-sich-Gestelltseins, zusammen mit der Erfahrung des ›absoluten Leidens‹, das mit dem Verlust eines jeden Unendlichen und also der Zugehörigkeit zu ihm eintritt. Diese Erfahrung des Karfreitags, der historisch gewesen ist, soll nun im Denken ›eine philosophische Existenz‹ gewinnen und wieder gegenwärtig werden. Sie soll als Moment der Erkenntnis, somit als ›spekulativer Charfreitag‹, gefasst und also aus dem Gefühl herausgehoben werden, in dem er die Erfahrung der Bildung der Zeit beherrscht hat. In den Schwung, mit dem Hegel diese Periode eines diagnostischen Gedankenflugs aufs Papier warf, sind noch einige weniger gravierende Bemerkungen eingefügt: Den Verlust eines Unendlichen im Leben konnte eine Vorschrift zur Ruhe bringen wollen, welche die ›Aufopferung‹ des ›empirischen Wesens‹, sowohl der Welt wie der Person, moralisch postuliert. Sie könne auch aus der Fähigkeit zur Abstraktion folgen, die zu allem eine Grunddistanz eintreten lässt. Hegel sieht in all dem eine notwendige Voraussetzung dafür, dass in der wahren Philosophie die ›höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde‹ hervortreten kann – in einem Ernst also, der zur Härte der Gott-
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losigkeit den Kontrast bildet. Da sie allumfassend ist und ›die heitere Freiheit‹ ihrer Gestalt erschließt, das Endliche also ohne die Fixierung auf Gegensätze erfahren lässt, wird mit ihr ebenso das Gegenteil zu jenem ›absolute(n) Leiden‹ freikommen. Die Welt wird, wie Hegel zum Beginn seiner Lehre in Berlin sagen wird, ›sich zum Genusse bringen‹.13 Aber er hält es für nötig, das Heitere im Verstehen der Totalität noch einmal ausdrücklich an den Durchgang durch das Leiden des Verlustes und das Verweilen darin zu binden. Denn die frühere dogmatische Philosophie konnte in ihrer Auslegung der Wirklichkeit immerhin auch eine heitere Seite haben. Und die Naturreligionen schließen ihrerseits viele solche Züge froh-befriedigten Lebens ein. Deren Heiterkeit muss also ganz verschwinden. Erst dann ›kann und muss‹ aus dem Leid des absoluten Verlustes die Heiterkeit jenes Genusses, der mit der allbefassenden Einsicht einhergeht – und Hegel schreibt so im Schwung des Satzes wohl mit Bedacht: ›auferstehen‹. Das Motiv des Karfreitags durchklingt den ganzen Satz. Dieser Satz ist das Finale einer kritischen Abhandlung. Sie unterscheidet die ›wahre‹ Philosophie von den Philosophien, die in der Bildung der Zeit befangen bleiben, von Grund aus. Sie spricht diesen Philosophien zugleich die Bedeutung zu, der wahren Philosophie vorausgehen zu müssen – nicht nur weil sie dabei mitwirken, das Bedürfnis nach ihr zu wecken, sondern vor allem, weil sich in ihnen die Mittel ausbilden, im Anschluss an die eine Form zu gewinnen ist, in der sich die wahre Philosophie als Totalität durchführen und zur Darstellung bringen kann. Das Verhältnis beider Momente zueinander scheint einsichtig. Es ist aber nicht ohne Spannung – zumal dann, wenn man das Verhältnis der Philosophie zur Bildung der Zeit im Blick behält. Hegel sah die latente Erfahrung eines Nichts in der Bildung der Zeit verwurzelt. Mit ihr hat er die Erinnerung an den Tod Gottes in der christlichen Karfreitagsbotschaft verbunden. Die Verständigung über die Bildung der Zeit gewinnt damit ein Profil. Man hat zu sagen, dass es durch Explikationsmittel gewonnen wird, denen eigentlich erst in der wahren Philosophie ein eigener Status einzuräumen ist. Von dem Standpunkt der Analyse der philosophischen Kritik aus betrachtet, ist die Reflexionskultur Grundlage dessen, was in der Erfahrung der Zeit die des Verlustes jeder lebenstragenden Gewissheit ist. Es ist diese Reflexionskultur, welche die harten Gegensätze unter Endlichkeiten erzeugt, die sich in der ihr zugehörigen Philosophie wechselweise in Suspens halten.
|| 13 Antrittsrede 1818, Schlusssatz des Vorworts zur Rede.
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Man könnte nun wohl meinen, dass die wahre Philosophie wie eine Befreierin von außen hervortritt. Sie könnte erklären, wie die alten Schranken aufkamen, sie dann wegräumen und einen freien Blick aufgehen lassen. Doch der zweite Satz hatte schon deutlich werden lassen, dass sich Hegel darauf nicht beschränken könnte. Denn die wahre Philosophie kann das, von dem sie befreit, nur von seiner Wurzel her zerstören, wenn es in ihr selbst einen Platz hat, der das Aufkommen des Verlustes und die Zerstörung seiner Voraussetzung als möglich und als notwendig verstehen lässt. ›Der reine Begriff‹ ist ein ›der höchsten Idee‹ innewohnendes Moment. Er ist die Seite der Unendlichkeit des Denkens in dieser Idee. Insofern ist klar, dass ›das Sein‹ nicht außer diesem Unendlichen gelegen ist. ›Beide sind Eins‹. Doch es ist diese Unendlichkeit, kraft derer sich das Wesen dieser Idee realisiert, kein Endliches in seiner Bestimmtheit als definitiv bestehen zu lassen. Sie ist es, die alle Endlichkeit ›vernichtet‹ – eine Leistung, zu der Fichtes Philosophie trotz ihrer Begründung auf dem Prinzip der Subjektivität und ihrer absoluten Produktivität nicht gelangen konnte, weil sie mit ›diamantenen Ketten‹ (I, 133) an einen Gegensatz gebunden bleibt. Insofern konnte sie auch nicht das ›absolute Nichts‹ erkennen, so sehr ihr Jacobi entgegenhielt, im Nihilismus aufzugehen. Der reine Begriff, als ein Moment des Absoluten, ist dagegen jedoch ›der Abgrund des Nichts‹, in dem jede Bestimmtheit ›versinkt‹. Insofern ist dieser Abgrund auch die verborgene Grundlage, die sich in der Reflexionskultur der Zeit geltend macht. Er bedroht alles endliche Bewusstsein mit dem Gefühl, dass sich darin nirgends ein Halt finden lässt. Es zieht sogar jenes Unendliche in sich hinein, das dem Gegensatz zum Endlichen nicht zu entkommen vermag und von dem deshalb gedacht werden muss, dass es einem unerreichbaren Jenseits zugehörig ist. Dies Nichts ist ein Aufheben schlechthin. Dass im reinen Begriff kein Endliches Bestand hat, wirkt sich in dem subjektiven Bewusstsein, obwohl es nicht zum Unbestimmten schlechthin gelangen kann, dahin aus, dass ihm, was immer ihm das Unendliche ist, als unterminiert erscheint und in eine Ferne abgleitet. Wird einmal der reine Begriff als dies Nichts gefasst, so lässt sich verstehen, dass mit ihm zugleich die ›höchste Totalität‹ zu begreifen ist als von keiner Endlichkeit eingeschränkt, sondern als sie einschließend, in ihrem Hervortreten und ihrer Entfaltung. Aber Hegel sagt nicht nur, dies Wissen von der Totalität löse die Finsternis auf und hebe den Schmerz und den Schrecken der Gottesferne weg, die anfänglich von der Aufklärung und der Reflexionskultur über die moderne Welt gebracht worden sind. Nicht nur, dass sie sich auflösen, soll begriffen werden, sondern was es eigentlich ist, was da zur Auflösung kommt. Dies soll weiter nicht nur in irgendein Verstehen eingebracht werden, das die philosophischen
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Mittel zu gebrauchen weiß, mit deren Hilfe sich die Begrenzung dieser Standpunkte der Endlichkeit durchschauen lässt. ›Der philosophische Begriff muss‹ vielmehr eben diesem gesamten Syndrom der Reflexion und der Erfahrung moderner Subjektivität ›eine philosophische Existenz geben‹. Das ist in zwei Hinsichten ein großes Wort – in Beziehung auf Hegel selbst und in Beziehung auf die Stellung der Philosophie überhaupt. Ein Jahr zuvor hat Hegel wohl der Reflexion in der Philosophie eine wesentliche Aufgabe zugewiesen: Als ›Reflexion der Vernunft‹ ist sie auf das Absolute bezogen, indem sie die Entgegengesetzten setzt, zugleich aber ihre Entgegensetzung zerstört und alles Entgegengesetzte zur Identität und zum Wissen zusammenführt (I, 180). Hegel hat also sehr wohl die Möglichkeit, das Fungieren der Reflexion ›unter der Leitung der Vernunft zur Totalität‹ innerhalb der ›wahren Philosophie‹ zu begreifen. Aber die isolierte Reflexion, als Setzen Entgegengesetzter, wäre ein Aufheben des ›Absoluten‹ (I, 178). In der Reflexionsmetaphysik der Subjektivität hat sich eben dies vollzogen, bis an den Punkt des Überschlagens hin (I, 156), an dem sie dann doch immer einhielt und in den alten Gegensatz ›herunterfiel‹. Man kann wohl verstehen, dass aus der ›wahren‹ Philosophie die einzelnen Dimensionen zu entnehmen sind, welche von der Reflexion ›absolut gesetzt‹ und zum System ausgearbeitet werden. Denn sie sind ›Dimensionen der Totalität‹, von denen aber jede einzeln genommen wird. Doch das ist gleichermaßen ein Verfehlen und ein unbewusstes Hinarbeiten auf die Aufgabe der ›wahren Philosophie‹. Wenn sich die wahre Philosophie dadurch definiert, dass sie das Prinzip der Totalität als solches entfaltet, so können sie als Dimensionen, auch als Moment, in dessen reinem Begriff keine Existenz erhalten. Hegel sagt zudem selbst, dass die ›Gestalten‹ der Reflexionsphilosophie ›zur Seite der Bildung‹ zu rechnen seien. So gehören sie nicht der wahren Philosophie an, machen aber auch nicht geradezu das Ganze dessen aus, worin Bildung besteht. Sie sind in ihrem Absolutsetzen eines Endlichen, obwohl als Weisen des Philosophierens, zur ›Seite der Bildung zu rechnen‹. So stehen sie nach dieser Seite mit vielem im Zusammenhang, was überhaupt das Eigentümliche der Bildung ist, nämlich in Besonderheit versenkt zu sein, sie herauszu›bilden‹ und sich als in ein System der Beziehung solcher Besonderheiten verflochten zu wissen, die einander entgegengesetzt sind. So gehört auch der unendliche Schmerz über die entzogene Unendlichkeit zur Bildung. Hegel sagt wiederum ausdrücklich, dass dieser Schmerz ›als Gefühl‹ in der Bildung gewesen ist. Was so der Bildung zugehört, soll nun in der Philosophie selbst eine Existenz erhalten, und zwar indem es durch den reinen Begriff als Moment der höchsten Idee bezeichnet wird. Dadurch soll in der Philosophie das einen Ort
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gewinnen, den zuvor der historische Karfreitagsglaube und das moderne Gefühl des allseitigen Verlustes eingenommen hatten. Zudem soll der Philosophie etwas ganz neu zuwachsen: das Gefühl der ›absoluten Freiheit‹, die in ihrer Orientierungslosigkeit zugleich ›das absolute Leiden‹ und den Karfreitag nach sich zieht, der nunmehr im spekulativen Gedanken anbricht. Der Verlust alles Absoluten im Gespinst der Relativität bedeutet, nunmehr im Denken selbst, ›die ganze Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit‹, die historisch war, wieder herzustellen. Sie restituiert diese Härte also im Inneren der Philosophie. In seiner Emphase des Schlussakkords hebt Hegel zudem hervor, dass dies auch deshalb geschehen müsse, weil nur dann die dogmatischen Philosophien und die Naturreligionen vor dem Ernst und der Würde eines Denkens ganz anderer Art für immer ›verschwinden‹ würden. Erst dann könne die ›höchste‹ Totalität hervortreten – nämlich aus ihrem ›tiefsten‹ Grund und in ihrer ›heitersten‹ Freiheit. Einen solchen dreifachen Superlativ wird man in Hegels Werk schwerlich noch einmal finden. Hat nun aber Hegel die philosophischen Mittel dazu in der Hand, kraft derer der reine Begriff der Bildungswelt der Moderne zu einer philosophischen Existenz verhelfen kann? Die negative Antwort auf diese Frage lässt sich fast schon aus dem Schlussakkord selbst herleiten. Er enthält kein Argument, das dem Gefüge der ›wahren Philosophie‹ eingegliedert wäre, deren Grundriss Hegel vorgestellt hatte. Deren Fundament ist die Unterscheidung zwischen der Bildung der Gegensätze und ihrer Zusammenführung zur Identität in der Totalität, welche sie einschließt. Wenn die genetischen Voraussetzungen, aus denen die einzig wahre Philosophie hervorgeht, in ihr selbst einen Platz gewinnen sollen, dann muss sie ihrerseits ein Verfahren ermöglichen, das den Weg zu ihr in ihrem eigenen Rahmen durchsichtig machen kann. Hegels Schlusssatz führt zu ihr hin, ohne sich in ihr zu bewegen. So erscheint der Schlussakkord nicht als das Protokoll eines Ergebnisses. Er proklamiert eine Zukunft und bezeichnet, was geleistet werden muss, damit der wahren Philosophie nichts mehr entgegensteht. So wenig sie aber die Verwirklichung dessen, was sie proklamiert, bereits protokollieren konnte, so wenig kann sie bisher darlegen, wie überhaupt dahin zu gelangen ist. Der Schlusssatz der Abhandlung resultiert aus der Einsicht, dass die Philosophie sich in Beziehung zur Bildung ihrer Zeit zu setzen hat. Insofern muss Hegels Abhandlung im Vorfeld der Phänomenologie des Geistes ausklingen. Wir können verstehen, wieso er als eine Station auf dem Weg zu einer Disziplin hin zu gelten hat, welche die Gestalten des Bewusstseins, unter ihnen die Welt der Bildung, auf dem Wege zum wahren Wissen analysiert.
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Doch der Anspruch des Schlusssatzes greift noch weiter aus. Es ist die Philosophie in ihrer entfalteten Systematik, in der und von der dem ›absoluten Nichts‹ eine ›Existenz‹ eingeräumt werden muss. Hegel hatte, als er den Aufsatz niederschrieb, ein Konzept von deren Profil schon weit entwickelt. Er wird also wohl eine Vorstellung davon gehabt haben, wie er dem absoluten Nichts diese philosophische Existenz würde verschaffen können, die alle anderen ihm hatten verweigern müssen. Wenn man von der Systemkonzeption ausgeht, die Hegel seit seinen Nürnberger Jahren skizziert, in der Wissenschaft der Logik begründet und dann als Professor im Ganzen vorgetragen hat, dann ergeben sich aber Schwierigkeiten, diesen seinen Gedanken auf die Spur zu kommen. Sie gehen aus drei Konzentrationspunkten hervor, die gleichzeitig zu beachten sind, wenn die Rolle des ›absoluten Nichts‹ im Prozess der Formierung von Hegels System verständlich werden soll: 1. Dem absoluten Nichts muss, wenn es als ›eine Seite‹ des Absoluten zu fassen ist, in dem Prozess, der das Absolute charakterisiert, eine formative Bedeutung zukommen. Hegels Postulat, es sei ›ein Moment der höchsten Idee‹ (I, 157) muss sich also auf die Verständigung über die Verfassung der spekulativen Bewegung als solcher auswirken. 2. Das absolute Nichts kann aber nicht in einem Moment der Methode aufgehen. Soll doch in seiner philosophischen Existenz »das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreitag« wiederhergestellt werden »in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit« (I, 157). Diesem Leiden muss ein Moment in der Entfaltung des Prozesses des Absoluten entsprechen – also noch anderes als ein Moment der Form seines Prozesses als solches. Man muss annehmen, dass Hegel eine Vorstellung von der Ortung dieses Moments hatte, als er die Wiederherstellung der Karfreitagserfahrung in der Philosophie versprach. Dem reifen System lässt sich aber nicht ohne weiteres entnehmen, was Hegel im Sinne gehabt hat. Im späteren System ist nämlich einem ›absoluten‹ Nichts keine bestimmbare Stelle zugewiesen. 3. Beiden Schritten, denen zum Nichts als Moment in der spekulativen Entwicklung und zur expliziten Positionierung der Gesamterfahrung des spekulativen Karfreitags im System steht nun wiederum gleichermaßen die Ortsbestimmung im Wege, welche ›das Nichts‹ in der Wissenschaft der Logik von 1812 erhalten hat. Dies Nichts ist in seiner ›unbestimmten Unmittelbarkeit‹ von dem, was als ›das Sein‹ den Anfang des logischen Prozesses ausmacht, nicht zu unterscheiden. In dieser seiner Bestimmungslosigkeit kann es nicht als ›Moment‹ irgendeiner reicheren Bestimmung genommen werden – schon gar nicht als Mo-
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ment, mit dem zusammen sich etabliert, was als die ›höchste Totalität‹ nur in der ›wahren Philosophie‹ allein zu erkennen ist. Diese drei Probleme machen zusammen eine einzige Grundschwierigkeit aus. Sie steht dem Verständnis der Stellung von Glauben und Wissen in der Entfaltung von Hegels Denken im Wege. Die Aufgabe, sie aufzulösen, ist aber nicht nur mit der Aussicht darauf verbunden, dem Aufschluss über diesen nur scheinbar spannungslosen und kontinuierlichen Prozess viel näher zu kommen. Mit ihr steht darüber hinaus eine Antwort auf eine Frage in Aussicht, die viel weiter ausgreift: In wie weit Hegels Versprechen, dem ›absoluten Nichts‹ in seinem System eine Existenz zu geben und so der größten Herausforderung der Philosophie seiner Zeit gewachsen zu sein, von ihm erfüllt wurde und überhaupt hätte erfüllt werden können. Der Rahmen, in dem sich das Folgende zu fügen hat, erlaubt nicht mehr als eine Skizze für den Gang einer Untersuchung, welche alle Aspekte der Frage im Blick hat und sie allseitig abwägt. Dabei ist zu allererst auf die für Hegels Gesamtwerk bedeutsamste Frage einzugehen, wie das ›absolute Nichts‹ in den Prozess des Absoluten integriert oder in ihn übersetzt werden kann. Hegel wird es in die Form der ›Negativität‹ transformieren und so als Grund seiner spekulativen Sprache begreifbar machen. Wovon als ›dem Nichts‹ die Rede ist, scheint auf eine Situation zu verweisen, die in einem Prozess eine bestimmt Stelle einnimmt. Es muss nun aber selbst einen prozessuralen Sinn annehmen.
5 Nichts und Negativität Hegel hat seine Abhandlung in die philosophische Debatte seiner Gegenwart hineingeschrieben. Er tat es, indem er ihr prominentestes Motiv aufnahm und die Kontroverse, welche die Debatte beherrschte, mit der eigenen Grundthese überhöhte. Jacobi hatte Fichte, und jedem rein rationalen Denken, Nihilismus vorgeworfen. Hegel repliziert: »Es liegt allerdings die Aufgabe des Nihilismus in dem reinen Denken«. Es ist sogar »das Erste der Philosophie […], das absolute Nichts zu erkennen« (I, 133)14. Doch die Philosophie kann dies erst dann, wenn sie dies ›Nichts‹ nicht als das Absolute selbst, sondern als seine ›negative Seite‹
|| 14 Hervorgehoben im Original. Hegel spricht an anderem Ort vom ›absoluten Nichts‹, wenn er damit meint, etwas sei nichts in jeder Hinsicht – und dann so, dass auch ›ein absolutes Nichts‹ gesagt werden könnte (I, 11). Das absolute Nichts ist aber eine ›Seite‹ des Absoluten.
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erkennt (I, 156). ›Das Erste‹ in der Philosophie könnte dies Nichts insofern sein, als sich aus ihm, wie der Schlusssatz sagt, die Wahrheit emporhebt (ebd.). Das Nichts ist ›dem Seyn‹ der dogmatischen Metaphysik gegenüber zu nobilitieren. Denn in ihm ›versinkt‹ alles Seyn (I, 157), es beruht auf einem Prozess und ist zugleich, nach dem zweiten Absatz, der ›ewige‹ Ursprung eines solchen. Hegel kann es insofern das ›absolute‹ Nichts nennen, als jede Bestimmung in ihm aufgehoben ist. Das hat allerdings zur Voraussetzung, dass es von dem, was man ›gar nichts‹ nennt, zu unterscheiden ist. Denn es ist insofern zugleich auf alle Gegensätze überhaupt bezogen, als es dem entgegenwirkt, dass sich ihre Glieder zu etwas Unbedingtem fixieren. Insofern entspricht es als ›negative Seite‹ des Absoluten und als ›Vernichten‹ irgendwie und in einem allererst genauer zu fassendem Sinn dem, was die Negation im Denken ist, sofern man sie im Gegensatz zu einem Setzen als ein Aufheben versteht. Das Nichts dieses Nihilismus ist also nicht die Situation, die aus einer anderen Aktivität als deren Resultat hervorgeht. Der Prozess, sein Ergebnis und dies, dass beide nur eine Seite des Absoluten selbst sind, müssen als ein und dasselbe verstanden werden. Die Ausdrücke ›nichts‹ und ›negativ‹ haben mehrere sehr unterschiedliche Bedeutungen. Sie stehen zueinander in einem genetischen und einem systematischen Zusammenhang, der schwer zu durchleuchten ist. Meist wird er auch von denen nicht beachtet oder gar durchschaut, welche diese Ausdrücke nicht nur grammatisch korrekt, sondern selbst in einer systematischen Absicht verwenden. Das gilt insbesondere dann, wenn den Ausdrücken der bestimmte Artikel singularis vorangeht, wenn also von ›dem Nichts‹ und ›der Negation‹ die Rede ist und dieser Gebrauch nicht von anderen Weisen des Gebrauchs unterschieden wird.15 Was ›Nichts‹ betrifft, so verwendet Hegel dies Wort in einer seiner geläufigen Bedeutungen auch dort, wo mit ihm zum Ausdruck gebracht wird, dass etwas ›keinen Wert‹ hat (I, 6) oder wenn etwas für ein anderes in keiner Weise besteht (I, 11). Doch ›das absolute Nichts‹ ist jene Seite des Absoluten, die soeben in ihrer inneren Komplexion erläutert worden ist. Mit dem so gefassten Nichts tritt Hegel auf im Namen der Philosophie, die er gemeinsam mit Schelling als der Zeit überlegen und zugleich von der Zeit gefordert gegen die Philosophien der Reflexion durchsetzen will. Es ist eine kluge, eine strategisch gut gezielte Pointe: den Vorwurf Jacobis, als den Repräsentanten der einen Form der Reflexionsphilosophie, gegen Fichte, als dem der ande|| 15 Vgl. Ernst Tugendhat: Das Sein und das Nichts (1970). In: E. T.: Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1992, S. 36–66.
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ren, aufzunehmen, um, was für Jacobi ein Vorwurf war, in Fichtes Konzept zu integrieren und so beide über ihre Beschränkungen hinauszuführen, dass beide zu bloßen Seiten der einen und einzigen wahren Philosophie verwandelt werden. Hegel hat niemals wieder die eigene Philosophie ebenso deutlich hervortreten lassen, indem er sich unmittelbar an die Sprache einer Kontroverse anschloss, welche seine Gegenwart in Unruhe versetzt hatte. Im Schlussteil der Abhandlung gelangt diese Strategie auf den Höhepunkt ihrer Entwicklung. Im zweiten Absatz wird das Nichts als negative Seite des Absoluten in die Skizze eines Prozesses eingefügt, aus dem die Wahrheit als solche hervorgeht. Im vierten Absatz wird entwickelt, wie die höchste Totalität so entfaltet werden soll, dass die Härte der modernen Erfahrung in der Philosophie selbst ›eine Existenz‹ erhält. Nun haben wir aber gesehen, dass Hegels Gedankensequenz gerade in diesem Schlussakkord, in dem auch die Linienführung seiner Strategie kulminiert, nicht durch eine entwickelte Begriffsform gedeckt ist. Der Ausdruck ›das Nichts‹ hatte in der Literatur der Zeit einer Erfahrungsart Ausdruck gegeben. Hegel verstand, dass in ihr ein Grundzug der Moderne zum Ausdruck kam. Er sah diesen Grundzug im Vorwurf von Jacobis Reflexionsphilosophie als Glaubenslehre gegen Fichtes Reflexionsphilosophie des Denkens, des Ichs und Subjekts (I, 156) gekehrt. So lag es nicht fern, diese Reflexionsphilosophie dadurch hinter sich zu lassen, dass die innere Zugehörigkeit des Nichts zum Absoluten aufgewiesen wird – und zwar so, dass dessen Charakter als Denken geradezu mit der Verfassung ›des Nichts‹ zusammengeführt ist. Doch gerade in diesem Aufruf des Nichts trat hervor, dass die Begriffsform für eine Explikation des Absoluten mit ihm nicht schon gewonnen ist. Was bereits als ›negative Seite‹ des Absoluten charakterisiert war, musste nun wohl auf diese seine Verfassung als Moment in der Verfassung des Absoluten hin tiefer verstanden werden. Daraus folgt, dass es nicht als Quasizustand zu fassen ist. Und es ergibt sich die Aussicht, seinen aktivischen Grundzug und es selbst als ›Negativität‹ zu fassen. Damit liegt nahe, dass es zumindest in eine Nähe zur logischen Form der Negation zu setzen ist, die ihrerseits als in einer Aktivität fundiert verstanden werden konnte. Die Aufgabe einer spekulativen Artikulation der Negation war damit einerseits vom Gedanken des Absoluten, andererseits von den Grenzen seiner Explikation durch ›das Nichts‹ her bereits nahezu explizit gestellt. Auch die Richtung von Hegels Weg hin zur Auffassung des Prozesses des ›Nichts‹ und der ›Negativität‹ als einer Selbstbeziehung der Negation war damit festgelegt. Hegel hat ihn aber erst in den kommenden Jenaer Jahren wirklich gebahnt. In einem damit hat sich die spekulative Sprache Hegels zu der nur ihm eigentümlichen und nur
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von ihm selbst beherrschten Form differenziert und befestigt.16 So ist es zu verstehen, dass Hegel selbst niemals mehr hinter dies sein eigentliches Resultat zurückfragen konnte – was immer auch die durchaus fundamentalen Probleme sein mögen, die seit langem und heute noch mehr für die Philosophie, gerade auch für den Kenner seines Werkes, mit seinem Konzept von Negativität verbunden sind und die immer mit ihm verbunden bleiben werden.17 Von ›dem Nichts‹ kann man sprechen, ohne dabei auf einen Prozess oder eine Aktivität Bezug zu nehmen. Man kann sogar einen Widerspruch darin finden, dass eine Situation, die durch den Wegfall von Jeglichem zu definieren ist, als ein Prozess oder gar eine Aktivität gedacht werden soll. Anders verhält es sich, wenn die Negation, darin ›dem Nichts‹ ähnlich, als etwas für sich Bestehendes genommen wird. Sie wendet sich dann notwendig auf sich selbst und hat etwas zur Folge, das mit der Aufhebung aller Negation eintritt, die sie selbst nach sich zieht. Hegel wird dies Unmittelbarkeit nennen, um dann alsbald dahin fortzuschreiten, diese Unmittelbarkeit als den Wegfall jeder Beziehung auf anderes gerade in der Form der selbstbezüglichen Negation selbst wiederzufinden. Würde doch die Unmittelbarkeit, die aus der Selbstbeziehung der Negation resultiert, als ein Ergebnis immer auf etwas anderes bezogen bleiben und insofern nicht unmittelbar sein. Die Negation in ihrer Selbstbeziehung ist dagegen autonom und also die wahre, die einzig folgerichtig zu denkende Unmittelbarkeit. Dennoch ist aber daran festzuhalten, dass diese Unmittelbarkeit als Nega-
|| 16 Die Aufgabe, diese spekulative Sprache vollständig zu analysieren, ist kaum weniger schwer und auch kaum weniger wichtig als der Versuch, den Gang und das Resultat seiner Wissenschaft der Logik in einer anderen Sprache zu reproduzieren. 17 Vor langem habe ich mich in mehreren Abhandlungen darum bemüht, die Voraussetzungen und die Folgerungen aus dem Gedanken einer ›autonomen‹ Negation zu durchdenken. Wie Hegel in den Begründungen seiner Wissenschaft der Logik wirklich und im Einzelnen verfährt, war nur in einer weiteren Abhandlung durchsichtig zu machen, die für wenige Seiten von Hegels Text mehr als hundert Seiten der Exegese aufbot Vgl. Dieter Henrich: Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung. In: Dieter Henrich (Hg.): Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion. Bonn 1978, S. 203–324. Ein wichtiges Ergebnis dieser Analyse war es, genau erkennen zu können, an welcher Stelle Hegel nicht mit einer inneren logischen Entwicklung, sondern über eine Bedeutungsverschiebung, die wohl durch den Vorgriff des Systems motiviert, aber nicht logisch erzwungen ist, den Fortgang seiner Gedanken in Gang hält. Darüber muss man Klarheit haben, wenn man den Status seines Systems, absolutes Wissen zu sein, kritisch erörtern will. Solche Untersuchungen werden noch auf unabsehbare Zeit hin gut veranlasst sein. Es sind aber inzwischen auch viele weitere erschienen – vor allem im Zusammenhang der ersten der hier genannten beiden Aufgaben. Sie sind in Christian Georg Martins Gesamtanalyse des Systems berücksichtigt (Ontologie der Selbstbestimmung. Eine operationale Rekonstruktion von Hegels »Wissenschaft der Logik«. Tübingen 2012.)
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tivität, insofern sie Selbstaufhebung ist, selbst auch ein Resultat haben muss. Denkt man sich in diese Operation hinein, so sieht man, wie in Hegels Begriffsform ein Potential der Möglichkeiten von Entwicklung hineinkommt, hinter dem die Abhandlung von 1802 noch zurückbleiben muss. In ihr war jedes solche Potential zudem an die vorerst undurchsichtige Zusammenfügung von Nichts, Vernichtung und Negativität gebunden. Das Vorausgehende zeigt auf, wie sich ein Ansatz zum Gedanken eines Prozesses aus einer Analyse von ›Negation‹ gewinnen lässt. Dabei ist die Dynamik kraft Selbstbeziehung immer noch der Selbstgenügsamkeit angeglichen, welche dem Gedanken ›das Nichts‹ doch insofern zukommt, als in ihm alles, also auch jegliches mögliche Andere, als entfallen zu denken ist. Mit dieser an Glauben und Wissen anschließenden Überlegung kann man eine erste Vorstellung davon gewinnen, wie Hegel im Zusammenhang seiner Vorlesungen über Logik und Metaphysik die logischen Potentiale zur Entwicklung der Operationsformen seiner Wissenschaft der Logik wirklich entfaltet hat, um über sie nun sein System insgesamt zu organisieren.
6 Logik des Seins, Begriff des Geistes Als die Weisen, in der die Gehalte, welche die ›wahre Philosophie‹ zum Thema hat, in einem Prozess sich selbst fortbestimmen und auseinander hervorgehen, sind die Formen dieses Prozesses unterschieden von formalen Mitteln, welche die Philosophie in eine Verständigung über diesen Prozess einbringt. Sie sind das Allgemeine in der Dynamik dieses Prozesses selbst. So kann Hegel sie nicht vorab und für sich erklären wollen. Im Nachvollzug dieses Prozesses muss sich zeigen, dass ihm diese Formdynamik innewohnt und den Prozess als solchen geradezu ausmacht. Erst im Rückblick kann diese Dynamik selbst zu einem eigenen Gehalt der Erkenntnis werden. Aufgrund dessen, dass das Wissen von diesem Prozess ihm nicht äußerlich ist, muss auch diese resümierende Betrachtungsart selbst noch als ein Gehalt des Prozesses im Stadium seiner Vollendung gelten, die mit dem Rücklauf in sich als dem Zusammenschluss zu einem Ganzen zusammenfällt. Nun hat Hegel den Gesamtprozess nicht von Beginn an als eine einzige homogene Sequenz verstanden. Er schied zunächst die Logik von einer Metaphysik des Absoluten und schrieb der Logik eine vorwiegend kritische Funktion zu. Aber auch dann, wenn sich der Gesamtprozess über einen Dimensionswechsel hinweg vollziehen sollte, betrachtete er ihn bereits ganz in der Eigendynamik seiner Selbstentfaltung. Man kann nun wohl an dieser Selbstdeutung zweifeln,
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obwohl sie als Konsequenz der Orientierung an dem Gedanken der Selbstentfaltung des Absoluten zu verstehen ist. Man wird dann sagen, dass dieser Gedanke selbst nur zusammen mit einem Vorbegriff von einer absoluten Selbstbestimmung einen Gehalt bekommt, so dass auch dieser Vorbegriff wie die Operation für ein Verfahren in einer Art methodischer Vororientierung entwickelt werden kann und von Hegel de facto so, wenn auch in einem kontinuierlichen Prozess des Nachdenkens, entwickelt worden ist. Man kann diese unterschiedlichen Einsätze seiner Analyse der Logik aber dahingestellt sein lassen, wenn man die Zukunft des Gedankens eines ›absoluten Nichts‹ in der weiteren Entfaltung von Hegels System erwägt. Denn das Folgende liegt all dem voraus doch auf der Hand: In dem Maße, in dem sich der Gedanke vom ›absoluten Nichts‹ in eine Prozessform des Absoluten selbst und somit in eine allgemeine spekulative Begriffsform verwandelt, muss die Bedeutung dahinschwinden, die in Hegels Abhandlung ›das absolute Nichts‹ innehatte. ›Das Nichts‹ kann nicht weiter noch ›die reine Nacht der Unendlichkeit‹ bleiben, aus der ›die Wahrheit sich emporhebt‹ – noch kann es an ein bestimmtes Stadium des Ganges der Gedanken in der ›wahren Philosophie‹ gebunden sein. Es überrascht also durchaus nicht, dass dies Nichts weder in Hegels Reflexionen über Negativität noch in der Abhandlung, die innerhalb der Wissenschaft der Logik der ›Methode‹ gewidmet ist, noch irgend einen Auftritt hat. Nun gehört es bereits zu einer noch sehr begrenzten Kenntnis von Hegels System, dass diese Logik vom einem ›Nichts‹ handelt, das an einer bestimmten Stelle des Formprozesses eingeführt wird. Es erscheint an einer ganz anderen Stelle als dem Vorhof zum Begreifen der ›höchsten Totalität‹, und doch an einer Stelle, die auch eine gewisse Prominenz hat – nämlich am Anfang des gesamten logischen Prozesses. Hier ist jedoch durchaus nicht vom ›absoluten Nichts‹ die Rede, aber doch gleichfalls von ›dem Nichts‹ in nominalisierter Form und in Zuordnung zu dem ersten Gedanken überhaupt, ›dem Sein‹. Diese beiden sollen nicht wirklich voneinander unterschieden werden können. Hegel zeigt, dass sich die gegenteilige Meinung, sie seien sogar radikal voneinander zu unterscheiden, nicht an irgendwelchen Merkmalen festmachen lässt. Beide sind nur in der gleichen Weise, in einem Ausschlussverfahren, nämlich dadurch zu charakterisieren, dass irgendwelche differenzierenden Merkmale von ihnen explizit ferngehalten werden.18 Dennoch soll in dem Ununterscheidbaren insofern eine
|| 18 Vgl. dazu Dieter Henrich: Anfang und Methode der Logik (1963). In: D. H.: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. Hegel konnte wohl nicht sehen, dass dieser Anfang gar nicht gänzlich unvermittelt sein kann. Denn ihm war es, wie den meisten Zeitgenossen, selbstverständ-
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logische Unruhe gelegen sein, als in ihm ein Bestehen unmittelbar mit einem Aufheben zusammenzufallen scheint. Hegel will aus dieser Unruhe wiederum unmittelbar den Gedanken vom ›Werden‹ als einem Prozess hervorheben, in dem Eintreten und Verschwinden differenzlos ein und dasselbe ausmachen. In diesem Gedanken des in sich differenzlosen Prozesses kann man einen Zug erkennen, welchen dieses Nichts des Anfangs mit dem ›absoluten Nichts‹ von Glauben und Wissen gemeinsam hat – sowie auch mit der geläufigeren Rede vom Nichts in der nominalisierten Form: Auch im ›absoluten Nichts‹ ist alle Bestimmtheit verschwunden. Doch ist hier ›das Nichts‹ zugleich explizit im Gegensatz zu aller Bestimmtheit zu denken, so dass es also in einer anderen Hinsicht das Gegenteil des absolut Bestimmungslosen ausmacht. Man muss davon ausgehen, dass die Wissenschaft der Logik in der unbestimmbaren Dualität von Sein und Nichts die Prozessform der Negativität selbst, nämlich die untrennbare Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, nunmehr wiederum selbst in der Form der Unmittelbarkeit antizipiert sehen will. Sie soll auch in dem ersten Anfang, im Modus ihres Auftretens, nämlich der Ununterscheidbarkeit von doch Gegensätzlichem, wiedererkannt werden. Man kann also von ihr sagen, dass sie – nur in anderer Weise als der Anfang der Entwicklung – diese Entwicklung insgesamt beherrscht. Aber diese subtile Verbindung im logischen Untergrund ändert nichts daran, dass die Weise des Auftritts eines Gedankens, der als ›das Nichts‹ benannt wird, am Anfang der Logik eine ganz andere als die in Glauben und Wissen ist. Wenn das logische Nichts einmal in eine feste Korrelation zu dem ›Sein‹ am Beginn des logischen Prozesses eingerückt ist, dann muss es mit dem Nichts im Vorfeld des Gedankens der höchsten Totalität zu einer Konkurrenz kommen. Das leere Nichts muss dem allvernichtenden Nichts seinen Platz streitig machen. Und dies ist umso mehr dann der Fall, wenn sich dies ›absolute Nichts‹ ohnedies zu einem Moment der allgemeinen Prozessform der logischen Dynamik verwandeln muss. Nun kann man fragen, ob es sich nicht denken lässt, dass von Hegel ›dem Nichts‹ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen ein Auftritt und eine Position im System eingeräumt worden sein könnte. Man muss solches annehmen, wenn man davon auszugehen hat, dass in Hegels Vorlesung über Logik und Metaphysik, die er von Beginn der Jenaer Zeit an und gleichzeitig mit der Entstehung von
|| lich, vom Sein, dann aber ebenso vom Nichts in der nominalisierten Form, und also ebenso von ›dem Nichts‹, selbst noch in dieser veränderten Stellung als dem allererstem und somit Unbestimmbaren sprechen zu können. Ohne diese Voraussetzung wäre er bei seiner Degradierung des ›absoluten‹ Nichts‹ wohl weniger selbstgewiss verfahren.
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Glauben und Wissen hielt, dem Sein als Anfangsgedanken ein ebenso unbestimmtes Nichts wie in der Wissenschaft der Logik von 1812 zugeordnet war. Wir haben auch wirklich hinreichend dichte Hinweise darauf, dass dem Nichts in der ersten Logik-Vorlesung eine solche direkte Beziehung zu dem anfänglichen ›Sein‹ zukam, die aber der späteren These ihrer Ununterscheidbarkeit noch nicht gleichkam. Es wäre wünschenswert, wenn die Untersuchung zu diesem Thema weiter vorangetrieben würde.19 Doch auch ohne in diese Untersuchung einzutreten, lässt sich eine Voraussetzung bestimmen, die dafür unerlässlich ist, wenn ein solcher doppelter Auftritt im Vortrag von Logik und Metaphysik noch hätte zulässig und vorstellbar bleiben können: Ein solcher doppelter Auftritt ist von der Zeit an ausgeschlossen, zu der Hegel dahin gelangte, den Gedanken von einer methodischen Trennung von Logik und Metaphysik, als einem Systema reflexionis gegenüber einem Systema rationis, preiszugeben. War einmal die Grundlage für die Unterscheidung von Logik und Metaphysik weggefallen, dann zeichnete sich ab, dass der Aufbau der wahren Philosophie zu einem kontinuierlichen Prozess der Fortbestimmung vom schlechthin unbestimmten Anfang zur absoluten Idee zu werden hatte. Die Folge davon ist, dass nun jeder Gedankenbestimmung ein fester Ort zugewiesen bleiben muss, der dann auch ohne Ambiguität und mehrdeutigen Wortgebrauch zu charakterisieren ist. Auf ihn muss auch jederzeit zurückzukommen sein, wenn eine Erklärung für das Verhältnis zu geben ist, in dem eine vorausgehende Bestimmung zu einer späteren steht. In dieser Situation kann zwar das ehedem als ›absolutes‹ bestimmte Nichts in die Prozessform der Negativität verwandelt werden und in die Negativität ohne seinen alten Namen eingegangen sein. Aber es kann ›das Nichts‹ nicht mehr sowohl als unbestimmte Unmittelbarkeit des Anfangs wie auch als der Abgrund einen Auftritt haben, der etwa in der ›absoluten Idee‹ einbegriffen ist oder an einer anderen Stelle des Systems nach seiner logischen Bedeutung bestimmt wird.
|| 19 Sie müsste anschließen an Klaus Düsing. Er hat eine Vorlesungsnachschrift zur ersten Logik-Vorlesung Hegels aufgefunden, zu der zuvor schon Fragmente in Hegels Nachlass aufgetaucht waren, die veröffentlicht sind in Hegel: Gesammelte Werke [Anm. 3] Bd. 5, S. 269–271 (vgl. Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik [1801–1802]. Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P. V. Troxler. Hg. von Klaus Düsing. Köln 1988, insbesondere S. 161ff.). In der Logik des Systementwurfs von 1804/05, deren Anfang in dem überkommenen Manuskript fehlt, gibt es zahlreiche Rückverweise (in Band 7 der Gesammelten Werke), die annehmen lassen, dass zu dieser Zeit die Lehre des Anfangs der Logik von 1812 schon weitgehend erreicht ist. Doch gibt es in dieser Niederschrift auch Passagen, in denen ein rein Negatives als ›Nichts des Geistes‹ gefasst ist (z. B. S. 172).
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Zwar ist Hegel in seinen Vorlesungen vielfach auf ›das Nichts‹ nicht als logische Begriffsbestimmung, sondern als ein Prinzip eingegangen, das einer Phase in der Geschichte der Manifestation des Geistes beherrschend zugrundeliegt. Dabei ist dann aber immer auf ›das Nichts‹ am Anfang des logischen Prozesses Bezug genommen worden. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion wird eine Religion, der ›das Nichts‹ das Höchste ist, unter dem Titel ›unmittelbare Religion‹ auf ihren Begriff gebracht.20 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schreibt Hegel ›dem kühnen Geist‹ von Heraklit die Einsicht zu, dass Sein und Nichts dasselbe sind, und zudem die Schlussfolgerung, die in Hegels Logik begründet wird – dass nämlich wegen dieser dialektischen Einheit alles Wirkliche Werden oder Prozess sein muss.21 So ist diese Einheit weiterhin ein angemessener Ausdruck für das eigentliche Prinzip der Philosophie. Aber es ist nun für es der ganz und gar elementarste Ausdruck. Ihm ist nicht die Aufhebung jeder Entgegensetzung vorausgegangen – auch nicht derjenigen, an welche die Reflexionsphilosophie gefesselt geblieben war, und nicht die Erkenntnis, dass Sein nicht außer ›dem Unendlichen, Ich, Denken‹ (I, 156) ist und dass dies die negative Seite des Absoluten sei. Mit dem Auftritt ›des Nichts‹ am logischen Anfang ist das Profil des ›absoluten Nichts‹ von Glauben und Wissen als Kandidat für einen weiteren Inventartitel oder ein zweites Stichwort einer Wissenschaft der Logik ausgeschieden, die ihm einen solchen Platz, statt am Anfang, wohl eher im abschließenden Kapitel der Logik der ›Idee‹ hätte zuweisen müssen. In Folge dessen hat man sich nun aber zu fragen, wo denn im vollendeten System der Platz zu finden ist, an dem sich die Erkenntnis der Bedeutung des Negativen für das Begreifen des Absoluten so artikulieren könnte, wie dies in der Abhandlung von 1802 unter dem Titel des ›absoluten Nichts‹ angezeigt worden war. Es überrascht, dass die Identifikation dieses Platzes durch ein Fragment ermöglicht wird, das erst kurz vor dem neuen Jahrtausend publiziert wurde.22 Es stammt vermutlich aus dem Jahr 1803, und es ist der letzte Beleg dafür, dass Hegel den Gedanken und den Ausdruck ›das Nichts‹ mit dem Gehalt des
|| 20 Zum Beispiel in den Vorlesungen über die ›Bestimmte Religion‹ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hg. von Walter Jaeschke. Bd. 2a: Die bestimmte Religion. Text. Hamburg 1985), S. 214–216, 461–466. 21 Gleich zu Beginn der Abhandlung über Heraklit im entsprechenden Band I der verschiedenen Ausgaben dieser Vorlesungen. 22 Hegel: Gesammelte Werke [Anm. 3], Bd. 5, S. 370ff. Vgl. dazu den Bericht von Kurt Rainer Meist, ebd., S. 673f.
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Schlussabschnitts von Glauben und Wissen und also mit einer Erklärung des Wesens der ›wahren Philosophie‹ verbunden hat. Der Anfang des Textes lautet wie folgt: Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegenstand bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt. Der Geist ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn; ein aus dem vernichten herkommen und so in diesem idealen Elemente, dem Nichts, das er sich bereitet hat, sich frey zu bewegen und zu geniessen.
Zwar lassen sich in diesem Text Unterschiede gegenüber dem Schluss von Glauben und Wissen nicht übersehen. Die ›absolute Freiheit‹ im Text der Abhandlung, die sich aus dem ›geheimen Abgrund‹ des Nichts, der ›reinen Nacht der Unendlichkeit‹ erhebt (I, 156/57), hat ein anderes Profil als die im Fragment erwähnte Freiheit, die in der dem Geist entgegengesetzten Natur sich selbst erkennt. Er ›vernichtet‹ damit das Andere als solches, um in diesem ›Nichts‹, das er sich in seinem Prozess ›selbst bereitet‹ hat, sich zu ›genießen‹ – ein Genuss, der in der ›heitersten Freiheit‹ in Glauben und Wissen ein Korrelat hat. Hier aber muss auf solche Differenzen nicht eingegangen werden. Es ist allein darauf zu achten, dass Hegel in diesem Fragment dort, wo er vom Zu-sichKommen des Geistes handelt, das Gegenteil seiner, in dem er sich selbst findet, ebenso wie in der Abhandlung von 1802 als ›Nichts‹ charakterisiert. Er tut es an dieser Stelle ein letztes Mal mit solcher Betonung. In dem Entwurf der Logik aus der Jenaer Zeit gibt es noch ein Echo der programmatischen Formulierung von1802.23 Doch an den Stellen, welche dem Schlussakkord von 1802 in dem entfalteten System entsprechen, ist vom ›Nichts‹ keine Rede mehr. Obwohl also das Nichts der Natur nicht dasselbe wie jenes absolute Nichts ist, mit dem Hegel Jacobis Impuls und der Grundtendenz der Bildung der Zeit Eingang in die Philosophien selbst hatte verschaffen wollen, bleibt in dem Fragment von 1803 im Zusammenhang mit der Bestimmung des Wesens des Geistes das Nichts doch ein ihm wesentliches Moment. Die Veränderung fällt sogleich ins Auge, wenn man einen Blick in die Paragraphen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wirft, von denen offensichtlich ist, dass sie dem Fragment über ›das Wesen des Geistes‹ entsprechen. Sie machen den Anfang der gesamten Philosophie des Geistes aus – einer Stelle, von der wohl zu erwarten ist, dass sie das Verhältnis des Geistes zu der Natur bestimmt, von welcher der vorausgehende Systemteil gehandelt hat.
|| 23 Vgl. Anm. 19
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Es ist dies in der Heidelberger Fassung von 1817 der § 300 und in der dritten Auflage von 1830 der § 382.24 In beiden Paragraphen (dem späteren nur nach einer Nachschrift im Kolleg) ergibt sich eine Beziehung zu Glauben und Wissen außerdem aus Folgendem: Die Stellung des Geistes zur Natur lässt verstehen, dass es dem Geist zukommt, einen unendlichen Schmerz ertragen zu müssen, aber auch ertragen zu können. Obgleich auch dieser Schmerz, wie das ›Nichts‹, über die Beziehung des Geistes zur Natur und also anders als in der Abhandlung bestimmt wird, ist darin doch deutlich die Korrespondenz zu dem ›absoluten Leiden‹ im spekulativen Karfreitag der Abhandlung von 1802 zu erkennen. Man kann vielleicht Anstoß daran nehmen, dass ein Gedankengang, in dem die wichtigste Leistung der ›wahren Philosophie‹ erklärt wird, beim Vortrag des Systems nur am Anfang der Philosophie des Geistes wiederzufinden ist. Doch zum einen bezieht sich der Schlussabsatz von 1802 eben auf die Philosophie als Ganzes, nicht auf deren Gliederung. Zum anderen ist in den Schlusskapiteln der Philosophie des Geistes, welche die Formen der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes zum Thema haben, eine grundsätzliche Klärung, die die Idee im Prozess des Geistes betrifft, gar nicht mehr zu erwarten. Dagegen wurde schon bemerkt, dass der Schluss von Glauben und Wissen im Vorfeld der Phänomenologie des Geistes geschrieben wurde. Sein Gehalt und sein Grundtenor legen es nahe, dass die Gedanken dieser Schlusspassage gerade in diesem Werk eine Aufnahme finden. Nun enthält die Phänomenologie viele Kapitel, welche die Aufnahme von Facetten jenes Textes erleichtern könnten. In einige Nähe dazu gelangt Hegel etwa dann, wenn er den Skeptizismus, der sein Prinzip vollständig durchführt, in Verzweiflung enden sieht oder wenn er das ›unglückliche Bewusstsein‹ samt dessen Erfahrung von seiner Nichtigkeit analysiert.25 Doch damit werden Bewusstseinsstellungen auf den Begriff gebracht, ohne dass im Zentrum der Philosophie eben dem, was in der Abhandlung ›das Nichts‹ heißt, ›eine philosophische Existenz‹ eingerichtet werden könnte.
|| 24 Die Niederschriften Hegels aus der Jenaer Zeit, in denen ein Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes vollzogen wird (vgl. Hegel: Gesammelte Werke [Anm. 3], Bd. 6 und 8), die nach Glauben und Wissen und vor der Phänomenologie des Geistes entstanden sind, enthalten keine Einleitung in die Philosophie des Geistes von entsprechendem Gewicht. Das mag sich daraus erklären, dass beide um die Entwicklung des Gedankenganges, nicht um dessen übersichtliche Gliederung und Darstellung bemüht sind. 25 In diesen Kapiteln kommen Erfahrungen zur Sprache, die mit dem modernen Bewusstsein unter dem Titel ›das Nichts‹ verbunden sein können, ohne dass es aber für Hegel notwendig würde, auf den ontologischen Gedanken vom ›absoluten Nichts‹ zurückzukommen.
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Am nächsten kommt Hegel in seiner Phänomenologie dem, was im Schlussabschnitt der Abhandlung Bedeutung und Gewicht hat, in einer Passage, die noch keine einzelne Gestalt des Bewusstseins auslotet. Der Ort dieser Passage ist die Vorrede, womit sich wiederum eine Entsprechung zur Stellung der Paragraphen der Enzyklopädie am Anfang der Philosophie des Geistes ergibt. In einem sprachgewaltigen Satz gibt Hegel hier der Überzeugung Ausdruck, von der man wohl sagen könnte, dass auf ihr sein philosophisches Projekt als Ganzes beruht: »Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält ist das Leben des Geistes«.26 Die Macht, die dies Leben in seine Bewegung setzt und erhält, ist die ›ungeheure Macht des Negativen‹, die scheidet und abtrennt und die so jene ›Verwüstung‹, eine ›absolute Zerrissenheit‹ schafft, in welcher aber gerade der Geist ›sein Anderes‹ und somit in Wahrheit sich selbst zu finden hat und zu finden vermag. Dies ist in anderen Worten wirklich der Begründungsgang des Schlusssatzes von Glauben und Wissen – allerdings nunmehr ohne den Bezug auf ein ›absolutes Nichts‹. Wohl aber nennt der Satz ein Motiv, von dem man nur noch sagen kann, dass es in der Phänomenologie bis zum Religionskapitel hin immer wieder mehr oder weniger deutlich durchklingt. An zentralen Stellen des Aufbaus des Systems kann man es dann aber doch nur noch interpolieren. Eben jenes ›Nichts‹ und sein ›Abgrund‹, denen die wahre Philosophie eine philosophische Existenz hatte geben sollen, kommen jedenfalls weder in der phänomenologischen Einleitung in das System noch in dessen Logik und dessen Philosophie des Geistes überhaupt noch zur Sprache. Der Gehalt, gelegentlich auch der rhetorische Gestus des Schlussabschnitts von 1802 sind noch an wichtigen, wenngleich nicht mehr schlechthin zentralen Orten des Systems präsent. Was der für ihren ersten Auftritt zentrale Gedanke eines absoluten Nichts gewesen war, ist einerseits von dem Verfahrensbegriff der absoluten Negativität absorbiert, andererseits zu einem ins erste Unmittelbare abgesunkenen Nichts entleert worden. So zeichnet sich eine weitreichende Schlussfolgerung ab: Hegel vermochte die gewichtigsten Worte über das Verhältnis seiner
|| 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, hier S. 29. Ich schlage vor zu erwägen, ob der Text des wohl bedeutendsten Satzes von Hegel (ich hörte ihn zuerst aus dem Mund von Gottfried Benn) lauten sollte: »und in ihr sich erhält«. Die Symmetrie der doppelten Konjunktion legt das nahe. Es könnte ein Schreibfehler Hegels oder ein leicht zu übersehender Lesefehler des Setzers vorliegen.
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Philosophie zu der Zeit, der er sie zugehörig wusste, nur im Vorfeld von deren wirklicher Ausarbeitung niederzuschreiben. Bevor eine solche Folgerung festgeschrieben wird, sollten sich noch einige weitere Überlegungen auf die Phänomenologie des Geistes richten. Geht man von dem Schlusssatz von Glauben und Wissen aus, so hätte man erwarten können, dass, was er aussagt und was in der Vorrede der Phänomenologie ausgesprochen ist, in einem Übergang vom erscheinenden zum absoluten Wissen wiederaufgenommen werden könnte. Der Gedankengang würde dort wohl stärker mit Argumenten gestützt sein, die zugleich mehr von der Verfassung dessen anzeigen, was im absoluten Wissen gewusst ist. Was aber in Glauben und Wissen die Proklamation eines Projektes schien und was in der Vorrede der Phänomenologie doch nur eine These war, die, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, für das Ganze des Werkes gelten soll, das findet an dieser Stelle doch keine solche Entsprechung. Innerhalb der Kapitel der Phänomenologie selbst möchte man am ehesten in dem Kapitel über ›die Bildung‹ nach einer Entsprechung zum Gehalt des Schlussabsatzes von Glauben und Wissen suchen.27 Denn Hegel hatte in Glauben und Wissen die drei Formen der Reflexionsphilosophie als der Seite der Bildung zugehörig und als die letzte Stufe von deren Realisierung betrachtet. Doch man findet, dass Hegel nun das Verhältnis der ›wahren‹ Philosophie zu den Gestalten des Bewusstseins, die sie voraussetzt, ganz anders zeichnet. Auf Bildung und Aufklärung müssen zunächst die Gestalten folgen, in welche die Werke Kants, Jacobis und Fichtes vermittels ihrer moralischen Bilder von Welt und Selbstsein eingebunden sind. Daraufhin soll sich zuerst einmal eine Perspektive auf die eigentliche Religion erschließen. Als allgemeine Sphäre des Geistes überragt sie noch die Gestalten des Bewusstseins, welche die Phänomenologie ›des Geistes‹ mit der ihr eigenen Methode zu erschließen hatte. Doch damit verlässt Hegels Analyse nunmehr die Gestalten des Bewusstseins seiner eigenen Zeit. Er setzt erneut mit der natürlichen Religion an und kehrt erst im direkten Übergang von der offenbaren, der christlichen Religion aus wieder zu seiner Gegenwart zurück. Nun ist es die Aufgabe der Phänomenologie, eine Einleitung in das System auszuarbeiten, die zugleich selbst Teil des ›Systems der Wissenschaft‹ ist. Es ist schwierig genug, den Status einer solchen Einleitung als Wissenschaft nach
|| 27 Eine Analyse des Bildungskapitels sowie wichtige Überlegungen zum Verfahren der Phänomenologie und den Problemen ihrer Beziehung zu einem absoluten Wissen finden sich bei Angelika Kreß unter dem Titel, der die These der gesamten Untersuchung zum Ausdruck bringt: Reflexion als Erfahrung. Hegels Phänomenologie der Subjektivität. Würzburg 1996.
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hegelschen Begriffen sicher zu bestimmen.28 Wie in Glauben und Wissen sieht Hegel, dass die ›wahre‹ Philosophie‹ als ein absolutes Wissen nicht unvorbereitet in das Subjekt einbrechen kann, in dem dies Wissen zu unterhalten ist. Obwohl sich in ihm alles Denkbare und mit ihm es selbst sich erschließt, wäre es nur geblendet und von etwas absorbiert, was doch nur Wissen ist, wenn es frei angeeignet und in seiner inneren Entwicklung mit vollzogen würde. Das Bewusstsein muss darauf vorbereitet, dafür also quasi ›gebildet‹ sein. So muss dem absoluten Wissen eine Sequenz von Weisen der Selbst- und Weltbeziehung vorausgehen, deren Scheitern das Bewusstsein selbst auch zu erfahren hat. Die Wissenschaft soll mit ihrer Phänomenologie nur dazu verhelfen, dass das Bewusstsein die Sequenz vollständig durchläuft und sich für das Ziel, das eigentliche Wissen, aus eigener erfahrener und einsichtig gewordener Notwendigkeit aufschließen kann. Diese Bewusstseinsgeschichte durchzieht die Weltgeschichte, ohne mit ihr identisch zu sein. Sie ist ebenso von der Ideengeschichte der Kunst und der Religion zu unterscheiden, in denen die ›absolute Idee‹ sich im ›Geist‹ einer Zeit manifestiert, ohne bereits ausdrücklich von einem absoluten Wissen umgriffen zu werden. Eine solche Phänomenologie der Gestaltungen von Bewusstsein war ein der Denkart Hegels, der in hellwacher historischer Bewusstheit und deren ständiger Reflexion lebte, ganz eigenes Projekt. Seine Notwendigkeit lässt sich in der Abhandlung von 1802 absehen. Sein Abschluss war dann von widrigen Umständen bedrängt, nicht nur in Hegels persönlichem Leben, sondern in solchen, welche die Weltgeschichte selbst vor Jena und Auerstedt erwirkte. Dennoch spricht nichts dafür, dass Hegel in einem ruhiger durchdachten Abschluss des Projektes auf den Gedanken der Vorrede zurückgekommen wäre und in ihn dann zudem noch den Bezug auf ein ›absolutes Nichts‹ eingefügt hätte. Sein Fehlen in der Vorrede ist nach dem, was wir von den Texten nach 1802 wissen, bereits nicht mehr überraschend. Später hat sich Hegel diesem seinem ideenreichsten und sprachmächtigsten, aber auch methodisch undurchsichtigsten Text, der letztlich der Kontrolle entglitten war, kaum mehr ernstlich zugewendet – zumal, nachdem er meinen konnte, in Nürnberg die Begriffsform des absoluten Wissens ausgearbeitet zu haben, und als er dann in Berlin das System als Ganzes weiter durchbildete und es der Stadt und der Welt vortrug.
|| 28 Hans Friedrich Fulda hat dazu die weiterhin maßgebenden Überlegungen entwickelt (H. F. F: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt 1965).
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7 Absolutes Nichts und absolutes Wissen Wir sind nun bereit dazu, die Schlussfolgerung zu ziehen, die sich schon angekündigt hat.29 Der wichtigste Schritt, zu dem Hegel als Folgerung aus seinen Gedanken von 1802 gelangte, ging dahin, die Bewegung des Absoluten ihrer Form nach als absolute Negativität zu fassen. Bei einer Betrachtung des Gedankens ›rein an sich‹ konnte Hegel finden, dass das, als was ein absolutes Nichts zu denken ist, nur ein Nichts in reiner Selbstbeziehung sein könne. Doch diese Selbstbeziehung war wiederum nur zu verstehen, wenn ihre logische Form von der Form der Negation her verstanden wurde. Damit war zugleich die Möglichkeit begründet, eben jene Selbstbewegung einsichtig werden zu lassen, welche das Absolute ausmacht, und an ihrem Leitfaden das System zu entfalten. Indem Hegel aber diesen Schritt vollzog und fixierte, wurde es ihm unmöglich, von einem absoluten Nichts weiter in derselben Weise wie in der Abhandlung von 1802 zu sprechen. Die selbstbezügliche Negation ist nun wirklich ›rein‹ ein ›Moment‹ der absoluten Idee. Sie ist damit zum Motor aller logischen Bewegungen geworden. Dann aber kann auf sie nicht mehr wie auf einen ›geheimen Abgrund‹ zurückgekommen werden, der Grund eines ›unendlichen Schmerzes‹ ist (I, 157). Das Verschwinden dessen, was als ›absolutes Nichts‹ zu charakterisieren war, und der Abstieg dessen, was mit dem Wort ›Nichts‹ wirklich zu fassen ist, zum logischen Uranfang der unbestimmten Unmittelbarkeit – sie erweisen sich somit beide als nur zwei Seiten einer und derselben systematischen Fortentwicklung. Doch kraft eben dieses Schrittes ist es Hegel auch unmöglich geworden, die Grunderfahrung der Moderne noch unverstellt aufzunehmen, die er selbst mit dem Bewusstsein von einem ›absoluten Nichts‹ verbunden gesehen hatte. Dieser Gedanke und die mit ihm verbundene Erfahrung waren nicht so wie in der Abhandlung von 1802 aufzunehmen und gelten zu lassen, um ihnen zugleich als negativer Seite des Absoluten eine philosophische Existenz zu geben. Die Einsicht in den Prozess der absoluten Negativität etabliert unmittelbar eine Distanz gegenüber der Erfahrung des ›absoluten Schmerzes‹, von dem getrennt jene Erfahrung des absoluten Nichts auch nach Hegel selbst gar nicht zu verstehen ist. So lässt sich also unter dieser Bedingung einem ›absoluten Nichts‹ keine philosophische Existenz geben, die mit dem Gehalt dieser Erfahrung noch fugenlos zu koinzidieren vermöchte. Wo immer Hegel in der Folge jenen Schmerz benennt, den der Geist zu ertragen und die Philosophie zu begreifen
|| 29 Vgl. oben S. 28.
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hat, da wird er aus der Erfahrung der Trennung von sich im Wesen des Geistes als des ›Anderen seiner selbst‹ verstanden. Folglich bezieht sich Hegel fortan auf einen solchen Schmerz, ohne die Rede von einem ›absoluten Nichts‹ in seine Feder fließen zu lassen. Glauben und Wissen argumentierte, seiner kritischen Aufgabe gemäß, ganz grundsätzlich in Beziehung auf die gegenwärtige Situation der Philosophie. Da Hegel diese Situation von der Gesamtsituation der Zeit und ihrer Bildung her verstand, lag es nahe, in den Philosophien die Züge hervorzuheben, mit denen sie Motive in der Bewusstseinslage der Zeit in die philosophische Kontroverse hineinzogen und in ihr geltend machten. Dafür steht in herausragender Weise Jacobis Vorwurf gegen Fichte, sein System laufe, wie letztlich jede rationale Letztbegründung, auf Nihilismus hinaus. In durchaus auftrumpfender Geste trat Hegel dem mit der These entgegen, es sei Aufgabe der Philosophie dem ›Abgrund des Nichts‹ eine Existenz zu verschaffen. Nur sei, was Jacobi Fichte zum Vorwurf macht, von diesem nicht einmal erfüllt worden.30 Als aber die Konzeption der absoluten Negativität die Stelle einnahm, die Hegel als Ort für diesen Abgrund im Blick hatte, verschwand der Bezug auf ein ›absolutes Nichts‹ aus Hegels Selbstprogrammierung. Dem mag auch eine Tendenz im Zeitbewusstsein entsprochen haben. Jacobis Nihilismusvorwurf verlor seine Aktualität, auch im Blick auf Fichtes weitere Entwicklung. Als Jacobi ihn ein Jahrzehnt später gegen Schelling wiederholte, war seine Provokationskraft deutlich abgeschwächt. Jacobis Werk wuchs unterdessen für Hegel selbst eine andere Bedeutung zu, die nicht auf die Position des unmittelbaren Wissens und den allgemeinen ›Hass der Jacobischen Philosophie gegen den Begriff‹ (I, 105) zurückzubringen war: Er sieht Jacobi nun auch als den ersten, der verstanden hat, dass man Kategorien ›an ihnen selbst‹, nicht nur, wie Kant, als Funktionen des Erkennens analysieren muss.31 Doch diese Umstände sind ohne Belang gegenüber der Frage, welche philosophischen Fol-
|| 30 Fichte selbst hat auf Jacobis Vorwurf nicht mit einer Erwiderung, sondern mit einer Veränderung im argumentativen Aufbau der Wissenschaftslehre reagiert. In einem Brief vom 22. April 1799 schrieb er an Jacobi, dass er sich vorbehalte, auf einige ›streitige Punkte‹ zwischen ihnen noch ›ausführlich zu schreiben‹, was aber unterblieb. Erst in der Wissenschaftslehre von 1810 ist er auf den Vorwurf des Nihilismus explizit eingegangen und hat dargelegt, inwiefern der Vorwurf etwas richtig trifft und dennoch unberechtigt war (Johann Gottlieb Fichte: Die späten wissenschaftlichen Vorlesungen I: 1809–1811. Hg. von Hans Georg von Manz u. a. StuttgartBad Cannstatt 2000, S. 71, 124 und besonders 135). 31 In Erinnerung an die 7. Beilage zur 2. Auflage von Jacobis Briefe über die Lehre des Spinoza von 1789, so in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im 3. Band (zu Ende von Ziffer 1 des Kapitels über Jacobi).
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gerungen man aus Hegels Entfernung aus dem Gravitationsbereich der Rede von einem ›absoluten Nichts‹ zu ziehen hat. Hier kann nicht damit begonnen werden, den Assoziations- und Bedeutungsraum der Rede von einem ›absoluten Nichts‹ auszuloten. Die Geschichte dieser Rede, ihre alltäglich zu erfahrende Vieldeutigkeit und ihr Lebensgewicht, das durch bedeutende Texte ebenso wie in Lebensschicksalen bezeugt ist – all das lässt nicht erwarten, dass sie entweder als sinnlos abgetan werden könnte oder durch irgendeine fortan unstrittige Begriffsbestimmung zu fixieren wäre. Was mit dem Wort aufgerufen ist, lässt sich nur über eine Verkettung von Bedeutungen explizieren, die aber nicht zufällig, sondern wohl motiviert ist.32 Im Blick auf Hegels System und seinem Anspruch, das einzig absolute Wissen zu entfalten, stellt sich aber schlussendlich die grundlegende Frage: ob der, der ein solches ›absoluten Wissens‹ erreicht zu haben meint und der die Philosophie durch dieses Wissen auszeichnet, dieser Aufgabe überhaupt noch gerecht werden kann. Was die Beobachtungen von Hegels Bemühen zur Zeit seiner Jenaer Anfänge ergaben, lässt sich aus eben dieser Unmöglichkeit erklären. Dass das, was das absolute Wissen weiß, das absolute Nichts selbst sein soll, ist offenbar widersinnig. Was immer aber aus der absoluten Negativität folgt, die für Hegel in dem, was das absolute Wissen weiß, eine zentrale Stellung innehat – es hat den Gedanken eines absoluten Nichts bereits hinter sich gelassen. In Beziehung auf Hegels Weg zu seinem System lässt sich sagen, dass unter einer solchen Voraussetzung mit dem Versuch, diesem Nichts eine philosophische Existenz zu geben, gar nicht weiter zu kommen ist, als Hegel de facto, aber eben immer bloß in einer Programmierung gekommen ist – dann nämlich, als er den Entwurf eines Begriffs vom Absoluten im direkten Bezug auf die geistige Situation der Zeit öffentlich präsentierte. Für Jacobi ist Pascal ein maßgebender Autor gewesen. Er spürte mit ihm den ›Abgrund des Nichts‹ als eine Herausforderung auf, die vom modernen Bewusstsein nicht abzuscheiden ist. Der Widerhall dieser These ist in Hegel selbst als Autor, und gerade als Autor des Textes von 1802 zu spüren. Nur eines der Symptome dafür ist, dass er im Schlussabsatz von Glauben und Wissen (für Hegel durchaus ungewöhnlich) Pascal zitiert – und zwar dort, wo er vom Tod Gottes als Gefühl der ›Religion der neuen Zeit‹ (1, 157) spricht. Für den, der mit dieser Erfahrung vertraut ist, kann ein mächtiges Motiv dahin wirken, zusammen mit dem Eintritt in ein absolutes Wissen eine neue Epoche aufkommen zu sehen oder selbst heraufbringen zu wollen. Absolut in Be-
|| 32 Vgl. dazu Dieter Henrich: Sein oder Nichts. München 2016.
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ziehung auf die Vorgeschichte seiner Herkunft soll dies Wissen dadurch werden, dass es dem Gehalt jener Erfahrung immer noch, und angemessener als je zuvor, gerecht werden kann. Man wird wohl sagen können, dass ein solcher Versuch, der irgendwann einmal unternommen werden musste, gerade in dieser Zeit am ehesten zu verwirklichen war: Eine Begriffsform aufzubauen, die den Gedanken eines Absoluten zu Ende führt und die ihn zugleich bis zu dem Gedanken eines absoluten Wissens und mit ihm zugleich in dessen wirklichen Besitz vorantreibt. Aber es bleibt immer doch zweierlei: den Gedanken von einem Absoluten zu entfalten und ihn also auch in Beziehung zum Wissen zu setzen oder sich in den Vollzug eines absoluten Wissens eingetreten zu finden. Der, für den das zweite gilt, kann sich als Person wohl immer noch in die Situation zurückversetzen, in der ihm der Gedanken eines absoluten Nichts nachging und in einen ›unendlichen Schmerz‹ hineinzog. Er kann aber diesem ›absoluten Nichts‹ in seinem eigenen Wissen und seinem Lehrbegriff nun nicht mehr die ›Existenz geben‹, auf die ihm doch ein Rechtsanspruch zugestanden war. Dieser Gedanke, im Ernst aufgenommen, müsste das eigene Denken in seinem Anspruch, absolutes Wissen zu sein, herausfordern. Hegel hat selbst gelehrt, dass sich das Subjekt in einem Wissen, das absolut ist, nur dem Selbstvollzug eines absoluten Prozesses in Verstehen und Genuss anheimzugeben hat. Ein solches Subjekt kann sich von dem Schmerz des absoluten Nichts erlöst glauben und diesen Gedanken samt der Erfahrung, die ihn trägt, für aus dem System verstoßen halten, wenn einmal dies Nichts im Denken zur absoluten Negativität verwandelt wurde und so dem absoluten Wissen vom Absoluten anverwandelt worden ist. Der ›unendliche Schmerz‹, der mit dem Gedanken des ›absoluten Nichts‹ aufkommt, ist aber nicht identisch mit dem Schmerz, der in der Trennung von dem erfahren wird, das dann doch im Leben des Geistes als dessen eigenes Anderes erkannt wird. Ein solches Anderes ist die Natur. Im Gegensatz zu ihr gewinnt der Geist seine Freiheit. Und in diesem Sinn spricht Hegel von Freiheit dort, wo er im Eingang zur Philosophie des Geistes dessen Wesen definiert. Der bloße Gegensatz von vollendeter Freiheit und Natur wird sich im Begreifen der Ungetrenntheit der beiden als Moment im Prozess des Absoluten relativieren.33
|| 33 Dass Trennung und Schmerz im Begreifen der Einigkeit des Lebens schwinden, das sich in Gegensätzen entfaltet, ist Hegels über die Wiederbegegnung mit Hölderlin gefestigte frühe Überzeugung. Dass sie auch dem Muster von Hegels System zugrundliegt, wird manifest am Eingang zu dessen Philosophie des Geistes. Dass aber die Festigkeit dieser Überzeugung gegen
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So wird auch jeder Schmerz der Trennung im Genuss der Betrachtung dahinschwinden. Aber an eben dieser Stelle ist von einem ›absoluten Nichts‹ nun nicht mehr die Rede. Ein absolutes Wissen, das sich als sich selbst genügende Betrachtung werden muss, kann den Gedanken von einem ›absoluten Nichts‹ nur verwandeln, ihm aber nicht als solchem nachgehen. Ein letztes Wissen, das dies vermag, das dann aber kein absolutes wäre, ist nicht ohne einen Beitrag zu gewinnen, den das Subjekt aus sich selbst heraus zu erbringen hat. Und eben dies, dass es so ist, muss es dann auch begreifen und so in der Gesamtanlage einer philosophischen Konzeption wirksam werden lassen. Seine Weise der Verständigung wird aber niemals mit einer reinen Betrachtung gleichzusetzen sein. So ist es wohl eher, wie Fichte lehrte, eine Implikation des Gedankens eines Absoluten selbst, welches ins Wissen eintritt, dass es das Subjekt vor eine Alternative bringt, in der es sich als es selbst zu orientieren hat. Das EntwederOder, das Hegel als das Prinzip ›des der ›Vernunft entsagenden Verstandes‹ disqualifizieren muss (I, 134), behält insofern die Bedeutung der Voraussetzung jeder in Einsicht gegründeten Lebensgewissheit. Aber gerade dies scheint auch die Voraussetzung zu sein, unter der allein dem abgründigen Gedanken von einem absoluten Nichts eine philosophische Existenz zu geben ist – und zwar so, dass nicht an seiner Stelle etwas substituiert wird, in dem die Erfahrung schließlich doch ausgeblendet werden muss, die in der Moderne historische Bedeutung gewann. Zweifel an Hegel, die sich aus solchen Überlegungen begründen sollten, haben sich in der weiteren Geschichte des Denkens beinahe überall Bahn gebrochen. Darüber hat sich freilich dem Verständnis wieder entzogen, was Hegel wirklich zu leisten vermochte, indem er der Aufgabe jeder Philosophie ebenso wie den Grundlagen seiner Zeit in einer Konzeption höchster Subtilität zu entsprechen versuchte. Hat man aber die Bedingungen vor Augen, unter denen seine Konzeption entstand und die innere Folgerichtigkeit in dem Gang zu ihr hin verstanden, dann ist es schon deshalb unmöglich, zu ihr zurückzukehren. Zudem hat sich die Situation der Welt gegenüber der Moderne, die Hegel vollenden, aber damit auch überwinden wollte, in Wahrheit nicht grundsätzlich gewandelt. Die Herausforderung durch die Erfahrung eines ›absoluten Nichts‹ ist jedoch nun auf noch ganz andere Weise als nur ›im Gefühl‹ manifest geworden, nämlich als die Motivation, die Menschheitskatastrophen heraufgeführt hat und die auf weitere voraussehen lässt. Um sie auch nur in Gedanken zu || die Erfahrung der Verlorenheit des Lebens kraft absoluten Wissens, und letztlich nur kraft seiner, zu gewinnen ist, scheidet beider Wege, auch beider Lebenswege, voneinander.
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fassen, muss man die Potentiale sowohl beherrschen wie durchschauen, die Hegel in dem Versuch entfaltet hat, die Herausforderung dadurch stillzustellen, dass er ihr eine philosophische Existenz gab. Ihm ist diese Herausforderung entglitten, weil sie sich an der Stelle, die Hegel ihr im Verband eines absoluten Wissens allein noch zuweisen konnte, nicht wirklich hat wiederfinden lassen. Hegels Postulat, ihr eine ›philosophische Existenz‹ zu geben, ist somit weiterhin uneingelöst in Kraft.
| Spätmittelalter und Frühe Neuzeit
Jan-Dirk Müller
Schade und Schädlein Über die Grenzen berechnender Klugheit und exemplarischen Erzählens1 Fabliaux/Maeren sind amoralisch – das ist keine eben neue Erkenntnis. Ehebrüche, Betrügereien und abgefeimte Listen werden so erzählt, dass man nicht nach ihrer Moral fragt, sondern über deren Verletzung lacht. Fabliaux und Mæren heben die Moral nicht auf, im Gegenteil ist sie im Hintergrund immer präsent, setzt sich manchmal auch im Schluss der Geschichte durch oder wird in einem Epimythion warnend vorgetragen, aber die Handlung setzt sie momentan außer Kraft. Die Transgression auf Widerruf ist attraktiv und macht Spaß. Nicht immer allerdings bereitet ihr Gelingen Vergnügen. Transgressionen können auch ambivalent sein. Dann setzen sie Reflexionen über die Mechanismen frei, die die Handlung bestimmten, über die Maximen, die die handelnden Personen leiteten, und über die Normen, die sich durchsetzten. Die frühneuzeitliche Novelle, die Mæren und Fabliaux beerbt, wird deshalb zu einem ausgezeichneten Reflexionsmedium der Regeln, die mehr oder weniger unhinterfragt menschliches Verhalten steuern oder steuern sollten.2 Als solch ein Reflexionsmedium lassen sich aber schon die Mæren Heinrich Kaufringers aus dem 14. Jahrhundert lesen. In ihnen setzt sich ein Pragmatismus durch, der den moralischen Hintergrund nahezu völlig ausblendet. Kaufringer erzählt von ›technisch‹ praktikablen Lösungen: Wie teilen sich zwei Ritter eine Frau (Der zurückgegebene Minnelohn), wie schützt man sich vor den Folgen eines (wenn auch unbeabsichtigten) Mordes (Die unschuldige Mörderin)? Wie bringt man jemanden, der den Ehebruch verhindern will, dazu, ihn zu fördern (Der Mönch als Liebesbote)? Wie kann ein Mann Ehre und Leben trotz Vergewaltigung seiner Frau schützen (Der || 1 Als ich zur Mitarbeit an einer Festgabe für Friedrich Vollhardt aufgefordert wurde, hatte ich vor, zum Thema des Bandes durch einen Aufsatz über Christoph Martin Wielands Schriften zur Französischen Revolution beizutragen. Die Vorbereitungen erwiesen sich aber als so schwierig, und es kamen so viele unerwartete Verhinderungen hinzu, dass ich mich für ein vertrauteres Gebiet entschloss, das sich mit dem Kernthema nur berührt. Die kleine Skizze betrifft allenfalls einen winzigen Ausschnitt aus der Vorgeschichte der Thematik, der der Band überwiegend gewidmet ist. 2 Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969.
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feige Ehemann)? Das letztgenannte Mære ist besonders von Ambivalenzen geprägt. Es setzt mit einer Allerweltsweisheit ein: Ain schädlin wärlich pesser ist dann ein schad ze aller frist. under zwaien übeltat ist das allweg wol mein rat, ob man aintweders müeste han, das merer übel sol man lan und sol das minder übel haben (v. 1–7). (Ein kleiner Schaden ist wahrhaftig immer besser als ein großer. Mein Rat ist immer, wenn man eins unter zwei Übeln auf sich nehmen muss, sollte man das größere lassen und das kleinere wählen.)3
Als Beleg wird eine Dreiecksgeschichte erzählt: Ein reicher Mann in Straßburg hat eine wunderschöne, dabei unverbrüchlich tugendhafte Frau. Das weckt das Begehren eines Ritters. Er erklärt der Dame seine Absichten; sie weist ihn empört zurück und erzählt davon ihrem Ehemann. Dieser schlägt vor, dem Ritter eine Falle zu stellen; die Frau soll ihn zu sich einladen, wenn ihr Mann angeblich außer Haus ist. Dieser versteckt sich, um den Ritter in flagranti zu überraschen, bis an die Zähne bewaffnet. Der Ritter erscheint elegant gewandet, als wollte er zum Tanz gehen, und ohne Rüstung, nur mit einem Degen. Die Frau gibt vor, ihn wegen seiner leichten Kleidung warnen zu wollen, um tatsächlich ihrem Ehemann zu verstehen zu geben, dass er nichts zu fürchten hat, wenn er ihn angreift. Doch der Ritter zeigt ihr, dass er gar keine stärkeren Waffen braucht und ihm sein »messer« reicht, um auch den dicksten Harnisch zu durchstechen. Jetzt bekommt es der Ehemann mit der Angst zu tun. Er traut sich nicht heraus, so dass der Ritter Gelegenheit hat, bei der Frau handgreiflich zu werden und, als sie sich wehrt, sie zu vergewaltigen; unbehelligt kann er abziehen. Als die Frau ihren Mann zur Rede stellt, warum er ihr nicht zu Hilfe gekommen ist, verteidigt der sich: Wenn er den Ritter angegriffen hätte, dann hätte der ihn trotz seiner leichten Bewaffnung tot gestochen: so wär ich ze diser frist des todes aigen gewesen gar; das wär ein grosser schade zwar.
|| 3 Heinrich Kaufringer: Werke. Hg. von Paul Sappler. I. Text. Tübingen 1972, S. 73–80; vgl. Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996, S. 720–737; Kommentar S. 1269–1274; bibliographische Angaben S. 1272.
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sunst hast du gelitten pein. das haist und ist ein schädlein; des machtu genesen wol (v. 268–273). (Dann wäre ich jetzt eine Beute des Todes; das wäre wahrhaftig ein großer Schaden; so hast [nur] Du Schmerz gelitten; das heißt und ist ein kleiner Schaden; davon kannst Du dich leicht erholen).
Er versucht, sie gütlich zu beruhigen und versichert großmütig: schweig still, liebe frauwe mein, und lauß die sach auch guot sein, die geschehen ist an dir. du solt das gelouben mir, ich will ze arg nimer mer gedenken deiner wird und er (v. 249–254). (Schweig, liebe Frau, und lass die Sache auf sich beruhen, die dir da passiert ist. Das sollst du mir glauben, ich werde nie schlimm über deine moralische Integrität und deine Ehre denken).
Wenn er sich nichts daraus macht, dass seine Frau vor seinen Augen mit einem anderen geschlafen hat, dann könne auch sie um ihr Ansehen unbesorgt sein. Solch nüchterne Opportunitätsüberlegungen sind gattungstypisch, ethische Aspekte gänzlich ausgeklammert. Der Frau wird zwar anfangs »frümkait« zugesprochen (v. 31), »zucht und grosser tuget vil« (v. 33); in der ganzen Welt gebe es keine Frau »als frumm, schön unde rain, | die zucht und grosse tuget hat« (v. 43f.). Der Maßstab dafür aber ist, was die Leute sagen, ihr Leumund: Niemant von ir hören macht, damit ir ere wurd geswacht (v. 35). (Niemand konnte von ihr etwas hören, das ihrer Ehre abträglich war.)
Schon hier ist vorbereitet, was der Ehemann anbietet: Wenn er sein Versprechen hält, wird sich am Status und dem Ansehen der Frau nichts ändern. Allerdings hatte der Erzähler angekündigt, dass seine Geschichte auf die vorausgestellte Maxime vom großen und kleinen Schaden ziemlich gut, aber doch nicht ganz passt (»etwie vil und doch nit gar«, v. 24), und er wiederholt diese Einschätzung in seinem Epimythion noch einmal (v. 275). Das Verhältnis
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zwischen der vorausgestellten Maxime und dem Exemplum, das sie beweisen soll,4 ist gestört, und das aus mehreren Gründen. Dem Schwank vorausgestellt sind andere Beispiele, in denen sich der Satz angeblich bewahrheitet. Diese liegen aber nur zum Teil auf derselben Ebene und sind weit weniger voraussetzungsreich. In ihnen allen geht es darum, Schaden zu minimieren, sofern es Handlungsalternativen gibt. Schade und Schädlein gehören in diesen Fällen derselben Klasse von Beeinträchtigungen an und beziehen sich auf dieselbe Person. Sie sind nur quantitativ different. Der erste Fall: e das ainer wurd begraben, e solt er hend und füeß verliesen (v. 8f.). (Bevor jemand tot ist und begraben wird, sollte er Hände und Füße verlieren.)
Verglichen wird bei Leibesstrafen der Verlust des Lebens mit dem Verlust der körperlichen Integrität. Wo das Ganze erhalten werden kann, ist der Verlust eines Körperteils zu verschmerzen. Die Überlegung spielt auf ein Wort Jesu an: Um der Rettung der Seele willen ist es besser einen körperlichen Schaden in Kauf zu nehmen und einen Körperteil zu verlieren: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus …« (Mt 18,8–9). Hier dagegen ist die Perspektive rein in die Immanenz verschoben. Geht es in der biblischen Parallelstelle darum, dass die Verpflichtung auf Gottes Gebote Vorrang vor allen körperlichen Beschädigungen hat, so bleibt Kaufringers Argumentation ganz im Horizont der Körperwelt. Der zweite Fall: ainer sol auch lieber kiesen, ob ain statt verprinen wolt, und daz er niderwerfen solt sein haus und auch erzerren gar, das das fewr nicht fürbas far, e das die statt wurd gar verbrant (v. 10–15). (Man soll es auch vorziehen, wenn eine Stadt in Gefahr steht zu verbrennen, sein Haus abzureißen und so zu erreichen, dass das Feuer sich nicht weiter ausbreitet, bevor die ganze Stadt verbrannt würde.)
|| 4 Zum exemplarischen Erzählen Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1975, S. 347–375.
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Der große Schaden für die Stadt ist schlimmer als der kleine Schaden für den einzelnen Bürger, denn er würde diesen gleichfalls treffen. Auch hier geht es nicht so sehr um die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft als um ein nüchternes Kalkül der Schadensbegrenzung: Wenn nur ein Haus brennt, ist das besser, als wenn alle den Flammen zum Opfer fallen. Der dritte Fall steht den Überlegungen zur Ehre in der Schwankhandlung am nächsten: ain ieglich dieb tuot auch das kant. der verliesen muos das leben und dem galgen wirt gegeben, der pitt durch der eren schein, das man im näm das haubet sein. (v.16–20) (Jeder Dieb beweist das auch, der sein Leben verwirkt hat und dem Galgen übergeben wird: Er soll der Ehre zuliebe darum bitten, das man ihm den Kopf abschlage.)
Das ist nach mittelalterlicher Auffassung plausibel: Enthauptung ist eine weniger schmachvolle Strafe als Hängen; sie ist Privileg des Adels. Sein Leben wird der Dieb so oder so verlieren. Doch gibt es selbst bei der Hinrichtung noch schlimmere und weniger schlimme Varianten. Das unehrenhafte Hängen 5 ist ein Schaden, dem das Schädlein der Enthauptung vorzuziehen wäre. In allen drei Fällen geht es um pragmatische Abwägungen der Folgen eines unabwendbaren Schadens, dessen Eintreten nicht in Frage gestellt wird. Dabei ist jedes Mal ein Verhältnis von Teil und Ganzem vorausgesetzt: Körper und Körperteil, Stadtgemeinde und Stadtbewohner, größere und kleinere Ehre. Im ersten Fall ist der Maßstab die körperliche Integrität, im zweiten die Integrität des Besitzes, im dritten die Integrität der Ehre eines Menschen, die bewahrt werden soll. Aber treffen diese Merkmale wirklich auf den Fall der vergewaltigten Ehefrau zu? In der Perspektive des Mannes liegt auch hier die Relation Ganzes/Teil vor. Das gilt so lange, als man die Eheleute als ›ein Fleisch‹,6 eine Person, betrachtet, so dass der Schaden wie bei den zuvor genannten Beispielfällen dasselbe Opfer träfe. Der Ehemann kalkuliert: der kleine Schaden, den das Paar erlitten hat, die
|| 5 Hängen ist die billigste Strafe, üblich vor allem bei Diebstahl; vgl. Wolfgang Schild: [Art.] Hängen. In: Albrecht Cordes u. a. (Hg.): HWb Rechtsgeschichte. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2012, Sp. 758–763. 6 Jan-Dirk Müller: Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den ›Drei listigen Frauen‹. In: Alfred Ebenbauer (Hg.): Philologische Untersuchungen. FS Elfriede Stutz. Wien 1984, S. 289–311, hier S. 309, Anm. 31.
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Frau am eigenen Leib und er durch sie als Eheherr, zählt nichts im Vergleich mit der Lebensgefahr für ihn. Und so ist es aus seiner Perspektive in der Tat. Die Vergewaltigung der Ehefrau ist zwar der Ehre des gehörnten Ehemannes abträglich, jedenfalls wenn sie ruchbar wird. Das aber will er gerade verhindern, und auch das Binnenverhältnis der Eheleute soll ungetrübt bleiben, da er über den kleinen Schaden hinwegsehen will (vgl. oben zu v. 253f.). Was heute wie eine zynische Großzügigkeit klingt, entspricht mittelalterlicher Auffassung von Ehe: Die ›entehrte‹ Frau hätte dem Mann Anlass geboten, sie zu verstoßen; ihre Vergewaltigung ›passiert‹ insofern auch ihm, und weil das so ist, kann er überlegen, welchen Schaden er für den schädlicheren hält: einen Ehrverlust, von dem niemand erfährt, oder den Verlust des eigenen Lebens. Allerdings gilt das nur so lange, wie die Perspektive der anderen Figuren nicht zur Geltung kommt. Der Erzähler problematisiert zwar grundsätzlich nicht das Geschlechterverhältnis, das vorrangig regelt, was dem Mann schädlich wäre; er problematisiert nicht die Abstufung zwischen Schaden und Schädlein und stellt nicht das selbstverständlich vorausgesetzte Kräfteverhältnis zwischen einem Bürger und einem Ritter in Frage. Er bekräftigt also das im Mære vorherrschende Gender- und Ständeklischee, aber er erzählt eben auch von den Reaktionen der beiden anderen Beteiligten. Die Frau weist den Liebhaber nicht nur zurück und schreit, als er handgreiflich wird, um ihren Ehemann zum Eingreifen aufzufordern, sondern ist und bleibt untröstlich über die Gewalt, die ihr angetan wird.7 Sie wehrt sich und, als ihr das nichts hilft, »wainet gar von herzen ser« (v. 219). Sie beschimpft den Vergewaltiger »gar scharpflich« (sehr heftig, v. 227). Die Trostreden des Ritters (»süesse[ ] red«, v. 223) verfangen nicht: das was ir zu dem tod getaun. si mocht gen im nit fraintlich tuon und gab im weder frid noch suon (v. 224–226). ([Seine »süesse red«] verletzte sie tödlich; sie vermochte nicht, freundlich zu ihm zu sein, und verzieh ihm nicht.)
In ihren Augen hat sie ihre Ehre verloren (v. 220f.; 245), ganz gleich, was die Leute erfahren, denn für sie ist offenbar Ehre nicht nur das, was die Leute über sie sagen und denken. So wirft sie ihrem Mann seine Feigheit vor, dass er ihr nicht zu Hilfe gekommen ist.
|| 7 Vgl. v. 208, 210, 219–221, 224–227.
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Beides fehlt in der quarte nouvelle der Cent nouvelle nouvelles, die als am engsten verwandt mit dem Verlauf in Kaufringers Mære gilt. Sie hat eine ganz andere Dramaturgie. Der Ritter ist von Anfang bis Ende dank seiner enormen Waffe überlegen, der Ehemann ihm gegenüber chancenlos. Die Frau scheint über die Zudringlichkeit des Ritters keineswegs nur erbost, und entsprechend richtet ihr Ehemann Vorwürfe an sie und nicht umgekehrt.8 Es ist die klassische Situation des cocu. Sie ist umso komischer, als der Ehemann sich mit seiner Ängstlichkeit in seinen eigenen Arrangements gefangen hat. Im Motiv verwandt, erzählt die quarte nouvelle letztlich also eine ganz andere Geschichte, die vorwiegend aufs Lachen zielt: über den ängstlichen Bürger, über die unnütze Vorsicht, über die insgeheim lüsterne Frau und die Möglichkeit zur Transgression auf Grund der angeblichen Absicht, die Transgression zu vermeiden. Doch nicht nur die Ehefrau in Kaufringers Mære reagiert ganz anders, als es dieser Konstellation einer gefahrlos genossenen, da von hochmoralischen Absichten gedeckten Transgression angemessen wäre, denn auch der Ritter ist keineswegs zufrieden. Zuvor war er als »rechter lantfarer« (v. 46) eingeführt worden, als Frauenheld und Verführer, euphemistisch umschrieben mit: er pruchet seinen werden leib oft und vil durch schöne weib, den er dienet fruo und spat (v. 47–49). (Er setzte sein edles Leben | seine vornehme Person oft und viel für schöne Frauen ein; ihnen diente er von morgens bis abends.)
Als er dann aber am Ziel seiner Wünsche angekommen ist, ist es aus mit seinem selbstsicheren Frauendienst. Er versteht nicht, was ihm widerfahren ist, so dass er irgendwann – unsicher? deprimiert? – abzieht: das er von dannen machet sich gar mit trurigem muote zwar. er wisset das nicht fürwar, wie er es geschaffet hett, wol oder übel, an der stett (v. 228–231).
|| 8 Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer. Trier 1993, S. 58–63, hat besonders die Differenzen in den Reaktionen der Protagonisten während und nach der Vergewaltigung herausgearbeitet und gezeigt, wie die nouvelle auf andere Reaktionen zielt. Gerade der Vergleich mit einem weithin eng verwandten Text belegt, wie steril die Suche nach ›Quellen‹ ist, solange man die narrative Organisation nicht beachtet.
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([…] dass er wahrhaftig ganz traurig von dannen schlich. Er wusste wirklich nicht, wie er dies bewirkt hatte, gut oder schlecht, bei dieser Gelegenheit.)
Schließlich hatte die Frau ihn ja eingeladen, zu ihr zu kommen, wenn sie allein sei. Statt eines pikanten Abenteuers erlebt er eine auch für den Frauenheld unerfreuliche Szene. Die quarte nouvelle bestätigte die ungetrübte Überlegenheit des Ritters, die feige Erbärmlichkeit des Gatten und die Anfälligkeit der Frauen für sexuelle Abwechslung: ein unproblematisches Conte à rire. In Kaufringers Mære dagegen bleibt das Lachen im Halse stecken. Ist die Alltagsweisheit wirklich bestätigt worden? Die beteiligten Figuren sind offenbar mehr als bloße Marionetten der Abwägung von größeren und kleineren Schäden. Dem Fall liegt also – anders als den übrigen Exempla – gerade nicht die Relation Ganzes/Teil zugrunde. Irgendwelche ethischen Maßstäbe existieren zwar nicht, aber was die angeblichen Parallelfälle ausblenden, lässt sich bei der vergewaltigten Ehefrau nicht übersehen. Sie hat eine eigene Sicht auf die Dinge. Ihrem Mann ist eben nichts widerfahren, ihr schon. Es kommt Psychologie ins Spiel. Das Abwägen zwischen dem Verlust eines Gliedes und dem Verlust des Ganzen ließ unerörtert, was der Grund des Verlustes sein könnte: eine Strafe für eine Verfehlung, ein Unfall, eine heroische Tat oder was sonst; der Schaden ist eingetreten, und seine Konsequenzen werden abgewogen. Ganz ist die körperliche Integrität offenbar nicht zu bewahren; da muss man überlegen, wie man am besten herauskommt. Der Brand ist irgendwann ausgebrochen, und man muss mit ihm umgehen. Das Verbrechen des Diebes steht außer Frage; es geht nur darum, welche Strafe gelinder ist. Zwar ist auch die Vergewaltigung der Frau oder auch der Ehebruch vor den Augen des Ehemann unbestreitbar, aber die Reduktion der möglichen Folgen auf den Hausherrn ist in diesem Fall offensichtlich zu wenig. Zudem ist der Schaden kein fait accompli: er war, so jedenfalls der Erzähler, vermeidbar. Er überlegt, dass es ja noch andere Möglichkeiten bei der Auflösung der für den Ehemann gefährlichen Situation gegeben hätte, und er präsentiert einen besseren Vorschlag. 9 Der Mann hätte ja hinzukommen können, bevor der Ritter zudringlich wurde, ohne ihn gleich anzugreifen. Dann wäre weder ein »schädelein | an der lieben frawen sein« (v. 281f.) geschehen noch ein »schad an im« (v. 283); der Ritter hätte sich verziehen müssen. Dank dieser Überlegung kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Musste es so kommen, wie es
|| 9 Stede (Anm. 8), S. 64f., sieht hier eine Unentschiedenheit, wenn nicht einen Widerspruch. Sie sind aber gerade Zeichen für das Aufbrechen der Erzählform.
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kam? Es handelt sich um einen besonderen Fall mit besonderen Handlungsalternativen, und die wären, anders als in den typisierten Beispielfällen, die das Mære einleiten, zu berücksichtigen gewesen. Der Erzähler schlägt eine andere Lösung vor, bei der zwar auch maximale Schadensminderung das Prinzip ist, aber nicht auf Kosten nur einer Figur. Solch ›kasuistische‹ Prüfung ist Bedingung eines ›novellistischen‹ Erzählprinzips, das am frühesten und konsequentesten vielleicht von Giovanni Boccaccio im Decameron ausgebildet wurde und das in der deutschen Literatur am ehesten bei Heinrich Kaufringer verwirklicht ist.10 Einleitend wird ein allgemeiner Satz aufgestellt, für den die folgende Narration den Beweis zu liefern verspricht. Doch anstelle eines exemplarischen Erzählens, das die völlige Konvergenz von Basissatz und Erzählung darzutun hätte, öffnet sich ein Riss zwischen dem Basissatz und anderen Basissätzen sowie zwischen dem allgemeinen Geltungsanspruch des Basissatzes und der besonderen Alltagsgeschichte, in der er sich bewahrheiten soll. Damit ist der Mechanismus des Basissatzes gesprengt, so dass der Erzähler den Mann beschimpfen und verfluchen kann, dass der seiner Frau nicht zu Hilfe gekommen ist. Dieser Vorwurf ist bezeichnenderweise in eine andere Maxime gepackt: dass man »sein guot fraind« (nahe stehenden Menschen) in der Not helfen soll (v. 290f.). Sinnsprüche wie der vom kleinen und großen Schaden können also mit anderen Sinnsprüchen kollidieren, und dann muss man abwägen, was gelten soll. Das Mære reflektiert ansatzweise die Pluralität von Normen. Und die Applikation von Sinnsprüchen auf konkrete Fälle setzt einen Auslegungsspielraum voraus, in dem es ein Mehr oder Weniger geben kann, auch wenn sich der Erzähler mit der moralischen Anstößigkeit des Vorfalls gar nicht erst aufhält. Und noch eine dritte Beobachtung deutet eine Wandlung der Erzählform an, der Ansatz zu einem Perspektivismus des Erzählens. Zu Beginn stellt der Erzähler den Satz vom großen und kleinen Schaden als Allgemeingültigkeit beanspruchende Norm in den Raum und erörtert ihn an drei typischen Beispielen. Im Mære selbst aber erscheint dieser Satz im Munde eines der Protagonisten. Der Sinnspruch gilt nicht mehr ›objektiv‹, sondern wird für einzelne Figuren handlungsleitend. Die prätendierte Allgemeingültigkeit des Satzes soll einen subjektiven, ja parteiischen Standpunkt unterstützen. Insofern stimmt das in den ersten beiden Versen vorausgestellte Motto:
|| 10 In meiner Anm. 6 zitierten Untersuchung habe ich das an drei Versionen des Mære von den drei listigen Frauen zu zeigen versucht; vgl. auch Neuschäfer: Boccaccio (Anm. 2).
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Ain schädlin wärlich pesser ist dann ain schad ze aller frist (v. 1f.). (Ein kleiner Schaden ist wirklich stets besser als ein großer.)
trotz nahezu gleichen Wortlauts nur scheinbar mit dem überein, was der Ehemann zu seiner Entschuldigung sagt, ain schädlin ist doch pesser zwar dann ain schad, das wiß fürwar! (v. 259f.) (Ein kleiner Schaden ist doch wirklich besser als ein großer, das sollst du wahrhaftig wissen.)
Die Frau muss die Allgemeingültigkeit des Satzes erst noch einsehen (»das wiß fürwar«), denn sie empfindet offensichtlich anders. Was nach einer gelungenen Applikation aussieht, ist in Wirklichkeit die Instrumentalisierung einer banalen Alltagsweisheit für eigensüchtige Interessen. Auf vierfache Weise, durch die Hereinnahme von Figurenperspektiven, durch die Nicht-Selbstverständlichkeit der Handlungsverknüpfung, durch die Kollision mit anderen Maximen und durch die Bindung des allgemeinen Satzes an subjektive Interessen und Einschätzungen wird die Gültigkeit des Satzes in Frage stellt, wie gleich zu Beginn verkündet: ain aubentür beschehen ist vor zeiten, als man davon list, die triffet dise red an zwar etwie vil und och nit gar (v. 21–24). (Eine seltsame Geschichte ist vor Zeiten geschehen, wie man liest. Auf die trifft dieser Satz wirklich in vieler Hinsicht zu, allerdings doch nicht ganz.)
Und auf diese Relativierung kommt der Erzähler am Ende wieder zurück: »er hat war und doch nit gar« (was er sagt, ist richtig, aber doch nicht ganz, v. 273:). Die Bindung an eine subjektive Perspektive bildet sich auch in der Erzählhaltung ab. Was der Erzähler zu Anfang als allgemeingültig konstatiert, erscheint im Epimythion als sein persönliches Urteil. Der Erzähler sagt mehrmals ausdrücklich ›ich‹. Seine Kritik an der Applikation des Basissatzes auf den besonderen Fall leitet er mit der Ankündigung ein: »Für war ich nun sprechen sol« (v. 274: wahrhaftig, ich werde jetzt sagen). Noch zwei weitere Male bringt sich dieses Ich ins Spiel, das zwar behauptet, für ein allgemeines Man zu sprechen, wenn es dem Ehemann »schand und laster« (jede Art und Schande, v. 287) zuspricht, das aber nicht mit diesem Man identisch ist:
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ich wünsch im bis an seinen tot als ungelück ze leipgeding. got geb, das im nicht geling, was er immer greifet an! nit bösers ich im wünschen kann (v. 292–296). (Ich wünsch ihm bis zu seinem Tod alles Unglück an seinen Leib. Gott gebe, dass ihm nichts glückt. Schlimmeres kann ich ihm nicht wünschen.
Am Ende steht also eine Verwünschung, von der man nicht weiß, ob sie eintreten wird oder nicht, so wie man nicht wissen kann, ob der Basissatz wirklich zutrifft. Ein Kasus, der das exemplarische Denken erschüttert: ein Kasus mit offenem Ausgang. Was als Exemplum angelegt ist, mündet in die offene Struktur einer Novelle und erörtert die anderen Möglichkeiten eines für die Frau glimpflicheren Verlaufs. Die Applikation ist misslungen, weil das konkrete Geschehen sich nur scheinbar der dichotomischen Struktur des Basissatzes fügt. Was vorgefallen ist, ist komplizierter als vom Basissatz vorausgesetzt, und es sind sogar andere Verläufe denkbar, die sich dem Satz entziehen, weil überhaupt kein Schaden eingetreten wäre. Mæren eröffnen Spielräume abweichenden Verhaltens und siedeln sich in Lücken einer Ordnung an, die als Ganze zwar nicht in Frage gestellt, aber ad hoc ›vergessen‹ wird. Das bedeutet auch, dass nie grundsätzliche Fragen diskutiert, sondern stets pragmatische Entscheidungen getroffen werden. Das Mære vom feigen Ehemann regt aber dazu an, solche pragmatischen Entscheidungen zu überprüfen und durch die Erzählform zu problematisieren. Man wird kein epistemisches Äquivalent zu diesem Pragmatismus finden, wie dies in der Frühen Neuzeit oft möglich ist. Im Gegenteil unterbietet das Mære geltende Wissensordnungen, indem es sie einfach ausblendet und sich auf ein paar anspruchslose Alltagsweisheiten verlässt, wie sie in Sprichwörtern und dergleichen überliefert sind. Die (entstehende) Novellenform erlaubt aber, solche Alltagsweisheiten zuzuspitzen und ihre Geltung am besonderen Fall und für ein besonderes Personal zu erproben. Der Kaufringer schreibt im 14. Jahrhundert, in dem man auch andernorts, zumal im Italien Boccaccios, solche Erprobung beobachten kann.
Michael Schilling
Flugblätter religiöser Dissidenten in der Frühen Neuzeit Vor fünf Jahren hat der Arabische Frühling die Bedeutung der Medien – in diesem Fall des Internets und des Satellitenfernsehens – für oppositionelle Gruppen und Dissidenten in diktatorischen und totalitären Staaten erneut ins Bewusstsein gehoben. Auf der Gegenseite zeugen die Versuche etwa der chinesischen Führung, die Kontrolle über die neuen Medien zu gewinnen, von der Furcht der Machthaber vor dem medial beschleunigten und vervielfältigten Potential kritischer Äußerungen oder gar des Protestes gegenüber der Herrschaft. Im 20. Jahrhundert hatte ein anderes Medium, das sich durch seine preiswerte Herstellung, schwere Kontrollierbarkeit und schnelle Verbreitung auszeichnet, wichtige Funktionen des Widerstands übernommen: das Flugblatt. Flugblätter waren wesentliche Informationsmittel des Samisdat wie auch der Studentenbewegung von 19681 und trugen damit in erheblichem Maße zu gesellschaftlichen Veränderungen bei. Die Flugblätter, welche die Geschwister Scholl 1943 in der Münchener Universität auslegten,2 entfalteten als Zeugnisse des Widerstands gegen das NS-Regime eine bis heute anhaltende Wirkung. Und geht man weiter zurück, waren Flugblätter bedeutende Instrumente der Propaganda und Agitation, aber auch der Information und Belehrung im Vormärz,3 während der Französischen Revolution4 oder bei der Durchsetzung und Konsolidierung der Reformation.5 Es gehört mittlerweile zu den Gemeinplätzen der
|| 1 Jürgen Miermeister/Jochen Staadt (Hg.): Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965−1971. Darmstadt/Neuwied 1980. 2 Sönke Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell. Köln/Weimar/Wien 2008. 3 Karl Obermann (Hg.): Flugblätter der Revolution. Eine Flugblattsammlung zur Geschichte der Revolution 1848/49 in Deutschland. München 1972; Horst Denkler: Politik und Geschäft. Beobachtungen bei der Durchsicht populärer Flugblattreihen aus der Berliner Revolution 1848/49. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 5 (1980), S. 94−126. 4 Klaus Herding/Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der Französischen Revolution. Frankfurt a. M. 1989. 5 Hermann Meuche (Hg.): Flugblätter der Reformation und des Bauernkrieges. 50 Blätter aus der Sammlung des Schloßmuseums Gotha. Katalog von Ingeburg Neumeister. Leipzig 1976; Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin/New York 1992; Franz-Heinrich Beyer: Eigenart und Wirkung des reformatorischpolemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit. Frankfurt a. M. u. a. 1994.
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Forschung, dass der Erfolg der Reformation ohne den Buchdruck und die jungen publizistischen Medien nicht zustande gekommen wäre.6 Umso bemerkenswerter ist, dass neben der Vielzahl reformatorischer und vereinzelten Belegen katholischer Bildpublizistik kaum Flugblätter religiöser Dissidenten und Außenseiter überliefert sind. Wenn im Folgenden solche Fälle vorgestellt werden, ist daher als doppelte Fragestellung zu beachten, warum nur so wenige einschlägige Flugblätter bekannt sind und was diese Drucke auszeichnet.
1 Ein vorreformatorischer Laienprediger: Jörg Preining Als zu Ostern des Jahres 1484 bei der Wallfahrtskirche St. Radegunde vor den Toren Augsburgs der Weber Jörg Preining (um 1450−1526/27) auf einen Baum stieg und zu predigen begann, strömte eine große Menge Zuhörer zusammen.7 Deren Beweggründe lassen sich nur mutmaßen, dürften aber gemischt gewesen sein aus einem Bedürfnis nach Erbauung und Belehrung für den Weg zum Seelenheil, aus Unbehagen und Kritik an einer unglaubwürdig gewordenen Institution Kirche und aus der Neugier auf einen Auftritt, der geeignet war, bei weltlicher und kirchlicher Obrigkeit Anstoß zu erregen. Auch wird Preining einen guten Teil seiner Anziehungskraft und Glaubwürdigkeit daraus bezogen haben, dass er den Typus des ungebildeten, aber von Gott berufenen und deswegen umso überzeugenderen Laienpredigers verkörperte. Was Preining aber von anderen Vertretern dieses Typs abhebt, ist die Tatsache, dass er sich zur Verbreitung seiner Lehren nicht nur des gesprochenen Worts bediente, sondern auch das neue Medium des Flugblatts einsetzte, und das in erheblichem Umfang: 33 Einblattdrucke mit Spruchgedichten aus seiner Feder haben sich erhalten; wei-
|| 6 Elizabeth E. Eisenstein: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa. Wien/New York 1997; Robert W. Scribner: For the Sake of the Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Oxford u. a. 1994. 7 Vgl. die Peutingerische Chronik (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek: 2° Cod. Aug. 73, Bl. 84r): »Unnd desselben jares 84 da sass der preyning auff dem paum bey saunt Radegunda, darhinden auff dem perg, vnnd lieff fill volcks hin aus zuo Jm, die in wollten sehen«. Zitiert nach: Luise Liefländer-Koistinen: [Art.] Preining, Jörg. In: Kurt Ruh u. a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 814−818, hier Sp. 815.
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tere 21 Drucke lassen sich erschließen.8 Die große Zahl überlieferter Blätter verdankt sich dem Umstand, dass der Buchdrucker Lucas Zeissenmair bei seinem Wechsel von Augsburg nach Wessobrunn offenbar einen Satz dieser Flugblätter im Gepäck hatte – sei es, dass er sie nachzudrucken beabsichtigte,9 oder sei es, dass er sie als Makulatur verwenden wollte. Letzteres ist dann geschehen, so dass die meisten der erhaltenen Exemplare sich in Bänden aus dem Bestand der vormaligen Wessobrunner Klosterbibliothek eingeklebt finden. Preinings Sprüche sind formal zum einen durch die Autornennung im Schlussreim gekennzeichnet (»also spricht brůder Ioerg Breining«). Dabei verweist die Eigenbezeichnung ›Bruder‹ eher nicht auf die Zugehörigkeit zu einem Orden oder einer anderen Glaubensgemeinschaft, sondern auf die Gottesbruderschaft frommer Laien, die Preining in seinem Christus-Lied gegen die Anfeindungen der Priesterschaft für sich beansprucht.10 Zum andern umfasst jeder Spruch genau 72 Verse und spielt damit auf den Missionierungsauftrag an, mit dem Christus 72 Jünger zu eben so vielen Völkern der Welt aussandte (vgl. Lk 10,1). Die Verszahl deutet also auf Preinings Absicht hin, seinen Lehren eine möglichst breite Öffentlichkeit zu verschaffen; und hierfür bediente er sich nicht nur der mündlichen Predigt, sondern eben auch des jungen Mediums Flugblatt, das nicht auf die Anwesenheit des Autors angewiesen war und ortsund zeitunabhängig wirken konnte. Die Aussagen selbst sind eher unauffällig und stehen in keinem erkennbaren Widerspruch zur kirchlichen Lehre. Preining bezieht sich vielfach auf die Kirchenväter und bekräftigt die Gültigkeit der Sakramente. Die fortwährende Hinwendung an eine Hörerschaft (»ir lieben kind« oder »nun hoert weib, man, alt und iung«), das Aufgreifen biblischer Gleichnisse (z. B. des Weinbergs des || 8 Einige der Sprüche weisen Zahlenangaben auf (z.B. Der vierd spruch von der hochzeit), aus denen sich die Mindestzahl der verlorenen Drucke errechnen lässt. Die Texte sind abgedruckt bei Thomas Cramer (Hg.): Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Bd. 3. München 1982, S. 20−135; Ergänzungen bei Luise Liefländer-Koistinen: Studien zu Jörg Preining. Göppingen 1986, S. 165−170. Vgl. auch Falk Eisermann: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (VE 15). Bd. 3. Wiesbaden 2004, S. 384−396. 9 Aus seiner Presse ist zwar keiner der Sprüche, wohl aber ein Druck mit fünf Liedern Preinings hervorgegangen: Hie nach volgent fünf gar nützliche fruchtbare lieder […]. Wessobrunn 1503. 10 »Christus will nit, | daz man hie mit | seie die leien schenden, | so ein briester | gewalt und eer | hie hat an allen enden. | wann ein lei mag | werden all tag | ein kind gottes auf erden | vom geist gewirket werden, | auch gottes bot | halten on spot, | darumb er ist | ein gůter krist, | auch ein brůder des herren. | o, wie mag man | frum leien dann | so lesterlich uneren.« (Cramer: Liederdichter [Anm. 8], S. 45).
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Herrn), allegorische Bildlichkeit (Jagd, Magnet, Tempel der Seele u. a.) sowie numerische Gliederungen des Vorgetragenen entsprechen den Forderungen der Homiletik und legen die Vermutung nahe, dass die Sprüche als gereimte summarische Paraphrasen von Preinings Predigten dienen sollten.11 Der Erfolg von Preinings Flugblatt-›Kampagne‹ ist ablesbar an der Menge der von ihm verlegten Drucke, die nur bei einem entsprechenden Absatz als sinnvolle Investition erscheint. Und er ist ablesbar an den veränderten Vermögensverhältnissen des Autors, der bis 1485 zu den Besitzlosen zählte und nach seiner sechs Wochen dauernden Aktion bei St. Radegunde über beträchtliches Eigentum verfügte, das man mit dem Verkauf der Blätter in Zusammenhang gebracht hat.12 Als Nebenaspekt der von Preining verfassten, verlegten und vertriebenen Flugblätter wird man daher auch ein ökonomisches Interesse veranschlagen müssen. Ein solches Interesse mag erklären, warum sich unter den geistlichen Texten auch ein weltliches Schwanklied (Der jud und Pader) findet. Festzuhalten bleibt, dass mit Preining schon in den 1480er Jahren ein religiöser Außenseiter seine Lehren im Medium des noch ganz am Anfang seiner Geschichte stehenden Flugblatts verbreitet. Damit gehört er mehr noch als der nahezu zeitgleiche ›Pfeifer von Niklashausen‹ Hans Böhm13 in die Vorgeschichte der Reformation. Für die Aufgabe seines Augsburger Bürgerrechts und die Übersiedelung nach Schwabmünchen im Jahr 1504 werden zwar keine expliziten Gründe genannt. Es ist aber durchaus denkbar, dass Preinings antiklerikale Einstellung zu seinem Ortswechsel geführt hat. Die Kritik am Klerus wird noch in den Zwen Sendbrieff wiederholt, die Preining um 1526 an seine Anhänger in Augsburg richtet. Die Nähe zur reformatorischen Bewegung verraten auch die den Wiedertäufern nahestehenden Drucker Philipp Ulhart d. Ä., Sigmund Salminger und Heinrich Steiner, bei denen Preinings Flugschriften in den 1520er Jahren erscheinen; nicht zuletzt die Ausweisung seines Sohnes Franz 1528 aus
|| 11 Die Abschriften, die Preining von dem Predigtzyklus Berg des Schauens des Johann Geiler von Kaysersberg gefertigt hat, waren vermutlich zweifach motiviert: von der inhaltlichen Übereinstimmung mit der heftigen Kritik an einem reformunwilligen Klerus und von der faszinierenden Macht des Wortes, die Geiler in seinen Predigten entfaltete. Vgl. Werner WilliamsKrapp: Johann Geiler von Kaysersberg in Augsburg. Zum Predigtzyklus Berg des Schauens. In: Johannes Janota/W. W.-K. (Hg.): Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Tübingen 1995, S. 265−280. 12 Liefländer-Koistinen: Preining (Anm. 7), Sp. 815. 13 Vgl. Klaus Arnold: Niklashausen. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Bewegung des Hans Beheim und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes. Baden-Baden 1980.
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Augsburg wegen wiedertäuferischer Umtriebe bestätigt noch einmal die Vorläuferschaft und geistige Nähe Preinings zur Reformation.
2 Ein Spiritualist und Mystiker: Daniel Sudermann In einem kursorischen Lebensrückblick berichtet der Lehrer und Vikar am Straßburger Bruderhof Daniel Sudermann (1550−1631/32), dass er katholisch getauft worden, auf eine calvinistische Schule gegangen sei und lutherische wie täuferische Predigten besucht habe, bevor er 1594 zur »erkantnuß der warheit« gelangt sei.14 Sudermann stellt die Interkonfessionalität seines Curriculum Vitae in der Absicht heraus zu zeigen, dass er sich letztlich aus guten Gründen und in Kenntnis der konfessionellen Alternativen für die Lehren Schwenckfelds entschieden habe. Zudem soll auch anklingen, dass der Spiritualismus Schwenckfelds die konfessionellen Gegensätze übergreife. Bei der Auflösung des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis 1592 erwarb Sudermann zahlreiche Handschriften mit Texten der Mystiker Tauler, Seuse und Meister Eckhart, die er las, z. T. mit Anmerkungen versah15 und für seine eigenen Publikationen nutzte. Die Publikationstätigkeit Sudermanns begann 1585 mit der Herausgabe von Schwenckfelds Christliche[m] sendbrieff vnd bericht vom Glauben vnnd Erkandtnus der Göttlichen Dreieinigkeit und setzte sich mit zahlreichen weiteren Editionen des schlesischen Spiritualisten in den 1590er Jahren fort. Anfang der 1620er Jahre folgten dann Ausgaben mit Texten Taulers, Seuses und Jans van Ruysbroek. Die Publikation eigener Texte setzte um die Mitte des zweiten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts ein; Sudermann verwandte dabei nahezu ausschließlich Bild-Text-Kombinationen in Form von Einblattdrucken oder Emblembüchern. 1622 ging bei der theologischen Fakultät zu Straßburg ein Schreiben der Universität Tübingen ein, in dem Sudermann der Abfassung »secktirscher bücher« und »schwermerische[r] tractätlein« beschuldigt wird. Die Flugblätter werden eigens erwähnt als »seltzame[ ] Kupfferstucke[ ] (welche sowol bei der studierenden jugent alß dem gemeinen, einfältigen mann allerhandt zweiffel vnd vn-
|| 14 Das Dokument ist abgedruckt und besprochen bei Monica Pieper: Daniel Sudermann (1550−ca. 1631) als Vertreter des mystischen Spiritualismus. Stuttgart 1985, S. 32f. 15 Vgl. Hans Hornung: Der Handschriftensammler Daniel Sudermann und die Bibliothek des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 107 (1959), S. 338−399.
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heil verursachen thüen)«. Obwohl der Straßburger Magistrat Sudermann verdächtigte, ein Schwärmer zu sein und »heimliche conventicula« abzuhalten, und man gleichzeitig andere religiöse Dissidenten der Stadt verwies, blieb der Bruderhof-Vikar unbehelligt. Es ist anzunehmen, dass sich Sudermanns Tätigkeit zunächst als Prinzenerzieher an verschiedenen Höfen und dann als Lehrer am Bruderhof, wo junge Adlige (u. a. der spätere Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel) wohnten und ausgebildet wurden, ihm einflussreiche Gönner verschafft hatte, die ihn vor Verfolgung schützten.16 Im Verzeichnis der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17) sind 140 Einblattdrucke aus der Feder Sudermanns erfasst. Auch wenn nicht in jedem Fall entschieden werden kann, ob es sich um eine selbständige Publikation handelt, weil die Grenzen zwischen Einzelblatt, Blattserie und Buchillustration bei dem Straßburger Vikar gelegentlich verschwimmen, ist doch die Wichtigkeit des Mediums Flugblatt bei Sudermann unstreitig. Drei Beispiele mögen illustrieren, wie die Themen der Blätter die religiösen Überzeugungen ihres Autors spiegeln. Das Blatt Von zweyerley Studenten / vnd vnderscheyd jhrer beyden Geschickligkeiten (Straßburg: Jakob von der Heyden um 1620) stellt der äußerlichen Buchgelehrsamkeit des reichen Studenten, deren Nichtigkeit mit dem Verlust der Bücher zutage tritt, die innere Frömmigkeit seines armen Kommilitonen entgegen.17 Wessen »Hertzen grund / Ja Seel vnd Geist« von Gottes Wort durchdrungen sei, habe sich ein unverlierbares Wissen angeeignet, das ihm alle Bücher erschließe. Auf dem Blatt Ein Lehr / Exempelsweiß vns fürgestelt / das wir in vnserm Gemüt vnd Sinn / sollen ernewert vnd Christi Nachfolger werden (Straßburg: Jakob von der Heyden um 1620) kündigt schon der Titel mit der Imitatio Christi das Thema an, das auch Sudermanns sonstige Werke durchzieht und durch häufige Zitate aus des Thomas von Kempen Buch von der Nachfolge Christi gestützt
|| 16 Vgl. Pieper: Sudermann (Anm. 14), S. 41f. (dort auch die Zitate). Der Kreis potenzieller Mäzene lässt sich aus den Widmungen ablesen, mit denen Sudermann seine Lieder versah; vgl. Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 1. Leipzig 1864 (Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1990), S. 581, 603, 605f.; das eingangs genannte Curriculum Vitae gibt an, an welchen Höfen Sudermann tätig war, bevor er in Straßburg angestellt wurde. 17 Wolfgang Harms u. a. (Hg.): Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl. Tübingen 1983, Nr. 20. In Ergänzung zu meinem dortigen Kommentar sei angemerkt, dass der Verleger den Kupferstich auch in seinen Speculum Cornelianum (Straßburg 1618) aufgenommen hat (Tafel 15; vgl. dazu die Vorrede, fol. Aiij).
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wird.18 Hier ist es das von Tauler übernommene Bild der sich häutenden Schlange,19 die den ›neuen Adam‹ bedeutet, der wie Christus demütig sein Los, ob »Armut / Kranckheit / Schmach / oder zeitlich gut«, annehmen solle. Das dritte Thema, auf das Sudermann immer wieder zurückkommt, ist das der Unio Mystica. Es wird auf dem Blatt Von der allerhöchsten geistlichen vereinigung Gottes / mit der begnadeten Seele (Straßburg: Jakob von der Heyden um 1620) in einer Kaskade bildlicher Vergleiche durchgespielt, die Sudermann von Tauler bezieht und nach Art eines Priamels aneinandergereiht hat.20 Neben Tauler, Seuse und Meister Eckhart bot besonders die Brautmystik in der Hohelied-Tradition Sudermann zahlreiche Anknüpfungspunkte.21 Zu den Gründen, seine religiösen Überzeugungen in Form von Flugblättern zu publizieren, äußert sich der Straßburger Vikar an zwei Stellen. Er habe »gegenwertige Figuren vnd Gleichnüsse […] dem gemeinen Mann / vnd einfältigen Hertzen« zugedacht, »damit sie in anschawung derselben […] jhr Hertz von dem Schatten der Gleichnussen / auff die Sach selbsten / vnd von den jrdischen Creaturen / auff das Himmlische wesen […] richten vnd wenden möchten«.22 In einer Verknüpfung platonischer (»Schatten«) und christlicher (Buch der Natur) Anschauungen hebt Sudermann seine didaktischen Absichten hervor, die den Gemeinen Mann durch Bilder, Vergleiche und eben auch das Medium Flugblatt zur Einsicht geistiger Wahrheit führen sollen. In einer brieflichen Äußerung, die frei von eventuellen Beschönigungen einer Vorredentopik ist, bestätigt der Autor, dass es ihm in erster Linie um die Verbreitung seiner Blätter gehe: »Der Kupferstecher gibt mir von jedem Kupffer, so er sticht, etwa 30 oder 40 welche ich zum theil guten freunde[n] so lust dar[an] haben verschenke, hab sonst kein nutz dauon. Ich würde gern alle vmbsonst hingeben, damit sie nur an den tag
|| 18 Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek: Res. 4 B. metr. 51 (7). Eine Druckvariante besitzt die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (4 Th. past. 504/80 [5] rara). 19 Ferdinand Vetter (Hg.): Die Predigten Taulers. Berlin 1910, S. 95, 10. Weitere Verwendungen des Bildes sind nachgewiesen bei Dietrich Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100−1500). Diss. Berlin 1968, S. 396−398. 20 Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek: Res. 4 B. metr. 51 (7 III). Weitere Exemplare liegen in Göttingen und Gotha. 21 Daniel Sudermann: Hohe geistreiche Lehren / vnd Erklärungen Vber die fürnembsten sprüche deß Hohen Liedes Salomonis. (Straßburg)/Frankfurt a. M. 1622; ders.: Schöne auserlesene Figuren vnd hohe Lehren […] Zum theyl auß dem hohen Lied Salomonis […] gezogen. (Straßburg um 1625). Vgl. Eva-Maria Bangerter-Schmid: Erbauliche illustrierte Flugblätter aus den Jahren 1570−1670. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986, S. 151−154. 22 Daniel Sudermann: Centuria Similitudinum. Straßburg 1624, Leservorrede.
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komen«.23 Zugleich belegt das Zitat, dass Sudermann anders als Jörg Preining offenbar keine ökonomischen Interessen mit der Abfassung seiner Blätter verfolgte.
3 Ein Paracelsist und Rosenkreuzer: Johann Friedrich Jung d. Ä. In unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft zu Sudermann, jedoch ohne nachweislichen Kontakt mit ihm lebte der Autor Johann Friedrich Jung d. Ä. (um 1558−1617), dessen bislang bekanntes Œuvre aus drei Flugblättern und einem als Flugschrift gedruckten Brief an die Bruderschaft der Rosenkreuzer besteht. Über sein Leben ist wenig mehr bekannt als das, was er in seiner Epistola über sich verrät: Demnach war er ein »Ciuis famosissimae cuiuscuiusdam ciuitatis« (gemeint ist Straßburg) und bekleidete dort ein »officium […] non ignobile« (er war für das Münz- und Finanzwesen zuständig).24 Er war verwitwet (die Aussage datiert vom Dezember 1615). Von seinen Kindern hebt er stolz einen 15jährigen Sohn wegen dessen Kenntnisse des Hebräischen, Griechischen, Lateinischen, Französischen und Italienischen hervor. Einem Postscriptum ist zu entnehmen, dass Jung die Drucklegung der Chymischen Hochzeit des Johann Valentin Andreae veranlasst hatte (Erstausgabe Straßburg 1616). Mit seinem offenen Brief bewarb er sich um die Aufnahme in die RosenkreuzFraternität. Ansonsten erscheint Jung als Widmungsadressat von Wolfhart Spangenbergs Übersetzung des Dramas Jeremia des Thomas Naogeorg, wobei die Bezeichnung »Gevatter« auf ein entferntes verwandtschaftliches Verhältnis von Spangenberg und Jung hindeuten könnte.25 Für Jungs geistiges Profil und sein Interesse an theosophischem Hermetismus ist aufschlussreich, dass er 1601 eine Abschrift von Heinrich Khunraths Amphitheatrum Sapientiae (Hamburg 1595) || 23 Zitiert nach Gottfried Hermann Schmidt: Daniel Sudermann. Versuch einer wissenschaftlich begründeten Monographie. Diss. [masch.] Leipzig (1923), S. 321. Vgl. Wolfgang Harms u. a. (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts I: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Bd. 1: Ethica, Physica. Tübingen 1985, Nr. 174. 24 Ivdicia Clarissimorvm Aliqvot Ac Doctissimorvm Virorvm […] de Statu et Religione Fraternitatis celebratissimae de Rosea Cruce. Frankfurt a. M. 1616, S. 25. Die Trauerschrift zu seinem Tod bezeichnet ihn als »Triumvir Monetarius Argentinensis«; vgl. Gottfried Baudis/David Schickfuß: Memoriae Aeviternae […] Joannis Friderici Jungi […] Exequiales. Straßburg 1617. 25 Wolfhart Spangenberg: Ieremia. Eine Geistliche Tragoedia. Straßburg 1603.
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anfertigte.26 Zudem war er an der Herausgabe von Ramón Lulls Opera (Straßburg 1598) beteiligt und übersetzte Gerhard Dorns Clavis totius philosophiae chimicae ins Deutsche (Straßburg 1602).27 Der einzige bisher bekannte Einblattdruck Jungs erschien 1617 bei Jakob von der Heyden und zeigt eine teils figürliche, teils schematische Darstellung der »Harmonia Micro-Macro-Cosmica« (Scala Descensionis Virtvtvm Occvltarvm In Inferiora, Abb. 1).28 Ausgehend von einer himmlischen Lichtgloriole, der in platonisch-christlicher Verschmelzung die göttliche Dreifaltigkeit als »Archetypus Ideae« eingeschrieben ist, geben sieben Engel die »Virtutes Intellectuales« an die Planeten, die vier Elemente (dargestellt als Windkopf, Ackerbau, Seefahrt und Vulkan) und den »Mundus Elementalis« in Gestalt der »Mineralia« (Bergbau), »Vegetabilia« (Garten) und »Animalia« (Tiere um Orpheus) weiter. Im Zentrum unten steht ein Schema des menschlichen Mikrokosmus (»Homo Microcosmus Trin-Unus«), dessen geistige Kräfte »Ratio«, »Phantasia« und »Sensvs« durch drei ineinander verschränkte Ringe symbolisiert und von einem lichtdurchstrahlten Dreieck eingefasst werden. Die Spitzen des Dreiecks besetzen »Corpvs«, »Anima« und »Spiritvs«. Die Dreiecksform wiederholt diejenige der himmlischen Trinitätsformel und visualisiert so die biblische Aussage, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe.
|| 26 Die Handschrift befindet sich im Besitz der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen (GKS 1765 4°). Vgl. Hanns-Peter Neumann: [Artikel] Khunrath, Heinrich. In: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hg.): Frühe Neuzeit in Deutschland. 1520−1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 3. Berlin/Boston 2014, Sp. 530−539, hier 537. 27 Vgl. Carlos Gilly: The Amphitheatrum Sapientiae Aeternae of Heinrich Khunrath. In: C. G./Cis van Heertum (Hg.): Magia, Alchimia, Scienza dal 1400 al 1700. L’influsso di Ermete Trismegisto. Magic, Alchemy and Science 15th–18th Centuries. The Influence of Hermes Trismegistus. Venedig/Amsterdam 2002, S. 341−350, hier S. 345f.; ders.: On the Genesis of L. Zetzner’s Theatrum Chemicum in Strasbourg. In: ebd., S. 451−467, hier S. 456f. 28 (Straßburg:) Jakob von der Heyden 1617. In der neueren Forschung ist ein Nachstich aus dem Jahr 1662 reproduziert worden; vgl. Harms: Flugblätter (Anm. 23), Nr. 3; Barbara Bauer: Die Philosophie auf einen Blick. Zu den graphischen Darstellungen der aristotelischen und neuplatonisch-hermetischen Philosophie vor und nach 1600. In: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber (Hg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien/Köln/Weimar 2000, S. 481−519. Der Stich von 1617 ist wiedergegeben bei Wilhelm Hess: Ein kabbalistischer Einblattdruck naturwissenschaftlichen Gepräges. In: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 7 (1916), S. 115−128.
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Abb. 1: Johann Friedrich Jung d. Ä.: SCALA DESCENSIONIS VIRTVTVM OCCVLTARVM IN INFERIORA. Straßburg: Jakob von der Heyden 1617 (Staatsbibliothek Bamberg, Signatur: VI. G. 161).
Im Schema am Fuß des Stiches wird noch einmal und wieder in triangulärer Gestalt der Zusammenhang der unterschiedlichen Ebenen vorgeführt (hier ergänzt um die paracelsischen Grundstoffe Salz, Schwefel und Quecksilber), den das Schriftband darunter mit den Worten »Ab Vno Omnia, Per Vnvm Omnia, Ad
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Vnvm Omnia« zusammenfasst. Eben dieses Schema wie auch die Trinitätsformel am Himmel hat der Autor aus dem Titelkupfer zu Oswald Crolls Hauptwerk Basilica Chymica, einem der zentralen Texte des pansophisch-kabbalistischen Paracelsismus, übernommen,29 der somit als wesentliche Grundlage des Einblattdrucks sichtbar wird. In der Schrifttafel links unten nennt der Autor seinen Namen und gibt an, dass er das Bild erst im Geist entworfen (»Animo sibi prius haec praefigurans«) und dann »in Mentis suae delectationem« stechen lassen habe. Zwei weitere Flugblätter Jungs sind der Forschung bisher unbekannt geblieben und werden hier erstmals vorgestellt. Beide Blätter gehören gleichfalls ins Umfeld der paracelsistischen Pansophie, präsentieren diese aber zurückhaltender als die Scala Descensionis. Das eine Blatt ist in Bild- und Textteil getrennt überliefert. Die Radierung liegt in den Kunstsammlungen der Veste Coburg,30 der zugehörige typographische Text ist im Besitz des Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museums.31 Der deutsche Titel des zweisprachigen Blatts lautet: Goldkunst der Seelen. Das ist Eine Figur / darinn gewiesen wirdt / wie deß Menschen Seel im Leib verborgen / mit dem Geistlichen Wasser besprengt / den Himmlischen Tugenden geziert / vnd von den Lastern dieser Welt gereinigt: Mit dem feinen Gold im Tygel siebenmal probiert / vnd von aller Vnreinigkeit / durchs Mercurialische Wasser geseubert / comparirt vnd verglichen werde.
Die Radierung zeigt im Vordergrund einen Ofen, auf dem im offenen Feuer die menschliche Seele in einem Schmelztiegel geläutert wird. Auf der rechten Seite fachen Teufel und Frau Welt mit Blasebalg und Kohlenzange das Feuer an. Gegenüber hat der Tod einen Hammer zum Schlag erhoben, während ein Engel mit einem Weihwasserwedel der Seele Kühlung spendet. Hinter dieser Vierer|| 29 Erstdruck Frankfurt a. M. 1609. Vgl. die Einleitung in Oswald Croll: De Signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623). Hg. von Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle. Stuttgart 1996, und Wilhelm Kühlmann: [Art.] Croll, Oswald. In: W. K. u. a. (Hg.): Frühe Neuzeit (Anm. 26), Bd. 2. Berlin/Boston 2012, Sp. 34−39 (mit neuerer Literatur). In Anbetracht der Nähe zu Crolls Werk greift die Aussage, dass das Blatt »als eine abgekürzte Auslegung von Khunraths Amphitheatrum« angesehen werden könne, zu kurz (Carlos Gilly: Das Amphitheatrum Sapientiae Aeternae von Heinrich Khunrath. In: Heinrich Khunrath: Amphitheatrum Sapientiae Aeternae. Schauplatz der ewigen allein wahren Weisheit […]. Hg. von C. G. u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 2014, S. 133−181, hier S. 157). 30 Signatur: VII, 408, 167; vgl. Bangerter-Schmid: Flugblätter (Anm. 21), Abb. 43. 31 Signatur: FB 3 XIII. Ich danke dem Leiter des Kupferstichkabinetts Thomas Doering für die schnelle und unkomplizierte Bereitstellung des Originals zur Einsicht. Eine ›Wiedervereinigung‹ der beiden Blattteile in einer gemeinsamen Abbildung scheiterte an den exorbitanten Gebühren (nahezu 100€ für ein Photo!) des Herzog Anton Ulrich-Museums.
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gruppe, die dem Bildbereich der Militia Christi entstammt,32 stehen links die sieben Kardinaltugenden und rechts die sieben Hauptlaster. Das Bildensemble ergänzen im Hintergrund die Zwei Wege, die zum Himmel (links) oder zum Höllentor (rechts) führen.33 In der Mitte oben thront auf einem Wolkenband die Dreifaltigkeit, die einen Strahl der Gnade auf die Seele im Tiegel aussendet. Der deutsche Text besteht aus 100 vierhebigen Reimpaarversen, die in einen Prolog, fünf Abschnitte zu den Figuren im Bild und eine »Paraenesis« eingeteilt sind. Der lateinische Text umfasst 47 Hexameter und sechs Distichen, die mit den gravierten Bildunterschriften übereinstimmen. Als Verleger zeichnet Jakob von der Heyden, von dessen Hand auch der Stich stammt; eine Datierung fehlt.34 Mit dem Titelstichwort Goldkunst und dem Fachbegriff des »Mercurialischen Wassers« spielt Jung auf jene Alchemisten an, die sich anheischig machten, Gold zu erzeugen. Ihnen stellt er in geistlicher Kontrafaktur das Bild der im irdischen Leid geläuterten menschlichen Seele entgegen.35 Das Blatt gehört damit wie die Scala Descensionis ins Umfeld jener spiritualistisch-hermetischen Philosophie des Paracelsismus, die auch noch dem Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius zugrunde liegt, so in den beiden Epigrammen von der geistlichen Goldmachung: Dann wird das Bley zu Gold / dann fällt der Zufall hin / Wann ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.
und Jch selbst bin das Metall / der Geist ist Feur und Herd / Messias die Tinctur, die Leib und Seel verklärt.36
|| 32 Zum Motiv vgl. Andreas Wang: Der ›Miles Christianus‹ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit. Bern/Frankfurt a. M. 1975. 33 Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970; ergänzend ders.: Das pythagoreische Y auf illustrierten Flugblättern des 17. Jahrhunderts. In: Antike und Abendland 21 (1975), S. 97−110. 34 Die Verlagstätigkeit von der Heydens in Straßburg setzt 1615 ein. Um diese Zeit wird auch das Blatt zu datieren sein. 35 Vgl. auch seinen Brief an die Rosenkreuzer, in: Ivdicia (Anm. 24), S. 24, wo er beteuert, dass es ihm nur um das »Philosophicum et Spirituale [aurum]« gehe. Vgl. auch Jungs Vorrede an den Leser. In: Gerhard Dorn: Schlüssel der Chimistischen Philosophy […]. Straßburg 1602. 36 Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Hg. von Louise Gnädinger. Stuttgart 1984, S. 42 (= I, Nr. 102f.). Zu dem Gesamtkomplex vgl. Peter Cersowsky:
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Diese Zuordnung kommt überein mit der Beobachtung, dass die Aussagen des Blatts konfessionell weitgehend indifferent, ja geradezu sorglos erscheinen, wenn auf der einen Seite das protestantische Sola-gratia-Prinzip aufgerufen wird (»Jch wart allein der gnaden Gotts«) und anderseits der Engel im Bild einen katholischen Weihwasserwedel schwingt und das Motiv der Läuterung im Feuer eine für Lutheraner bedenkliche Nähe zum Purgatorium aufweist.37 In der Leservorrede zu seiner Übersetzung von Gerhard Dorns Clavis berichtet Jung, dass er »vmb besseren verstands willen zwo Figuren […] in eine form auffs Papyr gebracht vnd Malen lassen« habe, die »den gantzen Jnnhalt der recht Geistlichen Chimi, vnd deß Colloquij« wiedergäben, »so Spiritus Anima et corpus miteinander im andern Theil der Speculativischen Philosophy« halten. Diese Darstellungen hätten der Ausgabe beigefügt werden sollen. »Weiln aber die zeit zu kurtz«, hätten sie »von dem Kupffer stecher nicht gefertigt werden mögen«, so dass Jung sie für eine spätere Gelegenheit aufsparen wolle.38 Zumindest für eine dieser beiden Abbildungen hat er seine Absicht verwirklicht. 1605, also drei Jahre nach dem Erscheinen von Dorns Schlüssel, publizierte Jung auf einem Flugblatt nämlich jene Zeichnung, die den Inhalt des Gesprächs von Geist, Seele und Körper verbildlicht. Das Blatt erschien bei Johannes Carolus ohne Angabe des Radierers, aber mit Nennung des geistigen Urhebers der Vorzeichnung (»I. F. Iung Inuent[or]«; Abb. 2 und 3).39 Den Platz des Titels nimmt hier die Widmung an den Adligen Philipp Jakob von Seebach ein.40
|| Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990; Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000. 37 Vgl. Michael Schilling: Imagines Mundi. Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik. Frankfurt a. M. 1979, S. 232−237. 38 Dorn: Schlüssel (Anm. 35), Vorrede an den Leser. In demselben Zusammenhang sagt Jung, dass er auch Dorns »Physica« (gemeint ist vermutlich die Monarchia Physica) und De Luce Naturae ex Genesi Desumpta wie auch Johannes Trithemius und weitere »dergleichen Bücher« übersetzt habe. 39 Nobilitate Generi Clarissimo […] Philippo Iacobo a Seebach […] dedicat Ioan. Fredericus Iung […] Anno Salutis 1605. Straßburg: Johann Carolus 1605. Das Blatt wird (ohne Kenntnis des Zusammenhangs mit Dorns Schlüssel) in einer Fußnote erwähnt bei Gilly: Amphitheatrum (Anm. 29). 40 Er wird als ›in vielen Sprachen bewandert‹ und ›weitgereist‹ bezeichnet, hatte also seine Grand Tour durch Europa absolviert. Zur Hochzeit seiner Tochter 1611 sind im VD 17 zwei Kasualdrucke verzeichnet.
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Abb. 2: Johann Friedrich Jung d. Ä.: NOBILITATE GENERIS CLARISSIMO […] PHILIPPO JACOBO à SEEBACH […] dedicavit […]. Straßburg: Johannes Carolus 1605 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Einbl. Xb FM 39).
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Abb. 3: Johann Friedrich Jung d. Ä.: NOBILITATE GENERIS CLARISSIMO […] PHILIPPO JACOBO à SEEBACH […] dedicavit […]. Straßburg: Johannes Carolus 1605 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Einbl. Xb FM 39), Detailvergrößerung.
Die Graphik stellt das Leben in Form der Zwei Wege dar, die dem Menschen offenstehen.41 Nach ihrer Geburt aus dem Schoß der Erde durchschreiten die jungen Menschen das Tor »ad Vitam communem«, wobei ihnen ein Trunk aus der Hand der »Ignorantia« gereicht wird. Die anschließende Weggabelung eröffnet zur rechten Seite die »Via Veritatis stricta«, auf der ein »Angelus Caeli« den »Homo Vadens« zur ›Burg der göttlichen Philosophie‹ weist, vor deren Tor sich der Geist (in Gestalt einer Taube) mit dem doppelköpfigen, d. h. aus Körper und Seele bestehenden Menschen in einem Strahlenkranz vereinigt.42 Die leidvolle Beschwerlichkeit des Weges, der über die »Arx Veritatis« und die »Arx Beatitudinis« in den Himmel zur göttlichen Dreifaltigkeit führt, gleicht einer Imitatio Christi; das verdeutlichen Kreuz und Kelch, welche die Wanderer zu tragen haben.
|| 41 Zum Motiv und seinen historischen Ausdifferenzierungen vgl. Harms: Homo viator (Anm. 33), und ders.: Das pythagoreische Y (Anm. 33). 42 Zur Darstellung dieser Dualität vgl. Achim Aurnhammer: Zum Hermaphroditen in der Sinnbildkunst der Alchemisten. In: Christoph Meinel (Hg.): Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 1986, S. 179−200.
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Die Alternative zum Weg der Wahrheit bildet die »Via Lata Erroris«, auf die der »Angelus Mundi« die »Homines Mundani« leitet. Dieser Weg führt vorbei an der »Mundi Fabrica« der Handeltreibenden, vorbei an den Personifikationen von »Vsura«, »Fraus« und »Sors« zum Haus des Reichtums mit seinen Töchtern Unwissenheit, Hochmut und Verschwendung. Hinter dem Haus geht der Weg unter Führung Epikurs weiter zum Hain der Wollust, zu Venus und ihrem Sohn Amor und schließlich ins Netz des teuflischen Vogelstellers43 und zum Sturz in die Höllengrube. Kurz vor dem Ende zweigen allerdings noch die »Via paupertatis« und die »Via Infirmitatis« ab, auf denen bekehrte Weltmenschen, nachdem sie das Armen- bzw. Siechenhaus passiert haben, in großem Bogen wieder zurück auf den Weg zu Wahrheit und Gott finden können. Der lateinische Text trägt den Titel Bivium Vitae Hvmanae, Caelestis Mundanaeque peregrinationis contemplationem continens, Tabula propositum und umfasst 105 Hexameter. Der deutsche Text fasst den Inhalt in dem Titel Zweischiedige Weg / der Wallfahrt Menschliches Lebens / darunter der Rauh vnd Schmale durch Creutz vnd Trübsal zur Himlischen Seeligkeit: Der Breit vnd Gänge durch Weltliche Lust vnd Frewd zum Hellischen Verderben führet
zusammen und besteht aus 376 vierhebigen Reimpaarversen, die durch Verweisbuchstaben auf das Bild Bezug nehmen. Das Blatt verschweigt seine Herkunft aus Dorns Clavis. Ein Vergleich zwischen beiden Darstellungen zeigt zweierlei: Zum einen schließt sich Jung eng an das colloquium vnd Gesprech / darinn der Geist vnderstehet / die Seel vnd den Leib an sich zu ziehen an, das im zweiten Teil des Schlüssels abgedruckt ist (S. 178−209). Sowohl der gesamte Aufbau der vom »Spiritus« geschilderten allegorischen Landschaft als auch deren Details bis hin zu ihren Bezeichnungen werden von Jung übernommen. Zum andern differenziert und modifiziert Jung das vorgegebene Bild, etwa durch die Personifikationen, Epikur, den Vogelherd des Teufels oder Attribute, Kleidung und Verhalten der Wanderer. Fragt man nach Gründen, die Jung dazu bewogen haben, seine philosophisch-religiösen Überzeugungen auf Flugblättern zu publizieren, kann man zunächst seine eigenen Aussagen heranziehen. Auf der Scala Descensionis schreibt er, dass er seine Vorstellungen in ein Bild habe umsetzen lassen »in Mentis suae delectationem«, also zur Vergnügung seines Gemüts. Auch wenn || 43 Zur Geschichte des Motivs vgl. Pierre Courcelle: La colle et le clou de l’âme dans la tradition néo-platonicienne et chrétienne (Phédon 82e, 83d). In: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 36 (1958), S. 72−95; Benjamin Granade Koonce: Satan the Fowler. In: Medieval Studies 21 (1959), S. 176−184.
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man dem Kupferstich mit seiner ausgewogenen harmonischen Darstellung der naturphilosophisch begründeten Weltharmonie durchaus ästhetische Qualitäten zubilligen mag, dürften sich die Leistungen des Bildes und die daran geknüpften Erwartungen des Autors jedoch nicht darin erschöpft haben. Das Flugblatt bot mit seiner großflächigen Graphik und seiner Kombination von Bild und Text beste Möglichkeiten, auch komplexe Zusammenhänge anschaulich und verständlich zu machen. Der Aufbau des Bildes konnte mit seinen Ebenen von Oben und Unten, von Vorder- und Hintergrund, von Links und Rechts inhaltliche Hierarchien, Symmetrien oder Analogien visualisieren. Geometrische Schemata, Verbindungslinien, Zahlen und Verweisbuchstaben verdeutlichten Zusammenhänge und Abfolgen im dargestellten System, wobei mehr oder weniger ausführliche Inschriften und der darunter gesetzte zusammenhängende Text das Verständnis des Bildes und seiner Aussage im Detail und im Ganzen gewährleisteten. Daher trifft es einen wesentlichen Punkt aller drei Flugblätter, wenn Jung in der Vorrede zu Dorns Schlüssel behauptet, er habe den Inhalten des Buchs »vmb besseren verstands willen« eine bildliche (eigentlich: schriftbildliche) Form gegeben. Dabei wird Jung auch durch vergleichbare Lehrtafeln mit Veranschaulichungen philosophischer Systeme beeinflusst worden sein.44 Als dritter Grund für die Wahl des Mediums Flugblatt ist zu erwägen, dass Jung seinen Aussagen eine größere Verbreitung verschaffen wollte. Für diese Annahme spricht, dass er zwei seiner Blätter sowohl mit einem lateinischen als auch mit einem deutschen Text versehen hat. Die Scala Descensionis ist allerdings ausschließlich in Latein gehalten, und auch die Bildinschriften und die Dedikation des Zwei-Wege-Blatts aus Dorns Clavis wenden sich in ihrer Latinität in erster Linie an ein gelehrtes Publikum, so dass eine Popularisierung des naturphilosophischen Gedankenguts wohl nicht das Hauptinteresse Jungs bildete.
|| 44 Er kannte nachweislich die Illustrationen aus Khunraths Amphitheatrum; vgl. dazu Anja Hallacker: Das Bild-Text-Verhältnis in Heinrich Khunraths Amphitheatrum Sapientiae Aeternae. In: Khunrath: Amphitheatrum (Anm. 29), S. 25−40; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Der Text der Bilder. Das ikonologische Programm von Khunraths Amphitheatrum Sapientiae Aeternae. In: ebd., S. 41−83. Zu weiteren zeitgenössischen Systemdarstellungen vgl. Bauer: Philosophie (Anm. 28).
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4 Zwei Böhme-Anhänger: Wilhelm Schwartz und Abraham von Franckenberg Der Breslauer Steueramtsbuchhalter und Schreibmeister Wilhelm Schwartz (1596/97−1661) erscheint in der Böhme-Forschung als Randfigur, weil in der Gesamtausgabe von 1730 seine »schöne Hand« gelobt wird, in der die von ihm kopierten Böhme-Texte geschrieben seien.45 Zudem kennt man ihn als Freund und Briefpartner des Böhme-Schülers Abraham von Franckenberg (1593−1652) und als Mitglied eines weitverzweigten heterodoxen Korrespondentennetzes, zu dem u. a. der Arndt-Herausgeber und Apokalyptiker Johannes Permeier und die frühpietistischen Theologen Joachim Betke und Friedrich Breckling gehörten.46 Zu seinem Freundeskreis zählten auch die Dichter Andreas Tscherning, Wenzel Scherffer von Scherffenstein und der Rektor des Breslauer Magdalenengymnasiums Valentin Kleinwechter. Schwartz war sich der Gefahren seiner religiösen Dissidenz durchaus bewusst, wenn er seine Zurückhaltung bei der Herausgabe einschlägiger Schriften damit begründete, dass er bereits »in dem schwarzen Phantasten- und Enthusiastenregister stehe«.47 Dennoch brachte er ein Flugblatt heraus, das eindeutig auf dem Gedankengut des Görlitzer Philosophus Teutonicus basiert (Abb. 4). Der Druck trägt den Titel Figürliche Bildung wie in dieser Welt Dreyerley Welten in einander und ist unterzeichnet mit »Wilhelmus Schwartz delineav. et scripsit in Vratisl. A°. 1654«; demnach verantwortete Schwarz die Vorzeichnung der Graphik und der mit reichem Zugwerk ausgeführten Buchstaben. Den Kupferstich hat vermutlich Andreas Tschernings Vetter David Tscherning gefertigt, der auch die Kupfertafeln zu Schwartzens Lehr|| 45 Jakob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Hg. von Will-Erich Peuckert. Bd. 10. Stuttgart 1961, S. 130. 46 Vgl. Theodor Wotschke: Wilhelm Schwartz. Ein Beitrag zur Geschichte der Vorpietisten in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930), S. 89−126; Ernst Fritze: Die Fundamentalschriften des Wilhelm Schwartz (1596/97−1661). Ein Dokument zu den allgemeinen Reformbestrebungen im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte N. F. 75 (1996), S. 57−84. Zu Permeier vgl. Richard van Dülmen: Prophetie und Politik. Johannes Permeier und die Societas regalis Jesu Christi. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 417−474; zu Betke vgl. Margarete Bornemann: Der mystische Spiritualist Joachim Betke (1601−63) und seine Theologie. Diss. Berlin 1959; zu Breckling vgl. Johann Anselm Steiger: Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus. In: Wilhelm Kühlmann/Friedrich Vollhardt (Hg.): Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jacob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/Boston 2012, S. 283−294. 47 Brief vom 4. Juli 1641 an Johannes Permeier; abgedruckt bei Wotschke: Schwartz (Anm. 46), S. 117f.
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buch der Deutschen und Lateinischen Fundamentalschriften (Breslau 1659) gestochen hat. Die Figürliche Bildung ist ein Versuch, die Kosmologie Böhmes in eine bildliche Darstellung umzusetzen. Zu erkennen sind drei übereinander angeordnete und ineinander verschränkte Kreise, deren oberer die ›himmlische Welt‹ und ›Gottes Liebe‹, deren unterer die ›höllische Welt‹ und ›Gottes Zorn‹ repräsentiert; diese Welten, die nur geistig existieren und aus dem »Ungrund« hervorgegangen sind,48 treiben ihrerseits die materielle ›irdische‹ oder ›Sonnen Welt‹ hervor, die den mittleren Kreis bildet und je zur Hälfte den Bereichen des Lichts und der Finsternis zugehört. Im Zentrum der irdischen Welt und damit im Schnittpunkt der beiden äußeren Kreise steht das menschliche Herz, das gleichermaßen Anteil an Himmel und Hölle und damit die Wahl hat, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Diese Wahl wird durch die Zwei Wege ins Bild gesetzt (»Weg zum Leben durch viel Trübsal« bzw. »Der Weg zum Tode«). Eingeschrieben in die drei Welten sind Momente der Heilsgeschichte von den sechs Schöpfungstagen, dem Paradies und Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht (»Rechte Hand Gottes« bzw. »Linke Hand Gottes«) sowie Böhmes Lehre von den drei Prinzipien.49 Das Ganze wird von einem äußeren Kreis umfasst, dessen Umschriften die räumliche und zeitliche Unermesslichkeit und »Allenthalbenheit« Gottes herausstellen. Vor einigen Jahren hat Sibylle Rusterholz die komplizierte Vor- und Wirkungsgeschichte dieses Flugblatts erhellt.50 Demnach geht die Darstellung der Böhme’schen Kosmologie auf Abraham von Franckenberg zurück, der für die schlesische Barockmystik eines Daniel von Czepko, Johann Theodor von Tschesch oder Johannes Scheffler ein zentraler Vermittler und Förderer war.51 || 48 Zum Böhme’schen Begriff des ›Ungrunds‹ vgl. Friedrich Vollhardt: »Ungrund«. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Prätexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2009, S. 89−123. 49 Die fehlerhafte Nummerierung der Prinzipien wurde auf dem Nürnberger Exemplar von alter Hand korrigiert. Eine gewisse Nachlässigkeit bei der Herstellung des Stichs verraten auch der Schreibfehler »GOTEES« (Umschrift des oberen Kreises) und die Wortverdoppelung »HIMMEL HIMMEL« (Umschrift des äußeren Kreises). 50 Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Klaus Garber (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005, S. 205−241, hier S. 208−219 mit Abb. 1f. 51 Vgl. Ferdinand van Ingen: Jacob Böhme und die schlesischen Dichter Daniel von Czepko, Johannes Scheffler und Quirinus Kuhlmann. In: Hartmut Laufhütte/Michael Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006, S. 243−265; zusammenfassend Joachim
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Sie war erstmals in Nürnberg auf einem verschollenen, aber in zwei Sekundäräußerungen von 1649 und 1697 bezeugten Einblattdruck erschienen. Dieser Nürnberger Druck oder der Originalentwurf Franckenbergs diente 1654 als Vorlage für Schwartz, dessen Kupferstich 1677 als Illustration für die oft, aber fälschlich Franckenberg zugewiesene Schrift Oculus Aeternitatis nachgestochen wurde.52 Ergänzend zu Rusterholz’ akribisch geführten Nachweisen sei auf Böhmes Vorrede zu seiner Schrift De Regeneratione, oder Von der Neuen Wiedergeburt hingewiesen. Dort findet sich eine Auflistung seiner weiterführenden Werke, die dem Leser zur vertiefenden Lektüre empfohlen werden: Wer aber den tiefen Grund, daraus dieses fleust, begehret zu forschen, und die Gabe zum Verstand hat, der lese das Buch vom dreyfachen Leben des Menschen: auch die drey Bücher von der Menschwerdung und Geburt Jesu Christi; Jtem das Buch von sechs Puncten; vom Mysterio Magno; von den drey Welten, wie sie in einander stehen als Eine, machen aber drey Principia, das ist, drey Geburten oder Anfänge etc. auch das Buch de Tribus Principiis: Alda findet er, wornach er fragen mag. 53
Der syntaktische Zusammenhang und die Interpunktion lassen die Angabe »von den drey Welten, wie sie in einander stehen« als selbständigen Titel und nicht als inhaltliche Ergänzung zu dem in der Aufzählung voranstehenden Mysterium Magnum erscheinen.54 Sollte es tatsächlich eine eigene, aber nicht erhaltene Schrift Böhmes Von den drey Welten gegeben haben, wäre Franckenbergs bildliche Darstellung, wie sie sich auf dem Flugblatt von Schwartz zeigt, nicht als Kompilation der böhmeschen Kosmologie aus unterschiedlichen Schriften, sondern als graphische Umsetzung dieses einen verlorenen Werks des Görlitzer Schusters anzusehen.
|| Telle: [Art.] Franckenberg, Abraham von. In: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bd. 3. Berlin/New York 2008, S. 529−531. 52 Die Tafel fehlt in der Mehrzahl der erhaltenen Exemplare des Oculus; vgl. Rusterholz: Verhältnis (Anm. 50), S. 209, Anm. 19. Die Überlieferung des Blatts von Schwartz im Münchener Exemplar der böhmeschen Viertzig Fragen von der Seelen (Amsterdam 1663) hat in dem Text keine Grundlage und bildet einen »kuriosen Einzelfall« (ebd., S. 213). 53 Jakob Böhme: Christosophia oder der Weg zu Christo. Teil 4. In: J. B.: Schriften (Anm. 45). Bd. 4. Stuttgart 1957. 54 In der Taschenbuchausgabe hat der Herausgeber die Interpunktion seiner Vorlage so geändert, dass die Angabe »von den drei Welten« als Apposition zum Mysterium Magnum gelesen werden muss; vgl. Jakob Böhme: Christosophia. Ein christlicher Einweihungsweg. Hg. von Gerhard Wehr. Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 117.
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Abb. 4: [Abraham von Franckenberg]/Wilhelm Schwartz: Figürliche Bildung wie in dieser Welt Dreyerley Welten in einander […]. Breslau: [David Tscherning] 1654 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Signatur: 24549/1337).
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Wie schon bei Jungs Scala Descensionis hat auch bei der Figürlichen Bildung die Möglichkeit einer großen, eindringlichen und sinnfälligen schriftbildlichen Darstellung eines komplexen und schwer verständlichen Systems mutmaßlich die Wahl des Flugblatts als Medium bestimmt. Die Symmetrien, die Kreisform, die Ausgewogenheit von Bild und Text, Abstufungen und Zählungen, die Einbeziehung der Himmelsrichtungen bzw. Tageszeiten und der vier Evangelisten (auf den Schriftbändern in den Winkeln) benötigten ausreichend Platz, um den erwünschten Eindruck einer allumfassenden kosmischen Harmonie (und eines in sich geschlossenen und damit unangreifbaren gedanklichen Konstrukts) entstehen zu lassen. Diesen Raum bot ein großformatiger Einblattdruck, der anders als eine Buchillustration zudem den Vorteil besaß, auch als Wandschmuck und somit für einen gläubigen Betrachter als stets gegenwärtige und sichtbare Erinnerung an die göttliche Schöpfungsharmonie dienen zu können.55
5 Schluss Stellt man rückblickend nochmals die Frage, warum sich religiöse Dissidenten in der Frühen Neuzeit trotz des Anteils der Bildpublizistik an der Durchsetzung der Reformation nur selten des Mediums Flugblatt bedient haben, ergibt sich ein differenziertes und keineswegs einheitliches Bild. Die Beispiele Preinings und Sudermanns haben gezeigt, dass Einblattdrucke durchaus auch in größerer Zahl von heterodoxer Seite publiziert werden konnten, wobei für den Augsburger Laienprediger, anders als für Sudermann, auch ökonomische Interessen eine Rolle gespielt haben dürften. Bei beiden Autoren liegen aber besondere Umstände für die einigermaßen reiche Überlieferung ihrer Blätter vor: Bei Preining ist es die durch die Zuwanderung eines Augsburger Druckers bedingte, eher zufällige Verwendung seiner Einblattdrucke als Material für Wessobrunner Bucheinbände. Sudermann, dessen Blätter von der Orthodoxie ja durchaus als abweichend wahrgenommen wurden, schützten seine einflussreichen adligen Förderer vor Versuchen, seine publizistische Tätigkeit zu unterbinden, und tru-
|| 55 Diese Funktion bestätigt eine briefliche Äußerung des Böhme-Herausgebers Johann Georg Gichtel aus dem Jahr 1697: »Die Figur von Böhmen ist Franckenbergs Entwurf, die ich auf meiner Cammer hängen hab, sind die 3. Welten in einander«; zit. nach Rusterholz: Verhältnis (Anm. 50), S. 211f.
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gen durch das Sammeln seiner Blätter zu deren Erhalt bei.56 Für das Fehlen von Blättern anderer dissidenter Autoren kommen drei Erklärungen in Frage: 1. Die Wirksamkeit der Zensur, sei es, dass die Zensurbehörden die Produktion und Distribution entsprechender Blätter verboten und erfolgreich verhinderten, sei es, dass die Autoren in Anbetracht der drohenden Zensurmaßnahmen von vornherein auf eine Publikation im Medium des Gemeinen Mannes verzichteten. 2. Die ohnehin erhebliche Verlustrate bei den durch keinen Einband geschützten Flugblättern mag bei dissidenten Einblattdrucken noch höher sein, wenn man davon ausgeht, dass ihre als heterodox erkannten Aussagen gezielt vernichtet und der damnatio memoriae überantwortet wurden. 3. Schließlich ist zu bedenken, dass das dissidente Potenzial eines religiösen Flugblatts nicht immer klar zutage treten musste. Eva-Maria Bangerter-Schmid hat in ihrer Arbeit über erbauliche Einblattdrucke feststellen können, dass viele der von ihr untersuchten Blätter eine allgemeine Frömmigkeit vertraten und ihre konfessionelle Herkunft nicht immer zu erkennen gaben. Es ist also möglich, dass sich unter den zahlreichen anonym überlieferten religiösen Drucken auch solche dissidenter Provenienz befinden.57 Das gilt umso mehr, als gerade die spiritualistisch orientierten Gruppierungen eine überkonfessionelle Position beanspruchten. Bei den naturphilosophisch-kosmologischen Darstellungen von Jung und Schwartz ist die Wahl des Mediums Flugblatt weniger von der Absicht bestimmt, die Überzeugungen des Gemeinen Manns als des primären Adressaten der Bildpublizistik zu beeinflussen; dem steht schon die Nähe der Kupferstiche zu Arkanwissen und Hermetismus entgegen. Vielmehr scheint in diesen Fällen die Möglichkeit ausschlaggebend gewesen zu sein, auf Flugblättern ausreichend Raum für die schriftbildliche Entfaltung komplexer Systeme und Gedankenkonstrukte zu erhalten. Nicht zuletzt könnte die Eignung der Bilder als || 56 In Wolfenbüttel und Braunschweig sind zahlreiche Drucke Sudermanns erhalten, die auf die Sammeltätigkeit seines Schülers Herzog August d. J. zurückgehen. Die meisten im VD 17 verzeichneten Einblattdrucke des Straßburger Vikars befinden sich in einem Münchener Sammelband, dessen Provenienz allerdings nicht geklärt ist. 57 So sind die beiden älteren Einblattdrucke Jungs durchaus unauffällig, und erst die Kenntnis ihres Autors und seiner Übersetzung von Dorns Clavis machen ihr heterodoxes Potenzial deutlich. Ohne diese Kenntnis bleibt die Goldkunst der Seelen nur ein weitgehend unspezifisches erbauliches Blatt (so bei Bangerter-Schmid: Flugblätter [Anm. 21], S. 200−202).
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Wandschmuck zur täglichen Betrachtung, wie sie sich bei der Darstellung von Franckenberg und Schwartz nachweisen lässt, dazu beigetragen haben, sich für das Flugblatt als Publikationsform zu entscheiden.
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Vom Tode, von der Ehe und vom Anreiz des Unvernünftigen Romeo und Julia bei Johannes Bisselius SJ (1601–1682) und Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) Romeo und Julia, das zum literarischen Mythos gewordene Paar – seine Geschichte war im Laufe des 16. Jahrhunderts namentlich durch die Novellensammlung des Matteo Bandello (1485–1562) in Europa bekannt geworden –,1 hatte bald auch den englischen2 und französischen Sprachraum3 erreicht, scheint auf den ersten Blick aber erst im Zuge der Shakespeare-Rezeption des 18. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit namhafter deutscher Autoren erregt zu haben. Lessing etwa verglich 1767 in seiner Hamburgischen Dramaturgie Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet (Uraufführung 1597) mit Voltaires Zayre. Dies || 1 Matteo Bandello: La sfortunata morte di dui infelicissimi amanti che l’uno de veleno e l’altro di dolore morirono con varii accidentissimi. In: M. B.: La prima [seconda, terza] parte de le Novelle del Bandello. Lucca 1554, hier in: La seconda parte Novella IX (= M. B.: Tutte le opere. Hg. von Francesco Flora. Bd. 1. Milano 1934, S. 726–766); das Werk Bandellos und die Romeo-undJulia-Novelle erschienen auf Deutsch zuerst in einer Auswahl von fünf Geschichten, übersetzt von Aeschacius Major (d. i. Joachim Caesar, ca. 1580/85–1648): Glück und Liebes-Kampff. Gantz klegliche Tragoedi / in fünff LiebesHistorien eingetheilet / Darinnen mit lebendigen Mahlersfarben die eigenschafft / süsse / bitterkeit / Wollust vnd schmertzen der Liebe / nebenst vielem Nutz / Warnung vnd Erinnerung zu Ehre / Zucht vnd Tugendt reitzend beschrieben wird / nicht ohne seufftzen vnd mitleiden zu lesen […]. Leipzig 1615; diese Angaben nach dem verdienstvollen Werk von Alberto Martino: Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum. Ergänzungen und Berichtigungen zu Frank Rutger Hausmanns Bibliographie. Amsterdam/Atlanta 1994, S. 47f. Eine moderne illustrierte deutsche Leseausgabe liegt vor in Matteo Bandello: Novellen. 2 Bde. Hg. von Christine Wolter. Deutsch von Caesar Rymarowicz. Berlin (Ost) o. J. , Bd. 2, S. 63–112. 2 Zu den Quellen Shakespeares (besonders zu Boisteau und Brooke) vgl. Rudolf Fischer (Hg.): Quellen zu Romeo und Julia. Bonn 1922; Georges Bullough: Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare. Vol. I. London/New York 1957, bes. S. 267–283; Brian Gibbons: Introduction. In: The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. Romeo and Juliet. Hg. von Brian Gibbons. London/New York 1980, S. 1–78. 3 Bandellos Werk wurde im Französischen verbreitet durch Pierre Boaistuau (Boisteau): Histoires tragiques extraites des oeuvres de Bandel […]. Paris 1559 (Neuausgabe hg. von Richard A. Carr. Paris 1977); dann durch: Continuation des histoires tragiques extraites de l’italien de Bandello, mises en langue Françoise par François de Belleforest Commingeois. 7 Bde. Paris 1559– 1582; zu der darauf beruhenden Adaption bei Harsdörffer siehe unten.
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nicht etwa so, dass erotische Erfüllung schon als legitimes Moment individueller oder gar jugendlicher Selbstverwirklichung herausgestellt würde, aber doch so, dass Voltaire und mit ihm das französische Hoftheater gegenüber den Feinheiten der literarischen Psychologie Shakespeares unverkennbar ins Hintertreffen geraten:4 Ich kenne nur eine Tragödie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen, und das ist »Romeo und Juliet«, vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire lässt seine verliebte Zayre ihre Empfindungen sehr fein, sehr anständig ausdrücken. Aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemälde aller der kleinsten geheimsten Ränke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verabscheuungen wird ? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzeleistil der Liebe vortrefflich […]. Aber der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter geblieben.
Neben die direkte und indirekte Bandello-Rezeption traten in Deutschland einzelne Aufführungen der Bühnen-Tragödie durch englische Wandertruppen, unter anderem in Nördlingen (1604), Dresden (1626) und Bevern (1680).5 Dieser Rezeptionshorizont bildet den kontrastiven Hintergrund für eine Assimilation der Romeo-und-Julia-Geschichte ganz abseits des novellistischen oder theatralischen Sektors: in einem ganz anderen literarischen Genre mit eigenen Gesetzen, eigenen Entwicklungen sowie einem besonderen Autoren- und Publikumsprofil, dem trotz mancher Bemühungen wissenschaftlich nach wie vor sehr dunklen Kontinent der katholischen Predigtliteratur des 17. Jahrhunderts, in diesem Fall aus der Feder des erst in den letzten Jahren ins Licht getretenen Jesuiten Johannes Bisselius (eigentlich Bislin), geboren am 20. August 1601 in Babenhausen (Oberschwaben), gestorben am 9. März 1682 in Amberg.6
|| 4 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe. Hg. von Otto Mann. Stuttgart 1963, 15. Stück, 19. Juni 1767, S. 62. Zur Strategie Lessings in der Kritik Voltaires in diesem Kontext vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Karl S. Guthke. München 2008, S. 514f. 5 Dazu Martino: Die italienische Literatur (Anm. 1), S. 381 (mit der älteren Literatur). 6 Nun grundlegend (auch mit Nachweis der gesamten Literatur) Johannes Bisselius: Deliciae Veris – Frühlingsfreuden. Lateinischer Text, Übersetzung, Einführungen und Kommentar. Hg. von Lutz Claren u. a. Berlin/Boston 2013; zu Leben und Werk insgesamt vgl. ebd. meine Einleitung S. 1–37, woraus ich im Folgenden einige Passagen übernehme; zu Bisselius hinzuzuziehen ist das etwa gleichzeitig erschienene Werkverzeichnis von Philipp Weiß/Alexander Winck-
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Als Sohn eines Schulmeisters und Mesners besuchte Bisselius, von einem Fugger-Stipendium unterstützt, die Lateinschule seiner Heimatstadt, erwarb an der Universität Dillingen den Magistertitel, trat am 15. Juni 1621 als Novize in den Jesuitenorden ein und unterrichtete am Gymnasium in Regensburg (1623– 1626). Nach dem Theologiestudium in Ingolstadt (seit 1626) und der Priesterweihe in Eichstätt (1629) amtierte er in Ingolstadt als Rhetoriklehrer (1630), dann in Regensburg (1631/32), wo er eine Art Akademie für fortgeschrittene Studierende einrichtete. Nach dem Schwedeneinfall unternahm er mit Ordensbrüdern eine fluchtartige Fußreise durch die Oberpfalz, über die er später in einem verschlüsselten prosimetrischen Reisebericht ein fesselndes anekdotisches Zeitgemälde vorlegte (Icaria, 1637).7 Von 1635–1637 wirkte er in Ingolstadt als Professor für Ethik an der Seite des nachmals berühmten Dichters Jacob Balde SJ und übernahm für nur ein Jahr (1639) das notorisch unbeliebte Amt des bayerischen Hofhistoriographen.8 Später fasste er festen Fuß als Studienpräfekt und Professor in Dillingen (1650/51) und nach einer Station als Seelsorger in Straubing (1651–1653) als Studienpräfekt in Amberg (1654), schließlich wieder als Prediger in Dillingen (1661–1667), dann bis zu seinem Tod erneut in Amberg. Sein sehr weit gespanntes Œuvre gliedert sich in die Gruppe der lateinischen Versdichtungen, die Tausende von Seiten der mehrteiligen, teils auch geographischen Publikationen zur Welt- und Zeitgeschichte, forscherlich in einschlägigen Untersuchungen bisher so gut wie unbeachtet,9 sowie die deutschsprachigen Predigten der späteren Lebensjahre. Dazu tritt neben die Icaria sowie ein Thomas-Morus-Drama10 die mythopoetisch und sachlich angereicherte lateinische Bearbeitung eines älteren spanischen Reiseberichtes über Südame-
|| ler: Der Dichter und Historiker Johannes Bisselius SJ (1601–1682). Ein personalbibliographischer Überblick. In: Humanistica Lovaniensia 61 (2012), S. 482–510. 7 Dazu grundlegend Hermann Wiegand: Die Oberpfalz im konfessionellen Umbruch: Eine jesuitische Reisesatire aus dem Jahre 1632. In: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Der Pfälzer Löwe in Bayern. Zur Geschichte der Oberpfalz. Regensburg 1997, S. 130–156. 8 Dazu zuletzt Katharina Kagerer: Jacob Balde und die bayerische Historiographie unter Kurfürst Maximilian I. Ein Kommentar zur Traum-Ode (Silvae 7,15) und zur Interpretatio Somnii. München 2014, S. 94–97. 9 Einen Zugang bietet Wilhelm Kühlmann/Lutz Claren: Heros und Skandalon: Zum poetischen Gedenken an den ›Ketzer‹ Giulio Cesare Vanini (1585–1619) in der deutschen Literatur. Von Johannes Bisselius SJ zu Friedrich Hölderlin. In: Ralf Georg Bogner/Johann Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hg.): Leichabdankung und Trauerarbeit. Zur Bewältigung von Tod und Vergänglichkeit im Zeitalter des Barock. Amsterdam/New York 2009, S. 91–118. 10 Abgedruckt im Textanhang der Neuausgabe der Deliciae Veris (Anm. 6), S. 739–750.
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rika (Argonauticon Americanorum, 1647).11 Sieht man ab von der Beteiligung an der ordensspezifischen bzw. dynastischen Festliteratur12 und der teilweise anonymen Mitarbeit an einer Sammlung der Marienlyrik (Cliens Marianus, 1634),13 sieht man auch ab von späterer jambischer, bisher ganz unerschlossener Bibelpoesie, haben erst neuere Forschungen und Kommentare klargestellt, dass sich Bisselius mit seinen zwei großen ingeniösen Elegienzyklen (entstanden seit ca. 1630), Teilen einer ursprünglich auf vier Bände angelegten Jahreszeitenserie, in die erste Reihe der europäischen neulateinischen Dichter eingeschrieben hat (Deliciae Veris, Ingolstadt 1638, bearbeitet München 1640; Deliciae Aestatis, München 1644).14
|| 11 Harold C. Hill: Johann Bissel’s Argonauticon Americanorum (1647). A Reexamination. In: Modern Language Notes 85 (1970), S. 652–662. 12 Dazu exemplarisch Katharina Kagerer: Eine Gratulationsschrift in Romanform. Die ›Palma Boica‹ des Johannes Bisselius SJ (1636). In: Stefan Tilg/Isabella Walser (Hg.): Der neulateinische Roman als Medium seiner Zeit. Tübingen 2013, S. 119–134. 13 Dazu Hermann Wiegand: Marianische Liebeskunst. Zu den Anfängen der lateinischen Lyrik des Johannes Bisselius S.J. (1601–1682). In: Stella P. Revard/Fidel Rädle/Mario A. Di Cesare. (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani. Proceedings of the Sixth International Congress of Neolatin-Studies. Binghamton 1988, S. 385–393. 14 Dies ist in der kommentierten Neuausgabe der Deliciae Veris (Anm. 6) und begleitenden Studien begründet und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Jost Eickmeyer: Golgatha zwischen zwei Marien. Zu lyrischen Frauenklagen deutscher Jesuiten. In: Johann Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hg.): Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2010, S. 375–396; Wilhelm Kühlmann: ›Parvus eram‹. Zur literarischen Rekonstruktion frühkindlicher Welterfahrung in den ›Deliciae Veris‹ des deutschen Jesuiten Johannes Bisselius (1601–1682). [Zuerst 1987, dann erweitert.] In: Klaus Garber/Winfried Kürschner/Sabine Siebert-Nemann (Hg.): Zwischen Renaissance und Aufklärung. Beiträge der interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta. Amsterdam 1988, S. 163–177; mit leichten Veränderungen abgedruckt auch in W. K.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle/Friedrich Vollhardt/Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 585–595; ders.: Zwischen Adaptation, Integration und Revokation. Deutsche Schwankliteratur (J. Pauli) in der Jesuitenlyrik des Johannes Bisselius (1601–1682). In: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450– 1620). Berlin/Boston 2011, S. 537–572; ders.: Fiktionsironie und Autorbewußtsein in jesuitischer Barocklyrik. Zu Johannes Bisselius’ SJ (1601–1682) Deliciae Veris (1638, 1640). In: Beate Hintzen/Roswitha Simons (Hg.): Norm und Poesie. Zur expliziten und impliziten Poetik in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2013, S. 163–182; Hermann Wiegand: Heimaterinnerungen im lateinischen poetischen Werk des Babenhausener Jesuiten Johannes Bisselius (1601–1682). In: Guillaume van Gemert/Manfred Knedlik (Hg.): Museion Boicum oder bajuwarische Musengabe. Beiträge zur bayerischen Kultur und Geschichte. Hans Pörnbacher zum 80. Geburtstag. Amsterdam/Utrecht 2009, S. 129–144.
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Stattdessen ist der Blick zu richten auf Bisselius’ späte Predigten, gedruckt in einem dialektal tingierten, jedenfalls oberdeutschen, auch von der regionalen Druckersprache und gewiss auch persönlichen Stilvorlieben und dem ursprünglich mündlichen Vortrag beeinflussten Idiom. Hier geht es mir um den zweiteiligen Band mit Bisselius’ Dillinger Predigten der Jahre 1666 und 1667, einst in der Universitätskirche gehalten, nun zusammen, jedoch mit getrennten Titelblättern gedruckt.15 Das gemeinsame Vorwort des Verfassers vom 1. Januar 1682 betont, dass er die älteren Predigtmanuskripte (noch kurz vor seinem Tode, vielleicht ohne Endkorrektur?) auf Ersuchen des Verlegers zum Druck gegeben habe. Diese Predigten zeigen einen opulenten Erzähler, der weniger die Bibel als vielmehr diverse weltliche und geistliche, in jedem Fall vor allem historisch nachweisbare Anekdoten und Stoffe zur lehrhaften, theologisch bewusst korrekten, immer wieder auf die Beschlüsse des Trienter Konzils anspielenden Katechese und moralischen Applikation ausbreitete, niemals ohne gelehrte Nachweise, gleichzeitig einen volkstümlichen Rhetor, der immer wieder in farbiger, bisweilen rustikaler, auch drastischer Diktion, welche das Idiom der Heimatlandschaft nicht verleugnete, seinen eigenen Emotionen freien Lauf ließ und so auch die Affekte des zuhörenden Publikums bewegen wollte. Wie ernst Bisselius sein Predigtamt und die dazu gehörigen gelehrten Vorstudien nahm und welche Zwecke seine Predigten verfolgten, erhellt sich ex negativo aus seiner beißenden Karikatur von Predigern, wie es sie gab, aber nicht geben sollte. Bisselius beginnt mit einigen Farbstrichen eines wahren Genregemäldes:16 […] wann sie ein gantze Wochen gefeyrt / gespihlt / getruncken / geluedert / vnd geschwälgt haben, darnach erst am Sontag / wenn man das erste Gloggen Zaichen zur Predigt gibt / aufstehen, fragen: was für ein Evangelium? Und entzwischen / Vnder dem Anlegen der Klaydern / sich erst erstudiren? Qualis praeparatio, talis est concio. Was werden leyden die jenigen / die nichts darauf geistliches lesen / nichts / oder nicht vil betrachten / vnd betten / und dahero hernach auch keinen Ernst / Saft / und Geist im Reden / erzaigen, weil sie keinen Geist nicht haben / die Gemaind also / demnach nothwendig / auch ohne Trost / Geschmakh / vnd Geist / vnd Fürhaben der Besserung jhres Lebens gehen lassen:
|| 15 Johannes Bisselius: [Teil I] Incolarum Alterius Mundi Phaenomena Historica. Das ist: Der Innwohneren der andern Welt sichtbarliche Erscheinungen. In Fasten-Exempeln zu Dillingen / in der Academischen Kirchen der Societet JESU Predigweiß fürgestellt. Dillingen 1682 [Predigten des Jahres 1666]. ‒ [Teil II] Mortes Patheticae Oder Anmüetige Todt-Fähl. In FastenExempeln zu Dillingen / in der Academischen Kirchen der Societet JESU Predigweiß fürgestellt. Dillingen 1682 [Predigten des Jahres 1667]. 16 Bisselius: Incolarum Alterius Mundi Phaenomena Historica (Anm. 15), Teil I, S. 108f.
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Fablen aus dem Eylenspiegel erzehlen / nie kein Tugend herfürstreichen / vnd vil weniger / offentlich-eingerißne Laster straffen […].
Dass Bisselius mit der Polemik gegen den »Eulenspiegel« den Gesamtbereich der moralisch anrüchigen Schwankdichtung meinte, war bei Predigern und Moralisten nicht ungewöhnlich, umso bemerkenswerter, dass er in seinem lateinischen Großzyklus der Deliciae veris Schwankvorlagen kontrafaktorisch mehrmals zu verwenden wusste und hier nicht fragwürdige private Lektüre meint, sondern gegen eine bestimmte Art von narrativ belustigenden Predigten polemisiert,17 wie sie aus seiner Sicht offenbar im oberdeutschen Raum aus Pflichtvergessenheit immer beliebter wurde und auch auf protestantischer Seite selbst in Hamburg bei dem großen Johann Balthasar Schupp (1610–1661), einem angeblichen prädikatorischen »Fabul-Hanß«, von der theologischen Fakultät offiziell getadelt wurde.18 Ob Bisselius es gebilligt hätte, dass sein zeitgenössischer Glaubensbruder Prokop(ius) von Templin (1609–1680) Grimmelshausens Simplicissimus extensiv für seine Predigtzyklen und nachfolgende gedruckte Predigtsammlungen verwendete, ist fraglich.19 Freilich wäre hier auch das herausgehobene Genre der ›Fastenpredigten‹ zu bedenken, die zum Beispiel von Kirchweihpredigten sehr wohl zu unterscheiden waren, zumal Bisselius inmitten der akademischen Umgebung der Dillinger Universität das Wort ergriff. Jedenfalls gehört zur Vorbereitung des Predigers, so lernen wir, eifriges Studieren des geistlichen Schrifttums, Meditieren (»Betrachten«) und Beten. Erst diese Vorbereitung kann der Predigt neben der rhetorischen Kraft einen sicheren spirituellen Hintergrund (»Geist«) verleihen und damit auch die erwünschte Wirkung auf die Gemeinde (»Trost« und »Besserung«) verbürgen. Die erste der beiden Predigtsammlungen20 widmet sich den »sichtbarlichen Erscheinungen« der »Innwohneren der andern Welt«, also den verschiedenen Wesen jenseits der menschlichen Sphären: dem Teufel in seinen verschiedenen
|| 17 Zu diesem Textsektor vgl. Bayerische Barockprediger. Ausgewählte Texte und Märlein bisher ziemlich unbekannter Skribenten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Hg. von Georg Lohmeier. München 1961; Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes. Berlin 1964. 18 Dazu und zu den sich daraus entspinnenden Streitschriften vgl. die Hinweise im SchuppArtikel von Herbert Jaumann. In: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bd. 1–13. Berlin/New York bzw. Boston 2008–2012, hier Bd. 10 (2012), S. 643–646. 19 Dazu Urs Herzog: Der Roman auf der Kanzel. Prokop von Templin (um 1608–1680) als erster Leser von Grimmelshausens Simplicissimus. In: Simplicana 6/7 (1985), S. 99–110. 20 Vgl. Bisselius: Incolarum Alterius Mundi Phaenomena Historica (Anm. 15).
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Rollen und Masken, den Engeln, aber auch den Erscheinungen erlöster oder verdammter Seelen. Die Sorge um die armen, verirrten oder umherwandernden Seelen gehörte zum pastoraltheologischen Grundbestand der katholischen Dogmatik, bildete letzthin auch das Fundament eines Weltbildes, das säkulare Weltimmanenz verneinte, vielmehr die Verflochtenheit von Diesseits und Jenseits auch mit autobiographischen Reminiszenzen beglaubigte,21 insofern den Beginn einer Diskurs- und Buchreihe bildet, die letzthin bis zur spätpietistischen AntiAufklärung in Gestalt von Johann Heinrich Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde22 reichte und von Widersachern des Aberglaubens bekämpft, teilweise auch verboten wurde.23 Der Prediger Bisselius verfügt auch hier über einen schier unerschöpflichen Fundus einschlägiger Anekdoten und literarischer Exzerpte, schöpft zugleich aus umlaufenden Wandergeschichten wie zum Beispiel der auch andernorts mehrfach erzählten Sage vom Rattenfänger von Hameln (S. 18–43), die allerdings unter anderem anhand einer Chronik der Stadt Hameln und durch Ordensautoritäten (Athanasius Kircher) als historisches Faktum ›abgesichert‹ wird:24 Das achteten aber die Hammeler / vnd beobachteten / gar wenig: sondern liessen ihre kleine Bursch thun / nach ihrem Lust / vnd Willen; anheimbs / vnd auf den Gassen. Und sihe / da kam vnversehens wider daher / der / vor einem Jahr abgewisne / Wunder-Mann: Vnd / als ein Spilmann / und Possenreisser / hebte er auf der Stadt-Strassen an / zu pfeiffen / vnd zu blasen. Disem Gespil lieffen also bald zu / ein grosse Menig der Kinder / beeden Geschlechts / Mägdlin so wol / als Knaben; als wie sie jetzt pflegen / wann sie ihren Gregory (wie mans nennt) halten / oder Virgatum gehen. Der Abentheurer geht vor ihnen her / dem Stadt-Thor zu / welches das Koppen-Thor genannt war: das war offen. Die Menge der Kinder folgt ihm nach: Er führt sie zur Stadt / durch die Bunglossen-Straß / hinaus / bis an den Gerichts-Ort / der Koppel-Berg genannt / Lateinisch aber / in einem uhralten Hammelischen Missal, Locus Calvariæ, das ist: Schedelstadt; (vielleicht anzuzeigen / wo-
|| 21 So Bisselius zum Regensburger Sommer des Jahres 1632 über Begebenheiten bei der Seelsorge eines hasserfüllten italienischen Soldaten, vgl. Bisselius: Incolarum Alterius Mundi Phaenomena Historica (Anm. 15), Teil I, S. 157–160. 22 Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geisterkunde. Nürnberg 1808. Repr. hg. von Michael Titzmann. Hildesheim 1979; dazu dann gegen die Basler Geistlichkeit Jungs Apologie der Theorie der Geisterkunde (Nürnberg 1809). 23 Zur Diskussion vgl. Wilhelm Kühlmann: Zwischen Aufklärung und Erweckung. Die Korrespondenz zwischen Gottlieb Konrad Pfeffel und Johann Heinrich Jung-Stilling. In: W. K. (Hg.): Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Neue Studien. Walter E. Schäfer zum 65. Geburtstag gewidmet. Amsterdam 1995, S. 445–475. 24 Predigt vom 14. März 1666, vgl. Bisselius: Incolarum Alterius Mundi Phaenomena Historica (Anm. 15), Teil I, S. 31f. und 33. In diesem Auszug wie in den folgenden Zitaten sind Wechsel der Schriftgrade und -typen in den wiedergegebenen Passagen einheitlich kursiv gesetzt.
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hin die böse vn- vnd übelerzogne Kinder gehören.) Alsbald sie dort hin kommen; zur stätt / thut sich der Gerichts-Berg auf / vnd von einander / (wie dann noch heut die Sencken alldort gesehen wird / zu oberst am End mit einem Stein / und Alters halber / jetzt nunmehr vnlesendlichen Gedänck-Schrifft / gezaichnet) alldort hinein seynd / samt dem Gespenst-Mann / alle diese Kinder gegangen / vnd verschwunden; Der Berg sich widerum zugeschlossen; Vnd der Kinder also in allem hundert / vnd dreyssig verdorben / daß man auf heutigen Tag nicht weiß / wie es ihnen ergangen. […] Dann / (Geliebte) der leidige Sathan / (behüt uns GOTT davor) hatte sie mit sich in die andere Welt geführet / vnd nicht nur ein Spilmann / oder ein Zauberer.
Die zweite Predigtsammlung handelt von »Mortes Patheticae oder anmüetige[n] Todt-Fähln«. Das Wort »anmüetig« hat semantisch nichts mit unserem Verständnis von ›Anmut‹ zu tun, sondern zielt auf die Darstellung bzw. Erregung der ›Affekte‹, Passiones, im Sinne von ›herzbewegend‹, ›tragisch‹. Bisselius erläutert sein spezifisches Affektmodell der meditatio mortis in seinem »Eingang« mit einem knappen Rekurs auf das berühmte, schon Ignatius von Loyola bewegende Andachtswerk De Imitatione Christi des Thomas von Kempen (»Thomas Kampensis«; 1379/80–1471) aus den Zeiten der sogenannten Devotio Moderna, beginnend mit einem sofort ins Deutsche überführten Zitat aus Kap. 23, Nr. 2, fortgesetzt mit der drastischen expositorischen Dichotomie von »zweyerley Gattungen des Sterbens«, wodurch ein grober diskursiver Bewertungsrahmen der dann im Werk erzählten Exempel und der dazu gebotenen Kommentare und Betrachtungen vorgegeben ist (S. 5f.): Wann einer einmahl einem Sterbenden hab zugesehen; solte er jhm den Gedancken schöpffen; daß auch er / bey der Weil noch eben diesen Weeg raisen werd. Ist zwar recht; und leicht / also zugedencken. Was ists aber mehr / und was hilffts einen solchen; wanns jhm darneben nicht eingeht / noch zu Hertzen? wann kein affect, kein Andacht / kein Nachtruck / kein Sinn und Gedancken der Nachfolg / oder Besserung herauß kombt? welches dann fürwar nit bey allen Todtfählen / ja / etwan beym wenigsten Theil sich zuträgt. Was mag die Ursach seyn? Ich will sie anzaigen / und erklären. Und ist folgende. Zweyerley Gattungen der Menschen scheyden ab / von disem Leben / und der Welt. Deren Erste Gattung seynd die / welche nichts / oder schier gar nicht tugendlichs an sich / weder im Leben haben gehabt / noch im Todt. Der Anderen Gattung aber / seynd die / welche gemeinklich im Leben / oder doch endlich in dem End deß Lebens / lobwürdig und hoch-denckwürdig / sich erhalten haben. Bey der Ersten Ableibung wird / und kan (regulariter, oder nach dem gmainen Weltlauff / und Schlag) niemand der Beywesenden einigen sondere Andacht und affect, oder Bewegung und Anmuthung zur Tugendt / haben: wird keinem eingehen; sonder wird einem Zusehenden seyn / als wann ein Hund verreckt / oder ein Schwein gestochen wird. Und darumb tringt auch die H. Schrifft nit vast auff jhr Beklagung und Erbarmnuß: sonder vilmehr auff Gegenspil / Eccl. 38. v. circ. 18. Fac luctum secundum meritum ejus q. d. Nach dem ers verdient hat / seinem verhalten gemäß / trag auch du layd / über seinen Todt.
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Unverkennbar flankiert diese Predigtsammlung dem Titel und Typus nach die Masse der nun mit aller Energie pastoraltheologisch und katechetisch umgeformten und umgedeuteten Erzählsammlungen der säkularen Literatur,25 darunter mit weitreichenden Wirkungen François de Rosset (1570–nach 1630) mit seinen Histoires mémorables et tragiques de ce temps (zuerst Le Pont 1613),26 bald von dem Ulmer Polyhistor Martin Zeiller (1589–1661) übersetzt27 und auch von anderen wissensvermittelnden Unterhaltungsschriftstellern der Epoche nachgeahmt. Bei Bisselius lesen wir als zweites »Exempel« die am 27. Februar (»Hornung«) 1667 in Dillingen gehaltene Predigt über Romeo und Julia, unter dem Titel Romaeus, und Julietta, Edlen Stamms zu Verona (S. 32–56). Von Shakespeare wird Bisselius allenfalls vom Hörensagen oder durch die oben erwähnten Aufführungen von Truppen der Wanderbühne gehört haben. Der große Dramatiker spielt selbstverständlich in der Predigt keine Rolle. Bisselius kannte das große Verona-Kapitel in Zeillers Itinerarium Italiae Nov-Antiquae mit den berühmten Illustrationen von Matthaeus Merian,28 hatte zur Lektüre aber offenbar vor sich den seiner Meinung nach »ersten Beschreiber« des tragischen Exem-
|| 25 Einen Überblick darüber bietet Bd. 21 (1999) der Simpliciana, Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft, mit den Beiträgen eines Wolfenbütteler Arbeitsgespräches über barocke Erzählsammlungen. 26 Ca. 40 Auflagen bis 1758, Übersetzungen in zahlreiche Sprachen; kritische Ausgabe des Drucks von 1619 hg. von Anne de Vaucher Gravili. Paris 1994. 27 Theatrum Tragicum […]. Tübingen 31628, weitere Drucke unter anderen ebd. 1634, Ulm 1648 und 1655; Bisselius benutzte Rosset/Zeiller für seine Vanini-Elegie (vgl. Kühlmann/Claren: Heros [Anm. 9]) und zitierte Zeiller auch sonst mehrfach in seinen Predigten; neben dem knappen Überblick Kühlmann in: Kühlmann u. a. (Hg.): Killy (Anm. 18), Bd. 12, S. 634f., sind zu Zeiller heranzuziehen ders.: Lektüre für den Bürger. Eigenart und Vermittlungsfunktion der historischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589–1611). In: Wolfgang Brückner/Peter Blickle/Dieter Breuer (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Tle. Wiesbaden 1985, hier Teil 2, S. 917–934; Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und die französischen Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Dieter Harmening/Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur, Geschichte, Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Würzburg 1990, S. 530–551; Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar 2005, S. 291–312; zur Verwendung von Zeillers Rosset-Übersetzung bei Harsdörffer und in weiteren Quellenbezügen vgl. Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel-Literatur am Beispiel von Harsdörffers teuflischer Mord-Geschichte ›Die bestrafften Hexen‹. In: Jens Ruchatz/Stefan Willer/Sigrid Weigel (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007, S. 122–142. 28 Vgl. Martin Zeiller: Itinerarium Italiae Nov-Antiquae: Oder / Raiß-Beschreibung durch Italien. Frankfurt a. M. 1640, darin Cap. III (»Raisen durch das Welschland«), S. 81ff.
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pels (S. 33f.): »Franciscus Belleforestus, in Frantzösischer; neulicher aber / Carpovorus [Druckfehler oder mündliche Diktatversion für »Carpophorus«], in Teutscher / Parte 5; Amphitheatri, cap. 111«. Hinter diesen Namen verbergen sich, wie oben erwähnt, François de Belleforest (1530–1583), der zweite französische Übersetzer Matteo Bandellos (Histoires tragiques, 7 Bde. 1564–1582), sowie unter dem Hüllwort »Carpophorus« ein ungenanntes Mitglied der wichtigsten deutschen Sprachgesellschaft, der sogenannten »Fruchtbringenden Gesellschaft«. Durch den latinisierten Titel »Amphitheatrum« darf man sich nicht irreführen lassen, denn mit »Carpophorus« meinte Bisselius den Nürnberger Großschriftsteller Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658), genauer: sein kompilatorisches Sammelwerk Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte (zuerst Hamburg 1649/50; 31656, weitere Drucke bis 1713), wo die Romeo-und-JuliaGeschichte genau am angegebenen Ort zu lesen ist, unter dem Titel »Die verzweiffelte Liebe«.29 Harsdörffers Erzählsammlungen sind in den letzten Jahren in schätzenswerten Sammelbänden gewürdigt worden: Seine Anlehnungen unter anderen an Kompilatoren wie den Genfer Pastor Simon Goulart (Thrésor d’histoires admirables et memorables de nostre temps. Paris 1610 u. ö.) oder den französischen Bischof und höchst produktiven Autor erbaulicher Romane und Sammelwerke Jean-Pierre Camus (1584–1652)30 wurden so teils exemplarisch oder in ersten Überblicken ins Licht gerückt.31 Soweit ich sehe, verweist nur || 29 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Hamburg 1656. Repr. Hildesheim /New York 1975, hier V. Theil, Nr. CXI, S. 387–393. 30 Zu ihm und Harsdörffer, auch zu dessen Verwischung oder gar Verbergung seiner Quellen, nach wie vor instruktiv Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern/München 1968, besonders S. 61–66. 31 Für das Genre einschlägig, aber ohne Bezug auf mein spezielles Thema Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers »Schauplätzen«. In: Italo Michele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern u. a. 1991, S. 313–330. – Hans Joachim Jakob/Hermann Korte (Hg.): Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Frankfurt a. M. u. a. 2006, hierin besonders Theodor Verweyen: Georg Philipp Harsdörffer – ein Nürnberger Barockautor im Spannungsfeld heimischer Dichtungstradition und europäischer Literaturkultur (S. 37–53); Hania Siebenpfeiffer: Narratio Crimen. Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schauplatz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur (S. 157–175); Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques (S. 177–193, bes. zu Camus). – Stefan Keppler-Tasaki/Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Berlin/New York 2011, hierin besonders Hans-Joachim Jakob: Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte (S. 83–113); Judit M. Ecsedy: Thesen zum Zusammenhang von Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen (S. 115–145); Stefan Manns: »Die wahre und
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Ecsedy32 zur Romeo-und-Julia-Geschichte bei Harsdörffer lapidar auf Boisteaus Bandello-Version (1559), allerdings ohne Hinweis auf das prominente Romeound-Julia-Sujet, doch hatte Bisselius nach eigener Angabe Belleforest und »andere Scribenten« (S. 37) vor Augen, mit denen er Harsdörffer vergleichen konnte. Die Romeo-und-Julia-Version des Jesuiten tritt so in kontrafaktischen Wettbewerb mit Harsdörffer, versteht sich als eine das Genre wechselnde Metaphrase der in allen Farben schillernden Novellistik, verrät zugleich etwas von den offenen oder latenten, rivalisierenden oder auch freundlichen Literaturkontakten, wie sie zwischen den Nürnberger Pegnitzschäfern und oberdeutschen Jesuiten etwa bei Bisselius’ Ordensbruder Jacob Balde zu beobachten waren.33 Harsdörffers Quellenverarbeitung oder -kontamination, in deren Verlauf galante Erotica Bandellos selbstverständlich allenfalls angedeutet werden konnten,34 muss hier außer Betracht bleiben. Jedoch verrät der Einleitungsabschnitt des Nürnbergers den deutschsprachigen Autor. Denn in der Frage nach der rechten Ehe, die ihn auch sonst interessiert,35 bevorzugt Harsdörffer diesfalls
|| merckwuerdige Geschichte lehret«. Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen (S. 147–165); Gesa Dane: Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte (S. 167–179); dazu ist mit Gewinn hinzuzunehmen Misia Doms: »Wann ein Frantzos […] ein teutsches Kleid anziehet.« Die Behandlung konfessioneller Fragen bei der Übersetzung von Jean-Pierre Camus’ L’Amphithéâtre sanglant und in Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte. In: Marcel Krings/Roman Luckscheiter (Hg.): Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 2007, S. 51–69. 32 Vgl. Ecsedy: Thesen (Anm. 31), S. 126. 33 Der vorliegende Beitrag ergänzt also die Studien von Wilhelm Kühlmann: Balde, Klaj und die Nürnberger Pegnitzschäfer. Zur Interferenz und Rivalität jesuitischer und deutschpatriotischer Literaturkonzeptionen. In: Thorsten Burkard u. a. (Hg.): Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. Regensburg 2006, S. 93– 113; Hartmut Laufhütte: Ökumenischer Knaster. Sigmund von Birkens Truckene Trunkenheit und Jacob Baldes Satyra contra Abusum Tabaci. In: ebd., S. 114–132. 34 Wenn Bandello: Novellen (Anm. 1), S. 79, zum ehelichen Vollzug schreibt: »Und da Romeo ein sehr kräftiger und überaus verliebter Jüngling war, genoß er mit seiner schönen Braut immer und immer wieder die höchste Lust«, heißt es bei Harsdörffer: Schau-Platz (Anm. 29), S. 389: »Solches machte er auch werkstellig / und vollzoge sein Ehliches Versprechen / mit übergrossem vergnügen. Solches trieben diese beede biß in den dritten Monat / und gedachten nicht einmal daß dieser Handel kein gutes Ende würde nehmen müssen.« 35 Vgl. Harsdörffer: Schau-Platz (Anm. 29), VIII, Nr. 157: »Bestraffung der WinkelEhe«, oder die Kapitel zu Ehebruch und bürgerlichem Ehestand in ders.: Nathan und Jotham: das ist. Geistliche und Weltliche Lehrgedichte. 2 Bde. Repr. der Ausgabe Nürnberg 1659. Hg. von Guillaume van Gemert. Frankfurt a. M. 1991, hier Bd. 1, Nr. 36–38, S. 58–61.
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mittels eines anagrammatischen, ja kabbalistischen Wortspiels samt folgender Lautmalereien einen scherzhaft-konversationellen Texteingang, jedenfalls keinen narrativen Habitus, der mittels der exemplarischen Historie primär auf moralisch gesicherte Verhaltensdidaxe abzielen würde: Eigentlich passt diese Einleitung gar nicht recht zur Romeo-und-Julia-Geschichte, denn die Liebenden wurden ja, ein neuralgisches Thema für Bisselius, verheiratet (S. 387): In dem Wörtlein blinde / ermangelt der Buchstab E / mit welchem es erfüllet das Wörtlein liebend. Wann wir nun nach Gebrauch der Ebreer in den Buchstaben Geheimnisse suchen wollten / könnte man sagen / daß die Liebenden / und Verliebe / ohne die die Ehe / oder E / wie die Alten geschriebene [sic!] blinde Leute weren. Wie glückselig aber solten sie seyn / wann sie noch der Blinden Fürsichtigkeit hetten / und alle ihre Schritte zuvor mit dem Stab der Furcht Gottes versicherten. Wie aber in der vorgesetzten Erzehlung solches nicht beschehen: also folget auch in nachgesetzen / daß die Buler solche Blinde / die mit anderen Blinden die sie leiten / in die Gruben fallen / Matth. 15.14.
Dass das »raitzende verführerische Gelüst« (S. 33) der Liebenden bei Bisselius auf wenig Sympathie stößt, lässt sich erwarten. Denn er entdeckt in seiner Exposition (S. 32f.) in den »concupiscentiae« der jungen Leute allegorisch jene wilden Tiere, von denen einst Christus in der Wüste versucht wurde (Markus 1,13) und von denen er als »malae bestiae« auch bei Thomas von Kempen lesen konnte. Was geschieht, wenn diese wilden Tier nicht »zu grund gerichtet« werden, soll die Romeo-und-Julia-Geschichte zeigen. Doch solch geistliche Polemik gegen die Begierden des Fleisches war ein eher triviales Thema. Was Bisselius an der Romeo-und-Julia-Geschichte offenbar besonders reizte, war die fragwürdige Interaktion zwischen den Liebenden und ihrem Seelsorger und »Beichtvater«, mithin die Möglichkeit, das Verhalten des ›Bruder Lorenzo‹ sozusagen fachmännisch und kritisch (aus der Sicht eines erfahrenen geistlichen ›Kollegen‹) zu erzählen und zu kommentieren. Dabei wird nebenbei auch Harsdörffer, der »Carpophorus«, wegen seiner ›Ungereimtheiten‹ (S. 389) getadelt, weil er das Treffen der Liebenden und des Paters ausgerechnet in eine »Sacristey« verlegte:36 Hatte also darnach Julietta jhrer vorhabenden Beywohnung / mit dem Roméo, disen scheinbarlichen praetext und Fürwand; daß es in allen Ehren zugehen wurd. Dem Roméo aber / mahlte der Sathan, oder sein Phantasey / noch einen scheinbarlicheren für; Es köndte sich zutragen / wann sie zwey ehelich wurden; daß / mit der Zeit auch alle Monteschiner / und Capelléten / vermittelst ihrer Nachfolg / widerumb gute und beharrliche Freund wurden.
|| 36 Bisselius: Mortes Patheticae (Anm. 15), Teil II, S. 38–41.
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Sie sahen aber gleichwohl noch kein eintziges gangbares Mittel / wie sie zwey erstlich / und ehelich / können zusamen kommen: weil beede Elteren unter einander Todtfeind waren; und es also niemahl wurden zulassen: Und diß war auch die Antwort deß Beichtvatters Romaei, welcher Laurentius gehaissen / und den er deßwegen zu Rath gezogen: daß er nämblich keinen Weeg sehe / wie vorhabender Heurath kondte ins Werck gestellt werden; in bedencken / diser beeden Elteren / als fürnemme Herren / unversönliche Feindschafft zwischen einander übten. Und das war recht gerathen / wie ein fürsichtiger Beichtvatter hat sollen rathen / sein Beicht-Kind vor Schaden zu warnen: Wär der gute P. Lorenz nur nit weiter geschritten / und sich eingemischt / wo er nit hett sollen. So hat jhm aber das Fräulin kein Ruh gelassen: deren so bitter noth nach der Hochzeit war. Dann (so vil ich auß dem Original Scribenten abnimm) so bald Julietta erschmeckt / daß deß Roméo Beichtvatter wenig Lust hett / solchen Heurath zu rathen; hat sie gethan / was villeicht öffter möchte geschehen: daß man dem Beichtiger alle / auch weltliche / Händel / will auff den Hals binden; als müste er alle Windlen wäschen; die gewißlich (dißfahls) nit in die Beichtstül / sonder an den Bach / und folgends auff die Zäun gehören. Julietta schickt ihr alte Kindsamme zu eben dem Beichtvatter / dessen sich Roméo gebrauchete: damit sie ein Eingang der Sachen machte; und folgt sie hernach; da sie ihm noch zuvor nie gebeicht hette; Es geschahe nit darumb / damit der P. Lorenz ihr in ein Kloster hulff; sonder / zu einem Ehemann. Die zwo / in Summa, trischlen so vil und lang mit dem Beichtvatter / daß sie ihn endtlich zur Einwilligung brachten. Roméo, muste auff inständiges anligen der Julietta, alsobald auch kommen: und (daß noch ungereimbter) er / und Julietta und der Beichtvatter / kamen in der Sacristey (sagt Carpophorus) in der Eyl zusamen: (was ist ungereimbters: Ein Weibsbild in der Sacristey? in solchen Umbständen?) Roméo gibt den Trau-Ring / wird mit der Julietta darauff / über Spitz und Knopff / jhrer Elteren / und aller anderen unwissend / von dem Beichtvatter eingesegnet: und dem Roméo die Julietta eingehändiget und übergeben. (gleichsamb / als wäre kein Pfarr / noch Pfarrer / noch anderer / bevollmächtigter Priester / noch Assistenten / und dises Heuraths Beyständ / in dem gantzen Verona zufinden: [(d); Verweis am Ende auf Zeiller] in welcher Statt doch / zur selbigen Zeit / über die 70000. der Herren / Frauen / und Burgerschafft / zu finden gewest. Diese zwey seynd der Freuden voll / auß der Sacristey / und Kirchen / anheimbs gangen; und gleich darauff / noch ehe 24. Stund verloffen / jhr Ehe / durch Mittel / die jhnen das alt Weib oder Kupplerin erfunden / angefangen / und würcklich vollzogen; aber mit unmässiger / und Gott (halt ich dafür) gar mißfälliger Manier: In passione desiderii (sagt S. Paulus 1. ad Thessal. 4. v.5.) sicut gentes, wie Roß / Esel / und Maul-Esel / in haydnischer / und mit Christlicher / Zucht-Regel. Bestiae! das laßt sich dann wol / auß dem außgang der sachen / vermuthen.
In der Bewertung des Geschehens (S. 41f.) konzediert Bisselius zwar, dass die Ehe »eine freye / und ungezwungne Sache« sei, dass die Kirche aber seit langem »Matrimonia Clandestina, das ist / die Winckel-Heurath« missbillige und erst recht durch die einschlägigen Bestimmungen des Konzils von Trient unter dem Lemma »De Reformatione Matrimonii« verboten habe und dass dabei auch der
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sakramentale Charakter der Ehe festgeschrieben worden sei. In der Tat ist es plausibel, wenn der Prediger den betreffenden Konzilsparagraphen37 auf den vorliegenden Kasus bezieht: in den Vorschriften zur sozialen Justifizierung des Ehebundes durch die Eltern und zur Notwendigkeit fester Ritualien (Abkündigung von der Kanzel und vor Zeugen). Nicht nur dies wurde von Pater Lorenzo versäumt; schlimmer noch erscheint es dem Prediger, dass er sich durch die Lieferung des Schlafpulvers an Julietta fatalerweise vom »Seelen-Artzt« zum »Leib-Artzt« (S. 47) verwandelt habe. Doch wie hätte das Problem nach der bereits vollzogenen ›Winkelehe‹ geregelt werden können, da doch der Vater Juliettas eine Zwangsheirat plante. Hier verschlingt sich ein Problemknäuel, das jeder spätere ›Novellist‹ unbesprochen liegen lassen konnte. Selbst Bisselius, der immerhin in Dillingen zeitweise Ethik lehrte und mit der moralischen Kasuistik zweifellos gut vertraut war, hat angesichts von zwei Übeln (»dua mala«) sichtlich mit argumentativen Aporien zu kämpfen, die für ihn in bedachtsamer Verteilung der Schuld allenfalls nach dem Prinzip des ›kleineren Übels‹, d. h. durch das Geständnis der ›Winkelehe‹ auch vor einem grausamen und (bis zum Totschlag?) prügelnden Vater zu lösen waren (S. 45f.): Allhie / seynd beede unrecht daran gewesen. Signòr Antonio; daß er sein Kind zu einer Sach / die frey muß seyn / oder ungenöthet [Satz endet hier, zu ergänzen im Sinne von: zwingen wollte]. Die Tochter aber hatte noch vil unrechter daran gehandlet; daß sie sich zwar (wie billich) gesperrt; aber die rechte Ursach / und den aigentlichen Sperr-Rigel / dem Herrn Vatter nit entdeckt: daß sie nämblich schon / von so langer / und so langer Zeit her / mit Roméo verheurat seye; der Heurath auch würklich vollzogen und demnach dem Graffen nit könne unberühret eingeliferet werden: und was diß mehrers ist / oder war. Ey hette doch endtlich diser Winckel-Heurath ohne das müssen an Tag kommen: wann Iulietta hett anfangen Kinder zu gewinnen. Ja; er hett sie aber übel deßwegen tractiert / wann sie jhm alle Sach für Augen gelegt hett? Das ist wahr: manche huschen hett er jhr geben / und manch flache Hand jhr lassen in das Angesicht fliegen: daß jhr das Liecht wäre erloschen. Was mehr? hette sie es gelitten. Er war Vatter. Und gesetzt; daß er sie noch vil härter gehalten hett: De duobus malis, quod minus est, eligendum est: Sie hett auß zwey obstehenden Ublen das kleinere sollen erwählen: Und / wär alles solches schlagen / ja auch verwunden / und der Todt selbsten / ringer und erträglicher gewesen; als das / was hernacher entstanden ist.
|| 37 Vgl. den lateinischen Text mit deutscher Übersetzung in: Josef Wohlmuth (Hg.): Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 3. Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient […]. Paderborn 2002, S. 755f.
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Bisselius schildert die Vorgänge mit farbigem Kolorit; die vergleichsweise nüchterne Vorlage bei Harsdörffer wird dabei in sinnenhafter szenischer ›Evidenz‹ rhetorisch amplifiziert. Harsdörfffer vermeldet (S. 391): »Nach einer erbärmlichen Trauerrede konnte sie sich nicht enthalten mit dem zu sterben der sie für tod gehalten […].« Der Prediger zieht das Register einer pathetischen oratio ficta und weiß selbst den tödlichen Stichen gegenüber Harsdörffer noch einen kleinen populären Mehrwert abzugewinnen (S. 52f.): Ach Waffen ! ach Jammer! (schrye sie auff) wie muß mir armen verlassnen Dama nun ins künfftig geschehen / die ich auch so gar umb den jenigen bin kommen / der mich an sichere Orth hätt führen / und reterieren können; die wir Ehelich und ehrlich zusamen kehrten? Nun / leet er nit mehr / so lust mich auch nit ferner zu leben. Und under disem / und anderer gestalt / Klagen / angehetzt von jhrer unbändigen Passion, zieht sie den Dolchen deß Roméo auß seiner Schaiden / und sticht jhr selbsten denselbigen in jhr Brust / ein / zwey / und das dritte mahl. und / weil sie den Hertz-Kasten getroffen / und versehrt; fiel sie auch / jetzt schon das andere mahl / aber für dißmahl / maußtodt dahin: und ist biß dato nimmer erwacht.
Wie aber ist das grausame Ende im Blick auf die im »Eingang« des Bandes (vgl. obiges Zitat) rubrifizierte »zweyfache« Art von Todesfällen zu beurteilen? Indem Bisselius die Umstände, auch mildernde, benennt, und die Frage nach potentiellem Mitleid aufwirft, werden die Zuhörer angesprochen (S. 53): Seynd diß / zween Anmuetige Todtfähl / Geliebte Zuhörer? Hat nit Roméo gebettet biß in sein End hinein? Hat nit Julietta dem Roméo Treu und Lieb erhalten / biß in jhren Todtstich? Seynd nit beede an einem geweyhten Orth der Todten-Capell dahin gefallen? vnd von den Leuthen hernach also / mitleidenlich / gefunden worden? Ey / so seynd sie dann beede bey einander im Paradeyß?
Zwar warnt Bisselius nach Johannes 7,24 vor einem vorschnellen Urteil, wendet sich aber dezidiert gegen die Legitimität des Freitods und kann auch gar nicht als Milderung der Schuld ansehen, dass sich das Ende an einem geweihten Ort vollzog. So gibt er sich und dem Publikum eine Antwort, die am Predigtende in drastische Warnungen vor den »viehischen Anmuetungen« mündet, kommt in der Frage nach Tugendlohn und Sündenstrafe merkwürdigerweise auf die genuin katholische Lösung des ›Purgatorium‹ aber nicht zu sprechen. Auch unter den treulich referierten dogmatischen, kasuistisch geläufigen Kautelen (Bedingungen einer schweren Sünde) kann sich Bisselius, wohl auch um der Abschreckung willen, für die Liebenden das Paradies nicht wünschen (S. 55):
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Ein verruechter Todt ists / seiner selbst Entleibung. Und darumb (Geliebte) per se loquendo, dem Außspruch der H.H. Schrifften und Theologen ins gemain nach zu reden; wann dise beede nit in unüberwindlicher Unwissenheit gesteckt / noch auch also und so weit verwirrt worden in jhrem Verstand / daß sie die Grösse der Sünd nit begriffen; seynd sie beede also gefahren / daß ich mir jhr Paradeyß nit wünsche.
Die Frage nach Art, Bandbreite, Funktion und Bedeutung der homiletisch-kasuistischen Überformung ›novellistisch‹ erzählbarer Fälle gehört zur der noch weitgehend ausstehenden Erhellung einer Geschichte der vormodernen kleineren Prosaepik. Erst nach dem Ende der weit verbreiteten ›moralischen Erzählungen‹ des 18. Jahrhunderts werden sich die ›Novellen‹ von Beurteilungs- und Darstellungsinteressen endgültig dispensieren können, die in spezifischer Färbung den Dillinger Prediger bewegten.
Wilhelm Schmidt-Biggemann
Besold und Andreae Eine Konversions- und Dissoziationsgeschichte aus der Zeit des Dreißigjähriges Krieges
1 Biographisch-Allgemeines Christoph Besold hat einen zweideutigen Ruf. Bedeutender Tübinger Jurist, Mitverfasser der Rosenkreuzermanifeste, der merkwürdigsten und zugleich bedeutendsten Texte zur protestantischen, naturfrommen, strikt antikatholischen politischen Theologie; reichstreuer christlicher Philosoph, der im Laufe der 1620er Jahre allmählich vom Katholizismus affiziert wird, in Tübingen ein Rechtsgutachten gegen die Interessen seines Landesfürsten verfasst, 1635 schließlich auch öffentlich konvertiert, in kaiserliche, später bayerische Dienste tritt und als überzeugter Katholik stirbt. Wie hat man das zu verstehen? Daneben Johann Valentin Andreae, aus lutherischem Pfarradel stammend, Hauptautor der Rosenkreuzerschriften, zunächst intellektueller Spieler, ein Rezeptionsgenie für Literatur aller Art; wie sein Freund Besold Anhänger Johann Arndts, ab 1614 Pfarrer, der sich je länger, desto mehr zum politischen Theologen der lutherischen Geistlichkeit entwickelt, Verfassungsentwürfe pietistischer Gemeinschaften entwirft, schließlich offen die schwedische Partei im Dreißigjährigen Krieg unterstützt, nach schlimmen politischen Erfahrungen von Brand und Plünderung halb widerwillig geistlicher Höfling und am Ende als »der Mürbe« (so sein Ordensname in der Fruchtbringenden Gesellschaft) geistlicher Rat und Korrespondent des Braunschweiger Herzogs August und Fernerzieher von dessen Söhnen wird. Christoph Besold (22. September 1577–15. September 1638)1 war Sohn eines Tübinger Hofgerichtsadvokaten und wurde einer der prominentesten Vertreter
|| 1 Richard van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586–1654). Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 59–64; Emil Niethammer: Christoph Besold, Professor des Rechts. Schwäbische Lebensbilder. Bd. 2. Stuttgart 1941, S. 11–34; Theodor Spittler: Über Christoph Besolds Religionsveränderung. In: Patriotisches Archiv für Deutschland 8 (1788), S. 428–472; Martin Brecht: Christoph Besold. Versuche und Ansätze einer Deutung. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 11–28; Matthias Pohlig: Gelehrter Frömmigkeitsstil und das Problem der Konversionswahl: Christoph Besolds Konversion zum Katholizismus. In: Ute Lotz-
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der Tübinger Universität.2 Andreae hat seine »incredibilis humanitas« gerühmt, seine Großzügigkeit, mit der er ihm die Benutzung seiner ungewöhnlichen Bibliothek gestattete.3 »Seine Verdienste um mich übertreffen alles, was ich darüber sagen könnte«.4 Besold studierte ab 1591 an der Universität Tübingen, zunächst Philosophie bis zum Magisterabschluss, danach Jura. 1598 wurde er zum Dr. jur. promoviert. Nach einer Anstellung am Tübinger Hofgericht – in diese Zeit fällt die Konzeption der Rosenkreuzerschriften – bekam er 1610 die Pandekten-Professur an der Universität. Seine enzyklopädische Bildung wurde weithin gelobt. Er war sprachbegabt, konnte Latein, Griechisch, Hebräisch, Aramäisch (»Chaldäisch«), Französisch, Italienisch, Spanisch und angeblich auch Syrisch und Arabisch. Kepler war sein Jugendfreund. Besold war neben Andreae und Tobias Hess5 Mitglied des Kreises, der die Rosenkreuzerbewegung eher zufällig initiierte. Ob er als Autor mitgewirkt hat, ist umstritten.6 Er besaß die Originaltexte und annotierte in seinem Exemplar der Fama fraternitatis, dass Andreae »vermutlich« deren Verfasser war.7 Besold hat die Reformation der gesamten Welt aus Boccalinis Raguagli di Parnasso übersetzt, die 1614 ausschnittsweise gemeinsam mit den Rosenkreuzerschriften
|| Heumann/Jan Friedrich Missfelder/Matthias Pohlig (Hg.): Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2007, S. 323–352. 2 Andreae an Rauscher: »noster niveus« (»unser Schneeweißer«). Vgl. Richard Kienast: Joh. Valentin Andreae und die vier echten Rosenkreuzerschriften. Leipzig 1926, S. 231–240 (Andreaes Briefe an Rauscher), hier S. 236. 3 Besolds Bibliothek mit 3.870 Bänden ist in der UB Salzburg weitgehend erhalten und umfasst Philologie und Philosophie (611 Bände), Medizin (162), Geschichte (555), spanische, italienische und französische Literatur (426), katholische Theologie (431), protestantische Theologie inklusive Schwärmerliteratur (544), Hebraica (103), Jurisprudenz (740) und Politik (304). Es finden sich u. a. Cusanus, Sebastian Franck, Johann Heinrich Alsted, die Rosenkreuzer, Pierre Gassendi, Robert Fludd, Justius Lipsius, Erasmus, Marsilio Ficino, Michel Montaigne, Trajano Boccalini und Hugo Grotius – die Juristen werden alle auch in der Politikvorlesung (siehe unten Abschnitt 2.1) zitiert –, außerdem Johann Tauler, Paracelsus und Valentin Weigel. 4 Alle Zitate aus Johann Valentin Andreae: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm SchmidtBiggemann. Stuttgart 1994ff. Hier Bd. 1,1: Autobiographie. Bücher 1 bis 5. Bearbeitet von Frank Böhling, übersetzt von Beate Hintzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 60f. 5 Vgl. Andreaes Gedächtnisrede Tobiae Hessi Immortalitas. In: Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 2: Nachrufe. Autobiographische Schriften. Cosmoxenus, S. 291–351. 6 Vgl. Carlos Gilly in: C. G. (Hg.): Cimelia Rhodostauratica. Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 entstandenen Handschriften und Drucke. Amsterdam 1995, S. 62. 7 Johann Valentin Andreae: Fama Fraternitatis, oder Brüderschafft des Hochlöblichen Ordens des R. C. an die Häupter, Stände und Gelehrten Europae. 1614. Jetzt in: J. V. A.: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 3: Rosenkreuzerschriften, S. 137–188; dazu Carlos Gilly in: Cimelia Rhodostauratica (Anm. 6), S. 62–67.
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veröffentlicht wurden.8 Besold eignete Andreae den ersten Band der Axiomata Philosophico-Theologica zu (siehe unten Abschnitt 3.1), der 1616 gleichzeitig mit Andreaes Theca Gladii Spiritus bei Zetzner in Straßburg gedruckt wurde (Abschnitt 3.2). Ein zweiter Band der Axiomata erschien 1626 (Abschnitt 3.4). Besold war der spirituellen Frömmigkeitsbewegung seiner Zeit zutiefst verbunden. 1619 widmete er den kurzen, vermutlich in Tübingen gedruckten Traktat De verae philosophiae fundamento discursus Johann Arndt und Tobias Adami; Adami gab später Campanellas Civitas Solis heraus (Abschnitt 2.3). Anders als Andreae verband Besold seine Frömmigkeit schon früh mit der Überzeugung, dass auch die katholische Tradition einen bemerkenswerten Schatz an Spiritualität berge. Besold schätzte die katholische politische Theologie: Er veröffentlichte eine Ausgabe von Savonarola9 und übersetzte 1620 Campanellas Monarchia Hispanica ins Deutsche; das war zugleich die erste Ausgabe dieses im 17. Jahrhundert höchst einflussreichen Werks.10 1623 versah er den Text Campanellas mit einem Kommentar: Ob eine Universalmonarchie wünschbar sei. Andreae seinerweits widmete Besold den Hercules Christianus (1615), der den gemeinsamen Freund Hess im Heldenkampf darstellt, sowie das dritte Buch
|| 8 Sie stimmen mit Besolds Gesamtübersetzung der Raguagli von 1617 überein: Relation aus Parnasso oder Politische und moralische Discurs, wie dieselbe von allerley Welthändeln darinnen ergehen, erstlich Italianisch geschrieben von Trajano Boccalini. [Tübingen?] 1617. Besold erwähnt Die Reformation der gantzen Welt in der neunten Dissertatio der zweiten Klasse des Collegium Politicum (Anm. 21f.) vom August 1614 (§ 38, 13). Vgl. auch Andreae: Rosenkreuzerschriften (Anm. 7), S. 40–136. 9 Siehe unten Anm. 82. 10 Thomas Campanella, von der Spanischen Monarchy, oder Ausführliches Bedenken, welcher massen, von dem König in Hispanien, zu nunmehr lang gesuchter Weltbeherrschung, so wohl insgemein, als auff jedes Königreich und Land besonders, allerhand Anstalten zu machen sein möchte. S. l. 1620 ([4] Bl., 166 S., 4°; Hausmann, Bibliographie der dt. Übersetzungen, vermutet Besold als Übersetzer). Eine zweite Ausgabe erschien 1623. Es gibt 1628, auch eine kurze (36 S.) deutsche Flugschrift: Compendium librorum Politicorum de Papanâ Hispanicà Monarchià = Zwey Discurs Bruder Thomas Campanelles, Von des Bapsts / und Spaniers vermeinter rechtmessiger gewalt / und deroselben mit dem Römischen und Türckischen Keyser vergleichunge / ja vorzuge: Darinne er die sonst von jhme gerichtete Bäpstliche und Spanische Monarchie von newest kürtzlich zu stützen … allererst aus einem Welschen Mscr. verdeutzscht / und mit einer widerlegung apostillirt von einem Mannlichen Rivalen der Klugheit. S. l. 1628. (36 Bl., 4°; HAB: T 317.4° Helmst [42]). Dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. In: Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 14: Christianopolis – Christenburg. Erscheint 2017.
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der Mythologia Christiana (1618) und verschiedene Gedichte; außerdem nominierte er Besold als Mitglied der »Societas Christiana« von 1620.11 Besold war lebenslang theologisch interessiert. Die Streitigkeiten um die Rechtgläubigkeit von Johann Arndt, dessen Anhänger er war, führten zur Entfremdung von der lutherischen Orthodoxie Tübingens.12 Er war schon als Freund Andreaes an der mystischen Theologie interessiert. Je mehr sich die Tübinger Theologen nach dem Tode Matthias Hafenreffers (1619) antispiritualistisch radikalisierten, desto mehr scheint sich Besold der theologischen Mystik angenähert zu haben. Ab 1621, als der Tübinger Streit um Johann Arndts Wahres Christentum seinen Höhepunkt erreichte, wurde auch Besold als ›Schwärmer‹ verdächtigt. Der Terminus ›Schwärmer‹ – Luthers Übersetzung von ›Enthusiasten‹ – hatte eine doppelte Konnotation: Einmal subsumierte man darunter die radikaleren Denominationen der Reformation, zum andern die spätmittelalterliche und gegenreformatorische katholische Spiritualität, die unter ›Mystik‹ figurierte. Johann Arndt war beiden Bewegungen gegenüber offen und Besold folgte ihm darin. Andreae entwickelte dagegen andere Interessen: Er tendierte je länger, desto mehr zu einer lutherischen Elitenbildung, die den Nukleus einer politisch-theologischen Erneuerungsbewegung im Reich bilden sollte.13 Diesem Zwecke dienten die Christianopolis und die kleinen, langfristig einflussreichen Traktate zur christlichen Reform.
2 Andreaes Christianopolis und Besolds Politikvorlesungen Andreae ging es in seinen politisch-theologischen Schriften um einen religiös konturierten Erziehungsstaat. Die Herrschaft der Religion war für ihn fraglos und nicht anzuzweifeln, ihre politische Legitimität war stillschweigend vorausgesetzt. Für ihn war selbstverständlich, dass die politisierte Religion gleichermaßen für die irdische wie für die überirdische Bestimmung des Menschen bekömmlich, ja heilsunterstützend sei. Alle Fragen nach der Trennung von weltlicher und überweltlicher Macht waren ihm als theokratischem Theologen
|| 11 Zu diesem Bund vgl. Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 6: Schriften zur christlichen Reform. 12 Zu deren Hauptvertretern Osiander und Thumm vgl. unten Anm. 119. 13 Vgl. dazu die Einleitung von Frank Böhling in: Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 6: Schriften zur christlichen Reform, S. 7–65.
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fremd. Die lange, schon mittelalterliche Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit von geistlicher und weltlicher Herrschaft spielte für ihn offensichtlich keine Rolle. In diesem Sinne war Andreae ein bedingungsloser Propagandist der lutherischen Partei, und das gilt a fortiori für die Situation im Dreißigjährigen Krieg. Die Konfessionsspaltung war für ihn als Lutheraner kein religiöses Problem. Die Religionsfrage war für ihn entschieden und hatte nur noch eine heilsgeschichtlich-eschatologische Dimension, weil vor der Vollendung der Theokratie der katholische Antichrist überwunden werden musste und – nach seiner festen Hoffnung – überwunden werden würde. Deshalb war Andreaes Parteinahme für Gustav Adolf Teil seiner politischen Theologie.14 Weil die Theokratie als Ziel der irdischen Geschichte begriffen wurde, spielte die komplizierte rechtliche und politische Situation, in der sich das Reich seit der Reformation befand, keine Rolle. Es ging Andreae nicht um die politische Institution des Reichs, sondern allein um die Situation seiner Kirche und deren politischen Endsieg. Diese polittheologische Konzeption einer protestantisch interpretierten Heilsgeschichte unterschied Andreae von der reichsrechtlichen Einstellung seines Freundes Christoph Besold, der genau zu jener Zeit, als Andreae seine Christianopolis verfasste, Vorlesungen zu den juristischen Prinzipien der politischen Wissenschaft hielt, die er gesammelt veröffentlichte. Besolds Tübinger Vorlesungen von 1614 bis 1616 sind durchaus in lutherischem Geiste verfasst. Gleichwohl lässt sich hier der Unterschied zwischen ihm und Andreae als Differenz zwischen einem juristischen und einem theologischen Blick auf die Politik besonders klar fassen. Besold behält die Probleme und Konflikte des Reichs in seiner komplizierten Verfassungs- und Legitimitätsstruktur sowie die Aporien der Konfessionsgegensätze im Auge. Andreae hingegen versucht, eine protestantische Elitenorganisation einzurichten, die auf die politische Realisierung geistlicher Normen aus ist und dieses Ziel in einem inneren Erziehungsprozess und zugleich einem apokalyptischen Endkampf gegen den konfessionellen Erzfeind erreichen will. Besold berücksichtigt die schwer zu verwaltende Dialektik der Toleranz, die ihre eigene Position zwar für wahr hält, aber nicht erzwingen will.15
|| 14 Die zugehörigen Schriften werden 2016 erscheinen (Andreae: Gesammelte Schriften [Anm. 4], Bd. 17: Schriften zur Politischen Theologie). 15 Zu ähnlichen Reflexionen auf die Dialektik der Toleranz vgl. auch Friedrich Vollhardt: Gefährliches Wissen und die Grenzen der Toleranz. In: Andreas Pietsch/Barbara StollbergRilinger (Hg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2013, S. 222–238.
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1626 kommen Gerüchte auf, Besold sei zum Katholizismus konvertiert – was er verneint. 1628 unterzeichnet er die Konkordienformel, d. h. er leistet den Eid auf die dogmatischen Prinzipien der lutherischen Orthodoxie. Im selben Jahr weist er in einem Rechtsgutachten die Ansprüche der Bischöfe von Augsburg und Konstanz auf die württembergischen Klöster zurück. Der Streit verschärfte sich ein Jahr später mit dem kaiserlichen Restitutionsedikt, das vorsah, den katholischen Kirchenbesitz, der nach dem Passauer Vertrag von 1555 säkularisiert worden war, an die ursprünglichen Besitzer zurückzugeben. Der Kaiser hatte im Reich weitgehend die Oberhand gewonnen und forderte jetzt die Restitution des katholischen Besitzes. Jetzt wechselte Besold die Fronten. Das Gutachten der Tübinger juristischen Fakultät, das der württembergische Hof zu diesem Fall in Auftrag gegeben hatte, wurde weitgehend von Besold verfasst und kam zu dem Ergebnis, dass die betroffenen württembergischen Klöster von Rechts wegen zu restituieren seien. Das Hauptargument dieses hochkomplizierten Rechtsfalles:16 Der Passauer Vertrag lege fest, dass die Klöster, die zu diesem Zeitpunkt den evangelischen Landesherren unterstanden, ihnen ohne Diskussion zukämen. Mit den Klöstern, die im Interim von 1548 bis 1555 nach kaiserlichem Befehl rekatholisiert worden seien, solle nach demselben Prinzip verfahren werden: Was 1555 katholisch gewesen sei, solle es bleiben. Eine Diskussion zwischen Protestanten und Katholiken sei sinnlos, weil sonst die Katholiken die Rechtmäßigkeit der Klostersäkularisierungen vor dem Interim mit demselben Recht anzweifeln könnten, wie das jetzt die Evangelischen für die Zeit nach dem Passauer Vertrag täten. Deshalb seien die Forderungen des Restitutionsediktes rechtmäßig. Nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 besetzte der Kaiser Württemberg.17 Besold konvertierte jetzt öffentlich und trat als Kommissar in Stuttgart in kaiserliche Dienste. Die Nachricht »vom geistlichen Tod«, d. i. der Konversion Besolds, hat Andreae anscheinend nicht überrascht.18 Besold veröffentlichte nach
|| 16 Vgl. die sorgfältige und instruktive Tübinger Dissertation von Barbara Zeller-Lorenz: Christoph Besold und die Klosterfrage. Tübingen 1986, bes. S. 197–209. 17 »Trotz zahlreicher Argumente für einen Übertritt im Jahre 1630 lässt sich nach den vorhandenen Quellen nichts Abschließendes über das Datum einer eventuell vollzogenen heimlichen Konversion sagen, zumal Besold in seiner umfassenden Rechtfertigungsschrift den Zeitpunkt nicht nennt« (Zeller-Lorenz: Christoph Besold [Anm. 16], S. 20). Die sorgfältigste Studie zu Besolds Konversion stammt von Matthias Pohlig: Gelehrter Frömmigkeitsstil (Anm. 1). 18 Van Dülmen: Utopie (Anm. 1) zitiert S. 63 und 220 einen Brief Andreaes an K. Dietrich vom 18. August 1635 (BSB München, Cgm 1257, fol 44): »Magis dolenda est mors spiritualis Besoldi quondam nostri, quae iam non dubia fama spargitur. Nemo mihi in terris amicio fuit, nemo me
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1635 in rascher Folge die Akten, die sein Gutachten stützten, wichtige Klöster Württembergs seien unrechtmäßig vom Herzog okkupiert worden. Diese »Treulosigkeit gegen das Vaterland« hat Andreae nicht verstehen können.19 Das Hauptargument für die Restitution der Klöster an die katholische Kirche war, dass die Klöster reichsunmittelbar und damit dem Zugriff aller Landesherren entzogen waren. Sie waren Einrichtungen eigenen kirchlichen Rechts. Deshalb bildeten sie für die Habsburger auch keine Geldquelle, und der Kaiser in seiner Eigenschaft als Erzherzog von Österreich konnte nicht über die Einkünfte der Klöster verfügen. Besolds Gutachten war deshalb für die kaiserliche Partei kein materieller Gewinn. Vielleicht aufgrund der daraus folgenden Schwierigkeiten quittierte er 1636 sein Amt als kaiserlicher Kommissar in Stuttgart und wechselte in bayerische Dienste an die Universität Ingolstadt. Hier eröffnete sich ihm eine katholische Karriere als Jurist; zusätzlich bot ihm der Kaiser ein Hofamt in Innsbruck an, und Urban VII. hätte ihn gern als Professor in Bologna gehabt. Aber ehe sich diese Pläne entscheiden ließen, starb Besold 1638.
2.1 Besolds Collegium Politicum Das Collegium Politicum ist Besolds möglicherweise einflussreichste Schrift. Sie ist eine eigenständige Grundlegung der Politikwissenschaft, die wie die meisten frühneuzeitlichen Universitätslehrbücher aus Disputationen entstand. Diese wurden 1614 und 1616 in zwei Teilen veröffentlicht. Der erste Teil behandelt Verfassungslehre und Staatskirchenrecht,20 der zweite Teil die Staatsaufgaben: Bildung, Verwaltung, Finanzen, Militär.21 Besold hat diese Einführung in die
|| beneficentior, nec tamen improvisus, mihi casus eius est, nec tantillo animum deiicit, de qua re tamen malim coram.« 19 Andreae hat in seiner Autobiographie bitter über Besolds Lebensende geurteilt: »Ob ihm die Wankelmütigkeit der Religion oder die Treulosigkeit gegen das Vaterland mehr Schande machen, ist ungewiß. Weil er uns aber durch seine giftige Feder mehr Schaden und verderbliche Verzögerung verursachte als ein ganzes Heer und tausend Schwerter, muß er von aller Nachkommenschaft verabscheut werden« (Andreae: Autobiographie [Anm. 4], S. 361; Übersetzung Barbara Hintzen). Allerdings haben die beiden Freunde, die sich auseinandergelebt hatten, weiter korrespondiert. Vgl. van Dülmen: Utopie (Anm. 1), S. 221. 20 Christoph Besold: Collegii Politici, passim juridicis et philosophicis digressionibus illustrati, classis prima, reipublicae naturam et constitutionem XII. disputationibus absolvens. Tübingen 1616 [1614]. Ich zitiere nach der Systematik: I (= Classis prima), 1 (= Disputatio), 1 (= Caput). 21 Christoph Besold: Collegii Politici […] classis posterior, de Republica in omnibus partibus gubernanda IX. Disputationibus tractans. Tübingen 1616.
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Politikwissenschaft bis zu seinem Tode 1638 ständig weiter bearbeitet – bis 1659 erschienen mindestens neun weitere Ausgaben22 – und einzelne Disputationen erweitert und separat veröffentlicht. So ist dieses Collegium Politicum die Keimzelle einer einflussreichen Schulliteratur geworden. Ich beziehe mich auf die Erstausgabe und fasse die Haupttopoi zusammen, die für Besolds Verhältnis zu Andreae wichtig sind.
2.1.1 Naturrecht Besold trennt, anders als Andreae, Theologie und Philosophie. Das Summum bonum, die höchste Ausrichtung des menschlichen Lebens, ist nur als Gnade im Jenseits möglich, im Diesseits gilt das Bonum philosophicum. In diesem Sinne sind Theologie und Philosophie »distinctae et collateratae« (unterschieden und doch verwandt, I,1,7). Das Bonum philosophicum ist von praktischer Natur, es ist keine theoretische Anschauung. Die Begründung ist schlagend: »Virtus moralis per se laudabilis, intellectualis non, nisi cum morali juncta« (moralische Tugend ist an sich lobenswert, intellektuelle nur, wenn sie mit moralischer verbunden ist, I,1,9). Es gibt eine absolute Verpflichtung Gott gegenüber als dem höchsten Gut und dem höchsten Monarchen (I,1,10). Daraus folgt aber kein strikter Biblizismus, vielmehr teilt Besold Thomas von Aquins aristotelische These, dass naturrechtlich die Familienstruktur grundlegend sei, denn sie bestimme Geschlechterordnung und Nachwuchs, Erbrecht und Ökonomie.23 In der Familie konkretisiert sich das »Bonum civile« (bürgerliche Gut). Die Familienverbände verbinden sich zur »Civilis Societas« (bürgerlichen Gesellschaft, I,1,12), die aristotelisch als natürliches Zusammenleben der Menschen begriffen wird. Diese thomistische naturrechtliche Argumentation wird auch mit Arndts Wahrem Christentum begründet, das von der Liebe der Menschen untereinander handelt.24 Der Staatszweck ist deshalb für Besold nicht die Selbsterhaltung, sondern »Practica et civilis felicitas« (praktisches und bürgerliches Glück, I,1,23). Für das Erlangen bürgerlichen Glücks ist die Iustitia universalis erforderlich, die
|| 22 Frankfurt a. M. 1618, 1620, 1642; Tübingen 1620; Straßburg 1628; Ingolstadt 1637 (siehe unten Anm. 30); Amsterdam 1643 und 1648; Nimwegen 1659. 23 Besold zitiert Thomas’ Summa Theologiae 2,2 qu. 48 (I,1,11) und Thomas’ Kommentar zur aristotelischen Politik (I,1,14). 24 Arndt zitiert Summa Theologiae I,1,15 in Buch 4,26 des Wahren Christentums (siehe unten Anm. 44).
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wiederum das Summum bonum civile ausmacht (I,1,20). Zur Justitia gehört von Natur aus das Herrschaftsverhältnis (imperare und parere I,1,24), sie ist die Grundlage des bürgerlichen Gesetzes, dem man im Gewissen verpflichtet ist (I,1,30).
2.1.2 Souveränität Besold, der den Staat (Respublica) definiert als »Regierung über mehrere Menschen und ihr Eigentum sowie die ihnen gemeinsamen Angelegenheiten mit höchster Macht und Vernunft«,25 geht von der Majestas der Gesetze aus und ist mithin kein Absolutist, denn »der Fürst ist an die Reichsgesetze gebunden«.26 Aber er hält an der Personenbindung der Majestas fest – sie ist »gewissermaßen das Staatshaupt«27 – und zitiert Bodins Definition der Souveränität als »höchste und unvergängliche, von Gesetzen nicht gebundene Macht über Sachen und Personen in seinem Machtbereich«.28 Die alles entscheidende »summa et perpetua potestas« ist für Besold Definitionsmoment der Staatlichkeit, aber diese Souveränität ist primär mit dem Amt und nur sekundär mit einer bestimmten Person verknüpft. In diesem Sinne hat der Souverän vizegöttliche Macht. Besold hat vor allem den Kaiser im Auge, der »von Gottes Gnaden« (I,2,13) herrscht. Mit dieser legistischen Position argumentiert er gegen die »Päpstler, die behaupten, der Papst sei die oberste Macht auf der Welt«.29 Der Anspruch des Papstes auf weltliches Recht sei illegitim.30 Die zwischen weltlicher Herrschaft und Religion lange diskutierte, entscheidende These lautet: »Aliud est imperandi, aliud docendi ius« (das Herrschaftschaftsrecht ist mit dem Lehrrecht
|| 25 »[H]ominum plurium, ac rerum privatarum, tum inter se communium; summâ cum potestate ac ratione gubernatio« (Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], I,1,34). Hauptbelege sind Aristoteles, Politik 2,1; 3,4; 4,1, und Bodin (»multis locis«). 26 »[P]rinceps enim tenetur Legibus Regni« (Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], I,2 = Diss. de politica majestate in genere, 5). 27 »[Q]uasi Reipubl. caput« (ebd., I,2,7). 28 »Haec summa et perpetua, Legibusque soluta definitur potestas; competens in res et personas suae ditionis. De rep. I, cap. 8 in Princ.« (ebd., I,2,7). 29 »Papistae, qui statuunt: Summum Pontificem, habere summam in mundo potestatem« (ebd., I,2,14). 30 In der katholischen Fassung der Vorlesungen (Synopsis Politicae doctrinae. Ingolstadt 1637; deutsch von Cajetan Cosmann: Christoph Besold: Synopse der Politik. Hg. von Laetitia Boehm. Frankfurt 2000, S. 49) verändert Besold die Argumentation und konzediert dem Papst eine Potestas indirecta bei weltlichen Rechtsfragen.
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nicht identisch). Christus habe nicht geherrscht, sondern gelehrt (I,2,19). Deshalb sei es lachhaft, dem Kaiser seine Herrschaft von Seiten des Papstes streitig zu machen (I,2,20). Besold orientiert sich hier an der Tradition des Reichsrechts. Die »höchste und unvergängliche, von Gesetzen nicht gebundene Macht« des Kaisers betrifft Politik und Kirche (I,3,3). Der Kaiser belebt den Staat, indem er erstens Gesetze gibt und Obrigkeiten einsetzt; zweitens alle richtet und von niemandem gerichtet wird;31 drittens den Staat gegen äußere und innere Feinde verteidigt und also das Recht auf Krieg und Frieden hat (I,3,30); viertens für die Infrastruktur sorgt, indem er Steuern erhebt, das Münzrecht ausübt, Staatsdomänen bewirtschaftet, Bergbau betreibt, nobilitiert und Doktoren promoviert; und fünftens den Staat repräsentiert.32
2.1.3 Staatskirchenrecht Die zivile Gewalt ist an die erste Tafel des Dekalogs gebunden. Diese Bindung ist zwar kaum mehr als die Bindung ans Naturrecht, aber Besold zitiert hier nicht die stoisch-thomistische Tradition, die in den Pflichten Gott, dem Nächsten und sich selbst gegenüber besteht, sondern argumentiert als Biblizist. Die Straftatbestände, die für den christlichen Staat aus den ersten drei Geboten des Dekalogs folgen, sind Blasphemie, Atheismus, Epikuräismus und Magie, d. h. Hexerei.33 Hingegen hat der Staat als »potestas saecularis« nur eine indirekte Macht über die Res sacrae. Diese Macht bezieht sich nur auf die weltliche Seite der Religion, nämlich auf die Kirchengüter und die kirchlichen Amtspersonen. Das impliziert, dass der Staat bei der Investitur der kirchlichen Amtsträger und bei kirchlicher Güterverwaltung Einfluss nehmen darf. Der durchaus gegen die katholische Rechtsposition gerichtete Rechtstopos lautet: »die Kirche ist im Staat, nicht der Staat in der Kirche«.34 Besold möchte keinen säkularen Staat, aber er besteht darauf, dass die Kirche in civilibus kein eigenes Recht habe.
|| 31 Das ist die Formel, mit der Bonifaz VIII. in der Bulle Unam Sanctam 1302 den Primat des Papstes begründete. 32 »[Q]uae in Republ. sunt digniora, et splendida maxume« (Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], I,3,4). 33 »Magiam hic voco pactionem cum Diabolo, qua homo se totum tradit in Diaboli potestatem, eumque sibi vicissim ad obsequium, beneficium et maleficium devincit« (ebd., I,4,2). 34 »Ecclesiam esse in Reip[ublica] non Rempubl[icam] in Ecclesia« (ebd., I,4,3). Auch diese Position kann er als Katholik später nicht mehr aufrechterhalten, vgl. Besold: Synopsis Politicae doctrinae deutsch (Anm. 30), S. 58ff.
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Bei der Frage, wieweit die weltliche Obrigkeit für den äußeren Kult Gesetze geben und wieweit sie die Ausübung des Glaubens (fidei negotium) unterstützen könne, ist Besold vorsichtig (I,4,12). Entscheidend für den Status des Staatskirchenrechts ist die protestantische Fassung des landesherrlichen Kirchenregiments: Dem Fürsten bzw. dem Magistrat kommt das Recht zu, die Kirchenordnung als Gesetz zu erlassen und durch Gesetze die Bischöfe und Pastoren zu berufen, zu examinieren, ins Amt einzuführen, zu beurteilen und zu versetzen. Die Überprüfung der Geistlichen überlassen sie dem Presbyterium, die Strafen werden von der weltlichen Obrigkeit vollstreckt (I,4,19f.).
2.1.4 Toleranz als Staatsklugheit, Widerstandsrecht Allerdings ist die konfessionelle Situation im Reich nicht so, dass eine Staatsreligion sich durchgesetzt hätte. Anders als Andreae akzeptiert Besold die religiöse Spaltung Deutschlands und wertet die Konfessionsgegensätze nicht als Kriegsgrund. Zwar ist auch für Besold eine einheitliche Religion im Staat wünschenswert, aber eine Vereinigung der Konfessionen dürfe nur mit den friedlichen Mitteln erfolgen, die Christus und die Apostel angewandt hätten (I,4,22f.). Streitigkeiten in der Religion sollten nicht mit dem Schwert ausgetragen werden. Zwar sei erzwungene Auswanderung für friedliche Fremdreligiöse diskutabel, auch zumutbar, wie im Reichsrecht vorgesehen (I,4,24), aber Besold empfiehlt Toleranz: Es sei klüger, die Religionsvielfalt, auch wenn sie ein Übel sei, zu ertragen, wenn man sie schon nicht ändern könne.35 Die Andersgläubigen sollten an ihrem Leibe und in ihren Gütern unangefochten leben und die Freiheit zur Ausübung ihres Kults haben, solange sie keine Zusammenrottungen (tumultus) und öffentliche Unruhen auslösten. Er schlägt in diesem Falle vor, einen Toleranzvertrag zu schließen.36 Zwangsbekehrungen, wie er sie aus katholischen Ländern kennt, lehnt er ab. In Religionsfragen lässt Besold auch ein Widerstandsrecht zu: Wenn eine fremdkonfessionelle Obrigkeit Exil, Sondersteuern und Verfolgung verfüge, dürfe man minimalen Widerstand leisten (minime exsurgere), und in anderen Fällen sei Gehorsamsverweigerung erlaubt (I,4,29). Die Entvölkerung ganzer Landstriche durch den Fürsten erfülle den
|| 35 »Quin et prudentioribus placuit Politicis, interea dum haereseos malum iis, quae Christus praescripsit remediis, mutari nequit, tolerandam esse Religionum varietatem, non approbandam« (Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], I,4,25). 36 »Licet quoque de tolerando pactum inire« (ebd., I,4,26).
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Tatbestand der Tyrannei; und hier scheint Besold auch aktiven Widerstand zuzulassen.37
2.1.5 Bildungspolitik Die Bildung der Untertanen ist eine zentrale Aufgabe des christlichen Staates. Die religiöse Unterweisung befördert das Seelenheil der Bürger, ihre umfassende Bildung garantiert einen geordneten Staat ohne Verderbnis und Korruption (II,1,2). Deshalb ist Erziehung Staatsaufgabe, ohne Erziehung sind die Gesetze sinnlos. »Glücklich der Staat, in dem gute Sitten mehr gelten als gute Gesetze«.38 Diese Maxime gilt für alle Stände, für Bauern, Untertanen ebenso wie für die Fürsten (II,1,15). Besold hält, im Gegensatz zu manchen fürstlichen Bildungsverächtern, das Studium der Litterae für eine große Hilfe bei der Tugenderziehung. Seine Ideale sind Virtus et Eruditio. Er ist kein Unterstützer von reiner Buchwissenschaft, sein Ideal ist der sprachenkundige,39 praktisch-ingeniöse Philosoph.40 Die Gelehrsamkeit, die er favorisiert, zielt auf Prudentia. In Bezug auf die schöne Literatur ist Besold vorsichtig und will »figmenta Poetica« in der Ausbildung nur nach einer Vorlektüre durch Kluge akzeptieren (II,1,18). Besonderen Wert legt Besold auf die Religionserziehung im Staat, denn die Sorge um die Religion sei sowohl private als auch öffentliche Pflicht (II,1,25). Frömmigkeit und Religion sind die Grundlagen der öffentlichen Ordnung, sie sichern Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die Erfüllung der Pflichten den Eltern gegenüber, gegenseitige Hilfe und Gerechtigkeit der Obrigkeit gegen die Untertanen (II,1,27). Deshalb müsse die Religion, welche auch immer, von allen Staaten gefördert werden. Freilich kennt Besold keinen Kult, der besser zur Politik passe als das Christentum (II,1,29). Es mache die Seelen und das Gewissen der Untertanen gehorsam, die Herrschenden mache es gerecht, es sei am Frieden orientiert und sänftige den Krieg. Besolds Religionskonzept ist umfassender als Andreaes evangelische Frömmigkeit. Er vertritt die Idee der Philosophia perennis, nach der alle Religi|| 37 »Aliud licet respondendum videatur, ubi Princeps totas urbes exscindere, integras provincias evacuare nititur: nec iam amplius persecutor Religionis, sed insanus potius Tyrannus habetur. […] Eaque ratione Smalcaldicum bellum, olim in Germania […] Et pro Religione, quae Galliae et Belgii ordines gesserunt bella, etiam à Theologis approbata fuerunt« (ebd., I,4,30). 38 »Beata est Respublica, ubi plus valent boni mores, quam bonae leges« (ebd., II,1,6). 39 Er bezieht sich dabei auf die Lehrmethode von Wolfgang Ratichius (ebd., II,1,17). 40 Sein Gewährsmann ist Juan Huarte mit seinem Examen de Ingenios para las sciencias (1575) (Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], II,1,17).
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onen in ihrer Weise auf den wahren Gott zielen, der sich im Christentum in seiner Natur offenbart habe. Deshalb gehören das goldene Zeitalter Ovids, die Sintflut, die Titanen, Josephus (»Contra Apionem«), Platos Androgynenmythos aus dem Symposion, und die Schöpfung Evas aus der Rippe Adams gleichermaßen zum Bildungskanon.41 Besold verliert die politische Dimension der religiösen Bildung nie aus den Augen: Die Religion sei eher (potius) nur eine, und es gebe gewiss einen Stifter. Sie lehre, weil sie die wahre sei, auch den rechten Kultus. Deshalb müsse sie dem Staate eingepflanzt und gegen die Verleumdung und Unterdrückung durch die Häretiker verteidigt werden (II,1,37). Niemand könne freilich den inneren Menschen zur rechten Religion zwingen (II,1,38), schon gar nicht durch die Tötung von Ketzern, wie die Katholiken das versuchten. Ziel der christlichen Religion seien schließlich Gottesfurcht sowie die Nachfolge Christi. Besold führt hier neben Johann Gerhard und Johann Arndts Wahrem Christentum sogar Valentin Weigels Güldin Griff an (II,1,49).
2.2 Andreaes Christianopolis Besolds Politikvorlesungen wurden 1614 und 1616 gehalten und gedruckt, und es ist davon auszugehen, dass Andreae diese wichtige Veröffentlichung seines Freundes kannte. Drei Jahre später, 1619, erschien Andreaes Utopie Christianopolis bei Zetzner in Straßburg. Neben einer dezidiert lutherischen Einleitung enthält das Büchlein in hundert Abschnitten – die Zahl ist natürlich symbolisch – den Abriss einer, wie Andreae sicher geurteilt hätte, perfekten evangelischen Gemeinschaft. Es ist nicht ganz deutlich, ob es sich dabei um die lutherische Variante eines großen Klosters oder um eine evangelische Mini-Reichsstadt handelt. Das Büchlein beginnt mit einer kirchengeschichtlichen Allegorie: Der unbesiegte Held Luther sei in der Reformation aufgestanden und habe, nachdem er mit den Verweisen auf die Schrift erfolglos geblieben war, einen energischen Angriff auf die Engelsburg (Rom) mit einem solchen Erfolg unternommen, »dass wir jubilieren, die andern aber lamentieren«.42 Dieser Vorgang wiederhole sich gerade. Als Beispiel für Nachfolger Luthers, denen die wahre Lehre aufgegan|| 41 Besold: Collegium Politicum [Anm. 20f.], II,1,33. In der Fassung von 1637 (Besold: Synopse [Anm. 29], S. 189, Nr. 10) werden auch Agostino Steuco, Guillaume Postel und Théophile Raynaud als Referenzautoren genannt. 42 »[U]t nos Jubilemus, illi ringantur« (Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianopolitanae Descriptio. Psalm. LXXXIII. Straßburg 1619, S. 8; Übersetzung von Ingeborg Pape, Leipzig 1977).
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gen sei und die das gesamte politische Leben nach dem Christentum ausrichten wollten, werden stellvertretend Johann Gerhard,43 Johann Arndt44 und Martin Moller45 angegeben. Die Figuren und Repräsentanten der Christianopolis sind Allegorien, keine Individuen. Die Ich-Form ist nur vermittelt auf Andreae rückzubeziehen. Er sieht sich als »Peregrinus«, als Pilger in der Welt, gegen deren Tyrannei er auf dem »Mare academicum«46 das Schiff der Phantasie besteigt, um nach einem Schiffbruch allein auf einer Insel namens »Capharsalama« (hebräisch ›Friedensdorf‹) angeschwemmt zu werden. Die Stadt selbst ist gleichfalls ein allegorisches Gebilde, wie die Geschichte ihrer Entstehung zeigt: Die ins Elend gejagte »Religion« ist hier durch die Frommen Stein und Institution geworden, ein Domicilium der Wahrheit und der Güte. Nach der obligatorischen Examination des Ankömmlings folgt die Beschreibung der Topographie und der Verfassung der Christianopolis. Die Stadt ist quadratisch angelegt, jede Seite ist 700 Fuß lang. In vier konzentrischen Quadraten sind klosterartig dreigeschossige Gebäudereihen um einen wiederum quadratischen Marktplatz errichtet, in dessen Mitte die alles überragende Kirche steht. In der Stadt leben etwa 400 Bürger – die Anzahl entspricht einem großen Hof oder einem Kloster. Die Stadt hat drei Funktionsbereiche: Ernährung, Schulung, Kontemplation. Die Gebäude sind den Funktionen zugeordnet. Die Gassen sind schmal, die Häuser schlicht. Die Familien – Vater, Mutter und Kleinkinder bis zum schulpflichtigen Alter – nehmen täglich am
|| 43 Johann Gerhard wurde 1581 in Quedlinburg geboren, studierte von 1599 bis 1604 Philosophie, Medizin und schließlich (schon unter dem Einfluss von Johann Arndt, der damals in Quedlinburg Pfarrer war) Theologie in Wittenberg. Nach einer akademischen Reise nach Heidelberg, Straßburg und Tübingen wirkte er in verschiedenen hohen evangelischen Kirchenund Schulämtern, ehe er 1615 Professor der Theologie in Jena in wurde. Seine Loci theologici erschienen von 1610–1622. Für Andreae mag aber sein verbreitetes Erbauungsbuch Meditationes sacrae ad veram pietatem excitandam (zuerst Magedburg 1607) wichtiger gewesen sein. 44 Das Wahre Christentum Johann Arndts (1555–1621), Generalsuperintendent in Lüneburg, erschien zuerst 1606/1610 und danach in zahllosen Ausgaben. Es ist noch heute als Erbauungsbuch lieferbar. 45 Martin Moller (1547–1606) frommer Philippist, entdeckte die patristische und spätmittelalterliche Frömmigkeitsliteratur für den Protestantismus wieder (Martin Moller: Meditationes sanctorum patrum. Schöne, Andechtige Gebet, Tröstliche Sprüche, Gottseelige Gedancken […] Aus den Heyligen Altvätern: Augustino, Bernhardo, Taulero, vnd andern, fleissig zusammen getragen vnd verdeutschet. Zwei Teile. Zuerst Görlitz 1584 und 1591). 46 Vgl. Oliver Bach: Von der Herausgeberfiktion auf das »Schiff der Phantasie«. Die utopische Dichtung Thomas Morus’ und Johann Valentin Andreaes und ihre naturrechtlichen Wahrheitsansprüche. In: Scientia Poetica 18 (2014), S. 1–27.
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dreimaligen öffentlichen Gebet teil und essen die zentral zugeteilten schlichten Mahlzeiten gemeinsam zu Hause. Es herrscht strikte Planwirtschaft; jeder arbeitet gern 30 Stunden in der Woche um Gotteslohn; es gibt kein Geld. Das allegorische Leitungskollegium besteht aus Religion (Religio), Gerechtigkeit (Justitia) und Bildung (Eruditio); ihr Dolmetscher ist die Rhetorik. Dieses Kollegium wird als aristokratisch verfasste Stellvertretung Christi verstanden. Die Verfassung ist theokratisch: Die Staatsreligion ist nach dem Nizänischen Glaubensbekenntnis definiert, die Verfassung ist eine Paraphrase der Zehn Gebote. An der geistigen Spitze der Stadt steht der Theologe und Prediger (Religio); er ist verheiratet, seine Frau heißt »Gewissen«. Ein Diakon vollzieht die Sakramente. Der Richter (Iustitia) ist für Gewichte, Maße und Rechnungen zuständig. Verstöße gegen diese heilige Ordnung, die zugleich Zierde des Glaubens ist, werden als satanisches Unkraut qualifiziert, das der Richter nach Möglichkeit vernichtet. Die »ungeschminkte« Gattin der Gerechtigkeit trägt den Namen »Vernunft«. Die »Eruditio« ist für die Bildung zuständig. Sie betreut auch die Bibliothek. Diese hat zwar einen universalen Umfang, ist in ihrer Struktur aber ganz geistlich orientiert. Das wichtigste Buch ist, wie nicht anders zu erwarten, die Bibel. Weltliche Literatur wird zwar gesammelt, aber trotzdem verachtet angesichts Christi, der das Buch des Lebens ist. Die Bildungsinhalte, die auf der Akademie gelehrt werden, sind nach acht Auditorien geordnet. Dabei wird wo immer möglich auf die üblichen enzyklopädischen Wissenschaften eine christlich-fromme Pointe gesetzt: Die erste Klasse lehrt die Grammatik der drei »heiligen« Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, auch neuere Fremdsprachen. Die zweite Klasse behandelt Dialektik, Metaphysik, die philosophische Gotteslehre, das Wahre, Gute und Schöne. Ein eigenes Fach bildet die Theosophie, die als Wissenschaft der göttlichen Offenbarung in der Schöpfung verstanden wird. Die dritte Klasse ist für Mathematik zuständig, die vierte für Musik, die fünfte für Astronomie und Astrologie. In der sechsten Klasse werden Geschichte und Geographie gelehrt, in der siebten Ethik und Politik. Umfassende Gotteswissenschaft ist das Thema der achten Klasse. Medizin ist nur marginal erwähnt, als Krankenpflege, Jurisprudenz dagegen spielt gar keine Rolle; die »Gerechtigkeit« benötigt offensichtlich keine Prozessordnung. In Andreaes Theokratie bestimmen theologisch-dogmatische Kernbegriffe das christliche Gemeinwesen; das Böse und alle Konflikte sind von Anfang an ausgeschlossen. Es wird eine Ordnung propagiert, die schlechterdings alle Individualität aufsaugt, aber naturrechtliche Positionen wie die Familienstruktur rudimentär intakt lässt. Das Leben ist insgesamt Gottesdienst, eine unabhängige Weltlichkeit kommt nicht vor. Die enzyklopädische Bildung spielt, durchaus
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zeitgemäß, eine zentrale Rolle; sie ist freilich stets streng ad maiorem Dei gloriam ausgerichtet. Die Christianopolis, die eine Tendenz zum Monastischen hat, diente später als Vorbild für territoriale und vor allem pietistische Eliteninstitutionen: Comenius richtete seine Pädagogik nach Andreae aus, Herzog Ernst der Fromme hat sich in Gotha, August Hermann Francke in Halle an Andreaes Reformkonzepten orientiert. Lässt sich diese halbklösterliche lutherische Kleinstaatsutopie mit Besolds politischer Philosophie vergleichen? Wenn man die Haupttopoi Besolds bei Andreae wiederfinden will, muss man sozusagen übersetzen. Naturrecht kommt bei Andreae nicht vor, es ist ganz in biblisches Recht umgewandelt. Man könnte höchstens die Familienstruktur als selbstverständliche naturrechtliche Zelle ansetzen, aber alle weitergehenden Grundrechtsstrukturen sind am Dekalog ausgerichtet. Die Staatskonstruktion ist bei Andreae ganz selbstverständlich theokratisch: Die Leitungsinstanzen Religio, Justitia und Eruditio vereinigen kirchliche und weltliche Momente. Das Recht wird vom Offenbarungsgehorsam nicht getrennt, Rechtsverstöße sind Sünde. Der Staat ist immer göttlicher Richter und nimmt das Jüngste Gericht vorweg. Ein Konzept der Majestas bzw. der Souveränität kommt gar nicht erst in den Blick, weil eine Trennung von Kirche und Staat an keiner Stelle vorgesehen ist. Ein Staatskirchenrecht, das die geistlichen und weltlichen Sphären gegeneinander definieren muss, ist in der Theokratie der Christianopolis gegenstandslos. Das heißt auch, dass das Nizänische Glaubensbekenntnis zugleich Gesinnungsgrundgesetz ist, von dem abzuweichen Sünde und folglich Straftatbestand ist. Weil Andreae in seiner Christianopolis die Religionsdifferenzen im Staat nicht vorsieht, braucht er auch kein Toleranzkonzept. Sein Staat ist nicht klug, sondern religionstotalitär – ungefähr in der Weise, wie er es den »Papisten« vorwirft. In der Bildungspolitik sind Andreae und Besold am ehesten konform. Beide wollen fromme Christen erziehen, Besold eher in der humanistisch weiten Tradition der Philosophia perennis, Andreae strikt evangelisch. Aber Andreae stimmt mit Besold in der Ablehnung scholastischer Gelehrsamkeit und in der Hochschätzung praktischer Wissenschaft überein. Und möglicherweise schätzt Besold auch Andreaes Leitwissenschaft Theosophie, sofern sie mystische Traditionen einschließt.
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2.3 Campanella in Tübingen Besolds und Andreaes gemeinsamer Freund Tobias Adami (1581–1643) hatte als Praeceptor von 1609 bis 1613 seinen Mäzen und Schüler Rudolf von Bünau auf einer Reise nach Italien, Griechenland, Zypern, Syrien, Palästina und dann zurück über Malta und Italien begleitet. Beide blieben von September 1612 bis April 1613 in Neapel und schlossen Freundschaft mit dem dort eingekerkerten Tommaso Campanella. Während dieses Aufenthaltes übergab Campanella Adami ein Bündel mit Manuskripten. Darunter befand sich die Civitas Solis (Der Sonnenstaat) und vielleicht auch – aber das kann nur vermutet werden – eine Abschrift der Monarchia Hispanica, die Besold 1620 in deutscher Übersetzung veröffentlichte. Jedenfalls kannte Andreae die Monarchia Hispanica bereits 1618, denn er zitiert sie in seiner Mythologia Christiana.47 Adami widmete seine 1622 veranstaltete Ausgabe von Campanellas Gedichten den Tübinger Freunden Wilhelm von Wense, Besold und Andreae.48 Er wurde 1626 Hofrat in Weimar, 1629 als »Der Gehärtete« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen und starb 1643. Die Civitas Solis, um auf sie zurückzukommen, sollte die politische Theologie zu Campanellas weltpolitischem Programm einer katholischen spanischen Universalmonarchie liefern. Es ist schwer vorstellbar, dass Andreae den Sonnenstaat nicht gekannt hat, als er seine Christianopolis verfasste. Die Christianopolis lässt sich deshalb einerseits durchaus als lutherische Antwort auf Campanellas Sonnenstaat vor dessen Veröffentlichung begreifen; auf der anderen Seite ist sie aber auch ein agitatorischer Gegenentwurf zu Besolds juristisch-besonnener Politiktheorie.49 Campanellas Konzept der Civitas Solis ist nur vor dem Hintergrund seiner Monarchia Hispanica verständlich, denn die hier vertretene – zugleich trinitarische und natürliche – Religion sollte die zentrale Lehre des Universalstaats werden, in dem Campanellas Geschichtskonzept gipfelt. Er stellte sich vor, dass seine Fassung der natürlichen Religion es ermögliche, den gegenreformatorischen Katholizismus mit der erstrebten Weltherrschaft zu verbinden. Das mochte im Sinne einer katholischen Orthodoxie heikel sein, aber diese natürliche Religion hielt Campanella für tragfähig in einem missionarisch forcierten, universalen Katholizismus.
|| 47 Vgl. Johann Valentin Andreae: Mythologia Christiana. Straßburg 1618, Nr. 10. 48 Scelta d’alcune Poesie filosofiche di Settimontano Squilla [= Campanella] cavate da’ suo’ libri detti La Cantica. [Köthen: Fürstliche Druckerei] 1622. ND Neapel 1980. 49 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann: Einleitung (Anm. 10).
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Andreae übernahm in seiner Christianopolis vor allem die Idee des Triumvirats aus der Civitas Solis, war aber ein strikter Gegner der Eugenik, der Astrologie und der triadischen Naturreligion. Andreaes Christianopolis redete keiner Universalreligion in einem Universalstaat das Wort, sondern ihm schwebte die intellektuelle und politische Führung durch eine evangelische Elite vor. Die lutherischen Intellektuellen – Stadtpfarrer, Professoren, Fürsten – sollten mobilisiert werden. Mit den Rosenkreuzerschriften hatte Andreae eine politideologische Lawine losgetreten; er wollte diese Energien nun in eine lutherische Reformpolitik umleiten und sich zugleich deutlich von seinen alten rosenkreuzerischen Sozietätsplänen absetzen. Die Christianopolis vertrat als strikte Theokratie im Dreißigjährigen Krieg die Partei der lutherischen politischen Theologen, die – durchaus mit eschatologischen Implikationen – das Heil von der Evangelisierung der Politik erwarteten. Diesem Ziel galt Andreaes konfessioneller geistlicher Kampf; er hat ihn mit den kleinen Reformschriften Christianae societatis imago (Bild einer christlichen Gesellschaft) und Dextera porrecta (Erhobene Rechte) programmatisch formuliert und in seiner Christenburg (1628) allegorisch dargestellt.50 Campanellas eschatologische Version einer politischen Theologie in der Monarchia Hispanica musste die Tübinger lutherischen Eschatologen zutiefst beunruhigen. Das war denn auch der Grund, weshalb Besold diesen Text 1620 zuerst in einer deutschen Übersetzung veröffentlichte. Die zweite Auflage von 162351 enthielt einen Anhang, der später auch allen lateinischen Ausgaben angehängt war.52 Er ist höchst bemerkenswert: Keineswegs eine plane protestantische Polemik gegen den katholischen Weltherrschaftsplan, sondern eine abgewogene Dissertation in drei Teilen. Den biblisch-welthistorischen Argumenten für die Universalmonarchie folgen die Gegenargumente, vornehmlich aus dem protestantischen Bereich, aber auch aus der Geschichte der vergeblichen Anstrengungen zur Errichtung einer Universalmonarchie; und schließlich sind es die katholischen Gegenargumente gegen alle Formen politischer Prophetie, vor
|| 50 Siehe Andreae: Schriften zur christlichen Reform (Anm. 11) und Schmidt-Biggemann: Einleitung (Anm. 10). 51 Tommaso Campanella: Von der Spanischen Monarchy […] Zum zweytenmal fleissig […] verbessert, auch mit dem andern Theyl vermehret. S[ine] l[oco] 1623. 52 Der Anhang (»Ob zu wünschen, daß alle christliche Herrschaften, einem einigen Oberhaupt underworffen weren«) mit neuer Paginierung S. 1–60. Später lateinisch: Appendix ad Monarchiam Hispanicam Thomae Campanellae. Ubi quaestio tractatur: Utrum sit optandum, universum orbem Christianum ab uno solo Capite ac Monarcha regi ac gubernari? Seit der Ausgabe Amsterdam 1641 ist der Monarchia Hispanica noch ein Aufsatz über die Vorzüglichkeit der Reichsverfassung beigefügt (Epilogus. Encomium Magni Imperii Romani).
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allem die Bellarmins, die Besold überzeugen. Im selben Jahr 1623 hatte Adami den Druck der Civitas Solis veranlasst.53
3 Besolds Axiomata (1616/1628, 1626) und Andreaes Theca Gladii spiritus 1616 veröffentlichte Besold zusammen mit dem zweiten Teil des Collegium Politicum sein in Aphorismen verfasstes philosophisch-theologisches Hauptwerk, die »Philosophisch-theologischen Grundsätze für ein wahrhaft philosophisches Leben«.54 Es war dem Freunde Andreae gewidmet. Im gleichen Jahr erschien im selben Verlag die Theca Gladii spiritus eben dieses Freundes – der aber ungenannt bleiben wollte.55 Die beiden Werke waren in ihrem Duktus auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. Andreaes Aphorismen konnten geradezu als Destillat von Besolds Axiomata gelesen werden, waren freilich knapper gefasst und hatten weniger den Charakter frommer Exzerpte. Die erste Ausgabe der Axiomata von 1616 enthält 847 durchgezählte Aphorismen, die die Frömmigkeit Johann Arndts und der spätmittelalterlichen Mystik weiterführen. Es handelt sich um bedeutende Aphoristik und Moralistik – eben christliche Philosophie.
3.1 Der erste Band der Axiomata in der Erstausgabe von 1616 Das Programm der Axiomata ist die Devotio, das fromme Leben in der Nachfolge Christi.56 Die Frömmigkeit ist gelehrt und intellektuell dekliniert und mit Zitaten
|| 53 F. Thomae Campanellae Calabri O. P. Realis philosophiae epilogisticae partes quatuor, hoc est De rerum natura, hominum moribus, politica, (cui Civitas Solis iuncta est) et oeconomica. Cum adnotationibus physiologicis, a Thobia Adami nunc primum editae. Quibus accedent Quaestionum partes totidem eiusdem Campanellae […]. Frankfurt 1623. 54 Christoph Besold: Axiomata Philosophica-Theologica, vitam vere philosophicam utcunque adumbrantia. Straßburg 1616 (zweite Ausgabe 1628). Die Seitenzahlen zu den im Folgenden zitierten Stellen beziehen sich auf die zweite Ausgabe von 1628, die Nummern hingegen auf die erste Ausgabe von 1616. 55 Andreae hat sich erst in seiner Autobiographie zur Verfasserschaft der Theca bekannt. Vgl. insgesamt zum Zusammenhang Frank Böhlings Einleitung zu seiner Edition von Andreaes Theca Gladii Spiritus (Andreae: Gesammelte Schriften [Anm. 4], Bd. 5), S. 1–12. 56 »Über das devote Leben schreibe ich, der ich nicht selbst devot bin, aber auch nicht ohne Sehnsucht nach der Devotio« (»De vita devota scribo quidem non devotus, non tamen sine desiderio devotionis«; Besold: Axiomata [Anm. 54], S. 6); »Devotio ist eine gewisse geistige
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aus der internationalen Erbauungsliteratur gestützt; das zeigt ihren umfassenden Anspruch. Allerdings ist Besold in der ersten Ausgabe noch zurückhaltend, was die spätmittelalterliche mystische Tradition angeht. Die Vorbereitung zur frommen Lebensführung besteht in Seelenreinigung, Gebet und Meditation. In diesem Geiste kann auch der Intellektuelle fromm sein; das gilt für Reden, Lektüre und Disputationen. Die Felder der frommen Intellektualität sind Schöpfungstheologie57 und Exegese;58 beim Umgang mit weltlicher Literatur dagegen ist Vorsicht geboten.59 Dass dieser frommen Haltung ein sorgsamer Umgang mit weltlichen Gütern entspricht, dass die Armut – nicht allein die geistliche – hochgehalten wird, ist Teil der Reformanstrengung. Vor allem handelt es sich um ein Programm zur Entfaltung der Innerlichkeit: Gott muss in uns wirken, er bewirkt das Reich Gottes in uns60 und unsere guten Handlungen;61 diese Angewiesenheit aufs Göttliche empfinden wir als Sehnsucht. Das Desiderium infiniti, die Sehnsucht nach dem Göttlichen,62 nimmt auch dem Tod seinen Schrecken, macht ihn geradezu wünschenswert; es bewirkt die Gelassenheit allen irdischen Dingen gegenüber. Besold variiert diesen
|| Beweglichkeit und Lebhaftigkeit, durch die die Liebe in uns ihre Aktivitäten betreibt« (»Devotio: agilitas quaedam et alacritas Spiritualis, per quam suas in nobis Charitas operatur actiones«, ebd., S. 7, Nr. 2). Dieses sei die Gratia Dei in uns. »Devotio hat viele andere Namen, sie heißt auch Nachahmung Christi oder neuer Mensch oder geistige Armut« (»Devotio multis aliis nominibus appellatur: eadem illa est cum Imitatione Christi, nihil ea alius est, quam homo novus, eadem est cum paupertate spirituali«, ebd., S. 8, Nr. 6). 57 »Schöpfung, Logos. In Principio, id est, in verbo suo coaeterno, creavit Deus intelligibilem et sensibilem, vel spiritualem corporalemque creaturam« (ebd., S. 75, Nr. 253). 58 »Schrift nicht obskur. Qui accusat Scripturam obscuritatis, eandem insimulat mendacij. Nam ea ipsa dicit: quod sit quae illuminet, et parvulis sapientiam tribuat« (ebd., S. 75, Nr. 255). Dazu werden angeführt die Stellen Ps 19, 9.10; Ps 119, 101; 2 Cor 4,3. 59 »Literatur verdirbt. Theologia magis est interna experientia, quam literalis cognitio. Stadium litterae est praetextus seu pallium impietatis« (ebd., S. 89, Nr. 293). Dazu »Finck can.100. Hûc pertinet Tauleri effatum: Crux unica est eruditio verborum Dei.« 60 »Reich Gottes. Regnum Dei est in omnibus, sed non omnes sunt in Regno Dei: ideo oramus; adveniat Regnum tuum« (ebd., S. 192, Nr. 629); »Deus omnes suos amatores, efficit sibi conformes, ut nempe omnia inter seipsos possideant, in Patria sua. Et hoc est Regnum Dei intra credentes« (ebd., S. 178f. Nr. 653). 61 »Omne quicquid facimus extra Deum, et sine eo, est nihil; et ideo peccamus. Quia ille subsistentia, consistentia, et essentia est omnium rerum« (ebd., S. 97, Nr. 305). 62 »Die Sehnsucht nach dem Unendlichen nicht vergeblich. Deus et natura nihil faciunt frustra: desiderium ergo infinitum, insatiabilisque appetitus, qui est in homine, frustraneus esset, si non esset aliquid, quod eum satiaret« (ebd., S. 164, Nr. 606). »Mirabilis est sympathia inter Deum et animam nostram; proveniens ex eo, quod est imago Dei« (ebd., S. 191, Nr. 628).
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Begriff deutsch und lateinisch.63 Der Fluchtpunkt von Besolds gelassener Frömmigkeit bleibt die Nachfolge Christi, die er in der ersten Auflage noch ganz paulinisch als mystischen Leib Christi (Corpus Christi mysticum) begreift.64 Allerdings ist er auch von der Apokalyptik seines Säkulums nicht frei: Er hofft auf die baldige Wiederkunft des Herrn und sieht bereits die Endzeitpropheten Henoch und Elias wirken. Offensichtlich bezieht er sich auf die Prophetien Joachims von Fiore, der 1260 das Reich des Heiligen Geistes vorhergesagt hatte.65
3.2 Andreaes Theca Auf den ersten Blick sind die Stücke von Andreaes Theca gladii spiritus, die wie Besolds Axiomata 1616 bei Zetzner in Straßburg gedruckt wurden, in der Tendenz von diesen schwer zu unterscheiden. Aber dieser erste Eindruck trügt. Schon der Titel, »Scheide des geistigen Schwerts«, zeigt, dass es sich hier um geistliche Kriegsliteratur handelt. Andreaes 800 Aphorismen sind knapper formuliert – sie entsprechen dem Stilideal der argutia. Sie sind in wesentlichen Punkten von Johann Arndts Frömmigkeit geprägt; Andreae hatte schließlich 1615, ein Jahr vor der Theca und ebenfalls anonym, eine Sammlung von lateinischen frommen Sentenzen herausgegeben, die aus Arndts Wahrem Christentum gezogen waren.66 Eine Besonderheit der Theca besteht darin, dass sie eine große Anzahl von Aphorismen enthält, die in den Rosenkreuzerzusammenhang gehören. Es ist nicht ganz klar, ob sich Andreae – gleichsam in einer Trotzreaktion – hier noch einmal an seine rosenkreuzerische Vergangenheit erinnerte. Viele Stücke waren
|| 63 »Gelassenheit. In gaudio abnegationis (der Gelassenheit [so Besold]) patientiam exercere, vera patientia existit« (ebd., S. 108, Nr. 370). »Parum refert, divesne sis an pauper, sanus vel morbo correptus, sed in eo sita est nostra salus, ut omnibus indifferentia quae sunt utamur rite, et grati patientesque agnoscamus bona omnia a Deo; nec mala ejus praeter voluntatem nobis accidere posse« (ebd., S. 119, Nr. 403). 64 »Christi Leib. Nos omnes mysticum sumus corpus, cujus caput est Christus. Exinde influxum, sensum, motusque principium seu spiritus vivificationem, omnes accipere debemus« (ebd., S. 227, Nr. 834). 65 »Apokalyptische Typologie. Tanta est Majestas S. S. Scripturae, ut prophetiae sunt typi temporum futurum successive, nec sufficit unam rem quae praedicta fuit, semel adimplere. Sic Johannes in spiritu et virtute Eliae praecessit Christum, et tamen Eliae venturi mentio sit in Apocalypsi c. 11. Sic fuit tempus Eliae, quo non pluit Anni tres et menses sex. 3. Reg. 17. Jacob. 5. Hoc est 42 menses; quae alibi vocantur dies 1260« (ebd., S. 228f. Nr. 839). 66 Christianismus Genuinus, ex SS. Scriptura, unici nostri Salvatoris vita, interno Conscientiae, externoque Naturae testimonia repraesentatus. Johannis Arndt. Straßburg 1615.
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schon in der Confessio Fraternitatis R. C. 1615 veröffentlicht worden und erschienen jetzt noch einmal. Das war deshalb bemerkenswert, weil sich Andreae zugleich, ähnlich wie Besold, von der Rosenkreuzerbewegung entschieden distanziert hatte, seit diese 1614 durch die Veröffentlichung der Manifeste erhebliches öffentliches Aufsehen erregt hatte.67 Aber er ließ, gleichzeitig mit der Theca und der Sammlung seiner Arndt-Sentenzen, 1616 seine Chymische Hochzeit R. C. erscheinen. Offensichtlich war er zwar entschieden lutherisch, aber er scheint sich damals keineswegs schon so vollständig von der eschatologischen Naturtheologie seiner Frühzeit abgewandt zu haben, wie er es in den kommenden Jahren tun sollte. Jedenfalls fanden sich Stücke in der Theca, die orthodoxen Lutheranern merkwürdig erscheinen mussten: »Gott bewirkt, dass alle menschlichen Erfindungen seiner verborgenen Schrift dienstbar sind.«68 Oder: »Überall streute Gott in die Heilige Schrift seine Schriftzeichen und sein Alphabet, wie er sie auch dem wunderbaren Schöpfungswerk, Himmel, Erde und allen Lebewesen, einprägte.«69 Oder noch deutlicher, mit Assoziation der Lehren von der adamitischen Sprache und der Signatura rerum: »Buchstaben und Zeichen der magischen Sprache drücken die Natur der Dinge aus«; »[d]ie in Babylon verwirrten Sprachen tragen keine Spuren der Sprache Adams und Enochs mehr.«70 Daneben fanden sich auch deutlich aszetische und christologische Stücke, die in den Argumentationsrahmen der orthodoxen Lehren passten und sich nicht unbedingt mit den naturtheologischen Aphorismen vertrugen. Wenn Andreae schreibt: »Preisen wollen wir die Güte Gottes, der für künftige Reue uns die gegenwärtigen Vergehen vergibt,«71 dann kann das durchaus als Ausdruck seiner ambivalenten Gefühle der Naturtheologie gegenüber gewertet werden; und im selben Atemzug weist er die Magie zurück, die er weiter vorne noch als
|| 67 Vgl. dazu im Einzelnen Roland Eddighoffer: Rose-croix et société idéale selon Johann Valentin Andreae. 2 Bde. Neuilly-sur Seine 21986 (EA 1982); Martin Brecht: Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert. In: Pietismus und Neuzeit 14 (1988), S. 25–49. 68 »Deus cuncta ea, quae humanum ingenium advenit, suae occultae scriptuae inservire facit« (Andreae: Theca [Anm. 55], Nr. 185). Ich übernehme die vorzügliche Übersetzung Frank Böhlings. 69 »Characteres Deus et suum alphabetum sparsim Sacris Bilijs inseruit; ceu quoque in admirando creationis opere coelis, terrae, animalibus manifestè impressit« (ebd., Nr. 187) 70 »Literis et notis linguaque magica, simul rerum signatura exprimitur« (ebd., Nr. 189). – »Linguae Babylonis confusione contaminantae, neutiquam illam Adami et Enochi redolent« (ebd., Nr. 190). 71 »Glorificemus Deum, cujus tanta benignitas, ut ob futuram poenitentiam, prasentia nobis delicta condonet« (ebd., Nr. 385).
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natürliche Offenbarung gefeiert hatte: »Dummheit regierte anstelle der Weisheit unter dem vergessenen Namen der Magie.«72 Vor allem aber ist die antipäpstlich deklinierte Eschatologie ein genuiner Teil von Andreaes Theca. Hier unterscheidet er sich schon 1616 von dem wesentlich zurückhaltenderen Besold. Andreae identifiziert den Papst als Antichristen, der die Herrschaft Christi als Katechon (nach 2 Thess 2,6) aufhält, aber von Christus überwunden werden wird. »Unsere Zeiten eilen dem Ende der Welt entgegen und stellen deshalb gewissermaßen eine Summe und ein Kompendium sowohl der gesamten Güte Gottes als auch der Bosheit des Satans dar.«73 Diese satanische Bosheit des Satans wird zunächst als Ketzerei identifiziert: »Ketzereien suchen von sich aus die Finsternis; sie werden niemals vom Lichtstrahl der Wahrheit getroffen, ohne zu ihrer großen Schande vom Betrachter laut verspottet zu werden.«74 Und genau dieses geschieht im folgenden Aphorismus mit dem Papst: Der Papst ist der Fürst aller Verbrechen und das Urbild aller Frevler seit Erschaffung der Welt, er ist von unversöhnlicherem Haß gegen Christus beseelt, als es je ein Mensch gewesen ist, er ist ein Gift speiendes Ungeheuer, das das Meer zum Kochen bringt, und dazu ein dummer und ungebildeter Windbeutel.75
Offensichtlich ist diese antipäpstliche Polemik für den Lutheraner Andreae so selbstverständlich, dass er ganz ohne weiteren Übergang Christus als Retter gegen diese Ungeheuerlichkeit der Zeiten aufbieten kann – wo die Not am größten, ist Christi Hilfe am nächsten: »Wo Christus zu erliegen scheint, kämpft er am stärksten, er siegt, wenn er zu unterliegen scheint, und lebt, wenn er für tot gehalten wird.«76 Diesen Kampf gegen den Katholizismus setzte Andreae weiter fort, und er verband ihn in der Folge immer mehr mit Bemühungen, einen elitär frommpolitischen Kern einer evangelischen Reform ins Leben zu rufen.
|| 72 »Stultitia regnavit, obliterato Magiae nomine, loco sapientiae« (ebd., Nr. 386). 73 »Tempora nostra uti ad mundi finem approperant, ita pene universae bonitatis Dei quasi summam compendium, malitiae sathanae universae exhibent« (ebd., Nr. 434). 74 »Haereses tenebras ipsae appetunt; neque cum veritatis unquam luce, nisis magna sua ignominia cachinnisque spectatorem congrediuntur« (ebd., Nr. 435). 75 »Papa scelorum princeps, et impiorum quotquot fere a conditio mundo fuerunt, archetypus; implacabiliori contra Christum odio, quam quisquam alius flagrans, venenolivens, flammis rutilans, aquis tumens, rudis ineptusque nebulo« (ebd., Nr. 436). 76 »Cum succubuisse videtur Christus, fortissime pugnat; vincit cum victus creditur; vivet cum mortuus« (ebd., Nr. 437).
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3.3 Die zweite Auflage des ersten Bandes der Axiomata von 1628 Im Jahre 1628 – inzwischen war 1626 ein zweiter Band der Axiomata erschienen – gab Besold den ersten Band erneut heraus. Er ist wiederum Andreae gewidmet. Diese zweite Ausgabe77 ist umgearbeitet; sie ist erweitert, nach inhaltlichen Loci geordnet und hat die Aphorismen innerhalb der Loci je einzeln gezählt. Die antikatholischen Stücke der ersten Ausgabe sind jetzt umgearbeitet und die polemischen Spitzen eliminiert. Die Erweiterungen beziehen sich auf Zitate vor allem aus Boethius und Tauler sowie auf eine umfangreiche Streitschrift des »Hamburgensis Paedotriba« Jacob Werenberg78 gegen Melchior Breler, einen glühenden Anhänger Johann Arndts. Dieser hatte in seiner Arndt-Apologie79 Besolds Axiomata gelobt. Werenberg warf den Arndtianern katholisierende Tendenzen vor.80 Breler replizierte seinerseits mit einer weiteren umfangreichen Streitschrift.81 Werenberg hatte auch Besolds Axiomata heftig kritisiert, die Breler »über die Maßen« gelobt hatte. Besold reagierte im Vorwort und in verschiedenen langen Passagen der zweiten Auflage der Axiomata seinerseits heftig auf Werenbergs Invektiven. Besolds veränderte Einstellung dem Katholizismus gegenüber lässt sich gut an zwei Aphorismen zeigen, die am Ende der Axiomata stehen. Sie waren schon in der ersten Ausgabe etwas isoliert, denn eigentlich waren Besolds Ausführungen, verglichen mit Andreaes Theca, auch 1616 durchaus unpolemisch. In der ersten Ausgabe wurde der Papst in Aphorismus Nr. 842 umstandslos als Antichrist und die römische Kirche als geistiges Babylon bezeichnet. Besold sah sich
|| 77 Axiomatum Philosophiae Christianae, vitam vere philosophicam utcunque adumbrantium, pars prima, in gratiam Profanorum Politicorum seculi nostri, in hanc collecta formam; a Christophoro Besoldo J[uris] C[onsulto]. Editio secunda, revisa atque aucta, et simul indice ornata. Straßburg 1628. 78 Jacob Werenberg (1585–1623) war Professor für Rhetorik, Ethik, Geschichte und Politik am Hamburger Akademischen Gymnasium. Melchior Breler (1589–1627) war seit 1623 Hofmedicus und Rat Herzog Augusts von Braunschweig-Lüneburg. Vgl. Besold: Axiomata [Anm. 54], I, 2. Aufl. 1628, S. 4. 79 Melchior Breler: Mysterium iniquitatis pseudoevangeliae. Hoc est, Dissertatio Apologetica pro Doctrina Beati Johannis Arnd. Goslar 1621. 80 Jacob Werenberg: Vindiciae Ecclesiae Lutheranae Dei gratia a mysterio superstitionis Pontificae superiore seculo liberatae. Hamburg 1622. Zum Streit um Arndt vgl. Johannes Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Chloe 2 (1984), S. 50–74. 81 Melchior Breler: Vindiciae pro Mysterio iniquitatis pseudoevangeliae. Adversus Pseudoevangelicum Declamatorem et Postillatorem Hamburgensem. Goslar 1623.
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hier durchaus in der Nachfolge Savonarolas.82 Der folgende Aphorismus setzte diese Polemik fort: »Rom ist das geistige Babylon, das römische Reich das mystische Assur, insofern es sich Zügel und Halfter der apokalyptischen Hure gefallen läßt.«83 Diese Stücke sind in der zweiten Auflage von 1628 mit Ergänzungen versehen, die die antirömische Tendenz mindestens relativieren und sie tendenziell geradezu in eine Kritik an der lutherischen Orthodoxie umkehren. Dem Text von Nr. 84284 (»Romanus Pontifex …«) ist vorangestellt »Dogma et eorum, qui à Catholicis secesserunt« (Lehre auch derer, die sich von den Katholiken trennten), und nach »contra Pontificem edita nuper« folgt »Sed certe strenue non pauci imitantur Pontificem Romanum, aut si possent hac etiam in parte superarent ii, qui hoc in illo culpant« (aber nicht wenige ahmen den römischen Papst nach Kräften genau nach, und wenn sie könnten, würden sie ihn in dem, was sie ihm vorwerfen, sogar noch übertreffen.) Ähnlich hat Besold die Identifikation der römischen Kirche mit Babylon entschärft: »Hoc speciose quidam ex Apocalypsi deducunt: sed sane prophetica cautissime sunt tractanda, et rarius individuis applicandi« (Manche machen viel Wind um diese Herleitung aus der geheimen Offenbarung des Johannes. Mit prophetischen Aussagen muss man aber äußerst vorsichtig umgehen, und auf Einzelpersonen dürfen sie nur in selteneren Fällen angewendet werden).85 Besonders auffällig sind zwei Anhänge, die erst in der zweiten Auflage abgedruckt sind und Besolds Sinneswandel deutlich dokumentieren. Der erste enthält Taulers »Goldenes Alphabet«. Es handelt sich um eine Zusammenstel-
|| 82 Vgl. Besold: Axiomata [Anm. 54], Nr. 842: »Kein anderer Ketzer oder weltlicher Fürst, sondern der römische Papst ist der Antichrist [...] denn er macht aus der Kirche ein weltliches Reich [...]. Savonarola hat das verstanden, und auch die Verfasser mancher antipäpstlicher Schriften, die neulich in Venedig erschienen sind, hatten die richtige Witterung.« (»Romanus Pontifex, non ullus alius haereticus aut seculi princeps, est Antichristus: quia is non in fidei solum articulis errat et in moribus impingit, sed ex Ecclesia facit Politiam, et Imperium aliquod mundamum, quod suas habet status rationes, et arcana atque simulachra. Id quod directe contrarium est regno Christi, quod est spirituale, non de hoc mundo. Et sic Papa esset Antichristus, etiamsi non erraret in fide Religio Romana: quod intellexit Savonarola, et id redolent nonnulla scripta Venetorum, contra Pontificem edita.«) – Besold hatte 1615 Schriften Savonarolas herausgegeben (De Simplicitate Christianae Vitae Hieronymi Savonarolae Ferrarensis, Ordinis Praedicatorum, Viri et sanctimoniae et innocentiae rarae libri quinque, curante Christophoro Besoldo JC. [Straßburg] 1615). 83 Vgl. Besold: Axiomata [Anm. 54], Nr. 843: »Roma spiritualis Babylon: Romanorum Regnum (quatenus Apocalypticae mereticis patitur fraenum, atque capistrum) mysticus Assur.« 84 Vgl. ebd., S. 235, Nr. 55 in Kap. »Sapientia divina et mundana« (vorher Nr. 842). 85 Vgl. ebd., Nr. 842, S. 236, Nr. 56 (vorher Nr. 843).
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lung frommer Maximen in alphabetischer Reihenfolge; beispielhaft sind die ersten drei Buchstaben: A. Aggredienda tibi inprimis est vita bona, pura, spiritualis: non quidem leviter aut pueriliter, sed strenue et animo virili. – B. Bona facito, et malum declinato, idque sedulo ac diligenter. – C. Congruum ac temperatum in omnibus medium servato.86
Der zweite Anhang versammelt Aphorismen aus den Werken von Theresa von Avila. Dass Besold die Frömmigkeit der spanischen Mystikerin so prominent präsentierte, hatte gewiss auch konfessorischen Charakter. Zwei Aphorismen mochte er vielleicht auf sich beziehen: Prüfe bei allem deinem Tun zu jeder Stunde dein Gewissen. Verbessere mit Hilfe Gottes die Unvollkommenheiten, die du erkennst: auf diesem Weg gelangst Du zur Vollkommenheit.87 Halte dir dein vergangenes und vor allem dein jetziges Leben vor Augen und beweine es. Begreife gemeinsam mit allen Guten die Erkenntnis dessen, was dir daran fehlt, andauernd und ehrfürchtig zum Himmel zu streben, als Chance.88
3.4 Der zweite Band der Axiomata von 1626 Schon die Vorrede macht deutlich, dass sich Besold in diesem zweiten Band der Axiomata89 von der konfessionellen evangelischen Frömmigkeit wegbewegt, die Andreae mit immer steigender Verve vertrat. Er bezieht sich häufig auf Tauler, Ruysbroek, auf Sixtus Senensis,90 die Imitatio Christi und auf Antonio Perez.91 Er hat darüber hinaus (in der zweiten Auflage des ersten Bandes der Axiomata wird er es später ebenso halten) die Aphorismen in Loci geordnet. Diese Loci || 86 »Joh. Tauleri Alphabetum aureum« (ebd., ab S. 238). 87 »In omni opera, et nulla non hora conscientiam tuam examinabis; et visis imperfectionibus tuis, operam da ut eas cum Dei gratia emendes: hacque via ad perfectionem pervenies« (»Monita et Documenta a Sancta Matre Teresa de Iesu, Monialibus suis tradita«, ebd., S. 242, Nr. 27). 88 »Vitam praeteritam prae occulis habe, ut ipsam deplores; nec non praesentem temporem; item quantum tibi desit, ut hinc ad Coelum tendas, quo sic perpetuo in timore agas; et erit tibi hoc multorum bonorum occasio« (ebd., S. 245, Nr. 48). 89 Christophori Besoldi J. C. Pars secunda Axiomatum Philosophico-Theologicorum. Continens specimen Locorum communium Philosophiae tam Christianae, quam prophanae. Straßburg 1626. 90 Sisto da Siena (1520–1569): Bibliotheca Sancta. Zuerst Venedig 1566. 91 Antonio Perez (1540–1611): Aphorismos del libro de las relaciones. Zuerst Paris 1603.
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sind theologisch-philosophisch orientiert. Sie behandeln die Lehren von Gott und seiner Verehrung, bürgerliche und geistige Tugenden, Gelassenheit und das geistliche Leben, die Kirche, Fragen der Häresie, das Konzept einer frommen Philosophie, schließlich die letzten Dinge: Himmel und Hölle. In der theologischen Behandlung des Gottesbegriffs orientiert sich Besold an Nikolaus von Kues und an Bellarmin, die beide den Gottesbegriff strikt an eine spekulative Trinitätstheologie koppeln.92 Die göttlichen Prädikate der Vorsehung, Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe, sind die Bedingungen der Schöpfung und, wie Besold skizziert, auch die Elemente der Heilsgeschichte, die die Folge des Sündenfalls ist. Denn erst in der nachparadiesischen Geschichte ist die Heilsgeschichte offenbart, die die Erlösung der Gerechten und die Bestrafung der Bösen umfasst. Hier nun ist der Ort für die fromme Betrachtung der Passion Jesu, die Besold ausführlich im Geist der spätmittelalterlichen Leidensfrömmigkeit darstellt.93 Er lässt diese Betrachtung nicht in der Kontemplation enden, sondern wendet sie in praktische Pietät (Charitas, Eleemosyna, Dilectio inimicorum, Castitas, Temperantia, Jejunium; »Nächsten- und Feindesliebe, Wohltätigkeit für die Armen, generelles Maßhalten«), eine Haltung, die sowohl die bürgerlichen als auch die geistlichen Tugenden stärkt. Besold betont erneut die besondere Bedeutung der Gelassenheit und führt die Autoren an, die er für wesentlich hält: Eckhart, Seuse, Tauler, Thomas von Kempen und sogar Montaigne.94
|| 92 »Deus, Trinitas, Christus. In creatione et multitudine operationis intellectualis unius creatoris, videre nos Trinitatem, ait Magnus Cusa, lib. 2. cribrat. Alcor« (Besold: Pars secunda Axiomatum [Anm. 89], S. 12, Nr. 2). »Sicut homo generat hominem, et Rex Regem; ita Creator Creatorem, et Deus Deum. Cum hoc tamen discrimine, quod, quia natura Divina impartibilis est, Deus gignit eundem numero Deum, sed distinctum tamen in Persona. Homo vero gignit hominem, tantum in specie eundem. Bellarmin. I. de Christo. Cap. 10. Fol 109, col. 2« (ebd., S. 13 Nr. 7). 93 »Meditatio Passionis Nostri Salvatoris. O si Jesus crucifixus in cor nostrum veniret, quam cito et sufficienter docti essemus! Kempis. I cap. ult.« (ebd., S. 67, Nr. 8). – »Militia Christiana, Spes. Justus et amicus Dei in sola spe divina habitat, tanquam in tutissima domo. Bellarminus ad Psalm. 4. in fin. Oratio« (ebd., S. 73, Nr. 1). »Haud unquam bene orare discet, qui non prius dedidicit agere male. Inanis est oratio, ubi actio est prava. Drexel« (ebd., S. 83 Nr. 55). Am Ende dieses langen Locus werden angeführt Heinrich Seuse mit den Gebeten De aeterna sapientia (ebd., S. 86–89) und ein sehr langer Auszug aus Thomas von Aquins Gebeten (ebd., S. 89–98), danach folgen Gebete zu »Jhesus« (ebd., S. 99–106). 94 »Gelassenheit. Derelictio. Resignatio. Gelassenheit. Mors Philosophica. Utilissimam exercitationem esse; olim per visionem B. Eccardus Henrico Susoni in somnis aperuit: cum quis a seipso secundum suam proprietatem cum profunda sui resignatione deficiat, cunctaque non ex creaturis sed ex Deo accipiat, et tranquilla quadam patientia utatur, erga quoslibet homines
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Die Ekklesiologie ist für Besold auch noch 1626 ein heikles Thema. Mit dem auf Augustin basierenden Anspruch der katholischen Kirche, dass es außerhalb ihrer kein Heil gebe, hat Besold als Lutheraner erhebliche Schwierigkeiten, selbst wenn er zum Katholizismus tendiert. Aber er rettet sich mit Tauler, für den der gute Wille des Frommen für die Seligkeit zureicht: Alludit et huc Taulerus: Alle Weg seind gut / die die heilig Kirch weist und zuläst / ist daß sie auß göttlicher rechter Meynung geschehe. Unnd darumb soll man den außwendigen dienst nicht leichtlich urtheilen / daß er der best nicht sey, wann die lieb und meynung Machen die Leut heilig inn den dingen / unnd nicht das außwendig werck allein. Und als das Werck von den Menschen nit geschehn mag / und der das gern wolt thun / die Meinung und Will ist ihm gnug / wie spat er auch beginnet und anfacht. Sermon.1. auff den heiligen Pfingsttag.95
Ein echter Ausweg ist diese Kirche der Gutgesinnten für den Juristen Besold freilich nicht. Auch die Dichotomie zwischen einer babylonisch-bösen und einer jerusalemisch-guten Kirche kann er nicht akzeptieren. So konstatiert er das Dilemma, »ob die katholische Kirche die überaus weit verbreitete römische oder die überall und auch unter den Heiden verborgene, allein Christus anhängende ist«.96 Bei der Diskussion um die Frage von Armut oder Äußerlichkeit des Katholizismus ist Besold zurückhaltend. Auch im Katholizismus habe sich die Kirche der Frommen im Feuer der Verfolgung gereinigt.97 Es sei verlogen, wenn die || lupinos. Vita Susonis, cap. 8« (ebd., S. 164, Nr. 9) – »Resigna, et relinque te totum Det, et is melius te exercebit, quam vel tu ipse vel diabolus. Tauleri Vita« (ebd., S. 167, Nr. 23). – »Interna Conversatio. Disce exteriora contemnere et ad interiora te dare, et videbis Regnum Dei intra te venire. Est enim Regnum Dei, pax et gaudium in Spiritu sancto, quod impiis non datur. Kempis 2. cap. 1« (ebd., S. 183, Nr. 7). – »Chacun regarde devant soy; moy je regarde devant moy. Quilibet respiciat ante se; ego respicio in me. Michel de Montaigne, lib. 2 des essais cap. IV fol. m 631« (ebd., S. 185, Nr. 16). 95 Ebd., S. 297, Nr. 5. 96 »Sicque magna controversia est: An Catholica ecclesia sit, quae nunc Romana, latissima, an vero ea, quae in omnibus etiam haeresibus occulta, et soli Christo adhaeret« (ebd., S. 298, Nr. 11). 97 »Christus fuit totus spiritualis et humilis, ut condemnaret Messiam Judaeorum potentem, Mahumeti Paradisum sensibilem, Cerinthi post resurrectionem terrenum Christi regnum, et etiam Romano-Catholicorum (quorundam) Ecclesiam in hac vita triumphantem: si non ille triumphus de mirabili conservatione et prosperitate coetus piorum eorumque, qui illum defendant, intelligatur. Vid. Card. Bellarminum, de Eccles. 4. cap. 18. Item, lib. 2 de Christo, c. ult. et recognit. lib. 5. De Pontif. cap. 4. Alias enim verissimum est, quod scribit Ruffinus, 10 histor. cap. 6. Per idem tempus (Arianae nempe persequutionis) Ecclesia velut persecutionis igne conflante purior auri metallo refulgebat. Non enim verbis uniuscujusque fides, sed in exiliis et
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Lutheraner (»nostrates«) behaupteten, vor der Reformation habe es keine rechte Kirche gegeben, sondern nur eine pharisäische. Freilich bleibe die bange Frage an Christus unbeantwortet, welche nun die Kirche der Erwählten sei?98 Besolds Trost ist, dass Christus als verborgener geistlicher König der Kirche an allen Orten herrsche, und dass die Kirche sich in allen Krisen immer neu geläutert habe.99 Auch in den schlimmen Zeiten der Religionskriege werde sich, zitiert Besold Kardinal Bellarmin, am Ende das Reich Christi durchsetzen.100 Besolds Darstellung der Ekklesiologie ist ausgewogen, präzise und unpolemisch. Mit Bellarmin sieht er die Kirche als Corpus Christi mysticum; es findet sich keine explizite Polemik, weder gegen die Katholiken noch gegen die lutherische Orthodoxie. Das kann als Orientierungslosigkeit gedeutet werden oder als noch unentschiedenes Abwägen zwischen den Konfessionen; und er möchte die Entscheidung vermeiden. Hier ist Besold noch Philosoph – freilich dezidiert christlicher101 – und diese Philosophie schließt auch Hermetik und Alchemie ein, die er als Philosophia Mosaica deutet.102 In gewisser Weise ist auch die Fra-
|| carceribus probabatur, quia non honori erat Catholicum esse, sed poenae« (ebd., S. 299, Nr. 14). 98 »Et talem ante Lutherum Ecclesiam fuisse, ajunt, quae tempore nostri Salvatoris, ubi Pharisaei sedebant in Cathedra Mosis. De quibus Christus ipse dicebat: Quicquid dicunt (scilicet ex Mose et Prophetis), facite. Alibi vero ait: Cavete a fermento Pharisaeorum. At ubique fere locorum etiamnum adhuc talis est status Ecclesiae electae!« (ebd., S. 299f., Nr. 15). 99 »Magnae consolationis verbum est: Credo Ecclesiam Catholicam. Nam arguit articulus ille, Christum adhuc habere suos ubique locorum. Sane Christus Rex est, regnum habet: licet forsan occultum: nam et occultus ac spiritualis Rex est, non Mundanus, non pomposus. (ebd., S. 301 Nr. 20.) »Semper post magnam Ecclesiae tentationem nova auxilia succedunt, omnesque ejus adversantes justae addicuntur ultioni« (ebd., S. 301, Nr. 24). 100 »Persecutiones regna temporalia facile destruunt: Christi regnum, quod est Ecclesia, non destruunt, sed et illustrant. Bellarminus 4. de eccles. cap. 6. Quem vide. Et prospicit Ecclesiae semper Deus« (ebd., S. 301, Nr. 23). 101 »Philosophia. Finis philosophanti est, Deo, quoad ejus fieri potest, assimilari. Iustinus Martyr. Apud Melissam. lib. 2. serm. 42« (ebd., S. 344, Nr. 1). – »Nulla sine religione probanda est sapientia. Lactantius, lib. 1. cap. 1« (ebd., S. 345, Nr. 4). 102 »Nemo nisi verus philosophus, id est Chymicus, scire melius potest, quomodo in semine, imo in Spiritu seminis lateat arbor: quomodo in spermatis Homnaitate guttula abscondatur homo, totusque mundus complicative« (ebd., S. 360, Nr. 1). – »Chymica docet possibilitatem resurrectionis. Et sane ii [= Chymici] repraesentare, restituere solent in vitro imagines herbarum in cinerem redactarum« (ebd., Nr. 2). – »Alchymia et liber naturae docet spiritum esse sublimandum, si eum a terrenis abstrahere velis« (ebd., Nr. 3). – »Terra mater est, aqua menstruum naturae. Idque et semina indicant, quae quidem aut humida sunt, ut animalium, aut sine humiditate non germinant, qualia stirpium sunt. Philo, de Mundi opific. fol. 22« (ebd., S. 360f., Nr. 8).
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ge nach den letzten Dingen noch als philosophische behandelt. Es scheint, als orientiere sich Besold hier an Origenes.103 Den Schluss bildet eine Bitte an den Leser, ihn ins Gebet einzuschließen.104
4 Andreaes Entwicklung zum lutherischen politischen Theologen Die Diskussion um Theologie, Frömmigkeit und Politik, die Besold und Andreae teilten, spielte sich nicht im luftleeren Raum ab. Die Konfrontation zwischen Katholiken und Protestanten (beider Konfessionen) hatte sich seit 1608 immer weiter verschärft: In diesem Jahr schlossen sich die protestantischen Reichsfürsten unter der Führung des Kurfürsten von der Pfalz zur ›Union‹ zusammen. Mitglieder waren die Pfalz, Brandenburg, Hessen-Kassel und 17 oberdeutsche Reichsstädte (u. a. Nürnberg, Ulm und Straßburg). Sachsen hielt sich aus dieser Parteiung heraus. Als Reaktion auf die protestantische Union wurde 1609 die katholische ›Liga‹ gegründet, der Herzog Maximilian I. von Bayern, die süddeutschen Bischöfe und die meisten katholischen Reichsstände beitraten. 1618 hatten die böhmischen Stände den bereits gewählten König Ferdinand von Habsburg abgesetzt und den Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. zum König gewählt. Der anschließende Böhmische Krieg dauerte von 1618 bis 1621 und endete mit der Absetzung und Flucht des ›Winterkönigs‹ aus Böhmen. Maximilian I. von Bayern, ein katholischer ›Vetter‹ der pfälzischen Wittelsbacher, hatte 1623 die mit der Absetzung des Winterkönigs erledigte pfälzische Kurwürde übernommen. Böhmen und Mähren wurden mit Gewalt und Missionseifer rekatholisiert, die nichtkatholische Bevölkerung wurde vertrieben, sofern sie nicht konvertieren wollte. Unter den Exulanten befand sich auch der Bischof der Böhmischen Brüder Johann Amos Comenius, der sich Andreae verpflichtet wusste.105
|| 103 »Coelum sit in oculis, Aeternitas in pectore« (ebd., S. 363 Nr. 7). – »Infernus, ex quorundam sensu, non est locus extraneus, seu conclave, sed quisque infernum in se habet, non extra se« (ebd., S. 365, Nr. 1). 104 »Tandem ut Oratione tua Deo potius me commendare, quam calumniis onerare ut velis, oro Te per eum, qui Peccata cuncta condonat« (ebd., S. 367). 105 Einleitung von Jiři Beneš zu Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 16: Theophilus, S. 19f.
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Auch den zweiten Abschnitt des Dreißigjährigen Krieges, den Dänischen Krieg, hatten die Kaiserlichen mit Hilfe der Bayern gewonnen. Der Kaiserliche Generalissimus Tilly hatte 1626 den Dänenkönig Christian besiegt, der als Graf von Holstein auch ein Reichsstand war und von den evangelischen Ständen und Fürsten Norddeutschlands sowie von Frankreich finanziell unterstützt wurde. 1623 war der Herzog von Braunschweig in der Schlacht bei Stadtlohn geschlagen worden – der ›Tolle Christian‹, der die katholischen Gegenden Norddeutschlands gebrandschatzt hatte und sich als besonders militanter Katholikengegner aufgeführt hatte. Mit diesen Siegen wurde die Herrschaft des Kaisers in Norddeutschland stabilisiert. Wallenstein, der an den kaiserlichen Siegen im Dänischen Krieg maßgeblichen Anteil hatte, wurde aufgrund seiner Verdienste zum Herzog von Mecklenburg erhoben. Der Sieg des Katholizismus schien unaufhaltsam, und der Kaiser verordnete 1629 die Restitution der seit 1555 säkularisierten Kirchengüter an die katholische Kirche. Mit dem kaiserlichen Restitutionsedikt sah sich der deutsche Protestantismus essentiell bedroht. Die Durchführung dieser Restitution provozierte den Widerstand der evangelischen Fürsten, der Reichs-und Hansestädte und vor allem der evangelischen Pastoren, die als Stadt- und Staatsbeamte diese Opposition im Reich propagandistisch begleiteten. Der Einmarsch der Schweden ins Reich war folglich für die gesamte evangelische Sache lebensrettend. Gustav Adolf wurde daher in den evangelischen Territorien mindestens von den Geistlichen enthusiastisch begrüßt und als Messias gefeiert. Besold und Andreae waren ideologisch Treibende und Getriebene dieser Entwicklung. Beide waren seit 1606, lange vor dem Krieg, in die Spekulationen um die ›Rosenkreuzer‹ eingeweiht, deren Manifeste 1614 bis 1616 – jedenfalls partiell – ohne ihr Wissen veröffentlicht wurden. Beide hatten sich von dieser Bewegung abgekehrt und betrachteten sich in der Nachfolge Johann Arndts als christliche Gelehrte und Anhänger einer Praxis pietatis.106 Aber ihre Wege tendierten auseinander. Der fromme Jurist Besold war reichsorientiert und Anhänger der Spiritualität und Mystik des Spätmittelalters. Auch hier fand er sich durch Johann Arndt bestätigt. Politisch und juristisch aber konnte er je länger desto weniger der Tendenz der protestantischen Geistlichkeit folgen, sei sie reformfromm oder orthodox, denn die protestantischen Geistlichen diskreditierten den Kaiser und favorisierten an seiner Stelle den reichsfremden schwedischen König.
|| 106 Andreae übersetzte Auszüge Arndts ins Lateinische (Christianismus Genuinus, vgl. oben Anm. 66). Besold widmete 1619 seinen kleinen Traktat De verae philosophiae fundamento Discursus (siehe oben Abschnitt 1) Johann Arndt und dem Campanella-Editor Tobias Adami.
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Johann Valentin Andreae geriet dagegen immer mehr in die Nähe der antikaiserlichen evangelischen Geistlichkeit. Seine strikt antipäpstliche Theca Gladii Spiritus von 1616 war, was die Reichspolitik anbelangte, weitgehend unpolemisch. Die Christianopolis von 1619 war schon dezidiert als Gegenstück zu Campanellas Civitas solis geschrieben, die ihrerseits die Religion des katholischen spanischen Weltreiches grundlegen sollte. Andreae hatte aber auch erkannt, wie instabil die innere Situation der evangelischen Kirche war. Er sah die Gefahr, sie könnte dem Druck der katholischen Mission nicht gewachsen sein, bei der die Macht des Kaisers, der katholischen Reichsfürsten und die jesuitische Intellektualität zusammenwirkten.107 Angesichts dieser Situation schrieb er seine Reformschriften, mit denen er versuchte, die millenarische Interpretation des beginnenden Dreißigjährigen Krieges im Sinne eines reformerischen Elitenprotestantismus zu beeinflussen. Es handelt sich um ein ganzes Bündel von kleinen Pamphleten: Invitatio fraternitatis Christi (Einladung der Bruderschaft Christi, 1617), Veri Christianismi Libertas (Die Freiheit wahren Christentums, 1618),108 Civis Christianus (Der christliche Bürger, 1619), Reipublicae Christianopolitanae descriptio (1619), Christianae societatis imago (Bild einer christlichen Gesellschaft, 1620) und Christianae amoris dextera porrecta (Die ausgestreckte Rechte christlicher Liebe, 1620). Diese kurzen Schriften erschienen in winzigen Auflagen und blieben der zeitgenössischen Öffentlichkeit zunächst nahezu unbekannt, aber sie wirkten bei seinen einflussreichen theologischen Freunden.109 1620 wurde Andreae Superintendent in Calw. Hier versuchte er, die Pläne einer Societas Christiana dergestalt real werden zu lassen, dass er – unter dem »princeps« Herzog August – einen Bund von lutherischen Fürsten und Theologen zusammenzubringen versuchte, zu denen u. a. Johann Arndt, Johann Gerhard aus Jena, der lüneburgische Rat Wilhelm Wense, Tobias Adami, Wilhelm Bidenbach sowie Matthias Bernegger aus Straßburg, Polykarp Lyser aus
|| 107 Vgl. Anm. 306 in Andreae: Theophilus (Anm. 105), S. 463f., die neben einer Bemerkung zu Andreaes »Neid« auf die jesuitischen Erziehungserfolge einen ausführlichen Auszug aus einer Predigt Johann Arndts zur Pädagogik der Jesuiten abdruckt. 108 Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 7: Veri Christianismi Libertas . Der Titel spielt auf Arndts Wahres Christentum an, vgl. Anm. 44. 109 Frank Böhling hat die Entwicklung der Sozietätsideen Andreaes in der Einleitung zu den Schriften zur christlichen Reform (Anm. 11) mit den nötigen prosopographischen Einzelheiten nachgezeichnet. Hier wird auch deutlich, dass die unter den Namen »Macaria« und »Antilia« bekannten utopischen Pläne, die in der englischen Revolution eine nicht unerhebliche Rolle spielten, direkt von Andreaes Sozietätsplänen abhingen.
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Leipzig und Besold gehörten.110 1626, auf dem Höhepunkt des Dänischen Krieges, verschärfte Andreae den polemischen Ton seiner ohnehin straff antikatholischen polittheologischen Dichtungen mit der Christenburg. Andreae hat seinen Christenstaat, wie seine Christenburg zeigt, in einem apokalyptischen Endkampf gesehen, bei dem er auf Gottes wunderbares militärisches Eingreifen hoffte. Diese endzeitliche Einspannung strafte die Zeitlosigkeit seiner evangelischen Klosterstadt-Utopie Christianopolis gewissermaßen Lügen. Seine forcierte Eschatologie mitten im Dreißigjährigen Krieg verbindet Andreae mit Böhme und Comenius, die ebenfalls auf die himmlische Hilfe gegen die Habsburger hofften und diese Hoffnung durch Prophetien zu stabilisieren trachteten.111 Während Christoph Besold 1629 für den katholischen Kaiser gegen die evangelischen Stände gutachtete, dass die säkularisierten Klöster Württembergs an ihre ursprünglichen katholischen Besitzer zurückgegeben werden müssten, schrieb Andreae unmittelbar daran anschließend ein allegorisches Pamphletchen. Das Gespräch Xenoras mit ihrer Tochter Psilolea spielt auf das Restitutionsedikt des Kaisers 1629 an, das die Klöster, soweit sie in evangelischem Besitz waren, den Katholiken zurückzugeben befahl. Die evangelische Seite sah sich dadurch enteignet — darauf bezieht sich die Klage der Xenora. Das Gespräch reflektiert diese Situation und empfiehlt mit Psilolea Solidarität in der Armut. Das Überleben der evangelischen Religion im Reich war für Andreae spätestens mit dem Sieg des Kaisers im Dänischen Krieg wichtiger als der Zusammenhalt des Reiches. Er spielte nun die schwedisch-lutherische Karte. Unmittelbar nach dem Tod Gustav Adolfs hat er 1632 dessen Engagement für die evangelische Sache in zwei Schriften hymnisch gewürdigt112 und beide mit dem antipäpstlichen Pamphlet Entlarvter Apap begleitet.113
|| 110 Vgl. Andreae: Schriften zur christlichen Reform (Anm. 11), S. 345 und 348. In der Liste ist auch Tobias Hess verzeichnet, der bereits 1614 gestorben war. 111 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. von Anja Hallacker. Göttingen 2007. Zu den endzeitlichen Kämpfen zwischen dem habsburgischen Adler und den protestantischen Löwen (nach Esra 4) vgl. die rosenkreuzerische Confessio fraternitatis, die diesen Endkampf bereits prophezeit. 112 Pietatis Germanae ad Gustavum Adophum Suecorum Regem Magnum, Principis Christiani exemplum, Alloquium calamo vicario Johannis Valentini Andreae (Die reine und deutsche Frömmigkeit redet Gustav Adolf, den großen Schwedenkönig und Muster eines christlichen Fürsten, an; ihre Rede stellvertretend aufgesetzt von J. V. A.); Gustavi Adolphi Suecorum Regis Magni victoris in coelis triumphaturi ad Pietatem Germanam Suprema verba suspiriis Johannis Valentini Andreae (Letzte Worte Gustav Adolfs, des großen Schwedenkönigs, an die reine und
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Spätestens mit dem Entlarvten Apap war der Riss zwischen Andreae und Besold nicht mehr zu kitten. Andreae war denn auch von Besolds öffentlicher Konversion 1635 nicht mehr überrascht. Aber inzwischen waren alle seine Hoffnungen endgültig zerstoben: 1634 hatten die Kaiserlichen die Schweden bei Nördlingen geschlagen und Württemberg besetzt. In Calw, wo Andreae Pfarrer war, brach die Pest aus. 1635 wurde die Stadt von den Kaiserlichen gebrandschatzt. Andreae beweinte den Untergang der Stadt in seinen Threni Calvenses.114
5 Besolds Konversionsrechtfertigung 1637 erschien Besolds Rechtfertigung seiner Konversion, zwei Jahre nach deren Vollzug. Dieses Buch war selbstverständlich ein Trumpf in der katholischen Propaganda gegen die Lutheraner – war doch einer der wichtigsten evangelischen Juristen katholisch geworden. Es trägt einen langen barocken Titel: Christliche und Erhebliche Motiven, warumb Christoff Besold, beeder Rechten Doctor, […] darfür gehalten, daß der Recht, und Einig Seeligmachende Glaub, allein in der Römisch Catholischen Kirchen anzutreffen: Derenthalben Er auch auß aignem Trib, seines Gewissens, und zu Entfliehung ewiger Verdamnuß, zu solcher Alten Catholischen Kirchen sich begeben, und all andere, new auffkom[m]ne Secten, oder Lehren, verlassen hat.115
Andreae muss vor Wut und Scham außer sich gewesen ein, wenn er das Buch denn gelesen hat – und ich denke, er hat.116 Das gilt vor allem für die Gustav-
|| deutsche Frömmigkeit vor seinem himmlischen Triumph, seufzend zum Ausdruck gebracht von J. V. A.). 113 Johann Valentin Andreä’s Entlarvter Apap (papa) und Hahnenruf. Eine Stimme der Warnung an das deutsche Volk nebst Beyträgen zur Kirchengeschichte aus den Schriften des J. V. Andreä von Carl Theodor Pabst. Leipzig 1827. Apap proditus erschien, ebenso wie die beiden in der vorangehenden Fußnote aufgeführten Werke, 1633 in dem bei Endter in Nürnberg erschienen Sammelband Opuscula aliquot de restitutione reipublicae Christianae in Germania (Einige kleine Werke zur Wiederherstellung eines christlichen Staatswesens in Deutschland). 114 Vgl. den Abdruck des Bustum Calvense in Andreae: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 1,2: Autobiographie, S. 407–455; dazu ausführlich Martin Brecht: Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Göttingen 2008. 115 Ingolstadt 1637; weitere Auflagen 1642 (hier zitiert) und 1656. Noch im 19. Jahrhundert wurde die Schrift erneut aufgelegt und diente zur antiprotestantischen Polemik: Dr. Besolds Motive seiner Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche. Augsburg 1828. 116 Vgl. oben Anm. 18.
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Adolf-Passagen in Kapitel 6 und das gesamte Kapitel 11; denn dort ist er in seiner politischen Theologie getroffen.
5.1 Besolds autobiographische Konversionsgeschichte Besolds Rechtfertigungsschrift beginnt mit einer ausführlichen Widmung an den Kurfürsten Maximilian von Bayern, in der er seine Konversionsgeschichte erzählt, und liefert danach eine sehr genau informierte juristisch-dogmatische Apologie der katholischen Kirche gegen die protestantischen Denominationen. In seiner Widmung berichtet Besold, er habe von Jugend an ein besonders Wohlgefallen an katholischen Büchern gehabt, sein Interesse habe sich bis auf die Scholastik erstreckt. Danach sei er mit Vertretern prophetischer Schriftinterpretation in Kontakt gekommen,117 die ihn gelehrt hätten, daß beedes die Theology als auch die Philosophy / einig aus der heilgen Schrifte zuerlehrnen; Zumahlen solche / diese nach eines jeden Einleuchten außzulegen, / auch darinnen sambtliches Propheticè, und der gestalt zudeüten / daß hierauß allerkünfftige Zustandt der Kirchen / unnd grosse Verenderung der Regimenter / zu ergründen.118
Alle Feindschaften gegen Christus seien von diesen evangelischen Eiferern allein auf die katholische Kirche bezogen worden. So habe man ihm einen Widerwillen gegen den Katholizismus eingepflanzt, der etwa von 1606 bis 1622 gewährt habe,119 wie aus seinen historischen und juristischen Schriften zu ersehen sei.
|| 117 Sind damit Andreae und Tobias Hess gemeint, die beiden antipäpstlichen Freunde aus Rosenkreuzerzeiten? 118 Christlich und Erhebliche Motiven / Warumb Christoff Besold / Beeder Rechten Doctor / […] vornehmlich dafür gehalten / darbey auch gestorben / daß der Recht / und Einig Seeligmachende Glaub / allein in der Römisch-Catholischen Kirchen anzutreffen. […] Die ander Edition […]. Ingolstadt 1641, Widmung an Maximilian von Bayern, unpag. [Im Folgenden bezeichnet als Besold: Konversionsgeschichte]. 119 1622 ist der Streit um Arndt auf seinem Höhepunkt, als Arndt wegen seiner Weigel-Zitate im dritten Buch des Wahren Christentums angegriffen wurde und die Tübinger Theologen Lukas Osiander d. J. (1571–1630) und Theodor Thumm (1586–1630) in Tübingen bei dem Buchhändler Eberhard Wild die Konfiskation spiritualistischer und mystischer Bücher veranlassten (vgl. Brecht: Andreae [Anm. 114], S. 169f.). Besold hatte selbst bei Wild viele Bücher publiziert, darunter De bombardis ac item de typographia dissertatio historica (1620), De jure regio Samuelis Prophetae (1620), De Hebraeorum ad Christum Salvatorem nostrum conversione coniectanea (1620), De novo orbe coniectanea (ca. 1620), De jure imperialium civitatum in immutanda religione discursus (ca. 1620) und Discursus de angelis s[ive] geniis imperiorum (1620).
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Nachher seien ihm Luthers »Scurrilitet, und Umbeständigkeit«, die Lauheit der evangelischen Schriften, »die Gottseligkeit / unnd innerliche Enderung des Herzens betreffend«, sowie das ungeistliche Leben der Protestanten unerträglich geworden. Gefallen hätten ihm hingegen die »Schrifften deß Gotttseeligen Johan. Tauleri, Joh. Rusbrochij, Henr. Susonis, Thomae de Kempis«. Deshalb seien seine Bücher nach 1622 katholischer geworden; besonders die Axiomata zeigten, dass er weniger reformatorisch gedacht habe. Er habe die Abhandlung Taulers über die wahre Armut nach einer alten Handschrift erstmals herausgegeben,120 diese Ausgabe sei an den Stand der Religiosen gerichtet und an eine hohe Theologie. Zu seiner Konversion sei er von Dr. theol. Bartholomäus Eyselin (1576– 1633), Karmeliterprior in Rottenburg, dem Grafen Paul Andreas zu Wolkenstein (1595–1635) und anderen katholischen Adeligen bestärkt worden. Er sei deshalb schon »vor etlich Jaren / zu der Catholischen Kirchen mich zu begeben entschlossen gewest«, aber das sei unter der schwedischen Herrschaft unmöglich gewesen. Nach seiner öffentlichen Konversion habe er schon bald eine öffentliche Rechtfertigung schreiben wollen, dieses aber, weil er seine Bibliothek nicht zur Verfügung gehabt habe, nicht gekonnt. Jetzt habe er seine Bibliothek wiedererlangt, und nun möge der Kurfürst Max die Widmung annehmen. Besolds nun folgende Rechtfertigungsschrift ist eine Apologie des Katholizismus und schließt in vielem an die apologetischen Traditionen an, die unter dem Titel »De veritate religionis Christianae« verhandelt wurden. Bellarmins Controversiae stehen dabei im Hintergrund.121 Kirchengeschichtlich ist Besolds Rechtfertigungsschrift gegen Flacius Illyricus’ Konzept einer Kirchengeschichte gerichtet, das die mittelalterliche katholische Tradition als antichristlich diskreditierte und die Häretiker zu Märtyrern erklärte – eine Lehre, die in den Magdeburger Zenturien sowie deren Folgeschriften weiter verfolgt wurde. Besolds Themen sind die Kernstreitpunkte der Konfessionspolemik: Es geht um die eine wahre Kirche (Kap. 1 und 2), um Hierarchie, Kirchenorganisation und dogmatische Stabilität (Kap. 3 bis 5), um zeitgenössische Wunder und Heilige (Kap. 6 und 7), um die Universalität des Katholizismus und seines Kultes || 120 Es kann sich nur um folgende Ausgabe handeln: Nachfolgung des Armen Lebens Christi: in zwey Theil abgetheilt, nun zuerst aus einem alten Exemplar nachgetragen. Frankfurt 1623. Vgl. die Leichenpredigt von Arnold Rath: Luctus Academiae Ingolstadiensis in Obitum Jncomparabilis Iurisconsulti D. Christophori Besoldi. 22.9.1638, S. 41f. (Anhang zu: Besold: Synopsis Rerum ab orbe condito gestarum. 4. Auflage Ingolstadt 1639. Philipp Jakob Spener hat Besolds Tauler-Ausgabe 1692 nachgedruckt. 121 Roberto Bellarmino: Disputationes de controversiis Christiane fidei adversus hujus temporis haereticos. Zuerst Ingolstadt 1586–1593.
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(Kap. 8 und 9) und um die Bedeutung der Exegese (Kap. 10 und 11). Der Jurist Besold ist vor allem an der Frage nach Reformation und Reichsrecht interessiert (Kap. 12). Den Schluss bildet eine zusammenfassende Demontage protestantischer Polemiken (Kap. 13).
5.2 Die eine wahre Kirche Es ist für eine Bekehrungsschrift zum Katholizismus selbstverständlich, dass der katholische Anspruch herausgestellt wird, den einzig seligmachenden Glauben zu verkünden. Das geschieht in den beiden ersten Kapiteln. Der politische Reichsjurist Besold weiß freilich auch, dass dieser Anspruch sich im Reich nicht hat durchsetzen lassen. Er geht deshalb von der rechtlichen Realität aus, dass im Reich zwei Konfessionen zugelassen seien – die katholische und die lutherische. Der Zwinglianismus und der Calvinismus dagegen sind im Reich offiziell verboten. Er polemisiert deshalb gegen die Verbindung lutherischer und calvinistischer Prediger. Die Politiker, die einen solchen Zusammenschluss befürworteten, hätten eher das Interesse des Staates als das der christlichen Kirche im Auge.122 Überhaupt sieht Besold in der Freigabe der konfessionellen Bindung ein politisches und religiöses Risiko. Offensichtlich ist ihm sein eigener Casus hier kein Exempel. Die Freiheit der Religionswahl führe dazu, dass jedermann »nach seinem aignen belieben / ihme selbst ein Glauben erwöhlen dörfft / und dennoch geduldt werden müßt«.123 Daraus entstünden »Atheismus und Unglaube« sowie politischer Streit. Der Konflikt drehe sich um »dise höchstgefährliche Freyheit des Gewissens […] darumb man noch heut zu Tag / mit so grossem Blutvergiessen / unnd ganz erbärmlicher Landtsverderbung streitet«.124 Es seien, bleibt das ceterum censeo des Reichsjuristen, im Reich aber nur zwei Konfessionen zugelassen, Katholiken und Lutheraner. Toleranz bedeutet für Besold das Ertragen der anderen Konfession; die Wahrheit liegt, wie für den Konvertiten nicht mehr anders denkbar, in der katholischen Kirche. Der historisch gebildete Jurist diskutiert den Begriff ›katholisch‹ in seiner Geschichte: ›Katholisch‹ heißt für ihn ›römisch‹, und dieser Ka|| 122 »Unnd disem nach / sollen beedes die Catholischen / und jenige Lutheraner / in dero Herzen noch nicht alle Gottesforcht außgelöscht / solch newen Politicis (welche ohne daß die Rationem Status, mehrers dann der Christlichen Kirchen Wolstandt in obacht ziehen) oder auch andern Autonomisten, und Freystellern / in keinen weg gehör geben« (Besold: Konversionsgeschichte [Anm. 118], S. 14). 123 Ebd., S. 14. 124 Ebd., S. 15.
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tholizismus ist durch die Kirchenväter in seinem Anspruch gesichert. Besold argumentiert hier vor allem gegen Matthias Flacius’ Illyricus Catalogus testium veritatis, in dem die historische Legitimität des Katholizismus bestritten wurde,125 auch gegen Zwingli und Calvin, nach deren Lehre die wahre Kirche nur aus den wenigen Erwählten bestehe.126 Diese Meinung sei bei den Minoritätensekten verbreitet; Besold nennt Schwenkfelder, Wiedertäufer, Weigelianer, Stiffelianer und »Eingebildete Rosenkreutzer«.127 Insgesamt kennt er gegen das Chaos von protestantischen Glaubensirrtümern nur ein Antidot: die allgemeine und umfassende Kirche. Dieses Argument richtet sich implizit auch gegen Andreaes Vorstellung eines elitären evangelischen Pietismus.
5.3 Hierarchie und dogmatische Stabilität Mit dem Katholizismus verbindet Besold selbstverständlich die hierarchische kirchliche Verfassung, die für ihn Garant auch der dogmatischen Stabilität der Religion ist. Sie wird in den Kapiteln 3 bis 5 verhandelt. Die katholische Kirche habe ein sichtbares geistliches Oberhaupt: den Nachfolger Petri. Deshalb sei die katholische Kirche eben keine Hydra wie der Protestantismus, dem immer wieder neue häretische Köpfe nachwüchsen, die er selbst nicht bändigen könne: Antinomisten, Flacianer, Synergisten und Maioristen, Adiaphoristen, Osiandristen und andere.128 Die wahre Kirche sei dagegen ein geistlicher Körper, der sich in der päpstlichen Monarchie selbst regiere. Deshalb könnten die Landesherren auch keine Kirchenoberen sein.129 Diese Ansicht untermauert Besold mit vielen historischen Beispielen aus der Kaisergeschichte. Das landesherrliche Kirchenregiment sei keine Aristokratie, wie das die Lutheraner wohl gerne möchten; die Landesherren gewährten den Konsistorien nämlich »kein ordinariam sondern nur delegatam (übertragene) Jurisdictionem«,130 und damit sei die unabhängige Kirchlichkeit aufgehoben.
|| 125 Zum Zusammenhang vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Flacius Illyricus’ Catalogus testium veritatis als kontroverstheologische Polemik. In: Günter Frank/Friedrich Niewöhner (Hg.): Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 263–291. 126 Besold: Konversionsgeschichte (Anm. 118), S. 36. 127 Ebd., S. 38. 128 Vgl. ebd., S. 47. 129 Vgl. ebd., S. 51–55. 130 Ebd., S. 66.
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Die Vorstellung der Kirche als geistlicher Monarchie schließt für Besold aus, dass die geistliche Schlüsselgewalt bei der Kirche im Ganzen liegt. Die Schlüsselgewalt erfordere vielmehr, wie die Souveränität, eine personale Entscheidungsinstanz: Diese sei mit dem Amt des Papstes verbunden. Denn Petrus, nicht eine allgemeine Kirche, habe die Schlüssel des Himmelreiches »alleinig empfangen«.131 Petrus sei von Jesus Christus zum Fels der Kirche bestimmt worden und auf dem Apostelkonzil hätten ihn die Jünger zum Sprecher der Kirche gewählt. Diese auf Petrus bauende Kirche habe (heißt es im 4. Kapitel über den römischen Primat) ihren Ursprung in Rom, denn Petrus sei in Rom gewesen und habe dort mit Paulus die vornehmste Kirche gegründet, der alle Kirchenväter gefolgt seien: Irenäus, Tertullian, Eusebius, Hieronymus, Augustin. Darüber hinaus sei die römische Kirche von allen Kirchen, die die Apostel gestiftet haben, allein noch übrig (5. Kapitel). Deshalb berufe sie sich zu Recht auf die apostolische Sukzession. Es handele sich nicht allein um eine juristische Stipulation, sondern darum, dass in dieser Kontinuität auch die Stabilität der Lehre gründe. Besolds Beispiel für die dogmatische Stabilität der katholischen Lehre, die in der Stabilität der Rechtsinstitution Kirche gründe, ist die Trinitätstheologie, die im Calvinismus bestritten werde.132 Die institutionelle Bedeutung der Kirche habe sich in der Missionierungsgeschichte Deutschlands gezeigt: Die Bekehrung der Germanen sei von Rom dogmatisch gelenkt worden, was sich als Vorsehung erwiesen habe, denn die katholische Kirche sei im Unterschied zu den Turbulenzen der byzantinischen (Byzanz), morgenländischen (Caesarea) und afrikanischen (Alexandria) Theologien als einzige in der Trinitätslehre stabil geblieben.133 Dasselbe Stabilitätsargument gelte für die Hierarchie der Kirche. Die lückenlose Sukzession der Päpste sei gesichert, und damit die Weitergabe der Schlüsselgewalt. Auch für die Ordination der Geistlichen sei die apostolische Sukzession sakramental und rechtlich verbindlich, alle andern Prediger solle man »verdächtig halten / gleich als Ketzer / und böse Lehrer«.134
|| 131 Ebd., S. 71. 132 Ebd., S. 102f., wird ausführlich die Polemik von Aegidius Hunnius gegen Calvin und die Destabilisierung der Trinitätstheologie referiert. 133 Vgl. ebd., S. 104. 134 Ebd., S. 124.
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5.4 Wunder und Heilige: Die Präsenz des Geistes Die Kontinuität der Kirche zeige sich nicht nur in ihrer Geschichte, sondern auch gegenwärtig beweise der Heilige Geist seine Präsenz durch Wunder und Heilige. Diese sind Gegenstand der Kapitel 6 und 7. Zwar würden Wunder, die nach Abschluss des Neuen Testaments geschehen seien, von Lutheranern und anderen Sektierern nicht akzeptiert, aber Besold plädiert für die Verehrung der Heiligen, denen Wunderbares geschehen sei, und für die Akzeptanz von Wundern in der alten und neuen Kirchengeschichte. Wunder ereigneten sich vornehmlich bei Heiligen, deshalb sei Heiligenverehrung wichtig. Heilige seien Zeugen der göttlichen Gnade, und solche Menschen seien auch schon in der vorkonstantinischen Kirche verehrt worden. Die Katholiken, stellt er fest, seien bei der Kanonisierung ihrer Heiligen sorgfältiger als die Lutheraner. Sein Beispiel für einen – falschen – lutherischen Heiligen ist Gustav Adolf: Man habe in seinem Falle leichtgläubig Erscheinungen und Wunder angenommen, sein beständiges Glück prophezeit und ihm im Kalender schon die Stelle des Heiligen Georg angewiesen.135 Besolds geistliche Helden dagegen sind die Erzheiligen der Gegenreformation: Theresa von Avila, Carlo Borromeo, Ignatius von Loyola, Franciscus Xaverius, Filippo Neri. Diese virtuosen Frommen, die sich durch Gottesdienst und Askese auszeichneten, seien die Früchte, an denen sich die religiöse Legitimität des Katholizismus erweise (Kapitel 7). Das Luthertum sei hingegen für die Frömmigkeit verderblich, was man am Geiz der Stadt Leipzig erkennen könne, worüber sich selbst Luther beklagt habe. Der späte Luther sei von den praktischreligiösen Folgen seiner Reformation schließlich selbst enttäuscht gewesen. Dagegen fänden sich bei den Katholiken heilige Kirchenlehrer und mittelalterliche Großheilige: Bernhard von Clairvaux, Franziskus, Dominikus, Thomas von Aquin, Norbert von Xanten, Nikolaus von der Flüe, Angela von Foligno,136 Katharina von Siena, Birgitta von Schweden. In der neueren Zeit setze sich diese Reihe fort; hier führt Besold erneut die Liste der gegenreformatorischen Heiligen an.137 Ihr Leben belege die rechte katholische Lehre. Freilich gelangten nur wenige zu »derogleichen perfection und Heyligkeit«.138 || 135 Besold berichtet von »zuvil leicht geglaubten apparitionen und Wunderwercken […] welche von dem Canonisierten / und beraits in des H. Ritters S. Georgen stell / in etlichen Calendern logirtem König in Schweden / außgesprengt / oder von seinem beharrlichen Glück vorhergesagt worden« (ebd., S. 160). 136 1248–1309, Mystikerin im Dritten Orden der Franziskaner. 137 Vgl. Besold: Konversionsgeschichte (Anm. 118), S. 168f. 138 Ebd., S. 171.
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Besold verleugnet seine Herkunft aus der ursprünglich protestantischen Frömmigkeitsbewegung keineswegs, aber er kann sie nicht mit dem gegenwärtigen Luthertum verbinden. Die mangelnde Frömmigkeit der Lutheraner habe schon früh zum Erfolg der Lehre des persönlich frommen Schwenckfeld geführt, der sich im Übrigen, wie Besold selbst, auf Thomas von Kempen und dessen Innerlichkeit berufen habe.139 Ähnliches gelte für Arndt und dessen Wahres Christentum, das sich auf Thomas von Kempen und Tauler stütze. Auch Martin Moller und Johann Gerhard in Jena hätten ihre Wahrheiten aus katholischen Büchern gezogen.140 Der katholische Besold steht offensichtlich immer noch in der Tradition Johann Arndts. Mit dieser Tradition verbindet er nun die katholische Devotion: Gegen die Lutheraner, die nur Predigten, keine Zeremonien kennten,141 betont Besold die Bedeutung der katholischen Kulte und Frömmigkeitsregeln: des Rosenkranzgebets, der Messe, der persönlichen Beichte. Dem in Luthers Tischreden propagierten Familienzwang stellt er die geistliche Bedeutung des Zölibats sowie des monastischen Lebens entgegen.
5.5 Die Universalität der Kirche Besold nimmt die globale Bedeutung des Katholizismus ernst. Er hatte diese Dimensionen der Kirche schon 1623 anhand von Campanellas Monarchia Hispanica mit einer eigenen Abhandlung bedacht (siehe oben Abschnitt 2.3); in den Kapiteln 8 und 9 der Rechtfertigungsschrift wird die Universalität des Katholizismus nun zum apologetischen Argument. Die katholische Religion, stellt Besold fest, sei die universale, die von einem Ende der Welt bis zum andern gepredigt werde. Nur die katholische Kirche feiere in der Messe die Eucharistie als das rechte, unblutige Opfer, das der »Antichrist« abschaffen wolle, das aber bis zur Zeit der Wiederkehr des Herrn währen werde. Er verteidigt die Kolonialmission der Spanier und Portugiesen, die sich gegen den Widerstand der Engländer und Holländer durchsetze, und berichtet von Missions- und Märtyrergeschichten der Jesuiten sowie deren Erfolgen in Asien142 und Amerika. Er kennt die Kritik von Las Casas an den Missionspraktiken in Amerika, hält aber dagegen: Der Bericht von Las Casas entschuldige auch die Menschenopfer und die Menschenfresserei, es ist für ihn ein »urthel gottes […] daß solcher Sünden willen / diese
|| 139 Vgl. ebd., S. 173. 140 Vgl. ebd., S. 175f. 141 Vgl. ebd., S. 177. 142 Vgl. ebd., S. 217.
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Völcker (eben wie vor zeiten / gleicher ursach halb die Cananeer) ohn alles schonen außgetilget worden«.143
5.6 Exegese und Tradition Die Exegese, von der die Kapitel 10 und 11 handeln, war ein Kernstreitpunkt zwischen den Protestanten und den Katholiken. Gegen den Suffizienzanpruch der Heiligen Schrift (»sola Scriptura«) stand die These der Katholiken, nur im Lichte der Tradition könne die Bibel adäquat verstanden werden. Insgesamt zeigt sich Besold bei diesem Thema hoch informiert und reflektiert, zumal seine Kenntnis der Kirchenväter bemerkenswert ist. Seine Argumente sind keineswegs nur eine Reproduktion von Bellarmins Kontroversien, vielmehr argumentiert Besold ganz eigenständig. Als Katholik beginnt er seine Diskussion des Exegeseproblems mit der Darlegung der Legitimität des Traditionsprinzips. Die Kirche sei durch die Gnade Christi unfehlbar, deshalb müsse man der Überlieferung und den Satzungen folgen. Nur wer überzeugt sei, dass die Kirche nicht irren könne, sei sich des Glaubens sicher. Deshalb sei das Schriftprinzip unzureichend, der rechte Glaube sei hingegen die Bedingung des rechten Schriftverständnisses: »Dann die Schrift selbsten zuuerstehen / ist einem einfältigen Mann unmöglich: Dieser oder jener Sect / so ganz widersinnig und stettiges mit einander streiten / zu glauben / ist höchst gefährlich«.144 Glaubenssicherheit könne nur durch stabile Institutionalität erreicht werden. Und da kann sich Besold auf die Kontinuität der kirchlichen Überlieferung von den Kirchenvätern an stützen. Besold ist ein Kenner der historischen Bibelphilologie. Gegen das Schriftprinzip der »Ketzer«,145 das beliebig und daher ungewiss und unzuverlässig sei, und gegen die monopolistische lutherische Exegese führt er auf Seiten der Katholiken als philologische Glanzstücke die Complutenser Polyglotte des spanischen Kardinals Ximenes’ und die sechssprachige Antwerpener Biblia Regia an.146 In Bezug auf das Schriftprinzip vertritt er vier Thesen:
|| 143 Ebd., S. 215. 144 Ebd., S. 228f. 145 Ebd., S. 252–279 (11. Kapitel). Zum Zusammenhang vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philologie und Hermeneutik im Zeitalter der Konfessionalisierung. In: W. S.-B.: Apokalypse und Philologie (Anm. 111), S. 23–78. 146 Vgl. Besold: Konversionsgeschichte (Anm. 118), S. 253.
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Die Ketzer renommieren zu Unrecht mit der Bibel.147 Auch die Arminianer – die neuen Arianer – sowie die Antitrinitarier berufen sich auf die Bibel. Das zeige, wie gefährlich die freie Exegese für den wahren Glauben sei.148 Die Erkenntnis des rechten Sensus historicus sei nur gelehrt möglich. Da die Punktierung im Hebräischen neueren Ursprungs sei, sei auch die hebräische Bibel irrtumsanfällig. Mithin sei die Vulgata als biblischer Bezugstext gerechtfertigt.149 Selbst wenn man sich über den Text der Bibel einig wäre, gäbe es immer noch Differenzen in der Interpretation.150
Zugleich weiß Besold, dass keineswegs alle Loci des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, das die Protestanten mit den Katholiken teilen, biblisch belegt werden können, ebensowenig wie auch weitere gemeinsame Lehren. In der Bibel komme der Engelsfall nicht vor, es gebe keinen Abstieg zur Hölle, keine Fürbitten der Heiligen und kein Opfer für die Toten. Diese liturgischen Praktiken seien allein durch die Tradition legitimierbar. Gegen die Zwietracht in der Exegese und im Gottesdienst, wie sie die Augsburger Konfession, die Konkordienformel und der Heidelberger Katechismus erzeugten, hat er erneut nur eine Medizin: die Stabilität der wahren Kirche in Tradition, Exegese und Riten. Dazu kommt die Prädestination als ein Streitobjekt, das seit der Reformation diskutiert wurde – für Besold ein Moment, das seinen Katholizismus unterstützt. Es sei, schreibt er, unsinnig und inakzeptabel zu glauben, was die Lutheraner und Calvinisten lehren, dass Gott die Unbegnadeten »rectâ zu der Verdammniß« schicke,151 und er fügt ironisch hinzu: selbst wenn sie Luthers Bibel läsen.
|| 147 Vgl. ebd., S. 254. 148 Vgl. ebd., S. 259. 149 Vgl. ebd., S. 261. Besold berichtet von den Kontroversen um die Castellio-Bibel (ebd., S. 263), demonstriert seine große Kenntnis der einzelnen Bibelversionen (Erasmus, Beza, vgl. ebd.), kritisiert im einzelnen Luther, Osiander und Piscator in Herborn und stellt den innerprotestantischen Streit um die beste lateinische Bibelversion dar. 150 Vgl. ebd., S. 267. 151 Vgl. ebd., S. 278.
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5.7 Reformation und Reichsrecht Beim Thema Reformation und Reichsrecht, mit dem Besold seine Argumentation im 12. Kapitel abschließt, kann er seine politische, juristische und kirchengeschichtliche Kompetenz ausspielen. Besold ist bei diesem Thema hoch engagiert. Dieser Part ist explizit gegen die protestantischen politischen Theologen und implizit gegen Andreae geschrieben. Die These ist nicht kompliziert: Lutheraner und Calvinisten erkennen kein Naturrecht an. Das Naturrecht ist aber die Grundlage politisch gerechter Herrschaft, auch bei unterschiedlichen Konfessionen der Untertanen. Die Calvinisten seien wegen der Prädestinationslehre und die Lutheraner wegen der Rechtfertigungslehre außerstande, »ein löbliches blos der Natur gemässes Regiment« einzurichten.152 Aus der Nichtanerkennung des Naturrechts durch die Reformationsparteien folge politisch die Zerstörung der Reichseinheit. Besold verschärft die Argumentation und redet sich geradezu in Rage: Die Lutheraner folgten Mohammed darin, dass sie den Widerstand gegen Rom predigten wie Mohammed den Aufruhr gegen Byzanz. Aus diesem unrechtmäßigen Widerstandsgeist seien die Bauernkriege entstanden, seien die Klöster säkularisiert, das Almosenwesen zerstört und die Kirchengüter verschleudert worden.153 Unter dem Vorwand der Reichsfreiheit hätten die Lutheraner die Österreicher bekämpft und dabei zugleich die deutsche Libertät und den Reichskörper zerstückelt. Sie hätten – und das ist für Besold offensichtlich ein zentrales Argument – den Schweden Herrschaft auf Reichsgebiet eingeräumt.154 Sie planten schließlich, erneut den Mohammedanern ähnlich, die Abschaffung der römi-
|| 152 Vgl. ebd., S. 281. 153 Ebd., S. 284. Etwas später (S. 292) wird Schoppius zitiert (Gaspar Schopp, Grundlagen des Friedens, 1631): Die Requirierung der Klöster sei Gottesraub. Seine Calvinisten habe Friedrich IV., Kurfürst von der Pfalz, zufrieden stellen können, indem »er das Einkommen eins Klosters seiner Gemahlin verehrt / dannhero sie zu dem spilen ein Geltlein / oder Einkommen zu henden hette.« 154 Die Lutheraner und Calvinisten hätten »auch ihre verbotene Uniones, Bindtnus / und genzlichen Abfall / damit zubescheinen angemasset / daß man der Spannischen monnarchi, unnd Oesterreichischen ubel genannten Tyranney / begenen: also die Teutsche Freyheit hadhaben müsse. Worauff dann der sehr enge verstandt / mit dem König / und der chron Schweden gegründet. Ob aber hierdurch deß Römischen Reichs Nutz und frommen / für und an sich selbstn betrachtet worden (welchen man doch / wann gleich Kays: Majestet / sich ihrer höchsten dignitet ganz ohn wirdig gemacht / dannochter alle Ständ nach Gott dem Herrn / zum höchsten verbunden gebliben) hat der betrübte Augenschein / unnd Außgang zuerkennen gegeben« (Besold: Konversionsgeschichte [Anm. 118], S. 285f.).
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schen Kirche.155 Die Protestanten erwiesen sich nämlich als Rechtsbrecher und unterdrückten die Katholiken: Obwohl sie bei ihrem Bündnis mit dem französischen König versprochen hätten, die Katholiken ihren Kult ausüben zu lassen, hielten sie sich nicht an dieses Versprechen. Sie versuchten, den Katholizismus in den evangelischen Territorien auszurotten. Priester und Religiose würden ins Elend gejagt, Klöster und Kirchen beraubt.156 Die Urteile des Reichskammergerichts gegen Calvinisten und Lutheraner würden einfach nicht akzeptiert, das sei ein Rechtsbruch. Die Union der evangelischen Stände im Jahr 1608 sei entstanden, als im böhmisch-ungarischen Aufruhr Versuche, mit den Türken zu koalieren, gescheitert waren; da habe man sich nach Schweden gewandt, nach Mitternacht, »von dannen nach des Propheten Ieremiae vorsagen / alles ubel kommen solle«.157 Nun koaliere man mit den Franzosen, die das Reich ruinieren wollten, und polemisiere ständig gegen den Kaiser.
5.8 Im Hause des Herrn Für Besold sind die protestantische Unfrömmigkeit sowie ihr Reichsverrat die Hauptmomente seiner Konversion. Seine wütende Enttäuschung fasst er abschließend in Kapitel 13 in einer polemischen Aufzählung der Streitpunkte zusammen: 1. Die Protestanten behaupteten, für die Katholiken sei die Bibel nicht gültig – und schwüren stattdessen auf Luthers Wort. 2. Die Katholiken glaubten angeblich, dass das Sterben Jesu nicht zureichend für das Heil sei, und deshalb müsse man Steuern und Ablässe bezahlen. Besold hält dagegen: Die Verbindung von Glaube und Werken sei katholisch. Jesuanische Frömmigkeit finde sich bei Thomas von Aquin ebenso wie in der katholischen Erbauungsliteratur. Die Sakramente seien Hilfe zum rechten Handeln und zur Begnadung. Sündenvergebung gebe es bei Liebesreue und praktischem Handeln – die guten Werke folgten dem nach. 3. Die Katholiken machten angeblich Heilige zu Abgöttern – ein sinnloser Vorwurf.
|| 155 Vgl. ebd., S. 292. 156 Vgl. ebd., S. 293f. 157 Ebd., S. 296.
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4.
Fasten und Zölibat seien Zeichen des Antichristen. Besold qualifiziert das ebenfalls als Unsinn und entgegnet: Auch wenn manche Katholiken nicht fromm seien, so sei doch, wie er dargelegt habe, das katholische Regiment legitim. Die Schönheit der Kirchen sei kein Argument gegen die katholische Pietät: Die Pracht der Kirchen diene nicht der weltlichen Repräsentation, sondern der Ehre Gottes. Die Kirchen seien Abbilder des himmlischen Tempels und steigerten die Frömmigkeit.
Und deshalb bittet Besold abschließend, das ich in dem Hauß des Herrn wohnen möge / mein Leben lang; damit ich schawe die schöne Gottes dienst / so ihme gefallen / das ich auch sein Tempel besuchen könne. Daß er mich verberge in seiner Hütten / zu böser Zeit / unnd decke mich heimblich in seinem Gezellt: so dann nach disem leben / mit den Armben seiner Gnaden auffnemmen / und umfangen thüet.158
Gibt es ein Fazit? Ein Schlussstrich ist kaum möglich. Besold ist ein reichsrechtlich argumentierender Jurist, der die internationale Literatur kennt. Anders als Andreae, der für den Protestantismus die reichsrechtliche Position zugunsten der Schweden aufgibt und sein Luthertum durch pietistische Elitengruppen reformieren will, bleibt Besold Reichspatriot. Diese Orientierung am Reichsrecht verdeutlicht auch, warum Besold konvertierte und Andreae im Dreißigjährigen Krieg die schwedische Position übernahm. Andreaes politisch-evangelischer Utopismus war theokratisch orientiert; seine Überzeugungskraft nahm in den 1620er Jahren ständig ab, und entsprechend schriller wurden Andreaes Texte. Besold war frommer Spiritualist; der Widerwille, den er bei den Tübinger Theologen gegen jede Art von Mystik kennengelernt hatte, wurde zum Ausgangspunkt seiner Konversion. Dass er die protestantischen Theologen, die den schwedischen König gegenüber dem deutschen Kaiser favorisierten, als Verräter an der Reichseinheit anklagte, war ein weiteres Inzitament seines Glaubenswechsels. Am Ende fanden sich die beiden ehemaligen Freunde in den unversöhnlichen konfessionellen Lagern des Dreißigjährigen Krieges wieder. Aber auch dieser Gegensatz wurde schließlich noch vom Krieg gefressen.
|| 158 Vgl. ebd., S. 327.
Eric Achermann
Calculemus! Zum egoistischen Helden im Roman der Frühen Neuzeit Trotz eines über Jahre markant gestiegenen Interesses an Beziehungen zwischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte findet die Beziehung der Mathematik zu anderen Disziplinen, die Physik einmal ausgenommen, wenig Beachtung. Dies mag überraschen, wird doch das Weltbild der Neuzeit nicht selten als das Resultat einer Mechanisierung dargestellt, die ohne eine grundlegende Mathematisierung nicht möglich gewesen wäre. Halten wir diesen Befund, wie treffend und erschöpfend er auch immer sein mag, neben einen anderen, dass nämlich ein jegliches Erzählen sich immer und notwendig im Zeichen der Kontingenz entwickle, die zu kontrollieren oder zu exponieren es sich anschicke, so kann vermutet werden, dass die genannte Mathematisierung – quasi als überdeutlich ausgeprägter Wille zur Kontingenzbewältigung – einen zentralen Orientierungspunkt für die Herausbildung neuzeitlicher Literatur darstellen müsste. Vorerst bleibt es jedoch bei der Vermutung. Eine nur schwer durchschaubare Unbestimmtheit der Prämisse steht der Gewissheit im Wege: Falls Kontingenz sowie die Strategien, dieser zu begegnen, ›per se‹ und mit analytischer Notwendigkeit das Erzählen konstituieren, dann stellt sich die Frage, ob diese und jene historischer Veränderungen überhaupt fähig sind, und falls sie es sind, auf welche Weise und bis zu welchem Grade. ›Erzählen‹ bedeutet nun einmal, Kohärenz herzustellen, und wo diese nicht hergestellt wird, sprechen wir wohl kaum von ›Erzählen‹. Erst wenn gezeigt werden kann, dass die Kohärenz selbst und selbst die Kohärenz eine historische Variable darstellt, kann diese sowie die Mittel, sie herzustellen, »in geschichtliches Sinnvertrauen eingelassen« werden.1 Von hier aus bleibt immer noch ein großer Schritt zu tun oder ein steiler Weg zu erklimmen, um literarische Texte und ihre narrativen Muster zu Modellen der Kultur zu erklären, von welchen sich die Poetiken dieser Kultur so stark angesprochen fühlen, dass sie – in bald unüberschaubarer Zahl – Revolutionen und Resolutionen kontingenter Herr-
|| 1 Rainer Warning: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–191, hier S. 180.
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schaftszeiten auf alle nur möglichen Werke, Epochen und »Kulturräume«2 datieren. Die Forschung bedarf dieser ›turnusartig‹ angeboten Tiefengrammatiken wohl kaum, die mit wenigen Sätzen ganze Jahrhunderte erschlagen. Sorge und Bedacht sollten vielmehr Geschichte und Geschichten davor bewahren, rückstandslos in einfachen Direktiven aufzugehen. Wie eine solche Geschichte auszusehen hat, demonstriert Friedrich Vollhardts 2001 erschienene magistrale Untersuchung Selbstliebe und Geselligkeit, welche die anthropologischen, naturrechtlichen und moraltheologischen Voraussetzungen des Verhältnisses von Einzelnem und Gesellschaft aus wissenssoziologischer Perspektive untersucht und ihre Bedeutung für die literarische Produktion aufzeigt. Im Unterschied, nicht aber im Widerspruch zu dieser Darstellung versuchen die folgenden Überlegungen dieses Verhältnis auf die mathematische Bedeutung von ›Kalkül‹ hin zu befragen. Sie versuchen ansatzweise zu skizzieren, inwiefern die Geschichte der Mathematik Orientierungspunkte für die Bewältigung von Kontingenz liefert, um so die Entwicklung der Wirklichkeitsdarstellung in frühneuzeitlichen Romanen etwas schärfer in den Blick zu bekommen.
1 Vom Verlust der Ordnung Was den modernen Roman, seine Spezifik, seine Entstehung und seine Typologie betrifft, lassen sich interioristische und exterioristische Erklärungsansätze unterscheiden. Erstere sehen bereits in der Antike eine beschränkte Anzahl von Erzählmodellen ausgeprägt. Hierunter gehören beispielsweise Bachtins überraschend populäre3 Ausführungen zur Dialogizität (Das Wort im Roman, 1934/35) und zum Chronotopos (Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, 1937/38) sowie Lugowskis Die Form der Individualität im Roman (1932) und Wirk-
|| 2 Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Ralf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München 1990, S. 313, sowie ders.: Über die Semiosphäre. Übers. von Wolfgang Eismann und Roland Posner. In: Zeitschrift für Semiotik 12:4 (1993), S. 287–305. 3 Bachtin bedient sich stillschweigend älterer, klassisch-philologischer Untersuchungen; hierauf sowie auf die Hauptquelle, nämlich Erwin Rohdes Der griechische Roman (1876), verweist Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 6.
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lichkeit und Dichtung (1936).4 Beide Autoren vertreten die Ansicht, dass die neuzeitliche Romanproduktion im Wesentlichen als historische Ausprägung antiker Typen zu verstehen sei, welche zwischen hellenistischer und römischer Produktion eine binäre, fortwirkende Opposition bilde: durchmotiviert, idealisierend, verschlungen vs. episodisch, realistisch, linear. Mögen solche und ähnliche Ansichten auch noch so »outdated« sein,5 so scheinen sie trotz oder gerade wegen der Simplizität ihrer Modellierungen nichts an Attraktivität eingebüßt zu haben. Zu lange schon greift auch die ideengeschichtliche, exterioristische Forschung auf solche Modelle zurück und deutet sie im Licht historischer Veränderungen, die umso mehr einleuchten, je weiter sie sich von ihrem Gegenstand entfernen: Die barocke Romanproduktion bestehe so zum einen aus teleologisch ausgerichteten und idealisierenden Romanen, deren Ziel »wie im Mittelalter« in der »Rückführung« der dargestellten »Vielheit zur alles umfassenden Einheit« liege,6 zum anderen aus Romanen, welche der geschilderten Wirklichkeit empirisch begegneten, deren Protagonisten sich pragmatisch entschieden und alles in allem realistisch gebärdeten, kurz: Die »Schöpfungen des neuen Geistes« kämpfen notwendig gegen überkommene Ordnungsvorstellungen an. Dort, wo sie sich zu lösen vermögen, atmen sie die Luft der Moderne, die in der Renaissance zu wehen begann und nach längerer Windstille erst mit der Aufklärung erneut etwas Frische in die stickigen Kammern brachte. Dieser neue Geist aber sei derjenige des handelnden Menschen, der dem Menschenbild eines Machiavelli viel verdanke.7 Wie unzählige Untersuchungen belegen, lässt sich dieser einfache Dualismus nicht halten. Praktisch alle Romane, die mit Sorgfalt untersucht wurden, erweisen sich als ›Mischformen‹, und zwar nicht nur von besagten Kriterien, sondern auch all derjenigen Gattungsbezeichnungen, die in den zeitgenössischen Poetiken8 und programmatischen Aussagen der Romane im Angebot
|| 4 Einen Überblick zu antiken Romantypen und frühneuzeitlichem Roman liefern Gelzer: Konversation (Anm. 3), S. 6–20, sowie Gerhard Penzkofer: L’art du mensonge. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998, S. 107–128. 5 So zu Bachtin Bryan P. Reardon: The Form of Greek Romance. Princeton 1991, S. 177. 6 Andreas Kraus: Grundzüge barocker Geschichtsschreibung. In: Historisches Jahrbuch 88 (1968), S. 54–77, hier S. 71. 7 Ebd., S. 71f. 8 Allen voran in Daniel Huets Traité de l’origine des romans (1670); die Abhandlung findet sich nicht nur in Eberhard Werner Happels Roman Der Insulanische Mandorell (1682), sondern auch in Albrecht Christian Rotths Poetik Vollständige Deutsche Poesie (1688). Eine Untersuchung zu Huets einflussreichem anti-cartesianischen, anti-mathematischen Fideismus und dieser Abhandlung steht meines Wissens noch aus.
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sind. Dass hierbei auf antike Vorbilder Bezug genommen wird, ist selbstverständlich für die humanistisch gestimmten Gelehrten sowie für diejenigen, die auf Gelehrsamkeit Anspruch erheben. Doch kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass diese Bezugnahmen auf die erwähnten Nenner zu bringen sind.9 Wesentlicher als die typologische Einholung der Geschichte oder das generische Bewusstsein historischer Akteure ist ein ganz anderer Punkt, der mit der Antike nur insofern etwas zu tun hat, als er nicht antik ist: das Verhältnis von Zeitlichkeit und transzendenter Ordnung. Die christlichen Allmachtstheologien und die daraus resultierenden Providenzvorstellungen implizieren ein doppeltes Wissen um diese Ordnung als Heilsgeschichte, nämlich menschliche Einsicht und göttliche Allwissenheit. Im Zuge der Konfessionalisierung der Gnadentheologie und der Rechtfertigungslehre stellt dieses Verhältnis die wohl wesentlichste Sorge dar, die den Menschen der Frühen Neuzeit umtreibt, geht es doch um das Seelenheil eines jeden Einzelnen. Ihr kann sich niemand entziehen, werden doch alle Theorien zur menschlichen Praxis sowie alle Darstellungen menschlicher Handlungen ›nolens volens‹ einem öffentlichen Urteil unterzogen. Das Erzählen von Geschichte und Geschichten birgt Gefahren, deren theologische Konsequenzen nicht unkommentiert bleiben. Der ganze historische Wandel kreist so nicht einzig um die Herausbildung eines »sensorischen Habitus«10 oder um die »Rehabilitation der Sinnlichkeit«,11 die sich ergeben aus der Hintansetzung vorgegebener epistemischer Strukturen und aus der aufmerksamen Zuwendung zu einer vormals als unstrukturiert erachteten Sphäre. Die Abwendung des Blickes von einer transzendenten Ord|| 9 Dass nicht zuletzt die so einflussreichen Aithiopika Heliodors auf generisch höchst heterogenes Material zurückgreifen, hat die Forschung immer wieder nachgewiesen; vgl. Penzkofer: L’art du mensonge (Anm. 4), S. 108f.; Massimo Fusillo: Naissance du roman. Veränderte Ausg. aus dem Ital. ins Frz. übers. von Marielle Abrioux. Paris 1989, S. 17–120. – Am Rande sei angemerkt, dass die Handlungstheorie, wie sie Aristoteles in seiner Poetik entwickelt, in der Frühen Neuzeit zudem mit der tripartiten Stillehre konkurriert, die im Mittelalter ihren anschaulichen Ausdruck in der Rota Virgilii gefunden hatte. Der ebenfalls recht zeittypische poetologische Synkretismus äußert sich darin, dass gemeinhin nicht nur von dem heroisch-galanten Roman in der Nachfolge hellenistischer Romane (Heliodor, Chariton, Xenophon und Achilleus Tatios) sowie vom Schelmenroman in der Nachfolge der Römer die Rede ist (Petronius, Lukian und Apuleius), sondern von drei Typen. In der Mitte zwischen Hohem und Niederem Roman nistet der beliebte Pastoralroman, der dem Vorbild des Longus (Daphnis und Chloë) zugeschlagen wird. 10 Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Stuttgart 1974, S. 35. 11 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. 2. Aufl. München 1986, S. 170.
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nung auf Welterfahrung bleibt als Verzicht, wie relativ dieser auch immer sein mag, der eigenen Haltung als solcher moralisch verpflichtet. Empirie ist nicht etwa schlechthinniger Erweis von Säkularisierung oder Moderne, sondern ihrerseits theologisch besetzt, indem sie Antworten auf die Frage nach der Möglichkeit moralischen Handelns aus einer notwendig beschränkten menschlichen Sicht liefern kann. Hierbei erscheint es den Zeitgenossen geradezu unerlässlich, nicht nur die metaphysische, sondern auch die physische und die moralische Notwendigkeit12 zu fundieren, und zwar theoretisch durch experimentelle Gewinnung von Beobachtungen und praktisch durch Sammlung lebensweltlicher Erfahrungen. In diesem Prozess stellt die Mathematik mit ihrem konsequenten Verzicht auf ›Sensorik‹ ein schwer zu erfassendes, nach gängiger Ansicht jedoch bedeutendes Instrument, gar Fundament, dar. Sicher, wer sich für Evolutionen oder gar Revolutionen interessiert, der wird auf die dynamischen Momente stärker Acht geben als auf Beharrung. Ob die zitierte Aufwertung der Welterfahrung aber mit einer Aufwertung der Kontingenz einhergeht oder ob diese Aufwertung zur Folge hat, dass ipso facto das vormalig Kontingente aufhört, kontingent zu sein, diese Frage kann nur beantworten, wer Ordnungsvorstellungen in ihrer Pluralität und Konkurrenz in den Blick zu nehmen versucht, anstatt einige religions-, politik- und wissenschaftshistorische Stereotype vor sich herzutreiben.
2 ›Calculus‹ und Kalkül Die Mathematik des 17. Jahrhunderts kennt die Entstehung neuer Teilgebiete, deren Fragestellungen und Lösungen mit den klassischen Idealen antiker Mathematik kollidieren: Analysis und Stochastik. Jene entspricht der Operation, welche die Zeitgenossen ›calculus‹, ›der Kalkül‹ also, nennen, während wir im zweiten Fall gerne von ›das Kalkül‹ sprechen. Deutlich tritt die Novität dieser Fragestellungen im Streit um das mathematisch Zulässige sowie die Zulässigkeit der Mathematik hervor, der sich einerseits an der naturwissenschaftlichen Erfassung der Dynamik sowie andererseits an einer politisch-ökonomischen Berechnung von Zukunftserwartung entzündet. Zwar ist die Proportionierung von Zeit, Strecke und Gewicht sowie die Formulierung gewisser Modi der Zukunfts-
|| 12 Zu diesen Begriffen vgl. Sven Knebel: Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in der Jesuitenscholastik (1550–1700). Hamburg 2000, S. 127– 132.
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erwartung weder der Antike noch dem Mittelalter fremd, doch trägt erst der konsequente Ausbau der Algebra dazu bei, dass arithmetische Zahlen und geometrische Figuren durch rein symbolische Zeichen abgelöst und damit Operationen möglich werden, die ungeahnte Gleichungen ohne Rekurs auf die intuitive Erfassung von Mengen oder geometrischen Größen ermöglichen.13 Die Untersuchung variabler Größen in funktionaler Abhängigkeit, dies ist das markante Novum, das die Mathematik des 17. Jahrhunderts von der elementaren Mathematik der Antike unterscheidet. Die Analysis feiert auf der Grundlage dieser zur Wissenschaft erhobenen τέχναι bekanntlich Erfolge, die den Bereich des Inkommensurablen betreffen, das heißt geometrischer Größenverhältnisse, die als durch diskrete Zahlenwerte unbestimmbar galten; die Stochastik hingegen widmet sich dem Imprädikablen, das heißt der prozentualen oder statistischen Erfassung künftiger Ereignisse, deren Eintreten ungewiss ist. Die neue Mathematik bringt also Größen ins Kalkül, die dem antiken Mathematikverständnis nicht nur fremd, sondern entgegengesetzt sind.14 Die Kontinua von Raum und Zeit rücken in neuartige Verhältnisse, indem sie ausgehend von unterschiedlichen Vorstellungen des Infiniten auf diskrete Quantitäten hin berechnet werden; was hier berechnet wird, erscheint aus Sicht der klassischen Philosophie als veränderlich und ungewiss – es entzieht sich wissenschaftlicher Behandlung, weil es keine ἐπιστήμη, keine ›eigentliche‹ Wissenschaft vom Veränderlichen und Ungewissen geben kann.15 Beide Neuerungen versuchen, oder sind versucht, das ›Erreichen‹ einer finiten Quantität zeitlich zu interpretieren, das heißt durch die Fiktion einer idealerweise infiniten oder unbegrenzten Progression an ein finites Ziel zu gelangen, an eine Grenze.16 Stärker als heute implizieren Calculus und Kalkül so für die || 13 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert. Berlin/New York 1991, zusammenfassend S. 372–387. 14 Das heißt, einem Mathematikverständnis, das den Namen Pythagoras, Platon, Aristoteles und Euklid verpflichtet ist und das sich in Proklus’ Euklid-Kommentar auch während der Renaissance höchster Beliebtheit erfreut. Ob nun Eudoxos oder Archimedes die Analysis ›in toto‹ oder zumindest ansatzweise entwickelt haben, steht hier nicht zur Debatte; vgl. hierzu Carl B. Boyer: The History of the Calculus. A Critical and Historical Discussion of the Derivative and the Integral. New York 1949, S. 48–59. 15 Zu den zentralen Stellen vgl. Christof Rapp: epistêmê. In: Christoph Horn/C. R. (Hg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. 2. Aufl. München 2008, S. 146–150. 16 Andrei Nikolajewitsch Kolmogorov: Mathematics. In: Michiel Hazewinkel (Hg.): Encyclopaedia of Mathematics. Bd. 6. Dordrecht 1995, S. 148–151, hier S. 149: »With the 17th century an essentially new period in the development of mathematics began. The circle of quantitative relations and spatial forms of mathematics studied now was no longer exhausted by numbers, quantities and geometric figures. On this basis there resulted the explicit introduction into
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Mathematiker der Frühen Neuzeit den Faktor Zeit. Diese wird entweder als Kontinuum oder aber als wiederholtes Ereignis in die Ordnung geometrischer, dimensionaler Graphen bzw. arithmetischer, linearer Folgen gebracht.17 Die doppelte Bedeutung von ›tempus‹ als ›Zeit‹ (wie lange?) und ›Mal‹ (wie oft?), wie wir sie auch heute noch aus dem englischen ›time‹ kennen, bringt diese schwierige Beziehung von messbarem Zeitkontinuum und zählbarer Ereignisfolge zum Ausdruck. Im ersten Fall wird ein räumliches Kontinuum durch kontinuierliche, ins Unendliche fortgesetzte Annäherungen ›erschöpft‹, im zweiten Fall das diskrete Eintreten bzw. Nicht-Eintreten von Ereignissen als das ideale Ergebnis einer unendlich fortsetzbaren Serie18 durch Brüche oder Prozente erfasst.
3 Epikureische Mathematik Die philosophische Sektenlandschaft des 16. und 17. Jahrhunderts ist von einer apologetischen Perhorreszierung schwadronierender Epikureer geprägt, die mit zunehmender Truppenstärke und unter der Leitung solcher Rädelsführer wie Machiavelli, Hobbes und Spinoza die fruchtbaren Felder einer wohlgeordneten und wohlmeinenden Schöpfung zerstören. Von Laktanz, Hieronymus und Augustinus über Johann von Salisbury zu Luther und Calvin, von Fénelon und Malebranche bis Polignac und Vico verbinden sich die topischen Angriffe gegen die Flanke eines epikureisch-lukianischen Hedonismus mit denjenigen gegen
|| mathematics of the ideas of motions and change. Already algebra contained the idea of dependence between variables in a latent form (the value of a sum depends on the values of the terms, etc.). However, in order to include quantitative relations in the process of variation it was necessary that the very dependence between the variables be made an independent object of study. […] The study of variable quantities and functional dependence leads to the fundamental ideas of mathematical analysis, introducing explicitly into mathematics the idea of the infinite, the notions of a limit, a derivative, a differential, and an integral. Infinitesimal analysis was born […].« 17 Für Barrow, mehr noch für Newton ist Zeit eine unabhängige Variable, die für die ›Bewegung‹ hin zu einem Limes steht; zur kinematischen Interpretation geometrischer Kurven durch Newtons ›Fluxion‹ vgl. Philip Kitcher: Fluxions, Limits, and Infinite Littlenesse. A Study of Newton’s Presentation of the Calculus. In: Isis 64:1 (1973), S. 33–49, hier vor allem S. 37–41. 18 So schon Girolamo Cardano: De ludo Aleae [posth.], XV. In: G. C.: Opera omnia. Hg. von Charles Spon. Bd. 1. Lyon 1663, S. 261: »In einer unendlichen Zahl an Würfen [von Würfeln] aber ist es annähernd notwendig, dass es sich ereigne, da die Größe des Kreislaufs die Länge der Zeit ist, die alle Formen aufweist.« Als ›Kreislauf‹ (circuitus) bezeichnet Cardano das Auftreten sämtlicher Augenwerte des Würfels.
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einen naturalistischen Materialismus, der die an sich verwerfliche Moral durch Vorstellungen vom leeren Raum, von blind fallenden Atomen und körperlichen Seelen begründet.19 Die Geschichte wäre nicht Geschichte, hätten diese Apologeten des wahren Christentums nicht ihre Gegner. Die Rehabilitation des Epikureismus zeichnet sich zunächst dadurch aus,20 dass sie Epikurs Hedonismus nicht als gotteslästerlich bewertet, sondern ihn durch Seelenfrieden und ein ›Gutes Leben‹ bemisst. Seit der Renaissance segelt Epikur so auf Kurs einer ›Sokratischen Wende‹, die – Ciceros berühmtem Diktum folgend21 – nun erneut die Philosophie vom Himmel auf die Erde zu bringen hat. Dem Hier und Jetzt wird der Vorrang über spekulative Delirien und eitle Divinatorik eingeräumt,22 den Anfängen die Vorherrschaft über die Ziele. So zumindest äußert sich Hedonius im Eingang zum Dialog Epicureus, der in späten Ausgaben (seit 1533) den Schluss von Erasmus’ Colloquia bildet: »Doch wie viel besser wäre es, nach dem Anfang des Guten zu fragen als nach dessen Ziel?«23 Der Christianisierung Epikurs durch Valla und Erasmus kann – bei aller Verschiedenheit der hier vertretenen ›Hedone‹-Vorstellungen24 – vorgeworfen werden, dass die Kritik an den Finalursachen die Ordnung um ihre teleologische Dimension beraube, d. h. aus der Heilsgeschichte Geschichte mache. Und es wird ihr auch vorgeworfen: Gegen die epikureischen ebenso wie gegen die
|| 19 Zur Rezeptionsgeschichte des Epikureismus, dessen Verurteilung durch die Kirchenväter und die mittalterlichen Theologen, seiner Aufwertung in der Renaissance und im 17. Jahrhundert vgl. Howard Jones: The Epicurean Tradition. London/New York 1989. 20 Don Cameron Allen: The Rehabilitation of Epicurus and His Theory of Pleasure in the Early Renaissance. In: Studies in Philology 41:1 (1944), S. 1–15; Eugenio Garin: Richerche sull’epicureismo dell Quattrocento. In: E. G.: La cultura filosofica del rinascimento italiano. Ricerche e documenti. Mailand 1994, S. 72–92. 21 Die Wendung geht zurück auf Cicero: Tusculanae disputationes, V,10,11. 22 Erasmus von Rotterdam: Epicureus. In: E. v. R.: Ausgewählte Schriften. Hg. und übers. von Werner Welzig. Bd. 6. Colloquia familiaria. Darmstadt 1967, S. 554; es spricht Hedonius [übers. von mir]: »Der Irrtum ist fruchtbar, während die Wahrheit einfach ist. Weil sie Haupt und Quelle aller Händel [negocia] verkennen, rätseln [divinant] alle über Künftiges und ergehen sich in Wahnvorstellungen [delirant].« – Zu Erasmus’ Epikur-Bild vgl. Robert Bultot: Érasme, Épicure et le ›de contemptu mundi‹. In: Scrinium Erasmianum. Bd. 2. Hg. von Joseph Coppens. Leiden 1969, S. 205–238. 23 Erasmus: Epicureus (Anm. 22), S. 554: »At quanto satius esset quaerere bonorum initia quam fines?« 24 Vgl. zusammenfassend Eckhard Keßler: Einleitung zu: Lorenzo Valla: Von der Lust oder Vom wahren Guten. Hg. und übers. von Peter Michael Schenkel. München 2004, S. LXXVII– LXXXI.
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neo-stoizistischen Entwürfe einer ›mundänen‹ Klugheitslehre fordern die angeführten christlichen Apologeten,25 den Wandel des Lebens wieder fest im Himmel zu verankern. Wer nämlich situativen Pragmatismus zum eigentlichen Gegenstand der Morallehre erhebt, der entkoppelt seine prudentistischen Handlungsmaximen von der ›sapientia‹26 und bestellt dem topisch inkriminierten ›Politicus‹27 in all seinen Erscheinungsformen das Feld. Und er entkoppelt, indem er die politische Entscheidung aus einer transzendenten, hierarchisierten geometrischen Ordnung ent- und einem Probabilismus überlässt, der linear verfährt. Bereits in der Antike kennt sowohl das pythagoreisch-platonische als auch das aristotelische Mathematisieren eine Gegnerschaft, die wir in unserem Bemühen, die göttliche Geometrie und die häufig nicht minder würdigen Zahlenspekulationen der Alten richtig zu erfassen, oftmals übergehen; diese Gegner sind nicht etwa Sophisten, Handwerker oder gar Dichter, sondern auf Sinnesdaten bauende Naturalisten, kurz: Epikureer.28 Aus wissenschaftshistorischer Perspektive steht ›epikureisch‹ so für ein Denken, das nicht nur an die Stelle der Ordnung den Zufall und an die Stelle der Soziabilität die Selbsterhaltung setzt, sondern auch an die Stelle des Kontinuums das Diskrete.29 Den Zusammenhang zwischen Ontologie, Politik und Mathematik stiftet dabei nicht die Vorstellung einer alles beherrschenden, Proportionalität erfordernden und Proportionalität erhaltenden Harmonie, deren gleichzeitig ästhetische, moralische und episte-
|| 25 Zu den Anfeindungen vgl. Peter Bietenholz: Felicitas (eudaimonia) ou les promenades d’Érasme dans le jardin d’Épicure. In: Renaissance and Reformation 30:1 (2007), S. 37–86, insbesondere S. 65–67. 26 So bereits Augustinus: Comm. in Psalm. 73,25, in: PL 36, Sp. 944 [übers. von mir]: »Wer sagt: ›Wenn ich tot bin, dann bin ich nichts mehr‹, der hat das von Büchern gelernt, der hat das von Epikur gelernt, diesem – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – irrsinnigen Philosophen, oder besser: diesem Liebhaber nicht der Weisheit [sapientiae], sondern der Eitelkeit [vanitatis], dem sogar die Philosophen den Namen ›Schwein‹ verliehen haben. Und sie haben ihn deshalb ›Schwein‹ genannt, weil er die körperliche Lust als das höchste Gut bezeichnet und sich selbst im Dreck des Fleisches gewälzt hat.« 27 Vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 26. 28 Vgl. Benjamin Farrington: Science and Politics in the Ancient World. 3. Aufl. London 1965, S. 135–139. 29 Vgl. hierzu die grundlegende Untersuchung von Wilhelm Hasbach: Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von François Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie. In: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen 10:2 (1890), S. 1–176, hier vor allem S. 8f.
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mische Würde dem Platoniker und (platonisierenden) Aristoteliker außer Zweifel steht, sondern eine elementare Diskretheit, die negativ aus dem Verzicht auf eine übergeordnete Sinngebung resultiert. Das Rechnen mit Blick auf proportionale Vollkommenheiten weicht einem Berechnen, das addiert und subtrahiert. Mathematisch sowie physikalisch grundlegend erscheint hierbei die Frage nach dem εἰς ἂπειρον τομή, der Teilbarkeit ins Unendliche, deren Aporien uns aus den Antinomien Zenons von Elea auch heute noch bekannt und geläufig sind – allen voran dem Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte sowie dem fliegenden Pfeil. Egal, welche Intentionen wir Zenon unterstellen,30 so werden seine Paradoxa bereits in der Antike, mehr noch im Zuge der Entwicklung des Infinitesimalkalküls,31 als Orte für grundlegende Erwähnungen genutzt, die der Basis des Geometrismus gelten, das heißt der prinzipiellen Vorstellung reiner Kontinuität. Aus dem Eleaten Zenon wird unter der Hand ein Anhänger Epikurs, dem – namentlich in seinem Brief an Herodot – das Sich-Verlieren im Unendlichen gleich dem »leeren Wortgeklinge« (κενοὺς φθόγγους) gilt.32 ›Diskretion‹ ist Erfahrung als UnterscheidenKönnen und eben nicht geometrische Intuition, die für die Anhänger Epikurs zu einer bloß spekulativen Deduktion verleite. Mag Epikurs und der Epikureer Haltung zur Mathematik auch alles andere als leicht zu bestimmen sein,33 so stellt sie für deren Gegner die Anti-Mathematik schlechthin dar. Der epikureische Atomismus zerstöre die Geometrie, da er die Vorstellung von reinen Kontinua ›ad absurdum‹ führe, »denn keiner unter den Naturforschern [physici] darf lehren, dass es ein Kleinstes gibt; Epikur hätte dies niemals geglaubt, hätte er sich Geometrie […] lehren lassen, statt auch diese zu verlernen.«34 Innerhalb der mechanistischen Naturphilosophie
|| 30 Vgl. Bartel L. van der Waerden: Zenon und die Grundlagenkrise der griechischen Mathematik. In: Mathematische Annalen 117 (1943), S. 141–161, hier S. 142. Kritisch zu dieser ›Grundlagenkrise‹ Árpád Szabó: Anfänge der griechischen Mathematik. Wien/München 1969, S. 119– 127. 31 Zum ›Zenonismus‹ in der Frühen Neuzeit vgl. die luziden Ausführungen von Knebel: Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit (Anm. 12), S. 179–185. 32 Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, X,37. Übers. von Otto Appelt. 3. Aufl. überarbeitet und mit neuem Vorwort von Günter Zekl. Hamburg 1990, S. 240. 33 Zum epikureischen Mathematikverständnis vgl. Jürgen Mau: Was There a Special Epicurean Mathematics? In: Phronesis, Suppl. I (1973), S. 421–430, hier S. 430; vor allem aber Thomas Bénatouïl: Les critiques épicuriennes de la géométrie. In: Pierre Édouard Bour/Manuel Rebuschi/Laurent Rollet (Hg.): Construction. London 2010, S. 151–162. 34 Cicero: De finibus bonorum et malorum, I,6 (20).
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des 17. Jahrhunderts jedoch bildet diese Haltung ein eigentliches Programm.35 Es fordert, die Naturphilosophie vor einer geometrischen Metaphysik und deren spekulativen Einheitsvorstellungen zu bewahren. So weiß der bedeutendste Neo-Epikureer des 17. Jahrhunderts, Pierre Gassendi, sehr genau über die tradierten antiken und scholastischen Kontroversen Bescheid, die den Zusammenhang von Kontinuum, Dimension und stofflicher Realität ins Zentrum naturphilosophischer Spekulation gerückt hatten: Die Geometer haben zuerst einmal Dimensionen von solcher Beschaffenheit angenommen, dass der Punkt, der ganz ohne Teile ist, in seinem Lauf die Linie formte, d. h. eine Länge ohne Breite, die Linie die Fläche, d. h. eine Breite ohne Tiefe, und schließlich den Körper (nicht etwa einen physischen, sondern einen mathematischen), der Tiefe hat. […] Deshalb bemühen sie sich hauptsächlich, dieses Feld, in dem sie so viele wunderbare und bequeme Dinge finden, frei zu halten und keine Materie unterzumischen; aus diesem Grund tadelte Platon Eudoxus, Archytas, Menächmus und all die andern, welche die geometrischen Spekulationen auf die sinnlichen Dinge zurückführten, »da dies«, wie er sagte, »die Güte der Geometrie korrumpiere«.
|| 35 Zusammenfassend Richard S. Westfall: The Construction of Modern Science. Mechanisms and Mechanics. Cambridge 1977, S. 39f.: »Descartes argued that matter is infinitely divisible; Gassendi of course maintained that there are ultimate units which are never divided. The very word ›atom‹ derives from the Greek word for indivisible. Descartes’ universe was a plenum; Gassendi in contrast argued for the existence of voids, spaces empty of all matter. Both issues are important philosophic questions, but the disagreements of the two men pale beside their large areas of agreement. They asserted alike that physical nature is composed of qualitatively neutral matter, and that all the phenomena of nature are produced by particles of matter in motion. || Far more important for later science was another difference between Descartes and Gassendi which was logically connected with the question of the plenum. Descartes’ insistence that nature is a plenum was the necessary consequence of his identification of matter with extension, and the identification of matter with extension in turn made possible the utilization of geometric reasoning in science. Because geometric space is equivalent to matter, natural science might hope to attain the same rigor in its demonstrations that geometry was agreed to have. Indeed his method, four rules to govern investigations, was little more than a restatement of the principles of geometric demonstration. Rebel against the prevailing tradition though he was, Descartes accepted an ideal of science that went back to Aristotle. It held that the name ›science‹ applies, not to conjectures, not to probable explanations, but solely to necessary demonstrations rigorously deduced from necessary principles. If such a degree of certainty could not be attained in the details of causal explanations, where it was possible to imagine more than one satisfactory mechanism, at least the general principles were beyond doubt – the rigorous separation of the corporeal from the spiritual, and the consequent necessity of mechanical causation.«
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Kurz, es sind die Mathematiker, die in ihrem Reich der Abstraktionen unteilbare Größen annehmen, ohne Teile, ohne Länge, noch Breite, noch Tiefe, noch dieser Teile Multiplikation und Division, die beide nie zu einem Ende kommen; es sind, sage ich, die Mathematiker und nicht die Physiker, denen es nicht erlaubt ist, aus den Grenzen der Materie herauszutreten und solche Abstraktionen vorzunehmen; denn wir kümmern uns nur um sinnlich wahrnehmbare Gegenstände, die wirklich in der Natur sind, und wenn wir gezwungen sind zu den letzten Teilen vorzustoßen, so erachten wir diese Teile als physische Punkte, d. h. als kleine Körper, die ihre Dimensionen, ihre Ausdehnung und ihre Teile haben, auch wenn letztere unteilbar sind, weil die Natur bei der Auflösung der Körper letztlich an einem Etwas innehält und nicht bis ins Unendliche geht.36
Das naheliegende Verbot, als Physiker aus den Grenzen der Materie herauszutreten, geht einher mit dem Verbot, als Geometer die Welt regulieren zu wollen.37 Die anti-geometrische Grundausrichtung der epikureischen und neo-epikureischen Erkenntnislehre verwirft jedoch die Mathematik nicht ›in toto‹. Sie erkennt in ihr vielmehr ein approximatives Instrument übermäßiger Genauigkeit zur aposteriorischen Erfassung experimentell gewonnener Daten, mehr noch ein bequemes Mittel zur Erfassung von Quantitäten, das eine gefährliche, jedoch unerlässliche Abstraktionsleistung des Geistes sei. Ganz wie im forcierten Empirismus der Briten ist die Summierung »nach Zahl, Gewicht und Maß« (Weish 11,21) wirklicher, das heißt hier: diskreter Eigenschaften von Gegenständen möglich und nötig.38 Die ›De-Habilitation‹ der Mathematik wird so zu einem empiristischen Gemeinplatz, dem wir von Bacon über das Programm der Royal
|| 36 François Bernier: Abregé de la philosophie de Gassendi. Bd. 1. Lyon 1678, S. 156–158 [übers. von mir]. Der Verweis auf Platons Urteil geht zurück auf Plutarch: Quaestiones convivales 8,2,2, 718d-f. 37 Nachdem Gassendi auf den praktischen Nutzen der Mathematik (Archimedes) verwiesen hat, stellt er deren Leistungsfähigkeit bei der Erörterung ontologischer Fragen, namentlich der Indivisibilität, in Frage; er schließt [übers. von mir]: »In diesem Sinne und mit dieser Absicht aber sage ich dies, damit wir verstehen, dass es nicht erlaubt ist, was auch immer die Geometer abstrakt beweisen, ungebrochen in der Physik fortzusetzen.« Pierre Gassendi: Syntagmatis philosophici. Pars secunda (Physica), I,3,5. In: P. G.: Opera omnia. Bd. 1. Lyon 1658, S. 265. 38 Exemplarisch Petty, selbst eines der wichtigsten Mitglieder der Royal Society, der seine Gefährten im Jahr 1683 ganz im Sinne Bacons anhält, »that no word might be used but what marks either number, weight, or measure« (Thomas Birch: The History of the Royal Society of London. Bd. 4. London 1757, S. 193). Wie aus dem Zusammenhang und aus Pettys Einleitung zu seiner Political Arithmetick hervorgeht, verwirft er damit proportionale Bestimmungen (»comparative and superlative words«); vgl. William Petty: Political Arithmetick (1690). In: W. P.: The Economic Writings. Hg. von C. H. Hull. Cambridge 1899, S. 233–313, hier S. 244.
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Society bis hin zu d’Alemberts Discours préliminaire39 begegnen. Sie bildet eine dezidierte Gegenposition zum cartesianischen Metaphysiker und dessen ›ésprit géométrique‹.
4 Methode Welche Kluft zwischen einer axiomatischen Mathematik als einzig begründetem Beweisverfahren und einem bequemen Instrument zur Erfassung der Wirklichkeit liegt, lässt sich anhand von Hobbes’ berühmter Reduktion des logischen Schließens auf einfachste Rechenoperationen veranschaulichen: Unter ›Schließen‹ [ratiocinatio] aber verstehe ich Rechnen [computatio]. Rechnen nämlich ist das Bilden der Summe aus mehreren addierter Dingen bzw. das Kennen des Restes, nachdem ein Ding von einem anderen abgezogen wurde. Schließen also ist dasselbe wie Addieren und Subtrahieren. Falls jemand Multiplizieren und Dividieren zu diesen hinzufügen möchte, so will ich dies nicht ablehnen, ist doch die Multiplikation eine Addition des Gleichen, die Division hingegen, wie oft die Subtraktion des Gleichen gemacht werden kann. So lässt sich jedes Schließen auf zwei Operationen des Geistes zurückführen, nämlich Addition und Subtraktion.40
Hobbes erkennt in Addition und Subtraktion die notwendigen, aber auch hinreichenden Bedingungen, derer der menschliche Geist bedarf, wobei ihm Multiplikation und Division als bloße Wiederholungen der beiden basalen Rechenoperationen erscheinen und nicht etwa als Eröffnung eines dimensionalen Raumes, wie er in den quadratischen und kubischen Größen zweiter und dritter || 39 Jean Le Rond d’Alembert: Discours préliminaire des éditeurs. In: Denis Diderot/J. L. R. d’A. (Hg.): Encyclopédie des arts et métiers. Bd. I. Paris 1751, S. viii [übers. von mir]: »Der Einfachheit ihres Gegenstandes verdanken sie [die mathematischen Wissenschaften] hauptsächlich ihre Gewissheit [certitude]. Man muss sogar einräumen, dass – da nicht alle Teile der Mathematik einen gleichermaßen einfachen Gegenstand haben – die eigentliche Gewissheit, die auf notwendig wahren und durch sich selbst evidenten Grundsätzen ruht, nicht gleichermaßen und auf dieselbe Weise allen diesen Gebieten zukommt. Mehrere unter ihnen, die sich auf physikalische Grundsätze stützen, d. h. auf experimentelle Wahrheiten oder auf einfache Hypothesen, haben sozusagen nur eine Gewissheit der Erfahrung oder der reinen Mutmaßung. Es gibt nur, um genau zu sein, diejenigen, welche die Berechnung der Größen und die allgemeinen Eigenschaften der Ausdehnung behandeln, d. h. die Algebra, die Geometrie und die Mechanik, die man als mit dem Siegel der Evidenz versehen erachten darf.« 40 Thomas Hobbes: Elementa philosophiae. Sectio prima, De corpore [1655], Pars prima sive logica, 1,2. In: T. H.: Opera philosophica quae latine scripsit omnia. Hg. von William Molesworth. Bd. 1. London 1889, S. 3.
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Potenz zum Ausdruck kommt. Seine Logik ist Arithmetik, nicht Algebra. Eine solche Reduktion des Denkens beruht auf dem Prinzip der Diskretheit und schließt ipso facto eine klassisch geometrische Interpretation aus. Diese Reduktion des Denkens auf die eine Dimension linearer Gleichungen, welche die Multiplikation und Division als die wiederholte Verlängerung bzw. Verkürzung einer Länge durch andere Längen interpretiert, die Bildung einer Fläche durch die Multiplikation von Längen aber auszuschließen vorgibt, bleibt nicht unwidersprochen. Mit seinem Mathematisieren steht Hobbes in einer Tradition, die von den Zeitgenossen als nicht minder epikureisch als seine Politik erachtet wird.41 Die Eindimensionalität nämlich ist es, welche die gängige Inkriminierung eines epikureischen Anti-Providentialismus im Gewand der drei großen Erznarren Machiavelli, Hobbes und Spinoza methodologisch fundiert. Für die Apologeten des 17. Jahrhunderts liegt der gemeinsame Nenner vorzüglich im epikureischen Lustkalkül, auf welches alle Vorwürfe zusammenzulaufen scheinen:42 »Was die Affekte anlangt, so erkennen die Epikureer nur zwei an, Lust und Schmerz […]. Nach ihnen bestimme sich die Entscheidung über Wahl und Verwerfung [αἱρέσεις καὶ φυγάς].«43 Den Blick abzulösen von übergeordneten Zielen und den Mitteln zuzuwenden, das ist die Kohärenzforderung, die Machiavelli aus Sicht lebensweltlicher Klugheit den Entscheidungsträgern mitgibt. Dies betrifft nicht etwa bloß den Fürsten, sondern jeden Einzelnen.44 Die »Staatsräson Deiner selbst«45 weiß um
|| 41 So etwa in dem apologetischen Versuch Labyrinthus des Jesuiten und Jansenius-Vertrauten Libert Froidmont; dazu Daniel Garber: Descartes, the Aristotelians, and the Revolution that Did Not Happen in 1637. In: The Monist 71:4 (1988), S. 471–486, hier S. 473–477; Philip Beeley: Kontinuität und Mechanismus. Zur Philosophie des jungen Leibniz in ihrem ideengeschichtlichen Kontext. Stuttgart 1996, S. 293–309. 42 In seiner Kritik an Hobbes führt Cumberland Epikurs Lustkalkül als ersten Verstoß gegen die gleichzeitig wirk- und finalursächliche Ausrichtung der Bewegung (motion) hin zum Guten an; Richard Cumberland: De legibus naturae disquisitio philosophica [1671], V,40. Lübeck 1683, S. 245f. – Zu Übereinstimmung und Differenz bezüglich des epikureischen Lustkalküls bei Hobbes und Gassendi vgl. Lisa T. Sarasohn: Pierre Gassendi, Thomas Hobbes and the Mechanical World-View. In: Journal of the History of Ideas 46:3 (1985), S. 363–379, hier S. 377– 379. 43 Diogenes Laertios: Leben und Meinungen (Anm. 32), X,34, S. 228f. 44 Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (Anm. 27), S. 28 (mit Bezug auf Barner, Kühlmann und Sinemus): »Zwischen einer höfischen Rationalität und den im bürgerlichen Alltag und Beruf geltenden Regeln der Weltkenntnis und Selbstkontrolle läßt sich nicht streng unterscheiden. Die versuchte Abgrenzung zweier Bedeutungen von Privatpolitik muß deshalb als ›erzwungen‹ oder als ›überzogen‹ erscheinen, gerade was die Kategorie der Selbsterhaltung
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die Gefahren bergende Zukunft, die niemand zu beherrschen vermag, im Gegensatz zum Hier und Jetzt. Falls wir hier von ›Kalkül‹ sprechen wollen, so bedeutet dies nichts mehr, aber auch nichts weniger als die Reduktion ethischer und politischer Ziele durch Konzentration auf den entscheidenden Moment, den es behänd in seiner Flüchtigkeit zu greifen gilt, oder wie es Epikur in seinem Brief an Menoikeus formuliert: Die Zukunft liegt weder ganz in unserer Hand noch ist sie völlig unserem Willen entzogen. Das ist wohl zu beachten, wenn wir nicht in den Fehler verfallen wollen, das Zukünftige entweder als ganz sicher anzusehen oder von vornherein an seinem Eintreten völlig zu verzweifeln.46
Und es bedeutet ›Egoismus‹, da diese Entscheidungen zur Optimierung der Erfolgsaussichten im Lichte eigener Interessen betrachtet werden. Für Gentillet, einen der ersten und bedeutendsten Kritiker Machiavellis, ist denn auch klar, dass die neuzeitlichen ›Politici‹ in ihrer partikularen Sicht einen Kampf gegen die Vorsehung führen – und sie führen ihn im Geiste Epikurs: Kurz, wir erblicken im Menschen eine so bewundernswerte und wohlgeordnete Disposition aller Teile, dass sie uns, obgleich wir solche Teile haben, notwendigerweise zu der Erkenntnis führt, es müsse einen Gott geben, einen herrschenden Architekten, der dieses Gebäude errichtet hat. Und diese Betrachtungen der natürlichen Dinge (die bloß an den Spitzen einiger Punkte zu berühren ich mich begnüge) führten die antiken Philosophen, die Platoniker, die Aristoteliker, die Stoiker und andere, zur Kenntnis eines Gottes und dessen Providenz. Und unter allen Philosophensekten gibt es keine einzige, die darin nicht übereinkäme, außer die Sekte der verfressenen, versoffenen und verlotterten Epikureer, die das höchste Gut in die fleischliche Lust legten und sich darin wie wilde Tiere wälzten. Aus dieser Schule sind Machiavelli und die Machiavellisten hervorgegangen, von denen wir wissen, dass sie in ihrer Lebensführung echte Epikureer sind, bekümmern sie sich doch nur um ihre eigenen Vergnügen und ihre eigene Lust und verfügen sie doch
|| betrifft: ›Die ›conservatio sui ipsius‹ ist das Ziel der ›galanten Politica‹ im Hofbereich wie im Privatbereich.‹« 45 Baltasar Gracián: El heroé [1639], Al lector. In: B. G.: Obras de Lorenzo Gracián. Antwerpen 1669, S. 534 [übers. von mir]: »Hier findest Du eine – nicht Politik, nicht einmal Ökonomik – sondern Staatsräson Deiner selbst, einen Kompass, um zur Vortrefflichkeit zu segeln, eine Kunst, mit wenig Regeln der Klugheit [discrecion] berühmt zu werden.« 46 Diogenes Laertios: Leben und Meinungen (Anm. 32), X,127, S. 282.
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über keinerlei Wissen von guten Schriften, da sie sich mit den Maximen dieses bösen Atheisten begnügen.47
Die Reduktion des politischen Denkens auf die eigenen Vorteile und Interessen führt den Menschen notwendig in das Reich der Kontingenz, der Unbeständigkeit und des Lasters, das im Gegensatz zur Tugend veränderlich ist, das heißt anfällig für Veränderungen und zur Veränderung verleitend: Der unbeständige Mensch nämlich, der bereit ist, sich allen Winden gemäß zu drehen, kann nicht anders, als von allen möglichen Lastern erfüllt und aller Tugend entleert zu sein, weil nämlich in der Tugend keinerlei Veränderung, keinerlei Abwechslung vorkommen kann, da die Tugenden in sich übereinstimmen und einander nicht widerstreiten. Bei den Lastern hingegen mag Veränderung, Abwechslung und Unbeständigkeit vorkommen, insbesondere, da sie häufig widerstreitend sind und entgegengesetzte Enden einnehmen.48
Bemerkenswert nun ist, dass Gentillet an den Anfang seines Angriffs gegen Machiavellis gottlose Politik die Loskoppelung der wirkursächlichen Erklärungen von den finalursächlichen stellt. Noch bemerkenswerter erscheint, dass er ganz selbstverständlich den ersten »Weg« der »demonstrativen« Erklärung »als Eigentum und Eigenheit der Mathematiker« bezeichnet, den zweiten aber als »resolutives« Verfahren der »Wissenschaften«, namentlich »der Naturphilosophie, der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Ethik, der Politik«, wobei sich in diesen Erfahrungswissenschaften beide Methoden idealerweise zu ergänzen hätten.49 Damit greift er Begriffe auf, die nicht bloß in einer Hinsicht für die Entwicklung frühneuzeitlicher Mathematik bedeutend sind. Keine geringeren als Viète, Galilei, Descartes und Leibniz werden ihre methodologischen Überlegungen auf dieser Dichotomie aufbauen. Ihre Vorlage finden sie im Begriffspaar
|| 47 Innocent Gentillet: Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un Royaume ou autre Principauté. Contre Nicolas Machiavel Florentin [1576], II,2. Zit. nach der Ausgabe: I. G.: Anti-Machiavel. Hg. von C. Edward Rathé. Genf 1968, S. 206 [übers. von mir]. 48 Ebd., III,25, S. 509. 49 Ebd., I, Vorrede, S. 29: »Denn der erste dieser Wege ist den Mathematikern eigen und eigentümlich, welche die Wahrheit ihrer Theoreme und Probleme durch Demonstrationen erweisen. Diese ziehen sie aus Maximen, das heißt aus allgemeinen Sätzen, die in sich selbst durch den gemeinen Sinn und das gemeine Urteil aller Menschen als wahrhaft angenommen werden. Der zweite Weg gehört den anderen Wissenschaften, wie der Naturphilosophie, der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Ethik, der Politik u. a., deren Kenntnis sich eher durch die resolutive Ordnung von den Wirkungen auf die Ursachen sowie von den Eigenheiten auf die allgemeinen Maximen als durch den ersten Weg ergeben, obgleich feststeht, dass diese Wissenschaften sich des einen und des anderen Weges behelfen.«
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›analysis‹ und ›synthesis‹, das in der Antike bei Aristoteles, Euklid, Archimedes und Galen, vor allem aber bei Pappos seine einflussreichen Formulierungen und schließlich in Zabarellas De methodis die Bezeichnungen »methodus resolutiva« und »methodus demonstrativa«50 erhält. Ist zwar umstritten, ob Zabarellas Wissenschaftsverständnis eher einem spätscholastischen Aristotelismus oder einem modernen Empirismus verpflichtet sei,51 so ist hingegen unbestreitbar, dass seine Methodenschrift sowohl systematisch als auch historisch einen Schnittpunkt darstellt, an dem sich axiomatisch-deduktive und induktive Verfahren begegnen und einer beispiellos intensiven Behandlung unterzogen werden. Bei aller gängigen Beschränkung der theoretischen Wissenschaften auf ein rein synthetisches, demonstratives und kompositives Vorgehen52 bildet Zabarellas systematische Ergründung der methodologischen Bi-Direktionalität – d. h. eines rückführenden Weges von einem gegebenen Unbekannten zu Bekanntem (Analysis) sowie eines vorwärtsschreitenden Weges von Prinzipien zu einem Gegebenen, das somit bewiesen ist (Synthesis) – einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des ›ésprit géométrique‹. Aus der Neufassung der Analysis entwickelt sich eine ›mathesis‹, die nur dann wahrhaft ›universalis‹ sein kann, wenn sie die bloß demonstrierende ›ars iudicandi‹ durch eine ›ars inveniendi‹ ergänzt.53
5 Egoistisches Kalkül Aus systematischen Erwägungen ist die Unterscheidbarkeit zweier Formen methodologischer Kohärenzbildung, einer resolutiven und einer demonstrativen, sicherlich problematisch. Dennoch sind sie es, welche die frühneuzeitliche Methodenlehre zu weiten Teilen bestimmt haben. Das Verhältnis von Mathematik und politischer Ordnung, das in der Kritik Gentillets an politischen Maximen
|| 50 Giacomo Zabarella: De methodis (1578) / Über die Methoden, III,4. Hg. und übers. von Rudolf Schicker. München 1995, S. 194. 51 Schicker: Einführung. In: Zabarella: De methodis (Anm. 50), S. 73f. 52 Vgl. dazu Ulrich Gottfried Leinsle: Das Ding und die Methode. Methodische Konstitutionen und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik. Bd. 1. Darstellung. Augsburg 1985, S. 48f. 53 Zur Bedeutung Zabarellas, seines Methodenbegriffs und seines Einflusses auf Galilei vgl. John Herman Randall: The School of Padua and the Emergence of Modern Science. Padova 1961, S. 66–68; Hans Werner Arndt: Methodo scientifica petractatum. Berlin/New York 1971, S. 20–28 sowie S. 52f.; Krämer: Berechenbare Vernunft (Anm. 13), S. 133–150.
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im Zeichen einer ungehörigen Mathematisierung zum Ausdruck kommt, ist alles andere als leicht nachzuvollziehen. Auf den ersten Blick überrascht die Kritik, ist es doch Machiavelli, der deutlich wie nur wenige vor ihm den Blick auf dasjenige zu richten rät, was tatsächlich geschieht, und nicht auf dasjenige, was geschehen soll.54 Zudem überrascht sie, da der Florentiner Stratege an keiner Stelle in seinem Principe Ausdrücke wie ›matematica‹, ›computare‹ oder ›calcolare‹ verwendet. Auch in der heutigen Forschung hält sich der Begriff des ›Kalküls‹, was Machiavelli im Besonderen sowie den frühneuzeitlichen Egoismus im Allgemeinen betrifft, mit irritierender Hartnäckigkeit. Obwohl Machiavelli den Geltungsanspruch seiner Maximen relativiert,55 kommt er so für eine Politik zu stehen, die Gentillet mit dem Begriff ›via demonstrativa‹ geradezu anathematisiert. Hätte Machiavelli von diesem Vorwurf gewusst, er hätte ohne Zögern die ›via resolutiva‹ für sich reklamiert. Wer wie Machiavelli eine Wissenschaft der politischen Entscheidung anhand von Situationen und ›Okkasionen‹ entwirft, der muss notwendig den Wirkungsraum, das heißt die Wirklichkeit als eine künftige, vorerst als homogen und isotrop erachten. Präetablierte Normen, die es erlauben würden, die Mittel aufgrund einer zeitunabhängigen Qualität auf ein ebenfalls moralisch überzeitliches Ziel zu wählen, werden ausdrücklich verworfen.56 Was qualifiziert und selbst qualifiziert ist, das ist die Zeit: »Glücklich ist, dessen Art des Verfahrens der Qualität der Zeit [la qualita de’ tempi] entspricht«.57 Die Zeit besteht aus diskreten Momenten; was ihre Qualität ist, erweist die Folge. Zu einer pessimistischen Anthropologie gesellt sich eine Geschichtsauffassung, die nicht nur das Hier und Jetzt des Entscheidens von einer allzu menschlichen »Beharrlichkeit«58 bedroht sieht, sondern zudem die Zu-
|| 54 Niccolò Machiavelli: Il Principe, 15. [Florenz] 1532, fol. 23v [übers. von mir]: »Und viele haben sich Republiken und Fürstentümer ausgedacht, die man weder gesehen, noch erfahren hat, als ob sie in Wahrheit existierten. Wie man nämlich lebt, ist so weit entfernt von demjenigen, wie man leben sollte, dass der, welcher dasjenige, was getan wird, zugunsten desjenigen vernachlässigt, was getan werden sollte, vielmehr den Ruin als seine Erhaltung erlernt. Denn ein Mensch, der in allem sich als guter zu beweisen versucht, muss unter so vielen untergehen, die nicht gut sind. Daher ist es notwendig, dass ein Fürst, der sich erhalten will, lerne, nicht gut zu sein und diese Einsicht gemäß der Notwendigkeit zu gebrauchen bzw. nicht zu gebrauchen.« 55 Ebd., 3, fol. 5r: »allgemeine Regel, die nie oder nur selten trügt.« 56 Ebd., 18, fol. 17v: »es ist also nötig, dass er [der Fürst] einen Geist hat, der es ihm erlaubt, sich so zu drehen, wie es die Winde und die Veränderungen der Fortuna von ihm verlangen.« 57 Ebd., 25, fol. 39r. 58 Peter Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Berlin 2011, S. 583.
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kunft als offene Zeit beherrscht sieht vom blinden Walten der Fortuna: »Denn die Zeit treibt eine jede Sache vor sich her und kann Gutes wie Schlechtes, Schlechtes wie Gutes mit sich führen.«59 Erst im Augenblick des Entscheidens holt die Gegenwart die Zukunft ein und bestimmt diese mit. Die Gelegenheit, die »occasione«, bezeichnet den Zeitpunkt, welchen die »virtù« im Übergang vom Gegenwärtigen ins Künftige zu ihrem Erfolg wählt. Doch weder das Zukünftige noch die Gelegenheit sind teleologisch eingebunden, sondern erscheinen dem Klugen als geeignete Zeitpunkte, eine Rechnung auf die Zukunft zu stellen, die – wo nicht sicher – zumindest sicherer ist.60 Die berühmt gewordene Machiavelli’sche »virtù« kommt für die operative, regelgeleitete Fähigkeit zu stehen, aufgrund eines wahrscheinlichkeitsbasierten Kalküls die eigenen Absichten zu verwirklichen. Deutlich wird dies an Machiavellis Verwendung von »necessità«,61 die nicht die metaphysische Notwendigkeit einer transzendenten Ordnung meint, sondern eine moralische Notwendigkeit, die unter dem Aspekt der Entscheidung Kontingenz voraussetzt.62 Eine Politik als Staatskunst baut sowohl auf die menschliche Entscheidung als arbiträre und subjektive als auch auf den Verzicht vorgängig moralischer Regulierung.63 Die Hoffnung auf die synthetische Einholung der Entscheidung durch eine ›via demonstrativa‹ lässt Machiavelli fahren, die Wirkungen der Gesetze der Natur nämlich kann der Mensch nicht überblicken, das Subjekt nicht befolgen, geschweige denn kontrollieren.64 Fortuna aber bleibt es unbenommen, den sprichwörtlichen ›Strich durch die Rechnung‹ zu ziehen. Die bloß relative Gewissheit überantwortet Machiavelli dem politischen Artisten in dessen heroischer Vereinzelung, Gentillet dagegen dem Glauben. Für beide versagt die Mathematik dort, wo sie als demonstra|| 59 Machiavelli: Il Principe (Anm. 54), 3, fol. 4r. 60 Zusammenfassend Dirk Brantl: Der Umgang des Fürsten mit seinen Untertanen. In: Niccolò Machiavelli. Der Fürst. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2012, S. 121–137, hier S. 123. 61 Vgl. hierzu Eric Achermann: ›Denn Gott treibt immer Geometrie‹. Zur politischen Bedeutung des Verhältnisses von Geometrie und Arithmetik. In: Christoph Strosetzki (Hg.): Wort und Zahl. Palabra y número. Heidelberg 2015, S. 11–53, hier S. 13–16. 62 Zum Begriff der moralischen Notwendigkeit vgl. Knebel: Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit (Anm. 12), S. 193–236. 63 Vgl. Michel Senellart: Les arts de gouverner. Du ›regimen‹ médiéval au concept du gouvernement. Paris 1995, S. 211–230. 64 Im Gegensatz zu Zabarella, dem zwar hin und wieder unterstellt wird, nach Maßgabe der »Beschaffenheit menschlicher Erkenntnis und nicht d[er] Natur der Dinge« zu verfahren (Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S. 137), dessen Festhalten an einer beständigen, objektiven Ordnung sowie der Harmonie von subjektiver und objektiver Ordnung jedoch feststeht; vgl. Schicker: Einführung (Anm. 51), S. 48–50.
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tive auf das Künftige bezogen wird. Gestritten wird so um das Primat der Erfahrung, wobei Gentillet alles andere als bereit ist, dem neuen Geist den Vorrang in Sachen Empirie einzuräumen. Hier wie in der Folge steht die Berufung auf Empirie bald im Dienste der Pragmatik, bald des Fideismus.65
6 Der frühneuzeitliche Roman Flächenhafte Anordnungen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, kunst- und kulturgeschichtliche Merkmale des Barock zu bestimmen. Hinter der verwirrenden Mannigfaltigkeit des Weltgeschehens sei es Denkern, Dichtern und Künstlern darum zu tun, eine unzweifelhaft gegebene Ordnung zu entdecken und diese zu repräsentieren. Dabei blieben sie den Idealen antiker Ontologie verpflichtet: Ordnung erscheine als Ausdruck einer transzendenten Wahrheit und damit eines Raums des Unwandelbaren, d. h. beständig, finit, räumlich, regelhaft; die Wirklichkeit hingegen unterstehe der Herrschaft der Zeit, sei also wandelbar, offen, linear, willkürlich, durch die unaufhörliche Folge von Gebären und Zerstören artikuliert. Offenbar äußert sich dieser so oft konstatierte architektonische Einheitssinn jedoch dermaßen exzessiv, dass er nicht selten bei den nämlichen Historikern zu gegenteiligen Befunden führt: Im Gegensatz zu klassizistischen Epochen finde der barocke Stil in chaotischer Mannigfaltigkeit und manieristischer Entgrenzung sein eigentliches Charakteristikum. Folgen wir der so einflussreichen Stiluntersuchung Wölfflins, so ergeht sich der barocke Stil in Paradoxien: Das »Geformte« trage zwar den Charakter der »Notwendigkeit«, widersetze sich jedoch in der Diagonalen »als Hauptrichtung« der »Horizontalen und Vertikalen« der klassischen Kunst und bewirke dadurch »eine Erschütterung der Tektonik«. Die Inkommensurabilität der Diagonalen wird so, bewusst oder unbewusst, von Wölfflin als Grund für die Geometrisierung einer Ordnung eingeführt, die sich nicht mehr auf die einfachen numerischen Verhältnisse einer klassizistischen, der »Horizontalen und Vertikalen« verpflichteten Renaissance verstehen lasse.66
|| 65 Dies gilt für Gassendi, mehr noch für seinen Schüler, den Bischoff Huet, der seine Kritik an der cartesianischen mathematischen Gewissheit ebenfalls im Namen Epikurs, Zenons und Hobbes’ formuliert; vgl. hierzu Carlo Borghero: La certezza e la storia. Cartesianismo, pirronismo e conoscenza storica. Mailand 1983, S. 175. 66 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915]. 8. Aufl. München 1943, S. 134–136.
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Was hier so prominent für die Kunstgeschichte behauptet wird, hat auch die Vorstellungen vom literarischen Barock geprägt. Allenthalben schwankt die Beschreibung literarischer Werke zwischen präskriptiver Regelhaftigkeit, proportionaler Durchgestaltung, festem Providenzvertrauen sowie moralischer Sinnhaftigkeit einerseits und dem Konstatieren einer enthemmten Effekt- und Novitätensucht, wirrer, wild wuchernder Episodenhaftigkeit, kontingenter Vanitas-Erfahrung sowie geradezu nihilistischer ›Ent-Täuschung‹ andererseits. In den »Riesenbauten mit ihren labyrinthischen Gängen, ihren weiten, oft ›verschleierten‹ Räumen, ihrer scheinbar selbstgesetzlichen Durchbildung der Einzelheiten, die doch im geistigen Dienst des Ganzen stehen, ihrer Üppigkeit und Aszetik, ihrer stählernen Härte und Geschmeidigkeit« wird eben jene »stiltypische reine Barockkunst« entdeckt, die Wölfflin in seinen Grundbegriffen herauspräpariert hatte, »und zwar von eben jener großen, öffentlichen Art, wie wir sie aus der Baukunst kennen«.67 Die gegenteiligen Befunde sowie die Gegenteiligkeit der Befunde scheinen ihrerseits nicht mehr so recht zwischen »scheinbar selbstgesetzlicher Durchbildung« und dem herrschenden Geist des »Ganzen« unterscheiden zu können. Dies dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die Verräumlichung ereignisreicher Wirklichkeit in eine transzendente Ordnung auf mehr als eine Option zurückgreifen kann. Die Frage liegt also nahe, ob das grundlegend veränderte Verhältnis von Finitem und Infinitem sowie der neue Begriff einer kalkulierbaren Wahrscheinlichkeit den neuzeitlichen Roman geprägt haben, der wie keine andere Kunstform ausgedehnte Raum- und Zeitverhältnisse ins Geschick zu bringen hat. Modernität wird, wer wüsste es nicht, als Resultat einer ›Überwindung‹ gedacht. Die überkommenen Ordnungs- und Wertevorstellungen, Wahrnehmungs- und Darstellungsgewohnheiten, sie alle werden auf ein gewandeltes Drittes hin als ›unzeitgemäße‹ aufgebrochen und abgelöst. Die Überwindung wird so nicht selten retrospektiv der geschichtlichen Entwicklung einer Kultur aufgegeben, die den Makel der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ zu beheben hat, um sich das Prädikat ›modern‹ zu verdienen. Mit überraschender Einmütigkeit wird dieser Befund an alle erdenklichen Epochen herangetragen, die gerne als ›Transformationen‹ bezeichnet und an der impliziten Forderung nach Synchronisierung ihrer Leistungen gemessen werden.
|| 67 Günther Müller: Barockroman und Barockromane. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görresgesellschaft 4 (1929), S. 1–29, hier S. 27.
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Die Ordnung des Erzählens, die es zu überwinden gilt, um durch ›Brüche‹ ihre Modernität zu erweisen,68 ist – so paradox es klingen mag – im Wesentlichen dramatisch. Gemäß Aristoteles tritt die Einheit der Handlung bekanntlich in einer durchmotivierten Tragödie am klarsten in Erscheinung. Was nicht in den Kausalnexus einer Handlung passt, erscheint als zufällig, so etwa die unverbundene Episode, der ›deus ex machina‹, das Widersinnige. Die Ordnung verdankt sich also nicht der syntagmatischen Verknüpfung sprachlicher Elemente, sondern der kausalen Verbindung der geschilderten Ereignisse. Schon für Aristoteles ist das Episodische eine Lizenz, die dem Epos in einem höheren Maße zukommt als dem Drama. Zudem lässt er erkennen, dass ›Polymythie‹69 immer die Handlungsmotivation zu lockern und so die Einheit zu zerstören droht. Das »Eigentliche« der Dichtung aber unterscheidet sich vom »Rest« wie die »Episoden« vom Mythos.70 Das Eigentliche vom Rest, das Notwendige vom Überflüssigen, das Wahrscheinliche vom Wunderbaren zu schei-
|| 68 Aussagen wie folgende sind da durchaus exemplarisch; Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der ›Römischen Octavia‹ von Herzog Anton Ulrich. ›der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt.‹ Würzburg 2004, S. 24: »Im Mittelpunkt steht […] eine Textanalyse, die auch eine Lektüre gegen den Strich sein kann. […] Würde man sich bei der Deutung allein auf das beschränken, was von der vermutlichen Intention Anton Ulrichs abgedeckt ist, wäre die Römische Octavia zumindest auf der Ebene des prodesse nichts weiter als ein letztlich mißlungener Versuch, den Leser mit Mitteln der barocken Rhetorik von einem vordefinierten didaktischen Ziel, genauer: der narrativen Theodizee, zu überzeugen. […] In der Spätphase der Entstehung der Römischen Octavia, […] scheinen Elemente eines moderneren Literaturverständnisses auf, als es die Ursprungskonzeption vermuten läßt.« Für Schnyder hingegen ist es der ›unmoderne‹ Anton Ulrich, der an Leibniz’ Modernität Zweifel aufkommen lässt: »Irritierend […] ist allerdings die kaum je thematisierte Ungleichzeitigkeit zwischen den Romanen Herzog Anton Ulrichs […] und Leibniz’ einschlägigen Schriften […]. Käme die barocke Romanpoetik tatsächlich bei Leibniz auf ihren Begriff, müsste dessen Erkenntnistheorie – und sein Literaturverständnis – als auffallend rückwärtsgewandt empfunden werden. Es wäre dann so, als hätte er mit der Verspätung eines halben Jahrhunderts die philosophisch-theologischen Grundlagen für die barocke Poetik entwickelt. Schon allein angesichts dieser Ungleichzeitigkeit darf deshalb vermutet werden, dass die Parallelisierung von Theodizee und barocker Romanpoetik die Gefahr einer einsinnig retrospektiven Reduktion der leibnizschen Position birgt […]. Vielmehr lässt sich Leibniz auch gleichsam prospektiv auf den Roman des 18. Jahrhunderts hin lesen […].« Peter Schnyder: Experimentelle Biographik. Das ›Gedankenexperiment‹ in der Schlusspassage von Leibniz’ ›Theodizee‹. In: Michael Gamper/Martina Wernli/Jörg Zimmer (Hg.): ›Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‹. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Göttingen 2009, S. 147–165, hier S. 162f. 69 Aristoteles: Poetik, 18, 1456a12: »Unter ›Episches‹ verstehe ich Handlungsvielfalt [τὸ πολύμυθον].« 70 Aristoteles: Poetik, 17, 1455b23: »Das ist das Eigentliche [τὸ ἴδιον], der Rest sind Episoden.«
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den, ist notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Dichtung. Wie diese Grenzen zu ziehen sind, ist Sache der Poetik; seit Mitte des 16. Jahrhunderts wird es zu deren Hauptsache. Die Einheit der Handlung macht aus einem allgemeinen Begriff der Wahrscheinlichkeit einen spezifisch poetischen.71 Was eine Haupthandlung ist, das erklärt sich vom Ende her. Identifizieren wir diesen aristotelischen Begriff poetischer Wahrscheinlichkeit mit der überkommenen Ordnung, so liegt es nahe, in einem rein episodischen Erzählen ein dynamisches Moment zu entdecken, das einen Bruch mit der Tradition bedeutet.72 Oder besser: läge es nahe, denn die Novellistik, die Fazetien-Literatur, der Amis und der Fortunatus, sie und Ihresgleichen sind länger und breiter tradiert, als es die Poetik in ihrer rund hundertjährigen Rezeptionsgeschichte Mitte des 17. Jahrhunderts war. Wesentlicher aber ist, dass der behauptete Traditionsbruch in der Romanproduktion der Frühen Neuzeit nicht am Kriterium syntagmatischer Komposition bemessen werden kann. Der angeblich so durchkomponierte höfisch-galante Roman, dessen ›wohlgeordnete‹ Struktur meines Wissens noch nie erwiesen wurde, und der angeblich so zufällige Schelmenroman, dessen Motivation in seinen einzelnen Gliedern hingegen dauernd erwiesen wird, müssen unter dem Gesichtspunkt des so umstrittenen Verhältnisses von moralischer und metaphysischer Gewissheit betrachtet werden. Nicht zuletzt in dem Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und geometrischer Ordnung trifft es sowohl die mechanistische Naturphilosophie als auch die Gnadentheologie im Kern. Den unterschiedlichen Beurteilungen dieses Verhältnisses von moralischer und mathematischer Gewissheit kann nicht wahlweise das Siegel der Modernität aufgedrückt werden, liegt doch gerade in deren Konkurrenz, im Akzeptieren ihres unüberwindbaren Antagonismus oder in der Hoffnung auf Harmonisierung ihrer nur scheinbaren Gegensätzlichkeit, der strittige Punkt – der auch heute noch so strittig ist, dass bald Machiavelli, bald Descartes, bald Bacon, bald Hobbes u. a. zum eigentlichen Vater der Moderne erkoren wird. Die Analysis, welche die Hoffnung auf Konvergenz zum Ausdruck bringt und wohl nicht zu|| 71 Vgl. Friedrich Rappolt: Poetica Aristotelica sive veteris tragoediae expositio. Leipzig 1678, S. 108–113. 72 Warning: Erzählen im Paradigma (Anm. 1), S. 208: »Gewiß hat es dieses Erzählen im Paradigma auch schon vorher [vor Flauberts Éducation sentimentale] gegeben, so etwa im Bereich des komischen Romans, der, dem Episodischen des Komischen gemäß, nicht anders als reihend erzählen kann. […] Die Paradigmatisierung hebt also eine Einbindung der Jetztzeit in Vergangenheits- und Zukunftsperspektivierungen auf und sucht mittels einer offenen Struktur Kontingenz als solche vorstellbar zu machen. / Es scheint, postmodernes Erzählen habe diese Möglichkeit […] exploriert […].«
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fällig vom ›Mathematiker‹ Hobbes verworfen wird, die Stochastik, der als mathematischem Ausdruck moralischer Gewissheit ein Fideist wie Pascal seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, stellen Optionen der Mathematisierung dar, die im doppelten Weg der Methodenlehre höchst varianten- und kombinationsreich realisiert werden. Für den Roman ist es primär eine Frage der Perspektive, wie das notwendig vorgängige auktoriale Wissen um das Gesamt der Handlung zu präsentieren ist. Gebe ich vor, wie es der Schelmenroman tut, durch Wahl einer autobiographischen Perspektive die Zukunft nicht zu kennen,73 so verfahre ich arithmetisch, so lasse ich erkennen, dass die Wirklichkeit aus der subjektiven Ungewissheit einzig in der ›linearen‹ Verlängerung von glücklichen oder unglücklichen Ereignissen besteht. Regularitätsvorstellungen können in der Gegenwärtigkeit der geschilderten Erfahrung einzig auf moralische Normen bezogen sein, falls die Exemplarität der eigenen Handlungen reflektiert wird.74 Webe ich hingegen durch Allwissenheit, durch Ubiquität und zukunftsweisende Prophetien die verschiedenen Stränge unterschiedlicher Zeiten und Orte zu einem Geflecht, so bilde ich eine Welt ab, die das Vertrauen auf die Konvergenz der Ereignisse in einem transzendenten Heilsplan zum Ausdruck bringt. Ordnung und Normsystem gilt es hierbei zu unterschieden, auch wenn ein solches Unterscheiden nicht nur dem Barockzeitalter schwer gefallen ist. Unter dem Gesichtspunkt ihrer transzendenten Begründung stellt sich die Frage, ob die Allmacht Gottes sich in zeitloser Vernunft oder in unbeschränkter Freiheit des Willens äußert. Unter dem Gesichtspunkt ihrer immanenten Begründung stellt sich hingegen die Frage, ob die Anthropologie ihr Fundament in der Soziabilität oder der Selbsterhaltung findet. Der Held des modernen Romans bewegt sich so in einer Trias von Ordnungs- und Normvorstellungen, die einer metaphysischen, einer physischen und einer moralischen Notwendigkeit entsprechen. Woran und inwiefern Gott, die Natur und der Mensch gebunden sind, daran scheiden sich die Geister.
|| 73 Vgl. hierzu Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 202. 74 Vgl. die kluge Analyse der umstrittenen Forschungspositionen zu Defoes Robinson Crusoe bei Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchung zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Tübingen 1988, S. 101–153.
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Es ist also vorzüglich eine Frage des Standpunkts, die sich bei der Gestaltung des Romans für die Autoren und Autorinnen stellt. Die Antwort orientiert sich an dem polaren Gegensatz zwischen subjektiver Beschränktheit des Blickes und göttlichem Allanblick. Alles hängt davon ab, ob der Punkt sich geradlinig fortsetzt75 oder letzten Endes doch noch die Kurve kriegt.76
|| 75 Giacomo Zabarella: De Ordine intelligendi, 5; zit. nach Sascha Salatowsky: De Anima. Die Rezeption der aristotelischen Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam 2006, S. 262: »Es ist deutlich, daß die Erkenntnis des Einzelnen mit der geraden Linie verglichen wird, die des Allgemeinen aber mit der gekrümmten Linie, nicht umgekehrt, wie die Gegner interpretieren; denn das Einzelne wird geradewegs von der Vorstellung zum Geist gebracht, gleichsam ohne große Schwierigkeit, das Allgemeine aber nicht geradewegs, sondern durch die Reflexion des Lichts des tätigen Geistes von der Vorstellung zum Geist.« 76 Gottfried Wilhelm Leibniz: Initia rerum mathematicarum metaphysica [1715]. In: G. W. L.: Mathematische Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. 7. Halle 1863, S. 24f. [übers. von mir]: »Im Kalkül gilt es nicht nur das Gesetz der Homogenität, sondern tunlichst auch das Gesetz der Gerechtigkeit zu wahren, dass nämlich gegebene und angenommene Größen sich gleich verhalten wie gesuchte oder resultierende und dass sie, sofern dies bequem machbar ist, beim Operieren in gleicher Weise behandelt werden; etwas allgemeiner muss angenommen werden, dass – weil die gegebenen Größen sich geordnet ergeben haben – sich auch die gesuchten geordnet ergeben werden. Hieraus folgt auch das von mir als erstem geäußerte Gesetz der Kontinuität, wodurch das Gesetz für das Ruhende quasi nur eine Art des Gesetzes für das Bewegte ist, das Gesetz der Gleichheit quasi eine Art des Gesetzes der Ungleichheit, das Gesetz für Kurvenlinien quasi eine Art des Gesetzes für das Geradlinige, was also immer statthat, sooft eine Gattung in eine entgegengesetzt quasi-Art übergeht.«
Rosmarie Zeller
Literatur als Mittel zur Glückseligkeit Die Sulzbacher Übersetzung von Boethius’ Trost der Philosophie und ihr Kontext Im Jahre 1667 erschienen in Sulzbach (Oberpfalz) in der zwei Jahre zuvor vom Calvinisten Abraham Lichtenthaler eröffneten Druckerei eine lateinische Abhandlung über das hebräische Alphabet von Franciscus Mercurius van Helmont sowie die deutsche Übersetzung des Werks durch Christian Knorr von Rosenroth.1 Im gleichen Jahr wurde auch eine von Helmont und Knorr von Rosenroth erarbeitete Übersetzung von Boethius’ Consolatio philosophiae publiziert.2 Das war der Anfang eines Publikationsprogramms, welches auf der einen Seite in einem poetischen Werk, dem schmalen Bändchen Neuer Helicon mit seinen neun Musen, und auf der andern Seite in einer Reihe von Übersetzungen wie der Magia naturalis des Della Porta, der Artzneykunst des Jan Baptist van Helmont und von Brownes Pseudoxia epidemica seine Fortsetzung fand und in der aufwändigen Publikation der mehrbändigen Kabbala denudata gipfelte.3 Diese Publikationen scheinen auf den ersten Blick so heterogen zu sein, dass man sich fragen kann, ob hinter alledem überhaupt ein Programm steht. Wenn auf den ersten Blick das hebräische Naturalphabet etwas mit der Kabbala denudata zu tun haben mag, so scheint es schwierig, einen Zusammenhang zwischen der BoethiusÜbersetzung und der Übersetzung naturmagischer, medizinischer und natur-
|| 1 Franciscus Mercurius van Helmont: Alphabeti vere Naturalis Hebraici Brevissima Delineatio […] Sulzbach 1667 (VD 17: 7:628249S); Kurtzer Entwurff des Eigentlichen Natur-Alphabets der Heiligen Sprache: Nach dessen Anleitung man auch Taubgebohrne verstehend und redend machen kan. Sulzbach 1667 (23:275902V). 2 Deß Fürtrefflichen Hochweisen Herrn Sever. Boetii weil. Burgermeisters zu Rom ChristlichVernunfft-gemesser Trost und Unterricht/ in Widerwertigkeit und Bestürtzung über dem vermeinten Wohl- oder Ubelstand der Bösen und Frommen / in Fünff Büchern/ Verteutscht/ und Mit beygefügten kurtzen Anmerckungen über etliche dunckele Ort desselben: Samt eigentlicher Lebens-Beschreibung deß Seligen Boetii. Sulzbach 1667 (VD 17: 3:602948Q). Dieses Exemplar stammt aus der Sulzbacher Bibliothek. 3 Des Vortrefflichen Herren Johann Baptista Portae von Neapolis Magia Naturalis, oder HausKunst-und Wunder-Buch […]. Sultzbach 1680; Des vortrefflichen Engelländers Thomae Brown […] Pseudoxia epidemica […]. Frankfurt und Leipzig 1680; Johann Baptista von Helmont: Aufgang der Artzney-Kunst. […] Sultzbach 1683; Kabbala denudata Seu Doctrina Hebraerorum Transcendentalis et Metaphysica atque Theologica […]. Bd 1: Sulzbach 1677–1678, Bd. 2: Frankfurt a. M. 1684.
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wissenschaftlicher Werke zu finden. Im Folgenden soll versucht werden zu zeigen, inwiefern die Boethius-Übersetzung sich in den Kontext der anderen Publikationen einreiht, welche teilweise mit großem Aufwand in Sulzbach gedruckt und verlegt wurden.4 Die Publikation der Boethius-Übersetzung ist schon darum auffällig, weil bereits 1660 in Nürnberg, also in unmittelbarer Nachbarschaft von Sulzbach, eine Boethius-Übersetzung von Johann Helwig erschienen war.5 Im Gegensatz zu Frankreich und Italien war das frühneuzeitliche Interesse an Boethius in Deutschland nicht besonders groß, es gibt nur wenige Übersetzungen und keine Kommentare.6 Man benützte auch in Deutschland den Kommentar von Renatus Vallinus (René Vallin), der für die Sulzbacher besonders wertvoll war, weil er die neuplatonische Seite von Boethius unterstrich.7
|| 4 Die Ausgaben haben aufwändige Titelkupfer und sind teilweise auch reich illustriert. Sie sind alle in großen Formaten erschienen. 5 Severini Boethii Christlich vernünftiges Bedenken / Wie man sich bey vordringender Gewalt und Wohlergehen der Gottlosen / auch unrechtmässigem Leiden und Ubelgehen der Frommen zu trösten habe […]. Nürnberg 1660. (VD 17: 39133115G) 6 Siehe dazu die Zusammenstellung bei Max Reinhart: De consolatione philosophiae in Seventeenth Century Germany. Translation and Reception. In: Daphnis 21 (1992), S. 65–94, hier S. 69. Er zählt zwischen 1401 und 1500 zehn Übersetzungen, Drucke, Manuskripte auf deutschem Boden auf, wobei einige nicht mehr nachgewiesen werden können. Für die Rezeption in Frankreich, die aber auch nur das Mittelalter betrifft, siehe Pierre Courcelle: La consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérités de Boèce. Paris 1967. 7 Boetii Consolationis Philosophiae Libri V. Ejusdem Opuscula Sacra auctiora. Renatus Vallinus recensuit, & Notis illustravit. Lugd. Batavorum 1656. Dass die Ausgabe von Vallinus sowohl der Nürnberger wie der Sulzbacher Übersetzung zugrunde liegt, wird aus der Übernahme des Titelkupfers ersichtlich. Siehe dazu Nicola Kaminski: Hellwig – Vallinus – van Helmont / Knorr von Rosenroth: Boethius’ Consolatio Philosophiae im Fadenkreuz einer konfessionalisierten Poetik. In: Reinhold F. Glei/Nicola Kaminski/Franz Lebsanft (Hg.): Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2010, S. 261–301. Die konfessionalisierte Deutung der Sulzbacher Übersetzung halte ich, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, für zu kurz gegriffen. Die Untersuchungen zu den Boethius-Kommentaren heben hervor, dass Vallinus als erster die Stelle in Gedicht 9 des 3. Buches, wo von leichten Wagen die Rede ist, im platonischen Sinn verstand. Siehe Lodi Nauta: »Magis sit Platonicus quam Aristotelicus«: Interpretations of Boethius’s Platonism in the Consolatio Philosophiae. From the Twelfth to the Seventeenth Century. In: Stephen Gersh u. a. (Hg.): The Platonic Tradition in the Middle Ages. A Doxographic Approach. Berlin/New York 2002, S. 165–204. Die Ausgabe von Vallinus befand sich in der Sulzbacher Bibliothek (Signatur: Repositorium E. Klasse XLVIII Philosophiae morales, ed Ethici in 12mo, Nr. 7). Das Exemplar befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Es wäre interessant zu untersuchen, wie der Kommentar von Vallinus die Sulzbacher Übersetzung beeinflusst hat. In der Sulzbacher Biblio-
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Der Sulzbacher Übersetzung ist eine Vorrede mit der Anrede »Liebe Kinder / etc.« vorangestellt, in welcher der mit »E. G. V.« (Euer getreuer Vater) unterschreibende Pfalzgraf und Herzog Christian August erklärt:8 Es ist diß Büchlein zwar vor diesem schon verteutscht ans Liecht kommen / aber / beydes in prosa und denen Versen / also unverständlich / daß es geschienen / ob habe der Ubersetzer entweder wenig mühe dran wenden wollen / oder etwa deß Autoris tieffen Sinn nicht gnugsamlich assequiren oder exprimiren können; Darum Ich es aus gutem willen eines verständigen und wohlgeübten Mannes / (welcher Euch so wohl / als der / dem die Verse in saubere Art zu übersetzen angelegen gewesen / bekant) also transponiren zu lassen / sorgfältig seyn wollen / damit Ihr und jeder / der es lesen wird mögen / es also begreiffen könne / daß er selbst auch darob vergnügen und nutzlichen unterricht zu empfinden habe.9
Damit wird deutlich, dass die Boethius-Übersetzung im Auftrag des Pfalzgrafen entstanden ist. Die Kinder, die der Fürst anspricht, sind in Tat und Wahrheit zwei Mädchen, die 1650 geborene Maria Hedwig Augusta und die 1651 geborene Amalia Sophia Maria Therese, während der erst 1659 geborene Thronfolger Theodor Eustachius wohl noch zu klein war, um an dieser Art von Unterricht teilzunehmen. Aus den Helmont betreffenden Inquisitionsakten geht hervor, dass der Fürst mit den beiden Töchtern jeden Tag Hebräischstudien betrieb, wofür Helmont verantwortlich gemacht wurde.10 Wahrscheinlich hatte er auch ein Interesse daran, dass der Fürst mit seinen Töchtern Boethius las, denn Helmont hat die Consolatio hoch geschätzt, wie Leibniz an die Kurfürstin Sophie Charlotte von Brandenburg berichtet: »Monsieur Helmont affectionne particulierement ce livre, parce qu’il y croit remarquer les traces des sentiments Pythagoriques. Mais cela mis à part, il faut avouer que l’auteur dit des choses tres belles et tres
|| thek befanden sich ferner: Severini Boëtii Opera omnia. Venedig 1491; Vom Trost der Weißheit. Strassburg 1500. Consolationis philosophiae Libri 5. Ioh. Bernartivs recensuit, & Commentario illustrauit. Antwerpen 1607, sowie Übersetzung von 1660 (vgl. Anm. 5). 8 Der Vater kann niemand anders als der Herzog sein, da weder der nie verheiratete Helmont noch der damals noch nicht verheiratete Knorr Kinder hatten. Das Originalexemplar des Herzogs befindet sich im Besitz der UB Erlangen, vgl. Guillaume van Gemert: Christian Knorr von Rosenroth und Boethius. In: Morgen-Glantz 3 (1993), S. 109–136, hier S. 116, Anm. 32. 9 Boethius: Trost (Anm. 2), S. 5f. 10 Allison P. Coudert: The Impact of the Kabbalah in the Seventeenth Century. The Life and Thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden u. a. 1999, S. 48, S. 365f. Coudert druckt die Akten der Inquisition ab.
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sensées sur l’ordre de l’univers.«11 Es muss im Folgenden gezeigt werden, welche Ideen in Boethius’ Schrift am Sulzbacher Hof unter dem Einfluss Helmonts interessierten.12 Aber nicht nur am Sulzbacher Hof lasen die weiblichen Angehörigen Boethius, sondern auch am Hof von Hannover. Aus der Vorrede Helmonts zur zweiten Auflage der Übersetzung geht hervor, dass diese auch an anderen Fürstenhöfen gelesen wurde. Er berichtet, er habe die beiden Kurfürstinnen von Braunschweig und Brandenburg, welche beide den Vornamen Sophia tragen, in Hannover getroffen,13 wobei sie ihm wie immer viele Fragen gestellt hätten, weil sie immer darum bemüht seien, »das wahre Licht und den Brunquell alles Guten« zu erkennen; dabei seien sie auch auf Boethius Trost der Philosophie zu sprechen gekommen. Die Kurfürstin von Braunschweig habe bemerkt, dass sie nicht nur das Buch mit großem Vergnügen gelesen habe, sondern auch bei andern damit Nutzen gestiftet habe. Eine Person, die in Melancholie gefallen sei, sei durch die Lektüre des Buches »gantz wieder zurechtgebracht« worden.14 Das ist ein interessanter Beleg für die Boethius-Rezeption im 17. Jahrhundert, die praktisch unerforscht ist.15 Da in der Forschungsliteratur immer noch Verwirrung über die Urheberschaft der Übersetzung herrscht,16 sei hier zu Beginn die Sache klargestellt: || 11 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften. Hg. von C. I. Gerhardt. Bd. 7. Berlin 1890, S. 545 (Brief vom 9. Mai 1697). Zu Helmont und Leibniz siehe: Allison P. Coudert: Leibniz and the Kabbalah. Dordrecht u. a. 1995. 12 Die Rolle Helmonts am Sulzbacher Hof und auch sein Einfluss auf Knorrs Beschäftigung mit der Kabbala scheinen mir trotz Couderts Darstellung noch zu wenig gewürdigt. 13 Helmont vertrat mehrfach die Interessen der Pfälzer und wurde so auch bekannt mit Sophie, Kurfürstin von Hannover, der Descartes seine Principiae Philosophiae widmete und die Leibniz protegierte; vgl. Coudert: Impact (Anm. 10), S. 22. 14 Der mit Franciscus Mercurius von Helmont unterzeichnete Text der Vorrede in der Ausgabe von 1697 befindet sich handschriftlich im Nachlass von Leibniz in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover; vgl. Coudert: Leibniz (Anm. 11), S. 178, Anm. 206. Dem Inhalt nach muss der Text von Helmont stammen, denn Leibniz hatte nichts mit der ersten Ausgabe der Übersetzung zu tun. Leibniz interessierte sich aber durchaus für Boethius, vor allem für dessen Ordnungsgedanken und Ablehnung des Zufalls. 15 Ein kleiner Beitrag wird geleistet in Glei/Kaminski/Lebsanft (Hg.): Boethius Christianus? (Anm. 7) und in John Marenbon (Hg.): The Cambridge Companion to Boethius. Cambridge 2009. Noch im 18. Jahrhundert empfehlen Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in ihrer Bibliotheck für die Frauenspersonen: »Boethius von Knorren übersetzt« zur Lektüre. (Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Schriften zur Literatur. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 27). 16 So schreibt Lodi Nauta, Knorr sei der Übersetzer, vgl. Lodi Nauta: The Consolation: the Latin commentary tradition. 800–1700. In: Marenbon (Hg.): Companion (Anm. 15), S. 274. Der
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Die in der Vorrede des Vaters erwähnte, kurz vor der Sulzbacher erschienene Übersetzung stammt von Johann Helwig (oder Hellwig). Sie macht in der Tat einen sehr holprigen und keineswegs leicht zu lesenden Eindruck.17 Ob der Arzt Helwig den »tieffen Sinn« verstanden hat, ist tatsächlich fraglich. Er übersetzt Vers für Vers, ohne dass er wie Knorr eine strenge Begrifflichkeit besonders in Bezug auf platonisch zu interpretierende Stellen entwickelte. Der in Boethius’ Schrift enthaltende Platonismus, der in Sulzbach vornehmlich interessierte, dürfte Helwig kaum interessiert haben. Es ging Helwig wie anderen Übersetzern im 17. Jahrhundert vorwiegend darum, seine Sprachbeherrschung zu zeigen, an einem Werk, das Georg Philipp Harsdörffer in den Frauenzimmer Gesprächspielen zur Übersetzung empfohlen hatte.18 Dass Franciscus Mercurius van Helmont der »verständige und wohlgeübte Mann« ist, der die Prosa übersetzt hat, und der den Kindern ebenfalls bekannte Christian Knorr von Rosenroth der Übersetzer der Verse,19 wird aus der zweiten Auflage des Werks deutlich, welche 1697 in Lüneburg erschienen ist. Helmont schreibt, dass der Trost der Philosophie Boethius’ bedeutendstes Werk sei; es werde vor allem wegen der darin enthaltenen Verse geschätzt, welche »Wohlgelehrte Personen« in ihrer Sprache auszudrücken versucht hätten, »aber gleichwohl den wahren Verstand und das Absehen des Schreibers nicht durchgehends erreichet.« »Deswegen ich vor vielen Jahren schon jemand gesuchet, der in allen Stücken, ohne Zusatz oder Abgang, eigentlich nach des Urhebers Meinung, besagte Verse oder Reime geben möchte.« Er habe endlich »zu Sultzbach in der Obernpfaltz, einen in aller Philosophischen Wissenschafft wohl erfahrnen Mann, Herr Christian Knorrn von Rosenroth, angetroffen«, welcher die
|| Fehler geht wahrscheinlich auf Gerhard Dünnhaupt in seiner Personalbibliographie zu Drucken des Barock zurück. Siehe van Gemert: Boethius (Anm. 8) S. 114. Van Gemert untersucht vor allem die Übersetzungsprinzipien. Schuld an der Tatsache, dass Helmont nicht als Übersetzer anerkannt wird, ist wohl, dass sein Einfluss am Hof von Sulzbach und auf Christian Knorr von Rosenroth generell unterschätzt wird. 17 Dies bestätigt auch die Untersuchung von Max Reinhart: De consolatione (Anm. 6). 18 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. 3. Teil, Tübingen 1978, S. [79]. 19 Dies ist ein Hinweis darauf, dass Knorr bereits 1667 am Hof in Sulzbach tätig war; er erscheint zwar 1667 in den Rechnungsbüchern, seine Bestallungsurkunde ist aber auf den 14. Juli 1668 datiert. Vgl. Manfred Finke: Sulzbach im 17. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte einer süddeutschen Residenz. Regensburg 1998, S. 148.
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Verse so gut übersetzt habe, dass man zwischen dem »Grund-Text« und der Übersetzung keinen Unterschied gefunden habe.20 Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass Helmont derjenige ist, der die Übersetzung geplant hat und einen Übersetzer für die Verse suchte, wobei er nicht Knorrs poetische Fähigkeiten hervorhebt, sondern dessen Erfahrung in der Philosophie, die es ihm erlaubte, den Text adäquat zu übersetzen. In der Tat ist Christian Knorr von Rosenroth 1667 noch nicht als Dichter hervorgetreten, abgesehen von Gelegenheitsgedichten für Studienkameraden. Sein erstes publiziertes poetisches Werk wird das alchemistische Drama Conjugium Phoebis et Palladis zur Hochzeit von Leopold I. mit der Pfälzer Prinzessin Eleonora Magdalena Theresia von Pfalz-Neuburg im Jahre 1677 sein.21 Die Übersetzung der Verseinlagen der Consolatio philosophiae können also als erstes poetisches Werk von Knorr von Rosenroth angesehen werden. Er hat später einen Teil davon in seinen Neuen Helicon aufgenommen. Ausgehend von der Annahme, dass der Auswahl eine Absicht zugrunde liegt, die Aufschluss über die Art des Interesses an Boethius geben kann, soll diese nun näher untersucht werden. Der Neue Helicon mit seinen Neun Musen ist 1684 bei Felßecker in Nürnberg anonym erschienen, verfasst »von einem Liebhaber Christlicher Ubungen«. 1699 erschien eine Titelauflage ebenfalls bei Felßecker in Nürnberg.22 Dass Knorr der Verfasser der Gedichte und Übersetzungen ist, ist unbestritten, nicht
|| 20 Des Fürtrefflichen Hochweisen Severini Boethii Consolatio Philosophiae oder Christlichvernunfft-gemesser Trost und Unterricht in Widerwertigkeit und Bestürtzung […]. Zum andernmal auffgelegt. Lüneburg 1697, Günstiger Leser, unpag. 21 In einem Brief an Gottlieb Spizel berichtet er am 28. Nov. 1660, er habe in Leipzig mit Schülern eine Komödie aufgeführt; man weiß von ihr allerdings nicht, ob er sie selbst geschrieben hat; vgl. Klaus Jaitner/Rosmarie Zeller: Drei Briefe von Christian Knorr von Rosenroth an Gottlieb Spizel. In: Morgen-Glantz 23 (2013), S. 309–328, hier S. 315 bzw. 323. Manfred Finke schreibt Knorr auch das 1668 aus Anlass der Heirat von Maria Hedwig Augusta, der Tochter Christian Augusts, erschienene Schauspiel Der kilanische Gärtner zu, was aber nicht zu beweisen ist; vgl. Finke: Sulzbach (Anm. 19), S. 150–156. 22 Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Das ist Geistliche Sitten-Lieder / Von Erkäntniß der wahren Glückseligkeit […] Von einem Liebhaber Christlicher Ubungen zu unterschiedlichen Zeit […] Theils neu gemacht / theils übersetzet / theils aus andern alten / bey Unterrichtung seiner Kinder geändert. Nunmehro aber zusammen geordnet und von einem guten Freunde zum Druck befördert. […]. Nürnberg 1684 (VD 17: 1:669812U). Zweite Auflage (Titelauflage) Nürnberg 1699 (VD 17: 12:121914F). Das Bändchen ist nicht sehr verbreitet (VD 17 führt 5 Bibliotheken für die erste Auflage und nur eine für die zweite Auflage an, eine dritte Auflage von der manchmal die Rede ist, ist nicht nachzuweisen.). Neudruck: Christian Knorr von Rosenroth: Der neue Helicon mit seinen Neun Musen. Hg. von Rosmarie Zeller und Wolfgang Hirschmann. Beeskow 2016.
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identifiziert ist der »gute« bzw. »samlende Freund«, der auf dem Titelblatt erscheint und das der Sammlung vorangestellte Gedicht unterzeichnet: »Nunmehro aber zusammen geordnet und von einem guten Freunde zum Druck befördert.« Es liegt nahe anzunehmen, der »samlende Freund« sei Helmont, der folglich auch, was ich in meinen bisherigen Untersuchungen zum Helicon nicht berücksichtigt hatte, die Zusammenstellung vorgenommen hat. Dies ist, wie sich zeigen wird, nicht unwichtig, weil dahinter ein Programm steht, welches im Titel der einzelnen Teile sichtbar wird: Der erste Teil handelt von der »Erkäntnüß der Glückseligkeit«, der zweite von der »Erkäntnüß der Unglückseligkeit falscher Güter«, der dritte »Von den Mitteln zur wahren Glückseligkeit zu gelangen«, der vierte »Von den Mitteln sich in wahrer Glückseligkeit zu erhalten«. Die didaktische Absicht, dem Leser zu zeigen, wie er die wahre Glückseligkeit erlangen kann, wird durch die Titel der einzelnen Gedichte noch unterstrichen. Wie die Boethius-Übersetzung für die Kinder bestimmt ist, so heißt es auch von den Gedichten des Helicon, sie seien »theils aus andern alten / bey Unterrichtung seiner Kinder geändert« worden. Mit den »alten« sind wohl vor allem die Übersetzungen der lateinischen Hymnen gemeint, die Prudentius und Bernhardus zugeschrieben werden, sowie die Übersetzungen aus Boethius. Von den 40 Gedichten, die Knorr in der Consolatio übersetzt hat, hat er bzw. der »samlende« Freund23 fünfzehn in den Neuen Helicon übernommen, und zwar ausschließlich aus den Büchern eins bis drei der Consolatio, keines aus den Büchern vier und fünf. Weitaus die meisten Gedichte des Boethius finden sich im zweiten Teil des Helicon, der von der »Erkäntnuß der Unglückseligkeit falscher Güter handelt.« Helmont hat in seiner Boethius-Ausgabe jeweils eine Zusammenfassung an den Anfang der einzelnen Bücher gesetzt, aus der man erkennen kann, wie er deren Inhalt interpretiert. Daraus kann man auch die Interpretation der entsprechenden Gedichte entnehmen. Interessant mit Blick auf Knorrs Helicon ist in der Consolatio gleich der erste Satz des ersten Buchs: »Dem gefangenen Boëtio erscheinet die Philosophi oder Weisheit / und jaget die Poëtischen Musen, oder Kunst-tichterinnen / von ihm weg / und nachdem sie sich ihme zu erkennen gegeben / tröstet sie ihn mit dem Exempel anderer weiser Männer […].«24 Auf dem Titelkupfer von Knorrs Helicon sind statt der Leidenschaften die Musen dargestellt. Zuoberst thront anstelle
|| 23 Ich werde im Folgenden der Einfachheit halber nur noch von Knorr sprechen, wobei man nicht vergessen sollte, dass die Überschriften zu den Boethius-Gedichten vielleicht dem »samlende[n] Freund« zuzuschreiben sind. 24 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 30.
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von Apollo Christus.25 Das heißt, Knorr hat als Dichter des Neuen Helicon die Musen vertrieben, um der Philosophie Platz zu machen. Seine Dichtkunst steht im Dienst der Philosophie bzw. Theologie. Die Musen sind nicht geeignet, die Schmerzen des kranken Boethius zu lindern, wie die Philosophie erklärt, im Gegenteil: sie vermehren seine Schmerzen noch durch ihr süßes Gift. Im zweiten Buch der Consolatio erfährt Boethius, dass er sich nach der »menschlichen / doch falschen glückseligkeit« sehne, dass aber die richtige Glückseligkeit »nicht in zufälligen sachen / nicht in reichtum / nicht in würdigkeit und ansehen / nicht in grosser macht / auch nicht in ehr und grossem namen bestehe / ja bißweilen das widerwärtige glück selbsten gut und nützlich seye.«26 Wiederum ist die Übereinstimmung mit dem Helicon frappant. Dessen Untertitel lautete: »Von Erkäntniß der wahren Glückseligkeit / und der Unglückseligkeit falscher Güter; dann von den Mitteln zur wahren Glückseligkeit zu gelangen / und sich in derselben zu erhalten.« Das erste Gedicht des ersten, der Erkenntnis der wahren Glückseligkeit gewidmeten Teils gibt schon einmal das Ziel vor: »Die rechte Glückseligkeit sey ein beständiger Seelengenuß / eines ungezweifelten Gutes / und zwar des Höchsten.« Die sechs weiteren Gedichte kreisen um das Thema der »Gemüths-Ruh«; zwei davon stammen aus Boethius. Dasjenige aus dem ersten Buch der Consolatio wird von Knorr bzw. dem Freund mit dem Titel »Von den Früchten der Gemüths-Ruh« überschrieben. Es ist ein Gedicht, das die personifizierte Philosophie Boethius vorträgt, um ihm zu zeigen, dass man, wenn man die Affekte beherrsche, ruhig leben kann. Kan dann die Seelen-Krafft den Schrecken nicht bezähmen? Wer nimmer etwas hofft / und auch nichts fürcht dabey Kann dem elenden Grimm die Waffen bald benehmen. Wer aber furchtsam lebt / und noch in Hoffnung steht/ Geräth in Unbestand / und ist nicht mehr sein eigen.27
Während bei Boethius »Furcht« und »Hoffnung« nur einmal genannt werden, wiederholt Knorr die Begriffe, indem er sie abwandelt: Schrecken, fürchten, furchtsam. Der Ausdruck »Seelen-Krafft« fehlt bei Boethius, ist aber für Knorrs Konzept der Zähmung der Affekte wichtig.28 Auch das Titelkupfer thematisiert diesen Aspekt, in der Darstellung der Affekte Furcht und Hoffnung. Blitze bedrohen die Furcht, wodurch weitere Verse des Gedichts illustriert werden:
|| 25 Das Titelblatt ist abgebildet im Neudruck, vgl. Knorr: Der neue Helicon (Anm. 22). 26 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 67. 27 Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 9–11, Aria VI. 28 Siehe dazu unten, S. 13ff.
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Er [d. h. der nicht furchtsam ist] acht den schnellen Stral und Brand des Wetters nicht / Wenn gleich sein Schwefel-Blitz die höchsten Thürn entzündet.
Als zweites Gedicht dieses ersten Teils, welches »Von einigen Anfängen der Gemüths-Ruh« überschrieben ist, figuriert ein Gedicht aus dem zweiten Buch des Boethius, in dem es um die Voraussetzungen geht, die nötig sind, um ein beständiges Haus zu bauen. Ein solches Haus sollte man weder auf den Gipfeln noch auf Treibsand bauen, sondern auf Stein, so dass ihm der Zorn des Himmels, der sich wiederum in Blitzen äußert, nichts anhaben kann. Es geht hier um den stoischen Aspekt in Boethius’ Consolatio, der aber durch das Christentum überwunden werden soll, wie zu zeigen sein wird. Der zweite Teil des Helicon ist der »Erkäntnus der Unglückseligkeit falscher Güter« gewidmet, er enthält zwölf Gedichte aus der Consolatio und zwar größtenteils aus dem zweiten und dritten Buch. Im dritten Buch des Boethius geht es gemäß Helmonts Zusammenfassung darum, dass die Philosophie Boethius zeigt, dass viele die Glückseligkeit da suchen, wo sie nicht zu finden ist, »dann etliche setzen sie im samlen grosses reichthums; andere in grossen ehren / freundschafft der Könige und grosser Herren: Ruhm und lob wegen herrlicher thaten / in Adel / und in wollüsten deß leibs«.29 Wiederum lesen sich die Überschriften zu den Gedichten des zweiten Teils des Helicon wie eine Übernahme dieses Textes: »Wie unglückselig diejenigen / so das wahre Gut auf der Welt suchen«; »Daß auch die Ehre der Welt voller Unglückseligkeit sey«; »Daß auch grosser Adel nicht glückselig mache«; »Daß auch der Reichthum voller Unglückseligkeit. Daß auch der schmuck von Gold und Edelsteinen nicht glückselig mache«; Die gröste Unglückseligkeit bestehe in Herrschafft der Leidenschaften«.30 Knorr hält die Reihenfolge von Boethius’ Gedichten nicht ein. Besonders auffällig ist, dass das letzte Gedichte des dritten Buches, welches die Orpheussage als Beispiel für einen Menschen erzählt, dem es nicht gelungen ist, sich der Verführung der Augen zu entziehen, bei Knorr in der Abfolge der zu verachtenden Güter bereits an dritter Stelle erscheint. Dies ist umso auffälliger, als das Gedicht einen deutlichen Erkenntnisfortschritt des Boethius markiert, indem Boethius zusammenfassend feststellt, dass Gott das höchste Gut sei: »Ferner sagtest du / daß GOtt selbst das höchste gut / und vollkommene seligkeit wäre / daher du dann ferner / als eine zugabe / beyfügtest / daß niemand könte selig
|| 29 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 114. 30 So die Formulierung im Inhaltsverzeichnis. Die Formulierung der Titel über den Gedichten weicht leicht ab.
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seyn / der nicht auch GOtt oder Göttlich wäre«.31 Das auf diese Feststellung folgende Orpheusgedicht beginnt mit der Strophe: Wie selig ist der Mensch der jenen Brunn gefunden / Davon das höchste Gut in klaren Strömen rinnt: Und der vom Band und Joch der schweren Erd’ entbunden / Die wahre Freyheit find.32
Diese erste Strophe findet wiederum eine Entsprechung auf dem Titelkupfer, auf dem rechts der aus dem Helikon entspringende Brunnen abgebildet ist. Wenn Knorr das Gedicht so früh einreiht, interpretiert er es nicht als den Gipfel der Erkenntnis des zweiten Teils, sondern wie das vorangehende als ein Beispiel, dass man das wahre Gut nicht in der Welt suchen soll. Das Abschlussgedicht des zweiten Helicon-Teils steht im zweiten Buch der Consolatio und entwirft ein Bild der goldenen Zeit, in welcher man einfach lebte und in welcher folglich noch kein Geiz herrschte. Interessant ist, dass Knorr in seiner Übersetzung an zwei Stellen das Wort ›Gott‹ einführt, das bei Boethius nicht vorkommt, erstmals in der zweitletzten Strophe: »O wolte Gott! es würd’ jetzund | Das gantze Wesen unserer Zeiten | Jn solchen Stand gesetzt, wie es vor Jahren stund!« In der letzten Strophe wird gesagt, Gott habe das Gold verborgen, das nun zum Verderben der Menschen gefunden worden sei. Das Gold, das es zu fliehen gilt, ist auf dem Titelkupfer ebenfalls abgebildet. Im dritten Teil, in dem es um die Mittel geht, zur wahren Glückseligkeit zu gelangen, gibt es nur noch ein Gedicht aus Boethius, welches aus dem dritten Buch der Consolatio stammt. Es ist das stark neuplatonisch gefärbte neunte Gedicht des dritten Buches. Dem Gedicht geht ein Dialog voraus, in dem die Weisheit feststellt, dass Boethius nun erkannt habe, »welches die wahre glückseligkeit sey / und was die jenige ding seyn / die sich dieses namens fälschlich behelffen«. Es gehe jetzt noch darum, dass Boethius erkenne, »woher / und von wem du solche wahre glückseligkeit begehren / suchen und erlangen könnest«.33 Die Weisheit beruft sich auf Platons Timaios, um zu begründen, dass man »auch in den geringsten Sachen die Göttliche hülffe anruffen solle«. In der Boethius-Rezeption wird das Gedicht als christliches Gebet interpretiert,34 was
|| 31 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 172. 32 Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 16, Aria 10. 33 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 147. 34 Siehe Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius De Consolatione Philosophiae. Berlin/New York 1978, S. 277. Gruber weist darauf hin, dass bereits Renatus Vallinus den platonischen Gehalt dieses Gedichts erfasst habe. Das Gedicht steht nach Gruber genau in der Mitte der
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durch die dem Gedicht vorangehende Aufforderung des Boethius unterstützt wird: »Wir müssen den Vater aller dinge anruffen / ohne dessen hülffe nichts beständiges angefangen wird«.35 Darauf singt die Weisheit das Lied: »Schöpfer Himmels und der Erden«, welches eigentlich ein Lobhymnus auf den Schöpfergott ist. Knorr spielt durch die Überschrift »Verlangen nach dem göttlichen Lichte« auf die Lichtmetaphorik an, welche im Helicon eine wichtige Rolle spielt, aber auch in der Kabbala. Man kann das Gedicht überhaupt mit den Augen der von der Kabbala vertretenen Schöpfungsgeschichte lesen, welche ihrerseits platonische Einflüsse aufgenommen hat. So kann man die folgenden Verse verstehen: »Dich, Herr, trieb des höchsten gutes wesentliche neigung an, | die, sich selber mitzutheilen, keine mißgunst hindern kann.« Gott hat die Schöpfung »nach dem muster, das sich in dir selbst befind«, geschaffen. Gott trägt »die wunderschöne Welt | Würcklich selber im gemüthe«.36 Alle diese Aussagen drücken den Gedanken aus, dass die Welt in Gottes Geist bestanden hat, bevor sie real erschaffen wurde; dass sich Gott in der Schöpfung selbst mitteilt; dass die Schöpfung eine Emanation Gottes ist. Dies alles sind in kabbalistischen Schriften vertretene Gedanken. Noch auffälliger ist der Gebrauch, den Knorr vom Wort ›Seele‹ macht. Während Boethius von der in der Mitte thronenden Seele spricht, spricht Knorr von der »Mittel-Seele«, welche, nachdem sie zwei Kreise durchwandert hat, wieder zu sich selber kommt. Wenn Knorr von der »Mittel-Seele« spricht, so impliziert das, dass es noch mindestens zwei andere Seelen geben muss, eine untere und eine obere. Auch das erinnert an das Seelenkonzept der Kabbala, wo es mindestens drei Seelenteile gibt: Nefesh, Ru’ah und Nesomah. Die mittlere Seele Ru’ah wird mit »spiritus« wiedergegeben. Dieser Geist bewegt sowohl die Erde wie den Himmel, ein Gedanke, den man in der Übersetzung des Boethius wiederfindet:37 »Du vertheilst die Mittel-Seele, welche dreyfach ist von art, | Und den grossen bau zu regen, keine müh noch sorge spart« – »und bewegt also den Himmel, daß er auch im Circkel geht.«38 Unter dem großen Bau kann man den Makro-
|| Consolatio. Vgl. auch Helga Scheible: Die Gedichte der Consolatio Philosophiae des Boethius. Heidelberg 1972, S. 101. 35 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 148. 36 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 148, bzw. Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 77f. (mit abweichender Schreibweise) 37 Scheible: Gedichte (Anm. 34), S. 106ff., verweist bei dieser Stelle auf Platons Timaios, der im Kontext von Boethius zitiert wird, wobei bei Platon diese Seele, die sie Allseele nennt, aus geistigen und der stofflichen Natur zusammengesetzt ist. Die Seele hat die Kraft die Materie zu bewegen 38 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 149, bzw. Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 78.
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kosmos verstehen. In der nächsten Strophe tritt der ebenso auffällige Ausdruck »der Seelen schaaren« auf, der ebenfalls im Helicon vorkommt, nämlich in einer Wendung des Gedichtes Hecatombe, das die kabbalistische Seelenlehre darstellt: »und schaffst der Seelen Schaar«.39 In der Tat hat Gott nach kabbalistischer Vorstellung noch vor den Engeln die Seelen geschaffen. Von diesen Seelen nun heißt es im Gedicht, dass die einen ins »Himmelsfeld« hinauf, die anderen in die Welt herunter fahren, dass aber auch diese wieder zu Gott zurückkehren und sich »im feur erhöhn«. Auch dies ist eine Vorstellung der Kabbala, dass letztlich alle Seelen wieder zu Gott zurückkehren. Zuletzt bittet das Ich Gott, dass sein Gemüt »deines liechtes glantz und schein« sehen könne. Auffällig ist hier die Wiedergabe des lateinischen »lux« mit der insistierenden Formulierung, die in drei Substantiven »Licht«, »Glanz« und »Schein« die Idee des Lichtes ausdrückt. »Glanz« ist wiederum ein mit kabbalistischer Bedeutung aufgeladener Ausdruck, lautet doch die Übersetzung für den Sohar »Buch des Glanzes«. Die Metaphorik des Lichts spielt eine wichtige Rolle im Helicon. Das Gedicht des »samlende[n] Freund[es]«, das dem Helicon voransteht, ist von der Licht-Glanz-Metaphorik durchzogen, Gott wird als »Vatter alles Lichts« angeredet, und es heißt von ihm: »Der Höchste glänzt allein.« Auf dem Titelkupfer dringen über dem Helicon Strahlen aus der Höhe durch die Wolken, ebenso wie auf dem Titelkupfer der Kabbala denudata. Schließlich wird auch die Vorstellung, Gott zu schauen, welche im Lateinischen lediglich »te cernere finis« lautet, mit einer eindringlicheren Wendung wiedergegeben, indem nochmals auf die Vollkommenheit Gottes hingewiesen wird: »Dich zu schauen ist der zweck, in dem alles ist vollkommen.« In diesem Zusammenhang ist es erhellend, einen Blick auf die Helwig’sche Übersetzung dieses Gedichts zu werfen. Der in der ersten und zweiten Strophe ausgedrückte Gedanke, dass Gott alles aus sich heraus erschaffen hat, dass die Welt eine Mitteilung Gottes, eine Emanation Gottes ist, kommt bei Helwig überhaupt nicht vor. Weder die »Mittel-Seele« noch die »Seelen schaar« erwähnt er. Dort, wo Knorr von der Mittel-Seele spricht, welche den großen Bau bewegt, heißt es bei Helwig: »Du leitest / bereitest den seeligen Geist / | der iedem Bewegung und Regung anweist.«40 Der Gedanke, dass die Seele am Schluss wieder zu Gott zurückkehrt, ist bei Helwig sehr abgeschwächt in der Formulierung: »was hägend und regend die
|| 39 Zu diesem Gedicht vgl. Rosmarie Zeller: Eine kabbalistische Ausdeutung der Hecatombe oder Hundert Lob-Sprüche von Christian Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 23 (2013), S. 329–254. 40 Boethius: Bedenken (Anm. 5), S. 136.
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Gnade gereicht / | solchs billig und willig zu dir wiedrum weicht.«41 Die Gnade verträgt sich besser mit der orthodox-lutherischen Auffassung als das Konzept der »Mittel-Seele«, die nach der Durchwanderung der zwei Kreise wieder zu sich selber kommt. Schließlich ist bei Knorr nicht von Gnade, sondern von der Güte Gottes die Rede, die die Seele »wieder zu dir kehren« lässt, ebenfalls ein zentrales Konzept in den philosophischen Reflexionen Helmonts und Knorrs. Das Attribut Güte erscheint nochmals, als das Ich darum bittet, dass es »den brunn der güte« beschauen und »deines liechtes glantz und schein« finden möge.42 Bei Helwig heißt es mit der typischen Vorliebe der Nürnberger für die Binnenreime: »Gib Vatter / gib günstig / daß brünstig verehre | die Seele dich / gebührlich dein Ehre vermehre.«43 An solchen Stellen wird sichtbar, weshalb Helmont die Nürnberger Übersetzung nicht genügen konnte, denn er liest Boethius auf seine eigenen, neuplatonischen Konzepte hin. Es geht in diesem Gedicht nicht nur um einen Lobpreis der Schöpfung, wie in der christlichen Tradition interpretiert wurde, sondern um die Erhöhung der Seele zu Gott. Dies wird auch deutlich, wenn man den Kontext berücksichtigt, in dem das Gedicht im Helicon steht. Es folgen: »Verlangen nach dem Heiligen Geist«, dann eine Übersetzung eines Gedichtes von Henry More, welches die Geburt Christi auf den Menschen bezogen als Geburt zu einem neuen Leben interpretiert, in dem der Mensch »hier auff Erden | Kan Gott gleichförmig werden.«44 Auch in diesem Gedicht finden sich Formulierungen, welche auf kabbalistische Vorstellungen verweisen, indem z. B. von Christus gesagt wird, er habe sein »Ehren-Kleid voll Glantz und Licht« abgelegt und sich in ein Menschenkind verwandelt. Es folgt dann eine Reihe von Gedichten, die mit »Aufmunterung zum Glauben« bzw. »zur Besserung deß Lebens« überschrieben sind, wobei es immer wieder darum geht, dass der Mensch seine Affekte bezähmt und dadurch zu einem gottähnlichen neuen Menschen werden kann. Wenn die Auswahl der Gedichte, die Knorr bzw. der »samlende Freund« aus Boethius in den Helicon übernommen hat, im Kontext der Sammlung sinnvoll erscheint, so kann man sich fragen, warum er keines der Gedichte aus dem vierten und fünften Buch der Consolatio übernommen hat. Der Inhalt des vierten Buches besteht gemäß Helmonts Zusammenfassung in der Erklärung der
|| 41 Ebd., S. 137. 42 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 150, bzw. Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 78f. 43 Boethius: Bedenken (Anm. 5 ), S. 137. 44 Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 83.
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Philosophie, dass die Bösen letztlich bestraft und die Guten belohnt werden, auch wenn es auf der Erde nicht so aussieht; sie beschreibt, was »das verhengniß oder Göttlicher ordnungsausspruch« ist.45 Im fünften Buch geht es wiederum um die Frage der göttlichen Vorsehung und des freien Willens. Dass die Tugend belohnt und die Laster bestraft werden, dass Gott grundsätzlich gerecht ist, entspricht der Auffassung von Helmont und Knorr und hat offensichtlich auch Leibniz in besonderem Maße an Boethius interessiert.46 Die Frage nach der Güte Gottes muss bei Knorr und Helmont nicht mehr diskutiert werden. Sie ist eine Grundannahme des Neuen Helicon, wie sie es zum Beispiel auch für den englischen Platoniker Henry More war, mit dem Knorr und Helmont ebenfalls in Kontakt standen. In dieser Hinsicht ist eine kleine Abweichung im Titel der Nürnberger und Sulzbacher Übersetzung nicht unwichtig: Im Titel der Nürnberger Übersetzung heißt es: »wie man sich bei vordringendem Gewalt und Wohlergehen der Gottlosen auch unrechtmässigem Leiden und Ubelgehen zu trösten habe«, in der Sulzbacher Übersetzung hingegen ist von »dem vermeinten Wohlund Ubelstand der Bösen und Frommen« die Rede. In der Übersetzung von Helmont und Knorr wird also schon auf dem Titel angedeutet, dass die Ungerechtigkeit, dass es den Bösen gut und den Frommen schlecht geht, nur ein »vermeintlicher« Zustand ist. Zudem suggeriert die Nürnberger Übersetzung mit der Formulierung »vordringende Gewalt«, dass es in der Welt nur schlechter wird, was bei Helmont und Knorr nicht von Ferne angedeutet wird, weil sie mit ihren Schriften in eschatologischer Perspektive dazu verhelfen wollen, dass die Menschen und damit die Welt besser werden. Coudert schreibt zum Verhältnis von Boethius, Knorr und Helmont: They shared Boethius’s Neoplatonic and Stoic orientation and concurred with his view that true happiness can be found only in God, who is the highest good. A constant theme in all van Helmont’s and Knorr’s writing is that real evil does not exist because God is all powerful and all good. Everything that happens to an individual happens for his ultimate benefit; virtue is never unrewarded, just as vice is always punished.47
|| 45 Boethius: Trost und Unterricht (Anm. 2), S. 178. 46 Leibniz schreibt in dem oben (Anm. 11) zitierten Brief an Sophie Charlotte von Brandenburg: »Car à voir le succès des mauvais, les malheurs des bons, la brieveté et les maux ordinaires de la vie humaine, et mille desordres apparens qui s’offrent à nos yeux, il semble que tout va par hazard. Mais ceux qui examinent l’interieur des choses, y trouvent tout si bien reglé, qu’ils ne sçauroient douter que l’univers ne soit gouverné par une souveraine intelligence« (S. 545). 47 Coudert: Impact (Anm. 10), S. 58.
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Sie bemerkt auch, dass für Knorr und Helmont kein Unterschied zwischen Philosophie und Theologie bestand, dass die Philosophie der Schlüssel zur theologischen Wahrheit und die Theologie der Schlüssel zur philosophischen Wahrheit ist. Auf dem Titelkupfer der Kabbala denudata wird dementsprechend die Kabbala so dargestellt, wie man üblicherweise die Philosophie darstellt.48 Im Neuen Helicon geht es denn auch im Unterschied zu Boethius’ Consolatio Philosophiae nicht darum, die Fragen von Tugend und Laster, von freiem Willen und Vorsehung zu diskutieren, sondern das Liederbuch ist eine Art Lehrbuch, wie man durch das richtige Verhalten schon in diesem Leben Gott gleich werden und somit den Zustand der Glückseligkeit erreichen kann. So heißt es in einer bezeichnenderweise gegenüber dem Original hinzugefügten Strophe der Übersetzung der lateinischen Hymne »Pangue lingua gloriosi«: Laß uns deinem Sohn auff Erden/ Tod und lebend ähnlich werden.49
In dem dem Helicon angehängten Schauspiel von der Vermählung Christi mit der Seele wird erklärt: Zween Wege sind zum vollkommenen Leben/ welches das höchste Gut heisset: auf dem Wege der Philosophie kan die Tugend und die Leidenschafft nicht beysammen stehen; und haben deßwegen die Stoischen am weitesten kommen können/ weil sie allen Leidenschafften abgesaget/ und sich nicht getrauet/ wenn eine einige übrig bliebe/ dieselbe recht meistern zu können; zumahlen auch die blose Natur gar zu wenig Kräffte darzu hat; dannenhero die andern Philosophen/ so die Affecten neben bey behalten/ mit ihrem Leben weit hindan geblieben/ und es den Stoischen nie gleich gethan. Auf dem Wege Christi aber/ welcher den Philosophischen weit übersteiget/ können die Leidenschafften beybehalten/ und wenigst wie die Thiere im Paradieß angesehen werden/ welche Gott dem Adam zu regieren untergab: weil auf diesem Wege eine übernatürliche Hülffe bey allen Handlungen erbeten wird/ dadurch die Leidenschafften so weit erhöhet werden können/ daß man sie von Tugenden nicht zu unterscheiden weiß: und dieses ist die allhier gesuchte Vermählung der Leidenschafft/ oder Adibe, und der Tugend.50
Das Christentum ist also den antiken Philosophen insofern überlegen, als es dank der göttlichen Hilfe möglich ist, die Leidenschaften so zu zähmen, dass sie geradezu zu Tugenden werden. Der Neue Helicon gibt die Anleitung dazu.
|| 48 Vgl. meine Interpretation des Titelkupfers: Rosmarie Zeller: Der Paratext der Kabbala Denudata. Die Vermittlung von jüdischer und christlicher Weisheit. In: Morgen-Glantz 7 (1997), S. 141–169. 49 Knorr: Neuer Helicon (Anm. 22), S. 112, Lied XLII. 50 Ebd., S. 219f.
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Die Frage ist, warum es Helmont und Knorr so wichtig war, durch die Boethius-Übersetzung zu betonen, dass das höchste Gut in Gott liegt, der gerecht und gut ist, und dass man durch Bezähmung der Leidenschaften schon in diesem Leben das höchste Gut oder den »Brunn der Güte« beschauen kann. Eine Antwort auf diese Frage kann man in den zwei Schriften finden, die als nächste aus Sulzbach kommen: die Eigentliche Erklärung über die Gesichte S. Johannis mit dem bezeichnenden Untertitel Darinnen Das wahre und falsche Christenthum / kürtzlich doch eigentlich abgemahlet, und eine Abhandlung zur Präexistenz der Seelen, die beide 1670 erschienen sind.51 Die Ausdeutung der JohannesApokalypse dokumentiert das eschatologische Interesse der beiden Gelehrten und vielleicht auch das des Herzogs, der sich jedenfalls um eine Versöhnung der Kirchen bemühte. Bei der Frage um die Präexistenz der Seelen, die vor allem in England heftig diskutiert wurde und an der sich auch Helmont mit mehreren Schriften beteiligte,52 ging es hauptsächlich darum, die Auffassung, dass Gott grundsätzlich gut ist, mit der Tatsache zu vermitteln, dass eine große Ungleichheit unter den Menschen dieser Welt besteht.53 Wenn Gott gut ist, muss er jedem Menschen gleichermaßen die Chance auf Erlösung geben. In seinem Paradoxal Discourse schreibt Helmont, man müsse die »Fundamental-Regel« im Gedächtnis haben: das GOtt niemahls der Sünden halber anders straffe / als zu dem Ende / daß sein Geschöpff dadurch möge gebessert / und seine Seeligkeit befördert werden / […], indem er in dem höchsten Grad gerecht und gut ist / und gibt dem Menschen die Frucht seines Thuns.54
|| 51 Eigentliche Erklärung über die Gesichter der Offenbarung S. Johannis / Voll unterschiedlicher neuer Christlicher Meinungen. Darinnen das wahre und falsche Christenthum / kürtzlich doch eigentlich abgemahlet […] Geschrieben durch Peganium Anno MDCLXX (VD17: 12:107467D) Neudruck: Christian Knorr von Rosenroth: Apokalypse-Kommentar. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 2004. Christian Knorr von Rosenroth: Dissertatio De Existentia animarum Antequam in aspectabili hujus Vitae theatro compareant […]. o. O. 1672. Der Text ist abgedruckt und übersetzt in: Morgen-Glantz 19 (2009), S. 453–504. 52 Siehe Coudert: Impact (Anm. 10), S. 195. Sarah Hutton: Henry More and Anne Conway on Preexistence and Universal Salvation. In: Maria-Luisa Baldi (Hg.): »Mind Senior to the World«. Stoicismo e origenismo nella filosofia platonica del seicento inglese. Mailand 1996, S. 75–87. 53 Die Diskussion ist vor allem im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung der calvinistischen Prädestinationslehre entstanden. Vgl. Hutton: Henry More (Anm. 52). 54 Franciscus Mercurius van Helmont: Paradoxal discourse, Oder, Ungemeine Meynungen von dem Macrocosmo und Microcosmo, […] auss der Englischen in die hochteutsche Sprache übersetzet. Hamburg 1691, S. 286, § 18.
Die Sulzbacher Übersetzung von Boethius’ »Trost der Philosophie« | 189
Im Konzept der Präexistenz der Seelen hat Gott alle Seelen bei der Erschaffung der Welt ebenfalls erschaffen. Sie finden nach und nach Eingang in menschliche Körper, bis sie wieder erlöst werden und schließlich wieder zu Gott aufsteigen. Im Fall der Seelen vom anfänglichen Zustand der Glückseligkeit in die reale Welt spielen die Affekte eine grundlegende Rolle. Knorr erklärt im ersten Kapitel seiner Dissertatio, in welcher er Henry Mores Argumentation aus dessen Schrift The Immortality of the Soul übernimmt, dass sich die Seele zu Beginn der Schöpfung in einem Zustand »himmlischer Glückseligkeit« befinde, »gesättigt mit himmlischen Freuden, welche in der liebevollen Betrachtung des höchsten Gutes bestehen«.55 Man beachte die Übereinstimmung der Terminologie mit jener des Boethius und des Neuen Helicon. Trotz dieses glückseligen Zustandes beginnt die Seele, ihren stofflichen Träger näher zu betrachten, bewundert ihn mit schrankenloser Leidenschaft und stürzt sich schließlich in einen Strudel sinnlicher Freuden. Durch dieses Verhalten gleitet die Seele in einen weniger glücklichen Zustand ab, sie degeneriert auf eine gewisse Weise und ist nicht mehr imstande, das himmlische Leben fortzuführen. In diesem Zustand ist ihre ursprüngliche Geisteskraft eingeschränkt und betäubt, und es wirkt allein noch ihre plastische Kraft (vis plastica), die sie mit Hilfe des spiritus naturae in einen irdischen Körper führt. Die Seele büßt also im Leben für die in ihrem früheren Leben begangenen Sünden; damit wird die Erbsünde geleugnet, weswegen die Doktrin von der Kirche abgelehnt und bekämpft wurde. Andererseits wird durch diese Konzeption impliziert, dass man durch die Beherrschung der Affekte die Seele so reinigen kann, dass man schon in diesem Leben die Glückseligkeit erlangen kann. Dies ist darum wichtig, weil dadurch der Eintritt des Millenniums befördert werden kann.56 In dieser Perspektive erklären sich auch die anderen Schriften, die von Sulzbach ausgingen. Wenn man Brownes Pseudoxia epidemica oder Della Portas Magia naturalis übersetzte und die Werke mit neuen Erkenntnissen gar erweiterte, so diente das jener Wissensvermehrung, welche nach dem Glauben millennaristischer Kreise eine Voraussetzung für den Eintritt des Millenniums war.57
|| 55 Knorr: Dissertatio (Anm. 51), S. 457. Henry More: The Immortality of the Soul. Hg. von Alexander Jakob. Dordrecht u. a. 1987. Die Schrift erschien erstmals 1662. Knorrs Dissertatio folgt weitgehend Mores Schrift. 56 Vgl. dazu Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden 1992, S. 103, 111. 57 Vgl. Charles Webster: The great Instauration. Science, Medicine and Reform, 1626–1660. Bern 2002.
190 | Rosmarie Zeller
Die Boethius-Übersetzung dient wie der Neue Helicon als Buch, welches den Weg zur persönlichen Glückseligkeit weist und welches daher zur Verbesserung des einzelnen Menschen beiträgt. Dadurch dass »[d]er samlende Freund« den Gedichten des Boethius Titel gegeben hat, verdeutlicht er, wie sie gelesen werden sollen. Die Reinigung der Seele von den Affekten hat Knorr in seinen beiden Schauspielen Conjugium Phoebis et Palladis und Vermählung Christi mit der Seele dargestellt. In ersterem hat er sich der alchemistischen Metaphorik bedient. Das zweite trägt in einem Szenar den bezeichnenden Untertitel Die höchste Glückseligkeit bestehende in der Vereinigung der Seelen mit GOtt Durch den in Tugenden thätigen Glauben. Hier hat er die Problematik im arabischen Gewand dargestellt.58 Die durch die poetischen Werke vermittelte Botschaft ist aber immer wieder dieselbe: Der Mensch muss sich vervollkommnen, nur so kann der Zustand der Glückseligkeit erreicht werden, dessen Gipfel in der Herrschaft Christi auf Erden im tausendjährigen Reich besteht.
|| 58 Die höchste Glückseligkeit bestehende In der Vereinigung der Seelen mit GOtt / Durch den in Tugend thätigen Glauben […]. Coburg o. J. (aufgeführt in Coburg am 26. Januar 1685).
Martin Mulsow
Eine Reformationsgeschichte als Geschichte des Humanismus Hermann von der Hardts ungedruckte Historia literaria reformationis und die Entdeckung der Vorreformation um 1717 Von 1688 an erfreute sich der Orientalist, Altphilologe und Exeget Hermann von der Hardt (1660–1746) einer kongenialen Gemeinschaft mit seinem Fürsten Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel, bis zu dessen Tode 1704.1 Rudolf || 1 Zu dieser Gemeinschaft, die man mit der von Goethe und Carl August von Sachsen-Weimar vergleichen könnte, vgl. Dieter Merzbacher: Herzog Rudolf August zu Braunschweig-Lüneburg und das Wolfenbüttler Pietisten-Edikt. In D. M./Wolfgang Miersemann (Hg.): Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Studien und Quellen. Wiesbaden 2015, S. 155–224. – Zu von der Hardt vgl. die ausführliche Studie von Hans Möller: Hermann von der Hardt als Alttestamentler. Habil. masch. Leipzig 1962; vgl. weiter A. G. Hoffmann: Art. ›Hardt‹. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Zweite Section, H–N. Zweiter Theil. Leipzig 1828, Sp. 388–395; Ferdinand Lamey: Hermann von der Hardt in seinen Briefen und seinen Beziehungen zum Braunschweiger Hofe, zu Spener, Franke und dem Pietismus. Beilage I zu den Hss. der Großherzoglichen Badischen Hof- und Landesbibliothek Karlsruhe. Karlsruhe 1891; Stephan Bitter: Göttlicher Wink oder menschliche Ahnung. Hermann von der Hardts Hoseakommentar und die Anfänge der historisch-kritischen Prophetenexegese. In: Ulrich Schoenbaum/Stephan Pfürtner (Hg.): Der bezwingende Vorsprung des Guten. Exegetische und theologische Werkstattberichte. FS Wolfgang Harnisch. Münster 1994, S. 47–63; Ralph Häfner: Tempelritus und Textkommentar. Hermann von der Hardts ›Morgenröte über der Stad Chebron‹. Zur Eigenart des literaturkritischen Kommentars im frühen 18. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 47–71; Dieter Merzbacher: Die »Herwiederbringung der herrlichen Schriften, so fast verloren gewesen«. Das ›concilium Constantiense‹, ein Editionsprojekt Hermann von der Hardts und des Herzogs Rudolf August von Braunschweig-Lüneburg. In: Dorothea Klein u. a. (Hg.): Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Wiesbaden 2000, S. 569–592; Ralph Häfner: »Denn wie das buch ist, muß der leser seyn« – Allegorese und Mythopoesis in den ›Hohen und hellen Sinnbildern Jonae‹ des Helmstedter Gelehrten Hermann von der Hardt. In: Herbert Jaumann (Hg.): Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Wiesbaden 2001, S. 183–202; Martin Mulsow: Sintflut und Gedächtnis. Hermann von der Hardt und Nicolas-Antoine Boulanger. In M. M./Jan Assmann (Hg.): Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs. München 2006, S. 131–161; Gerald Dörner: Das Martyrium des Philologen: Hermann von der Hardt, ein exzentrischer Verehrer Johannes Reuchlins. In: Früchte vom Baum des Wissens: eine Festschrift der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Heidelberg 2009, S. 193–205; Martin Mulsow: Religionsgeschichte in Helmstedt. In: Jens Bruning/Ulrike Gleixner (Hg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Wolfenbüttel 2010, S. 182–189; Asaph
192 | Martin Mulsow
August hatte ihn als Bibliothekar und als Professor für orientalische Sprachen an die Universität Helmstedt berufen und zugleich als engsten Berater gewonnen. Der briefliche Austausch zwischen ihnen zählt jeweils über 1000 Schriftstücke.2 Beide Männer teilten die Leidenschaft für Bücher, für eine einfache Frömmigkeit, aber auch für Rätsel und literarische Spielereien (Abb. 1).3 Rudolf war leidenschaftlicher Lutheraner: Er legte zusammen mit von der Hardt eine umfassende Sammlung von Luther- und Reformationsschriften an, von Drucken und Manuskripten, darunter Autographen Luthers.4 Er plante seit den 1690er Jahren eine »Reformationsbibliothek«, eine »Bibliotheca Lutheri«,5 die er neben den Beständen der Augusteer-Bibliothek zusätzlich mit speziellen Büchern bestücken wollte, gleichsam als Trutzburg gegen die Religionszwistigkeiten seiner Zeit (etwa mit den Radikalpietisten) und als Grundlage für die
|| Ben-Tov: Helmstedter Hebraisten. In: ebd., S. 224–231; Martin Mulsow: Der Silen von Helmstedt. In: Frauke Berndt/Daniel Fulda (Hg.): Die Sachen der Aufklärung. Hamburg 2012, S. 301– 313; ders.: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 209–213; ders.: Politische Bukolik. Hermann von der Hardts Geheimbotschaften. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 7:4 (2013), S. 103–116; ders.: Joseph als natürlicher Vater Christi. Ein unbekanntes clandestines Manuskript des 18. Jahrhunderts. In: M. M./Friedrich Vollhardt (Hg.): Natur [=Jahrbuch Aufklärung 25 (2013)], S. 73–112; ders.: Die Stadt, der Krieg, die Götzen und die Flut. Konstruktionen alttestamentlicher Vergangenheit im Zeitalter der Staatsräson (noch ungedruckt); ders.: Nordischer Krieg und König Josias. Eine ›politische‹ Lesart als Schlüssel zur Biblischen Tradition (noch ungedruckt); ders.: Comic-Strips der Verzweiflung. Zensur, akademische Freiheit und die Personalisierung von Büchern (noch ungedruckt); ders.: Barocker Geist oder Verrückter? Ein Helmstedter Theologe als Liebhaber von Akronymen, Rätseln und Geheimschriften (noch ungedruckt). – Zu Rudolf August vgl. Jochen Bepler: Rudolf August, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg (Wolfenbüttel). In: Horst-Rüdiger Jarck u. a. (Hg.): Braunschweigisches Biographisches Lexikon: 8. bis 18. Jahrhundert. Braunschweig 2006, S. 598f. 2 Rudolf August an Hardt: HAB Cod. Guelf. 126 Extrav. 1–8; 1135 Briefe von 1688 bis 1703; Hardt an Rudolf August: Nied. StA Wolfenbüttel 37 Alt 393–398, etwa die gleiche Zahl aus dem gleichen Zeitraum. 3 Vgl. Merzbacher: Herzog Rudolf August (Anm. 1); Mulsow: Barocker Geist (Anm. 1), wo die Frage gestellt wird, ob diese Leidenschaft bei von der Hardt über die barocke Praxis hinaus auch psychopathologische Züge (inklusive einer lexikalischen Inselbegabung) hatte. 4 Vgl. schon 1690/91: Autographa Lutheri aliorumque celebrium virorum, ab anno 1517 ad annum 1546, Reformationis aetatem et historiam egregie illustrantia. Helmstedt 1690–1691. – Zu von der Hardts Sammlung von Luther-Devotionalien vgl. Stefan Laube: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum. Berlin 2012, S. 197–264. 5 Rudolf an Hardt, 3.1.und 4.1. 1693 (HAB Extrav. 3, 2r und 4r); auch 1.11.1693, fol. 144r: »novantiquam Bibliothecam, partim lepidam, historicam et Theologicam, partim AnteLutheranam, Lutheranam, et Philippeam«. Zitiert nach Merzbacher: Herzog Rudolf August (Anm. 1).
Eine Reformationsgeschichte als Geschichte des Humanismus | 193
Bewältigung auch künftiger Krisen.6 1702 wurde dieses Projekt mit der in Helmstedt gegründeten und Hermann von der Hardt anvertrauten »Bibliotheca Rudolphea« Wirklichkeit.
Abb. 1: Porträt Herzog Rudolf August (Leipzig-Bibliothek Hannover, Ms. I 228, Bd. 11, fol. 30).
Von diesem Programm her sind auch viele der Schriften von der Hardts zu verstehen, die sich auf die Reformation und ihre Inkubationszeit im 15. Jahrhundert beziehen. Denn die »Bibliotheca« sollte auch »AnteLutheranische« Schriften enthalten, die Reformation also in einer zeitlichen Tiefenperspektive auffassen. 1697–1700 erschienen Hardts sechs Folianten Quellenedition zum Konstan-
|| 6 Merzbacher: Herzog Rudolf August (Anm. 1).
194 | Martin Mulsow
zer Konzil, ein direkter Auftrag des Fürsten.7 Zahlreiche Schriften zu vorlutherischen Reformationstendenzen folgten. Vor allem war dabei das zweite Reformationsjubiläum 1717 ein Zielpunkt, den die beiden ins Auge faßten; das Jubiläum ist von Rudolf August und von der Hardt bereits in den 1690er Jahren anvisiert und mit einem Chronosticon als DILVCVLVM bezeichnet worden, ein Wort, das als Zahlenwert 1717 ergibt und vom Inhalt her (»Morgenröte«) als Hoffnung auf bessere Zeiten im Sinne Speners zu deuten ist.8 Als Vorreformation wurde sowohl der Konziliarismus als auch der Humanismus (in Italien wie auch in Deutschland) wahrgenommen. Rudolf August sorgte dafür, dass Traktate von Konzilstheologen wie Jean Gerson – einem der Vordenker der Devotio moderna – oder Johannes Nider gedruckt und in seinem Fürstentum verbreitet wurden, als Manifeste gegen die Tendenzen seiner Zeit.9 Diese Aktivitäten im Vor- und Umfeld des Reformationsjubiläums sind historiographiegeschichtlich von besonderem Interesse, da das Verständnis von Reformation, das es im 18. Jahrhundert gab, insbesondere das Verhältnis der Reformation zur vorreformatorischen Phase, noch wenig erforscht ist.10 Man weiß von der verstärkten Wahrnehmung bezüglich der Waldenser und Hussiten als Vorläufer der Reformation sowohl bei manchen Hugenotten als auch im Rahmen der »Kirchen- und Ketzerhistorie«.11 Der Humanismus war dabei weni|| 7 Hermann von der Hardt: Magnum oecomenicum Constantiense concilium. 6 Bände. Helmstedt 1697–1700. Vgl. dazu Merzbacher: Die Herwiederbringung (Anm. 1). – Noch verschollen sind Hardts ungedruckte Bände zum Baseler Konzil. 8 HAB 126 Extrav. 2, 135r.; vgl. Merzbacher: Herzog Rudolf August (Anm. 1). Zum Jubiläum 1717 vgl. Harm Cordes: Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten. Göttingen 2006. Zum Humanismus als Vorreformation dort S. 165ff. Das Quellenwerk zu den Feierlichkeiten: Ernst Salomo Cyprian: Hilaria evangelica. Gotha 1719. 9 Merzbacher: Herzog Rudolf August (Anm. 1). 10 Zur späteren Zeit vgl. Paul Wunderlich: Die Beurteilung der Vorreformation in der deutschen Geschichtsschreibung seit Ranke. Erlangen 1930; zum Forschungsstand vgl. Erika Rummel: Voices of Reform from Hus to Erasmus. In: Thomas A. Brady Jr./Heiko A. Oberman/James D. Tracy (Hg.): Handbook of European History, 1400–1600. Bd. 2. Leiden 1995, S. 61–92 (mit ausführlicher Bibliographie). 11 Vgl. etwa Sandra Pott: Radical Heretics, Martyrs, or Witnesses of Truth? The Albigenses in Ecclesiastical History and Literature (1550–1850). In: Ian Hunter/John Christian Laursen/Cary J. Nederman (Hg.): Heresies in Transition. Transforming Ideas of Heresy in Medieval and Early Modern Europe. New York 2005, S. 181–194. Zu Arnold vgl. Dietrich Blaufuss/Friedrich Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Wiesbaden 1995. Zu Flacius als Begründer der Sicht auf mittelalterliche religiöse Dissidenten und Kirchenkritiker als »testes veritatis« vgl. Martina Hartmann: Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius als Erforscher des Mittelalters. Stuttgart 2001.
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ger präsent. Trotz Melanchthon war im Jahrhundert vor 1717 das Bewusstsein für die Bedeutung des Humanismus für manche der Reformatoren kaum mehr ausgeprägt. Einzelne Redner und Prediger wiesen allerdings anlässlich des Reformationsjubiläums darauf hin – von der Hardt wohl als stärkste und entschiedenste Stimme unter ihnen.12 Besonders Johannes Reuchlin wurde von ihm (und einigen wenigen anderen) als Schlüsselfigur in diesem Kontext gesehen.13 1717 erschien denn auch von Hermann von der Hardt ein Werk, das er bewusst nicht als Historia reformationis, sondern als Historia literaria reformationis betitelte und in dem das »literaria« nicht im Sinne der Litterärgeschichte, der »historia literaria«, zu verstehen war, sondern als Hinweis auf den Humanismus, die Wiederherstellung der Wissenschaften als »genuine[n] Ursprung« der Umwälzung von 1517.14 Das Werk stellt Luther und Melanchthon in eine Reihe mit Reuchlin, Erasmus, Hutten und anderen; es bringt Quelleneditionen aus den Kämpfen dieser Humanisten gegen verkrustete Strukturen in Kirche und Theologie. Luthers Beitrag zur Reformation wird als ein Aspekt unter vielen gesehen: Wenn Luther nicht aktiv geworden wäre, so von der Hardt, wären es vielleicht Friedrich der Weise, Maximilian I. oder andere Fürsten.15 1717 war Rudolf August schon 13 Jahre tot, und von der Hardt hatte einen schweren Stand bei seinen Nachfolgern. Er wurde wegen seiner säkularisierenden Bibelexegesen angefeindet und konnte nicht mehr wie bei Rudolf darauf bauen, mit seinen Rätseln, Epigrammen und ›Spinnereien‹ ein offenes Ohr am Hof zu finden. Dennoch setzte er die Linie der »Reformationsbibliothek« fort.
|| 12 Cordes: Hilaria evangelica (Anm. 8), S. 165ff., nennt z. B. Herrnschmidt, Detharding, Hallbauer, Burgmann, Wernsdorf. Zu von der Hardt vgl. bes. S. 168. Jenseits der Theologie wären frühaufklärerische gelehrte Zeitschriften wie die Deutschen Acta Eruditorum daraufhin zu untersuchen, welche Rolle der Humanismus in ihnen spielt. 13 Zu Hardts Schriften über Reuchlin vgl. auch Dörner: Das Martyrium des Philologen (Anm. 1). 14 Historia literaria reformationis. Frankfurt/Leipzig 1717. 1718 folgte die kleine Schrift Monumentum Jubilaei Humanitatis et Fontium sacrorum mit Bezug auf Reuchlin und Erasmus; viele andere kleinere Schriften wären ebenfalls zu nennen, oft publiziert an Jahrestagen etwa von Reuchlins Geburtstag. 15 Hardt: Historia literaria reformationis (Anm. 14), Teil IV, S. 8: »Imo si vel maxime Lutherus se non fuisset passus eo adduci, ut contra illam proterviam scriberet, vel at alii prae metu fulminum quievissent, Caesar tamen Maximilianus, vel Saxonum Elector, vela alii principes, resistendi animum sumsissent. Neque ignotum erat orbi, imprimis Germaniae, qua animi praesentia Maximilianus Imperator nuper in Gravaminibus Germaniae de indulgentiarum temeritate erat questus. Imo illa aetate vel maximo in animo. Caesaris Maximiliani, Summi Pontificis autoritatem cum Caesarea Majestate pro antiquissimis moribus combinare, pro infinitis incorrigibilibus abusibus tollendis.«
196 | Martin Mulsow
1727 und in den folgenden Jahren machte er die gewaltige Anstrengung, seine Historia literaria reformationis zu ergänzen und zu komplettieren: mit 16 handgeschriebenen Folio-Bänden, jeder von ihnen mehrere hundert Seiten stark.16 Die Struktur dieser Ergänzung war schon im Buch von 1717 angelegt: die These, Korruption und Ablasshandel seien Gründe für die Reformation gewesen (was in Debatten des 15. Jahrhunderts zu dokumentieren war), und der Humanismus habe das Potential zur Reformation bereitgestellt, wobei insbesondere Reuchlin die »Öse« (ansa) gewesen sei. Diese umfangreiche und außerordentliche Ergänzung enthielt zum größten Teil Abschriften von wenig bekannten Texten des 15. Jahrhunderts – aus der Helmstedter und Wolfenbütteler Bibliothek, aber auch aus Erfurt, Leipzig und anderen Orten –, wiederum zu den zentralen Themen von Korruption, Ablass-Streit und Humanismus, eingerahmt und in den einzelnen Abschnitten eingeleitet durch historiographische Ausführungen von der Hardts zur Geschichte des Humanismus und der Kirchen- und Kleruskritik. Die Bände waren gedacht als Vorlage für einen Druck, eine große Edition, die aber nie zustande kam (vgl. die Auflistung im Anhang). Das Manuskript wurde vom Wolfenbütteler Hof zwar entgegengenommen, aber zugleich quasi konfisziert, nämlich abgelegt und nicht weiterverwendet, geschweige denn gedruckt. 1727 hatte von der Hardt, als Konsequenz aus den jahrelangen Streitigkeiten um seine Bibelexegese, endgültig Publikationsverbot bekommen und war zwangsemeritiert worden. Auch wenn die Bände der Historia literaria reformationis nicht unmittelbar mit dieser Bibelexegese korreliert waren, so hatten sie in dieser Situation doch keine Chance mehr auf Publikation. Sie blieben unter Verschluss und landeten später in der Königlichen Bibliothek in Hannover – heute der Leibniz-Bibliothek –, wo sie sich noch immer befinden. 1946 litten sie unter der Hochwasserkatastrophe, als die über die Ufer getretene Leine zahlreiche Bestände beschädigte, doch trotz der Schlammspuren sind die Bände weiterhin intakt. Was die Editionen von Autoren des 15. Jahrhunderts angeht, so sind diese 1757 und in den folgenden Jahren von Christian Wilhelm Franz Walch in der Hannoverschen Bibliothek entdeckt und in seinem eigenen Quellenwerk abge|| 16 Diese Beschäftigung schlug sich auch in der Lehre nieder. Vgl. Paul Nelles: Historia litteraria in Helmstedt: Books, Professors and Students in the Early Enlightenment University. In: Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001, S. 147–176, hier S. 167: »Von der Hardt almost succeeded in writing Luther himself out of the narrative [d.h. in der Historia literaria reformationis von 1717]. Ten years later [1727], at the express wish of Herzog August Wilhelm, von der Hardt taught the historia litteraria of the Reformation, evidently using both his own published history and manuscripts from the university library.« Ich danke Asaph Ben-Tov für den Hinweis auf den Nelles-Aufsatz.
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druckt worden; es bleibt im Einzelnen festzustellen, welche Texte von der Hardts Walch gedruckt und welche er ungedruckt gelassen hat.17 Freilich hatte Walch keinerlei Interesse für von der Hardts eigene Ausführungen (d. h. vor allem die Bände 1, 2, 6, 8 und 11).18 Diese Ausführungen aber können heute von Interesse sein – sie harren ihrer Wiederentdeckung. Rudolf August hatte die erstrebte »Reformationsbibliothek« auch als »bibliotheca lepida« oder »lustige Bibliothek« bezeichnet. Das erscheint zunächst abwegig und schwer verständlich. Es wird anschaulicher, wenn man den Sinn des Fürsten und seines Lieblingstheologen für Rätsel, Scherze, Anspielungen und literarische Spielereien bedenkt. In diesem Sinne sind Hardts eigene Anteile an seiner Historia literaria reformationis – wie auch wichtige Teile seines sonstigen Werkes – Beiträge zur »bibliotheca lepida«. Um ein Beispiel zu geben: In Band 6 ist die erste Dissertatio mit »Dentes. Restauratae humanitatis symbola« betitelt. In ihr werden die Humanisten allegorisch in Beziehung zu Zähnen gesetzt, die von der Hardt als Sammelobjekte in der Helmstedter Universitätsbibliothek aufgestellt hatte:19 ein riesiger Elefantenzahn (Abb. 2) sollte die Gewichtigkeit der Lehren Dantes veranschaulichen und den Umstand, dass Valla der römischen Kirche mit seiner Kritik der Konstantinischen Schenkung die Zähne gezeigt habe; zwei Nilpferd-Hauer wurden auf Petrarca und Erasmus bezogen, fossile Zähne auf weitere Denker (Abb. 3). Ein Akrostichon von ELEPHAS wurde mit dem Satz »Evenit lenta emendatio; proce-
|| 17 Christian Wilhelm Franz Walch: Monimenta medii aevi ex bibliotheca regia Hannoverana produxit […], Fasc. I, Göttingen 1757. Hinweis auf Hardt: Praefatio, S. III–VII; demnach hat Münchhausen, der Kurator der Göttinger Universität, Walch die Bände Hardts gegeben, auf dass er die Texte daraus ediere. Fasc. II, 1758; Fasc. III, 1759. Weitere Faszikel bis 1764. Vgl. Neue Beyträge von alten und neuen theologischen Sachen, Büchern, Urkunden [...] auf das Jahr 1757. Leipzig [1758?], S. 414–430. Zu Walch vgl. Christoph Schmitt: Walch, Christian Wilhelm Franz. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 13 (1998), Sp. 179–183. – Aufmerksam gemacht hatte auf die Bände Johann Busch: Nachricht von einigen merkwürdigen Schriften und Denkmalen, die in die Religionsverbesserung einen Einflus gehabt haben. In: Hannoversche Gelehrte Anzeigen 3 (1753), S. 133–212. 18 Walch: Monimenta (Anm. 17), Praef. S. XI, drückt sich vorsichtig aus: »dicendi facultate non satis temperata, rebus alienis orationisque imaginibus, qui historicum parum decent, obrutae, ut nimia foret librorum moles, si easdem typis committere libuisset. Alia praeterea adiecit, quibus libentius carere, iudicio, rem litterariam, videlicet Hardtiana epigrammata, acrosticha, aliosque ingenii lusus, qui neque ullam utilitatem; nec sapientibusadferre possunt voluptatem.« 19 Zu einem anderen Sammelobjekt dort vgl. Mulsow: Der Silen von Helmstedt (Anm. 1).
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dit honore admirando sinceritas« in Anschlag gebracht. Große ausfaltbare Tuschbilder der Zähne zieren den Text.20
Abb. 2: Elephantenzahn (Leibniz-Bibliothek Hannover, Ms. I 228, Bd. 6).
Abb. 3: Versteinerte Belemniten – Kopffüßer aus der Kreidezeit, ähnlich den heutigen Kalamaren (Leibniz-Bibliothek Hannover, Ms. I 228, Bd. 6).
|| 20 Vgl. Mulsow: Politische Bukolik (Anm. 1).
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Solche geistreichen Spielereien stehen neben Dokumentationen von Luther-Devotionalien aus der Sammlung Rudolf Augusts und von der Hardts, etwa seiner Ringe (Abb. 4), oder von Siegeln seiner Zeit. Die visuelle, bildliche und dingliche Komponente ist von der Hardt dabei immer wichtig gewesen, sie macht die Bände zum Teil zu Bildwerken oder emblematischen Stücken, bei denen die Bilder und Dinge zu »Sinnbildern« werden, welche das Ingenium zum Denken anregen. Für Walch und sein sehr viel nüchterneres Zeitalter waren solche barocken Methoden fremdartig und bar jeder Nützlichkeit;21 es war ihm und seinen Zeitgenossen geradezu peinlich, diese Aspekte von der Hardts zu benennen. Das resultierte schon bald in dem Umstand, dass Hardt gar nicht mehr zitiert wurde.
Abb. 4: Luther-Ringe (Leibniz-Bibliothek Hannover, Ms. I 228, Bd. 6).
Doch die allegorischen Spielereien werden dann interessant, wenn man sie als die Kunstwerke und Denkbilder (um mit Walter Benjamin zu reden) wiederentdeckt, als die sie gedacht waren. Denn sie müssen im Zusammenhang mit von der Hardts hochkomplexer Theorie geschichtlicher Erkenntnis begriffen werden. Nach von der Hardt haben die Völker der Antike das, was wir heute als kollektives und kulturelles Gedächtnis bezeichnen würden, in Rätseln und Sinnbildern formuliert, so dass der Interpret diese dekodieren muss, um auf den
|| 21 Vgl. Anm. 17.
200 | Martin Mulsow
›civilen‹, d. h. historisch-machtpolitischen Kern zu kommen. Dabei ist der Interpret selbst in seiner Tätigkeit den verschiedenen Sinnschichten und historischen Lagen an Verschlüsselung unterworfen, denn er benutzt nolens volens Ereignisse seiner eigenen Zeit als hermeneutischen Zugang zur zu entschlüsselnden Vergangenheit. So kommt es, dass Werke von der Hardts über biblische Texte oftmals vier Sinnschichten enthalten: eine erste Sinnschicht, in der die Israeliten Ereignisse (z. B. die Skytheninvasion) bildlich-mythisch wahrgenommen haben (als Flut); eine zweite, bei der diese Erfahrung bei einem ähnlichen Ereignis (einer viel späteren Skytheninvasion) aktualisiert, verschriftlicht oder redigiert wurde (von der Hardt ist im Anschluss an Spinoza und Simon ein historisch-kritischer Bibelexeget);22 eine dritte Sinnschicht, die aktuelle Kriegs- und Staatsereignisse aus von der Hardts eigener Zeit betrifft, etwa Invasionen im Nordischen Krieg, die sich in Ereignissen der Bibel reflektieren und diese besser verstehen lassen; schließlich eine vierte Sinnschicht, die die ›Heroen‹ der Vorreformations-Epoche sowohl in den Propheten des alten Israel als auch in den Problemen der Gegenwart (und von der Hardts schwieriger Stellung als zensierter Autor) spiegelt. Diese letzte Schicht stellt so etwas wie eine Verbindungsachse zwischen der Aktualität des frühen 18. Jahrhunderts und der Antike her. In diesem Sinne findet man Spuren von Hardts Interesse an ›Vorreformatoren‹ wie Hus oder Valla auch in vielen anderen seiner Schriften, auch wenn diese nicht direkt vom 15. Jahrhundert handeln. Doch als reflexive Zwischenschicht sind emblematische Bilder vom Wirken dieser Theologen und Philologen auch darin präsent (Abb. 5).23 Als Hardt etwa 1730 zum 200. Jubiläum des Augsburgischen Bekenntnisses dem Herzog August Wilhelm ein kleines Heftchen mit Tuschzeichnungen und Sinnbildern überreichte, waren Themen aus dem Buch Jona, die nach der Theorie von der Hardts von Manasse und Josias handelten, mit Phasen aus dem Leben von John Wyclif unterlegt. Themen aus Daniel, die Israel im Babylonischen Exil betreffen, unterlegte Hardt mit Phasen aus dem Leben von Jan Hus, einem weiteren vorreformatorischen ›Märtyrer‹ des Konstanzer Konzils, der dort 1415 verbrannt worden war. Schließlich folgten vier Bilder aus Hiob, gesehen als Israel im Exil und unterlegt mit Themen der Böhmischen Brüder zur Zeit des Konstanzer Konzils. Hintergrund war die Konfiszierung der Arbeiten zum Buch Jona, zum Buch Daniel und zum Buch Hiob,
|| 22 Vgl. Möller: Hermann von der Hardt (Anm. 1); zur kritischen Prophetenexegese auch Bitter: Göttlicher Wink (Anm. 1). 23 Vgl. etwa die handschriftlichen Bände, die Hardt als »Wolfenbütteler Comödie« bezeichnet hat. Sie befinden sich in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe als Mss. Karlsruhe 3c95, 396 und 397. Vgl. Mulsow: Comic-Strips der Verzweiflung (Anm. 1).
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die der Herzog angeordnet hatte. Das Heftchen plädierte also subtil für die Freilassung der personifiziert dargestellten Jona, Daniel und Hiob durch Verweis auf die vorreformatorischen Freiheitsforderungen. So heißt es etwa: »Wyclif wünschte […] ein freies Naturell an Lehre und Leben«.24
Abb. 5: Lorenzo Valla im Jahr 1443 (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. Karlsruhe 396, fol. 91v/92r).
Das Ensemble aus emblematischen Bildern, wechselseitigen Spiegelungen, Chronodistichen und Akrostichen, Rätseln, ostentativen Vokalbelsammlungen, Sinnsprüchen und schließlich auch Geheimschriften (in den späten Werken) sollte als »concettistisches« Gesamtkunstwerk gesehen und gewürdigt werden. Es lässt sich nicht nur mit den Werken der besten barocken Autoren, sondern (wenn auch anachronistisch) auch mit solchen von Schriftstellern wie Joyce (Finnegans Wake) oder Borges vergleichen. Als Kunstwerke – die je einzeln erst zu rekonstruieren und in ihrem Reflexionspotential zu erkennen wären – sind Hardts Schriften (insbesondere auch die nachgelassenen Manuskripte) aber noch nie gesehen worden. Das gilt es nachzuholen.
|| 24 Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. Karlsruhe 396, fol. 5r.
202 | Martin Mulsow
Von all diesen Komplexitäten (deren idealer Leser Rudolf August war, Sohn des Cryptomenytices-Autors Herzog Augusts d. J.) wussten nur die wenigsten Zeitgenossen, geschweige denn die nachfolgenden Generationen, die die Werke von der Hardts kaum noch wahrnahmen. Es blieben lediglich Erinnerungen an den ›wunderlichen‹ und ›exzentrischen‹ Mann, ohne dass diese Epitheta wirklichen Erklärungswert hatten. Gerade auch in der Theologie- und Exegese-Geschichtsschreibung ist von der Hardt völlig in Vergessenheit geraten, trotz seiner frühen Thesen über biblische Redaktionsschichten und seiner Bedeutung für die Mythentheorien Heynes, Eichhorns und Gablers.25 Erst Horst Müller hat das Werk 1961 wiederentdeckt; allerdings ist seine Leipziger Habilitationsschrift selbst ungedruckt geblieben, und er zwängt Hardts Kunstwerke auf das Prokrustesbett einer theologisch-exegetischen Kapiteleinteilung. Zudem behandelt er nur den Alttestamentler, nicht aber den Historiker der Vorreformation. Dieser bleibt erst noch zu entdecken.
Anhang [Bd. 0] = Tom. I: Historia literaria reformationis, in honorem Jubilaei Anno MDCCXVII, Frankfurt und Leipzig 1717. 5 partes. — 1: De bonis literis et Erasmo; 2: De Reuchlino JC num fuerit ansa Reformationis? 3: De publica corruptione, num causa fuerit Reformationis? 4: De indulgentiis num fuerint origo Reformationis? 5: Introductio in Sculteti Annales. Leibniz-Bibliothek Hannover Ms. I 228 Bd.1: Introductio ad tom. I et II, dissertatio 1–3 — 1: Semia lucis; 2: Roma primaeva; 3. Erasmus Bd. 2: Introductio ad tom. I et II, dissertatio 4–8 — 4: Reuchlin; 5: Constantia et Basilea; 6: Lutherus et Melanchthon; 7: Annales; 8: Fundus
|| 25 Immerhin hat schon Carl August Böttiger erkannt: »Im Ganzen lassen sich zu fast allen neuen Behauptungen von Michaelis und Eichhorn die Belege oder Grundsteine wenigstens in den Hardischen Schriften finden, die dadurch so große und theuer bezahlte Seltenheiten geworden sind, weil sie Hardt immer auf seine Kosten drucken ließ, und nur als Msct für Freunde verschenkte und versendete.« Sächsische Landesbibliothek Dresden, Ms. h 37, Verm. 4°, VIII, Nr. 9 (Aufzeichnungen über seinen Besuch in Helmstedt, 27.-28. August 1793). Ich danke Dirk Sangmeister für die Mitteilung der Stelle.
Eine Reformationsgeschichte als Geschichte des Humanismus | 203
Bd. 3:
Bd. 4:
Bd. 5:
Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9: Bd. 10: Bd. 11: Bd. 12:
Bd. 13: Bd. 14: Bd. 15: Bd. 16:
II,1: De fundo emendationis. 5 Partes — 1: Mattaeus de Cracovia:26 De sequatoribus curiae; Albert Engelbertius: Speculum aureum; 2: panegyr,. orationes (Konstanz); 3: Jac. Junterburg: De eccles. emendatione; 4: Jac. de Misa, Wigel et Junterburg pro indulgentibus; 5. Jos. de Wesch, Wisel, Wigand contr. Indulg. II, 2 und 3. — 2. Panegyrica orationes XX integra in reformationem ecclesiae (1409–1425); 3 (ab S. 368). Jacob von Junterburg27, 1: De septem statuis mundi; 2: De septem statuis ecclesiae; 3: De negligentia praelatum II, 4 und 5 — 4. Pro indulgentiis, sec. XV eunte. 1: Jac. De Misa: de purgator. animarum; 2: Nic. Wigel: Disputatio contra Husum; 3: Jacobus Justerburg: De autoritatis indulgentiis; 5. Contra indulgentiis. 1: Johannes Cardinal S. Angeli; 2: Jo. De Wesalia: De val. Indulgent.; 3: ders.: Paradoxa; 4: Wigand Trebel: Apologia; 5: Wigand Wirt. III — De scholastica theologia barbaria ante reformationem III, 1 — Aegidius de Roma: C. theol. Veriat. Indroductio ad III, 2. 4 dissertationes III, 2 — Joh. Pupperus de Cocch: Ep. Apology. Contra don.; De lib. Chr.; Sezeni: Evang. verit. nuncius. III, 3 —1: Joh. Gocchius: Dial.; 2: Joh. De Wesalia: De auctoritate; 3: Joh. Wesel: De dignitate. IV De lento ad reformationem motu. 8 Partes IV, 1 — Felix Hemmerlinus:28 Dialogus de anno jub.; Dalogus in jub. Celebr.; Dialogus de libris eccles.; Cap. Appellation ad fut.; Dialogus inter Christ. Et Inf. (1491) IV, 2 — H. Busche, C. Wimpina, M. Policius IV, 3–5 — Locher, Wimpheling etc. IV, 6 und 7 — Paolo Cortese29 IV, 8 — 1: J. J. Nordhausen; 2: Joh. Von Suchten; 3: Confessio Augustana etc.
|| 26 Vgl. Matthias Nuding: Matthäus von Krakau. Theologe, Politiker, Kirchenreformer in Krakau, Prag und Heidelberg zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas. Tübingen 2007. 27 Vgl. Bernhard Stasiewski: Jakob von Jüterbog. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 318f. 28 Felix Hemmerli(n) (1389–1460). Vgl. Balthasar Reber: Felix Hemmerlin von Zürich. Zürich 1848. 29 (1465–1510), italienischer Humanist und päpstlicher Sekretär.
Anita Traninger
Serendipity und Abduktion Die Literatur als Medium einer Logik des Neuen (Cristoforo Armeno, Voltaire, Horace Walpole) Die traditionelle Logik, wie sie von Aristoteles grundgelegt und mit kleineren und größeren Justierungen über die Jahrhunderte in Europa tradiert und gelehrt wurde, interessierte sich kaum für das Neue. Erfahrung figuriert in der Modellierung der syllogistischen Beweistechnik als Alltags- oder allgemeine Erfahrung,1 und wenn von Erfindung, inventio, die Rede ist, bezieht sich diese in erster Linie auf das Finden des Mittelbegriffs, der das Partikuläre mit dem Gesetz oder der allgemein geteilten Überzeugung verbindet. Es scheint also nicht übertrieben zu sagen, dass die aristotelische Logik dem Neuen mit prononciertem Desinteresse begegnet ist. Die Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts griff daher dankbar Begriffsprägungen auf, die abseits der Logik oder Dialektik, die sich seit jeher als eigentliche Wissenschaftstheorie verstand, gebildet worden waren. Eine solche ist ›Serendipity‹. ›Serendipity‹ ist ein Kunstwort, das im 18. Jahrhundert von Horace Walpole geprägt wurde und das, so die geläufige Definition, für die glückliche Konstellation des Findens ohne zu suchen steht bzw. genauer für das Finden, während man auf der Suche nach etwas Anderem ist.2 Es steht damit zum einen in der Tradition von Konzeptualisierungen des glücklichen Moments (kairos bzw. occasio), zugleich aber soll dem Begriff ein Moment der agency und damit der Kreativität innewohnen. ›Serendipity‹ bezieht
|| 1 Vgl. Lorraine Daston: Baconian Facts, Academic Civility and the Prehistory of Objectivity. In: Annals of Scholarship 8:3–4 (1991), S. 337–364, hier S. 341. 2 Die Wissenschaftsforschung unterscheidet zwischen dem beschriebenen Phänomen als ›echter‹ Serendipity und einer Pseudoserendipity, die sich auf zufällige Entdeckungen bezieht, die aber einem vorab definierten Erkenntnisziel zugutekommen. Der letztere Terminus geht zurück auf Royston M. Roberts: Serendipity: Accidental Discoveries in Science. New York 1989. Siehe dazu die Diskussion bei Cora L. Díaz de Chumaceiro: Serendipity or Pseudoserendipity? Unexpected versus Desired Results. In: Journal of Creative Behavior 29 (1995), S. 143–146. Die Liste der durch Serendipity gemachten Entdeckungen und Erfindungen, vor allem aus dem wissenschaftlich-technischen Bereich, von Botox bis zum Post-it, ist lang und divers, vgl. die nach ›Typen‹ von Serendipity geordnete Liste bei Pek van Andel/Danièle Bourcier: De la sérendipité dans la science, la technique, l’art et le droit. Leçons de l’inattendu. Paris 2013, S. 127–240.
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sich nicht allein auf den Zufall des Findens, sondern auch auf den Genius des Erfindens des Neuen. Dementsprechend haben sich rezente Kommentatoren gegen Versuche verwehrt, den Prozess der Invention deskriptiv zu fixieren oder gar rational zu reglementieren: Man wolle vielmehr »dans une culture dominée par le cartésianisme mais où l’ingéniosité a toujours cohabité avec la raison, réhabiliter le génie de l’empirie quand il s’exerce sur ›des esprits préparés‹«.3 Während Serendipity als Alternative zu den Zwängen normierender Logiken gefasst wird, hat die Logik selbst im 19. Jahrhundert Erweiterungen erfahren, mit denen einer ›logic of discovery‹ in der Systematik der Inferenzen Platz zu geben versucht wurde. Charles Sanders Peirce unternahm mit seiner Prägung des Begriffs der Abduktion genau das: Als Parallelbildung zu Deduktion und Induktion sollte er die logische Operation formalisieren, die für das Erfinden des Neuen charakteristisch sei. Beide Konzepte, Serendipity und Abduktion, sind, und das ist Gegenstand dieses Beitrags, an dem gleichen Typus von Text und teils sogar am selben Erzähltext erläutert und exemplifiziert worden. Ingeniosität und Regelhaftigkeit sollen gleichermaßen von einer Erzählung illustriert werden, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Übersetzung aus dem Persischen galt und unter Variationen des Titels Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo in Europa kursierte. Voltaire hat sie in seinem conte philosophique Zadig wiedererzählt, und Horace Walpole hat sie in seiner Korrespondenz an relevanter Stelle referiert. Im Folgenden wird es darum gehen zu zeigen, welchen Aspekt des Er/Findens die konkurrierenden Lesarten dieser Texte jeweils profilieren, um die Konzeptionen von Serendipity bzw. Abduktion zu unterfüttern. Auf dem Weg dahin sind einige Annahmen und Befunde, die sich zu beiden Phänomenen sedimentiert haben, genauer zu betrachten und teils auch zu korrigieren. In einem letzten Schritt werde ich den Versuch machen, die beiden Konzepte als Abschattierungen desselben Anliegens auszuweisen, die nicht durch Zufall in der Literatur grundgelegt sind.
|| 3 Van Andel/Bourcier: De la sérendipité (Anm. 2), S. 11. Vgl. auch Sylvie Catellin: Sérendipité. Du conte au concept. Paris 2014, mit ihrem Plädoyer »pour une politique créative de la recherche«, S. 203–211.
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1 Serendipity und sortes Walpolianae Dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton verdanken wir nicht allein das Konzept der Self-fulfilling Prophecy, sondern streng genommen auch jenes der Serendipity. Natürlich verweist jeder Lexikoneintrag ebenso wie jeder Fachartikel auf Horace Walpole als Urheber des Ausdrucks, doch ist es Merton, der Serendipity als Beschreibungsmuster für wissenschaftliche Innovation institutionalisierte. Die Frage nach der Bedeutung des Unvorhergesehenen für den (natur-)wissenschaftlichen Fortschritt beschäftigte ihn bereits in den 1930er Jahren;4 um 1945 soll er seinen eigenen Moment von Serendipity erlebt haben, als er beim Blättern im Oxford English Dictionary auf eben dieses Wort stieß.5 Seine mit Elinor Barber verfasste Wort- und Begriffsgeschichte erschien erst 2004 auf Englisch,6 doch seine Beschäftigung mit dem Phänomen setzte direkt in den Nachkriegsjahren ein. Serendipity erschien ihm als Remedium seiner »frustration with the way in which logical exposition drains away the richness of the research exploration«.7 In einem vor der American Sociological Society im Jahr 1946 gehaltenen Vortrag stellte er sein Konzept eines »serendipity pattern« in der empirischen Forschung vor, »a pattern‚ of observing an unanticipated, anomalous, and strategic datum which becomes the occasion for developing a new theory or for extending an existing theory«.8 Geprägt wurde der Ausdruck Serendipity (französisch ›sérendipité‹ und italienisch ›serendipità‹ haben sich gut durchgesetzt, während spanisch ›serendipidad‹ und deutsch ›Serendipität‹ kaum geläufig sind), wie erwähnt, durch Horace Walpole (1717–1797), Sohn Robert Walpoles, der als erster Premierminister Großbritanniens gilt. Horace, als Begründer der Gothic novel ebenso wie des englischen Landschaftsgartens bekannt, erhielt Ende 1753 von seinem Florentiner Korrespondenten Horace Mann eine ebenso unerwartete wie erfreuliche Nachricht. Walpole hatte sich während eines Aufenthalts in Florenz in der Casa || 4 Vgl. Robert K. Merton: The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action. In: American Sociological Review 1:6 (1936), S. 894–904, gekürzt wieder in: Robert K. Merton: On Social Structure and Science. Hg. von Piotr Sztompka. Chicago/London 1996, S. 173–182. 5 Vgl. Robert K. Merton: Autobiographic Reflections on The Travels and Adventures of Serendipity. In: R. K. M./Elinor Barber: The Travels and Adventures of Serendipity. A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science. Princeton 2006, S. 230–298, hier S. 233f. 6 Eine italienische Version des 1958 verfassten Textes erschien 2002 bei Il Mulino: Viaggi e avventure della Serendipity. Bologna 2002. 7 James L. Shulman: Introduction. In: Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. XIII–XXV, hier S. XXIII. 8 Ohne Stellenangabe zit. in Shulman: Introduction (Anm. 7), S. XXI.
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Vitelli oft ein Porträt der Venezianerin Bianca Cappello angesehen, der Mätresse und späteren Ehefrau des Großherzogs der Toskana, Francesco I. de’ Medici (1541–1587), das damals Bronzino zugeschrieben worden war. Horace Mann kann nun berichten, dass es mittlerweile Giorgio Vasari zugeschrieben werde, aber nicht nur das: Er hat es für Walpole angekauft, es aber nicht gleich auf den Weg nach England gebracht. Er hänge (in durchaus erotischer Zuneigung) an dem Porträt, »to which, as your proxy, I have made love to a long while, and will now own to you that I have been in possession of it some little time. It has hung in my bedchamber and reproached me indeed of infidelity, in depriving you of what I originally designed for you, but as I had determined to be honest at last I could not part with it too hastily.«9 Als das Gemälde dann in England angekommen ist, eröffnet Walpole seinen Dankesbrief an Mann vom 28. Januar 1754 mit der Fiktion eines Zeitungsartikels, in dem das Eintreffen von »Her Serene Highness the Great Duchess Bianca Cappello« gefeiert wird. Doch dann lenkt Walpole den Fokus der Aufmerksamkeit von der »charming Bianca« auf einen ›charm‹, genauer: einen Talisman, der sein eigener ist. Das Gemälde war ohne Rahmen verschickt worden; Walpole wollte daher einen anfertigen lassen, »with the grand ducal coronet at top, her [i. e. Biancas] story on a label at bottom, […] the Medici arms on one side, and the Capello’s on the other«.10 Er sucht also das Wappen der Cappello in einem heraldischen Handbuch11 und findet zu seiner Überraschung die Verbindung zwischen den beiden Familien bereits heraldisch verankert: I must tell you a critical discovery of mine à propos: in an old book of Venetian arms, there are two coats of Capello, who from their name bear a hat, on one of them is added a flower-de-luce on a blue ball, which I am persuaded was given to the family by the Great Duke, in consideration of this alliance; the Medicis you know bore such a badge at the top of their own arms; this discovery I made by a talisman, which Mr Chute calls the sortes Walpolianæ, by which I find everything I want à point nommé wherever I dip for it.12
|| 9 The Yale Edition of Horace Walpole’s Correspondence. 48 Bde. New Haven 1937–1983. Bd. 20, From Mann, 9. November 1753, S. 397–401, hier S. 398. 10 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, To Mann, 28. Januar 1754, S. 407. 11 Alessandro da Vecchi: Le arme overo insegne di tutti li nobili della magnifica, & illustrißima città di Venetia, c’hora viuono. Nuouamente raccolte, & poste in luce. Venedig 1578. Der Band ist in der Bibliothek Walpoles in Yale erhalten. 12 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, S. 407. Wenn es sich bei der Variante mit blauer Kugel und fleur de lis tatsächlich um ein vergönntes Wappen handeln sollte, wie Walpole konjekturiert, dann kann sich dies nicht auf die Eheverbindung gründen, heiratete Francesco Bianca doch erst im Juni 1579, während der konsultierte Band bereits 1578 erschienen war.
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Dass Walpole die Verbindung aus blauer Kugel und fleur de lis erschlossen hat, die dem ursprünglichen Cappello-Wappen hinzugefügt sind, schreibt er einem »talisman« zu, der freilich im übertragenen Sinn zu verstehen ist als das spezifische Geschick im Raten (»sortes Walpolianae«), das ihm Thomas Chute attestiert haben soll, der extravagante Amateurarchitekt, mit dem er den ›gotischen‹ Umbau seines Anwesens Strawberry Hill in Twickenham plante. Diesen Scharfsinn vergleicht er mit einem Phänomen, das offenbar bisher ohne Namen war und dem er nun seinerseits eine Wortschöpfung beilegt: This discovery indeed is almost of that kind which I call serendipity, a very expressive word, which as I have nothing better to tell you, I shall endeavour to explain to you: you will understand it better by the derivation than by the definition. I once read a silly fairy tale, called The Three Princes of Serendip: as their highnesses travelled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things which they were not in quest of: for instance, one of them discovered that a mule blind of the right eye had travelled the same road lately, because the grass was eaten only on the left side, where it was worse than on the right – now do you understand serendipity?13
Walpoles eigene Entdeckung fällt unter »sortes Walpolianae«, jene der Prinzen von Serendip, auf die gleich zurückzukommen ist, eponymisch unter »serendipity«.14 Für letzteres Konzept hat er noch ein Beispiel aus der englischen Geschichte parat. Es geht auch hier wieder um das Aufdecken einer klandestinen Beziehung: One of the most remarkable instances of this accidental sagacity (for you must observe that no discovery of a thing you are looking for, comes under this description) was of my Lord Shaftesbury, who happening to dine at Lord Chancellor Clarendon’s, found out the marriage of the Duke of York and Mrs Hyde, by the respect with which her mother treated her at table.15
Die Geschichte bezieht sich auf das Jahr 1660, als der Bruder des Königs Charles II., der Duke of York, im niederländischen Exil Anne Hyde, die Tochter von Edward Hyde, des späteren ersten Earl of Clarendon, geheiratet hatte. Bevor die
|| 13 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, S. 407f. 14 Cora L. Díaz de Chumaceiro hat herausgestrichen, dass es Walpole um einen Vergleich, nicht um Identifikation seines Fundes mit dem Phänomen geht, das er als »serendipity« etikettiert, daher das »almost« im ersten Satz des obigen Zitates. Vgl. Cora L. Díaz de Chumaceiro: Sortes Walpolianae: Discoveries ›Almost‹ Like Serendipity. In: Creativity Research Journal 12:4 (1999), S. 339–341, besonders S. 339. Bei den »sortes Walpolianae« handle es sich im oben (Anm. 2) genannten Sinn um Pseudoserendipity (ebd. S. 340). 15 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, S. 408.
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Hochzeit im September 1660 in London offiziell gemacht wurde, konnte die Verbindung offenbar nur erschlossen werden: Dass Anne Hyde im Rang aufgestiegen war, liest der Earl of Shaftesbury daran ab, dass sie in ihrem Elternhaus anders, nämlich mit Ehrerbietung, behandelt wird. Man konnte also von der noch nicht offiziellen Verbindung wissen, wenn man die Zeichen zu deuten wusste und zumindest gerüchteweise Informationen über das Naheverhältnis hatte. Es geht also um ein relationierendes Schließen und nicht einfach um das Bemerken eines Umstandes oder das Interpretieren eines Index: Dass sich beispielsweise Annes Schwangerschaft schon kurze Zeit später deutlich manifestieren würde, wäre ein zu einfaches Rätsel für den Typus von Scharfsinn (»sagacity«), der hier gemeint ist. »Accidental« meint hier auch nicht den puren Zufall, sondern eine unbeabsichtigte Erkenntnis – nicht zuletzt deshalb, um beim von Walpole gegebenen Beispiel zu bleiben, weil noch niemand von der Verheiratung wissen und damit auch Shaftesbury nicht nach Anzeichen suchen konnte. Nun ist es bemerkenswert, dass das Wort ›Serendipity‹ an dieser Stelle nicht nur zum ersten, sondern auch zum einzigen Mal in Walpoles Schriften vorkommt.16 ›Sortes Walpolianae‹ hingegen tauchen bereits am 2. März desselben Jahres wieder auf, nun in einem Brief an Richard Bentley, neben Walpole und Chute drittes Mitglied des den Umbau von Strawberry Hill konzipierenden »Committee of Taste«. Wiederum geht es um einen Fund in Papieren und Medaillen, doch bemerkenswert ist an dem Brief, dass Walpole dem wegen seiner Schulden nach Jersey geflohenen Bentley ohne weitere Erläuterung »a new instance of the sortes Walpolianae« schildert, ganz so, als handele es sich um ein bereits fest etabliertes Konzept.17 Merton und Barber mutmaßen, dass Walpole das Wort ›Serendipity‹ nicht zuletzt deshalb prägte, weil es ein Echo seiner Formulierung »wherever I dip for it« sei.18 Was dabei übersehen wird, ist freilich, dass das Finden »à point nommé wherever I dip for it« ausschließlich auf die »sortes Walpolianae« bezogen ist. Ein in dem Zusammenhang bisher unberücksichtigter Brief Horace Manns bestätigt genau das: Ein Beispiel für Serendipity, das ihm seinerseits einfällt, sei die Suche nach dem Stein der Weisen, die unbeabsichtigt andere nützliche || 16 Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 9. 17 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 35, To Bentley, 2. März 1754, S. 161–164, hier S. 163f. Den Hinweis auf diesen Brief entnehme ich Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 9, dort ohne Hinweis auf die seltsame Präsupposition. Die Reaktion Bentleys ist nicht bekannt, Walpole hat die Korrespondenz bis auf drei geschäftsmäßige Schreiben wenn nicht vernichtet, so doch zumindest nicht aufbewahrt, vgl. Timothy Mowl: Horace Walpole. The Great Outsider. London 1996, S. 130. 18 Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 99.
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Entdeckungen mit sich gebracht habe; jedoch: »the sortes Walpolianae are still more useful, if you can find everything à point nommé whenever you dip for it.«19 Die Prägung Chutes ist Walpole offenbar wertvoller und wiederholenswerter als seine eigene, und auch Manns Nützlichkeitshierarchie bleibt unwidersprochen. Das Aition des Begriffs der Serendipity ist bisher erstaunlich selektiv interpretiert worden; aus den von Walpole vorgetragenen drei Anekdoten – Cappello-Wappen, Prinzenscharfsinn, Geheimehe – ist zuverlässig die eine als Belegbeispiel herausgegriffen worden, die gerade nicht Serendipity, sondern das Individualtalent Walpoles illustrieren sollte.20 Walpoles eigentlich präferierter und in zwei Briefen lancierter Begriff ›sortes Walpolianae‹ arbeitet klar einem hyperbolischen self-fashioning zu, in dessen Zentrum streng genommen das genaue Gegenteil dessen steht, was unter Serendipity fallen soll: die Fähigkeit, zuverlässig genau im richtigen Augenblick (à point nommé) das Gesuchte zu finden. Der Begriff Serendipity ist also streng genommen ein Nebenprodukt einer im Korrespondentenkreis mit einigem Nachdruck betriebenen Selbststilisierung. Dennoch fand dieser Begriff Resonanz, auch wenn er nach dem kurzen Aufblitzen im Januar 1754 für mehr als 120 Jahre nicht wieder in der Schriftform gebraucht werden sollte. Serendipity kommt erst 1875 in Notes & Queries wieder auf, einer Zeitschrift, die wie eine Suchmaschine avant la lettre das Stellen und Beantworten von Fragen ermöglichte – in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich zur Etymologie sowie zur Literatur- und Sprachgeschichte des Englischen. Edward Solly beantwortet hier eine Frage nach der Textstelle über Serendipity in Walpoles mittlerweile publizierter Korrespondenz; dabei definiert er den Begriff zwar mit Blick auf die von Walpole referierte Geschichte über die drei Prinzen, doch spielt dabei trotzdem Walpoles Lob seines eigenen Talents herein: »a particular kind of natural cleverness«,21 so Sollys Definition. 1878 schreibt Solly in Antwort auf eine weitere Einsendung, Serendipity »meant the discovery of things which the finder was not in search of«.22 Der Fragesteller war laut eigener Auskunft in || 19 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, From Mann, 8. März 1754, S. 414–416, hier S. 415. Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 9, argumentieren, dass Walpole »serendipity« den »sortes Walpolianae« vorzog, doch diese Lesart finde ich in den Briefen selbst – und insbesondere im zuletzt zitierten Brief Manns – nicht gestützt. 20 So prominent bei Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 9: »Walpole speaks of his [meine Hervorh.] discovery as ›of a kind which I call [Hervorh. Merton/Barber] Serendipity‹«. 21 Edward Solly: Princess [sic] of Serendip. In: Notes & Queries s. 5 3/68 (17. April 1875), S. 316. 22 Edward Solly: Serindip. Serendipity. In: Notes & Queries s. 5 10/240 (3. August 1878), S. 98.
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einem Magazin über den Begriff gestolpert und hatte ihn so verstanden, dass Walpole damit »the luck of a person who sooner or later obtained what he desired«23 bezeichnen habe wollen. Dass Leser in der periodischen Presse über das Wort stolpern konnten, indiziert eine wachsende Kurrenz, die in der Aufnahme in das Oxford English Dictionary 1913 münden sollte.24 Dass aber andererseits die Semantik offenbar alles andere als bestimmt war und in Absenz des Primärkontexts für Interpretationen offen stand, ermöglichte neue Gewichtungen und offensichtlich auch Fehlauslegungen. Die Intension des Begriffs war in keiner Weise geklärt oder gar definiert.
2 Transkulturelle Scharfsinnserzählungen: Cristoforo Armeno Zu Walpoles Lebzeiten scheint Serendipity als Wort nicht verfangen zu haben, auch wenn das »dumme Märchen«, aus dem er das ›Baumaterial‹ für den Terminus bezog, für seine Zeitgenossen alles andere als eine obskure Quelle war. Fast genau 200 Jahre vor Walpoles Brief druckte Michele Tramezzino in Venedig einen schmalen Oktavband mit dem Titel Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo, der als Übersetzung aus dem Persischen ausgewiesen wird.25 Das Feststellen der Identität des Übersetzers, der sich im proemio als »pouero peccatore Christophoro Armeno« und Bürger der Stadt Tauris (heute: Tabriz in Aserbaidschan) bezeichnet, war in der älteren Forschung ein mit einiger Intensität verfolgtes Anliegen, mit dem Resultat, dass Cristoforo ›der Armenier‹ entweder zum Autor hoch- oder aber zu einer Persona des Druckers Tramezzino
|| 23 C.: Serendipity. In: Notes & Queries s. 5 10/239 (27. Juli 1878), S. 68. 24 Vgl. zu dieser Geschichte im Detail Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), Kap. 2, 4, 6. 25 Cristoforo Armeno: Peregrinaggio di tre giovani figlivoli del re di Serendippo, per opra di M. Christoforo Armeno dalla Persiana nell’Italiana lingua trapportato. Venedig: Michele Tramezzino 1557. Weitere Ausgaben: Venedig: Andrea Baba 1611; Venedig: Ghirardo Imberti 1628. Moderne Ausgabe: Peregrinaggio di tre giovani, figliuoli del re di Serendippo. Per opra di M. Christoforo Armeno dalla persiana nell’italiana lingua trapportato. Nach dem ältesten Drucke d. J. 1557. Hg. von Heinrich Gassner. Erlangen 1891 (Repr. Amsterdam 1970); Peregrinaggio di tre giovani, figliuoli del Re die Serendippo, aus dem Italienischen übers. von Theodor Benfey. Hg. von Richard Fick und Alfons Hilka. Göttingen 1932; Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo. Hg. von Renzo Bragantini. Rom 2000 (enthält als Appendix Le otto novelle del paradiso von Amir Khusrau).
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heruntergeschrieben wurde. Die Forschung des 19. Jahrhunderts hielt den Text für eine Übersetzungsfiktion, weil man keine eindeutige Vorlage auszumachen vermochte; mittlerweile gilt als erwiesen, dass der Peregrinaggio auf dem Hasht Bihisht des Amir Kushrau aus der Zeit um 1300 beruht.26 Auch wenn der Peregrinaggio nicht besonders bekannt ist, so zählt er doch, wie Renzo Bragantini angemerkt hat, zu den außerhalb Italiens am weitesten verbreiteten italienischen Texten.27 Cristoforo Armenos Übersetzung wurde bereits 1583 ins Deutsche übertragen,28 eine weitere deutsche Übersetzung folgte 1630.29 Anders als die beiden deutschen Versionen verschweigt der Chevalier de Mailly seine italienische Vorlage, als er 1719 eine recht getreue französische Übersetzung des Texts von Cristoforo Armeno herausbringt, und behauptet einen direkten Zugriff auf ein persisches Original.30 Diese Version findet ihrerseits prompt den Weg ins Englische, ins Deutsche und schließlich auch ins Niederländische.31 Dass Walpole die
|| 26 Schuyler V. R. Cammann: Christopher the Armenian and the Three Princes of Serendip. In: Comparative Literature Studies 4:3 (1967), S. 229–258. Renzo Bragantini: The Serendipity of the Three Princes of Serendib: Arabic Tales in a Collection of Italian Renaissance Short Stories. In: Frédéric Bauden/Aoubakr Chraïbi/Antonella Ghersetti (Hg.): Le répertoire narratif arabe médiéval. Transmission et ouverture. Genf 2008, S. 301–308, hier S. 306, qualifiziert diesen Befund, weil der Peregrinaggio ganz offensichtlich eine Reihe weiterer Vorlagen verarbeitet hat. Die Struktur der Erzählung entspricht den ichnologischen Scharfsinnsproben, die in chinesischen und tibetischen Traditionen sowie bei den indischen Jainas überliefert sind, vgl. dazu Josef Schick: Die Scharfsinnsproben. 1. Teil. Der fernere Orient. Leipzig 1934, S. 37–64. 27 Bragantini: The Serendipity of the Three Princes of Serendib (Anm. 26), S. 301. 28 Erste theil Neuwer kurtzweiliger Historien/ in welchem Giaffers/ deß Königs zu Serendippe/ dreyer Söhnen Reiß gantz artlich vnd lieblich beschrieben: Jetz newlich auß Jtaliänischer in Teutsche Spraach gebracht/ Durch Johann Wetzel/ Burgern zu Basel. Basel 1583. Moderne Ausgabe: Die Reise der Söhne Giaffers, aus dem Italienischen des Christoforo Armeno übersetzt durch Johann Wetzel 1583. Hg. von Hermann Fischer und Johannes Bolte. Tübingen 1895. 29 Historische Reyse Beschreibung dreyer vornehm=berühmten Königs Söhne Welche Jn Frembden Landen viel wunderbare=hoch vnnd denckwürdige sachen theils erfahren/ Theils aber selbsten erwiesen/ vnd also mit verwunderung Männiglicher Huld/ auch Endlich groß Ehr und Glück erlanget erlanget Hiervor von Christoph Armenio de Roville Aus Persisch in Jtalienisch: jetzt aber in hoch=teutsche MutterSprach versetzt durch Carolum à Liebenav. Leipzig 1630. 30 Le voyage et les avantures des trois princes de Sarendip. Traduits du Persan. Paris 1719. Moderne Ausgabe: Louis de Mailly: Les aventures des trois princes de Serendip, suivi de Voyage en sérendipité. Hg. von Aude Volpilhac, Dominique Goy-Blanquet und Marie-Anne Paveau. Vincennes 2011. 31 The travels and adventures of three princes of Sarendip. Intermixed with eight delightful and entertaining novels, translated from the Persian into French, and from thence done into English. London 1722; Der Persianische Robinson Oder: Die Reisen Und gantz sonderbahre Begebenheiten Dreyer Printzen von Sarendip, Wegen ihrer Anmuthigkeit/ aus dem Persiani-
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Geschichte der drei Prinzen in der Fassung des Chevalier de Mailly gelesen hat, wird allgemein als gegeben angenommen, allein, ob er das französische Original oder aber nur die englische Übersetzung konsultiert hat, darüber gehen die Meinungen auseinander.32 In der Geschichte wird allerdings entgegen der seit Walpole beständig wiederholten Behauptung nichts gefunden.33 Giaffer, der König von Serendip, will die Bildung seiner drei Söhne auf die Probe stellen und schickt sie dafür auf Reisen – die Geschichte spielt also nicht einmal in Serendip. Sie sind auf dem Weg in die Hauptstadt des Reichs des mächtigen Beramo (das als Persien identifiziert wurde), als sie einen Kamelführer treffen, dem eines seiner Tiere entlaufen ist. Die Prinzen lügen ihm ins Gesicht, dass sie das Kamel, das sie nie gesehen haben, in der Tat angetroffen hätten: »Ces jeunes princes, que avaient remarqué dans le chemin les pas d’un semblable animal, lui dirent que’ils l’avaient rencontré«.34 Scharfsinnig sind sie freilich: Sie plausibilisieren dem
|| schen in die Frantzösische und aus dieser in die Teutsche Sprache übersetztet. Mit Kupfern. Leipzig 1723; Persiaensche geschiedenissen, of de reizen en wonderbaere gevallen der drie Prinsen van Serendib. Bevattende een reeks van aengenaeme en leerzaeme vertellingen, welke in eenen zeer geestigen trant zyn beschreeven, en het vermaek met he nut treffens voorstellen. Uit het Persiaensch vertaeld. Leiden 1766. 32 Walpole soll die Geschichte der drei Prinzen von Serendip in Maillys Fassung in der französischen Ausgabe Amsterdam 1721 gelesen haben, so der Kommentar in Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 20, S. 408, Anm. 3. Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 2 gehen dagegen davon aus, dass Walpole die englische Übersetzung (Anm. 31) konsultiert habe, ebenso Solly: Serindip. Serendipity (Anm. 22), S. 98. Sowohl die französische als auch die englische Version führen freilich die Schreibung »Sarendip« im Titel, was mit Blick auf den Umstand, dass der Terminus bereits zur Zeit Cristoforo Armenos von ›Ceylon‹ abgelöst und außerhalb dieser spezifischen literarischen Tradition ungebräuchlich war, die Frage aufwirft, wie Walpole auf ›Serendip‹ kam. Abgesehen von der Diffusion der Geschichte der drei Prinzen inklusive acht eingelegter Novellen sorgte die Popularität jedenfalls dafür, dass ›Serendip‹ als Wort greifbar war, auch wenn es wohl eher unspezifisch für exotische Fremde stand denn für eine konkrete geographische Region. Cammann argumentiert, dass das Wort, das im Mittelalter die arabische Bezeichnung für Ceylon war, Anfang des 16. Jahrhunderts im Nahen Osten nahezu vergessen und in Italien gar nicht gebräuchlich und somit allein als literarisches Toponym geläufig war. Dafür spricht, dass eine von Michele Tramezzino 1554, also drei Jahre vor dem Peregrinaggio, gedruckte Weltkarte dort, wo ›Serendippo‹ stehen müsste, »Seilan« verwendet, vgl. Cammann: Christopher the Armenian (Anm. 26), S. 237. 33 Die Beobachtung findet sich bereits bei Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 2: »[T]he three princes of the fairy tale found nothing at all, but merely gave repeated evidence of their powers of observation.« 34 Mailly: Les aventures des trois princes de Serendip (Anm. 30), S. 15–19, das Zitat S. 15.
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Mann ihre Lüge, indem sie die Spuren ausdeuten, die ihnen unterwegs untergekommen sind (»hauendo del perduto gambello molti indicij ueduti«35). Dass es auf einem Auge blind sei, dass ihm ein Zahn fehle, dass es lahme – genug Beweis für den Kamelführer, um umzukehren und das Kamel in der Richtung zu suchen, die ihm die Prinzen weisen. Doch er findet es nicht und holt die Prinzen wieder ein. Sie geben ihm weitere Hinweise: dass das Kamel auf der einen Seite Butter, auf der anderen Honig getragen habe; dass auf dem Kamel eine Dame geritten und dass diese schwanger gewesen sei. Der Kamelführer kommt nun zu der Überzeugung, dass die drei sein Tier gestohlen haben müssen. Sie kommen ins Gefängnis, und das Kamel wird zufällig gefunden – ohne Zutun und ohne Wissen der Prinzen. Der Kamelführer erbittet ihre Freilassung, und nun enthüllen sie vor dem Herrscher, wie sie das Kamel so genau beschreiben hatten können: Das Kamel muss auf einem Auge blind sein, weil schlechtes Gras abgefressen, gutes aber stehengelassen war; ein Zahn muss fehlen, weil unregelmäßig Gras stehengeblieben war; es lahmt wohl, weil ein Hufabdruck durchweg verwischt war; eine Ameisenspur deutete auf verlorenes Fett hin, eine Fliegenspur auf ausgelaufenen Honig. Schließlich hatten sie den Abdruck eines Frauenschuhs und ein wenig Urin gesehen, den sie einer Frau zuordneten, deren Handabdrücke ebenfalls im Boden zu sehen waren: ein Anzeichen dafür, dass sie sich wegen ihrer Schwangerschaft beim Verrichten ihrer Notdurft abstützen musste. Abgesehen davon, dass in der Nacherzählung Walpoles das Kamel zu einem Maultier wird, erweist die Geschichte keine Findetechnik, und sei sie auch noch so sehr an den Scharfsinn Einzelner gebunden: Das Kamel wird auf die Beschreibung durch die Prinzen hin nicht gefunden, es ist nicht Serendipity, das es zurückbringt, sondern der pure Hasard. Zudem sind die drei Prinzen zwar scharfsinnig, aber auch unaufrichtig: Aus Spaß erzählen sie dem Kameltreiber, dass sie sein Tier gesehen haben und treiben ihn zweimal in eine fruchtlose Suche. Dass sie recht hatten, erweist sich erst, nachdem das Tier durch Zufall wiedergefunden wird und man ihnen Gelegenheit zur Darstellung des Sachverhalts gibt. Diese elitäre Unbekümmertheit, die sich auf Kosten eines um seine Subsistenz besorgten Mannes Scherze erlaubt, erscheint einigermaßen inkongruent als Signatur eines epistemischen Prinzips. Mit Blick auf eine kreative Findetechnik, zu deren Benennung der Begriff der Serendipity dann ja auch in die Wissenschaftssoziologie eingeführt wurde, muss das Gefüge der Erzählung ignoriert werden, um einen produktiven Scharfsinn herauszupräparieren.
|| 35 Armeno: Peregrinaggio (Anm. 25), fol. 3v.
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3 Der beschwiegene Dreh- und Angelpunkt: Voltaires Zadig Walpoles Rückgriff auf die drei Prinzen von Serendip ist also sowohl mit Blick auf das Finden als auch auf das Ethos der Akteure nicht gänzlich überzeugend. Und auch wenn der Text, aus dem er die Anekdote bezog, alles andere als obskur war, so hätte es doch eine weitaus näherliegende und prestigereichere Option gegeben: Voltaires Zadig ou la Destinée. Das dritte Kapitel in Voltaires Zadig figuriert in der Literatur gemeinhin als eine unter den vielen Bearbeitungen der Geschichte von den drei Prinzen,36 doch scheint mir zwischen Walpoles Brief an Mann und Voltaires Roman ein ganz bestimmtes Eskamotierungsverhältnis zu bestehen: Es ist unwahrscheinlich, dass Walpole den Zadig, der 1747 unter dem Titel Memnon erschienen und ab 1748 als Zadig gleich in mehreren Ausgaben zugänglich war, dabei auch unter Angabe der Autorschaft Voltaires, nicht kannte.37 Auch wenn Walpole und Voltaire erst Jahre später in Briefkontakt treten sollten – was sogleich in eine Kontroverse über Shakespeare mündete – so hat Walpole zweifellos Voltaires Publikationen verfolgt. Voltaire war bereits ein berühmter Mann, als er mit Zadig seinen ersten Roman publizierte.38 Dass sie sich persönlich bereits kennengelernt hatten, als Walpole noch ein Kind war und Voltaire während seines Englandaufenthalts 1726–1728 im Haus von dessen Vater verkehrte,39 spielt keine nennenswerte Rolle, waren doch Voltaires Schriften in den 1750er Jahren in England weit verbreitet.40 Thomas Macaulay, dessen in den 1830er Jahren
|| 36 Die ältere Einflussforschung hat neben dem Peregrinaggio eine Reihe von separaten Prätexten und Bezügen zu identifizieren gesucht, vgl. Leon Fraser: A Study in Literary Genealogy. In: Modern Language Notes 21:8 (1906), S. 254–247; Eugène E. Rovillian: Sur le ›Zadig‹ de Voltaire: Quelques autres influences. In: PMLA 46:2 (1931), S. 533–539. 37 Zu den Drucken vgl. Georges Ascoli: Introduction. In: Voltaire: Zadig ou la destinée. Histoire orientale. Hg. von Georges Ascoli. Paris 1962, S. XXII-XXXII. 38 Zu dessen Stellung in der Erzählprosa Voltaires vgl. Hugo Friedrich: Voltaire und seine Romane. In: H. F.: Romanische Literaturen. Aufsätze 1: Frankreich. Frankfurt a. M. 1972, S. 203–226. 39 Walpole: Correspondence (Anm. 9), Bd. 41, To Voltaire, 21. Juni 1768, S. 148–150, hier S. 149. Zur 1768 aufflammenden Kontroverse zwischen Voltaire und Walpole vgl. M. B. Finch/E Allison Peers: Walpole’s Relations with Voltaire. In: Modern Philology 18:4 (1920), S. 189–200; zu Voltaires Englandaufenthalt: Lucien Foulet: Le voyage de Voltaire en Angleterre. In: Revue d’histoire littéraire de la France 13:1 (1906), S. 1–25. 40 Ronald S. Crane: The Diffusion of Voltaire’s Writings in England, 1750–1800. In: Modern Philology 20:3 (1923), S. 261–274.
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geschriebenes Porträt Walpoles eher einer Generalkritik seines Charakters gleicht, hat wohl darin recht, dass Walpole »the most Frenchified English writer of the eighteenth century« war. Gleichwohl übte sich Walpole in einer eigenartigen Verachtungshaltung gegenüber den großen französischen Autoren der Zeit: [He] had little respect to spare for the men who were then at the head of French literature. He kept carefully out of their way. He tried to keep other people from paying them any attention. He could not deny that Voltaire and Rousseau were clever men; but he took every opportunity of depreciating them.41
Das Ignorieren des Zadig zugunsten des Peregrinaggio ist vielleicht der reinste Ausdruck dieser aggressiven Negation. Natürlich hatte sich Voltaire seinerseits auf die Geschichte von den drei Prinzen gestützt,42 doch wichtiger als die genaue Genealogie ist die Tatsache, dass Voltaire um die Mitte des 18. Jahrhunderts ohne Zweifel der prominenteste Erzähler dieser Geschichte war. Insbesondere die Hauptfigur ist bei Voltaire nachgerade gegenteilig zu den drei übermütigen Prinzen konturiert. Zadig, der in seiner jungen Ehe gerade feststellen musste, dass auf den Honigmond der Absinthmond folgt und der sich deshalb von seiner Ehefrau ab- und dem Studium der Natur zugewandt hat, widmet sich in seiner selbstgewählten Eremitage am Ufer des Euphrat dem Studium des ›Buchs der Natur‹, genauer: den Eigenschaften von Tieren und Pflanzen, mit dem Effekt, dass »il acquit bientôt une sagacité qui lui découvrait mille différences où les autres hommes ne voyent rien que d’uniforme«.43 (Auffällig ist der Begriff der ›sagacité‹, den Walpole ja in seiner Definition von ›se-
|| 41 Thomas Babington Macaulay: Walpole’s Letters to Sir Horace Mann. In: Edinburgh Review 58 (1833), S. 227–258, hier S. 235. 42 Dies war bereits den Kommentatoren im 18. Jahrhundert bewusst, wenn auch keine Einigkeit über die konkrete Vorlage bestand. Fréron behauptete in der Année littéraire 1767, dass Voltaire die Idee aus der Version des Chevalier de Mailly hatte. Vgl. den Kommentar zu Zadig in Voltaire: Romans et contes. Hg. von Frédéric Deloffre und Jacquees van den Deuvel. Paris 1979, S. 615–624, hier S. 617, Anm. 18. Der anonyme Herausgeber des 32. Bandes des Cabinet de fées wiederum reproduziert im Avertissement des Bandes eine Passage aus den im Band enthaltenen Soirées bretonnes von Simon Gueulette. Dort wird ein besonders rares und teures Kamel gesucht, ein »cynogesore«, weshalb der Herausgeber die Stelle parallel mit der entsprechenden Passage aus Zadig montiert, um mit kaum verhohlenem Stolz zu belegen, dass es sich dabei um Voltaires Quelle handelt. Le Cabinet des fées; ou collection choisie des contes des fées, et autres contes merveilleux, ornés de figures. Amsterdam/Paris 1786, S. [v]-xj. In diesem Sinn auch Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 15. 43 Voltaire: Zadig (Anm. 37), S. 13f.
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rendipity‹ verankern sollte.) Zadig lernt in seinen Meditationen über die Natur die Kunst des Unterscheidens, die auch sogleich auf die Probe gestellt wird. Der Obereunuch des Sultans tritt in Begleitung mehrerer Offiziere auf, man ist auf der Suche nach dem Hund der Königin sowie nach dem schönsten Pferd aus dem Gestüt des Königs. Zadig gibt jeweils eine Reihe von Eigenschaften der gesuchten Tiere an, verneint aber die Frage, ob er sie gesehen habe – was ihn zum Verdächtigen macht. Er wird zur lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien verurteilt. Das Urteil muss allerdings kurz darauf widerrufen werden, als man Hund und Pferd wiederfindet. Zadigs Vorgehen scheint zunächst dem eines Jägers zu gleichen: Spuren eines kleinen Tiers im Sand, auf einer Seite tiefer eingedrückt; leichte, längliche Furchen zwischen den Pfotenspuren, weitere Spuren außen neben denen der Vorderpfoten – ein hinkendes Tier, dessen Zitzen und Ohren den Boden streifen. Auf die Frage des Eunuchen, ob er den Hund der Königin gesehen habe, antwortet Zadig, die eigentliche Fragebeantwortung aussparend, mit folgender Beschreibung: »C’est une épagneule très petite […]. Elle a fait depuis peu des chiens, elle boite du pié gauche de devant, & elle a les oreilles très longues.«44 Der Scharfsinn wird über die analeptische Struktur der Erzählung vermittelt: Dass Zadig die Spuren überhaupt wahrgenommen hat, wird vor der Antwort auf die Frage des Eunuchen nicht erwähnt. Die Ellipse indiziert die laterale Aufmerksamkeit Zadigs, der entsprechend seiner zuvor hervorgehobenen sagacité umsichtig eine Vielzahl von Aspekten und Veränderungen in seiner Umwelt registriert. Es ist daher nicht die ›Intelligenz des Jägers‹,45 die Zadig mustergültig verkörpert, schließlich ist er nicht auf der Suche nach dem Tier, verfolgt er seine Spur nicht in der Absicht, es einzufangen. Vielmehr konstruiert er aus beiläufig Gesehenem, das ihm im Gedächtnis geblieben ist, obwohl es zum Zeitpunkt des Sehens irrelevant und daher eigentlich nicht merk-würdig gewesen sein muss, ein kohärentes System von indexikalischen Zeichen. Erst die Frage, die als Bezugspunkt eine bestimmte Hündin einsetzt, lässt ihn die Aspekte zu einer Hypothese zusammenfügen, die er allerdings im Ton und Gestus der Gewissheit durch Evidenz vorträgt: Es sei nicht irgendeine, sondern jene bestimmte Hündin, auf die die Spuren deuten.
|| 44 Voltaire: Zadig (Anm. 37), S. 14. 45 Denis Thouard: L’Enquête sur l’indice. Quelques prélables. In: D. T. (Hg.): L’interprétation des indices. Enquête sur le paradigme indiciaire avec Carlo Ginzburg. Villeneuve d’Ascq 2007, S. 9–21, hier S. 10. Die Figur des Jägers einer Spur zuerst bei Carlo Ginzburg: Spie. Radici di un paradigma indiziario. In: C. G.: Miti, emblemi, spie. Morfologia e storia. Turin 1986, S. 158–209, dort allerdings nicht spezifisch in Verbindung mit der »Le chien et le cheval«-Episode in Zadig.
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Genauso das Pferd: »C’est, répondit Zadig, le cheval qui galope le mieux. Il a cinq pieds de haut, le sabot fort petit; il porte une queue de trois pieds & demi de long: les bossettes de son mord sont d’or à vingt-trois carats, ses fers sont d’argent à onze deniers.«46 Konstruiert wird diese Beschreibung aus Spuren von Pferdehufen, die jeweils gleich weit voneinander entfernt sind – ein Indiz für perfekten Galopp; aus Bäumen, im Abstand von sieben Fuß, von deren Blättern auf der Höhe von dreieinhalb Fuß der Staub weggewischt ist – ein Indiz für die Länge des Schweifes, der im Lauf die Blätter gerade erreicht hat; und natürlich für die Größe des Pferdes. Abschürfungen von Gold auf einem Stein weisen auf das Material des Zaumzeugs hin, Abschürfungen auf einem Kieselstein auf das Silber des Hufbeschlags. Zadigs Scharfsinn beruht nicht allein auf scharfer Beobachtung, sondern auf der ingeniösen Kombination des scheinbar Kontingenten zu einem Merkmalsbündel eines bestimmten Einzelnen, verbunden mit einem Gestus der ruhigen Gewissheit und Entschiedenheit in einer Situation, die von Verwirrung ebenso wie von unsortierten und unübersichtlichen Möglichkeiten geprägt ist. Bereits im ersten Kapitel, »Le borgne«, war Zadigs mustergültiger Charakter in einer Fülle von Aspekten benannt worden: hochbegabt und gut erzogen, wohlhabend und jung, aber mit der Fähigkeit zur Affektkontrolle; geistreich, aber niemals prahlerisch; ohne Neigung zu Verleumdung, Unflätigkeiten oder Geschwätz; großmütig und mit einem sympathischen Äußeren gesegnet, ausgeglichen und mitfühlend. So jemand müsste ein glückliches Leben führen können, doch es ist diese Erwartung, gegen die der Conte angelegt ist: Jedes einzelne Kapitel kontrastiert die »lumineuse sagacité de l’homme« mit der »mystérieuse opacité du destin«.47 Dadurch, dass Zadig zwar ein Beobachter der Natur, aber nicht in die Suche nach den entlaufenen Tieren eingebunden ist, lässt sich sein Scharfsinn als Ausdruck einer wissenschaftlichen Praxis reinterpretieren, die sich seit dem 17. Jahrhundert über das Ideal des désintéressement oder der impartialité definiert: Zadig steht ein für ein wissenschaftliches Ethos, das unter Absehung von persönlichen Vorteilen oder Neigungen die Sache selbst betrachtet und beurteilt –
|| 46 Voltaire: Zadig (Anm. 37), S. 14. 47 Diese Spannung und die zentrale Trope des kontingenten Schicksals sind vielfach interpretiert worden, ich beschränke mich auf wenige Verweise: Jacques van den Heuvel: Voltaire dans ses contes. Paris 1967, besonders S. 190f.; Joseph Bianco: ›Zadig‹ et l’origine du conte philosophique. Aux antipodes de l’unité. In: Poetique 68 (1986), S. 443–461; Theodore E. D. Braun: Chaos, Determinism and Free Will in Zadig. In: Studies in Eighteenth Century Culture 27:1 (1998), S. 195–207.
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Spuren, die sich zudem erst retrospektiv als relevant erweisen. Das Sujet der alten Prinzenerzählung wird so refunktionalisiert als Emblem einer scharfsinnigen Observationsfähigkeit, die aber zugleich von aller persönlichen Vorteilssuche so entkoppelt ist, dass auch Verurteilung und Verbannung in Kauf genommen werden. Voltaires Episode im Zadig beruht zwar auf der ebenso reichen wie repetitiven Tradition der Scharfsinnsprobe, setzt sich jedoch von dieser ab, indem der Protagonist hier mit epistemischen Tugenden ausgestattet wird, die die Rätsellösung vom adligen Divertissement zur wissenschaftlichen Hypothesenbildung verschieben. Der Kontext ist nicht ein vom königlichen Vater erzwungener grand tour, sondern die soziale Grundkonstellation moderner Wissenschaft: Die räumliche und emotionale Separierung von der Frau versetzt in die quasi-monastische Disposition, die als Voraussetzung der Hingabe an das Studium gilt.48 Talent und Ethos werden in der Konturierung des Zadig verschwistert; er lässt sich als Verkörperung jener epistemischen Tugenden lesen, die moderne Wissenschaft ausmachen sollen.49
4 Zadig und die Logik der Wissenschaft In diesem Sinn greift Thomas Henry Huxley (1825–1895), der große Propagator des Darwin’schen Evolutionismus, nicht auf Voltaire, sondern auf den »Philosophen Zadig« zurück, um eine Typologie wissenschaftlicher Methode zu entwerfen.50 Huxley, der sich gegen jedwede Spekulation verwahrte und als Agnos-
|| 48 Vgl. Gadi Algazi: Eine gelernte Lebensweise. Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 107–118. 49 Vgl. Daston: Baconian Facts (Anm. 1), S. 337–364. 50 Die zweite Traditionslinie, die von Zadig ihren Ausgang nimmt, ist natürlich jene des Kriminalromans, vgl. André Vanoncini: De ›Zadig‹ à ›Maître Cornelius‹: Le Récit policier en gestation. In: Année Balzacienne 20 (1999), S. 203–216; Eric-Leif Davin: Inspector Zadig: Voltaire and the Birth of the Scientific Detective Story. In: Fantasy Commentator 8 (1995), S. 214–216. Von hier aus ist wiederum ein Bogen zur Wissenschaft geschlagen worden, am prominentesten von Carlo Ginzburg: Morelli, Freud, and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method. In: Umberto Eco/Thomas A. Sebeok (Hg.): The Sign of Three. Dupin, Holmes, Peirce. Bloomington 1983, S. 81–118; Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: C. G.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Übers. von Karl Friedrich Hauber und Gisela Bonz. München 1988, S. 78–125; sowie mit Blick auf die Philologie Hans-Christian von Hermann: Der Philologe als Detektiv. Ermittlungen am Tatort der Handschrift. In: Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde.
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tiker – der Terminus geht auf ihn zurück – auf dem Primat der Ratio und der Notwendigkeit von Beweisen beharrte, betonte zugleich die Zentralstellung von Hypothesen für den Fortschritt der Wissenschaften. Die Bacon’sche Idee von Fortschritt durch kollaborative Faktenakkumulation erschien ihm nachgerade widersinnig: To any one who knows the business of investigation practically, Bacon’s notion of establishing a company of investigators to work for ›fruits‹, as if the pursuit of knowledge were a kind of mining operation and only required well-directed picks and shovels, seems very strange.51
Vielmehr beruhe wissenschaftliche Novation auf der Bildung verifizierbarer Hypothesen, die wiederum selbst nur durch fundierte Vermutungen zu gewinnen seien.52 Aufgrund ihres zunächst hoch spekulativen Charakters fasste Hux-
|| Festschrift für Wolf Kittler. Hg. von Caroline Welsh und Christoph Hoffmann. Berlin 2006, S. 35–47. 51 Thomas H. Huxley: The Progress of Science, 1837–1887 [1887]. In: T. H. H.: Collected Essays I. Results and Methods. New York 1893 (Repr. 1901), S. 42–129, hier S. 57. Auch wenn Bacons Insistenz auf der Relevanz des Monströsen und damit des überraschenden und außerhalb der Alltagserfahrung liegenden Naturphänomens ihn mit einer Logik des Neuen in Verbindung zu bringen scheint, so ist diese doch weder in sein induktives Arbeitsprogramm eingebunden, noch ist der geniale Einfall Teil seiner Konzeption der Logik, vgl. Katharine Park/Lorraine J. Daston: Unnatural Conceptions: The Study of Monsters in Sixteenth- and Seventeenth-Century France and England. In: Past & Present 92 (1981), S. 20–54; Rhodri Lewis: Francis Bacon and Ingenuity. In: Renaissance Quarterly 67:1 (2014), S. 113–163, hier S. 140. Gegen die ›mechanische‹ Auffassung von Bacons Methode als eines Auftrags der a-theoretischen Faktenanhäufung, wie sie vor allem seine Anhänger im 17. Jahrhundert auf der Grundlage einer reduktionistischen Lektüre von Bacons Schriften propagierten, vgl. Brian Vickers: Francis Bacon and the Progress of Knowledge. In: Journal of the History of Ideas 53:3 (1992), S. 495–518. – Jüngst wurde Bacon gar als Proponent von Serendipity avant la lettre charakterisiert, dem die Urheberschaft wenn nicht des Ausdrucks, so jedenfalls des Konzepts zuzurechnen sei. Der Befund stützt sich auf die Strukturähnlichkeit der kurzen Fabel über die Entdeckung der Ceres durch Pan, der auf die Jagd gegangen war, während die anderen Götter nach ihr suchten, in De sapientia veterum (1609) mit Walpoles Cappello-Beispiel; vgl. Sean Silver: The Prehistory of Serendipity, from Bacon to Walpole. In: Isis 106:2 (2015), S. 235–256. 52 Bruce Sommerville/Michael Shortland: Thomas Henry Huxley, H. G. Wells, and the Method of Zadig. In: Alan P. Barr (Hg.): Thomas Henry Huxley’s Place in Science and Letters: Centenary Essays. Athens 1997, S. 296–322, hier S. 299. Auf das Finden einer belastbaren Hypothese müsse natürlich die induktive Bestätigung des Befundes und das Formulieren einer Regel und schließlich die deduktive Einordnung dieser Regel in die allgemeinen Naturgesetze folgen (ebd. S. 300).
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ley sie als eine Art von Prophezeiung, ein Argument, das er unter dem Titel »On the Method of Zadig« 1880 entfaltete. Huxley qualifiziert Zadigs scharfsinnige Konjekturen als »retrospective prophecies«,53 wobei er die Paradoxie des Ausdrucks einräumt und den Begriff der Prophezeiung einschränkt: the essence of the prophetic operation does not lie in its backward or forward relation to the course of time, but in the fact that it is the apprehension of that which lies out of the sphere of immediate knowledge; the seeing of that which, to the natural sense of the seer, is invisible.54
Retrospektive Prophezeiung sei die Grundlage der Geschichtsschreibung, der Paläontologie, der Archäologie und auch der Astronomie55 – und mehr noch: Huxley sieht darin den Schlüssel zu aller zukünftigen Wissenschaft: In no very distant future, the method of Zadig, applied to a greater body of facts than the present generation is fortunate enough to handle, will enable the biologist to reconstruct the scheme of life from its beginning, and to speak as confidently of the character of long extinct living beings, no trace of which has been preserved, as Zadig did of the queen’s spaniel and the king’s horse. Let us hope that they may be better rewarded for their toil and their sagacity than was the Babylonian philosopher.56
Die retrospektive Prophezeiung ist eine Aussage über ein vorgängiges Ereignis, dessen Zeuge der ›Prophet‹ nicht war, oder genauer: das Schließen von einer Wirkung auf eine vorgängige Ursache.57 Dass Zadig Hund und Pferd niemals gesehen hat, steht nun emblematisch für die Tätigkeit des Historikers ebenso wie jene des Astronomen, die aus vorfindlichen Quellen oder Phänomenen per Konjektur das erschließen, was diese einst hervorgebracht hat. Das kann nur im Modus der Spekulation passieren, die, wenngleich mehr oder weniger gut durch Befunde gesichert und mehr oder weniger scharfsinnig durchgeführt, mit größerer Wahrscheinlichkeit falsch als richtig ist.58 Dass Huxley die zentrale Bedeutung der Hypothesenbildung in der Forschung betont, fällt zeitlich nicht nur mit der wachsenden Kurrenz des Begriffs || 53 Thomas H. Huxley: On the Method of Zadig: Retrospective Prophecy as a Function of Science [1880]. In: T. H. H.: Collected Essays IV. Science and Hebrew Tradition. New York 1893 (Repr. 1901), S. 1–23, hier S. 5f. 54 Huxley: On the Method of Zadig (Anm. 53), S. 6. 55 Dazu auch Ginzburg: Morelli, Freud, and Sherlock Holmes (Anm. 50), S. 117. 56 Huxley: On the Method of Zadig (Anm. 53), S. 6. 57 Ebd., S. 7. 58 Huxley: The Progress of Science (Anm. 51), S. 63.
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der Serendipity zusammen, sondern vor allem auch mit Versuchen, eine Logik wissenschaftlicher Erkenntnis bzw. Entdeckung (›discovery‹) zu formulieren. Mit dem Begriff der Abduktion versuchte schließlich wiederum fast zeitgleich Charles S. Peirce eine Logik des Neuen zu formalisieren, die das Bilden von Hypothesen neben die Ableitung von Regeln aus der Beobachtung einer Reihe gleichgelagerter Phänomene (Induktion) und die Überprüfung der gewonnenen Einsicht durch Korrelation mit ersten Gesetzen (Deduktion) stellt. Zeigen lässt sich das Prinzip der Abduktion, so einer von Peirces prominentesten Interpreten, Umberto Eco, wiederum an einem nun bereits bekannten Text: dem dritten Kapitel, »Le chien et le cheval«, aus Voltaires Zadig.59 Wenn dieses Kapitel nun Serendipity und Abduktion gleichermaßen narrativ auf den Punkt bringt (und im Übrigen auch die retrospektive Prophezeihung Huxleys), dann sind zwei Erklärungen denkbar: der Text ist polyvalent und öffnet sich gegenstrebigen Interpretationen – oder aber Serendipity und Abduktion zielen im Kern wenn nicht auf das gleiche Phänomen, so doch auf das gleiche Anliegen.
5 C. S. Peirce: Abduktion und Retroduktion Mit dem Begriff der Abduktion suchte Charles Sanders Peirce den genialen Einfall in ein Muster der Inferenz zu überführen. In einem Aufsatz von 1878 spricht er noch von der ›Hypothese‹ (CP 2.620), 1903, in den Harvard Lectures on Pragmatism (1903) ist die ›Abduktion‹ an ihre Stelle getreten. Dass der Begriff analog zu ›Deduktion‹ und ›Induktion‹ gebildet wurde, ist Programm: Peirce versucht, die kreative Dimension der Hypothesenbildung als logisches Verfahren zu formalisieren und stellt dafür bereits in einer Abhandlung aus dem Jahr 1878, mithin noch vor dem Umschwenken auf ›Abduktion‹, die drei Inferenztypen in syllogistischer Form einander gegenüber.60 Deduktion, Induktion und Abduktion || 59 Umberto Eco: Horns, Hooves, Insteps. Some Hypotheses on Three Types of Abduction. In: Eco/Sebeok (Hg.): The Sign of Three (Anm. 50), S. 198–220. – In seinem Roman Il nome della rosa greift Eco die Geschichte aus dem dritten Kapitel des Zadig selbst auf, und im Gegensatz sowohl zum Peregrinaggio als auch zum Zadig wird ein durchgegangenes Pferd durch die scharfsinnigen Hinweise des Guglielmo (William) da Baskerville auch gefunden, vgl. Umberto Eco: Il nome della rosa. Mailand 31981, S. 30ff. 60 Charles S. Peirce: The Collected Papers of Charles Sanders Peirce. 8 Bde. Hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss. Cambridge 1931–1958, CP 2.623: Hier formuliert Peirce folgendes Beispiel für einen abduktiven Schluss, bei dem ausgehend von einem Resultat nach Regel und Fall gesucht wird: Rule. – All the beans from this bag are white.
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unterscheiden sich hinsichtlich der Gewissheit ihrer Konklusion: »deduction proves that something must be; induction shows that something actually is operative; abduction merely suggests that something may be« (CP 5.171). Die Induktion, die im Gefolge Bacons zur Methode der Empirie erkoren wurde, sei gerade nicht geeignet, Theorien hervorzubringen. Induktion und Abduktion gehen gleichermaßen von beobachtbaren Fakten aus. Doch im Modus der Induktion werde eine vorliegende Theorie durch die Akkumulation paralleler Fälle gestützt; Abduktion hingegen gründe sich vielmehr auf den Eindruck, dass angesichts bestimmter Fakten eine Theorie gebraucht werde:61 Abduction seeks a theory. Induction seeks for facts. In abduction the consideration of the facts suggests the hypothesis. In induction the study of the hypothesis suggests the experiments which bring to light the very facts to which the hypothesis had pointed (CP 7.218).
Abduktion bezieht sich auf den genialen Einfall, der sich wie ein Blitz manifestiert (CP 5.182), und doch will Peirce sie als Inferenz fassen und somit als Akt der Vernunft konzeptualisieren.62 Abduktion ist allerdings kein Prüfverfahren;
|| Result. – These beans are white. Case. – These beans are from this bag. Im Vergleich dazu die Deduktion: Rule. – All the beans from this bag are white. Case. – These beans are from this bag. Result. – These beans are white. Vgl. dazu die Erläuterungen und die Kritik in Jürgen von Kempski: Charles S. Peirce und der Pragmatismus. Stuttgart/Köln 1952, S. 83–115. Vgl. zu den Entwicklungsstufen des Konzepts K. T. Fann: Peirce’s Theory of Abduction. Den Haag 1970. – Ich zitiere im Folgenden entsprechend der in der Peirce-Forschung etablierten Konvention als CP x.y, wobei x für den Band, y für den jeweiligen Absatz steht. Weitere Belege aus unveröffentlichten Schriften beziehe ich aus dem herausragenden Portal Commens. Digital Companion to C. S. Peirce, begründet und betrieben von Mats Bergman, Sami Paavola und João Queiroz (http://www.commens.org). 61 Dass in Peirces frühen Schriften nicht hinreichend deutlich zwischen Hypothese bzw. Abduktion und qualitativer Induktion unterschieden werde, wurde vielfach bemerkt, vgl. z. B. Jo Reichertz: Abduktives Schlußfolgern und Typen(re)konstruktion. Abgesang auf eine liebgewordene Hoffnung. In: Thomas Jung/Stefan Müller-Dohm (Hg.): ›Wirklichkeit‹ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. 1993, S. 258–282, hier S. 263. Peirce war sich seiner frühen Irrtümer völlig bewusst, vgl. Charles S. Peirce: Cambridge Lectures on Reasoning and the Logic of Things: Philosophy and the Conduct of Life (1898) (Manuskript). Zit. in: Retroduction. In: Mats Bergman/Saami Paavola (Hg.): The Commens Dictionary: Peirce’s Terms in His Own Words (http://www.commens.org/ dictionary/term/retroduction). 62 Vgl. auch Peirces Brief an Paul Carus, ca. 1910 (CP 8.227–231). Arthur W. Burks: Peirce’s Theory of Abduction. In: Philosophy of Science 13:4 (1946), S. 301–306, hier S. 304, macht
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zwar schaltet die vollkommene Abduktion alle alternativen Lösungsmöglichkeiten aus,63 doch kann sie ihre Validität im Gegensatz zur Deduktion nicht selbst erweisen.64 Dennoch könnte nach Peirce die Bedeutung der Abduktion – im Sinne eines Studiums der Fakten und der Entwicklung einer Theorie, die sie erklärt – für die Wissenschaften nicht größer sein: »[a]ll the ideas of science come to it by way of Abduction« (CP 5.145).65 Peirce selbst revidierte seine früheren Überlegungen noch in derselben Dekade, in der er die Abduktion in den Harvard Lectures on Pragmatism präsentiert hatte,66 vor allem verabschiedete er seine eigene Prägung und zieht nun die Bezeichnung ›Retroduktion‹ vor. Unverändert hält Peirce aber an ihrer Schlüsselposition fest: Retroduktion sei die wichtigste Form des Denkens, denn sie allein eröffne trotz ihrer Unzuverlässigkeit neue Perspektiven.67 Sie stehe am Beginn eines sukzessiven Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung:
|| darauf aufmerksam, dass Peirces Definition von Inferenz vorsieht, dass instinktive Reaktion oder auch nur habituelle Interpretation ausgeschlossen sind. Vgl. dazu auch Sami Paavola: Peircean Abduction: Instinct or Inference? In: Semiotica 153 (2005), S. 131–154. 63 M. D. Bybee: Abductive Inferences and the Structure of Scientific Knowledge. In: Argumentation 10 (1996), S. 25–46, hier S. 32. Vgl. auch K. T. Fann: Peirce’s Theory of Abduction (Anm. 60), S. 42, der hervorhebt, dass von ›Trillionen möglicher Hypothesen‹ auch nur eine wahr sein kann. Chihab El Khachab: The Logical Goodness of Abduction in C. S. Peirce’s Thought. In: Transactions of the Charles S. Peirce Society 49:2 (2013), S. 157–177, zeigt, dass die Prüfung einer Abduktion nicht durch sie selbst erfolgen kann. 64 Vgl. zur Kritik an gegenteiligen Auffassungen William H. B. McAuliffe: How did Abduction Get Confused with Inference to the Best Explanation? In: Transactions of the Charles S. Peirce Society 51:3 (2015), S. 300–319. 65 Dem widerspricht z. B. Bybee: Abductive Inferences (Anm. 63). 66 »Only in almost everything I printed before the beginning of this century I more or less mixed up Hypothesis and Induction« (Brief an Paul Carus, CP 8.227–231). Die Ablösung von Abduktion durch Retroduktion erfolgt allerdings nicht in einem klaren Schnitt: Der Begriff der Retroduktion taucht bereits in den Lessons on the History of Science (CP.1.65) von 1896 auf. 67 Peirce: Letter to J. H. Kehler (1911) (Manuskript), zit. in Retroduction (Anm. 61). Bergman erläutert, dass Peirce in einer Fußnote anmerkt, dass er sich auch für retroduction entschieden habe, um gewisse Kontroversen um die Beziehung seines Abduktionsbegriffs zur Aristotelischen ersten Analytik (II, 25) zu umschiffen. Zu diesen Kontroversen hat Peirce natürlich maßgeblich beigetragen, indem er Abduktion mit Giulio Paces Übersetzung der Aristotelischen ›apagoge‹ als ›abductio‹ in Verbindung gebracht hatte. Vgl. für Erläuterungen der Differenz zwischen Apagoge und Abduktion Bybee: Abductive Inferences (Anm. 63), S. 38; Jorge Alejandro Floréz: Peirce’s Theory of the Origin of Abduction in Aristotle. In: Transactions of the Charles S. Peirce Society 50:2 (2014), S. 265–280, besonders S. 272.
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There are three stages of inquiry, demanding as many different kinds of reasoning governed by different principles. They are, 1, Retroduction, forming an explanatory hypothesis[;] 2, Deduction, tracing out the consequences that would ensue upon the truth or falsity of that hypothesis; and 3, Induction, the experimental testing of the hypothesis by inquiring whether its consequences are born out by fact, or not.68
Die Hypothese, die durch Retroduktion gewonnen und dann durch deduktive Relationierung mit den Naturgesetzen ebenso wie durch experimentellen Nachvollzug überprüft wird, sei zum einen insgesamt eine Konjektur, die sich in Form eines Einfalls zeige,69 habe aber zum anderen die Gestalt eines Syllogismus, in der die Konjektur als Untersatz fungiert: »a possible explanation, by which I mean a syllogism exhibiting the surprising fact as necessarily consequent upon the circumstances of its occurrence together with the truth of the credible conjecture, as premisses« (CP 6.469–470). Wenn wir diesen Gedanken an das erste von Walpole zur Illustration von Serendipity zitierte Beispiel aus dem Peregrinaggio zurückbinden, dann wäre die überraschende Tatsache jene, dass das schlechte, nicht aber das gute Gras abgefressen ist. In der Retroduktion werden nun sowohl die Konjektur (ein auf einem Auge blindes Tier ist hier vorbeigekommen; Untersatz) als auch die Regel (ein auf einem Auge blindes Tier sieht nicht, wo das gute Gras wächst; Obersatz) zugleich gefunden. Dass das Kamel dem Kameltreiber gehört, ist gar nicht Teil dieser Inferenz. Allerdings gibt der Auftritt des Kameltreibers erst den Impuls für die Suche nach einer Erklärung. Der Zustand des Grases wäre ohne seine Bitte um Hilfe gar nicht in den Rang einer erklärungsbedürftigen Tatsache gerückt. Mit der Figur des Kameltreibers ist also ein Anlass für die Hypothesenbildung installiert. Trotz Peirces Insistenz auf dem Ersetzen von Abduktion durch Retroduktion konnte sich der letztere Terminus nicht durchsetzen, was mit daran liegen mag, dass der vorwärtsdrängenden Konnotation des Fortschritts die ›retro‹-Komponente des Begriffs scheinbar entgegensteht. Nicht allein das Präfix ›retro-‹ verknüpft Peirces Ansatz nochmals deutlicher mit Huxleys Methodenreflexion. Es geht ihm damit gleichermaßen darum, einen bestimmten Kausalnexus hervorzuheben: »an explanatory hypothesis is first suggested, by the name of retroduction, since it regresses from a consequent to a hypothetical antecedent«.70 Es
|| 68 Peirce: Logic: Fragments (Manuskript), zit. in Retroduction (Anm. 61). 69 Peirce: Letter to J. H. Kehler (Anm. 67). 70 Peirce: A Neglected Argument for the Reality of God (Manuskript), zit. in Retroduction (Anm. 61).
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geht ihm also nicht um die (gute) Idee als solche, sondern um die Korrelation eines Falles mit einem zunächst hypothetisch veranschlagten Antezedens. Es ist offensichtlich, dass der retroduktive Syllogismus den formalen Kriterien eines deduktiven nicht auch nur annähernd genügt. Das Problem ist dabei nicht einmal, dass er von Einzelnem (einer Spur) auf Einzelnes (ein bestimmtes Tier, das sie hinterlassen hat) schließt.71 Anders als die Abduktion gewinnt die Deduktion ihre Validität nicht aus den Inhalten der Prämissen, sondern aus der fehlerfreien Relationierung der Begriffe. Anders gesagt, die Gültigkeit des deduktiven Syllogismus resultiert aus seiner Form, nicht aus der Semantik der Terme. Nach aristotelischer Auffassung ist von den deduktiven Syllogismen sogar nur jener der ersten Figur wissenschaftsfähig, denn nur er bringt allgemeine Aussagen hervor – die zweite Figur mit ihrer negativen Konklusion zeitigt keine positive Aussage, und die partikuläre Konklusion der dritten trifft per definitionem nicht allgemein zu. In der Analytica posteriora benennt Aristoteles den Syllogismus der ersten Figur als die eigentlich wissenschaftliche Schlussfolgerung, denn »es ist nur in dieser Figur möglich, ein Wissen um das Wesen der Dinge zu erlangen. Denn in der mittleren Figur geschieht kein bejahender Schluß, das Wissen um das Wesen ist aber etwas Positives. Und in der letzten Figur geschieht zwar ein bejahender Schluß, aber kein allgemeiner, das Wesen ist aber etwas Allgemeines«.72 Doch die Unwägbarkeiten, die an der Notwendigkeit des Findens beider Prämissen hängen, lassen die Abduktion kaum mehr sein als die deskriptive Einreihung des guten Einfalls in den Schematismus der Logik. Zwar muss auch bei der Deduktion etwas gefunden werden, und zwar der Mittelbegriff, doch wurde dessen (Er-)Findung traditionell durch die pons asinorum angeleitet.73 Die Induktion wiederum ›beweist‹ ohnehin nur durch das Aufsuchen analoger
|| 71 Das Einzelne hat in der wissenschaftlichen Deduktion keinen Ort, vgl. Ian Maclean: Interpretation and Meaning in the Renaissance: the Case of Law. Cambridge 1992, S. 81. Umberto Eco betont dagegen, dass die Unterscheidung zwischen dem Schließen von überraschenden individuellen Fakten auf allgemeine Gesetze (»the nature of universes«) und dem Schließen von überraschenden individuellen Fakten auf andere individuelle Fakten, die als Ursache der ersteren gesetzt werden (»the nature of texts«) nicht haltbar sei hinsichtlich des Verfahrens der Abduktion, das beide Möglichkeiten einschließe. Vgl. Eco: Horns, Hooves, Insteps (Anm. 59), S. 204f. 72 Arist. Anal. post. I, 14, S. 31 (79a25). 73 Vgl. dazu Anita Traninger: Was macht der Esel auf der Brücke? Zur widersprüchlichen Geschichte des pont aux ânes zwischen Farcentradition und Logikgeschichte. In: Helmar Schramm u. a. (Hg.): Modell und Risiko. Historische Miniaturen zu dynamischen Epistemologien. Wiesbaden 2016 (im Druck).
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Fälle. Für die Abduktion gibt es kein Suchraster und kein Reservoir, darum liefert sie so oft keine belastbare Hypothese bzw. ist umgekehrt auf individuelles Talent und die plötzliche Eingebung angewiesen.
6 Literatur als Medium praktischer Vernunft Peirce hat die Abduktion technisch unter die Inferenzformen eingereiht, aber zugleich betont, dass es sich wesentlich um ein Raten (›guesswork‹) handle. Die Literatur allerdings ist es, die eine logische Solidität vorspiegelt: Nur im fiktionalen Text – im Peregrinaggio wie im Zadig – wird aus der Abduktion Deduktion. Der Effekt resultiert aus der kühlen Überzeugtheit der Ratenden und natürlich dem Faktum, dass sich die Konjektur als korrekt erweist. Der Ort dieser Logik des Neuen ist nicht umsonst die Literatur, weil sie vom gelungenen Akt und nicht von dessen logischer Kategorisierung abhängt. In der Literatur muss die Abduktion glücken, sonst gibt es kein Sujet und folglich keine Erzählung. Dieses Argument ist bereits in ironisch-personalisierender Weise mit Blick auf Conan Doyles Romane vorgetragen worden: »Holmes ist nur deshalb so schlau, weil er einen direkten Draht zu dem ›Gott‹ dieses fiktiven Universums hat.«74 Der eigentliche Grund ist aber natürlich die Basisstruktur des traditionellen Erzählens, das im Fall der Fruchtlosigkeit einer scharfsinnigen Hypothese schlicht gegenstandslos wäre. Serendipity ist mehr als Spurenlesen, weil jeweils nicht eine generische Ursache für einen vorliegenden Befund rekonstruiert wird – der Hufabdruck eines Kamels zeigt an, dass ein Kamel hier gelaufen ist –, sondern zugleich ein Konnex zu einem spezifischen, aber bis dahin unbekannten Ereignis hergestellt wird. Von Walpole wurde dies mit den Komponenten ›accident‹ und ›sagacity‹ benannt.75 ›Accident‹/›accidental‹ heißt hier freilich nicht ›zufällig‹, sondern ›unbeabsichtigt‹, im Sinne einer Reaktion auf ein Problem, das sich unvermittelt stellt. Der Ausdruck »Finden«, mit dem Walpoles »discovery« gemeinhin übersetzt wird, ist irreführend – und hierin liegt auch der Konnex zur konkurrierenden Theoretisierung der Abduktion: Es geht um das Einschätzen des Wahrgenommenen, wobei das Genie in der Verknüpfung des Phänomens mit
|| 74 Jo Reichertz: Folgern Sherlock Holmes oder Mr. Dupin abduktiv? Zur Fehlbestimmung der Abduktion in der semiotischen Analyse von Kriminalpoesie. In: Kodikas/Code – Ars semeiotica 13:3/4 (1990), S. 307–324, hier S. 313. 75 Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity (Anm. 5), S. 7.
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seiner Ursache besteht. Serendipity ist gerade nicht das Finden eines nur zu entdeckenden Neuen, sondern beruht auf einer Inferenzoperation, die, wie es Peirce für die Abduktion bzw. Retroduktion ausbuchstabierte, von gleich zwei fehlenden Prämissen geprägt ist. Walpoles Beispiel für Serendipity oder »accidental sagacity«, die Ehe der Anne Hyde, zeigt genau dies, nämlich das Aufdecken einer Kausalrelation: Weil eine junge Frau im Haus ihrer Eltern über ihrem eigentlichen Stand behandelt wird und weil ihre Beziehung zum Bruder des Thronfolgers bekannt ist, schließt der Earl of Shaftesbury, dass sie ihn heimlich geheiratet haben muss. Er entdeckt nicht die Eheschließung als solche, sondern erschließt sie aus einem Umstand (der Besserbehandlung) und einer Regel (Höhergestellte werden mit mehr Respekt behandelt). Der geniale Moment ist nicht das Spurenlesen, sondern die Hypothese, die eine Beobachtung als Spur liest und sie mit zwei Unbekannten verknüpft. Aus Walpoles Serendipity-Anekdote (mehr aber noch aus jener, welche die ›sortes Walpolianae‹ illustrieren sollte, und aus den teils sehr deutlich abweichend nuancierten späteren Definitionen, die sich alle nicht als Reinterpretationen verstanden, sondern als korrekte Referate) wurde der Aspekt des glücklichen Fundes hervorgehoben. Der Sache nach ist natürlich auch dies ein Moment der Retroduktion: Auch die Funktion des zufällig Gefundenen muss ja konjektural erschlossen werden. Serendipity erfüllt hier weniger eine Funktion in der Formalisierung einer Logik der Entdeckung, sondern fügt sich in die von Merton maßgeblich mit angestoßene Wissenschaftssoziologie, die den Forschungsprozess und seine Unwägbarkeiten, Irrtümer und Sackgassen in den Blick nimmt. Während Serendipity als willkommene Prägung für den glücklichen Zufall aufgenommen wurde, wurde an die Abduktion die Hoffnung auf eine Formalisierbarkeit und damit Anleitbarkeit der Findung des Neuen geknüpft. Der Leichtigkeitskonnotation der ersten Prägung steht die Formalisierungsabsicht der zweiten entgegen, und doch ist es dasselbe Moment des plötzlichen wie glücklichen Einfalls, auf das beide abzielen. Auch das für Serendipity als charakteristisch veranschlagte Finden dessen, »was man nicht sucht«, ist vor diesem Hintergrund zu präzisieren: Es geht um ein bestimmtes Aufmerksamkeitsregime, das Phänomene registriert, ohne sie einem bestimmten Muster oder einander zuzuordnen. Die später gestellte Frage veranlasst retrospektiv das Ziehen von Linien, das Herstellen von Bezügen. Ein rezenter Beitrag in der New York Times forderte die Einrichtung von »serendipity studies«. Zugegeben, so Pagan Kennedy, die frühere DesignKolumnistin des Blatts und Autorin das demnächst erscheinenden Bandes Inventology, das Phänomen sei schwer zu definieren und erstaunlich vielfältig.
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Was ihr vorschwebt, ist eine Taxonomie nicht der Entdeckungen, sondern der Entdecker: »By observing and documenting the many different ›species‹ of super-encounterers, we might begin to understand their minds.«76 Wie ich hoffe in diesem Beitrag gezeigt zu haben, ist die Taxonomie gerade nicht geeignet, um die Natur des glücklichen Einfalls zu bestimmen. Zugegeben, auch der Versuch der Logik, den genialen Einfall in die Verfahren der Inferenz einzureihen, ist nur bedingt als geglückt zu bezeichnen: Peirce hat eine Logik beschrieben, deren Erfolg sich nicht in der Operation, sondern im Eintreten der Verknüpfung erweist. Sie zeugt aber dennoch von einem Bemühen, Erkenntnis und Entdeckung als Prozess zu denken, nicht als glückliches Stolpern über das bisher Übersehene. Selbst Walpoles Fokus auf individuelles Talent wird durch die von ihm vorgetragenen Anekdoten konterkariert, die jeweils eine Inferenz illustrieren. Wie ich gezeigt habe, ist es der Prozess, der so schwer zu fassen und dennoch zentral ist. Die Literatur war und ist das Medium, das im sujethaften Text die Entdeckung festhält und die elusiven Aspekte des Unvorhergesehenen narrativ plausibel zu machen vermag. Die Erzählungen evidenzialisieren den Einfall durch die retrospektive Einordnung des Geschehenen – davor wussten die Protagonisten nicht, dass das, was sie lateral wahrnehmen, zu einem Problemkomplex gehört. Der Witz der Literatur ist, dass die Hypothese – in ihrer Genese beschrieben via Serendipity oder Abduktion –, die in der Mehrheit der lebensweltlichen Fälle falsch ist, hier aus strukturellen Gründen immer richtig ist. Damit ist die Literatur in herausgehobener Weise Medium einer Logik des Neuen und der angestammte Ort praktischer Vernunft.
|| 76 Pagan Kennedy: How to Cultivate the Art of Serendipity. In: The New York Times (3. Januar 2016), S. SR1. Vgl. Pagan Kennedy: Inventology. How We Dream Up Things that Change the World. New York 2016.
| Aufklärung
Klaus W. Hempfer
»Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques« Zum Verhältnis von ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹ in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts
1 ›Alt‹ und ›neu‹ in Chéniers Poetik Der Vers im Titel meines Beitrags stammt aus dem poetologischen Lehrgedicht L’Invention, das André Chénier zwischen 1786 und 1788 verfasste und das, wie die überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte bzw. Gedichtfragmente, erst postum veröffentlicht wurde, zuerst in der Werkausgabe durch Henri de Latouche 1819, die entgegen ihrem Titel zwar nicht die Œuvres complètes d’André Chénier der Nachwelt zugänglich machte, aber doch eine erste Auswahl.1 Der viel zitierte Vers ist Quintessenz des nicht zufällig mit L’Invention übertitelten Gedichts, das solchermaßen die rhetorische Kategorie der inventio aufruft und grundsätzlich die Frage diskutiert, inwiefern es dem modernen Dichter erlaubt sei, in seiner ästhetischen Praxis auf aktuelle Wissensbestände zu rekurrieren, wobei die selbstverständliche Gültigkeit klassizistischer ästhetischer Normen in keiner Weise in Frage steht – hierauf ist sogleich zurückzukommen. Was vielmehr als Frage aufgeworfen wird, ist die Hybridisierung von ›alt‹ und ›neu‹, d. h. der Rekurs auf traditionell überkommene, gleichwohl als überzeitlich verbindlich präsupponierte diskursive Ordnungen zur Vermittlung eines grundlegend neuen Wissens, das sich außerhalb dieser Ordnungen entwickelt hat.2 Zu den Grundvoraussetzungen klassizistischer Poetologie zählen das Imitatio-Prinzip in seiner doppelten Ausprägung als imitatio naturae und imitatio auctorum. Beides thematisiert Chénier, indem er eingangs zunächst den »inven-
|| 1 Zur komplexen Überlieferungsgeschichte der Texte Chéniers und zur Erstausgabe vgl. die einleitende »Préface« der Herausgeber in André Chénier: Œuvres poétiques. Édition critique par Georges Buisson et Edouard Guitton. 2 Bde. Paris 2005–2010, I, S. 5–26, hier S. 5–8; zur Entstehungszeit von L’Invention ebd. II, S. 470–474. 2 Ich gehe nicht von einem spezifischen Hybriditätskonzept aus, sondern versuche, das, was ich damit bezeichnen möchte, am historischen Material zu entwickeln. Eine Diskussion der unterschiedlichen Hybriditätskonzepte erfolgt an anderer Stelle.
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teur« von dem »esclave imitateur« unterscheidet, um, solchermaßen topisch abgesichert,3 die imitatio der antiken Autoren zu propagieren: Osons ; de votre gloire éclatante et durable Essayons d’épuiser la source inépuisable. (v. 23f.)4
Diese Apostrophe der antiken Autoren (»votre«) als unerschöpfliche Quellen poetischer inventio wird ergänzt durch eine Thematisierung der imitatio naturae über die Zeuxis-Geschichte, wie sie etwa Cicero in De inventione (II,1,1–3) erzählt, wonach Zeuxis, der eine ideale Frauengestalt als Abbild Helenas malen wollte, fünf der schönsten Mädchen Krotons als Modell auswählte, um mit deren jeweils schönsten Eigenschaften seine ideale Schönheit zu konstruieren, »quod nihil simplici in genere omnibus ex partibus perfectum natura expolivit« – »weil die Natur nicht etwas in allen Teilen Vollkommenes an einer einzelnen Person ausgebildet hat« (Cic. inv. II,1,3).5 Über eben diese Form der Naturnachahmung bestimmt Chénier seinen »inventeur«: Ainsi donc, dans les arts l’inventeur est celui Qui peint ce que chacun pût sentir comme lui, Qui, fouillant des objets les plus sombres retraites, Étale et fait briller leurs richesses secrètes ; Qui, par des nœuds certains, imprévus et nouveaux, Unissant des objets qui paraissaient rivaux, Montre et fait adopter à la nature mère Ce qu’elle n’a point fait, mais ce qu’elle a pu faire ; C’est le fécond pinceau qui, sûr dans ses regards, Retrouve un seul visage en vingt belles épars, Les faits renaître ensemble, et par un art suprême Des traits de vingt beautés forme la beauté même. (v. 45–56)
|| 3 Die Ablehnung der sklavischen Nachahmung bei gleichzeitiger Begründung der Unhintergehbarkeit von Nachahmung findet sich von Horaz (De arte poetica V. 133f.) über Petrarca (Familiares XXIII, 19) bis zu Chéniers Zeitgenossen Jean-François Marmontel (Éléments de littérature [1787]. Hg. von Sophie Le Ménahèze. Paris 2005, s. v. invention poétique). 4 Ich zitiere Chénier, sofern nicht anders vermerkt, nach der in Anm. 1 genannten kritischen Ausgabe. 5 Zitiert nach Marcus Tullius Cicero: De inventione/Über die Auffindung des Stoffes und De optimo genere oratorum/Über die beste Gattung von Rednern. Hg. u. übers. von Theodor Nüßlein. Darmstadt 1998.
»Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques« | 235
Wenn Chénier mit der eindeutigen Anspielung auf Zeuxis über die Metaphorik des Malerpinsels (»pinceau«) einerseits explizit an De inventione anschließt, so lässt er gleichzeitig auch die Aristotelische Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung anklingen (v. 53), die ihrerseits Voraussetzung für das Konzept der »imitation de la belle nature« ist, die zeitgenössisch vor allem durch Batteux weite Verbreitung fand.6 Und wie Batteux und eine Vielzahl zeitgenössischer Autoren ist auch noch für Chénier die Gattungstrennung selbstverständliche Voraussetzung poetischer Produktion:7 La nature dicta vingt genres opposés D’un fil léger entre eux chez les Grecs divisés. Nul genre, s’échappant de ses bornes prescrites, N’aurait osé d’un autre envahir les limites ; Et Pindare à sa lyre, en un couplet bouffon, N’aurait point de Marot associé le ton. (v. 57–62)
Nach dieser eindeutigen Fixierung klassizistischer ›Standards‹ möchte Chénier seinem »inventeur« jedoch Möglichkeiten eröffnen, die der Erweiterung des Wissens Rechnung tragen: »Tout a changé pour nous, mœurs, sciences, coutumes« (v. 100). Dieses neue Wissen ist wesentlich eine vertiefte Erkenntnis der Natur, mit der die moderne Wissenschaft die Antike ›überholt‹ hat: Démocrite, Platon, Épicure, Thalès, Ont de loin à Virgile indiqué les secrets D’une nature encore à leurs yeux trop voilée. Torricelli, Newton, Kepler et Galilée, Plus doctes, plus heureux dans leurs puissants efforts, À tout nouveau Virgile ont ouvert des trésors.
|| 6 Zu Batteuxʼ Konzeption der belle nature vgl. Klaus. W. Hempfer/Andreas Kablitz: Französische Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Dieter Janik (Hg.): Geschichte der französischen Lyrik. Darmstadt 1987, S. 267–341, hier S. 271–280. Zu Batteux generell und seiner europäischen Wirkung vgl. Fernando Bollino: Teoria e sistema delle belle arti. Charles Batteux e gli esthéticiens del sec. XVIII. Bologna 1979. 7 Zur Bedeutung der Stil- und Gattungstrennung für die Poetologie des 18. Jahrhunderts vgl. Klaus W. Hempfer: Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts. München 1972, S. 37–57.
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Tout les arts sont unis : les sciences humaines N’ont pu de leur empire étendre les domaines Sans agrandir aussi la carrière des vers. (v. 109–117)
In diesen und den folgenden Versen, in denen noch Buffon, Bailly und der Astronom Jean-Dominique Cassini explizit genannt werden, thematisiert Chénier den zentralen epistemologischen Wandel, der sich, ausgehend von den Naturwissenschaften, im Wissenschaftssystem des 18. Jahrhunderts vollzogen hat,8 und fordert, dass eben dieser Wandel in der Literatur seinen Niederschlag finde. Entscheidend ist, dass hiermit gerade kein Wandel der literarischen Formensprache intendiert ist, sondern der Wandel ist beschränkt auf die durch diese Formensprache transportierten Wissenskonfigurationen. Dies resultiert zum einen schon daraus, dass die Forderung nach neuen ›Inhalten‹ in für den Klassizismus typischer hochpoetischer Diktion vorgenommen wird, wie etwa an folgender Stelle: Pensez-vous, si Virgile ou l’Aveugle divin Renaissaient aujourd’hui, que leur savante main Négligeât de saisir ces fécondes richesses, De notre Pinde auguste éclatantes largesses ? (v. 141–144)
Es ist unverkennbar, wie die rhetorische Frage, der Musenberg Pindos als Metonymie für die Dichtung, die komplexe Syntax mit Hyperbata und Anastrophen, die abstrahierenden Periphrasen (»fecondes richesses« stehen für die neuen wissenschaftlichen Ergebnisse und »éclatantes largesses« umschreiben das herausragende Vermögen der zeitgenössischen Dichter) sowie weitere kodifizierte rhetorische Verfahren die klassizistische Diktion konstituieren, mit welcher der Rekurs auf neue Wissensbestände begründet wird. Chéniers eigener Text realisiert also hinsichtlich poetologischer Fragen, was er generell einfordert – sentenzhaft zugespitzt in dem bereits zitierten Vers und dessen unmittelbarem Kontext:
|| 8 Noch immer grundlegend hierzu Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, Nachdruck Hamburg 1998, und Georges Gusdorf: Les principes de la pensée au siècle des Lumières. Paris 1971; ferner G. G.: Dieu, la nature, l’homme au siècle des Lumières. Paris 1972 und G. G.: L’avènement des sciences humaines au siècle des Lumières. Paris 1973.
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Changeons en notre miel leurs plus antiques fleurs ; Pour peindre notre idée, empruntons leurs couleurs ; Allumons nos flambeaux à leurs feux poétiques ; Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques. (v. 181–184)
In aller Explizitheit konzipiert Chénier also eine Hybridisierung von klassizistischer Formensprache und hierdurch transportiertem neuen Wissen, die nicht nur allen Literaturtheorien zuwiderläuft, die notwendige Zusammenhänge zwischen einzelnen sozio-kulturellen Teilsystemen präsupponieren oder ausdrücklich assertieren, sondern auch totalisierenden Epochenkonstrukten wie Foucaults ›epistemai‹, die notwendig die strukturelle Identität gleichzeitiger diskursiver Formationen voraussetzen. An welche Wissensinhalte Chénier vorrangig denkt, hat er mit dem bereits zitierten Vers angedeutet, in dem er »Torricelli, Newton, Kepler et Galilée« (v. 112) als zentrale Wegbereiter des neuen Wissens apostrophiert. Und wenn er sein Ideal des ›neuen‹ Epikers skizziert, macht er diesen zum ›Sänger‹ Newtons: Ô qu’ainsi parmi nous des esprits inventeurs De Virgile et d’Homère atteignent les hauteurs, Sachent dans la mémoire avoir comme eux un temple, Et sans suivre leurs pas imiter leur exemple ; […] Et qu’enfin Calliope, élève d’Uranie, Montant sa lyre d’or sur un plus noble ton, En langage des dieux fasse parler Newton ! (v. 285–298)
Rund 50 Jahre früher hatte Voltaire in seinen Éléments de la philosophie de Newton (1738) nach der polemisch zugespitzten Gegenüberstellung von Descartes und Newton in den Lettres philosophiques (1734) Newtons besondere Bedeutung für die Konstitution eines neuen Denkens entwickelt, d. h. Chéniers doppelter Rekurs auf Newton greift eine Position auf, die sich, wie nicht zuletzt die zahlreichen Auflagen der Élements im 18. Jahrhundert nahelegen,9 als opinio communis etabliert hat. Während auch die ältere Aufklärungsforschung diese zent-
|| 9 Die Éléments erschienen zwischen 1738 und 1745 in fünf Einzelausgaben, danach in zwanzig Werkausgaben bis zur Kehler-Ausgabe von 1784.
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rale Rolle Newtons für eine Genealogie von Aufklärung betont,10 versucht die neuere Forschung, diese Position zu relativieren.11 Für mein Argument ist diese Differenz belanglos, doch ist hierauf zurückzukommen. Zunächst geht es mir nur um den Befund, dass ein junger Dichter im ausgehenden 18. Jahrhundert das epistemisch Neue paradigmatisch mit Newton verbindet und dass er dafür eintritt, dieses Neue in tradierten Diskursformationen zu vermitteln, die auf fundierenden Normen des Klassizismus wie der Gattungstrennung und der Interdependenz von imitatio auctorum und imitatio naturae beruhen. Chénier dürfte mit seiner Inventio-Theorie, die Neues durch die neuartige Verbindung von Neuem und Altem erzeugt, nicht zuletzt an seine eigenen Epenprojekte gedacht haben, an Hermès und L’Amérique, die beide nur als Plan und in Gestalt weniger in Versform ausgearbeiteter Fragmente realisiert wurden;12 darüber hinaus benennt er damit jedoch am Ende des 18. Jahrhunderts ein Prinzip, das einen erheblichen Teil der Literaturproduktion dieses Jahrhunderts zu charakterisieren scheint und das in der bisherigen Forschung nicht angemessen berücksichtigt wurde. Grund hierfür ist ein anachronistischer Blick auf die französische Literatur des 18. Jahrhunderts, der ›Aufklärungsliteratur‹ auch ästhetisch unter ein Fortschrittspostulat stellt. Ich möchte stattdessen verständlich zu machen versuchen, warum etwa ein Voltaire für seine Zeit per antinomasiam der ›Auteur de la Henriade‹ und nicht des Candide war,13 d. h. dass nicht a priori
|| 10 Vgl. bes. Cassirer: Aufklärung (Anm. 8), S. 7–14; Gusdorf: Principes (Anm. 8), S. 151–212; Simone Goyard-Fabre: La philosophie des Lumières en France. Paris 1972, S. 139–161, u. a. 11 Beginnend mit Margaret C. Jacob: Newtonianism and the Origin of Enlightenment. A Reassessment. In: Eighteenth Century Studies 11:1 (1977), S. 1–25; zuletzt Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago/London 2010, S. 28f. 12 Vgl. André Chénier: Œuvres complètes. Hg. v. Paul Dimoff. 3 Bde. Paris 1966, II, S. 27–140. Im Prolog zu Hermès bezieht sich Chénier wie in L’Invention speziell auf Newton sowie auf Buffon, der sich seinerseits explizit auf Newton bezogen hatte: Souvent mon vol, armé des ailes de Buffon, Franchit avec Lucrèce, au flambeau de Newton, La ceinture d’azur sur le globe étendue. (Ebd., II, S. 29, V. 33–35). Zu Buffons Bezugnahme auf Newton vgl. Walter Tega: Il newtonianismo dei ›philosophes‹. In: Rivista di Filosofia 66 (1975), S. 369–407. 13 Vgl. etwa folgenden Buchtitel eines Anonymus: Commentaire historique sur les Œuvres de l’auteur de la Henriade. Basel 1776. Noch am Ende seines Lebens wurde Voltaire primär mit seinem Jugendwerk verbunden. Zur zeitgenössischen Rezeption der Henriade, die zunächst unter dem Titel La Ligue (1723) erschienen war, vgl. die »Introduction« in: Voltaire: La Henriade. Edition critique par Owen Reece Taylor, deuxième édition entièrement revue et mise à jour. Genf 1970. Nach Taylor handelt es sich um »l’un des plus grands succès de librairie de son
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von einem Oppositionsverhältnis von ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹ auszugehen ist, im Gegenteil. Um dies etwas näher zu begründen, bedarf es der Skizze eines Verständnisses von ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹, aus dem sich die Notwendigkeit ergibt, diese beiden Epochenbegriffe zu korrelieren, um einen nicht unerheblichen Teil der französischen Literaturproduktion im 18. Jahrhundert und deren spezifische Hybridisierung von ›alt‹ und ›neu‹ adäquat charakterisieren zu können.
2 ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹ In der Aufklärungsforschung wird geradezu topisch »eine außerordentliche ›Diversität‹ als faktisches Merkmal der Epoche und unerlässliche Voraussetzung ihrer Erforschung« konstatiert, die »nicht mit ›Beliebigkeit‹« zu verwechseln sei.14 Wenn sich nun freilich auch die »Zeit der Renaissance […] durch große Vielfalt« auszeichnet,15 genauso wie die Frühe Neuzeit,16 dann scheint es sich bei der Konstatierung von ›Diversität‹, ›Vielfalt‹, ›Heterogenität‹ usw. nicht um ein Spezifikum der jeweiligen Epoche, sondern um ein Problem der Epochentheorie zu handeln.17 Sofern man nicht auf Epochenbegriffe grundsätzlich verzichten möchte, da dies zur »Nivellierung des Geschichtsverlaufs in die Eintö-
|| siècle« (S. 11), über den sich letztendlich aber selbst der Herausgeber der kritischen Ausgabe wundert (vgl. bes. den kurzen Abschnitt zu »La Henriade et la poésie«, S. 226–231). Die Ausführungen von Stefan Matuschek (Literatur. In: Heinz Thoma [Hg.]: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2015, S. 335–343, bes. S. 340f.) illustrieren paradigmatisch die teleologisch-modernistische Perspektive auf die Literatur des 18. Jahrhunderts, um deren Korrektur es mir geht. 14 Stefanie Stockhorst: Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe. Einleitung. In: S. S. (Hg.): Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013, S. 7– 23, hier S. 11. 15 Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. München 1974/76, Bd. 1, S. 12. 16 Vgl. hierzu Wolfgang Harms: Zur Problematik der Festlegung von Epochensignaturen aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Konkurrenzen von Heterogenem im Zeitraum der Frühen Neuzeit. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49:3 (2002), S. 278–293. 17 Dass man aus heterogenen Aspekten kein konsistentes Epochenkonzept konstruieren kann, betont auch Fania Oz-Salzberger: New Approaches towards a History of the Enlightenment – Can Disparate Perspectives Make a General Picture? In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 171–182.
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nigkeit des Immer-gleichen« führt,18 bedarf es einer anderen Problemlösung. Diese könnte darin liegen, scheinbar selbstverständliche Voraussetzungen der Epochenbildung zu hinterfragen. Eine dieser Voraussetzungen ist die Identifizierung von ›Epoche‹ und ›Zeitraum‹. Obgleich in der neueren Epochentheorie mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass ›Epochen‹ theoretische Konstrukte sind,19 präsupponiert nicht nur die traditionelle Gliederung nach Jahrhunderten, sondern auch die inzwischen gängige von den ›langen‹ und ›kurzen‹ Jahrhunderten,20 dass für diese jeweils ein wie auch immer gearteter Zusammenhang besteht. Guillén hat bereits im Anschluss insbesondere an die Barockstudien Jean Roussets auf der Trennung von ›Zeitraum‹ und ›Epoche‹ insistiert und darauf verwiesen, dass sich solchermaßen die Möglichkeit ergibt, ein und demselben Zeitraum mehrere Epochenkonstrukte zuzuweisen.21 Eine solche Konzeption vermeidet, dass man Epochenbegriffe wie ›Aufklärung‹ ablehnt, weil sie nicht alle Erscheinungen eines Zeitraums abdecken,22 oder den Begriff so ausdehnt, dass er sich über divergente bis kontradiktorische Zuschreibungen konstituiert.23 Hybrid wäre also nicht die ›Epoche‹, sondern der
|| 18 Hans Blumenberg: Die Epochen des Epochenbegriffs. In: H. B.: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeite Neuausgabe von ›Die Legitimät der Neuzeit‹, vierter Teil. Frankfurt 1976, S. 7–33, hier S. 11. 19 Vgl. hierzu Michael Titzmann: Epoche. In: Klaus Weimar/Harald Fricke/Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bde. Berlin/New York 1997–2003, Bd. 1, S. 476–480; Justus Fetscher: Zeitalter/Epoche. In: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6. Stuttgart/Weimar 2005, S. 774–810, hier S. 775; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 88f.; Daniel Fulda: Gab es ›die Aufklärung‹? Einige geschichtstheoretische, begriffsgeschichtliche und schließlich programmatische Überlegungen anlässlich einer neuerlichen Kritik an unseren Epochenbegriffen. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 37:1 (2013), S. 11–25, hier S. 19. Explizit begründet wurde die Auffassung von Epochen als ›Konstrukten‹ schon in Benno von Wiese: Zur Kritik des geistesgeschichtlichen Epochebegriffes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 11 (1933), S. 130–144, und Ernst Cassirer: Some Remarks on the Question of the Originality of the Renaissance. In: Journal of the History of Ideas 4 (1943), S. 49–56 (dt. Übers.: Einige Bemerkungen zur Frage der Eigenständigkeit der Renaissance. In: August Buck [Hg.]: Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1969, S. 212–221). 20 Osterhammel: Verwandlung (Anm. 19), S. 84–88. 21 Vgl. Claudio Guillén: Second Thoughts on Currents and Periods. In: Peter Demetz/Thomas Greene/Lowry Nelson (Hg.): The Disciplines of Criticism. New Haven/London 1968, S. 477–509. 22 So argumentiert etwa Jonathan C. D. Clark: The Enlightenment: Catégories, traductions et objets sociaux. In: Lumières 17/18 (2011), S. 19–39. Gegen eine solche Annahme wendet sich auch Oz-Salzberger: New Approaches (Anm. 17), S. 177f. 23 In diese Richtung tendiert der Beitrag von Daniel Fulda: Aufklärung (Anm. 19).
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Zeitraum, auf den gegebenenfalls unterschiedliche Epochenbegriffe anwendbar sind. Um die totalisierende Konnotation von ›Epoche‹ zu vermeiden, bietet es sich vielleicht an, eher von ›epochalen Konfigurationen‹ zu sprechen. Ein weiteres Problem der Epochisierung besteht in der »Periodenverschiedenheit der Kulturgebiete«,24 d. h. den Phasenverschiebungen zwischen dem Auftreten von ›Neuem‹ in den einzelnen soziokulturellen ›Teilsystemen‹ (Politik, Wirtschaft, Künste usw.). Genau diese Phasenverschiebung ist konstitutiv für ›klassizistische Aufklärungsliteratur‹, neben der es auch nichtklassizistische Aufklärungsliteratur gibt,25 ebenso wie eine klassizistische Diskursivierung Vehikel für nicht- oder gegenaufklärerische Tendenzen sein kann.26 Michael Titzmann hat zu Recht davor gewarnt, literarhistorische Epochisierungen a priori an außerliterarische Ereignisse und/oder Prozesse zu binden; wenn er aber gleichzeitig ausschließt, dass sich Epochen überlagern können bzw. dürfen,27 wird die Beschreibung dessen unmöglich, worauf es mir ankommt, nämlich die Hybridisierung von ›alt‹ und ›neu‹ in einem beträchtlichen Teil der französischen Literatur im Zeitraum vom ausgehenden 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert. Selbstverständlich ist mit den Begriffen ›Aufklärung‹ und ›Klassizismus‹ keine vollständige epochale ›Verkarteiung‹ dieses Zeitraums intendiert. Einbezogen werden müssten etwa die Diskussionen um die ›Empfindsamkeit‹, deren Relation zur Aufklärung umstritten ist, was hier nicht weiter verfolgt werden kann.28
|| 24 Johan Hendrik Jacob van der Pot: Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen. Leiden 1999. Vgl. auch Osterhammel: Verwandlung (Anm. 19), S. 95–99. 25 Diese bedient sich vor allem der nicht bzw. kaum kodifizierten Prosagenera wie des Romans in unterschiedlichen Ausprägungen, des Wörterbuchs, des Dialogs, des Traktats u. a. Es sind diese Gattungen, die im Zentrum der Aufklärungsforschung stehen. 26 Vgl. etwa die Verssatiren Gilberts. Hierzu Hempfer: Tendenz und Ästhetik (Anm. 7), S. 179– 239. 27 Vgl. Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Stuttgart 1983, S. 98–131, hier S. 114. 28 Vgl. Friedrich Vollhardt: Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur ›Empfindsamkeit‹. In: Holger Dainat/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999, S. 49–77; Jessica Riskin: Science in the Age of Sensibility. The Sentimental Empiristics of the French Enlightenment. Chicago 2002; Rainer Warning: Einige Hypothesen zur Frühgeschichte der Empfindsamkeit. In: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. München 1994, S. 415–423; Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. In: Thoma: Handbuch Europäische Aufklärung (Anm. 13), S. 132–138. Es ist verblüffend,
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Rezente Publikationen insbesondere angelsächsischer Provenienz tendieren dazu, die Bedeutung des epistemologischen Wandels zu minimieren und Aufklärung, wie Edelstein, als »a social phenomenon« zu begreifen, »in which scholars, professors, writers, aristocrats, ministers, educated women, and even some priests were thinking, conversing, writing and behaving in novel ways«.29 Dass sich die Kommunikationsbedingungen vom 17. zum 18. Jahrhundert verändern, ist bekannt, wenn auch umstritten ist, wie dies genau geschieht;30 doch wird im 18. Jahrhundert eben auch, wie Edelstein ja selbst feststellt, anders gedacht und geschrieben. Gleichwohl erweckt er den Eindruck, als brächte die Aufklärung epistemologisch gegenüber der ›Scientific Revolution‹ nichts Neues. Obgleich er Shapin zweimal zitiert, scheint er an der überholten Meinung festzuhalten, dass es die ›Scientific Revolution‹ gegeben habe und dass es sich dabei um eine homogene Entwicklung handle. Genau dieses Konzept dekonstruiert Shapin, der sein Buch mit der paradoxen Feststellung beginnt: »There was no such thing as the scientific revolution, and this is a book about it.«31 Die Paradoxie der Formulierung Shapins lässt sich dahingehend auflösen, dass es im Laufe des 17. Jahrhunderts in dem, was wir heute als Naturwissenschaften bezeichnen, in der Tat zu grundsätzlichen Veränderungen kam, dass sich diese aber nicht plötzlich und homogen, sondern in einem allmählichen Prozess vollzogen, in dem unterschiedliche Akteure in höchst unterschiedlicher Weise mitund gegeneinander ein neues Konzept von Wissenschaft entwickelten.32 Und in diesem Prozess kam es zu deutlichen Differenzierungen, etwa zwischen Descartes und Newton, die konstitutiv für das Herausbilden von ›Aufklärung‹ sind, denn schließlich schrieb Voltaire keine Éléments de la philosophie de Descartes und er schrieb auch keine Éléments de la philosophie de Spinoza, selbst wenn es
|| dass in einem Lemma zur ›Empfindsamkeit‹ in einem Handbuch zur ›Aufklärung‹ die Relation von ›Empfindsamkeit‹ und ›Aufklärung‹ nicht diskutiert wird. 29 Edelstein: Enlightenment (Anm. 11), S. 21, Herv. von mir. 30 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Ansätze von Jürgen Habermas: Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin 1962 u. ö., François Furet (Hg.): Livre et société dans la France du XVIIIe siècle. 2 Bde. Paris 1965–70, oder die zahlreichen Publikationen von Robert Darnton, etwa: The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France. New York/London 1995. 31 Steven Shapin: The Scientific Revolution. Chicago/London 1996, S. 1. 32 Shapin zeigt dies auf der Grundlage eines beeindruckenden Überblicks über die ›Quellen‹ und die wissenschaftliche Literatur der letzten Jahrzehnte. Zur Auseinandersetzung mit der Forschung vgl. bes. den »Bibliographic Essay«, ebd., S. 167–211.
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richtig sein sollte, dass das, was Israel für die ›wahre‹ Aufklärung hält, schon bei Spinoza voll ausgeprägt war.33 Nun stellt bereits Cassirer fest, »dass ein eigentlicher Bruch« zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert nicht anzunehmen sei,34 arbeitet aber gleichzeitig eine Spezifizität aufklärerischen Denkens heraus, eine neue »Denkform«, die das hypothetisch-deduktive Denken der großen Systementwürfe des 17. Jahrhunderts durch ein empirisch-induktives Denken ersetzt. Cassirer wurde schon sehr früh entgegengehalten, dass er solchermaßen nicht der ›Vielfalt‹ des 18. Jahrhunderts gerecht werde,35 doch geht es Cassirer ja gar nicht um das Denken des 18. Jahrhunderts, auch wenn einzelne Formulierungen missverständlich sind,36 sondern um den Kern aufklärerischer Epistemologie, der Aufklärung allererst abgrenzbar macht von nicht-aufklärerischen Strömungen des 18. Jahrhunderts und von Vorausgehendem und Nachfolgendem. Auf der Grundlage zentraler Texte des 18. Jahrhunderts wie D’Alemberts Vorrede zur Encyclopédie, Condillacs Traité des systèmes, Voltaires Éléments de la philosophie de Newton und vielen anderen mehr können Cassirer oder auch Gusdorf in seiner monumentalen Synthese eben jenen fundamentalen »epistemological change« plausibel machen, den Edelstein ohne Auseinandersetzung mit Cassirer oder Gusdorf durch einen »narratological change« ersetzen möchte.37 Hinter diesem vorgeblichen ›narratologischen Wandel‹ als Merkmal der Aufklärung verbirgt sich nun freilich ein mehrfaches Quidproquo: ›Narratologisch‹ bezieht sich notwendig auf die Ebene der Theorie, die Narratologie als Theorie(n) des Erzählens, was Edelstein allerdings gar nicht meint. Der zentrale Passus lautet:
|| 33 Vgl. hierzu Jonathan Israel: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2002. 34 Cassirer: Aufklärung (Anm. 8), S. 28. 35 Zur Rezeption der Erstausgabe vgl. die Einleitung von Gerald Hartung zum Nachdruck von 1998, S. XX*–XXIII*; ferner Lester G. Crocker: Recent Interpretations of the French Enlightenment. In: Charles B. Osburn (Hg.): The Present State of French Studies. A Collection of Research Reviews. Metuchen 1971, S. 331–369, oder Herbert Dieckmann: Themen und Struktur der Aufklärung. In: H. D.: Diderot und die Aufklärung. Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 1–28. 36 Vgl. Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Aufklärung‹. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 115:1 (2005), S. 21–53, hier S. 23. 37 Edelstein: Enlightenment (Anm. 11), S. 28.
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[T]he key French contribution to the genealogy of the Enlightenment was not epistemological but rather narratological: it simply happened that it was in France that the ramifications of the Scientific Revolution were interpreted as having introduced a philosophical age, defined by a particular esprit, and as having a particular impact on society.38
Was Edelstein also meint, ist kein narratologischer, kein erzähltheoretischer Wandel, sondern dass die Aufklärung ein ›Narrativ‹ erfindet, eine ›Geschichte‹, die den spezifisch aufklärerischen »esprit« aus der Scientific Revolution ableitet, die es – in ihrem traditionellen Verständnis – gar nicht gab. Wenn die Aufklärung jedoch eine solche Geschichte ›erzählt‹, um zunächst die Erzählmetaphorik beizubehalten, dann erzählt sie die Geschichte eines epistemologischen Wandels und nicht die eines Narrativs und schon gar nicht die des narratologischen Wandels. Gegen diese ›Geschichte‹ stellt Edelstein seine ›Geschichte‹, die er einleitend ganz explizit als »narrative approach« und damit als methodologischen Zugriff auf der Beschreibungsebene ausweist,39 die von der Objektebene mit der postulierten Ablösung des epistemologischen durch den narratologischen Wandel zu unterscheiden ist, d. h. nicht die Aufklärung erzählt eine Geschichte, sondern Edelstein erzählt seine Geschichte von Aufklärung. Konstitutiv für diese ›Geschichte‹ ist nun kein narrativer oder gar narratologischer Wandel, sondern die Querelle des Anciens et Modernes, wie Edelstein sie interpretiert.40 Zwar lehnt er es ab, die Querelle als »cause of the Enlightenment« zu verstehen, gesteht ihr aber ›katalytische‹ Funktionen zu: »to borrow a chemical metaphor, it [sc. die Querelle] was the catalyst that precipitated the Enlightenment narrative«.41 Warum Edelstein so hartnäckig darauf beharrt, dass die Aufklärung ein Narrativ sei, und nicht erst durch einen ganz spezifischen ›Zugriff‹ zu einem solchen werde, erklärt sich aus dem expliziten Lyotard-Anschluss im letzten Kapitel: »The narrative that lay at the heart of what we now know as the Enlightenment was more than just a story: it was and remains a ›master narrative‹ of modernity, even a myth.«42 Wenn Aufklärung jedoch nichts weiter als ein »grand récit« unter anderen ist, dann ist ihr vorgeblich narrativer Charakter auch kein distinktives Merkmal. Lyotard selbst charakterisiert deshalb den
|| 38 Ebd. 39 Ebd., S. 17. 40 Vgl. ebd., bes. Kap. 4 bis 7. 41 Ebd., S. 45. 42 Ebd., S. 116, mit explizitem Verweis in der Anmerkung auf Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979.
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»récit des Lumières« als ein »récit […] où le héros du savoir travaille à une bonne fin éthico-politique, la paix universelle«.43 Mir geht es hier nicht darum, dass Lyotard in kühner Zurichtung aus einem komplexen historischen Phänomen eine simple Geschichte macht, um hiervon die »condition postmoderne« absetzen zu können, sondern nur darum, dass er diese ›Geschichte‹ in ganz spezifischer Weise inhaltlich füllt. Infolgedessen kann es nicht einfach darum gehen, bei der Bestimmung von Aufklärung einen »epistemological change« durch einen »narratological change« zu ersetzen. Dass die Récit-Metaphorik darüber hinaus eine inadäquate Simplifizierung eines komplexen Sachverhalts wie der ›Aufklärung‹ darstellt, die als Epochenbegriff zwar eine Geschichte hat, aber keine Geschichte ist, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner weiteren Diskussion. Ich gehe deshalb weiterhin von einer epistemologischen Bestimmbarkeit von ›Aufklärung‹ aus, wobei selbstverständlich neuere Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte einzubeziehen sind.44 In den beiden großen Handbüchern zur Aufklärung fehlt erstaunlicherweise ein Lemma ›Epistemologie‹.45 Inwiefern auch literarische Texte die neue Epistemologie explizit thematisieren oder über spezifische Diskursivierungen transportieren können, habe ich an anderer Stelle skizziert.46 Wichtige Präzisierungen zum Verhältnis von Empirie und Hypothesenbildung in der Diskussion des 18. Jahrhunderts finden sich bei Bender und Pépin.47 Insbesondere Pépins Hinweise, dass sich in Naturgeschichte, Chemie und Medizin des 18. Jahrhunderts als Organisationsprinzip von Wissen »un résau de rapports d’effets« herausbilde, »qui délaisse les causes premières«, und dass das »tableau comme mode de comparaison d’une pluralité de rapports« zu einer »figure dominante du savoir expérimental« werde, »qui subvertit les ordres déductifs comme l’arbre cartésien et les hiérarchies ontologiques de la théologie naturelle«,48
|| 43 Ebd., S. 7. 44 Etwa im Hinblick auf Voltaires Verhältnis zum Cartesianismus. Vgl. Éliane Martin-Haag: Voltaire. Du cartésianisme aux Lumières, Paris 2002. 45 Vgl. Michel Delon (Hg.): Dictionnaire européen des Lumières. Paris 1997 und Thoma: Handbuch Europäische Aufklärung (Anm. 13). 46 Vgl. Hempfer: Literatur und Aufklärung (Anm. 36) sowie Klaus W. Hempfer: Epistemologie und Experiment in der Literatur der französischen Aufklärung: Diderots Les Bijoux indiscrets. In: K. W. H./Anita Traninger (Hg.): Dynamiken des Wissens. Freiburg 2007, S. 253–268. 47 Vgl. John Bender: Enlightenment Fiction and the Scientific Hypothesis. In: Dennis Todd/Cynthia Wall (Hg.): Eighteenth-Century Genre and Culture. Serious Reflections on Occasional Forms. Essays in Honor of J. Paul Hunter. Newark 2001, S. 236–260, und François Pépin: L’épistémologie expérimentale des Lumières. In: Raison présente 172 (2009), S. 47–57. 48 Pépin: Epistémologie (Anm. 47), S. 53.
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machen Cassirers Ansatz an aktuelle Befunde der Wissenschaftsgeschichte anschließbar. Die neuere Wissenschaftsgeschichte konstatiert damit genau jene zentralen Veränderungen, die Foucault mit seinem umfassenden Konstrukt einer ›Klassischen Episteme‹ verdeckt. Das Cassirer’sche Konzept der ›Denkform‹ unterscheidet sich also grundlegend von Foucaults totalisierender ›episteme‹ und entspricht eher Flecks etwa gleichzeitig entwickelter Konzeption eines »Denkstils«, der an ein »Denkkollektiv« gebunden ist,49 wodurch Konstitutionsprozesse von Wissen und Wissenschaft mit Institutionalisierungsprozessen vermittelbar werden, die die Theoretisierung der gleichzeitigen Existenz unterschiedlicher Denkstile erlauben.50 Das zweite zentrale Konzept, das mir für eine Epochisierung der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts zentral erscheint, ist ›Klassizismus‹. Dass es im Französischen nur ein Wort für ›Klassik‹ und ›Klassizismus‹ gibt, nämlich ›classicisme‹, hat in der französischen Epochentheorie zu nicht unerheblicher Verwirrung von typologischen und periodologischen Problemstellungen und zur Pluralisierung des Terminus ›classicisme‹ geführt,51 während der aus der Kunstgeschichte stammende Terminus des ›néoclassicisme‹ in seiner Anwendung auf die Literatur umstritten ist und wenn überhaupt in der Regel nur auf antikisierende Tendenzen in der Zeit vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert angewendet wird.52 Die Schwierigkeiten der französischen Terminologie spiegeln folgende Formulierungen Michel Delons wider:
|| 49 Vgl. hierzu Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1999 [1935]. 50 Zur Unterscheidung von ›Denkform‹ und ›Denkstil‹ einerseits und der episteme-Konzeption Foucaults andererseits vgl. Hempfer: Epistemologie und Experiment (Anm. 46), bes. S. 253– 257. 51 Vgl. etwa den Sammelband von Georges Forestier/Jean-Pierre Néraudau (Hg.): Un Classicisme ou des classicismes? Actes du colloque international organisé par le Centre de recherches sur les classicismes antiques et modernes, Université de Reims 5, 6 et 7 juin 1991. Pau 1995. 52 Vgl. etwa Roland Mortier: Le néo-classicisme entre sublime et sensibilité. In: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 50 (1998), S. 97–104; Michel Delon: Existe-t-il un néoclassicisme en littérature ? In: Jean Dagen/Philippe Roger (Hg.): Un Siècle de Deux Cents Ans? Les XVIIe et XVIIIe siècles: Continuités et Discontinuités. Paris 2004, S. 315–327; Denis Thouard: Perfectibilité et normes esthétiques dans le néo-classicisme: philologie, poésie et politique chez André Chénier. In: Sabrina Vervacke/Erik Van der Schueren/Thierry Belleguic (Hg.): Les songes de Clio. Fiction et histoire sous l’Ancien Régime. Laval 2006, S. 603–628.
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Le classicisme qui s’affirme à partir de l’exemple du siècle de Louis XIV constitue tout au long du dix-huitième siècle un modèle en même temps que le principe d’un écart, le cadre de l’activité littéraire en même temps que le socle d’où s’élancer pour chercher ailleurs.53
Genau dieser Prozess des Weiterwirkens der Grundlagen der französischen Klassik im Klassizismus des 18. Jahrhunderts scheint mir zentral für eine Neufokussierung der bisher zu einseitig unter dem Epochensignum der Aufklärung und/oder der Empfindsamkeit betrachteten Literatur der Zeit. ›Klassizismus‹ hat dabei eine Doppelbedeutung: Zum einen beinhaltet der Terminus die fortwirkende Gültigkeit der Grundprinzipien der ›doctrine classique‹, wie sie im 17. Jahrhundert im Anschluss an die Antike und die Poetologie der italienischen Renaissance entwickelt wurde, und zum anderen die sich im 18. Jahrhundert herausbildende Tendenz, das Zeitalter Ludwigs XIV. als kulturellen Höhepunkt zu begreifen, eben als ›Klassik‹, an der sich die eigene Zeit zu messen hat. Dass die für die traditionelle französische Literaturgeschichtsschreibung so zentralen Jahrhundertgrenzen problematisch sind, wird zunehmend nicht nur von nichtfranzösischen Französisten konstatiert,54 sondern spiegelt sich auch in Kolloquiumstiteln wie »Un Siècle de Deux Cents Ans?« wider.55 Gleichwohl scheint bisher die zentrale Bedeutung grundlegender Prinzipien der poetologisch-rhetorischen Tradition für die Poetologie und die poetische Praxis der Versgenera des 18. Jahrhunderts unterschätzt zu werden, trotz einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen wie etwa zur Horaz- und Boileau-Rezeption im 18. Jahrhundert56 oder umgekehrt zu Voltaires Rezeption der Autoren des 17. Jahrhunderts;57 die hierzu vorliegende ältere Forschung58 wird kaum mehr rezipiert. Dass diese Prinzipien selbst für ›niedere‹ Gattungen wie die Verssatire gelten, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht, wobei dezidiert klassizistische
|| 53 Delon: Néoclassicisme (Anm. 52), S. 332. 54 Vgl. etwa Peter France: Une légende des siècles : les pièges de la périodisation. In: Dagen/Roger: Un Siècle de Deux Cents Ans? (Anm. 52), S. 119–126. 55 Vgl. Dagen/Roger: Un Siècle de Deux Cents Ans? (Anm. 52). 56 Vgl. etwa Sylvain Menant: Horace et les poètes français du XVIIIe siècle. In: Helmut Krasser/Ernst A. Schmidt (Hg.): Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden. Tübingen 1996, S. 220–234, oder John Richardson Miller: Boileau en France au dixhuitième siècle. Baltimore 1942. 57 Vgl. die Beiträge in dem Sammelband von Jean Dagen/Anne-Sophie Barrovecchio (Hg.): Voltaire et le Grand Siècle. Oxford 2006. 58 Daniel Mornet: La question des règles au XVIIIe siècle. In: Revue d’histoire littéraire de la France 21 (1914), S. 241–268, 592–617, oder Georges Lote: La poétique classique au XVIIIe siècle. In: Revue des Cours et Conférences 31 (1929/30), S. 60–74, 156–171, 226–275, 464–480.
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Positionen auch und gerade von prominenten Aufklärern wie Voltaire oder Condillac vertreten werden.59 Dass das Weiterwirken der poetologisch-rhetorischen Tradition unterschätzt wird, das sich in einer Fülle von zum Teil sehr umfangreichen ›Lehrwerken‹ manifestiert, resultiert zum einen aus einer teleologischen Lektüre der ästhetisch-poetologischen Texte der Zeit, was bis in die Titelgebung durchschlägt60, zum anderen schlicht aus der Tatsache, dass traditionelle Referenzen und Konzepte nicht als solche erkannt werden . So versteht etwa Chouillet Batteux’ Rekurs auf die durch Cicero überlieferte, von Chénier aufgegriffene ZeuxisGeschichte zur Konstitution eines idealschönen Frauenbildes aus den Bestandteilen mehrerer realer Schönheiten als Niederschlag einer sensualistischen Erkenntnistheorie und begründet damit die »originalité de Batteux«.61 Wenn dem so wäre, wäre Cicero (oder Zeuxis?) der erste ›Sensualist‹. Batteux’ Les BeauxArts réduits à un même principe (1746) und Cours de Belles-Lettres distribué par exercices (1747–1750, 4 Bände), die zusammen unter dem Titel Principes de la littérature in mehrfacher Überarbeitung bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder aufgelegt wurden,62 sind in Wirklichkeit ein Zeugnis für Bedeutung und Verbreitung neoaristotelischer Poetologie bis zum Ende des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Neben Batteux’ Principes basieren eine Mehrzahl poetologisch-rhetorischer Lehrwerke, wie La Harpes Lycée (1799–1818, in 17 Bänden), Condillacs De l’art d’écrire aus dem Cours d’étude pour l’instruction du prince de Parme (1775, in 16 Bänden) oder Marmontels Éléments de littérature (1787, noch 1822 in 8 Bänden neu aufgelegt), auf den Grundlagen der poetologisch-rhetorischen Tradition und setzen diese bis ins 19. Jahrhundert hinein fort. Zu diesen Werken liegen nur wenige neuere Untersuchungen vor,63 obgleich etwa Mar|| 59 Vgl. Hempfer: Tendenz und Ästhetik (Anm. 7), bes. Kap. 2, und Hempfer/Kablitz: Französische Lyrik (Anm. 6), bes. S. 270–286. 60 Vgl. etwa Herbert Dieckmann: Ästhetische Theorie und Kritik in der Aufklärung. Einige Beispiele für moderne Tendenzen. In: Diderot und die Aufklärung. Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 29–59. 61 Vgl. Jacques Chouillet: L’Esthétique des Lumières. Paris 1974, S. 62. 62 Zur komplexen Publikationsgeschichte der Werke Batteuxʼ vgl. Bollini: Charles Batteux (Anm. 6), Appendix II. 63 Ein eher referierender Überblick über Marmontels Poetologie findet sich in der Dissertation von Michael Cardy: The Literary Doctrines of Jean-François Marmontel. Oxford 1982; zu Marmontels Antikebezug vgl. Youmna Charara: Imitation des Anciens et invention dans les ›Éléments de littérature‹ de Marmontel. In: Lumen XXVI (2007), S. 49–62; zu seiner Epentheorie Daniel Madelénat: Le modèle épique dans les ›Éléments de littérature‹ de Marmontel. In: Frank Greiner/Jean-Claude Ternaux (Hg.): L’Épopée et ses modèles de la Renaissance aux Lumières. Actes du colloque internationale du Centre de Recherche sur la Transmission des
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montels Éléments im Wesentlichen die Zusammenstellung seiner für die Encyclopédie verfassten poetologischen Lemmata darstellen, sich also eine unmittelbare editorische Verbindung von ›Klassizismus‹ und ›Aufklärung‹ ergibt. Dass auch Batteux »in den Konturen der traditionellen Ästhetik der Nachahmung« verbleibt,64 ist richtig, eine solche Feststellung verbleibt jedoch ihrerseits im Kontext der traditionellen Abwertung ›traditioneller‹ Ästhetik und Poetologie des 18. Jahrhunderts. Der von Semsch im Hinblick auf die Enzyklopädisten behauptete »Abstand von der Rhetorik«65 ist von Eggs im Einzelnen widerlegt worden.66 In diesem Zusammenhang bedarf es auch eines Blicks auf die Querelle des Anciens et des Modernes, deren zentraler Text, Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes, von Hans Robert Jauß als »Übergang von der klassischnormativen zur historischen Betrachtung der Künste« charakterisiert wurde.67 Dieser lange Zeit gültigen Deutung wurde neuerdings unter anderem damit widersprochen, dass es auch ganz andere Ursprünge des historischen Denkens gebe.68 Mir scheint umgekehrt in Frage zu stehen, ob es sich wirklich um eine ›Historisierung‹ und nicht vielmehr um die schlichte Umkehrung traditioneller
|| Modèles Littéraires et Esthétiques de l’Université de Reims. Paris 2002, S. 25–34. Bedeutsam ist die kommentierte Neuausgabe der Éléments durch Sophie Le Ménahèze (vgl. oben Anm. 3) mit der Herkunftsangabe der einzelnen Artikel. Zu Batteux existiert eine gute neuere Monographie (Bollino: Charles Batteux [Anm. 6]), außerdem wird er als Erfinder des Mediokren behandelt (Yves Delèque: L’abbé Batteux ou l’invention du médiocre. In: Luc Fraisse [Hg.]: Pour une esthétique de la littérature mineure. Colloque ›Littérature majeure, littérature mineure‹, Strasbourg 16–18 jan. 1997. Paris 2000, S. 51–64), oder ihm werden zu Unrecht gattungstheoretische Innovationen wie die Erfindung der goethezeitlichen Trias zugeschrieben wie von Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968 (vgl. dagegen Hempfer/Kablitz: Französische Lyrik [Anm. 6], S. 273 und S. 283–286). 64 Heinz Thoma: Aufklärung. In: Thoma: Handbuch Europäische Aufklärung (Anm. 13), S. 86–122, hier S. 98, mit Bezug auf Heinz Thoma: Kunst und Kritik. In: Johannes Rohbeck/ Helmut Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhundert. Bd. 2: Frankreich. Basel 2008, S. 755–796. 65 Klaus Semsch: Abstand von der Rhetorik. Strukturen und Funktionen ästhetischer Distanznahme von der ›ars rhetorica‹ bei den französischen Enzyklopädisten. Hamburg 1999. 66 Ekkehard Eggs: La rhétorique chez les Encyclopédistes: réarrangement et réorganisation. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 117:3 (2007), S. 270–289. 67 Hans Robert Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. In: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970, S. 67–106, hier S. 71. 68 Arbogast Schmitt: Querelle des Anciens et des Modernes. In: Manfred Landfester (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 15,2. Stuttgart/Weimar 2002, S. 607–622.
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Hierarchisierungen unter Beibehaltung einer grundsätzlich transhistorischen Normativität handelt. Hierfür könnte sprechen, dass sich ähnliche Überlegungen ja schon in der italienischen Renaissance und insbesondere im RomanzoStreit finden,69 ohne dass die normative Poetologie in irgendeiner Weise aufgehoben wäre, und zwar weder in der italienischen Renaissance noch in der französischen Klassik, und hierfür sprechen die Überlegungen von Marc Fumaroli, die Parallèle des Anciens et des Modernes im Kontext der Enkomiastik auf Ludwig XIV. zu verorten.70 Das heißt, es stellt sich die Frage, ob die Querelle nicht als Überbieten der Anciens durch die Modernes auf der Basis von Normen zu begreifen ist, die im Rahmen gewisser Modifikationen die Normen der Alten sind oder zumindest das Prinzip normativer Verbindlichkeit ästhetischer Verfahren implizieren, weil sonst überhaupt kein Urteil hinsichtlich eines Besser oder Schlechter gefällt werden könnte. Oder anders formuliert: In dem Augenblick, wo die Modernes als den Anciens überlegen ausgewiesen werden, scheinen nicht historische, sondern universelle ästhetische Prinzipien präsupponiert zu werden. Für die Autoren des 18. Jahrhunderts ist im Prinzip die Position der Modernes problematischer, denn wenn bereits die großen Autoren des Siècle de Louis XIV die Antike übertreffen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der eigenen Zeit zu dieser ›Hoch-Zeit‹. Hieraus könnten die teilweise ›gespaltenen‹ Äußerungen zum geschichtsphilosophischen Ort der eigenen Zeit resultieren, für die im Bereich der Philosophie und der Wissenschaften im Allgemeinen ein Fortschritt selbst gegenüber dem 17. Jahrhundert konstatiert wird, während im Bereich der Künste auch von einem »déclin« die Rede ist.71 Nimmt man diese Unterscheidung zwischen epistemischen und ästhetischen Bereichen vor, gelangt man zu einer anderen Einschätzung der Relevanz der Dekadenzkonstatierungen für die insgesamt unbestreitbar progressistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung als Bernier, der mit seinem Hinweis auf die Tradition der parallèle oratoire zwar nicht die »vulgate« der progressistischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung aus den Angeln hebt, wie er bean-
|| 69 Vgl. hierzu August Buck: Die Querelle des Anciens et des Modernes im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. Wiesbaden 1973. 70 Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignées. In: Anne-Marie Lecoq (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes. Paris 2001, S. 7–218. 71 Vgl. Jules Ranscelot: Les manifestations du déclin poétique au début du XVIIIe siècle. In: Revue politique et littéraire 33 (1926), S. 497–521, und Roland Mortier: L’Idée de la décadence littéraire au XVIIIe siècle. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57 (1967), S. 1013– 1029, beide mit zahlreichen Belegen.
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sprucht,72 es aber sehr wohl ermöglicht, die Parallèle des Anciens et des Modernes in eine Tradition rhetorischer Übung einzureihen, die deren Innovationsgrad tangiert, wobei Bernier selbst diesen Zusammenhang nicht herstellt. Beachtet man darüber hinaus, dass Perraults Parallèle in Dialogform verfasst ist, einzelne Aussagen also nicht einfach als solche extrapoliert werden können,73 dann dürfte sich hieraus nicht nur ein neues Verständnis der Querelle des Anciens et des Modernes im 18. Jahrhundert entwickeln lassen, sondern, in Verbindung mit Chantal Grells monumentaler Aufarbeitung der zeitgenössischen Antikerezeption,74 auch ein neues Verständnis für die Hybridisierung von ›neu‹ und ›alt‹ in klassizistischer Aufklärungsliteratur. In dieser Perspektive erscheinen die philosophes dann nicht mehr »somewhat schizophrenic in their perception of themselves and of their function as writers«,75 insofern »[o]n the one hand, their writings often exhibited the style and spirit of the Moderns while, on the other hand, they had a ›fetishistic cult of ancient taste‹«.76 Vielmehr scheint es für einen erheblichen Teil der Aufklärungsliteratur gerade charakteristisch zu sein, dass sie sich klassizistischer Diskursivierungen bedient, und sie tut dies, weil sie letztere als überzeitlich gültig begreift. Ebendies hat Chénier in seiner Inventio-Poetik auf den ›Begriff‹ gebracht: »Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques«.77
|| 72 Vgl. Marc André Bernier: Les Lumières aux prismes de la décadence des lettres et du goût. In: Sabrina Vervacke/Erik Van der Schueren/Thierry Belleguic (Hg.): Les songes de Clio. Fiction et histoire sous l’Ancien Régime. Laval 2006, S. 201–213. Bernier bezieht sich bei seinen Ausführungen vor allem auf das Lemma »Parallèle« der Encyclopédie. 73 Zur spezifischen Interpretationsproblematik von Dialogen vgl. Klaus W. Hempfer: Lektüren von Dialogen. In: K. W. H. (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart 2002, S. 1–38, und Bernd Häsner: Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung. In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poetik des Dialogs. Stuttgart 2004, S. 13–65. 74 Chantal Grell: Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France 1680–1789. Oxford 1995. 75 Elena Russo: Styles of Enlightenment: Taste, Politics and Authorship in Eighteenth-Century France. Baltimore 2007, S. 21, von Edelstein: Enlightenment (Anm. 11), S. 42, zustimmend zitiert: »As Elena Russo acutely observed […]«. 76 Edelstein: Enlightenment (Anm. 11), S. 42. Das Zitat in einfachen Anführungszeichen stammt wiederum aus Russo: Styles (Anm. 75), S. 261. 77 Die hier nur knapp skizzierte Problematik ist Gegenstand eines Teilprojekts im Rahmen der von der DFG bewilligten Forschergruppe zu »Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit«, die in diesem Jahr ihre Arbeit aufgenommen hat.
Hanspeter Marti
Frühaufklärerische Schulrhetorik Das Beispiel des Oratorikprofessors und späteren Theologen Samuel Werenfels (1657‒1740) Der Unterricht im Fach Rhetorik stand an der frühneuzeitlichen Universität Basel, wie erwartet, bis über die Schwelle zum 19. Jahrhundert hinaus in der humanistischen Tradition, unter deren Einfluss die Academia Basiliensis 1460 von Aeneas Piccolomini, dem späteren Papst, gegründet worden war. Mit Stolz vermerkt die Basler Geschichtsschreibung heute noch diese historische Deszendenz und Kontinuität. Sie weist eine Reihe von Publikationen auf, die das Leben und Wirken von Basler Gelehrten, von Universitätsprofessoren und anderen Repräsentanten europaweiter Beziehungen, z. B. von Druckern, in Ehren halten, und blickt mit Bedauern auf die noch vor 1650 beginnende und bis ins 19. Jahrhundert hinein dauernde Zeit eines anscheinenden Niedergangs. Die schematische Wertung ließ die letzten eineinhalb frühneuzeitlichen Jahrhunderte vergessen und führte zur Marginalisierung insbesondere des 18. Jahrhunderts in der Geschichtsschreibung zur einzigen frühneuzeitlichen Schweizer Hochschule, die mit Promotionsprivilegien ausgestattet war. Sieht man von Vertretern der Mathematikerfamilie Bernoulli ab, ist Samuel Werenfels, von 1687 bis 1696 Professor der Oratorik, später Theologieprofessor, einer der wenigen Repräsentanten der Basler Universität des ausgehenden 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dem die Ehre widerfuhr, wiederholt behandelt und schon zu Lebzeiten als über die Schweiz hinaus bekannte Persönlichkeit respektiert zu werden.1 Gewöhnlich zählen ihn die Historiker zusammen mit dem Genfer Jean-
|| 1 Grundlegend in biographischer, philosophischer und theologischer Hinsicht: Camilla Hermanin: Samuel Werenfels: il dibattito sulla libertà di coscienza a Basilea agli inizi del Settecento. Firenze 2003. Ferner: Andreas Urs Sommer: Eine Stadt zwischen Hochorthodoxie und Aufklärung. Basel in frühneuzeitlichen Transformationsprozessen. In: Theologische Zeitschrift 66 (2010), S. 44‒61; spätere Version: ders.: Ideentransfer und Ideentransferverweigerung. Basel zwischen Hochorthodoxie und Aufklärung. In: Heidi Eisenhut/Anett Lütteken/Carsten Zelle (Hg.): Europa in der Schweiz. Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert. Göttingen 2013, S. 58‒76 (Samuel Werenfels und Isaak Iselin als für geistigen Transfer offene Lichtgestalten der Basler Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts); Wolfgang Rother: Gelehrsamkeitskritik in der frühen Neuzeit. Samuel Werenfelsʼ Dissertatio de logomachiis eruditorum und Idée dʼun philosophe. In: Theologische Zeitschrift 59 (2003), S. 137‒159, weitere Literatur hier S. 141, Anm. 16; ders.: Paratus sum sententiam mutare: The Influence of Cartesian Philosophy at
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Alphonse Turrettini (1671‒1737) und dem Neuenburger Jean-Frédéric Ostervald (1663‒1747) zum Dreigestirn der Schweizer Übergangstheologie, das sich sowohl durch Merkmale der reformierten Orthodoxie als auch durch Gemeinsamkeiten mit theologischen Aufklärern ausgezeichnet habe.2 Im Folgenden wird Werenfels sowohl als Oratorikprofessor wie auch als späterer Theologe aus der Perspektive seiner Produktion ausgewählter akademischer Kleinschriften und der bis jetzt von der Forschung weitgehend vernachlässigten Paratexte vorgestellt. Es handelt sich um eines von vielen Kapiteln frühneuzeitlicher Basler Unterrichtsgeschichte und der Historiographie schweizerischer Hochschulen des 17. und 18. Jahrhunderts, gleichzeitig um das rhetorische Werk eines Theologen, der weit über die Grenzen der Alten Eidgenossenschaft hinaus in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und in England beträchtlichen Einfluss ausübte und dessen fast ausschließlich lateinsprachiges Werk durch Übersetzungen in diverse Sprachen bekannt gemacht wurde. Das Interesse, das Werenfels und sein Opus bereits im 18. Jahrhundert und erneut in jüngster Zeit fanden, mag einen Beitrag rechtfertigen, dem es im Übrigen nicht um die Bereicherung des literarischen Kanons geht, auch wenn Werenfels sogar in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung Spuren hinterließ. Diese werden hier noch einmal aufgenommen und mit dem Versuch einer vertieften Kontextualisierung gesichert. Im Vordergrund stehen aber die Schnittstellen von Rhetorik, disputatio und theologischer Propädeutik sowie die akademische Karriere, Samuel Werenfelsʼ sukzessiver Aufstieg vom Professor des Griechischen (1685) und der Oratorik (1687) bis zur Professur für Neues Testament (1711), im Spiegel von Reden, Programmschriften und Dissertationen.3 Mein Beitrag versucht, die interfakultäre Bedeutung des Rhetorikunterrichts an einer Person aufzuzeigen, die auf allen Stufen der von ihr durchlaufenen universitä-
|| Basle. In: History of Universities 22:1 (2007), S. 73‒97; Karin Marti-Weissenbach: Artikel zu Samuel Werenfels (Präses)/Joachim Lydius, Johann Georg Meyer (Respondenten): Dissertatio de meteoris orationis. 28. und 29. [handschriftlich] September 1694. Basel. In: Robert Seidel/Reimund Sdzuj/Hanspeter Marti (Hg.): Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500‒1800 [im Druck]. 2 Vgl. Rudolf Dellsperger: Der Beitrag der »vernünftigen Orthodoxie« zur innerprotestantischen Ökumene. Samuel Werenfels, Jean-Frédéric Ostervald und Jean-Alphonse Turrettini als Unionstheologen. In: R. D.: Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchenund Theologiegeschichte der reformierten Schweiz. Ereignisse, Gestalten, Wirkungen. Bern u. a. 2001, S. 51‒65. 3 Zu den Ernennungsdaten, auf die ich zurückkomme, vgl. Andreas Staehelin: Geschichte der Universität Basel 1632‒1818. Zweiter Teil, Anhang. Basel 1957, S. 548.
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ren Hierarchie auf das gesprochene und geschriebene Wort größtes Gewicht legte. Werenfelsʼ europäische Ausstrahlung ist nicht zuletzt der sprachphilosophischen und -kritischen Dimension sowie den pädagogischen Impulsen geschuldet, die von den zahlreichen Sammelausgaben der hier in sehr beschränkter Auswahl herangezogenen Kleinschriften ausgingen. Werenfels hinterließ kein einziges größeres Werk, verstand seine schriftstellerische Hinterlassenschaft, die beiden Bände seiner Opuscula, aber als in sich geschlossenes Ganzes.4 An ihrem Beispiel kann gezeigt werden, wie bedeutend das akademische Kleinschrifttum für frühneuzeitliche Gelehrte und deren Rezipienten war.
1 Leben und Werk im Überblick Einleitend seien die wichtigsten Lebensstationen des Basler Gelehrten erwähnt5 und sein Werk zusammenfassend aufgrund der 1739 herausgekommenen erweiterten Ausgabe der Opuscula vorgestellt, an der Samuel Werenfels bis kurz vor seinem Tod mitwirkte. Sie enthält die meisten seiner Schriften und kann als Ausgabe letzter Hand gelten.6 Samuel Werenfels wurde am 1. März 1657 als Sohn des Theologieprofessors Peter Werenfels (1627‒1703) in Basel geboren, absolvierte philosophische und
|| 4 Vgl. Samuel Werenfels: Opuscula theologica, philosophica et philologica. Editio altera ab auctore recognita, emendata et aucta. 2 Bde. Lausannae et Genevae: sumptibus MarciMichaelis Bousquet et sociorum 1739 (im Folgenden zitiert: Werenfels: Opuscula I bzw. II). 5 Ausführlicher Lebenslauf bei Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1) und Marti-Weissenbach: Werenfels (Anm. 1); biographischer Kurzabriss: Werner Raupp: Samuel Werenfels. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Bd. 13. Basel 2014, S. 408; Erich Wenneker: Werenfels, Samuel. In: Traugott Bautz (Hg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 13. Herzberg 1998, Sp. 781‒786 (mit Verzeichnis der Werke und der Sekundärliteratur). Die meisten Informationen über Werenfels finden sich nach wie vor in der Trauerrede des Logikprofessors Peter Ryhiner (1692‒1771): Vita venerabilis theologi Samuelis Werenfelsii s. theol. d. et in acad. Basil. professoris, delineata. Basel 12. Mai 1741. In: Tempe Helvetica VI, 1, 2 (1742), S. 38‒81. 6 Die anderen Ausgaben verzeichnet detailliert Marti-Weissenbach: Werenfels (Anm. 1). Sie sind zu Vergleichszwecken, vor allem wegen ihren zum Teil unterschiedlichen Paratexten, vermehrt heranzuziehen. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4), S. XX, versichert, dass die Edition von 1739 alle mit seiner Zustimmung veröffentlichten Werke enthalte und keine Erweiterung erfahre, was zugleich heißt, dass es sich um eine autorisierte Ausgabe gesammelter Werke handelt, was Ryhiners Vorrede in Opuscula II (Anm. 4), S. XIV, bestätigt. Es fehlen zum Beispiel, von einer Ausnahme (Opuscula II, S. 473‒480) abgesehen, die anlässlich von Promotionen gehaltenen Routinereden (vgl. ebd., S. XIII). Aus universitätsgeschichtlicher Sicht, die am akademischen Ritual Interesse bekundet, ist dieser Editionsentscheid zu bedauern.
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theologische Studien an der Universität seiner Heimatstadt, schloss Studienaufenthalte in Zürich, Bern, Lausanne und Genf an und durchlief in Basel eine akademische Karriere, die ihn von zwei philosophischen Professuren bis auf den ersten theologischen Lehrstuhl, zum Ordinariat für Neues Testament, führte. 1707 wurde er Mitglied der Society for Promoting Christian Knowledge in London, 1709 der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1705/06 und 1722/23 war Werenfels Rektor der Basler Universität. Er setzte sich für die Gewissensfreiheit, für die Vereinigung der Protestanten, für die Reduktion der Dogmatik auf die Fundamentalartikel und die Priorität des praktischen Glaubensvollzugs ein. Samuel Werenfels starb am 1. Juni 1740 in Basel. Beide Bände der Werkausgabe von 1739, die hier herangezogen wird, sind in Druck und Ornamentik luxuriös ausgestattet und werden von Samuel Werenfelsʼ Neffen, dem Logikprofessor Peter Ryhiner, in den Vorreden dem Leser angepriesen. Mit einem ausführlich gehaltenen kaiserlichen Druckprivileg und einem solchen der Berner Obrigkeit (18. November 1738) will man sich im ersten Band gegen unredliche Geschäftspraktiken schützen. Es folgen dort an Werenfels gerichtete Huldigungen in epigrammatischer Form sowie ein panegyrisches Gedicht des Genfer Freundes Jean-Alphonse Turrettini. Das Inhaltsverzeichnis listet 29 Nummern auf,7 ein Register informiert ausführlich über interpretierte Bibelstellen. Danach werden die Werenfels-Schriften mit dem Sammeltitel Sylloge dissertationum theologicarum angekündigt, auf den Werenfelsʼ schon früher veröffentlichte Widmungstafel für die erwähnte englische Societas ad propagandum evangelium und die auf den 1. September 1709 datierte Dedikation folgen. Der ohnehin monumentale textliche Vorbau wird durch Werenfelsʼ kurze Vorrede, einige Huldigungsepigramme von Freunden sowie die poetische Antwort des Basler Autors, ebenfalls in epigrammatischer Form, ergänzt. Insgesamt handelt es sich um eine unter der Hauptregie des Gefeierten und gleichzeitig zu dessen Ehre entstandene Festschrift, um ein Prunkstück gelehrt-rhetorischer Enkomiastik, das sich dennoch mit der von Werenfels in den Paratexten bekundeten modestia verträgt. Der Mitherausgeber Ryhiner benennt in seiner Vorrede alle neu in die 1739er Ausgabe aufgenommenen werenfelsschen Schriften, vermittelt einige editionsgeschichtliche Informationen und Hinweise zum ursprünglichen Verwendungszweck der Werke und hebt, teils vom Referat selbstkritischer Einschätzungen Werenfelsʼ unterstützt, Qualität und Nutzen der einzelnen Klein-
|| 7 Die Inhaltsverzeichnisse des ersten und des zweiten Bandes werden ›Index dissertationum‹ genannt; der Begriff ›dissertatio‹ bezeichnet hier, eher ungewöhnlich, akademisches Kleinschrifttum im Allgemeinen, worunter ganz unterschiedliche Textgenera subsummiert sind.
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schriften hervor. Aus leserfreundlich verfassten Thesenschriften, die Anregungen vermitteln, würden Bücher hervorgehen, was indirekt auch für den Disputationsakt und für die von ihm allenfalls initiierte, schriftlich fortgesetzte gelehrte Kommunikation gelte.8 Der Erfolg der Sammelausgaben lag wohl nicht zuletzt in der allgemein verständlichen Sprache und der propädeutisch-didaktischen Absicht begründet, die der Basler Professor verfolgte und welche die Opuscula vor allem für Philosophie- und Theologiestudenten attraktiv machte.9 Wegen des Vollständigkeitsanspruchs kommt der Sammelausgabe von 1739 unterrichtsgeschichtlich große Bedeutung zu, dies allerdings mit der Einschränkung, dass die edierten Thesenschriften, wie in den übrigen Editionen gesammelter werenfelsscher Werke, ohne die Namen der Respondenten und weitere Disputationsdaten (Abhaltezeit) erscheinen, so dass gegebenenfalls unbedingt auf die erste Ausgabe, die als Einladungsschriften verfassten einzelnen Disputationsdrucke, zurückgegriffen werden muss. Von zwei Ausnahmen abgesehen,10 finden sich in den Opuscula zudem nur Thesenschriften, für die Werenfels als Autor verantwortlich zeichnet, also bei weitem nicht alle, die unter seinem Vorsitz verteidigt wurden.11 Andererseits ist zu einer bereits früher in den Opuscula erschienenen Dissertation in der Ausgabe von 1739 ein Appendix enthalten, in der Werenfels zum Vorwurf Stellung nimmt, er habe in der
|| 8 Vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4), Ryhiners Vorrede, S. XI: »Possem compluribus exemplis ostendere, nisi id in vulgus jam satis esset notum, multas Virorum doctorum lucubrationes his natalibus ortum debere; & ex Thesibus in Academiis publicè ad disputandum propositis, saepè libros esse factos, quos legisse ne fastidiosum quidem lectorem unquam poenituerit, quorumque vel decies repetita lectio semper placere poterit.« 9 Vgl. Werenfels: Opuscula II (Anm. 4), Ryhiners Vorrede, S. XIIIf.: »Habes igitur jam omnia Venerandi WERENFELSII Opera latino sermone exarata, quorum pleraque jam olim non tam Orbi Erudito, quam in Studiosorum gratiam scripta sunt, & quae nunc Auctor publica luce donari non prohibuit« (Zitat im Original kursiv). 10 Vgl. Samuel Werenfels: Dissertatio de adoratione hostiae. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 205‒222 (Überleitung, S. 204, wo es heißt, dass die Schrift von einem jungen Autor für einen Konvertiten verfasst worden sei); ders.: Dissertatio de Naamane Syro ab hypocrisi vindicato. In: ebd., S. 223‒237 (Überleitung, S. 222, die Dissertation habe ein Student für einen Kommilitonen verfasst). Warum Werenfels die beiden Studentendissertationen in die Sammlung aufnahm, ist nicht klar. Möglicherweise erschienen sie ihm in der Auseinandersetzung mit der katholischen Dogmatik wichtig, andererseits erlaubte ihm die studentische Autorschaft, seinem Image eines irenischen Theologen zu entsprechen, das sich freilich vor allem in seinem Verhältnis zu den Lutheranern bewährte. Als Einzeldrucke scheinen sie nicht vorzuliegen, was ebenfalls ein Grund für die Aufnahme in die Sammelausgabe gewesen sein könnte. 11 Zu den ›auctor-respondens‹-Vermerken auf den Titelblättern siehe das Beispiel in Anm. 116.
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eben erwähnten Thesenschrift der Vernunft zu viel zugetraut.12 Die Entgegnung beweist, dass Schuldissertationen nicht stets, wie oft angenommen, geschlossene Argumentationseinheiten waren, sondern durchaus, auch vonseiten ihrer Verfasser, Plattformen für offene, weitergehende Diskurse darstellen konnten. So schob Werenfels der 1699 verteidigten Dissertation, ob die biblischen Wunder sichere Zeichen der Glaubenswahrheit seien, in den Opuscula eine Lösung nach, dies mit dem Hinweis auf die übliche Defizienz mündlicher Stellungnahmen anlässlich des actus disputationis. Selbst in der ergänzenden schriftlichen Klärung der Sachverhalte in der Nachfolgedisputation erhebt der Basler Theologe keinen Anspruch auf Endgültigkeit seiner Aussagen.13 Die 1710 unter dem Vorsitz von Werenfels verteidigte Dissertatio adversus carnalem securitatem erschien als Einzeldruck in einer weiteren Auflage, da in ihr die Frage der Wiedergeburt behandelt wurde und sie das Interesse der Hallenser Pietisten ge-
|| 12 Vgl. Samuel Werenfels: Dissertatio in verba domini: hoc est corpus meum etc. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 164‒199, Appendix, ebd., S. 200‒204, die auch Korollarien aus einer früheren Thesenschrift (ebd., S. 200f.) enthält. Die Dissertation zur Abendmahlsfrage wurde im April 1699 von den Respondenten Jakob Meyer, Johann Georg Meyer, Friedrich Merian und Friedrich Jakob Preuel verteidigt. 13 Vgl. Samuel Werenfels: Solutio quaestionis num miracula certa sint veritatis signa. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 93‒102, hier S. 93: »Meretur vero quaestio, qua demonstratio Religionis Christianae magna ex parte nititur, solutionem aliquanto accuratiorem, quam fere solent esse, quae nobis ex tempore in Scholasticis istis conflictibus incidunt. Videant, qui de his rebus judicare valent, num sequentia ipsis possint satisfacere.« Die theologische Dissertation mit demselben Titel wurde am 13. Dezember 1700 von Johann Kaspar Serin unter dem Vorsitz Samuel Werenfelsʼ verteidigt; im Einzeldruck finden sich Korollarien (siehe Bl. B3v), die in der Sammeledition fehlen. In der Einleitung bezieht sich Werenfels darauf, dass im vergangenen Jahr »De miraculorum, quae in S. Scriptura narrantur« disputiert worden sei. In diesem Zusammenhang verdient die entsprechende Disputationenreihe Beachtung, darunter insbesondere die sowohl in Opuscula I (Anm. 4), S. 70‒92, als auch als Einzeldruck erschienene Dissertation Samuel Werenfels (Präses)/Hieronymus Burckhardt, Johann Jakob Freyburger (Respondenten): Disputatio theologica de divina s. scripturae origine sexta, demonstrans veritatem miraculorum in ea narratorum. 19. und 22. Dezember 1699. Basel, Bl. Q4v, cap. IX, § 8, zur Bedeutung der Wunder für zeitgenössische Glaubenskonversionen, obwohl sie für die Heidenbekehrung nicht mehr so wichtig seien: Nun übernähmen in der Missionsarbeit Gelehrsamkeit und Oratorie die frühere Aufgabe der Wunder (»at hodiernis eloquentia & eruditio potest esse loco miraculorum«). Auch werden z. B. Gründe für die persuasive Entwertung einer zu erweiternden Zahl von Wundern angeführt, u. a. der Konsens der Juden, Christen und Mohammedaner im Glauben an die Wunder Christi, der weitere Wunderbeispiele, im Unterschied zur früheren Zeit, unnötig mache. Den Wunderdiskurs an Schweizer Hohen Schulen aufzuarbeiten bleibt für alle Perioden der Frühen Neuzeit ein Forschungsdesiderat, wichtig ist er u. a. als Indikator der Ausbreitung und Festigung rationaler Kritik.
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weckt hatte.14 Auch wurde sie vom Göttinger Litterärhistoriker und Theologen Christoph August Heumann (1681‒1764) in die deutsche Sprache übersetzt.15 Wichtige Bestandteile der Kleinschriftenedition bilden die zum Teil ›Dissertatio‹ genannten Reden anlässlich des Antritts einer theologischen Professur oder der Übernahme des Rektorats der Universität Basel,16 ferner nicht für Disputationen bestimmte kleine Abhandlungen, vornehmlich zur Union der Protestanten,17 sowie Übersetzungen aus der deutschen in die lateinische Sprache.18 Großer unterrichtsgeschichtlicher Quellenwert kommt professoralen, nur fragmentarisch überlieferten Vorlesungsnotizen zu,19 welche, wie die umfassender publizierten praelectiones, Vorlesungsankündigungen und -nachschriften ergänzen können. Werenfels ergriff an verschiedenen Stellen der 1739er Ausgabe die Gelegenheit, die edierten Textsequenzen mit Überleitungen zu versehen, insbesondere entstehungsgeschichtlichen Hinweisen, und die Einheit seines Werks zu betonen. Dieses Bestreben unterstützte Ryhiner mit seinen Erläute|| 14 Vgl. Samuel Werenfels: Dissertatio adversus carnalem securitatem. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 387‒400, hier S. 398 Korollarien zur Wiedergeburt. Hallenser Druck von 1715 mit Abraham Schaefer als Respondenten und dem Abhaltedatum 3. April 1710 auf dem Titelblatt, hier auch der Vermerk »Ob praestantiam suam recusa Halae […] 1715«. Zusammen mit den Cogitationes de variis theologiae capitibus Jean-Alphonse Turrettinis erschien diese Dissertation 1716, mit den Druckorten Basel und Genf, in einer weiteren Auflage. In der Universitätsbibliothek Basel findet sich zudem ein Exemplar, dessen Titelblatt außer Schaefer auch Lukas Hoffmann als Respondenten ausweist, der die Dissertation gemäß dem Matrikelkommentar am 4. April 1710 verteidigte (Hans Georg Wackernagel/Max Triet/Pius Marrer [Hg.]: Die Matrikel der Universität Basel. Bd. 4: 1666‒1725/26. Basel 1975, S. 340, Nr. 1983). 15 Vgl. die 1736 und 1759 in Göttingen erschienenen Übersetzungen Heumanns. – Weitere Übersetzungen wurden bereits 1730 in Esslingen und 1732 in Schwabach gedruckt. 16 Vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4): Antritt der Professur für Kontroverstheologie: Dissertatio de controversiis theologicis rite tractandis (S. 323‒342); Inauguralrede zum Antritt der Professur für Altes Testament: Dissertatio de scopo, quem s. scripturae interpres sibi proponere debet (S. 343‒355); Antritt der Professur für Neues Testament: Dissertatio de scopo doctoris in academia s. literas docentis (S. 357‒374); Rektoratsrede: Oratio de recto theologi zelo (S. 375‒ 386). 17 Vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4): Cogitationes generales de ratione uniendi ecclesias protestantes, quae vulgo Lutheranarum & Reformatarum nominibus distingui solent. Ex Germanico in Latinum sermonem conversae (S. 413‒428); Dissertatio de eodem argumento, inter scripta auctoris henotica reperta, superioribus cogitationibus adjicienda (S. 429‒462); Theses de gratia convertente, in quibus protestantes convenire possent (S. 481‒483). 18 Vgl. Werenfels: Cogitationes (Anm. 17); Werenfels: Opuscula I (Anm. 4): Quaestio, de ministris ad sacrum hoc munus admittendis, ex Germanico in Latinum conversa (S. 463‒472); Scrupulus de praedestinatione et gratia, ex Germanico in Latinum conversus (S. 475‒481). 19 Vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4): Meditatio in psalmum III. paraphrasis psalmi (S. 401‒ 410). Ganze Vorlesungszyklen sind von Werenfels nicht überliefert.
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rungen in der Vorrede20 und bezeugen auch die ausführlichen, als loci communes gedachten Registereinträge.21 Ähnlich wie der erste ist der zweite Band der Opuscula gestaltet, dessen Beiträge zum Teil aber ein anderes Themenspektrum behandeln, das von der Philosophie (Physik, Ethik) über die im fakultären Grenzbereich befindliche Physikotheologie und die Atheismuskritik bis zu theologischen Nachzüglern reicht, die im ersten Band aus verschiedenen Gründen keinen Platz fanden. Den zweiten Band leitet die auf den 1. März 1739 datierte und ähnlich wie die erste aufgebaute Vorrede Ryhiners ein. Ihr folgen das Inhaltsverzeichnis, eine Leseranrede des Basler Theologieprofessors und Mitstifters des Frey-Grynaeischen Instituts, Johann Ludwig Frey (1682‒1759),22 ein Brief von Samuel Werenfels vom 29. Oktober 1694 an Theodor Gernler (1670‒1723),23 damals deutscher Pfarrer in Genf, später Pfarrer in Basel, und das Titelblatt des ersten, 22 Stücke umfassenden Blocks Kleinschriften,24 ferner Werenfels’ bekannte Widmung an Gilbert Burnet, eine Leserinformation zu den sieben Logomachie-Dissertationen und über deren Wirkungsradius. Im ersten Teil des Bandes befinden sich Abhandlungen, welche die Philosophie im engern Sinn betreffen, also Logik, Naturphilosophie, insbesondere die Kosmologie, die Naturtheologie, seltener die Ethik, mindes-
|| 20 Wiederholungen sollen möglichst nicht als solche erscheinen, vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4), Ryhiners Vorrede, S. XIII. Andererseits wird der Fragmentcharakter einiger Texte nicht verschwiegen (ebd., zur Meditatio in psalmum III, S. XIV). 21 Vgl. Werenfels: Opuscula I (Anm. 4), Ryhiners Vorrede, S. XVIII: »[…] invenies quoque Indices prioribus [editionibus] multò locupletiores, qui Tibi locorum instar communium inservire poterunt«. 22 Zu Johann Ludwig Frey und zum Frey-Grynaeischen Institut grundlegend: Camilla Hermanin: »Sine scandalo christianorum«. Proposte di convivenza ebraico-cristiana nel XVIII secolo: Le riflessioni erudite di Johann Jacob Frey. Firenze 2005. Ferner: Andreas Urs Sommer (Hg.): Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des FreyGrynaeischen Instituts in Basel 1747‒1997. Basel 1997; Staehelin: Geschichte, Zweiter Teil (Anm. 3), S. 546. Zum Frey-Grynaeischen Institut siehe auch Andreas Staehelin: Geschichte der Universität Basel 1632‒1818. Erster Teil. Basel 1957, S. 366‒368. 23 Vgl. Theodor Gernler, Lebensabriss. In: Wackernagel/Triet/Marrer (Hg.): Matrikel der Universität Basel (Anm. 14), S. 154, Nr. 920. In seinem Schreiben an Gernler (Opuscula II [Anm. 4], S. XXI‒XXIII), äußerte Werenfels größte Bedenken, die für die Studenten bestimmten Kleinschriften, insbesondere die Dissertationen, herauszugeben, da sie die Anforderungen nicht erfüllten, die an gelehrte Publikationen gestellt würden (ebd., S. XXII). Allerdings erhob er, wie aus einer Frage mit Seitenhieb gegen die schlechte Qualität von Genfer Drucken hervorgeht, keine bescheidenen Ansprüche: »Satisne nitidus sum proditurus, an, quod nonnunquam Geneva fieri solet, quotidiano ac negligentiore habitu?« (ebd., S. XXIV). 24 Vgl. Werenfels: Opuscula II (Anm. 4), S. 15f., die beiden Textblöcke: Miscellaneorum pars prima (I‒XXII), Miscellaneorum pars altera (XXIII‒XXXI).
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tens in einem Fall gar Kurzthesen zu sämtlichen Fächern der untersten Fakultät, und zwei Kleinschriften, die sich mit dem Nutzen von theoretischer und praktischer Theologie beschäftigen. Die Grenze von der Metaphysik zur eigentlichen Theologie ist mit den am Schluss dieser Sektion platzierten Abhandlungen über den Sündenfall, die Prädestinationslehre und die Ohrenbeichte überschritten. Der zweite Teil des Bandes umfasst, eingeleitet von einer Vorrede Werenfelsʼ, Schriften zur Theorie der Rhetorik und Zeugnisse von deren Anwendung sowie zur Hermeneutik, darunter eine bislang wenig beachtete sprachphilosophische Kleinschrift,25 die rhetorische, auch von Johann Christoph Gottsched geschätzte Thesenschrift De meteoris orationis,26 die Rede über das Schultheater, auf die ich zurückkomme, sowie eine Sammlung von Epigrammen samt einer in früheren Ausgaben fehlenden Einleitung und eine Schlussbemerkung von Werenfels. Die einst in sieben Disputationen in der Zeit von 1688 bis 1692 verteidigten, aber als thematische Einheit gedachten Thesenschriften zu Streitigkeiten um bloße Worte bilden den Auftakt; sie werden auch in dieser Sammelausgabe unter einer einzigen Nummer (I) und dem im Singular stehenden Titel Dissertatio de logomachiis vereinigt. Eine kosmologische Abhandlung, De finibus mundi, zwei weitere, metaphysische, über die Unsterblichkeit der Seele und über die göttliche Mitwirkung (concursus dei), sind in Dialogform abgefasst.27 In Kurzthesen aus allen Bereichen der Philosophie, inklusive der Rhetorik, wird der Erwerb psychologischer Kenntnisse propagiert, aber auch eine Parallele zwi-
|| 25 Vgl. Werenfels: Opuscula II (Anm. 4), Dissertatio de loquela, S. 365‒390. Diese Publikation, die vor allem in der Abhängigkeit von Géraud de Cordemoys Discours physique de la parole (Paris 1668) steht und über deren genaue Entstehungsumstände Unklarheit herrscht, verdiente eine Einzelstudie. Unter den gedruckten Thesenschriften Werenfelsʼ befindet sie sich jedenfalls nicht, ja, es ist unwahrscheinlich, dass es sich überhaupt um eine Disputationsschrift handelt. Cordemoy sah in der Sprache »un moyen de connoître les autres« (Préface, unpag.). Hier wie öfter zeigt sich Werenfelsʼ Abhängigkeit von französischsprachigen Autoren und seine Verbundenheit mit dem Französischen als Medium der Kommunikation. 26 Vgl. Marti-Weissenbach: Werenfels (Anm. 1). Bereits Christian Thomasius empfahl Werenfelsʼ De meteoris in: Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrheit […] vorbereiten will […] zu beobachten hat. Halle 1713, S. 166f. (Repr.: Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 20. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Friedrich Vollhardt. Hildesheim/Zürich/New York 2006). 27 Vgl. Werenfels: Opuscula II (Anm. 4): De finibus mundi dialogus, S. 130‒147; Dialogus de animae immortalitate, S. 180‒182; Dialogus in quo explicantur sententiae scholasticorum de concursu dei cum creaturis, S. 302‒307.
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schen Descartes und dem Apostel Paulus gezogen28 und in einem anderen Text die bereitwillige Aufnahme der cartesianischen Philosophie durch den Zürcher Theologen Johann Heinrich Schweizer (1646‒1705) einer Kritik unterzogen.29 Hervorzuheben sind auch hier die Vorlesungspräparationen, darunter eine Skizze über den cartesianischen Zweifel an der Existenz Gottes, dem Werenfels, im Sinn einer Metaphysikkritik, mit naturtheologischen Argumenten und mit Zeugnissen über das Walten der göttlichen Vorsehung begegnet, wobei er auch die aristotelische Annahme von der Ewigkeit der Welt zurückweist.30 Die Lectiones hermeneuticae, die den zweiten Teil des Bandes einleiten, setzen die Vorurteilskritik als Mittel der Bibelauslegung ein; seine Rede über die wahre Freiheit der Studenten hielt Werenfels anlässlich der Übernahme seines ersten Rektorats (1705/06), die weiteren oratorischen Texte beschäftigen sich mit einer Standardfrage der frühneuzeitlichen Literatur, dem gerechtfertigten und dem unberechtigten Erwerb von Ruhm: Ausnahmsweise ließ Werenfels auch eine Einladungsschrift veröffentlichen, nicht zufällig genau zu diesem Thema, einschließlich der von ihm gehaltenen kurzen Rede.31 Ein Epigramm, das den Schluss einer
|| 28 Vgl. Werenfels: Opuscula II (Anm. 4), S. 188‒194, Kurzthesen aus der Logik (S. 189: Paulus und Descartes, Kritik am cartesianischen Zweifel), Rhetorik, Grammatik und Philologie, Moralphilosophie, Metaphysik und Pneumatik, Physik, Mathematik. Einzeldruck: Samuel Werenfels (Präses)/Lukas Wiertz (Respondent): Thesium ex variis philosophiae partibus selectarum farrago. 18. Dezember 1683. Basel. 29 Vgl. Samuel Werenfels: Vindiciae judicii de argumento Cartesii, contra epistolam apologeticam pro hoc argumento viri cl. J. H. S. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 214‒236. Dazu auch der Gedankenaustausch des Zürcher Gelehrten Gotthard Heidegger (1666‒1711) mit Samuel Werenfels, abgedruckt in der Mantissa epistolica ad controversiam de argumento Cartesii pro existentia dei. In: Museum Helveticum I,4,5 (1747), S. 627‒640. Zu Johann Heinrich Schweizer vgl. Hans Schneider: Ein Dokument zur Frühgeschichte des Zürcher Pietismus. Johann Heinrich Schweizers Ursachen und Gründe (1698). In: J. Jürgen Seidel (Hg.): Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Zürich 2011, S. 123‒149; Hanspeter Marti: Aristoteles und Descartes. Orthodoxie und Vorurteilskritik am Beispiel des Physiklehrbuchs des Zürcher Professors Johann Heinrich Schweizer (1646‒1705). In: H. M./Karin Marti-Weissenbach (Hg.): Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2012, S. 147‒163. 30 Vgl. Samuel Werenfels: Praelectiones de existentia dei. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 252‒291. 31 Werenfels: Opuscula II (Anm. 4), Lectiones hermeneuticae, sive de arte interpretandi scripturam sacram, S. 329‒364; Oratio de vera studiosorum academicorum libertate, S. 464‒472; Programma invitatorium ad promotionem publicam liberalium artium magistrorum et baccalaureorum, habitam anno MDCLXXXVIII, S. 473‒480. Auch zwei Epigramme (Samuel Werenfels: Fasciculus epigrammatum. In: S. W.: Opuscula II [Anm. 4], S. 481‒579, hier S. 516, LXXXVII und LXXXVIII), beschäftigen sich mit dem eitlen Ruhm. Epigramme sind für Weren-
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unter Werenfelsʼ Präsidium verteidigten Dissertation bildete und dort eine paratextähnliche Funktion hatte, erscheint in der Werkausgabe von 1739 auch noch als separater Text in der Epigrammsammlung, in leicht modifiziertem Wortlaut, ausgewiesen jedoch als »Clausula dissertationis de stultitia securitatis«.32 Diese Verdopplung repräsentiert eine weitere Variante der Umschichtung und Modifikation von Textbausteinen, wie sie durchweg in der erweiterten Werenfels-Edition von 1739 begegnen. Im Vordergrund der Herausgebertätigkeit steht in beiden Bänden der Sammeledition das Bemühen, die Geschlossenheit des philosophischen und theologischen Werks des Basler Theologen zu demonstrieren, nicht aber die Vermittlung eines theologischen und/oder philosophischen Gedankensystems. Die Opuscula konnten und können portionenweise gelesen werden, ohne dass die kleinteilige Rezeption dem Verständnis der erörterten zentralen Gedanken nachteilig wäre. Das durchweg rhetorisch konzipierte, meist auf konkrete Anlässe bezogene Schrifttum, das der Mündlichkeit und der Anwesenheitspflicht Tribut zollte, mag ebenfalls ein Grund für den erfolgreichen Absatz der werenfelsschen Schriften gewesen sein.
2 Samuel Werenfels ‒ Repräsentant akademischer Redekultur Unter dem Begriff ›Schulrhetorik‹ werden nach lexikalischer Auskunft sowohl sämtliche aus dem Rhetorikunterricht hoher Schulen hervorgegangenen mündlichen und schriftlich überlieferten Zeugnisse erfasst als auch ein Lehrbuch-
|| fels u. a. durch das iudicium erprobte Merkverse mit didaktischem Zweck, die Wirkungsabsicht ist das akademische docere. Vgl. Hermanin: Werenfels (Anm. 1), S. 333f., den edierten Brief Werenfelsʼ an Turrettini, aus dem hervorgeht, dass die Epigramme Produkte der (poetischen) Denk- und Meinungsfreiheit seien: »Existimavi me hac poetarum libertate uti posse ut multa libere dicere, quae ab alio praeterquam a poeta dicta non ferantur.« Zum deutschsprachigen Epigramm siehe Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979. Werenfels versuchte sich in verschiedenen Untergattungen des Epigramms, gerne wandte er sich dem sogenannten gnomischen Typus zu, der sich ernsthafter, unverbrämter, direkter Didaxe widmete (Vgl. ebd., S. 80). Mit dem weiten Spektrum von Werenfelsʼ Epigrammdichtung und deren gattungstheoretischen Implikationen beschäftige ich mich an anderer Stelle. 32 Vgl. Werenfels: Fasciculus epigrammatum (Anm. 31), S. 509, LVII »Ad profanum«; gemeint ist Samuel Werenfels: Dissertatio adversus carnalem securitatem. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 387‒400, hier S. 397.
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typus, der für die Unterrichtspraxis und/oder den Selbstunterricht bestimmte Hinweise zum Verfassen rhetorisch konzipierter Texte und/oder für das Halten von Reden im weitesten Sinn vermittelte.33 Mit Vorliebe beschäftigte sich die Rhetorikforschung mit der rhetorischen Theorie, den sogenannten Systemrhetoriken, und ihren historischen Transformationen, im deutschsprachigen Einzugsgebiet vor allem mit der im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts von Christian Weise und seinen Anhängern propagierten Abwendung von der hauptsächlich für den Schulgebrauch erlernten Rhetorik.34 Der praktische Zweig rhetorischer Produktion, so auch die bibliographische Erschließung und die Analyse der in großer Zahl schriftlich überlieferten Schulreden, fand deutlich weniger Beachtung.35 Unter dem literarischen Gattungsbegriff ›Schulrede‹ werden zum Teil recht heterogene Textsorten versammelt, oratorische Zeugnisse von Personen auf den verschiedensten Stufen der gelehrten Hierarchie, von Studienanfängern bis zum Theologieprofessor für Neues Testament, Verlautbarungen aller Art zur Redetheorie und -praxis, die für eine Vielzahl von Anlässen und unterschiedlichste, natürlich auch außerhalb der Schulen stehende Adressaten bestimmt waren. Erdmann Uhse (1677‒1730), Rektor des Merseburger Domgymnasiums, zählt in seinem in mehreren Auflagen erschienenen Lehrbuch Wohl-informirter Redner folgende schulrhetorische Untergattungen auf: || 33 Vgl. Dietmar Till: Schulrhetorik. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8: Rhet‒St. Tübingen 2007, Sp. 672‒679, wo befürchtet wird, dass die Rhetorikgeschichte sich einseitig mit der langweiligen, weil eintönigen Schulrhetorik befasse (ebd., Sp. 675), eine Einschätzung, die, so generell formuliert, nicht geteilt werden kann, wie hier in meinem Beitrag versuchsweise gezeigt wird. Dieser geht von einer eingeschränkten Begriffsbestimmung von Schulrhetorik aus, die in engem Zusammenhang mit dem Rhetorikunterricht steht, jedoch auch die Anwendung einiger rhetorischer praecepta in theologischen Kleinschriften berücksichtigt. 34 Grundlegend Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. Ferner: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. 35 In der Germanistik standen Reden der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses; vgl. Wilhelm Kühlmann: Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. Argumentationsmuster und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. In: Daphnis 9 (1980), S. 33‒63; ders.: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Rektoratsrede Matthias Berneggers, Reden Kaspar Dornaus, aber auch Johann Balthasar Schupps); Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577‒1631). Tübingen 1994. Zum 18. Jahrhundert und zum rhetorisch-didaktischen Umfeld vgl. Walther Ludwig: De linguae Latinae in Germania fatis. Jacob Burckhard und der neuzeitliche Gebrauch der lateinischen Sprache. In: W. L.: Supplementa Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 2003‒2008. Hg. von Astrid Steiner-Weber. Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 17‒50.
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declamationes, orationes solennes, panegyrici, allocutiones, prolusiones, praelectiones, programmata.36 Diese Liste könnte erweitert werden, vermittelt aber einen ersten, wenn auch vagen Eindruck von der Breite des erfassten gattungstheoretischen Spektrums. Doch zählt das im Umkreis der Hohen Schulen entstandene und hauptsächlich für diese Einflusssphäre bestimmte lateinischsprachige Schrifttum bislang offenbar zu den unattraktivsten Gegenständen der nun seit Jahrzehnten unter den Kulturwissenschaften fest etablierten Rhetorikforschung. Aus unterrichtsgeschichtlicher, sprachpädagogischer, disziplinen- und wirkungsgeschichtlicher Warte verdienen die angesprochenen Quellenbestände dieselbe historiographische Aufwertung, wie sie unter dem akademischen Kleinschrifttum die Vorlesungsverzeichnisse, die Dissertationen und allmählich die Programmschriften erfahren. In den Schulreden schlägt sich, mehr als in den Lehrbüchern, rhetorische Praxis nieder, auch wenn die Redetexte das Ambiente des Anlasses, dem sie ihr Entstehen verdanken, nur bruchstückhaft und meist nur aus der Perspektive des Redners einzufangen vermögen. Die Universität Basel eignet sich aus verschiedenen Gründen als Untersuchungsfeld frühneuzeitlicher Schulrhetorik. In gut humanistischer Tradition, aber als singuläre Erscheinung bestanden dort nebeneinander ein Lehrstuhl für Rhetorik und einer für Oratorik, über deren Daseinsrecht und Zuständigkeit bereits im 17. Jahrhundert eifrig disputiert wurde, ohne dass man in dieser Kompetenzfrage zu einer Einigung gelangt wäre. Vorschläge, die beiden Professuren zusammenzulegen, fanden kein Gehör, und so bestanden sie bis zum Ende der alten Universität im Jahre 1817.37 Entsprechend dieser institutionellen Besonderheit der Alma Mater Basiliensis besitzen wir Kenntnis von einer Fülle akademischer Gelegenheitsreden, von denen allerdings der weit größte Teil nur
|| 36 Zitat bei Björn Hambsch: Schulrede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 33), Sp. 661‒672, hier Sp. 666, Zitat nach der Ausgabe Leipzig 1709 (hier S. 343). Eine ähnliche Aufzählung findet sich beim Hallenser Pietisten Hieronymus Freyer: declamatio, adlocutio, oratio solennis, programma, praelectio, disputatio, prolusio (zitiert bei Hambsch, ebd.). Bemerkenswerterweise befindet sich die disputatio unter den einschlägigen Textgenera. Eine ausführliche Darstellung zum Begriff und zu den Gattungen der Schulrhetorik ist ein Forschungsdesiderat. 37 Staehelin: Geschichte, Erster Teil (Anm. 22), S. 141f., S. 194‒197 (Rhetorik- und Oratorikprofessoren). Wolfgang Rother: Die Philosophie an der Universität Basel im 17. Jahrhundert. Quellen und Analyse. Diss. Zürich 1980 (Typoskript); hier S. 485‒505 zu den rhetorischen und oratorischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts und zur Abgrenzung der beiden Teildisziplinen; ebenfalls ausführlich bereits zu den Logomachie-Dissertationen, S. 496‒505 (Kritik an der Disputation, dem »logomachein« und »meteorologein«).
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dem Titel nach bekannt, also nicht schriftlich überliefert ist. Es sind u. a. einerseits Reden, die von den Studenten anlässlich der Verleihung des Bakkalaureats (prima laurea) und des Magistergrads gehalten wurden38 oder zu denen die Anwärter für eine Professur verpflichtet waren, andererseits Antrittsreden der Professoren bei der Übernahme eines Lehrstuhls, also nach der Ernennung, oder einer weiteren Verpflichtung innerhalb einer Fakultät oder der Universität (Dekanat, Rektorat). Beim Erwerb des Bakkalaureats wurden hauptsächlich Themen aus der Rhetorik, der Poetik und der Geschichte gewählt; die eben gekürten Magister beschäftigten sich mit Physik, Ethik und Politik, seltener mit Metaphysik. Die Inauguralreden dagegen ermöglichten es,39 das Fach, das der frischgebackene Professor lehren sollte, überschwänglich zu loben, während die erworbene Dekanats- und die Rektoratswürde Gelegenheit bot, den Studenten ins Gewissen zu reden, die Universität und ihre Leistungen zu rühmen sowie aus ›berufenem‹ Mund an die politischen und kirchlichen Vorgesetzten anerkennende Worte zu richten. Auch wenn die Reden, außer dort, wo sie Missstände beklagen und wo Ermahnungen ausgesprochen werden, den Typus der Lobrede variieren, also Idealbilder von Personen und Sachverhalten entwerfen, sind sie als historische Zeugnisse ernst zu nehmen, zumindest von einer auch den damaligen Normen zugewandten Geschichtsschreibung. Dies geschieht im Folgenden mit Beispielen aus der Lehrtätigkeit von Samuel Werenfels, der, nachdem er als Theologe und Philosoph bereits mehrfach gewürdigt wurde, hier nun aus dem die Fakultäten übergreifenden rhetorikgeschichtlichen Blickwinkel betrachtet werden soll.
|| 38 Vgl. Rother: Die Philosophie (Anm. 37): Themen der Laureatenreden, hier S. 788‒838, Themen der Magisterreden S. 839‒896. Eine Ausdehnung dieser Titellisten auf das 18. Jahrhundert sowie die Erschließung aller orationes in einem Sachregister wäre, vor allem aus unterrichtsgeschichtlichen Gründen, angebracht. 39 Zum Genus der Antrittsrede siehe Florian Neumann: Inauguralrede. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4: Hu‒K. Tübingen 1998, Sp. 316‒322. Einzelinterpretation bei Björn Spiekermann: Dienstanweisung für Kontroverstheologen. Georg Sohns Heidelberger Antrittsvorlesung (1584) im historischen Kontext. In: Ralf Bogner u. a. (Hg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Berlin/New York 2012, S. 121‒134.
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2.1 Antrittsrede zur Griechischprofessur über den Stil der Heiligen Schrift Die erste Berufung (1685) führte den jungen Basler Gelehrten auf den Lehrstuhl für das Fach Griechisch, das er nur während sehr kurzer Zeit vertrat, in den Jahren 1685 und 1686, in denen er zudem meist auf Reisen war. Die biographische Episode fand in die Geschichte der Alma Mater Basiliensis, außer in der Angabe der Dauer von Werenfelsʼ Professur,40 keinen Eingang. Auch Peter Ryhiner geht in der Lebensgeschichte seines Onkels über diese Berufung schnell hinweg.41 Wie sein Vorgänger Johann Rudolf III. Wettstein (1647‒1711) und sein Nachfolger Johannes Wettstein (1660‒1731) zeigte Werenfels Vorlesungen über den Korintherbrief und über Homer an.42 Dank der Opuscula blieb Werenfelsʼ erste Inauguralrede vom 7. September 1685 unter dem Titel Dissertatio de stilo scriptorum novi testamenti in gedruckter Form erhalten,43 wurde allerdings aus rhetorik- und stilgeschichtlicher Sicht noch nie näher betrachtet. Werenfels legt im ersten Teil seiner Ausführungen dar, dass die Heilige Schrift wegen der in ihr enthaltenen sprachlichen Fremdkörper, vor allem der Hebraismen, der Norm sprachlicher Reinheit (puritas) nicht entspreche, im zweiten, dass in ihr auch die Regeln der Rhetoriktheorie keine Anwendung fänden. Werenfelsʼ Ausführungen zur Bibel nehmen die in der Rhetorikgeschichtsschreibung in Opposition zur Schulrhetorik gebrachte Lehre vom Erhabenen (sublimitas) auf. Letztere steht ihrerseits in einem Gegensatzverhältnis zu einer von paganen Inhalten bestimmten Strömung innerhalb der humanistischen Rhetorik, und ihr Auftreten bezeugt, dass die Kritik an den praecepta der paganen Redelehre auch im
|| 40 Vgl. Staehelin: Geschichte, Erster Teil (Anm. 22), S. 197 (mit knapper Angabe der Vorlesungsthemen). 41 Vgl. Ryhiner: Vita (Anm. 5), S. 52 (ohne Nennung des Titels der Inauguralrede). 42 Vgl. Staehelin: Geschichte, Erster Teil (Anm. 22), S. 197 (Lehrveranstaltungen); ders.: Geschichte, Zweiter Teil (Anm. 3), S. 549 (Johann Rudolf III Wettstein), S. 555 (Johannes Wettstein). 43 Samuel Werenfels: Dissertatio de stilo scriptorum novi testamenti. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 311‒322. Der Überleitungstext in dieser Edition, in dem davon die Rede ist, dass die Oratio 33 Jahre zuvor verfasst worden sei, bezieht sich auf das Erscheinungsjahr der Erstedition der Opuscula (1718), von dem diese Anzahl Jahre zurückzurechnen ist, wenn man auf das richtige Datum der Inauguralrede (1685) kommen will. Die einführende Textpassage, die den Entstehungskontext erörtert, wurde in der Ausgabe von 1739 (Werenfels: Opuscula I, S. 310) nicht den veränderten chronologischen Gegebenheiten angepasst. Das genaue Datum der Antrittsrede bei Rother: Die Philosophie (Anm. 37), S. 894.
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Hochschulbereich Aufnahme fand.44 Zu Unrecht sah man bislang die Universität Basel außerhalb der Reichweite einer frühen Wirkung der biblischen Rhetorik des Erhabenen. Werenfels galt als Repräsentant eines von antik-paganen Autoritäten beherrschten Rhetorikverständnisses.45 In seiner Antrittsrede über den Stil der Heiligen Schrift jedoch bewegte er sich im Grenzbereich von philosophischer und theologischer Fakultät, nahm sich der Bibelrhetorik an, allerdings hier noch ohne Pseudo-Longinus und dessen ›Fiat lux‹-Zitat aus Genesis 1,3 zu erwähnen, und unterstrich mit der Wahl des Themas seine persönliche Zuneigung zur Theologie, der er sich in späteren Jahren dann ausschließlich zuwandte. Im ersten Teil der Rede setzt sich Werenfels vor allem von italienischen Humanisten ab, die vom Stilideal linguistischer puritas her an der Bibelsprache harte Kritik übten. Er missbilligte die von ihren niederländischen Nachfahren Daniel Heinsius (1580‒1655) und Claudius Salmasius (1588‒1653) geführte Auseinandersetzung um die sprachhistorische Zuordnung der Heiligen Schrift. Das erbitterte Wortgefecht der beiden Philologen habe doch nichts anderes als das Einverständnis der beiden Gelehrten in der nur scheinbar umstrittenen Sache an den Tag gebracht: »Quid igitur litigant? nihil certe aliud relinquitur, quam, quomodo haec lingua Hebraeo-Graeca, aut Graeca Hebraismis plena, sit appellanda?«46 Diese Querele der Späthumanisten um ›bloße Worte‹ beurteilte Werenfels als ein klassisches Beispiel von Logomachie,47 wie sie dann später in der erwähnten siebenteiligen Disputationenreihe von ihm auf allgemein sprachtheoretischer Ebene dargestellt und zum Gegenstand ausführlicher philosophischer Kritik erhoben wurde. In der Frage nach der Stilnorm nimmt Werenfels eine mittlere Position ein,48 in der er sich sowohl von den verächtlich »Graeculi« genannten Philologen,49 die in der Bibel nur sprachliche Defizite nachweisen, als auch von solchen Gelehrten abgrenzt, die dem Griechisch des Neuen Testaments im Vergleich mit dem Platons und Aristotelesʼ den Vorrang einräumen.50
|| 44 Grundlegend Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. 45 Vgl. ebd., S. 34, mit Bezugnahme auf De meteoris, wonach Werenfels die pseudo-longinische Begrifflichkeit in einem »völlig traditionellen Kontext« verwende. Dies bedarf, wie oben dargelegt, vor allem im Blick auf die Antrittsrede zur Griechischprofessur der Korrektur. 46 Werenfels: De stilo (Anm. 43), S. 319. 47 Ebd., S. 318f. (Verwendung des Logomachiebegriffs). 48 Vgl. ebd., S. 313f. (mittlere Position). 49 Ebd., S. 313, 320, 322 (Gott, der über die Weltweisheit der ›Graeculi‹ triumphiert). 50 Ebd. S. 313, zu den beiden Parteien (Aristoteles, Plato).
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Bemerkenswerter als die irenische Grundhaltung, die für Werenfels typisch ist und zum Beispiel in seinem späteren Einsatz für die Union der Protestanten und im Postulat der zu einer solchen Einigung erforderlichen Fundamentalartikel wiederkehrt,51 ist der gegen beide Extrempositionen gerichtete Vorwurf, den Stil der Heiligen Schrift an der Norm paganer Rhetorik zu messen, ja die Bedeutung der Worte (verba) auf Kosten der entscheidenden Sache (res), der biblischen Offenbarung, zu überschätzen. Selbst Paulus, der gelehrteste unter den Aposteln, habe dem profanen Gebot philologischer Reinheit nicht genügt, weil er unumwunden sagte, was er dachte, habe damit aber umso mehr den moralischen Anforderungen wahren Glaubens entsprochen.52 Dass die Heilige Schrift gespickt sei mit Hebraismen, Latinismen, Alexandrismen und Mazedonismen,53 wog, folgt man Werenfels, nicht schwer, betreffe dieser Befund doch nur die sprachliche Hülle der Aussagen und nicht den Kern der Sache. Der Heilige Geist, der aus dem Wort der Bibel und mit Vorliebe aus dem Mund einfacher Leute spreche,54 die Gläubigen auf wunderbare Weise zu beeinflussen und zu lenken vermöge55 und wehe, wann und wo er wolle, sei weder an eine bestimmte Sprache noch an grammatikalische und rhetorische Regeln gebunden; vor allem könne er des rhetorischen ornatus entbehren,56 der die Offenbarungswahrheiten manchmal trübe und verfälsche. Im Gewand biblischer Stilkritik fand der unter christlichen Vorzeichen ausgesprochene Tadel der paganen Rhetorik im universitären Basel nicht später als anderswo Eingang in die theologische Propädeutik. In De meteoris orationis nutzte Werenfels einerseits die in der Antrittsrede formulierte Kritik am rhetorischen ornatus für die Beurteilung profaner Literatur und übernahm andererseits die dort vorweggenommene Divinisierung der
|| 51 Zur unionistischen Tendenz und zur Bedeutung der Fundamentalartikel bei Werenfels siehe Dellsperger: Der Beitrag der »vernünftigen Orthodoxie« (Anm. 2), S. 51‒65. 52 Vgl. Werenfels: De stilo (Anm. 43), Paulus, S. 315f., 319 (Paulus lehnte die Qualifikation, ein Gelehrter zu sein, ab); S. 320 (Paulus sprach, wie er dachte: »locutus est, ut sensit«). 53 Vgl. ebd., S. 317. 54 Vgl. ebd., S. 321 (»Sed maluit iis uti, ut erant, i. e. illiteratis & arte dicendi rudibus.«). Auch die Apostel wollten nicht beredt sein (ebd.). 55 Vgl. ebd., S. 320 (»Enimvero legendum est N. T. attentius: statimque videbimus: si quid in eo mirandum est; si mirae hic liber est in animis commovendis flectendisque efficaciae«). 56 Vgl. ebd. (»non arti id tribuendum esse oratoriae, non miro cuidam dispositionis artificio, argumentorumque secundum Rhetorum regulas collocatorum instructae aciei, non verborum sonantium delectui, aut conquisitis flosculis […]; sed rerum, sed argumentorum ponderi, quorum sublimitas tanto magis elucescit, quo simplicior est stilus: breviter non verbis, sed sensui«); ähnlich S. 321f.
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erhabenen Rede, welch letztere er unausgesprochen den Aposteln und der Heiligen Schrift vorbehielt; für die Späteren, Dichter und Redner, kam sie aus seiner Sicht nicht mehr in Betracht. Wie erwähnt, nahm Werenfelsʼ Rede anlässlich des Antritts der Griechischprofessur auch für die Logomachie-Dissertationen eine Vorreiterrolle ein. In der sechsten Disputation werden der Reihe nach Kennzeichen der Logomachie aufgezählt und mit Exempeln untermauert.57 Wenn ein Disputant die Argumente des Gegners benutze, um diesen zu widerlegen, handle es sich um einen bloßen Wortstreit, da mit denselben Argumenten keine gegensätzlichen Meinungen begründet werden könnten.58 Als Beispiel für diese Art der Logomachie griff Werenfels auf die in der Antrittsrede erwähnte Auseinandersetzung um die Benennung des Bibelstils zurück, bei der sich bekanntlich die niederländischen Philologen Salmasius und Heinsius unnötigerweise in die Haare gerieten.59 In Werenfelsʼ Dissertation illustriert der Streit der beiden Gelehrten nur einen bestimmten Typus von Logomachie, während es in der Rede nicht um die Veranschaulichung logischer Begrifflichkeit und um deren Bewährung geht, sondern vorrangig um die Diskreditierung eines nutzlosen Disputs über eine bestimmte Sache. Auch in den Logomachie-Dissertationen setzte Werenfels gehäuft rhetorische Stilmittel ein (Fragen, Wiederholungsfiguren etc.) und näherte lange Passagen der Thesenschriften – déformation professionnelle des Oratorikprofessors ‒ dem Vortragsduktus seiner Reden an. Die Skizze der unausgesprochen von pseudo-longinischen Prämissen abhängigen Bibelstil-Kritik in der Antrittsrede lässt sich geographisch u. a. in einem für Werenfels wichtigen Referenzbereich mit verankern, nämlich in England. 1665 erschien in Oxford eine lateinische Erstauflage von Robert Boyles Cogitationes de scripturae stylo, die der Basler Gelehrte in der Inauguralrede erwähnt (ohne Nennung des Titels und der benutzten Ausgabe), da Boyle sich gegen die als »delicatuli« bezeichneten Erbauungsschriftsteller (›moderni asce-
|| 57 Vgl. Samuel Werenfels (Präses)/Reinhardus Heinzgius (Respondent): Dissertationum philosophicarum de logomachiis eruditorum sexta. 25. [handschriftlich] November 1691. Basel. 58 Vgl. ebd., cap. VIII, de signis hujus [= der Logomachie] morbi, § VI, Bl. B1v: »Si, duobus inter se disceptantibus, affirmans iisdem ad sententiam suam probandam utitur argumentis, quibus utitur negans, raro verus inter disputantes dissensus esse videtur« [Zitat im Original kursiv]. Weiter ebd., Bl. B2r: »Duo autem opposita ex eodem argumento legitimè deduci non possunt. Quare illa quae ex uno eodemque argumento concludunt, tametsi opposita videantur, saepissime opposita non sunt.« 59 Vgl. ebd., Bl. B2r; vgl. Werenfels: De stilo (Anm. 43), S. 318f.
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tici‹) wende und auf der Bedeutung der Primärquelle, der Heiligen Schrift, bestehe.60 Zur Illustration des Inhalts der Bibelapologetik des englischen Naturwissenschaftlers und Physikotheologen seien im Folgenden gerafft der Aufbau und die wichtigsten Argumente von Boyles Cogitationes referiert.61 Diese Abhandlung richtet sich hauptsächlich gegen die späthumanistische Schulrhetorik und deren Autoritäten,62 setzt ihr die vom Heiligen Geist bewirkte Einflößung erhabener Gedanken entgegen, betont die sogar ›magische‹ Wirkung einzelner Bibelstellen63 und grenzt sich von der Rhetoriktheorie paganer Autoren ab, insbe|| 60 Vgl. Werenfels: De stilo (Anm. 43), S. 313. Mit den ›moderni ascetici‹, denen der Verstoß gegen das reformatorische Prinzip ›sola scriptura‹ vorgeworfen wird, könnten (u. a.) die Pietisten gemeint sein. Im Folgenden stütze ich mich in Anbetracht der Beziehungen Werenfelsʼ zu Genfer Theologen auf Robert Boyle: Cogitationes de s. scripturae stylo. Genf 1680, hier S. 45 (zum ›Fiat lux‹), S. 52 (zur Aussage des Kardinals: »Et profectò nota est Cardinalis superiori seculo vox, se S. Biblia semel perlegisse, at si eadem iterum perlegeret, actum fore de Latinitate sua«; vgl. Werenfels: De stilo [Anm. 43], S. 312). ‒ Verstoß des Bibelstils gegen die ciceronianische puritas-Norm, S. 55: Meinungsverschiedenheiten über die Zuordnung der Bibelsprache. Zu Boyle als Adressat von Gilbert Burnets Some letters, containing an account of what seemed most remarkable in Switzerland, Italy etc. Rotterdam 1687, vgl. Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 66. 61 Zu ihnen bereits Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 73‒76, mit einer griffigen Zusammenfassung, der die 1661 in englischer Sprache unter dem Titel ›Some Considerations Touching the Style of the H. Scriptures‹ erschienene Erstausgabe zugrunde liegt. Ferner bezeichnet Dietmar Till: Das doppelte Erhabene (Anm. 44), S. 167, die »erschöpfende Geschichte des Anti-Ciceronianismus« als »ein Desiderat der Frühneuzeitforschung«, stützt sich ebenfalls auf die englische Erstausgabe von Boyles Schrift und ergänzt Dycks Zusammenfassung der Cogitationes, S. 167‒171; Till hebt außerdem die rhetorikgeschichtlich relevante Paganismuskritik des Engländers hervor, der aber die Maßstäbe der antiken Rhetoriktradition nicht vollends preisgibt, etwa wenn er (Boyle: Cogitationes [Anm. 60], S. 60) den Reichtum rhetorischer Figuren in der Heiligen Schrift preist: »ex omnibus qui uspiam in toto Orbe habentur libris, paucos admodum, si tamen omnino ullos reperiri, qui pari mole figuratis locutionibus magis abundent quàm S. Instrumenta. […] Paucos enim habet tropos vel figuras Rhetorica, quorum multiplices instantias Scripturarum oratio non suppeditet.« So gesehen ist Boyles Rhetorikverständnis seinerseits ein eklektisches, das durchaus Differenzen Rechnung trägt. 62 Vgl. Boyle: Cogitationes (Anm. 60), S. 58f., zum Regelkorsett der Schulrhetorik, das bei der Beschreibung des Bibelstils versagt: »Nec tacendum est, temerè fieri, si de Eloquentia ex regulis quas Ciceronis admiratores nobis imponere satagunt, judicium feratur, & systemata Praeceptorum ab illis concinnata cum arte Rhetorica confundantur, ac si invicem aequipollerent & ejusdem essent latitudinis.« 63 Vgl. ebd., S. 83: »in illis ipsis locis aliquid est adeò Augustum & planè Divinum, ut quemadmodum Sol, etiam in Occasum descendens, minores coeli ignes splendore antecellit;
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sondere von der ciceronianischen Lehrbuchtradition und dem von ihr propagierten rhetorischen Schmuck.64 Wirkungsvolle Rede an biblischen Schlüsselstellen ist daher kein Produkt der Anwendung von Regeln der natürlichen Vernunft, sondern das Erzeugnis einer göttlichen Instanz, die den Menschen leitet, allenfalls als Sprachrohr benutzt und die einer auf die defizitäre Natur des Menschen zugeschnittenen rhetorischen ars nicht bedarf. Boyle kleidet seine Entgegnung auf die Bibelkritiker in die Form eines Briefmonologs, den er an einen fiktiven Gesprächspartner namens Theophilus und gegen die erwähnten, nicht näher benannten Verächter der Bibel richtet. Der Text gleicht der in freundschaftlichem Ton gehaltenen Verteidigungsrede eines Respondenten, welcher acht Einwände der Bibelkritiker, die sich zum Teil überschneiden, der Reihe nach widerlegt: Die dem Wortlaut der Heiligen Schrift unterstellte Dunkelheit (obscuritas) erklärt Boyle mit historischen Gründen: Einst war der Sinn der nun dunkel erscheinenden Schriftstellen klar,65 und es ist Aufgabe der Bibelxegese, das verlorene, einst unmittelbare Verständnis der Zeitgenossen auf dem Umweg historischer Arbeit wieder herzustellen.66 Die nächsten beiden Entgegnungen beziehen sich auf Einwände, die in der Bibel
|| ita coelestis Scripturarum Artifex, etiam ubi ad captum nostrum se plurimùm demittit, retinet aliquid humanis scriptis sublimius & excellentius. […] Et profectò nonnulli Scripturae loci miram & (absit verbo invidia) magicam quandam vim habent; quae vix meliùs quàm in suis ipsius verbis exprimi potest […]« (es folgt das Zitat Hebr 4,12: »Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und es ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens«). 64 Vgl. ebd., S. 58: Boyle versteht unter der von der natürlichen Vernunft erzeugten Redekunst eine »Ars Organica sive Instrumentalis, persuasioni aut delectationi potissimùm comparata«, die im Rahmen irdischer, prudentistischer Kommunikation unbestritten eine wichtige Aufgabe erfülle. Hier auch zur Geltung Ciceros als oratorischer Autorität. 65 Vgl. ebd., S. 12: »fieri non potest quin multa videantur nobis obscura, quae istorum seculorum hominibus satis erant perspicua & aperta.« Gefragt sind hermeneutische Kompetenz und historisches Realwissen, das Sachverhalte klären hilft. Dazu auch Dyck: Athen und Jerusalem (Anm. 61), S. 75, mit der Bemerkung: »Boyles Eingehen auf die historischen Bedingungen jeglicher Literatur mutet erstaunlich unbefangen an, und für das Jahr 1661 ist es das auch. Er denkt als Naturwissenschaftler und weniger als Theologe. Das bedeutet jedoch noch nicht, daß er die rhetorischen Maßstäbe aufgibt, um den Stil der Bibel zu rechtfertigen.« 66 Vgl. Samuel Werenfels: Lectiones hermeneuticae, sive de arte interpretandi scripturam sacram. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 329‒364 (Präparationen zur Hermeneutikvorlesung); zur Hermeneutik bei Werenfels vgl. auch Hermanin: Werenfels (Anm. 1), S. 154‒165, vgl. hier, S. 314f., auch das Zitat aus Werenfelsʼ Brief an Turrettini vom 20. September 1700, in dem der Basler Gelehrte hermeneutische Regeln fordert, damit der auf Willkür und Phantasie beruhenden Bibelinterpretation ein Riegel geschoben werden könne.
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Methode und logisch aufgebaute Argumentation vermissen: Die Anwendung von Syllogismen sei den Orientalen unbekannt gewesen und hätte sich für einen auch an das einfache Volk gerichteten Text nicht geeignet (Akkommodationslehre).67 Das vierte und das fünfte Hauptargument wenden sich gegen den bestrittenen Nutzen des Bibelworts, der zwar nicht an allen Stellen der Heiligen Schrift in gleichem Maße gegeben, aber nicht generell in Frage zu stellen sei.68 Der sechste Einwand nimmt zum Vorwurf der Widersprüchlichkeit von Bibelaussagen Stellung, der siebte gegen die monierten notorischen Wiederholungen in der Bibel sowie gegen die Bevorzugung profaner Ethiken und von Erbauungsliteratur, die allerdings auch nicht rundweg abgelehnt wird.69 Gegen die theoretische Unterscheidungen und Systemcharakter aufweisenden weltlichen Ethiken wird der Praxisbezug der Heiligen Schrift ins Feld geführt.70 Zentral für Werenfelsʼ Antrittsrede war die Übernahme der boyleschen Widerlegung des achten bibelkritischen Arguments. Dieser hatte sich der englische Gelehrte mit besonderer Akribie angenommen und seine Kritik in fünf Unterabschnitte und zwei Exkurse gegliedert (»digressiones«), darunter einen mit dem Titel »De arte rhetorica«.71 Boyle unterstreicht hier einmal mehr die Unentbehrlichkeit der historischen Dimension zum Verständnis der Bibelworte. Er konstatiert den Sinnverlust, der durch Übersetzungen entstehe,72 das reiche Vorkommen rhetorischer Figuren in der Heiligen Schrift und, abgesehen davon, die einseitig eurozentrisch-pagane Perspektivik des Systems der Künste, insbesondere die dominante Rolle der darin inkorporierten Rhetorik, welche zum
|| 67 Vgl. Boyle: Cogitationes (Anm 60), S. 23f. (keine Anwendung von Regeln der Logik; Anpassung an die Denkgewohnheiten des einfachen Volks), S. 83 (Akkommodation: »videtur ad consuetum apud homines loquendi modum proximè accedere«). 68 Vgl. ebd., S. 30. Boyle bemüht sich einmal mehr um differenzierte Antworten, auch, um sich vor Angriffen zu schützen. 69 Vgl. ebd., S. 40. Die mit Rinnsalen verglichenen Erbauungsschriften werden nicht völlig abgelehnt, aber es wird der Bibel als der einzigen Quelle, der sie entspringen, bei weitem der Vorzug gegeben. 70 Vgl. ebd., S. 41. Den auf das Minimum angelegten ethischen Theoriebedarf deckt die Heilige Schrift vollständig; Ethiklehrbücher taugen für das sittliche Handeln wenig, da die Autoren »de asserenda methodo sua quàm virtutis supra vitium praeeminentia plùs laborant; disponendis rite Sectionibus quàm Lectorum actionibus solicitiùs prospiciunt; denique id studiosiùs agunt ut doctrina memoriae potiùs quàm affectibus imprimatur, utque de animi motibus disputare magis quàm triumphare discamus«. 71 Vgl. ebd., S. 58‒60, tertia responsio, hier »Brevis Disgreßio de Arte Rhetorica«; S. 62‒69, quarta responsio, hier »Disgreßio longa adversùs profanum Scripturae contemtum«, mit einem Appendix, ebd., S. 69‒76. 72 Vgl. ebd., S. 3f., 54f.
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Beispiel den Chinesen als ars unbekannt sei.73 Heftig attackiert Boyle den dem Vorurteil der Autorität erlegenen Ciceronianismus und die auf ihn zurückgehende systematische Geschlossenheit der Schulrhetorik.74 Seine Kritik trifft eine Vielfalt profaner Geistesströmungen und Haltungen, die für das biblizistisch abgestützte reformatorische Glaubensverständnis als Gefahr eingestuft werden. Deren Spektrum umfasst vor allem den erwähnten pagan geprägten Humanismus und dessen Bibelstil-Kritik, eine christlich-sittliche Maßstäbe preisgebende obszöne oder laszive Dichtung und die mit moralisch lockerem Galantismus identifizierte Weltlichkeit von Fürsten sowie von deren Beratern, den politici.75 Da Werenfels in der Inauguralrede die allgemeine Zeitkritik Boyles nicht aufnahm, entfallen darin dessen Invektiven gegen die Poesie und gegen die Verweltlichung der Politik ebenso wie die Physikotheologie der Cogitationes, die der Engländer gerne mit Metaphern aus den semantischen Feldern der Alchemie, der Metallurgie und der Gemmologie schmückte.76 Boyle war rhetorischem ornatus zu Veranschaulichungszwecken also durchaus nicht abgeneigt. Sowohl Werenfelsʼ Antrittsrede, die, dem Anlass entsprechend, nur den Stil der Heiligen Schrift zum Gegenstand hatte, als auch Boyles Cogitationes verzichteten, wohl unter anderem aus Gründen philosophischer Zurückhaltung in theologischen Fragen, auf Erörterungen zu natürlicher Vernunft und Offenbarung, weshalb in beiden Schriften das Verhältnis von profan-natürlicher Rede und theologisch begründeter Offenbarung unerörtert bleibt. Beiden Formen des Wissens gesteht Boyle zwar eine Daseinsberechtigung zu, warnt aber davor, profane Normen zu verabsolutieren und sie insbesondere für die Interpretation der Bibel als verbindlich zu erklären. Werenfels begnügte sich mit der Übernahme der Apologetik des Bibelstils und einzelner diesbezüglicher Bekräftigungen aus den boyleschen Cogitationes, verzichtete jedoch auf eine grundsätzliche Kritik an den Bibelverächtern sowie auf eine Zeitklage, allerdings nicht ohne Auswüchse gelehrter Philologie anzuprangern und die den schulrhetorischen Regeln überlegene Erhabenheit des göttlichen Worts zu preisen. Robert Boyle, der das Lob Gottes emphatisch zum Hauptgeschäft der Panegyrik erklärte,77 ging weit über Werenfelsʼ auf den Bibelstil beschränkte, nüchterner vorgetragene Darlegungen in dessen Antrittsrede hinaus.
|| 73 Vgl. ebd., S. 59. 74 Vgl. ebd., S. 58f. 75 Vgl. ebd., S. 64 (moralisch verwerfliche Dichtung); S. 72 (bibelferne Fürsten und Politiker). 76 Vgl. ebd., z. B. S. 84. 77 Vgl. ebd., S. 77.
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Auf dem Lehrstuhl für griechische Sprache fühlte sich Samuel Werenfels nicht am richtigen Platz, und in der kurzen Zeit, in der er dieses Fach lehrte, konnte er, auch wenn er es gewollt hätte, die Krise nicht beheben, in der sich damals der Griechischunterricht an der Universität Basel befand.78 Mit der Übernahme der Oratorikprofessur bekam er die Gelegenheit, seine Tätigkeit im Bereich von Rhetoriktheorie und -kritik fortzusetzen, die sich bereits in der Antrittsrede über den Bibelstil als thematische Vorliebe angekündigt hatte.
2.2 Die Rede von den Schauspielen – ein bekanntes Beispiel der praxis oratoriae Bereits 1687 wechselte Werenfels, wie erwähnt, von der Griechischprofessur zum Basler Lehrstuhl der Oratorik. Die einschlägige Inauguralrede, De oratore sacro,79 wurde nie veröffentlicht, und sie liegt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch nicht handschriftlich vor. Hingegen fand die Rede von den Schauspielen, die in der Sammelausgabe von 1716 erstmals veröffentlicht wurde,80 von germanistischer Seite vor allem deshalb Beachtung, weil sie auch von Autoren des literaturwissenschaftlichen Kanons rezipiert wurde.81 Werenfels versuchte in der Oratio de comoediis alle Bedenken gegen das Schultheater zu zerstreuen, dem er im Rahmen des universitären Oratorikunterrichts ein flammendes Plädoyer widmete. Damit propagierte er die andernorts auch an Gymnasien festgestellte, dort aber sogar durch die schulische Aufführung von Theaterstücken bezeugte Union von rhetorischer Propädeutik und Schauspiel.82 In seiner Rede kritisierte er auch ein generelles Theaterverbot, wie es in der reformierten
|| 78 Vgl. Staehelin: Geschichte, Erster Teil (Anm. 22), S. 212. 79 Vgl. Ryhiner: Vita (Anm. 5), S. 54. 80 Vgl. Samuel Werenfels: Dissertationum volumina duo, quorum prius de logomachiis eruditorum et de meteoris orationis, posterius dissertationes varii argumenti continet. Amsterdam 1716, hier S. 343‒370. 81 Vgl. Martin Stern/Thomas Wilhelmi: Samuel Werenfels (1657‒1740): Rede von den Schauspielen. Der lateinische Urtext (1687/1716), die Übersetzungen von Mylius (1742) und Gregorius (1750) sowie deren Rezeption durch Gottsched, Lessing und Gellert. Ein Beitrag zur Theaterfrage in der Frühaufklärung. In: Daphnis 22 (1993), S. 73‒171, hier S. 171 Abbildung der Theologen Jean-Alphonse Turrettini, Samuel Werenfels und Jean-Frédéric Ostervald. 82 Vgl. Samuel Werenfels: Oratio de comoediis. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 441f. (Einladungsprogramm; in der Ausgabe 1739 erstmals veröffentlicht); S. 443‒454 (Rede). Zum Musterbeispiel des theaterfreudigen Zittauer Gymnasiums vgl. Barner: Barockrhetorik (Anm. 34), S. 190‒220 (Christian Weise); Ulrike Wels: Gottfried Hoffmann (1658‒1712). Eine Studie zum protestantischen Schultheater im Zeitalter des Pietismus. Würzburg 2012.
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Schweiz der Frühen Neuzeit verbreitet war.83 Werenfelsʼ Einsatz für das Schultheater steht seinerseits in einer langen, jedoch weitgehend vergessenen akademischen Basler Tradition der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der die Frage nach der Bedeutung von Schauspielen im Staat kontrovers abgehandelt wurde. Auffällig ist die Ähnlichkeit einiger Titel dieser Deklamationen,84 die sich möglicherweise auch nicht stark in Wortlaut und Sinn unterschieden, weil es vermutlich (allein) auf den Vortrag ankam.85 Auf die angesprochenen universitären Vorläufer nimmt die Oratio de comoediis nicht ausdrücklich Bezug, und es fragt sich, ob Werenfels die entsprechenden Basler Deklamationen überhaupt kannte. Mit der bloßen Übernahme oder mit einer leichten Modifikation eines vorhandenen Texts hätte er sich allerdings wohl kaum zufrieden gegeben. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Hauptquellen der Rezeption der Oratio, die zusammen mit der den Opuscula (Ausgabe Basel 1718) entnommenen Schauspielrede bereits vor längerer Zeit ediert wurden und daher auch im kon-
|| 83 Vgl. Thomas Brunnschweiler: Johann Jakob Breitingers »Bedencken von Comoedien oder Spilen«. Die Theaterfeindlichkeit im Alten Zürich. Edition ‒ Kommentar ‒ Monographie. Bern u. a. 1989; Hellmut Thomke: Die Zügelung und Unterdrückung des Theaters durch die Obrigkeit in den reformierten Staaten. In: Dieter Breuer (Hg.): Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Wiesbaden 1995, Teil II, S. 631‒642 (Basel fehlt). Zu Basel vgl. Ernst Jenny: Basels Komödienwesen im 18. Jahrhundert. In: Basler Jahrbuch 1919, S. 177‒248 (vor allem zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts). 84 Jutta Sandstede: Deklamation. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2: Bie‒Eul. Tübingen 1994, Sp. 481‒507; Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart 2012. 85 Johannes Jakob Gernler: Oratio, de illustri quaestione politica, an ludi scenici, (quales comoediae et tragoediae), in bene constituta republica sint ferendi. 12. April 1613. Basel (Rother: Die Philosophie [Anm. 37], S. 100, Anm. 121); David Wetter: Discursus, exhibens tres sermones de comoediis: quorum primus comoedias laudat; alter vituperat & damnat; tertius distinctè respondet. Basel 1629 (wohl nicht durch Autopsie ermittelte Titelnachweise bei Rother: Die Philosophie [Anm. 37], S. 100, Anm. 121, und S. 102, Anm. 122). Das Theater war auch Gegenstand ungedruckter Laureatenreden; Titel nach Rother, ebd. (dortige Seitenzahlen in runden Klammern, Reden nur unter dem Namen des Professors): 3. Mai 1636: An ludi scenici, quales sunt comoediae et tragoediae, in bene constituta republica sint ferendae? (S. 809; Johannes Buxtorf); 25. März 1645: Num honesti ludi, animi recreandi gratia homini christiano sint concedendi? (S. 813; Hieronymus Zenoin); 1. Februar 1653: [13 Laureaten teilen sich in die Aufgabe] Utrum spectacula theatrica et ludi scenici, in republica christiana, sint admittendi, nec ne? (S. 818; Johann Rudolf Wettstein). Auch in Magisterreden wurde das Thema aufgegriffen (bibliographische Angaben wie oben): 7. Juni 1642: Sint ne ludi scenici in bene constituta republica ferendi? (S. 864; Johann Lukas Graf); 1. Februar 1653: Utrum spectacula theatrica et ludi scenici, in republica christiana, sint admittendi, nec ne? (S. 871; Johann Rudolf Wettstein).
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ventionellen Medium einer Fachzeitschrift zur frühneuzeitlichen Literaturwissenschaft bequem zugänglich sind.86 1742 übersetzte Gotthold Ephraim Lessings Verwandter Christlob Mylius (1722‒1754) Werenfelsʼ Rede ins Deutsche; seine Übersetzung erschien in den von Johann Christoph Gottsched herausgegebenen Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache; bereits 1744 lag die englischsprachige Version von William Duncombe (1690‒1769) vor.87 Die Widmungsvorrede der Übersetzung des Gottsched-Korrespondenten Immanuel Friedrich Gregorius (1730‒1800), die 1750 herauskam, ist auf den 6. Dezember 1749 datiert.88 In den von ihm hinzugefügten Anmerkungen wird Gottsched als wichtige Autorität aufgeführt und auch im Zusammenhang mit Horazʼ Poetik auf Gottscheds Critische Dichtkunst verwiesen.89 Lessing warf in seiner Besprechung dem Übersetzer Gregorius mangelhafte Latein- und Deutschkenntnisse vor und empfahl, Werenfelsʼ Rede im lateinischen Originalwortlaut zu lesen.90 Die skizzierte Wirkungsgeschichte dokumentiert die weite Verbreitung der Oratio, an der Gottsched und sein Kreis maßgeblich beteiligt waren und an der Lessings Kritik keinen geringen Anteil hatte. Letztere war wohl ebenso gegen Lessings Widersacher Gottsched wie gegen den Übersetzer Gregorius gerichtet. Werenfelsʼ Rede stellt ein anschauliches Beispiel für den Wissenstransfer von lateinsprachigem akademischem Kleinschrifttum zu der ein viel breiteres, deutschsprachiges Zielpublikum erreichenden Buchproduktion dar. An der skizzierten Rezeption der Oratio de comoediis lässt sich, mit anderen Worten, der Weg des zuerst im Umfeld Hoher Schulen in lateinischer Sprache generierten und dann in den Aufklärungsdiskurs eingespeisten Wissens nachvollziehen und damit die allgemeine, von der Forschung bislang zu wenig aufgenommene These einer Kompatibilität, vielmehr eines wechselseitigen Einflusses von Latinität und Aufklärung, stützen.
|| 86 Vgl. Stern/Wilhelmi: Samuel Werenfels (Anm. 81), S. 104‒166. 87 Nähere (bibliographische) Angaben zu den Übersetzungen, deren Rezeption und zu den Übersetzern ebd., S. 86‒101. 88 Vgl. ebd., S. 135. Zu Gregorius als Briefpartner Gottscheds vgl. Wolfram Suchier: Gottscheds Korrespondenten. Alphabetisches Absenderregister zur Gottschedschen Briefsammlung in der Universitätsbibliothek Leipzig. Mit einem Vorwort von Dietmar Debes. Leipzig 1971, S. 33 (mit Daten der Briefe). 89 Vgl. Stern/Wilhelmi: Samuel Werenfels (Anm. 81), Edition Gregorius: Hinweise auf Gottscheds Critische Dichtkunst S. 142, Anm. 16; S. 145, Anm. 24; S. 150, Anm. 39; auf Gottscheds Horazübersetzung S. 147, Anm. 32. 90 Vgl. ebd., S. 162‒166 (Edition der lessingschen Rezension), hier S. 162 (lesenswerte Rede in Latein), S. 163 (Inkompetenz des Gregorius).
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Anstelle einer Zusammenfassung der Oratio sei hier auf einige in unserem Zusammenhang bedeutende Aspekte hingewiesen. Werenfels sah im Schauspiel ein wichtiges pädagogisches Instrument innerhalb der Schule als einer betont christlichen moralischen Anstalt. Die ethische Unterweisung erfolgt in einem zwar fiktiven Rahmen, aber durch das Medium praktischer Handlungsvollzüge und erfüllt damit die Anforderungen der auf die res wie auf die verba bezogenen Erziehung. Die Oratio ist ihrerseits ein Probestück praktischen Unterrichtserfolgs und unterstellt sich, wie das Schauspiel, von dem sie handelt, den didaktischen Zielen des rhetorischen movere und docere. Wie in der Antrittsrede zur Griechischprofessur die Stilkritik so nähert sich hier das kämpferische Plädoyer für das Schauspiel dem Votum eines Respondenten in einer disputatio an, der Einwände von Opponenten vorwegnimmt und unter dem unaufdringlichen Beizug von Autoritäten verschiedener geistiger Provenienz (Johannes Sturm; Amos Comenius; Jesuiten) mit dem Rekurs auf einen consensus plurium widerlegt. Die Unklarheiten über die Entstehungsgeschichte der Oratio de comoediis lassen sich durch Informationen aus bis jetzt unberücksichtigten Quellen beseitigen:91 Der Text wurde von Samuel Werenfels geschrieben, die Oratio aber vom Studenten Johann Rudolf Thurneysen gehalten, der den Professor ausdrücklich um die Abfassung einer Rede bat, die er zu Übungszwecken vortragen wollte.92 Die Oratio de comoediis konnte daher als öffentlicher Nachweis erfolgreicher Lehrtätigkeit des Professors wie des Studienerfolgs des Redners gelten. Gleichzeitig war sie das Medium, mit dem sich die Universität als Institution der Öffentlichkeit, den städtischen Eliten, präsentierte. Was den Inhalt der Rede angeht, ist eine einleitende Vorbemerkung zu dem hier unterlassenen, für später vorgesehenen Kontextualisierungsversuch am Platz. Dieser ist der Empfehlung geschuldet, akademisches Kleinschrifttum einer anderen Universität in die Untersuchung einzubeziehen. Samuel Werenfels kannte den Heidelberger Theologieprofessor Johann Ludwig Fabricius (1632‒1696) persönlich,93 unter dessen
|| 91 Vgl. Stern/Wilhelmi: Samuel Werenfels (Anm. 81), S. 80, gehen davon aus, dass die Rede »um 1687« entstand. Vgl. dazu Robert Seidel: Lateinische Theaterapologetik am Vorabend des Sturm und Drang. Die Vindiciae scenicae von Philipp Ernst Rauffseysen (1767). In: Reinhold F. Glei/Robert Seidel (Hg.): Das lateinische Drama der Frühen Neuzeit. Exemplarische Einsichten in Praxis und Theorie. Tübingen 2008, S. 287‒312, hier S. 311. Seidel bemerkte als erster, dass der Redner ein Jüngling war, glaubte aber, dass Werenfels selber die Rede um 1670, noch als Basler Gymnasiast, also vor der Aufnahme des Universitätsstudiums, gehalten habe. 92 Werenfels: Oratio (Anm. 82), Einladungsprogramm, S. 441f. Es handelt sich hier um eine der ganz wenigen Programmschriften, die in der Sammeledition von 1739 Aufnahme fanden. 93 Ryhiner: Vita (Anm. 5), S. 53, berichtet, dass Samuel Werenfels auf seiner Studienreise 1686 u. a. Fabricius in Heidelberg besuchte. Biographischer Abriss in Dagmar Drüll: Heidelberger
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Vorsitz im Jahre 1663 Dissertationen über Nutzen und Schaden des Theaterspiels verteidigt wurden. Johann Rudolf Thurneysen wurde am 20. August 1671 in Basel geboren und am 9. März 1687 als Student der Philosophie immatrikuliert, also kurz nachdem Samuel Werenfels am 18. Februar seine Rede zum Antritt der Oratorikprofessur gehalten hatte. Aus den Akten der Universität geht hervor, dass Thurneysen am 26. Oktober 1688 Werenfelsʼ Oratio de comoediis hielt,94 zu der mit dem erwähnten gedruckten Programm öffentlich eingeladen wurde. Am 26. Februar 1689 erwarb Thurneysen das Bakkalaureat, am 21. Mai 1690 ließ ihn Samuel Werenfels unter seinem Vorsitz die dritte Logomachie-Dissertation verteidigen,95 am 19. Juni begann Thurneysen das Theologiestudium, und am 8. Juli 1690 erwarb er den Magistergrad. Der Präses der theologischen Disputation vom 2. August 1694 zum Thema De velamine Judaeorum cordibus impendente, cum legitur Moses ex 2. Corinth. III,15 war Peter Werenfels, Samuels Vater.96 1696 wurde Thurneysen Feldprediger in Frankreich, geriet bei Lüttich in Gefangenschaft und weilte später, wiederum als Feldprediger, in Holland. Seit 1704 bis zu seinem Tod am 4. Juli 1745 amtete er als Pfarrer der deutsch-reformierten Gemeinde in Genf. Der Lebenslauf lässt auf einen regulären Studiengang an der heimischen Universität (in Philosophie mit den beiden Graduierungen und dann in Theologie) schließen. Es folgten bewegte Auslandsjahre und dann die berufliche Etablierung in der Rhonestadt.
|| Gelehrtenlexikon 1652‒1802. Berlin u. a. 1991, S. 31f. (unter »Fabritius, Hans Ludwig«). Grundlegend Seidel: Theaterapologetik (Anm. 91), S. 292, 294f. Johann Ludwig Fabricius stand mit verschiedenen Basler Gelehrten, unter ihnen Peter Werenfels, in Kontakt; 26 Briefe von und an Fabricius sind in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel vorhanden. ‒ Zur Kontextualisierung ist auch ein nach der Oratio entstandenes werenfelssches Epigramm heranzuziehen, das sich auf Jean-Alphonse Turrettinis Werk De ludis saecularibus quaestiones academicae (Genf 1701) bezieht: Werenfels: Fasciculus epigrammatum (Anm. 31), S. 529, CXLVIII: »In ejusdem quaestiones de Ludis secularibus«. 94 Vgl. Rother: Die Philosophie (Anm. 37), S. 101, Anm. 121. 95 Vgl. Samuel Werenfels (Präses)/Johann Rudolf Thurneysen, Johann Franz Ull (Respondenten): Disputationum philosophicarum de logomachiis eruditorum tertia. 21. und 23. [handschriftlich] Mai 1690. Basel. Ull hatte sich übrigens am selben Tag wie Thurneysen immatrikulieren lassen, vgl. Wackernagel/Triet/Marrer (Hg.): Matrikel der Universität Basel (Anm. 14), S. 198, Nr. 1177. 96 Vgl. Peter Werenfels (Präses)/Johann Rudolf Thurneysen (Respondent): Dissertationis theologicae de velamine Judaeorum cordibus impendente, cum legitur Moses ex 2. Corinth. III.15. pars quarta. 2. August 1694. Basel. Unter den Widmungsadressaten befinden sich Vater und Sohn Werenfels; Samuel Werenfels und der Mathematikprofessor Jakob Bernoulli verfassten für den Respondenten ein Gratulationsgedicht.
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Wie auch andere studentische Beispiele zeigen, sind die Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert an die Basler Studenten gestellten Anforderungen nicht zu unterschätzen: Man legte Wert auf das philosophische Grundstudium und führte die Studenten über die geforderten Ausbildungsstufen zu den von ihnen erstrebten akademischen Zielen. Auch Johann Rudolf Thurneysens Vita repräsentiert den Normalfall eines solchen studentischen Werdegangs. Die bei der Oratio de comoediis beobachtete Rollenverteilung zwischen Professor und Student, Verfasser des Textes und rhetorischem Akteur, spiegelt den Vorrang rhetorischer Praxis, die Bedeutung von elocutio und pronunciatio im Basler Rhetorikunterricht, die Priorität der Einübung mündlicher Redekompetenz vor der Rhetoriktheorie, wie sie auch auf der institutionellen Ebene in der Einrichtung einer besonderen Oratorikprofessur an der Universität Basel zum Ausdruck kommt. Das Gewicht, das auf praxisrelevante Ausbildung und das Beibehalten der Anforderung rhetorischer Kompetenz gelegt wurde, lässt sich anhand der von Werenfels im Theologieunterricht anvisierten Ziele verdeutlichen, auf die, wiederum am Beispiel der Antrittsreden und einer unter Werenfelsʼ Vorsitz verteidigten Dissertation, eingegangen werden soll.
2.3 Kontroverstheologische Programmatik und Disputationspraxis Anlässlich der Übernahme der Professur für Kontroverstheologie hielt Samuel Werenfels 1696 die Antrittsrede De controversiis theologicis rite tractandis.97 Die Hauptgedanken dieser Oratio finden sich einmal mehr in verschiedenen Logomachie-Dissertationen, in welchen die Theologen als besonders anfällig für Wortstreitigkeiten und Streitgespräche, für Ruhmsucht und Verketzerung des Gegners geschildert werden.98 Da die im Medium der disputatio geäußerte Kritik
|| 97 Vgl. Samuel Werenfels: De controversiis theologicis rite tractandis. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 323‒342. In der 1718 in Basel veröffentlichten Fassung der Opuscula, S. 575‒594, fehlt der Einleitungsteil (exordium). Die Ausgabe von 1739 ist auch hier mit Vorteil heranzuziehen, da sie der kontextuellen Einbindung der Kleinschriften generell besser Rechnung trägt. Zu dieser Rede (ohne Vergleich der beiden Fassungen) vgl. Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 134f. (samt Hinweis auf kurz darauf erschienene Werke ähnlichen Inhalts von Jean Leclerc). 98 Vgl. Samuel Werenfels (Präses)/Johann Rudolf Brenner (Respondent): Dissertatio philosophica de logomachiis eruditorum. 26. [handschriftlich] November 1688. Basel, Bl. B3r‒B4r (Theologen); Werenfels/Thurneysen/Ull (Anm. 95), Bl. A4r/v, B1r‒B2v, C4r (Theologen, mittelalterliche Scholastik, Ruhmsucht); Samuel Werenfels (Präses)/Johann Konrad Dienast (Respondent): Disputationum philosophicarum de logomachiis eruditorum quinta. 16. Jan. [hand-
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an der Disputation sich am Extrem des theologischen Elenchus besonders ausprägte und die Kontroverstheologie der in dieser Hinsicht exponierteste Teil der Theologenausbildung war, befand sich Werenfels mit der Ernennung zum Basler Kontroverstheologen in einem Konflikt zwischen den traditionellen Anforderungen des Fachs und der irenischen Position, die er als Oratorikprofessor eingenommen und vertreten hatte. Auf die Frage, wie er im neuen Amt die disputationskritischen praecepta in der Unterrichtspraxis umzusetzen gedachte, gibt die programmatische Antrittsrede auf theoretischer Ebene eine erste Antwort. Die Einleitung besteht zur Hauptsache aus einem Gebet um göttlichen Beistand, der die einzeln aufgezählten Formen der Deviation (wie gelehrten Hochmut, Eigenruhm, Sophisterei, Novitätssucht) abwenden soll, und aus einer Aufzählung der erwünschten moralischen Eigenschaften des Kombattanten.99 Damit wusste der Zuhörer gleich, was ihn erwartete. Im Folgenden geht Werenfels zu den ethischen Anforderungen über, die das Grundgerüst des Hauptteils der Rede bilden und der Reihe nach behandelt werden: die Frömmigkeit (pietas), die Offenheit bzw. Ehrlichkeit (candor, sinceritas), Gründlichkeit im Argumentieren (soliditas) und, am stärksten hervorgehoben, die Friedfertigkeit bzw. die Sanftmut oder das Maßhalten (mansuetudo, moderatio), schließlich auch der dann in der Rektoratsrede von 1722 ausführlicher erörterte wahrhaftige Eifer, Gott zu loben, zu preisen und zu dienen.100 Unter diesen Prämissen löst sich der kontroverstheologische Unterricht weitgehend in Moraltheologie, in Anleitung zu sittlichem Handeln, und in Psychologie, die Fähigkeit zur Menschenkenntnis, auf. Als Basisdisziplinen zum Zweck der Kontroverse nutzt die Theologie die durch das Bibelzitat abgestützte
|| schriftlich] 1691. Basel, Bl. B2r‒B3r (Vorurteilskritik, Affekte); Werenfels/Heinzgius (Anm. 57), Bl. B1v (Priorität der Praxis in der Theologie); Samuel Werenfels (Präses)/Nicolaus Rippel (Respondent): Disputationum philosophicarum de logomachiis eruditorum septima & ultima. 29. [handschriftlich] April. 1692. Basel, Bl. C1v (Mäßigung, Friedfertigkeit; Verhaltensregeln). Der französische Gelehrte Jacques Bernard legte in seiner Rezension der Logomachie-Dissertationen in der von Pierre Bayle herausgegebenen Bibliothèque universelle et historique (1692, XXIII/2, S. 409‒437) Wert »alla critica delle dispute teologiche« (Hermanin: Samuel Werenfels [Anm. 1], S. 70; ebd., S. 76, im Hinblick auf Werenfelsʼ Inauguralrede anlässlich der Übernahme der Professur für Kontroverstheologie). 99 Vgl. Werenfels: De controversiis (Anm. 97), S. 325f.; hier bereits der in den folgenden Redeteilen näher vorgestellte Tugendkatalog: »homines docti ad regnum coelorum, verbi tui [= Gottes] & veritatis salutaris unice studiosi, pii, dociles, mites, mansueti, humiles, utilia denique gloriae tuae regnique tui propagandi instrumenta.« 100 Vgl. Samuel Werenfels: Oratio de recto theologi zelo. Dicta cum auctor rectoris academici munus susciperet. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 375‒386. Ausführlich zu dieser Rede und zum Einfluss von Jean Leclerc Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 141‒147.
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praktische Philosophie und die Anthropologie. Werenfels reduziert damit die Gottesgelehrsamkeit weitgehend auf Glaubenspädagogik und Charakterbildung. Dogmatik und kontroverstheologische Inhalte werden in der Inauguralrede ausgeklammert.101 Aus diesem Blickwinkel besteht der Nutzen der disputatio darin, zu religiöser Tugendhaftigkeit anzuleiten und diese in praxi, im Umgang mit dem insinuierten Gegner, zu lehren und zu bezeugen.102 Die Unterabschnitte der Inauguralrede skizzieren aufgrund der vier erwähnten kontroverstheologischen Grundtugenden das paradox erscheinende Konzept, Irenik und Elenchus disputationstheoretisch zur Deckung zu bringen. Die Frömmigkeit gebietet, Gott in einem Gebet zu bitten, dass er den Geist erleuchte, von Vorurteilen und schädlichen Affekten (Ehrgeiz, Ruhmsucht, Hochmut) reinige und die Kontrahenten auf den Weg der wahren Lehre führe.103 Eine intensive Erforschung des Gewissens, die Motive und Interessen offenlegt und dem Elenchus vorbeugt, ist vorzunehmen. Dazu unterbreitet Werenfels einen Fragenkatalog, der die Liste der in Kontroversschriften oft vermissten christlichen Tugenden enthält.104 Mit der Frömmigkeit eng verbunden ist das zweite Erfordernis, die Redlichkeit oder Lauterkeit, in der sich die Hauptrichtungen des protestantischen Glaubens von der in der römischen Kirche verbreiteten, mit dem Odium der Falschheit behafteten Neigung zu Schmuck und Schminke unterscheiden.105 Das Wahrhaftigkeitsgebot schlägt sich für Werenfels auch im schmucklosen, nüchtern daherkommenden Stil nieder,106 der positiv wie negativ konnotierte Affekte und tolerierte Sprachfiguren wie Anaphern und Frage-Antwort-Sequenzen in ein unauffällig wirksames oratorisches Dispositiv einbezieht. Der geforderten Selbstkritik entsprechen die Achtung der Person des Gegners und die Bereitschaft, beim Disputieren Gerechtigkeit walten zu
|| 101 Vgl. Werenfels: De controversiis (Anm. 97), S. 327: »De modo tantum errores refutandi, & cum errantes convincendi, cum fideles adversus pravas opiniones muniendi, agere propositum mihi est.« 102 Rother: Gelehrsamkeitskritik (Anm. 1), betont die disputationskritische Seite selbst der Logomachie-Dissertationen zu stark, da Werenfels gerade das Forum der disputatio für die Disputationskritik nutzte. 103 Vgl. Werenfels: De controversiis (Anm. 97), S. 327. 104 Vgl. ebd., S. 328f. 105 Vgl. ebd., S. 330. 106 Vgl. ebd., S. 332: »Hi [= die gottesfürchtigen Theologen] clare semper, aperte & candide sententiam suam proponere debent: nunquam fucum, nunquam colores quaerere. Hac ingenuitate hocque candore viros bonos alterius partis magis sibi conciliabunt, eosque ad veriorem sententiam amplectendam, proniores & dociliores reddent, quam nescio quibus sententiae suae pigmentis & involucris.«
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lassen, ohne dabei jedoch vom Ziel abzuweichen,107 den Kontrahenten von der erkannten Wahrheit zu überzeugen. Auf die Konfliktlage, die sich aus der Auseinandersetzung mit Katholiken ergeben könnte, geht Werenfels nicht ein; unter Protestanten ist sie grundsätzlich vermeidbar, weil Fundamentalartikel einen unumstößlichen dogmatischen Konsens gewährleisten. Gründlichkeit im Vortrag bedeutet, dass das iudicium – jedoch keinesfalls die memoria, die unbedachte amplificatio und der Zwang, neue Argumente zu suchen und vorbringen zu müssen – die Oberhand gewinnt.108 In erster Linie gilt es, die Vorurteile des Gegners zu erkennen, aufzudecken und zu bekämpfen.109 Werenfels instrumentalisiert die frühaufklärerische Vorurteilskritik für kontroverstheologische Zwecke, unterscheidet sich aber in seiner irenischen Grundhaltung von der lutherischen Spätorthodoxie, die es ihm gleichtat, aber den härteren konfessionellen Kurs fortsetzte und unionistische Strömungen innerhalb des Protestantismus nicht zuließ.110 Der vierte und letzte moraltheologische Gesichtspunkt, dem der Kontroverstheologe Rechnung zu tragen hat, ist der von Sanftmut geprägte ›pietätvolle‹ Einsatz für das christlich-fromme Wort und Handeln, dem Werenfels den umfangreichen Schlussabschnitt der Antrittsrede widmet, in dem er die mansuetudo zur Haupttugend aller Disputationsteilnehmer erklärt. Mit der so ausgeprägt ethischen Fundierung der Disputationstheorie verliert die ars disputandi, verlieren insbesondere deren streng formallogische und argumentationsstrategische Teile ihre Daseinsberechtigung: Die logiktheoretische Grundlegung der disputatio mit ihren Schwerpunkten auf Begriff, Satz, syllogistisch strukturiertem Urteil und Sophistik wird durch die formal nicht genauer definierte Vorurteilskritik und vor allem durch die weitgehende Verabsolutierung der Ethik des Disputierens ersetzt. Im Mittelpunkt steht die sittliche Erziehung der Disputanten, ein umfassend praxisbezogenes und -geleitetes pädagogisches Ziel. Trotz der heftigen, hauptsächlich dem Cartesianismus geschuldeten Disputationskritik in den Logomachie-Dissertationen hielt der Theologe Werenfels ‒ man mag hierin weitgehend eine Konzession an die institutionellen Gepflogen-
|| 107 Vgl. ebd., S. 334: »neque tamen omnia Adversarii dicta & verba sine caussa exagitamus: quasi, qui in uno errat, nulla in re recte sentire posse, nihilque in parte nobis adversa neque veri, neque sani, neque boni esse possit.« 108 Vgl. ebd., S. 335f. 109 Vgl. ebd., S. 337. 110 Vgl. dazu Hanspeter Marti: Martin Luther im Spiegel theologischer Vorurteilskritik. In: Friedrich Vollhardt/Oliver Bach/Michael Multhammer (Hg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2015, S. 237–271.
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heiten der Universität erkennen ‒ an der Disputation als Unterrichtsform fest.111 Als Beispiel für die praktische Umsetzung der kontroverstheologischen Programmatik seiner Antrittsrede sei kurz die zum ersten Mal am 17. November 1702 verteidigte Dissertatio apologetica pro plebe christiana vorgestellt.112 In ihr kommen beide Tendenzen zum Ausdruck, einerseits das Bemühen, Reformierte und Lutheraner in einer Bekenntnisunion zu vereinigen, andererseits das Anliegen, den Protestantismus scharf von der römischen Kirche abzugrenzen. Den Laien wird die Bibellektüre in eigener Sache und Kompetenz zugetraut und in Glaubensfragen, die keine professionellen Kenntnisse erfordern, Urteilsfähigkeit zugestanden; die Verteidigung dogmatischer Positionen aber wird den Pfarrern und Theologen überlassen.113 Im Kreuzfeuer dieser kontroverstheologischen Dissertation steht das iudicium auctoritatis, das auch der natürlichen
|| 111 Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 84, Anm. 104, zitiert aus dem Traité des sources de la corruption qui regne aujourdʼhuy parmi les chrestiens, seconde partie (Amsterdam 1700) Jean-Frédéric Ostervalds eine Stelle (ebd., S. 17), die sich inhaltlich mit Werenfelsʼ differenzierter Disputationskritik deckt. 112 Vgl. Samuel Werenfels: Dissertatio apologetica pro plebe christiana adversus doctores judicium de dogmatibus fidei illi auferentes. In: S. W.: Opuscula I (Anm. 4), S. 1‒34. ‒ Erstausgabe: Samuel Werenfels (Präses)/Jakob Beck (Respondent): Dissertatio apologetica pro plebe christiana adversus doctores judicium de dogmatibus fidei illi auferentes. 17. November 1702. Basel. Als eine Art Gratulationsgedicht folgt im Anschluss an den Haupttext an erster Stelle ein epigrammatischer Vierzeiler des Präses mit dem Titel »Venerandi Domini PRAESIDIS in coecum assensum«. Text: »Cum jactet se Roma bonas exponere merces, | Has tamen emptorem non cupit inspicere. | Dicite mercantes, qui, quam vult vendere, mercem | Non vult spectari; num putat esse bonam« (Bl. G1r). Das Epigramm ist in dekontextualisierter Form erneut, mit leicht veränderter Interpunktion, veröffentlicht in Samuel Werenfels: Dissertationum volumina duo. Amsterdam 1716, Fasciculus epigrammatum, LIII., S. 396. Der Einzeldruck der Dissertation enthält außer einer Widmungstafel mit zehn Adressaten auch Gratulationsgedichte des Basler Geschichtsprofessors Johann Jakob Hoffmann (1635‒1702), der Theologiestudenten Christoph Schalch (aus Schaffhausen) und Johann Jakob Bruckner sowie des Basler Pfarrhelfers und späteren Pfarrers Friedrich Seiler. Das heute in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur 4ʼo 1702/10 aufbewahrte Exemplar dieser Basler Thesenschrift ist dem Zürcher Theologieprofessor Johann Jakob Hottinger (1652‒1735) von Seiler handschriftlich zugeeignet. Dieselbe Dissertation wurde an der Universität Basel am 21. November von Johann Kaspar Meyer und am 28. November 1702 von Johann Ludwig Gervinus verteidigt. 113 Vgl. Werenfels: Dissertatio apologetica (Anm. 112), S. 11f. (Laienkompetenz); S. 15 (Erfordernis der Professionalität, um Glaubenskontroversen auszutragen): »At multo minus ad indocti de religione judicium requiritur, ut is omnia sophismata sciat dissolvere; quae judicio suo ab aliis opponi possunt.« Hier wird immerhin angedeutet, dass ein Theologe nicht nur mit seinem Wissen, sondern auch in der Anwendung logischer Formen den Kontrahenten Paroli zu bieten habe und Kenntnisse erforderlich seien, die in der Antrittsrede ganz im Hintergrund standen.
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Vernunft heidnischer Autoren und der Katholiken zugetraut wird, die Werenfels gerade hier zur Widerlegung der von der römischen Kirche beanspruchten Autorität heranzieht.114 Aufbau und Argumentationsform werden in der Dissertation nicht von logiktheoretischen Vorschriften bestimmt, sondern von den Regeln eines Dialogs, in dem Einwände des fingierten Gegners vorweggenommen und widerlegt werden. Die Thesenschrift weist überwiegend die Struktur einer Disputation innerhalb der Dissertation auf. Sie fängt mit der schriftlichen Antizipation des moderaten Streitgesprächs die Gegenargumente in irenisch-neutralisierender Absicht auf und trägt so den Anforderungen der Disputationsethik, der Sanftmut und der Mäßigkeit, im kontroverstheologischen Feld Rechnung. Gleichzeitig werden die Einwände in schriftlicher Form fixiert, für Lernzwecke aufbereitet und dadurch für ein weiteres theologisches Fachpublikum verwendbar. Dieses nahm die von Werenfels verfassten Texte dankbar auf, wie deren zahlreiche Auflagen belegen. Die skizzierte Disputationsschrift stellt ein Zeugnis möglichst ornatusfreier, an der nackten Wahrheit, den res, ausgerichteter, dennoch rhetorisch konzipierter Argumentation dar. Sie soll sowohl eine rationale Überzeugungsleistung erbringen (dem Wirkungsziel des docere entsprechen) als auch positiv konnotierte religiöse Affekte wecken, schädliche dagegen kontrollieren, eindämmen und ausschalten helfen. In der Instrumentalisierung der Vorurteilskritik für theologische Zwecke kommt diese Thesenschrift wie der Logomachie-Traktat der ›medicina mentis‹ genannten frühaufklärerischen Logik nahe,115 indem hier genuin rhetorische Darstellungsmittel der akademischen Rede gezielt eingesetzt werden. In der Dissertatio apologetica färbt die Wertschätzung, die Werenfels dem mündlichen Diskurs generell entgegenbrachte, auf die Gestaltung des schriftlichen Mediums ab, das den Disputationsakt vorbereiten half.
|| 114 Vgl. ebd., z. B. Cicero (S. 5, 14, 22, 31); Gregor von Valencia (S. 8); Melchior Cano (S. 12); Kardinal Robert Bellarmin (S. 10). Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 169f., hebt aufgrund rezeptionsgeschichtlicher Zeugnisse hervor, dass Werenfels mit seiner Kritik des Gewissenszwangs und der Bevormundung der Individuen nicht nur die römische Kirche, sondern auch die protestantischen Orthodoxien habe treffen wollen. Auch in der Epistola de jure in conscientias ab homine non usurpando erscheint die römische Kirche im Hinblick auf die Gewissensfreiheit als abschreckendes Beispiel (ebd., S. 88). 115 Vgl. Werenfels: Dissertatio apologetica (Anm. 112), S. 30, die akzentuierte, allgemeine Vorurteilskritik: »Vix vero quicquam magis est, ad rectum de religione judicium ferendum, necessarium, quam animus à praejudiciis vacuus«; ebd., S. 31, die rhetorische Frage: »Nonne Scholae in multis locis sunt Scholae praejudiciorum?« (hier auch der Begriff ›remedium‹). Vgl. die Äußerung in Werenfelsʼ Brief an Turrettini (Hermanin: Werenfels [Anm. 1], S. 315): »Et saepe plus discimus ex aliorum erroribus et ineptiis, quam ex sapientissimorum monitu.«
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Nicht alle unter dem Präsidium Samuel Werenfelsʼ abgehaltenen Disputationen fanden in die Opuscula Eingang, vor allem diejenigen nicht, die auf dem Titelblatt einen ›auctor-respondens‹-Vermerk tragen und dementsprechend dem Respondenten als Verfasser zugeschrieben wurden.116 Diese Probestücke sind inskünftig ebenfalls in die Beschreibung des theologischen Unterrichts an der Universität Basel einzubeziehen und mit dem genuin werenfelsschen Werk zu vergleichen,117 will man nicht empfindliche Dokumentationslücken in Kauf nehmen, die einseitige Berücksichtigung der Publikationen des berühmten Theologieprofessors und eine arg verkürzte Darstellung des Verhältnisses der Alma Mater Basiliensis zur Frühaufklärung.
3 Weitere Inauguralreden ‒ Fazit Die gegebenen Kostproben der Interpretation könnten von der hier gewählten Fragestellung ‒ der disziplinübergreifenden Bedeutung der Rhetorik ‒ und allein innerhalb des Textgenus der akademischen Rede erfolgversprechend auf weitere Kleinschriften ausgedehnt werden. Das muss hier unterbleiben. Ich begnüge mich mit einigen summarischen Schlussbemerkungen, die Möglichkeiten einer Fortsetzung der eben begonnenen Arbeit andeuten. Eine weitere Inauguralrede hielt Samuel Werenfels im Jahre 1703 anlässlich der Übernahme der Professur für Altes Testament.118 In ihr wendet er grosso modo die beim Antritt des Lehrstuhls der Kontroverstheologie entwickelte Programmatik auf die Erörterung der Prämissen der Bibelexegese an: Vorurteilskritik, hier im Anschluss an Francis Bacons Idolenlehre,119 von Eigennutz freie Absicht, den Sinn des Gottesworts zu erkennen und zu vermitteln, Demut und Mäßigkeit. Es werden drei Gruppen von Interpreten unterschieden, die von dieser Norm abweichen und auf deren ausführliche Charakteristik sich die Antrittsrede || 116 Zwei Beispiele: 1. Samuel Werenfels (Präses)/Johann Seiz (Autor und Respondent): Dissertatio philologico-theologica de origine sacrificiorum. 18. [handschriftlich] September 1700. Basel (Widmungstafel vom Respondenten als Autor unterzeichnet, an Seiz gerichtete Gratulationen, u. a. des Präses); 2. Samuel Werenfels (Präses)/Johann Rudolf Ostervald (Autor und Respondent): Cogitationes de orthodoxia. 19. [handschriftlich] März 1708. Basel; die Widmung an die Neuenburger Pfarrerschaft unterschreibt der bereits auf dem Titelblatt als Autor ausgewiesene Ostervald, ein Sohn Jean-Frédérics, des Freundes von Werenfels, mit »Author«. 117 Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 133 und 199, geht mit gutem Beispiel voran. Die einschlägige Quellenbasis ist noch zu verbreitern. 118 Vgl. Werenfels: Dissertatio de scopo, quem s. scripturae interpres (Anm. 16). 119 Vgl. ebd., S. 349 (Francis Bacon).
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weitgehend beschränkt. Zu ihnen gehört, wer die Auslegung der Bibel mit dem Ziel des Ruhmerwerbs betreibt, wer der Heiligen Schrift nur das entnimmt, was er in sie hineinliest,120 und schließlich, wer die Bibel zur reinen Unterhaltung, wie eine Dichtung, einen Roman liest oder, wie die Vertreter der römischen Kirche, Bibelinterpretation zur reinen Selbstbestätigung betreibt. Der Vorwurf der eigenmächtigen Inanspruchnahme der Heiligen Schrift richtet sich hier auch gegen die pietistische Hoffnung besserer Zeiten, ebenso gegen die sogenannten Freidenker. Wie in den anderen vorgestellten Texten stehen allen voran die Gelehrten im Verdacht, Opfer des Eigeninteresses zu werden und deshalb das Verständnis des wahren Gottesworts zu verfehlen.121 Die zweite theologische Antrittsrede legt, wie die erste, den Akzent auf die ethischen Qualitäten des Theologen und verzichtet auf die Vermittlung hermeneutischer Regeln oder deren Anwendung in der exemplarischen Auslegung einer Bibelstelle. Werenfels geht von der Voraussetzung aus, dass die mit dem Beistand Gottes von Vorurteilen gereinigte Vernunft zu den Wahrheiten der Heiligen Schrift vorstoßen und sich von Selbstbefangenheit und Parteilichkeit, folglich auch vom Sektengeist,122 ohne den Sukkurs von Theorie lösen könne. Moralische Kompetenz, nicht Gottesgelehrsamkeit, ist die Hauptanforderung, die Werenfels an die Interpreten des Gottesworts stellt. In der letzten Inauguralrede, mit welcher der Basler Professor, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, den obersten Lehrstuhl der theologischen Fakultät bestieg, zog Werenfels die gedanklichen Linien weiter aus, die er in der voraus-
|| 120 Vgl. Werenfels: Fasciculus epigrammatum (Anm. 31), S. 509, LX. S. Scripturae abusus: »Hic liber est, in quo sua quaerit dogmata quisque, | Invenit & pariter dogmata quisque sua.« In der Prosa der Antrittsrede lautet der Gedanke bei Werenfels: De scopo, quem s. scripturae interpres (Anm. 16), S. 349: »Nempe maxima pars hominum non id agunt, ut è Scriptura discant, quid sibi credendum sit, sed ut, quod crediderunt ante, ex ea confirment. Rapit hic quisque, ad suam sententiam stabiliendam, quicquid sibi prodesse putat: quod obest detorquetur, aut nescio qua distinctione eluditur […]«. Den Dichter Werenfels gilt es noch zu entdecken; mit seinen Epigrammen steht er u. a. in einer späthumanistischen argutia-Tradition, die dem ingenium (esprit), aber auch der memoria Tribut zollt. Ein Kurzgedicht mahnt zur Eintracht im Grundsätzlichen, auch bei Differenzen in Einzelheiten: vgl. ebd., LXII. Ad concordiam consensus in singulis opinionibus non requiritur, »Ut sentiant omnes idem, | In singulis minutiis, | Fieri nequit nec poscitur.« Die Widmung an Heinrich Wettstein, ebd., S. 491, ist auf den 21. Mai 1715 datiert. 121 Vgl. Werenfels: De scopo, quem s. scripturae interpres (Anm. 16), S. 352 (Eigennutz; in der Bibel geht es, im Gegensatz zu der die Phantasie stimulierenden Dichtung, um die Wahrheit); S. 353 (gegen die Freigeister und die eschatologische Hoffnung auf goldene Zeiten). 122 Vgl. ebd., S. 349f.
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gehenden Oration entworfen hatte:123 den mit der Aufwertung von Moraltheologie und Menschenkenntnis geförderten und immer wieder bemühten Praxisbezug, die Kritik an der lange genug zu ausschließlich unterrichteten Glaubensdogmatik und die Unterschiede zwischen dem Schultheologen124 auf der einen und dem Pfarrer auf der anderen Seite. Der Universitätstheologe, der Seelsorger ausbilden müsse, habe auf die an die zukünftigen Pfarrer gestellten praktischen Anforderungen Rücksicht zu nehmen.125 Werenfels fordert emphatisch die Einrichtung von Lehrstühlen der praktischen Theologie, nicht zufällig im Vergleich mit der Medizin, die als Metaphernlieferantin für die Beschreibung vernünftiger remedia bereits im Logomachie-Traktat eine Hauptrolle spielte: Habentur hinc inde in Academiis Professores Medicinae Practicae; annon Praxis Theologiae aequè meretur, ut à peculiari Professore doceatur, quam praxis Medicinae? Annon in Theologia aeque ac in Medicina praxis praecipuum est, omnisque theoria eatenus tantum utilis, quatenus ad praxin tendit?126
Mit der geforderten Schaffung von Lehrstühlen der Moraltheologie erreichte Werenfelsʼ universitärer Reformimpetus einen Höchstgrad praxisbezogener Stoßkraft. Das bildungspolitische Postulat des Basler Theologen blieb freilich unverwirklicht. Ohne Übertreibung kann in der Inauguralrede zur Professur für Neues Testament ein Panutilitarismus, eine Apotheose der Praxis, festgestellt werden. Das Verständnis für die auf den Theologen und auf den Pfarrer verteilte Theorie-Praxis-Kompetenz schärfte Werenfels den Lesern in Quaestio-Form ein, in zwei in der Sammelausgabe nachgelieferten Kurzabhandlungen.127 In ihnen || 123 Vgl. Werenfels: Dissertatio de scopo doctoris (Anm. 16), S. 357, die Bezugnahme auf die frühere Inauguralrede. 124 Es sind dies die an Universitäten ebenso wie an nicht promotionsberechtigten Hohen Schulen, z. B. am Carolinum in Zürich oder am Athenäum in Danzig, tätigen Lehrer der Theologie. 125 Vgl. Werenfels: De scopo doctoris (Anm. 123), S. 360‒374. Nach einer langen Aufzählung all dessen, was unerwünscht ist, z. B. die Ausbildung der künftigen Pfarrer in Kontroverstheologie, beharrt der Redner auf nützlichen, praxisrelevanten Kenntnissen (ebd., S. 364f.). Zum Vorrang der Praxis vgl. ebd., S. 366: »Necessaria quoque Pastori instruendo ii omittunt Doctores, qui discipulos tantum docent credenda, non docent facienda: totum tempus impendunt tradendis dogmatibus, quae in speculatione consistunt, partem Theologiae practicam omnino negligunt.« 126 Ebd., S. 366. 127 Vgl. Samuel Werenfels: Responsio ad quaestionem; num theologia sit theoretica, an mere practica, an theoretico-practica? In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 292‒297; es handelte sich um eine auch in Vorlesungen behandelte Frage (vgl. Ryhiners Vorrede. In: Werenfels: Opuscu-
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nahm er die in seinem übrigen Werk mit Vorliebe benutzte Form dialogischkatechetischer Belehrung auf und erwies damit einmal mehr dem streckenweise auch in der vorgestellten Disputationsschrift eingesetzten Dialog mit dem Zielpublikum seine Referenz.128 In der Antwort auf die nun gestellte, eigens auf das Verhältnis von Theorie und Praxis zugespitzte Frage erhielt die theoretische Gottesgelehrsamkeit deutlich mehr Gewicht als in den beiden Antrittsreden. 129 Werenfels setzte aber die Priorität, die er dort und im übrigen Korpus seiner theologischen Schriften der Praxis als dem zeitlich und religionspädagogisch Primären zubilligte, keineswegs außer Kraft. Freilich gelangte er nicht zu einer differenziert philosophischen, sprich theoretischen Behandlung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, sondern begnügte sich, dem selbst auferlegten Gebot minimalen theoretischen Aufwands folgend, mit einer skizzenhaften Gegenüberstellung der praxisrelevanten Obliegenheiten des Pfarrers auf der einen und der Lehrverpflichtungen des universitären Theoreticus auf der anderen Seite, der seinerseits, wie erwähnt, dem praktischen Wirken des Seelsorgers in der Ausbildung der Theologiestudenten Rechnung tragen müsse.130 Indem Werenfels beiden Tätigkeitssparten gerecht zu werden versuchte, sie voneinander abgrenzte und sie doch wieder so eng aufeinander bezog, dass die eine paradoxerweise als Bedingung der anderen erschien, unterstrich und präzisierte er auch in didaktisch-praktischer Hinsicht sein Bestreben, scheinbare Gegensätze zu versöhnen. Als Eklektiker war er meist auf die Harmonisierung von Gegenpositionen bedacht (hievon auszunehmen sind für ihn etwa, wie gezeigt, die Standpunkte der römischen Kirche). Ob der teleologisch vorbelastete, zu Beginn dieses Aufsatzes bereits erwähnte Begriff der ›Übergangstheologie‹ sich als Zuordnungskategorie für die || la II, S. VIII); ders.: Examinatur quaestio, Utrum habitus Theologiae, qui debet esse in Ministro Ecclesiae, an qui esse debet in Doctore Academico, plura requirat? In: ebd., S. 298‒301. 128 Vgl. Werenfels: Dissertatio apologetica (Anm. 112). 129 Vgl. Werenfels: Responsio (Anm. 127), S. 293: »Nostra sententia est, praxin Theologiae niti debere sana Theoria, quae nisi adsit, inanis omnis sit praxis. Hoc vero probatur.« Werenfels führt sieben Punkte auf (ebd., S. 293f.), welche diese These erhärten. Vgl. ebd., S. 294 (Punkt 7): »Si in theoria praxis est; in praxi non minus est theoria. Ideo bona est praxis, quia nihil aliud est, nisi vera testificatio bonae theoriae, certior longe quam quae fit verbis.« Dann: »Denique, si quis theoriam à praxi separat, tanquam minus necessariam, aufert à Theologia praecipuum, imo unicum ad pietatem motivum. Quid enim nos movere debet ad praxin, quam vera rerum salutarium theoria?« 130 Vgl. Werenfels: Examinatur quaestio (Anm. 127), S. 299 (Ausbildungsziel: Vermittlung nützlicher Kenntnis für den Pfarrdienst); S. 300 (die Aufzählung der für die Seelsorgetätigkeit des Pfarrers notwendigen praktischen Fähigkeiten, die, ständig praktiziert, verbessert werden können und sollen).
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inhaltliche Positionierung des Basler Gelehrten eignet, ist fraglich, aber hier nicht weiter zu verfolgen. Fest steht, dass sowohl Werenfelsʼ hier analysierte theologische Kleinschriften als auch seine vorgestellten philosophischen Texte in der Tradition humanistischer Rhetorik stehen und das bislang vorherrschende Bild des (kritischen) Descartes-Rezipienten um diese zweite, nicht minder wichtige, ideengeschichtliche Dimension zu ergänzen ist.131 So gesehen war die zeitweise stark von Werenfelsʼ Persönlichkeit geprägte theologische Fakultät der Universität Basel just in der Zeit, in der Descartes und dessen Anhänger als (durchaus kritisch) rezipierte Autoritäten in der philosophischen Einzug hielten, ein Hauptstützpunkt des von alters her gepflegten christlichen Humanismus. Diese autochthone, unter anderem mit dem Wirken Sebastian Castellios132 zu erklärende humanistische Strömung wurde von außen unterstützt durch die ab dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts von westeuropäischen Gelehrten erneuerte Toleranzdebatte. In Basel war die hauptsächlich von Samuel Werenfels verkörperte Frühaufklärung nämlich von englischen, niederländischen und französischen Einflüssen durchsetzt.133 Für den frankophonen Bereich soll hier zum Schluss, trotz des immer noch sehr vorläufigen Kenntnisstands, auf die Wirkung des Cartesianers Nicolas Malebranche (1638‒1715) hingewiesen werden. Auch, aber nicht nur wegen der persönlichen, in Paris gemachten Bekanntschaft mit dem Franzosen rief Weren-
|| 131 Vgl. dazu auch das dritte Kapitel in Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1): Umanesimo e filologia: tra Erasmo e Jean Le Clerc (S. 123‒172). Mein Aufsatz akzentuiert im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Basler Rhetorikunterricht des 18. Jahrhunderts rhetorik- und disputationsgeschichtlich relevante Gesichtspunkte. 132 Vgl. Hans Rudolf Guggisberg: Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt vom Späthumanismus bis zur Aufklärung. Basel/Stuttgart 1956; ders.: Sebastian Castellio. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1997. Werenfels: De stilo (Anm. 43), S. 322, schließt mit einem die res stärker als die verba gewichtenden Zitat (»neque rem vere amat is, quem ab ea cognoscenda retrahit inculta oratio«) aus dem Widmungsbrief an den englischen König Eduard VI., dem Castellio seine lateinische Bibelübersetzung zueignete (Biblia interprete Sebastiano Castalione [Basel 1551]), und hält damit die Erinnerung an den savoyischen Humanisten wach. Zu Castellio vgl. Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 157. 133 Den Einfluss westeuropäischen (erasmisch gefärbten) Toleranzdenkens hebt Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 123‒127, hervor. Der autochthone Anteil erscheint ebenfalls nicht unbedeutend, ist aber noch genauer zu erforschen. Zum Topos wurde das Weiterleben des erasmischen Geists, der das kulturelle Leben in der Rheinstadt bis auf den heutigen Tag bestimme und auszeichne; auch hier sind auf das 17. und das 18. Jahrhundert bezogene wirkungsgeschichtliche Differenzierungen weiterhin möglich und wünschbar.
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fels Malebranche an Schlüsselstellen seines Werks als Autorität an.134 Die harsche Gelehrsamkeits- und Vorurteilskritik, wie sie der französische Philosoph in seinem Opus De la recherche de la vérité (Paris 11674/75), einer Phänomenologie des Irrtums und der menschlichen Schwächen, immer wieder verlauten ließ, dürfte für Werenfelsʼ eigene Verurteilung missbräuchlicher gelehrter Praktiken wichtig, ja wegleitend gewesen sein, nicht zuletzt, weil in Malebranches Hauptwerk der cartesianische Rationalismus und die Lehre vom Sündenfall mit dem humanistischen Gelehrtenideal ein Bündnis eingingen, während Descartes selber den studia humanitatis weit kritischer als sein französischer Anhänger gegenüberstand. Der Metaphysik konnte Werenfels als Theologieprofessor nichts abgewinnen; sie stand für ihn auf derselben Stufe wie die schlecht beleumunde-
|| 134 Wichtige Stellen, an denen Malebranche mit Namen vorkommt (in den Reden werden Autoritäten eher selten erwähnt oder gar zitiert; auch fehlen dort Literaturnachweise): Samuel Werenfels: Dissertatio de logomachiis eruditorum. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 1‒116, hier cap. V, S. 55; cap. VI, S. 64, 71 (»acute saepe à nobis laudatus Malebrancius: ad quem lectores remittimus.«); cap. VII, S. 81; ders.: Meditatio de atomis. In: S. W.: Opuscula II (Anm. 4), S. 153‒169, hier S. 167, Malebranche »magnus in caeteris Cartesii admirator, qui, in aureo illo de Inquirenda Veritate libro, pluribus, & recte mea quidem sententia, probat«. Vgl. Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 311, Beleg aus Werenfelsʼ Brief an Jean-Alphonse Turrettini vom 5. September 1700. Zur persönlichen Bekanntschaft vgl. Ryhiner: Vita (Anm. 5), S. 59; Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 87 (Begegnung), S. 130, 139 (Lektüre); Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 79, erwähnt Malebranche beiläufig, der die rationale Bekämpfung der Vorurteile als Vorstufe gnadenhafter Erleuchtung betrachte, ›éclairer‹ im doppelten Wortsinn gebrauche, keine systematische Theorie des Vorurteils entwickelt habe und wohl »in der Aufklärung nicht sehr wirksam« gewesen sei auch wegen seiner »okkasionalistischen Mystik und Metaphysik« (ebd.). Lesenswert in Malebranches De la recherche sind sämtliche Passagen zur Gelehrsamkeits- und Vorurteilskritik; wichtig vor allem das achte Kapitel des vierten Buchs, das u. a. den sens commun als Autorität würdigt, die Zitierwut der Polyhistoren moniert und Scheingelehrsamkeit im Allgemeinen verurteilt. In der vorbehaltlosen Anerkennung der Autorität der römischen Kirche folgte Werenfels Malebranche (viertes Buch, drittes Kapitel) freilich nicht. Zur unterschätzten Rezeption Malebranches im 17. und 18. Jahrhundert in deutschsprachigen Ländern äußere ich mich eingehender an anderer Stelle, vgl. das Beispiel: Johann Georg Pritz (Präses)/Johann Adam Fickweiler (Respondent): Viri cl. P. Francisci [sic] Malebranchii congregationis oratorii presbyteri enthusiasmus. 30. Dezember 1710. Greifswald. Allein die Tatsache, dass in Genf innert kürzester Zeit vier Ausgaben von Malebranches De la recherche in lateinischer Übersetzung erschienen (1685, 1689, 1690, 1691), zeugt von der Anziehungskraft dieses Werks auf die Gelehrten. Auf die frühe Malebranche-Rezeption im deutschen Sprachgebiet geht Geneviève Rodis-Lewis nur sehr punktuell ein. Vgl. Geneviève Rodis-Lewis: § 19. Nicolas Malebranche, § 20. Malebranchisten und Antimalebranchisten. In: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Frankreich und die Niederlande. Basel 1993, S. 711‒763, 764‒839.
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te mittelalterliche Scholastik und deren ihm unerträglicher Hang zu unnützen Spitzfindigkeiten. Der reformierte Samuel Werenfels, der über die binnenkonfessionellen Grenzen des Protestantismus hinauswirkte, kann als Repräsentant eines ideengeschichtlichen Zweigs der Frühaufklärung gelten, der dem ebenfalls um eine Annäherung der innerprotestantischen Konfessionen bemühten Lutheraner Christian Thomasius auch hinsichtlich seines Einflusses gleichkam.135 Die zahlreichen Editionen werenfelsscher Kleinschriften und die vielen Paratexte, die ihnen zugeordnet sind, ermöglichen ebenso wie die Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Französische und Holländische, zusammen mit den Einzelausgaben der Dissertationen, dem Briefwechsel und den Rezensionen zu den Werken des Basler Theologen in Gelehrtenzeitschriften, die lohnende Fortsetzung historischer Kontextualisierungsarbeit.136 Der Inhalt der fragmentarisch anmutenden Kleinschriften wird von einem Gerüst vor allem von Schlüsselbegriffen einer erkenntnistheoretischen Diagnostik wie Vorurteil, Nutzen, Praxis sowie von immer wieder aufgegriffenen ethischen und theologischen Fundamentalkategorien zusammengehalten und getragen. Dieser minimale Begriffsvorrat ließ sich leicht behalten und einprägen; er überforderte das Auffassungsvermögen der Adressaten nicht. Es blieb Raum für die Ausbildung und ständige Verbesserung des kritischen Urteils in der Praxis und durch die Praxis: Den optimistischen Glauben an diesen Fortschritt brachte Jean-Frédéric Ostervald in seinem System- und Lehrbuchansprüchen genügenden Traité des sources de corruption auf die Formel: »Le Siécle est esclairé, la Religion est establie & esclaircie mieux que jamais.«137 Werenfels legte, wie sein Neuenburger Freund, aber bloß in vielen Kleinschrif|| 135 Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 131, hält Werenfelsʼ Ausrichtung auf die niederländische und englische Gelehrtenliteratur fest: »è difficile stabilire se lesse Wolff e Thomasius; è certo tuttavia che lʼambito delle sue frequentazioni libresche era orientato verso la cultura anglo-olandese, piuttosto che verso quella tedesca.« Werenfelsʼ Einfluss hatte, wie die Übersetzungen einiger seiner Publikationen in verschiedene europäische Sprachen zeigen, eine größere geographische Reichweite als Christian Thomasius, der aber durch umfangreichere Werke, insbesondere Lehrbücher, und dank der Auseinandersetzungen, in die er verwickelt war, eine bedeutende Wirkung entfaltete. 136 Ebd. stehen Werenfelsʼ Position in der frühneuzeitlichen Toleranzdebatte, das Naturrecht, die Ablehnung des Gewissenszwangs, insbesondere die Schrift De jure in conscientias, ab homine non usurpando epistola im Mittelpunkt. 137 Jean-Frédéric Ostervald: Traité des sources de la corruption, seconde partie (Anm. 111), S. 307. Im ersten Teil der Abhandlung widmete der Verfasser den Vorurteilen als Ursachen sittlichen Zerfalls ein eigenes Kapitel: »Source II. Les Prejugez & les Fausses Idées sur la Religion« (S. 46‒80).
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ten, in der von ihm vertretenen pragmatisch-utilitaristischen Theologie Wert auf die ständige moralische Bewährung des Menschen unter den unwiderruflichen Bedingungen des Sündenfalls. Der Leistungs- und Überzeugungskraft einer von sittlicher Praxis getragenen und im Dienst reformatorischen Glaubens stehenden Beredsamkeit138 vertraute der Basler Gelehrte ungeachtet der sprachphilosophischen Kritik, die sein Werk bereits in den Anfängen seiner universitären Laufbahn als Oratorikprofessor geprägt hatte.
|| 138 Hermanin: Samuel Werenfels (Anm. 1), S. 199, betont die von der cartesianischen Tradition genährte rationalistische Komponente in Werenfelsʼ Werk, die aber die rhetorische nie zu verdrängen vermochte und die, im Gegenteil, mit der Wirkungspotenz geistlicher Affekte zuweilen ein starkes Bündnis einging.
Frank Grunert
Feindschaft, Freundschaft, Sicherheit Zur Klugheitslehre von Christoph August Heumann
1 Gleich nachdem die von Christoph August Heumann verfasste Klugheitslehre 1714 unter dem Titel Der politische Philosophus, Das ist vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben1 erschienen war, zeigte sich der Rezensent in den Deutschen Acta Eruditorum davon überzeugt, dass man Heumanns Buch »mit gantz andern Augen« werde ansehen müssen »als die andern Schrifften, die etwan den Nahmen politisch führen«.2 Der Politische Philosophus liege zwar im Trend einer lebendigen Nachfrage, doch während diese dazu geführt habe, dass eine »Grille«, die »ein müßiger Kopff« ausgeheckt habe, sich gleich unter dem »Titul politisch«3 präsentieren dürfe, verfolge Heumann deutlich weitergehende Ansprüche. Und zwar biete er weder – wie üblich – ein bloßes Regelwerk der Klugheit, noch befasse er sich – wie die anderen »politischen Scribenten« – mit der auf den gemeinen Nutzen zielenden politischen Klugheit des Staates; vielmehr sei sein Interesse – in der Nachfolge von Thomasius’ Prudentia Consultatoria – auf »die Hauß-Politic oder Privat-Klugheit« gerichtet. Heumann sei es zu danken, dass er »solche Disciplin hiermit in einem kurtzen Begriff entworffen, und sich sowohl als andern die Gelegenheit an die Hand gegeben [habe], der Sache ferner nachzudencken, und solche mit der Zeit mehr und mehr auszuarbeiten«.4 Der damit angedeutete eher grundlegende und systematisierende Zugriff auf eine gelehrte Materie, die nach Auffassung des Rezensenten trotz des
|| 1 Christoph August Heumann: Der politische Philosophus. Das ist / vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben. Frankfurt a. M./Leipzig 1714. Zufinden in der Rengerischen Buchhandlung. 2 [Anonym]: Rezension zu: Der politische Philosophus, das ist, Vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben, aufgesetzet von Christoph August Heumann, des Fürstl. Seminarii Theologici zu Eisenach Inspectore. Franckfurt und Leipzig 1714. Zu finden in der Rengerischen Buchhandlung. 8.15. Bogen. In: Deutsche Acta eruditorum oder Geschichte der Gelehrten, welche den gegenwärtigen Zustand der Litteratur in Europa begreiffen. Leipzig 1714, S. 148. 3 Ebd., S. 147. 4 Ebd., S. 148.
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allgemeinen Interesses noch nicht hinreichend geklärt und durchdacht worden war, dürfte dazu führen, dass dem Politischen Philosophus nicht das gleiche Schicksal widerfahren werde wie dem Gros des politischen Schrifttums, das schnell und zu Recht dem Vergessen anheimgefallen sei. Mit dieser positiven Einschätzung stand der Rezensent der Deutschen Acta Eruditorum nicht allein, auch im Bücher-Saal der Gelehrten Welt erschien beinahe zeitgleich eine freundlich-erfreuliche Besprechung, die Heumanns Buch für durchweg »lobens-würdig« hielt, wobei die »angenehme Ordnung«, die »deutliche Schreib-Art« und vor allem die Verwendung der deutschen Sprache hervorgehoben wurden. Denn durch Letztere könnten »auch Ungelehrte sich […] hieraus erbauen«, was der Rezensent diesen auch dringend ans Herz legt, denn solcherart angeleitet, würden – so die ausdrückliche Erwartung – vielleicht manche »nicht so, wie das Vieh leben«.5 Der erwartete Erfolg ist tatsächlich nicht ausgeblieben: Von Heumanns Politischem Philosophus erschien – freilich »sehr vitiös«6 – noch im selben Jahr in Langensalza ein Raubdruck,7 eine nicht realisierte englische Übersetzung soll – nach Angaben von Heumanns Biograph Georg Andreas Cassius – immerhin vorbereitet, dann aber wegen befürchteter sprachlicher Unzulänglichkeiten doch nicht realisiert worden sein.8 Das offenkundige Interesse am Politischen Philosophus dürfte nicht zuletzt durch eine Gegenschrift eher befördert als behindert worden sein, die ein halbes Jahr nach Erscheinen der Originalausgabe anonym und ohne Ortsangabe publiziert wurde.9 Dabei handelte es sich – wie
|| 5 [Anonym]: Rezension zu: Heumann, Christoph August, Der politische Philosophus. In: Neuer Bücher-Saal der Gelehrten Welt, oder Ausführliche Nachrichten von allerhand neuen Büchern und andern Sachen, so zur neuesten Historie der Gelehrsamkeit gehören. Die XXXV. Oeffnung. Leipzig 1714, S. 796f. 6 Georg Andreas Cassius: Ausführliche Lebensbeschreibung des um die gelehrte Welt hochverdienten D. Christoph August Heumanns, gewesenen ordentlichen Lehrers der Theologie, Philosophie, und Historie der Gelahrtheit zu Göttingen, aus Desselben im MSt. hinterlassenen und anderen zuverläßigen Nachrichten verfasset und zum Drucke befördert. Kassel 1768, S. 288. 7 Das Titelblatt gibt als Verlagsort »Franckfurt und Leipzig« an, unterlässt aber naheliegenderweise den Hinweis auf die Rengerische Buchhandlung. Orthographie, Paginierung sowie Details in der Ausführung des Titelkupfers weichen von der offenbar kurz zuvor erschienenen autorisierten Ausgabe ab, inhaltliche Differenzen existieren allerdings nicht; der Raubdruck wird im Folgenden nicht zu Belegzwecken herangezogen. 8 Ebd., S. 288. 9 [Anonym]: Kurtze und gründliche Anmerckungen über Herrn Christoph August Heumanns, des Fürstl. Seminarii Theolgogici zu Eisenach Inspectoris so genannten Politischen Philo-
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Heumann selbst mitteilt10 – um eine kritische Einlassung des Eisenacher Hofpredigers Johann Siegmund Münch,11 der vor allem daran Anstoß nimmt, dass Heumanns säkulare – um nicht zu sagen ›aufklärerische‹ – Klugheitslehre die Einflussmöglichkeiten der Geistlichkeit auf Denken und Handeln des Einzelnen erheblich einschränkt. Denn wer beispielsweise dem von Heumann erteilten Rat folge und seine Fehler allenfalls dem »Hertzens-Freund« offenbare, ist für die geistliche correctio fraterna und damit für eine auf das Innere des Menschen zielende, dirigierende Seelsorge nur noch schwer zu erreichen.12 Die Konfliktlinie zwischen einem auf Heteronomie setzenden und an seinem geistlichen Einfluss festhaltenden Klerus einerseits und einer die individuelle Autonomie zumindest anstrebenden Aufklärung andererseits wird hier in einer für die Zeit typischen Weise sichtbar. Zehn Jahre später – also 1724, als Heumann schon sieben Jahre in Göttingen tätig war – erschien schließlich eine zweite Auflage beim ursprünglichen Verlag, die sich auf dem Titelblatt – offenbar unter Einrechnung des Raubdruckes – werbewirksam als dritte, verbesserte und vermehrte Auflage bezeichnet.13 Diese Auflage war zwar autorisiert, doch – zumindest dem Vorgeben nach – nicht
|| sophum welche bey Durchlesung dieses Tractats hin und wieder großes Licht geben können, o.O. 1714. 10 Vgl. Cassius: Ausführliche Lebensbeschreibung (Anm. 6), S. 288 und S. 388. 11 Nach Auskunft von Jöchers Allgemeinen Gelehrten-Lexicon war der in Leipzig ausgebildete lutherische Theologe Johann Siegmund Münch (oder: Mönch) von 1698 an »Ober-Hofprediger, fürstlicher Beichtvater, Kirchen- und Consistorial-Rath« in Eisenach, er starb am 21. Dezember 1732. Vgl. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Leipzig 1751. Nachdr. Hildesheim 1961, Sp. 746. 12 Vgl. dazu die Rezension in Deutsche Acta eruditorum (S. 156f.), die – offenbar ohne den Verfasser zu kennen – die Gegenschrift vergleichsweise ausführlich referiert. Interessanterweise war Münch an Heumanns Berufung nach Eisenach beteiligt. Vgl. dazu Cassius: Ausführliche Lebensbeschreibung (Anm. 6), S. 138 und 140. Gut denkbar, dass sich Heumanns Position in Eisenach nach Erscheinen seiner Klugheitslehre und der von Münch lancierten Kritik verkompliziert hatte, so dass ihm der gut dotierte, 1717 erfolgte Ruf nach Göttingen nicht ungelegen kam. Vgl. dazu auch Günter Mühlpfordt, der einen Zusammenhang zwischen Münchs Kritik und der wenig später durch Heumann erfolgten Rufannahme herstellt und ausdrücklich von einer Vertreibung spricht (Günter Mühlpfordt: Ein kryptoradikaler Thomasianer: C. A. Heumann, der Thomasius von Göttingen. In: Werner Schneiders [Hg.]: Christian Thomasius 1655– 1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, S. 305–334, hier S. 308 und 332). 13 Der Politische Philosophus, Das ist Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben / Ehemahls aufgesetzet Von C.A.H. Anjetzo aber Bey dieser dritten Auflage verbessert und vermehret Von A.S.P. Franckfurt und Leipzig 1724, Nachdr. Frankfurt a. M. 1972. Zu finden in der Rengerischen Buchhandl. Falls nicht anders verzeichnet, wird im Folgenden jeweils die erste Auflage herangezogen.
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vom ursprünglichen Verfasser veranstaltet worden. Zwar wird in der »Neuen Vorrede« gleich zu Beginn betont, dass der »Herr Inspect. Heumann diesen Politischen Philosophum zuerst an das Tages-Licht stellete«, dennoch wird Heumanns Verfasserschaft auf dem Titelblatt nicht in der Weise hervorgehoben, die man eigentlich hätte erwarten können. Heumann taucht nur mit seinen Initialen auf: Der Politische Philosophus sei »ehemahls aufgesetzet Von C.A.H. Anjetzo aber Bey dieser dritten Auflage verbessert und vermehret Von A.S.P.«. In der »Neuen Vorrede« führt der Bearbeiter – reichlich vage – »entweder andere Verrichtungen, oder besondere mir unbekante Ursachen« an,14 die Heumann daran gehindert hätten, die von der Frau Verlegerin gewünschte neue Edition zu besorgen. Die Verbesserung und Vermehrung des Buches galten 1.) dem Stil, »welcher in der ersten Edition, vermuthlich wegen Eilfertigkeit des Herrn Verfassers, nicht an allen Orten rein und fein war«,15 2.) einer der Lesbarkeit des Textes zu Gute kommenden Aufnahme von weiteren Beispielen und Belegen16 sowie 3.) der Angliederung eines zusätzlichen, der Freundschaft gewidmeten Kapitels. Letzteres ist deswegen von besonderem Interesse, weil Heumann in der ersten Auflage seiner Klugheitslehre entgegen zahlreicher Textbelege behauptet, die Freundschaft nur im Rahmen seiner die Ehe betreffenden Ausführungen zu berücksichtigen, und zwar deswegen, weil sie als Wirkung der Tugend »mehr in die Tugend-Lehre«,17 nicht aber in die davon unterschiedene Klugheitslehre gehöre. Schließlich wurde 4.) in der dritten Auflage des Politischen Philosophus auf die zum Teil ausführlichen Register verzichtet, die noch
|| 14 Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), Neue Vorrede, unpag. 15 Ebd. 16 Damit wurde offenkundig auf ein Monitum reagiert, das ein Rezensent in der Neuen Bibliothec erwähnt: dem Politischen Philosophus – so heißt es dort – seien »quotidiana und geringe Remarquen« vorgeworfen worden. Allerdings nimmt der Rezensent Heumann dagegen in Schutz: »Diß sey die Quelle aller Pedanterey, daß man einfältige Wahrheiten mit schweren terminis fürtragen, und mit dem Abracadabra weitgesuchter Beweißthümer verhüllen wollte.« Siehe: Neue Bibliothec Oder Nachrichten und Urtheile von neuen Büchern und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen. Vier und dreißigstes Stück, Franckfurt und Leipzig 1714, S. 322. Vgl. dazu Falko Schneider, der durch den »Ballast unzähliger lateinischer Zitate und Anmerkungen« Heumanns »Verwurzelung in einer späthumanistischen Gelehrtenkultur« belegt sieht. Im Gegensatz zu Thomasius gelinge es Heumann daher nie, »den Staub der Gelehrtenstube abzuschütteln«. Allerdings scheint Schneider keine Kenntnis davon zu haben, dass die Unzahl gelehrter Belege erst der dritten Auflage hinzugefügt wurde. Siehe Falko Schneider: Öffentlichkeit und Diskurs. Studien zur Entstehung, Struktur und Form der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Bielefeld 1992, S. 149. 17 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 19.
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den beiden früheren Auflagen beigegeben waren.18 Das mag schlichte pragmatische Gründe gehabt haben, die etwa mit der ökonomischen Rücksicht zusammenhängen können, den ohnehin beträchtlich angewachsenen Umfang des Bandes in vertretbaren Grenzen zu halten.19 Allerdings trug diese Entscheidung dazu bei, dass das Buch seinen Charakter nachhaltig veränderte. Konnte das Werk in seinen beiden früheren Auflagen noch mit Hilfe des differenzierten Sachregisters, d. h. mit der Hilfe von Schlagworten, gezielt und punktuell als Ratgeber konsultiert werden, der nicht unbedingt den Regeln einer fortlaufenden Lektüre unterworfen war, so fiel mit dem Verzicht auf das Register diese Nutzungsmöglichkeit weg. Der Politische Philosophus wurde durch diese in der dritten Auflage vorgenommenen Änderungen diskursiver, d. h. gelehrter und daher in gewisser Weise ›unpraktischer‹. Um wen es sich bei dem anonym bleibenden Bearbeiter handelt, der sich am Ende der neuen Vorrede »Amator Sapientiae Politicae« nennt, konnte nicht ermittelt werden, was insofern kaum erstaunlich ist, als die Recherche ernst zu nehmende Indizien ergeben hat, die darauf hinweisen, dass es sich bei dem vorgeblichen Bearbeiter um eine Fiktion handelt. So ist bereits bemerkenswert, dass weder bei Cassius noch in einem der üblichen Nachschlagewerke – Kompendien der Historia literaria oder Pseudonymen- bzw. Anonymenlexika – die Identität des Bearbeiters aufgedeckt wird. Das Werk wird jeweils ohne Erwähnung des Bearbeiters umstandslos und ausschließlich Heumann zugeschrieben.20 Schon von daher liegt die Annahme nahe, dass Heumann selbst die Bearbeitung vorgenommen hat. Durchaus denkbar ist, dass Heumann, die in Eisenach entstandenen Misshelligkeiten vor Augen21 und mit Blick auf seine nicht unbeträchtlichen Pflichten in Göttingen, es für angezeigt hielt, sein eigenes Engagement zu verschleiern und einen fremden Bearbeiter vorzugeben, dem dann
|| 18 Die erste Auflage verfügt über drei Register: 1. das »Register der Capitel«, 2. das »Register der Autorum«, das wegen fehlender Seitenzahlen als Register unbrauchbar ist, und 3. das umfangreiche, nicht weniger als 29 Seiten beanspruchende »Register derer vornehmsten Sachen«. 19 Während die erste Auflage des Politischen Philosophen sich noch mit 185 Seiten ohne Register bescheidet, ist die dritte auf 320 Seiten angewachsen. 20 Das gilt übrigens auch für Heumann selbst. In den Vorreden zu seinem vielfach aufgelegten Conspectus reipublicae sive Via ad Historiam literariam führt er jeweils seine eigenen Publikationen auf, in diesem Zusammenhang wird auch die dritte Auflage des Politischen Philosophus erwähnt, allerdings nur mit dem Hinweis »auctior editio«. Der angebliche Bearbeiter bleibt ungenannt, nicht einmal die Initialen A.S.P. tauchen auf, Heumann sieht sich offenbar als alleinigen Autor der Auflage von 1724. 21 Vgl. oben Fußnote 12.
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im eventuellen Konfliktfall die Verantwortung für die neuerlichen Ungelegenheiten zugeschoben werden könnte. Ein konkreter Anhaltspunkt für Heumanns tatsächliche Autorschaft könnte ein Hinweis sein, den Cassius aus den hinterlassenen Manuskripten von Heumann zitiert. Mit Blick auf die Reaktionen, die der Politische Philosophus ausgelöst hatte, verweist Heumann mit den Worten »Vid. mea praefatio nova ad den politischen Philosophum«22 auf die neue Vorrede der Auflage von 1724 und gibt sie damit – entgegen der ursprünglichen Prätention – ausdrücklich als seine eigene aus. Entscheidend für den Nachweis von Heumanns tatsächlicher Autorschaft dürfte aber der folgende Textbeleg sein: In dem neuen, der Freundschaft gewidmeten Kapitel, das angeblich der Bearbeiter verfasst haben soll, verweist der Autor mit den Worten »die ich schon oben Cap. I., §. 15. gegeben habe«23 auf eine Textpassage, die unzweifelhaft auf Heumann zurückgeht, und gibt so durch den Gebrauch der ersten Person Singular zu verstehen, dass der Autor des zusätzlichen Kapitels über die Freundschaft mit dem Verfasser der Heumann zugeschriebenen Passage identisch ist. Insofern wird an dieser Stelle die in der neuen Vorrede wortreich aufgebaute Fiktion von A.S.P. als dem fremden Bearbeiter konterkariert: Heumann selbst – so darf man annehmen – verbirgt sich hinter dem fingierten Bearbeiter und ist daher in jeder Hinsicht für die dritte Auflage verantwortlich.
2 Heumanns Politischer Philosophus gehört in den Kontext einer im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert zu beobachtenden bemerkenswerten Konjunktur des prudentiellen Denkens, die Andreas Luckner zu Recht zu der Bemerkung veranlasste, dass die Klugheitslehren im 17. Jahrhundert »wie Pilze aus dem durch die Glaubenskriege erschütterten Boden der Moral« schossen. Daher hält Luckner es für angebracht, das 17. Jahrhundert als ein »Jahrhundert der Weltklugheit« zu bezeichnen.24 Und in der Tat: Obwohl die Klugheit sowohl
|| 22 Cassius: Ausführliche Lebensbeschreibung (Anm. 6), S. 288. 23 Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 301. 24 Andreas Luckner: Klugheit. Berlin 2005, S. 127. Dieser Befund schlägt sich freilich weder in seinem eigenen Quellenverzeichnis noch in der von Sven Schmuhl zusammengestellten Bibliographie nieder. Beide in vielerlei Hinsicht bemerkenswert übereinstimmende Verzeichnisse führen zwar Hegels Phänomenologie des Geistes und eine deutsche Übersetzung von Highsmiths The talented Mr. Ripley an, die Vielzahl der mit Klugheit befassten, im fraglichen Zeit-
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in der Antike als auch im Mittelalter in vergleichsweise hohem Ansehen stand, ist doch die Intensität beachtlich, mit der man sich ihrer in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angenommen hat. Dabei fällt auf, dass es in den hundert Jahren, in denen der Klugheit ein verstärktes Interesse entgegengebracht wurde, nicht um eine vergleichsweise abstrakte Erörterung der Klugheit als Tugend im Hinblick auf andere Tugenden ging – man denke nur an Thomas von Aquins Charakterisierung der prudentia als »genitrix virtutum«25 –, sondern um eine relativ konkrete Anleitung zur erfolgreichen Bewältigung sozialer Handlungsanforderungen. Selbstverständlich war man auch an einer theoretisch wie praktisch angemessenen Definition der Klugheit interessiert, an ihrem Verhältnis zur Moral und zur Weisheit, doch ging es in erster Linie um Klugheit als Klugheitslehre, d. h. um konkrete, »vernunfftmässige« Anweisungen, »sich selbst und andern in allen menschlichen Gesellschafften zu rathen, und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen« – wie es etwa im Titel der ausnehmend wirkungsmächtigen Klugheitslehre von Christian Thomasius heißt. Dass man vor allem an konkreter Klugheitslehre und weniger an Klugheitsspekulation interessiert war, ist für die angemessene historische Einordnung des Phänomens alles andere als nebensächlich. Die Konjunktur der Klugheitslehren scheint nicht oder zumindest nicht allein auf die durch die Religionskriege ausgelöste oder auch nur manifest gewordene moralische Krise zurückführbar zu sein. Für die aussichtsreiche Bear-
|| raum erschienenen und leicht zu ermittelnden Titel – für die Zeit zwischen 1600 und 1800 verzeichnet der Gemeinsame Verbundkatalog 608 Einträge zum Titelstichwort ›Klugheit‹ und 954 weitere zum Stichwort ›prudentia‹ – findet allerdings keine angemessene Berücksichtigung. Die historisch hervorstechenden Klugheitslehren von Thomasius und Heumann werden jedoch nicht übergangen. Vgl. Sven Schmuhl: Klugheit/prudentia/prudence. Eine Bibliographie. In: Wolfgang Kersting (Hg.), Klugheit. Velbrück 2005, S. 318–353. Wichtige Studien zu Begriff und Geschichte der Klugheitslehre hat – von Luckner und Schmuhl unbemerkt – Merio Scattola vorgelegt, siehe vor allem Merio Scattola: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna. Milano 2003; ders.: »Prudentia se ipsum et statum suum conservandi«: Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 333–363. Siehe auch Werner Schneiders: Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre. In: W. S.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Berlin 2005, S. 225– 244; Heinz Mohnhaupt: »Prudentia«-Lehren im 17. und 18. Jahrhundert. In: Mario Ascheri u. a. (Hg.): »Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert«. Festschrift für Knut Wolfgang Nörr. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 617-632; und Andreas Luckner: [Art.] Klugheit. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 2. Hamburg 2010, S. 1227-1232. 25 Thomas von Aquin: III Sententiarum dist. 33, q. 2, a. 5.
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beitung der aus den Glaubensauseinandersetzungen entstandenen normativen Probleme wurde bekanntlich die – wie sich später herausstellen sollte – epochenprägende moderne Naturrechtslehre entwickelt, deren normativem Kern die Klugheitslehre nicht unmittelbar zugehört. Dennoch verhalten sich Naturrecht und Klugheitslehre – zumindest in der für den Thomasianismus charakteristischen Variante – zueinander komplementär. Denn einerseits schafft das Naturrecht die normativen Grundlagen, auf denen die Klugheitslehre wirkungsvoll aufbauen kann, andererseits ist die Klugheitslehre geeignet, eine Lücke zu schließen, die das Naturrecht im Hinblick auf die Produktivität sozialer Gestaltung gelassen hat. Dieser letzte Punkt lässt sich insbesondere an derjenigen Naturrechtskonzeption nachvollziehen, die Christian Thomasius in seinen Fundamenta iuris naturae et gentium entwickelt hat. Während das ›iustum‹ das äußerliche Handeln betrifft und es negativ begrenzt, bezieht sich das ›honestum‹ auf die innerlichen Handlungen und schafft dementsprechend innere Verpflichtungen, die nicht gegenüber anderen Menschen bestehen, sondern die der Einzelne sich selbst gegenüber hat.26 Das ›honestum‹ ist damit aller äußerlichen Verfügung entzogen und unerzwingbar, es zielt auf den innerlichen Frieden als die entscheidende Voraussetzung für den »höchsten Grad der Glückseligkeit«.27 So ist das ›honestum‹ in praktischer Hinsicht zwar von geringerer Bedeutung, weil es nur das »unterste Übel im Zaum«28 hält, d. h. die Unterlassung der von ihm gebotenen Verrichtungen haben nur innerliche Wirkungen, die unmittelbar niemand anderem schaden. In sittlicher Hinsicht ist es aber höherwertiger als das ›iustum‹, weil seine Regeln das höchste Gut befördern und Quelle der Weisheit sind. Während das ›iustum‹ genau genommen nur dann in einem normativen Sinne erfolgreich ist, wenn eine verbotene Handlung unterbleibt, und das ›honestum‹ sich auf das Innere des Menschen bezieht, bleibt für die Normierung von äußeren Handlungen, die in einem sozialen Sinne produktiv, d. h. nicht nur Vermeidung von Übeln sind, eigentlich nur das Anständige, das ›decorum‹. Obwohl das ›decorum‹ mit seiner Regel »Quod vis ut alii tibi faciant, tu ipsis facies«29 insofern auf sozial produktive Handlungen angelegt ist, indem es über eine Vor-
|| 26 Christian Thomasius: Fundamenta iuris naturae et gentium. Halle/Leipzig 1705, liber I, cap. 5, §§ 18, 24. Dt.: Grundlehren des Natur-und Völkerrechts [1709]. Nachdr. Hildesheim/ Zürich/New York 2003. 27 Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts (Anm. 26), Buch I, Kap. 6, § 79, S. 124. 28 Ebd., Buch I, Kap. 6, § 72, S. 122. 29 Thomasius: Fundamenta iuris naturae et gentium (Anm. 26), liber I, cap. 6, § XLI.
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leistung auf soziale Erträge hofft, die sich durch erwartete Reziprozität einstellen sollen, erweist es sich am Ende doch nur als ein soziales Schmiermittel, das die sozialen Abläufe reibungsloser vonstatten gehen lässt bzw. gehen lassen soll. Der sittliche Wert des ›decorum‹ ist ebenso begrenzt wie die Reichweite seiner sozialen Gestaltungskraft. Mit dem Naturrecht als Bündelung von ›iustum‹, ›honestum‹ und ›decorum‹ allein lässt sich mit Blick auf diese produktive soziale Gestaltung prima facie noch nicht viel erreichen.30 In dieser normativen Konstellation hat die Klugheit ihren Auftritt. In engem, bisweilen auch nur behauptetem Kontakt mit den moralischen Normen des Naturrechts lehrt sie die »Mittel / die zu Erlangung des gewünschten Endzweck’s dienen«.31 Sie wird daher allgemein – und eben auch von Heumann – als »Anleitung« verstanden, »wie man seine äuserliche Glückseligkeit befördern / das ist / wie man zu Ehre / Wollust und Reichthum gelangen / ingleichen / wie man sich Freunde und Gönner schaffen / und sich vor den Feinden sicher machen soll.«32 Klugheit setzt einen gewählten Endzweck voraus und verschafft in theoretischer Reflexion und praktischer Umsetzung die Mittel zu seiner Verwirklichung, und zwar einerseits defensiv im Sinne eines Statuserhalts, andererseits offensiv oder produktiv im Sinne eines Statusausbaus. Klugheitslehre als eine auf Praxis angelegte Disziplin und Klugheit als ein disziplinär angeleitetes Vermögen schaffen ein soziales Mehr, das als Nutzen individuell oder allgemein angeeignet werden kann. Insofern stellt die Klugheitslehre eine Disziplin dar, die in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die von Andreas Luckner betonte Orientierungsfunktion33 erfüllt und diese Orientierung immer schon funktional für spezifische Zwecke einsetzt. Klugheit vermittelt daher Orientierungswissen in konkret praktischer Absicht, d. h. mit Blick auf die Realisierung eines vorgesetzten Zieles. Das auffällige Interesse an der Klugheit als Privatklugheit, die individuelle Zwecksetzungen im Auge hat, und zwar unter der normativen, d. h. rechtlichen Ägide des Staates und im sozialen Kontext der sich differenzierenden Gesell-
|| 30 Vgl. dazu etwa Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechtsund Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 217–225. 31 Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit [1707]. Nachdr. Hildesheim/Zürich/New York 2002, Kap. 1, § 27, S. 10. 32 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 2. 33 »In Aufnahme dieses Konzepts, das so alt ist wie die praktische Philosophie, möchte ich unter ›Klugheit‹ im Folgenden diejenige erworbene Kompetenz einer Person verstehen, durch die sie sich selbst und damit ihr Handeln und Leben vernünftigerweise zu orientieren vermag (und damit zugleich diejenige Kompetenz, sich selbst und anderen in dieser Hinsicht raten zu können)« (Luckner: Klugheit [Anm. 24], S. 3).
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schaft, macht historisch darauf aufmerksam, dass praktisch zu besetzende Handlungsspielräume offenstanden, was wiederum zeigt, dass die traditionellen gesellschaftlichen Handlungsmuster und Verbindlichkeiten ihre Geltung verloren hatten oder wenigstens zu verlieren begannen.34 Historisch und theoretisch plausibilisieren lässt sich dieser Vorgang durch die schon beinahe clichésierte, theoretisch wie historisch aber dennoch ertragreiche Vorstellung von einer sich vollziehenden Änderung im Differenzierungsmodus der Gesellschaft, wie sie von Niklas Luhmann verschiedentlich beschrieben wurde. Die Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung öffnete auf der einen Seite neue Gestaltungsspielräume für den Einzelnen und brachte auf der anderen Seite neue Unsicherheiten hervor, die nun von dem Einzelnen zu bewältigen waren; d. h. der soziale, politische und ökonomische Erfolg war im Wesentlichen von der Eigeninitiative und dem Engagement des Einzelnen abhängig, was dazu führte, dass Erfolg wie Misserfolg nun individuell zurechenbar wurden. Und weil dies von den Akteuren wahrgenommen wurde, konnten sich – vor allem zu Beginn des 18. Jahrhunderts – hilfreiche Anleitungen zur Beförderung der eigenen zeitlichen Glückseligkeit reger Nachfrage erfreuen. Mit Hilfe kluger, d. h. sachgerechter Anleitungen sollten Unsicherheiten abgebaut und sozialer, nicht zuletzt ökonomischer Erfolg aufgebaut werden. Der Versuch, die durch die neue Situation entstandenen Unsicherheiten aufzufangen, schuf freilich zusätzliche Unsicherheiten, die nun von den ihrerseits interessierten und daher zu Mitbewerbern gewordenen Anderen ausgingen. In dem Augenblick nämlich, in dem die Akteure planvoll und systematisch daran gingen, Ressourcen für den eigenen sozialen, politischen und ökonomischen Erfolg zu entdecken, zu beanspruchen und auszubauen – um nichts anderes geht es in der Privatklugheitslehre –, entstand eine sich dynamisierende Konkurrenz um den Erwerb von sozialen und ökonomischen Ressourcen.35 So
|| 34 Vgl. dazu die folgende Feststellung von Leander Scholz: »Die antike prudentia-Lehre kann im 17. Jahrhundert deshalb zur ›Königin aller menschlichen Handlungen‹ werden, weil sie in einer Zeit der extremen konfessionellen und kriegerischen Auseinandersetzungen und dem Ringen der Stände um Ausdifferenzierung als einzige theoretische Weltbetrachtung die Fähigkeit lehrt, auf gesellschaftliche Unsicherheiten zu reagieren.« Und an anderer Stelle heißt es treffend: »Klugheit, oft als kurzfristiges machtstrategisches Denken mißverstanden, bildet um 1700 den Ort, an welchem dem Einzelnen praxeologisches Wissen zur Gestaltung seiner sozialen Welt zur Verfügung gestellt werden sollte« (Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002, S. 57 und 1). 35 Vgl. dazu auch Falko Schneider, der mit Blick auf die bei Thomasius und Heumann zugrunde liegende Vorstellung von Gesellschaft von einem »Assoziationsgeflecht konkurrierender Individuen« spricht: »Hier werden jene gesellschaftlichen und ökonomischen Chancen
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kam der Mitmensch nicht mehr nur als ein rollenmäßig definiertes Gegenüber, sondern als Konkurrent in den Blick, dessen tatsächliche und denkbare Aktionen, Intentionen und Aspirationen in der Konkurrenz um dieselben Ressourcen Berücksichtigung verlangten. Dieser Dynamik vermochte sich nur derjenige zu entziehen, der es sich leisten konnte, und auf Dauer konnte es sich niemand leisten. Insofern konnten die neuen Handlungsspielräume nicht nur von den Einzelnen im eigenen Interesse genutzt werden, sondern sie mussten schließlich möglichst erfolgreich genutzt werden, und zwar bei Strafe empfindlicher Nachteile. Der Status des Einzelnen, den es zu erwerben, zu erhalten und auszubauen galt, war ab dato mindestens latent andauernd bedroht. Das durch eine Vielzahl von Einzelpublikationen eindrucksvoll belegte, geradezu massenhafte Interesse an der Klugheit als Privatklugheit indiziert daher ziemlich unmissverständlich das definitive Ende der Gemütlichkeit – wenn es diese denn je gegeben haben sollte.
3 Das entscheidende Stichwort in diesem Zusammenhang ist ›Unsicherheit‹, die abgebaut werden soll, bzw. ›Sicherheit‹, die es mit der Hilfe klugen Handelns zu erlangen, zu festigen und auszubauen gilt. Von Sicherheit ist auch bei Heumann allenthalben die Rede. Schon die bereits zitierte Definition der Klugheit betonte Sicherheit gegenüber bestehenden Feinden. Die Annahme von Ehrenstellen steht auch einem weisen Mann nicht zuletzt deswegen gut an, weil sie Sicherheit verschafft. Und eine gute Heirat ermöglicht im günstigsten Fall die Verbindung zu einer einflussreichen Familie, die wiederum behilflich sein kann, Schaden abzuwenden und Sicherheit herzustellen. Das insgesamt durch eine erst aufzuhebende Unsicherheit gekennzeichnete soziale Feld befindet sich zwischen den potenziell oder aktuell Schaden stiftenden Feinden und den vor Schaden bewahrenden Freunden. Die ersteren müssen unschädlich gemacht werden, die letzteren als Bollwerk gegen äußere Zumutungen erworben und installiert werden. Dabei hat Heumann verglichen mit anderen Autoren – man denke nur an den ausgesprochen rührigen Julius Bernhard von Rohr – nicht wirklich viel vor. So sollte ein weiser Mann den »höchsten Gipfel der äuserlichen Glückselig-
|| vergeben, auf deren Nutzung die politische Klugheit den Politikus vorbereitet« (Schneider: Öffentlichkeit und Diskurs [Anm. 16], S. 151).
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keit« – was immer das sein sollte – gar nicht erst anstreben. Denn die äußerliche Glückseligkeit sei zwar ein bonum, jedoch mitnichten ein »summum bonum«. Und so sollte der weise Mann nur so viel an äußerlicher Glückseligkeit erlangen wollen, wie nötig sei, um sein »Gemüthe von Sorgen zu befreyen und unschuldiger weise zu vergnügen.«36 Insofern sei diejenige äußerliche Glückseligkeit die beste, die den weisen Mann mit »mittelmäßiger Ehre«, »mittelmäßigem Reichthum« und »mittelmäßigen Ergetzlichkeiten«37 versehe. Jedes Extrem – in welcher Richtung auch immer – hübe entweder bestehende Unsicherheiten und damit verbundene Beunruhigungen nicht auf oder brächte geschaffene Sicherheiten wieder in Gefahr. Das Erreichen dieser zwar mittelmäßigen, wohl aber zuträglichen äußerlichen Glückseligkeit ist grundsätzlich an die Realisierung von vier Grundregeln gebunden. Ihnen zufolge 1. muss der kluge Mensch gewiss sein, dass sein Ziel insofern ein verum bonum ist als seine Verwirklichung nicht mit dem Gewissen in Konflikt gerät. Denn durch die Störung der vernünftigen Gemütsruhe rückte die Glückseligkeit insgesamt gleichsam in weite Ferne; 2. muss der kluge Mensch realitätsgerecht seinen »Stand und seine Kräfte« reflektieren, denn von vornherein aussichtslose Unternehmungen sind schlicht töricht, stören natürlich die Gemütsruhe und bergen zusätzliche Gefahren; 3. kommt es darauf an, das die Handlungen und die Initiativen orientierende Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, ansonsten wird es entweder überhaupt verfehlt oder nicht in der rechten Zeit erreicht; 4. muss der Politicus ein »vir divinus« sein, d. h. er muss die Konsequenzen seines Handelns voraussehen, um so im Vorhinein die besten, sichersten und gewissesten Mittel zur Realisierung seines Zieles wählen zu können.38 Providentia ist hier ein Element der prudentia, nicht selten werden beide Begriffe im Klugheitsdiskurs synonym gebraucht.39 Diese einigermaßen naheliegenden Grundregeln stellen den Erfolg freilich noch nicht sicher. Hinzu kommen mentale Dispositionen. Heumann gibt sie zu erkennen, wenn er die subjektiven Hindernisse benennt, die den Erfolg klugen Handelns infrage stellen. Wendet man nämlich die aufgeführten Hindernisse
|| 36 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 5. 37 Ebd., S. 6. 38 Vgl. ebd., S. 6–8. 39 Vgl. dazu Mohnhaupt: »Prudentia«-Lehren (Anm. 24), S. 620.
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positiv, dann werden Voraussetzungen für den Erfolg klugen Handelns sichtbar, die zur Charakterisierung der von Heumann vorgelegten Klugheitslehre auch dann noch aufschlussreich sind, wenn sie im traditionellen Rahmen des Genres bleiben. Im Folgenden sollen die aufgeführte Hitzigkeit, Säumigkeit und der Mangel an Verschwiegenheit als subjektive Hinderungsfaktoren erfolgreichen Handelns nicht weiter berücksichtigt werden, sie spielen im Gesamttext auch keine weitergehende Rolle. Wegen ihrer beinahe systematisierenden, Heumanns Klugheitslehre zumindest aber erschließenden Funktion sind jedoch die von ihm erwähnten subjektiven Hinderungsfaktoren ›Furchtsamkeit‹, ›Vertrauensseligkeit‹ und die ›Unfähigkeit oder Unwilligkeit, verständige Freunde zu Rate zu ziehen‹ eines näheren Hinweises wert. Furchtsamkeit hatte schon Thomasius – und vor ihm sicher noch viele andere – als hinderlich für die Realisierung eigener Handlungsziele erkannt. Sie führe dazu, dass man von seinen ursprünglichen Planungen ablasse, und verschaffe den Widersachern unnötigerweise strategische Vorteile. Dem furchtsamen Mann setzte Thomasius den »hertzhafften« entgegen, der nicht kühn, sondern überlegt und rasch zu Werk geht.40 Heumann lässt diese Differenzierung zwischen dem auf sein Glück vertrauenden Kühnen und dem mit Vorsicht und Überlegung vorgehenden Herzhaften beiseite und favorisiert dagegen – ein wenig aggressiver als Thomasius – gerade den Kühnen, der frei und unerschrocken mit allen redet, der bereit ist, zu simulieren und zu dissimulieren und der sich bei »Staats- und NothLügen« schamlos darauf verlassen kann, dass ihn keinerlei Röte verrät.41 Dass er damit die Grenze zum moralisch Fragwürdigen überschreitet, würde Heumann sicher in Abrede stellen. Genauso wie es an anderer Stelle moralisch erlaubt und aus Gründen der Klugheit gar geboten ist, bei juristischen Verfahren den Richter mit gezielten Zuwendungen – Heumann spricht in diesem Zusammenhang vom »gewissenhaffte[n] Spendiren« – davon abzuhalten, sich ungerechterweise von der Gegenpartei bestechen zu lassen. Die gute Gabe geschieht im Dienste der Gerechtigkeit, denn ist die eigene Sache gerecht, so muss alles daran gesetzt werden, dass sie als solche auch wahrgenommen wird.42 An Stellen wie diesen zeigt sich dann doch eine sehr merkliche Distanz zu dem Juristen Christian Thomasius. Wie dem auch sei: Entscheidend ist hier der hohe Stellenwert der Furchtlosigkeit, die den Handelnden in die Lage versetzt, die gegebenen Handlungsmöglichkeiten weitestgehend auszuschöpfen. Furchtlosigkeit ist so gesehen eine Erfolgsoptimierungsvorausset-
|| 40 Thomasius: Kurtzer Entwurff (Anm. 31), Kap. 4, § 13, S. 78. 41 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 16. 42 Vgl. ebd., S. 139.
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zung, die, ihrer Bedeutung entsprechend, bei Heumann ein Erziehungsziel darstellt: »Furcht« – so heißt es im Kapitel über die »Klugheit in der Kinderzucht« – sei ein Affekt, der »immer mehr und mehr« ausgerottet werden müsse.43 Beim Vertrauen ist es nicht so einfach. Angesichts der Komplexität von Handlungen, Handlungsvoraussetzungen und Handlungsfolgen ist Vertrauen, d. h. die ungeprüfte, weil eben nicht immer überprüfbare, Unterstellung von Wahrheit und Richtigkeit, schlicht notwendig. Freilich gilt, dass Vertrauensseligkeit, d. h. das ungerechtfertigte Vertrauen, dem Handlungserfolg abträglich sein kann. Der Politicus ist daher – wie Heumann festhält – »ein mißtrauisch ens […]. Er trauet niemanden / ohne dem / den er inwendig und auswendig kennet: und verlässet sich ordentlich auf niemanden / als auf GOtt und sich selbsten.«44 In der Tat geht Heumann in dieser Frage recht weit. Zwar ist die Auffassung, es sei besser, Distanz zu halten und gegen andere immer »halb fremde« zu tun, als allzu leicht »vertraute Freundschaft«45 zu machen, noch einigermaßen gut nachvollziehbar, doch mag die Entschiedenheit erstaunen, mit der Heumann den Politicus davor warnt, derjenigen zu trauen, »die in seinen Armen schläffet«,46 denn gemeint ist damit kein liederliches Frauenzimmer, sondern die eigene Gattin. Sollte der kluge und daher erfolgreich handelnde Politicus bei Heumann letztlich ein isoliertes und völlig auf sich gestelltes Individuum sein, mithin die Karikatur dessen, was man häufig und zu Unrecht als den Kern der Klugheitslehre von Baltasar Gracián angesprochen hat? Doch so weit geht Heumann selbstverständlich nicht, zumal er in der erwähnten Aufzählung der subjektiven Hindernisse für den Handlungserfolg die Unfähigkeit oder den Unwillen, sich von »verständigen Freunden« raten zu lassen, ausdrücklich als erfolgsgefährdendes Moment benennt. Insofern wird das postulierte Misstrauen zu Beginn der Aufzählung durch die Notwendigkeit eines qualifizierten Vertrauens, nämlich zu Freunden, die dazu noch verständig sein müssen, in gewisser Weise wieder ausbalanciert. »Denn« – so stellt Heumann nach einem allgemeinen Sprichwort fest, das sich übrigens genauso an verschiedenen Stellen bei Christian Thomasius, und natürlich nicht nur bei ihm, wiederfindet – »vier Augen sehen ordentlich mehr / als zwey«47 und sind damit eher in der Lage, der
|| 43 Ebd., S. 103. 44 Ebd., S. 12. 45 Ebd., S. 26. 46 Ebd., S. 16. 47 Ebd., S. 14.
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Komplexität bestehender Handlungszusammenhänge gerecht zu werden. Insofern stellt Freundschaft die soziale Basis des Vertrauens dar.48 Obwohl Heumann vorgibt, deswegen nicht von der ›Freundschaft‹ handeln zu wollen, weil sie eine Wirkung der Tugend und daher Gegenstand der Tugendlehre und eben nicht der Klugheitslehre sei, ist im Politischen Philosophus auffällig häufig von Freundschaft die Rede. Als ein Remedium der Feindschaft und ihrer Wirkungen – gilt es doch Feinde zu Freunden zu machen49 – scheint Freundschaft geradezu einen Fluchtpunkt in Heumanns prudentistischer Reflexion darzustellen.50 Dies hatte Heumann offenbar im Nachhinein selbst erkannt, denn er fügt – wie oben erwähnt – der dritten Auflage des Politischen Philosophus ein vergleichsweise umfangreiches, ausschließlich der Freundschaft gewidmetes Kapitel hinzu.51 Dieses zusätzliche Kapitel wird nicht eingegliedert
|| 48 Auf den Zusammenhang von Vertrauen und Freundschaft – nicht nur bei Heumann – hat bereits Wolfram Mauser aufmerksam gemacht, vgl. Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung 4:1 (1989), S. 5–36, bes. S. 16–21, zur Freundschaft bei Heumann: S. 18. 49 Vgl. Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 13. 50 Damit konnte Heumann direkt an Thomasius anknüpfen, denn dieser hatte in seinem Kurtzen Entwurff der Politischen Klugheit (Anm. 31, hier S. 142f.) Folgendes festgehalten: »Denn Freunde heissen: Die ihre Kräffte zusammen setzen / damit einer des andern Vorhaben befördere / und das Vorhaben ihrer Feinde hintertreibe. Hingegen werden diejenigen Feinde genennet / deren einer des andern Vorhaben zu verhindern trachtet«. Die die Freundschaft betreffende philosophische bzw. literarische Tradition reicht bekanntlich bis in die Antike zurück. Die bündige Formulierung von Aristoteles in dessen Nikomachischer Ethik – »Freundschaft ist Hilfe« [1155a 3-24] – dürfte Heumann und seinen Zeitgenossen selbstverständlich gegenwärtig gewesen sein, zumal Heumann sein Freundschaftskapitel mit einem indirekten AristotelesZitat beginnen lässt: »Der berühmte Philosophus, Aristoteles, schreibet ausdrücklich, er achte die Freundschafft vor das allernöthigste Stück der zeitlichen Glückseligkeit« (Heumann: Der politische Philosophus [1724] [Anm. 13], S. 258). Vgl. zum Freundschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert: Johann Georg Walch, Artikel »Freundschaft«. In: J. G. W.: Philosophisches Lexicon 1 [Leipzig 1775]. Nachdr. Hildesheim 1968, Sp. 1357–1364, sowie die Beiträge in: Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991. 51 Was Heumann zu seiner Neueinschätzung veranlasst hat, wird von ihm selbst nicht hinreichend erklärt. Einen Anstoß, die soziale Bedeutung der Freundschaft zu überdenken, könnte allerdings Andreas Rüdiger gegeben haben, denn in dessen 1721, also drei Jahre vor der dritten Auflage des Politischen Philosophus erschienenen Anweisung zu der Zufriedenheit der menschlichen Seele wird Freundschaft als höchstes Gut der menschlichen Gesellschaft bezeichnet und von der Zufriedenheit abgesetzt, die »das eintzige und wahrhaffte höchste Gut« (S. 182) des Menschen ist, sofern man ihn für sich, d. h. jenseits des sozialen Zusammenhangs betrachtet. Weil »kein besserer Zustand der menschlichen Gesellschafft seyn kann, als wenn alle Menschen in Freundschafft miteinander leben« (S. 184), ist die Freundschaft bei Rüdiger bereits
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und damit dem prudentistischen Diskurs einverleibt, sondern es wurde an den bestehenden Text angehängt, was dem Abschnitt – gewollt oder ungewollt – eine markante Position verschafft. Heumann hatte gesehen – und damit begründet er seine Kehrtwendung –, dass die Freundschaft zweierlei sei: zum einen die amicitia ethica und zum anderen die amicitia politica. Erstere stelle »eine rechte und vollkommene Freundschafft« dar, die als »nothwendige Wirckung der Tugend zwischen zweyen oder mehr tugendhafften Personen«52 keinerlei Anleitung bedarf und ausschließlich die »innerliche und ewige Glückseeligkeit zuwege bringen«53 soll. Demgegenüber zielt die »politische Freundschafft« auf »zeitliche und äusserliche«54 Güter bzw. auf die damit verbundene zeitliche und äußerliche Glückseligkeit.55 Während die auch als »christliche Freundschaft« bezeichnete amicitia ethica den »rechten Weg zur Gemüths-Ruhe […], ja zum Himmel, zeige«,56 gehe die politische Freundschaft dahin, daß ich dem andern zu Reichthum, zu einem ansehnlichen Amte, zu einem vergnügten Leben, zu einem artigen Weibgen, behülfflich bin; ihm wohlmeinend seine Ge-
|| utopisch konnotiert. Und dies offenbar bewusst, denn Rüdiger ist sich ausdrücklich im Klaren darüber, dass die Realisierbarkeit eines solchen »Zustandes« sich »mit keinem Exempel des ganzen menschlichen Geschlechtes« belegen lässt, wohl aber – und dies hält Rüdiger für hinreichend – »mit dem Exempel kleinerer Gesellschafften«, wobei er die ersten Christen im Blick hat (S. 184). Hinsichtlich der Frage, ob die Freundschaft eher der Tugendlehre oder aber der Klugheitslehre zuzuordnen ist, bleibt Rüdiger allerdings uneindeutig: Auf der einen Seite wird Tugend als das »eintzige und zulängliche Mittel der Freundschafft« (S. 184) behauptet, und auf der anderen Seite erhält die Klugheit als eine »Geschicklichkeit der Mittel […], die zu einem vernünfftigen Zweck erfordert wird«, eine dermaßen dominierende Funktion, dass selbst die Tugend – als ein Mittel die Zufriedenheit zu erreichen – zu den »Arten der Klugheit« gezählt wird. Rüdiger differenziert nämlich je nach »Haupt-Zweck« verschiedene Arten der Klugheit. Die Seligkeit wird von der christlichen Klugheit, die Zufriedenheit von der »Prudentia ethica« und die Freundschaft von der »Prudentia politica« zuwege gebracht (S. 192). Andreas Rüdiger: Anweisung zu der Zufriedenheit der menschlichen Seele [1721]. Leipzig ²1726. Heumann greift diese Begrifflichkeit auf, lässt die christliche Klugheit aber unberücksichtigt. 52 Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 26, Anm.a. 53 Ebd., S. 265. 54 Ebd. 55 Vgl. zur Unterscheidung zwischen innerlicher und äußerlicher Glückseligkeit: Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: F. G./Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 351–368. 56 Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 266.
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brechen, die ihn sonst unbeliebt machen können, entdecke; wo er etwas thut, dadurch er oder die Seinigen in Schande und Armuth gerathen können, ihn treulich warne, u.d.m.57
Wird die Freundschaft in diesem Sinn als eine »politische« Beziehung aufgefasst, dann können und müssen »allerdings gewisse Regeln deßwegen mitgetheilet werden«.58 Charakteristisch für Heumanns Verständnis von Freundschaft ist, dass er sie auf der Suche nach einem Vorbild für die rechtschaffene Freundschaft mit der ehelichen Gemeinschaft vergleicht. Diese beschreibt er bereits in den früheren Auflagen als »allervollkommenste Freundschaft«,59 weil, abgesehen von der natürlichen Neigung gegen das andere Geschlecht, »Eheleute alle so wohl commoda, als incommoda, mit einander gemein haben: dahin gegen bey anderer Freundschaft selten etwas allen beyden gleich nützlich oder gleich schädlich ist.«60 In der dritten Auflage betont Heumann das mit Blick auf die Freundschaft signifikante und zugleich modellbildende »beyderseitige Interesse« der Ehegatten: Ihre Freundschafft ist gegründet auf eine hertzliche Liebe, und das Feuer dieser Liebe wird von dem Vergnügen und Interesse, das einer von dem andern hat, nicht nur ernehret, sondern auch vermehret. In der Ehe gehet es eben also zu. Ein Ehegatte suchet sein Vergnügen in der Ehe: aber er suchet auch des andern Vergnügen. Er suchet sein Interesse: er suchet aber auch des andern Interesse. […] Also ist es auch in der Freundschafft.61
|| 57 Ebd. 58 Ebd., S. 26. 59 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 73f., in der Auflage von 1724 ist analog von »amicitia firmissima« die Rede, vgl. Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 287. 60 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 57. Diese Modellfunktion der Ehe steht in Widerspruch zu Heumanns verschiedentlich behaupteter Misogynie. Falko Schneider etwa will eine »grundsätzliche Exkommunikation der Frau« erkennen, »wenn es darum geht, die neuen Leitideale des öffentlichen Lebens zu fixieren« (vgl. Schneider: Öffentlichkeit und Diskurs [Anm. 16], S. 150). Siehe dagegen Mühlpfordt, der in Heumanns Betonung der wissenschaftlichen Befähigung der Frau die Fortsetzung einer für die mitteldeutsche Aufklärung typischen »Frauenrechtbestrebung« sieht (Mühlpfordt: Ein kryptoradikaler Thomasianer [Anm. 12], S. 329). Bemerkenswert ist immerhin, dass Heumann behauptet, die Freundschaft der Eheleute mache die Partner gleich. Doch ist damit tatsächliche Symmetrie weder hergestellt noch angestrebt, denn die Gleichheit steht unter dem »Directorium« des Mannes, der – wenn er klug ist – seiner Frau gegenüber so tut, als ob er nichts »von der geringsten Ungleichheit« wüsste. Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 78. 61 Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 280f., vgl. auch S. 287.
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Indem die Ehe als Vorbild einer rechtschaffenen Freundschaft vorgestellt wird, werden eine Reihe von ehetypischen Konnotationen aufgerufen und dem semantischen Gehalt der Freundschaft zugeschlagen: Liebe, Reziprozität, Gleichheit, Vertrautheit, Sicherheit und Familiarität. Dadurch erhält die Freundschaft eine soziale Qualität, die an sich für eine intime Binnenraumbeziehung kennzeichnend ist, sodass das Modell einer sozialen Binnenraumbeziehung über die zwischen dem sozialen Binnenraum und dem sozialen Außenraum verlaufende Grenze hinaus in den letzteren übertragen wird. Indem die Freundschaft außen realisiert, was für den familiären bzw. ehelichen intimen Binnenraum typisch ist, wird der Außenraum über den prudentiell angeleiteten Erwerb der Freundschaft freundlich bzw. freundschaftlich kolonialisiert. Freundschaft ist damit genau das Mittel, mit dem Unsicherheit in Sicherheit und Fremdheit in Vertrautheit umgewandelt werden können, und zwar mit Hilfe einer entsprechenden Klugheitslehre und soweit eben der eigene Handlungsspielraum und die eigene Handlungskompetenz reicht.62 Freundschaft als soziales Modell einer geradezu ins Universale erweiterten Familiarität erhält damit eine utopische Qualität, die noch im Brüderlichkeitsverlangen der Französischen Revolution präsent ist.63
|| 62 Vgl. dazu auch Schneider: Öffentlichkeit und Diskurs (Anm. 16), S. 156. 63 Ist Freundschaft im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert tatsächlich, wie Niklas Luhmann konstatiert hat, »auf dem Weg von der Funktionsentlastung zur Idealisierung«, wobei das Motiv, Schaden zu vermeiden und Nutzen zu mehren, zugunsten einer mit Subjektivierung einhergehenden Privatisierung der Freundschaft in den Hintergrund rückt, was wiederum die Konstruktion von »Idealmodellen der Sozialität« ermöglichte, dann stellt Heumanns Freundschaftskonzept einen nicht uninteressanten Anhaltspunkt in dieser Entwicklung dar. Denn einerseits ist sein Freundschaftsbegriff noch sehr eng an der klassischen, aristotelischen Nutzfreundschaft orientiert, andererseits kommen durch den Modellcharakter von Ehe und Familie bereits Idealisierungen ins Spiel, die darüber hinausweisen. Allerdings werden sie noch nicht weiter ausgeführt, denn sieht man genauer hin, dann lassen sich die Grenzen dieser Idealisierung relativ schnell feststellen: Das von Heumann hervorgehobene Sozialmodell beruht tatsächlich nicht auf der später typisch werdenden Subjektivierung, sondern bleibt noch – ganz prudentiell – weitgehend an die Nutzensoptimierung gebunden. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1993, hier Bd. 1, S. 147. Vgl. auch Luhmanns Ausführungen zum aristotelischen Freundschaftsbegriff und seiner sozialtheoretischen Leistungen (ebd., Bd. 2, S. 212–231).
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4 Der Passus, mit dem Heumann in der ersten Auflage des Politischen Philosophus erklärt, nicht von der Freundschaft handeln zu wollen, bleibt in der dritten Auflage erhalten und wird lediglich durch eine Fußnote ergänzt, in der mit Hilfe der Unterscheidung zwischen amicitia ethica und amicitia politica das in der dritten Auflage hinzugekommene Kapitel über die Freundschaft gerechtfertigt wird. Als Erklärung für den ursprünglichen Ausschluss der Freundschaft aus der Klugheitslehre machte Heumann geltend, dass die »Tugend die Mutter der wahren Freundschafft«64 sei, weswegen diese auch »nur unter recht tugendhafften Leuten« anzutreffen sei. Diese tugendhaften Leute aber – so hebt Heumann bemerkenswerterweise noch hervor – »brauchen meines Unterrichts nicht«. Denn Tugendhafte kennen ihre Pflicht und sind zudem willens, dieser Pflicht »mit allem Fleiß« 65 nachzukommen. Die Aussage ist insofern interessant und für Heumanns Klugheitslehre womöglich symptomatisch, als hier in nuce der von der Warte der ethischen Wertigkeit her beurteilte sekundäre, tatsächlich sogar prekäre Status der Klugheit noch einmal besonders deutlich sichtbar wird. Klugheit ist hier nicht nur der Tugend nachgeordnet, wobei die Tugend sie im Sinne höherwertiger Ziele instrumentalisiert, sondern genaugenommen sogar insofern entbehrlich, als der Tugendhafte auch ohne die Unterweisung durch die Klugheit seine tugendhaften Ziele realisiert, mit der Folge, dass mit Durchsetzung der Tugend die Klugheit obsolet wäre. Dieser Befund überbietet noch einmal die von Heumann gleich zu Beginn seiner Klugheitslehre betonte Rangordnung zwischen der das »innerliche Gemüths-Vergnügen« betreffenden Moral und der die »äußerliche Glückseligkeit«66 befördernden Klugheit: Es sei »eine erschreckliche Thorheit / nach der äuserlichen Glückseligkeit zu streben mit Hindansetzung der innerlichen und der ewigen«67, denn »Reichthum / Ehre und äuserliche Ergetzlichkeit« machten keinen Menschen glückselig, wenn er »nicht in dem Hertzen ein wahres und beständiges Vergnügen«68 spüre. Insofern seien die äußerlichen Güter zwar wahre, »aber gegen die Weißheit und Tugend gerechnet / sind sie sehr geringe Güter«. Und Heumann fügt noch hinzu: || 64 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 19; Heumann: Der politische Philosophus [1724] (Anm. 13), S. 26. 65 Ebd. 66 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 2. 67 Ebd. 68 Ebd.
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Ja es werden die politischen Güter gar offt irritamenta malorum, und bahnen den Weg zur ewigen Unglückseligkeit. Und die Erfahrung lehret / daß der Mangel am äuserlichen Glück weit dienlicher ist / zur Weißheit und Tugend zu gelangen / als der Uberfluß.69
Dieser Vorrang der Moral und der Gemütsruhe als ihr spezifisches Ziel wird auch an anderen Stellen deutlich, und zwar etwa dort, wo Heumann eine bestimmte soziale Rolle bzw. einen bestimmten sozialen Typus auszeichnet und sie bzw. ihn als seinen eigentlichen Adressaten zu erkennen gibt. So wie Thomasius sich im Wesentlichen doch an Juristen wendet, richtet sich Heumann vornehmlich an Gelehrte, denn die Gelehrsamkeit ist nicht nur ein im instrumentellen Sinne »vortreffliches Mittel«, »Ehre zu erlangen«, die etwa ein Sicherungsmittel gegen die Widerwärtigkeiten der Feinde darstellt, sondern Gelehrsamkeit und überhaupt das »Studiren« ist doch gewiß die »alleredelste Arbeit / und allen andern Professionen weit vorzuziehen«.70 Mag man als Kaufmann auch reich werden, so hat die Gelehrsamkeit ihren viel größeren Vorteil doch darin, dass durch sie »der Verstand ie mehr und mehr ausgebessert / und der Mensch also perfectioniret«71 wird, was zusätzlich noch das größte »GemüthsVergnügen« verschafft. Wenn man auch nicht reich wird, »so lässet es [nämlich das Studieren, F. G.] doch einen auch nicht arm / und samlet man weniger Schätze im Kasten, so bekömmet man einen desto bessern Schatz im Gemüthe.«72 Der innere Reichtum, der hier unmissverständlich als eigentliches Ziel im Sinne eines summum bonum propagiert wird, steht an dieser Stelle mit der von der Klugheit anvisierten äußerlichen Glückseligkeit in einer gewissen Spannung. Die ohnehin nur zweitrangige, weil instrumentelle Klugheit wird an dieser Stelle nahezu überflüssig. Wirft man einen Blick in andere Klugheitslehren der Zeit – etwa in Rohrs Einleitung zu der Klugheit zu leben (zuerst 1715 in Leipzig erschienen), dann wird zwar rasch deutlich, dass Gelehrsamkeit im weiten Sinne des Wortes auch hier einen hohen Stellenwert einnimmt, doch liegt der Akzent unübersehbar auf ganz handfesten und im Übrigen auch anleitungswürdigen Materien. Rohr etwa befasst sich mit dem Erwerb und der Ausgabe von Geld, der Prozessführung, dem Kauf, der Pacht und der Verpachtung von Gütern, der »Land- und FeldOeconomie« und mit der Klugheit beim Abschluss von Verträgen.73 Bei Heu-
|| 69 Ebd. S. 4. 70 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 124. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Vgl. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zu der Klugheit zu leben, oder Anweisung, wie ein Mensch zu Beförderung seiner zeitlichen Glückseligkeit seine Actiones vernünftig anstellen
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mann bleibt alles, worauf es im wirtschaftlichen Leben des Bürgers ankommt, doch reichlich abstrakt und blass, seine Perspektive zielt in seiner eigentlich die äußeren Glücksgüter befördernden Klugheitslehre am Ende doch eher auf die dem Philosophen einzig angemessene innere Glückseligkeit. Die außer Frage stehende Höherwertigkeit der Moral lässt die Klugheit allenfalls tendenziell, jedoch nicht tatsächlich obsolet werden, denn sie ist genaugenommen nur deswegen nicht überflüssig, weil nicht jeder bzw. jede der wahren Tugend teilhaftig ist. Damit ist der in moralischer Hinsicht dubiose Status der Klugheit deutlich markiert, der seit der von Machiavelli eingeleiteten, zuvor nicht üblichen Trennung von Klugheit und Moral und der damit vollzogenen bzw. sich vollziehenden Ausgliederung der Klugheit aus der Tugendlehre virulent ist.74 Mit seiner bereits erwähnten Unterscheidung zwischen der das Innere betreffenden Tugendlehre und der das Äußere betreffenden Klugheitslehre bestätigt Heumann diesen Vorgang, der die Klugheit einerseits verselbständigt und ihr damit ein größeres praktisches Gewicht verleiht, sie aber andererseits Verdächtigungen hinsichtlich ihrer moralischen Zulänglichkeit aussetzt. Die immer wieder vorgebrachte Beteuerung, Moral und Klugheit müssten eng aufeinander bezogen sein, kennzeichnet dieses Problem mehr, als dass sie es löst. Der Höherwertigkeit der Moral hat die Klugheitslehre schließlich in philosophicis nicht viel entgegenzusetzen, insbesondere dann nicht, wenn – wie bei Heumann – die Behauptung im Raum steht, dass dem Tugendhaften die Klugheit deswegen entbehrlich ist, weil er auch ohne Klugheit das einzig entscheidende Ziel erreicht. Freilich bleibt vor allem die zeitgenössische Nachfrage nach prudentiellem Orientierungswissen davon unberührt. Im Fall von Heumanns Klugheitslehre || soll. Leipzig 1715. Rohr verweist zwar ausdrücklich auf die Leistungen von Thomasius, Heumann und Polycarp Müller, nimmt aber deswegen ein hohes Maß von Selbstständigkeit für sich in Anspruch, weil er »weit specieller«, d. h. mit Blick auf konkrete Probleme unmittelbar handlungsanleitend vorgegangen sei. Dass sein Interesse der konkreten Praxis und vor allem der klugen Überwindung der mit ihr gegebenen Probleme gilt, belegt auch ein 1720 von Rohr in Leipzig publiziertes und nicht weniger als 990 Seiten umfassendes Werk: Einleitung zu der allgemeinen Land- und Feld-Wirtschaffts-Kunst derer Teutschen, darinnen die allgemeinen Regeln und Anmerckungen, die sowohl bey der Land- und Feldoeconomie überhaupt, als insonderheit bey der Ackerbau, der Viehzucht, Gärtnerey, Wein-Bau, Bierbrauen, Wäldern, Jägereyen, Teichen und Fischereyen fast in allen Provinzien Teutschlands in acht zu nehmen. Vgl. zu Rohr: Theodor Inama von Sternegg: [Art.] Rohr, Julius Bernhard von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 60–62. 74 Zu Recht stellt Luckner dazu fest, dass die Klugheit »bis weit in das 17. Jahrhundert hinein […] allgemein als die höchste der Kardinaltugenden« angesehen wurde und daher selbstverständlich in der Tugendlehre berücksichtigt wurde. Luckner: [Art.] Klugheit (Anm. 24), S. 1227.
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lässt sich sogar nachweisen, dass diese ganz im Sinne ihrer genretypischen Funktion als Ratgeber in einer konkreten Situation herangezogen wurde. Die Bibliothek des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg besitzt ein Exemplar der Heumann’schen Klugheitslehre,75 dessen Markierungen erkennen lassen, dass das Buch als argumentatives Arsenal in einer ganz konkreten Auseinandersetzung fungieren durfte. In dem bewussten Band finden sich Markierungen nur in dem Kapitel über die »Klugheit im Ehestande«. Unterstrichen ist zum Beispiel die Mahnung, ein Mann solle sich nicht in seinen »Amts-Sachen von der Frauen regieren lassen«.76 Mit einem »Nota bene« versehen ist die Behauptung, dass in der Kindererziehung die Mütter alles »ordentlich wieder verderben«, was die Väter einmal gut gemacht haben. Und mit der Randnotiz »gut wann sie gehorsam ist«, wird der als »offenbahre Regel der Klugheit« apostrophierte Hinweis begleitet, der Mann solle seiner Frau »die Fehler der Kinderzucht deutlich vorstellen«.77 Die Markierungen machen klar, worum es dem Leser gegangen ist. Mithilfe von Heumanns Klugheitslehre hatte er sich offenkundig für eine anstehende oder schon im Gang befindliche Eheauseinandersetzung über Erziehungsfragen munitionieren wollen, zumindest suchte er in offenbar unangenehmer Lage sachgerechten Rückhalt, d. h. einen tauglichen Rat, der seinen Erfolg in der gegebenen Auseinandersetzung wenn nicht sicherstellte, so doch wenigstens wahrscheinlicher machte. Das Programm der Klugheitslehre, nämlich der Anspruch, konkrete Anweisungen für konkrete Handlungsoptionen zu bieten, hat sich hier ganz offenkundig realisieren lassen – ob mit oder ohne Erfolg, ist freilich nicht überliefert. Der eher resignierte Ton und die eine ganze Seite füllende handschriftliche Klage darüber, dass der Politische Philosophus keinerlei Rat für den Umgang mit einer surtout »boshaften Frau« zu bieten habe, legen die Vermutung nahe, dass der Leser trotz der konsultierten Klugheitslehre sein Ziel nicht hat erreichen können. Auch eine auf Praxis zielende Theorie ist eben als Theorie nicht jeder empirischen Konkretion angemessen.
|| 75 ULB Halle-Wittenberg, Zweigbibliothek Ha 179 IZEA: Sign.: Fc 1090a. 76 Heumann: Der politische Philosophus (Anm. 1), S. 80. 77 Ebd., S. 81.
Elisabeth Décultot
Lesen versus Sehen? Winckelmanns Umgang mit den gegenständlichen und schriftlichen Quellen zur antiken Kunst Eine grundsätzliche Antinomie durchzieht Winckelmanns Werk von den Vorarbeiten zur Geschichte der Kunst des Alterthums bis zu den Monumenti antichi inediti (1767): Lesen versus Sehen. »Ich kam nach Rom, nur um zu sehen«, erklärt Winckelmann kurz nach seiner Ankunft in Italien im Jahre 1756. In einem auf Französisch verfassten Brief aus derselben Periode führt er diesen Gedanken weiter aus: »Il est bien plus important pour moi d’apprendre à décider avec sûreté si un ouvrage est de la main d’un sculpteur grec ou romain que de prononcer si un ms. grec d’une homélie d’un S. Père [a été] écrit dans le siècle Xe ou XIe.«1 In Italien bereut er, die Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755), seine Erstlingsschrift, vor seinen visuellen Erfahrungen in Rom verfasst zu haben: »Ich habe erfahren, daß man halbsehend von Alterthümern spricht aus Büchern, ohne selbst gesehen zu haben; ja, ich habe verschiedene Fehler eingesehen, welche ich begangen habe.«2 Die Kunstgegenstände scheinen ihm eine Quelle des Wissens eröffnet zu haben, die er von nun an gerne als sicherer und fruchtbarer denn alle Bücher preist. Textkritik und Kritik der plastischen Formen, intellektueller Vorgang des Lesens und sinnlicher Prozess des Sehens werden ab diesem Zeitpunkt in seinen Schriften leitmotivisch gegeneinander ausgespielt. An dieser Dichotomie hatte Winckelmann ein vielfaches Interesse. Zunächst einmal erlaubte sie ihm, sich gegen die Tradition der Buchgelehrsamkeit abzugrenzen und damit eine soziologisch und wissenschaftlich spezifische Position
|| 1 Johann Joachim Winckelmann: Brief [an C. W. E. Dietrich?], 1. Juni 1756. In: J. J. W.: Briefe. Hg. von Walther Rehm unter Mitwirkung von Hans Diepolder. 4 Bde. Berlin 1952–1957, hier Bd. 1, S. 226; ders.: Brief an G. L. Bianconi, 7. Dezember 1755. In: ebd., Bd. 1, S. 188 (deutsche Übersetzung: »Es ist sehr viel wichtiger für mich, mit Sicherheit unterscheiden zu lernen, ob ein Werk von der Hand eines griechischen oder römischen Bildhauers ist, als auszusprechen, ob ein griechisches Manuskript der Predigt eines Kirchenvaters im 10. oder 11. Jahrhundert geschrieben wurde.«). 2 Winckelmann: Brief an J. M. Francke, 7. Dezember 1755. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 191. Man findet zahlreiche weitere Zeugnisse dieser Dichotomie von Lesen und Sehen in Winckelmanns Briefwechsel. Vgl. ders.: Brief an K. F. Uden, 1. Juni 1756. In: ebd., S. 224; Brief an P. von Stosch, Anfang Juni 1756. In: ebd., S. 227.
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innerhalb der gelehrten Welt für sich zu reklamieren. Zu den Zielscheiben seiner Kritik am Bücherwissen gehörten vor allem die Antiquarii, gegen die er sein ganzes Leben lang mit rhetorischem Schwung und nicht ganz ohne absichtliche Verkennung der historischen Tatsachen zu polemisieren pflegte. So soll der französische Antiquar Bernard de Montfaucon – der zwischen 1698 und 1701 drei Jahre in Rom verbracht hatte – seine gewaltige Antiquité expliquée et représentée en figures »entfernet von den Schätzen der alten Kunst zusammengetragen« haben, hauptsächlich auf der Grundlage von Stichen und Zeichnungen aus zweiter Hand, »die ihn zu großen Vergehungen verleitet haben. […] Man muß wissen, daß dieser Pater, wie sonst, also auch hier, als ein Franzose flüchtig gegangen ist. Seine Antiquité expliquée strotzet von erschrecklichen Vergehen.«3 Angriffe gegen seine unmittelbaren Zeitgenossen fallen nicht weniger scharf aus. Lessing habe es gewagt, den Laokoon zu kommentieren, obwohl er »Italien […] nur im Traume […] gesehen.« »Er komme nach Rom«, ruft ihm Winckelmann 1766 zu, denn es sei »fast unmöglich, etwas gründliches von der alten Kunst, und von nicht bekannten Alterthümern, außer Rom zu schreiben.«4 Selbst den italienischen Antiquaren, die in täglichem Kontakt zu den antiken Kunstschätzen standen, bleibt der Vorwurf der Empirie-Ferne nicht erspart: »Tous les antiquaires de Rome sont des ignorants«, lautet Winckelmanns Fazit über seine römischen Kollegen in der Description des pierres gravées.5 Von biblischen Reminiszenzen sind solche Aufforderungen zur Autopsie nicht frei.
|| 3 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764; Zweite Auflage Wien 1776. Hg. von Adolf H. Borbein u. a. Mainz 2002, S. XV (der ersten Auflage); ders.: Brief an J. M. Francke, [9.] März 1757. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 275. Dass Montfaucon drei Jahre in Rom verbracht und keine so beschränkte visuelle Kenntnis der römischen Antiken hatte, muss Winckelmann gewusst haben, denn Montfaucon weist im Vorwort der Antiquité expliquée aus- und nachdrücklich darauf hin (vgl. Bernard de Montfaucon: L’Antiquité expliquée et représentée en figures. 15 Bde. 1719–1724, hier Bd. 1, S. 1). 4 Winckelmann: Brief an F. J. Goessel, 6. August 1766. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 3, S. 195; ders.: Brief an J. M. Francke, 10. September 1766. In: ebd., S. 204; ders.: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. XX (der ersten Auflage). 5 Johann Joachim Winckelmann: Description des pierres gravées du feu baron de Stosch. Florenz 1760, S. XXIV (deutsche Übersetzung: »Alle römischen Antiquare sind Ignoranten«). So auch ders.: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. XXI (der ersten Auflage); ders.: Brief an H. D. Berendis, 29 Januar 1757. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 266. Zu weiteren Angriffen gegen die Antiquare vgl. ders.: Brief an G. B. Genzmer, 20. November 1757. In: ebd., S. 314. Paolo Alessandro Maffei, der Autor einer üppig bebilderten Sammlung der Statuen Roms, wird bezichtigt, berühmten antiken Bildhauern mittelmäßige, modern ergänzte Werke zugeschrieben zu haben (vgl. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums [Anm. 3], S. XIIff. der ersten Auflage; P. A. Maffei: Raccolta di statue antiche e moderne. Rom 1704).
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»Komm und siehe«, befiehlt er seinen Lesern in kaum überhörbarer Abwandlung des Johannes-Evangeliums (Joh 1,47).6 Für Winckelmann besitzen diese polemischen Fehden allerdings eine entscheidende epistemologische Bedeutung. Sie erlauben es ihm, sich als Begründer einer Disziplin hinzustellen, die ihrem Namen – Geschichte der Kunst – gerecht wird. »Es sind einige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der Kunst an das Licht getreten«, schreibt er in der Vorrede seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764), »aber die Kunst hat einen geringen Antheil an denselben: denn ihre Verfasser haben sich mit derselben nicht genug bekannt gemachet, und konnten also nichts geben, als was sie aus Büchern, oder von sagen hören, hatten«.7 Bis dahin sei der historische Diskurs über die Kunst vornehmlich auf die antiken Texte und die literarischen Beschreibungen der Künstler und ihrer Werke gegründet worden, mit einem Wort: auf das schriftliche Erbe der Antike. Mit dieser Tradition wolle er nun brechen und seine Geschichte der Kunst auf die direkte, sinnliche Beobachtung der Werke stützen. Damit sah sich Winckelmann als Urheber einer tiefgreifenden wissenschaftlichen Umwälzung, die das Wissen über Kunst von einer Hermeneutik des Lesens zu einer des Sehens verwandelte. Bei Winckelmanns Lesern fand diese Selbstdarstellung breiteste Aufnahme. In seinem berühmten Winckelmann-Porträt von 1805 stellt Goethe Winckelmann als einen zum Sehen außerordentlich begabten Menschen dar, der alles »beschaut« und »betrachtet«, sich stets »von den Zuständen der Welt mit eigenen Augen zu überzeugen« versucht und dabei die ungeheure Strecke zurücklegt, die die Welt der Bücher von jener der gegenständlichen »Wunderwerke« trennt. »Von allem Literarischen, ja selbst von dem Höchsten, was sich mit Wort und Sprache beschäftigt, von Poesie und Rhetorik, zu den bildenden Künsten überzugehen, ist schwer, ja fast unmöglich; denn es liegt eine ungeheure Kluft dazwischen, über welche uns nur ein besonders geeignetes Naturell hinüberhebt«, stellt Goethe fest. Diese ungeheure Kluft vermochte jedoch Winckelmann zu überwinden, als er »mit Staunen« in Rom seine Ideen »verkörpert […] um ihn her« in den steinernen Statuen entdeckte und sich von nun an der ausschließ-
|| 6 Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner Gallerie. In: J. J. W.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. von Walther Rehm, unter Mitwirkung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. 1–12, hier S. 8, Anm. 5; ders.: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst [Erstveröffentlichung: Dresden 1763]. In: ebd., S. 211–233, hier S. 233. 7 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. X.
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lichen Betrachtung der Werke der Kunst widmete.8 Diese Vorstellung fand im 19. Jahrhundert in der Fachgeschichte der Altertumswissenschaften breiten Widerhall: Zwar wurde von prominenten Vertretern dieser Wissenschaften schon sehr früh auf die vielfachen Mängel und Fehler von Winckelmanns Interpretationen hingewiesen – wie etwa von Christian Gottlob Heyne.9 Sehr selten wurde ihm jedoch die epistemologische Brisanz seiner Methodik abgesprochen. Vom Kunsthistoriker Carl Justi oder dem Historiker der Archäologie Karl Bernhard Stark wird Winckelmann als der Erfinder einer Hermeneutik der antiken Kunst geschildert, die sich zum ersten Mal streng empiristischen Prinzipien verschreibt und vom Modell der auf bloßem Buchwissen beruhenden, antiquarischen Gelehrsamkeit entschieden abwendet – eine Einschätzung, die in vielen fachgeschichtlichen Untersuchungen heute noch weitgehend vertreten wird.10 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese von Winckelmann selbst gesteuerte Opposition zwischen Lesen und Sehen anhand seiner Publikationen sowie seines handschriftlichen Nachlasses kritisch zu beleuchten. Wie verhält sich das Sehen zum Lesen in seiner Arbeitsmethode und in seinen Werken? Mit dieser Frage soll auch untersucht werden, welche Beziehung Winckelmann zu der gelehrten Tradition unterhält, die seit der Renaissance das Buch als wichtigste und sicherste Quelle des Wissens und der Wissensaneignung betrachtete.
|| 8 Johann Wolfgang Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. v. Karl Richter. 20 Bde. und 1 Registerband. München 1985–1998, Bd. 6.2, S. 348–381, hier S. 358, 360. 9 Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winckelmann [Erstveröffentlichung: Kassel 1778]. In: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Hg. von Arthur Schulz. Berlin 1963, S. 17–27, hier S. 24. 10 Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen [1. Ausgabe unter dem Titel: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Leipzig 1866–1872]. 3 Bde. Leipzig 1898, hier Bd. 3, S. 220. Diese These vertrat Justi schon 1866 in folgendem Artikel: C. Justi: Über die Studien Winckelmann’s in seiner vorrömischen Zeit. In: Historisches Taschenbuch 1866, S. 129–202, hier S. 136–137; vgl. Carl Bernhard Stark: Systematik und Geschichte der Archäologie der Kunst. Leipzig 1880 [Reprint: München 1969], S. 193–208. Zum Weiterleben dieses Winckelmann-Bildes vgl. z. B. Wolfgang Schiering: Zur Geschichte der Archäologie. In: Ulrich Hausmann (Hg.): Allgemeine Grundlagen der Archäologie. München 1969, S. 11–162, hier S. 20–22.
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1 Winckelmanns empiristische Ansätze Dass der direkte visuelle Kontakt mit den Kunstwerken für Winckelmann schon sehr früh ein prominentes Anliegen war, kann nicht in Frage gestellt werden. Nicht zufällig gehört zu Winckelmanns allerersten – allerdings zeit seines Lebens unveröffentlicht gebliebenen – Werken eine Beschreibung der Gemälde der Dresdner Galerie, die von seiner direkten visuellen Erfahrung mit Bildern zeugt.11 Mit der Übersiedlung nach Rom, wo er sich bald einen europäischen Ruf als Führer durch die römischen Altertümer erwarb, wurde er nicht müde, die direkte, feinfühlige Anschauung der Kunstwerke als einzige Quelle wahrer Kunstkenntnis anzupreisen und dabei die vorigen Ansätze kunstgeschichtlicher Untersuchungen als Ausgeburt kalter Buchgelehrsamkeit anzuprangern. Zu den vorzüglichen Zielscheiben seiner Kritik gehörte etwa Pierre Moniers Histoire des arts, die er wegen fehlender empirischer Kunstkenntnis als Betrug bezeichnete.12 Nach wiederholtem Besuch des Vatikanischen Cortile del Belvedere unternahm er es im Jahre 1756, die dortigen Statuen auf der Grundlage eigener visueller Erfahrung zu beschreiben bzw. neu zu beschreiben. In Dresden hatte er eine erste Beschreibung der Laokoon-Gruppe für die Gedanken über die Nachahmung verfasst, die aller Wahrscheinlichkeit nach jeglicher gegenständlichen Grundlage entbehrte. Mit Sicherheit griff er aber für seine Dresdner Beschreibung auf schriftliche Quellen zurück, wie etwa auf das lateinische Gedicht De Laocoontis statua (1506) von Kardinal Jacopo Sadoleto, das er ausführlich exzerpierte, oder auf Jonathan Richardsons und Filippo Baldinuccis Beschreibungen des Laokoon, die er in seinen sächsischen Exzerptheften ebenfalls sorgfältig aufschrieb.13 Nach diesen Lektüren wirkte sich unleugbar die Begegnung mit den Statuen in Rom unmittelbar auf deren Beschreibung aus. Die römischen Belvedere-Beschreibungen, wie sie in Winckelmanns handschriftlichem Nachlass zu lesen sind und u. a. durch Hans Zeller im 20. Jahrhundert veröffentlicht wur-
|| 11 Vgl. dazu hier oben, Anm. 6. 12 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. X (der ersten Auflage); Pierre Monier: Histoire des arts. Paris 1698. 13 Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: Jacopo Sadoletus: De Laocoontis Statua (1506, in: J. Sadoleto: Opera, Mainz 1607, S. 843f.). In: J. J. W.: [Exzerpthefte]. Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 61, fol. 47f.; ders.: Exzerpt aus: Jonathan Richardson: Description de plusieurs des statues, tableaux, dessins qui se trouvent en Italie. Amsterdam 1728. In: J. J. W.: [Exzerpthefte], Bd. 61, fol. 33v; ders.: Exzerpt aus: Filippo Baldinucci: Vita del Cavaliere […] Bernino. Florenz 1682. In: J. J. W.: [Exzerpthefte], Bd. 61, fol. 26v.
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den, zeichnen sich durch eine Fülle von anatomischen und plastischen Details (Beschreibung von Sehnen, Muskeln, Meißelstrichen usw.) aus, die in seinen älteren, noch in Deutschland verfassten Schilderungen der antiken Plastik nicht zu finden waren. Zu den wichtigen, aus direkter Kunsterfahrung entstandenen Erkenntnissen gehört unter anderem die Einsicht in das Problem der Restaurierungen, über die er von nun an verschiedene Traktate entwarf.14 Diese empiristische Wende war nicht nur biographisch bedingt, sondern auch erkenntnistheoretisch begründet. Zwar bekundete Winckelmann gerne seine Abscheu gegen die »metaphysischen Schwätzer« sowie gegen jegliche rein philosophische Auseinandersetzung mit Kunstfragen überhaupt. Mit wachsender Ungeduld beobachtete er, wie die philosophische »Seuche« auch im Bereich der antiken Kunst die »deutschen Scribenten […] angestecket« habe. »Möchten doch diese unerfahrnen Stümper die Logic und Metaphysic reiten, oder sonst etwas thun«.15 Jedoch waren ihm philosophische Überlegungen zum Empfindungsbegriff keineswegs fremd, wie seine Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763) nachweist.16 Unter Rückgriff auf die Lehre des sensus internus und des sensus externus entwirft er dort einen Kunstbegriff, der der empirischen, sensitiven Wahrnehmung für die Ausbildung des Schönheitsbegriffs eine zentrale Bedeutung beimisst und dabei einer induk|| 14 Hans Zeller: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere. Zürich 1955; Helmut Pfotenhauer/Markus Bernauer/Norbert Miller (Hg.): Frühklassizismus. Position und Opposition. Winckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt a. M. 1995, S. 149ff.; Johann Joachim Winckelmann: Von den Vergehungen der Scribenten über die Ergäntzungen. In: J. J. W.: »Von der Restauration der Antiquen«, eine unvollendete Schrift Winckelmanns. Hg. von Stephanie-Gerrit Bruer/Max Kunze. Mainz 1996, S. 27–38. 15 Winckelmann: Brief an L. Usteri, 1. Januar 1763. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 2, S. 279; ders.: Brief an C. von Mechel, 8. April 1767. In: ebd., Bd. 3, S. 248. Während seines TheologieStudiums in Halle (1738–1740) soll Winckelmann zwar – schenkt man dem Zeugnis seines Studienfreundes Gottlob Burchard Genzmer Glauben – Alexander Gottlieb Baumgartens Vorlesungen über die Enzyklopädie gehört haben. Diese Vorträge scheinen aber keinen dauerhaften Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Erwähnt wird in Winckelmanns Schriften und Briefen der Name des »Vaters« der Ästhetik nicht. Auch das Wort »Ästhetik«, das sich in den Jahren 1750– 1760 einer zunehmenden Beliebtheit in Deutschland erfreute, sucht man bei ihm vergebens (vgl. Brief G. B. Genzmers an F. Nicolai [?], 1. August 1768. In: ebd., Bd. 4, S. 309). Georg Friedrich Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (3 Bde., Halle 1748–1750; 21754–1759) bezeichnet er als eine »Kette von definitionen für Leute […], die eben so wenig von dem Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen, haben, als der Verfasser selbst davon bekommen hat« (Winckelmann: Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde [Anm. 6], S. 8, Anm. 5). 16 Winckelmann: Abhandlung (Anm. 6), S. 217. Vgl. dazu Thomas Franke: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft. Würzburg 2006.
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tiv-empiristischen Kunstauffassung stark verpflichtet zu sein scheint. Die sinnliche Erfahrung von Kunst wird damit zur Hauptquelle der Kunstkenntnis erhoben. Zur Bestimmung dieser erkenntnistheoretischen Position hat Winckelmann nun weniger auf moderne philosophische Quellen zurückgegriffen – welche in seinen Exzerptheften äußerst selten sind – als vielmehr auf zeitgenössische naturwissenschaftliche Schriften, die in seinen Exzerptheften weitgehend dokumentiert sind. Verblüffend ist dabei die beträchtliche Anzahl seiner naturgeschichtlichen Exzerpte zur Physiologie der Empfindung. Buffons ersten Bänden zur Histoire naturelle (1749) entnimmt er zahlreiche Bemerkungen über die Sinnesphysiologie der Kinder oder die Verbindung von Empfindungsfähigkeit und Klima (Abb. 1).17 Im zweiten Band von Johann Gottlob Krügers Naturlehre interessiert er sich vornehmlich für die Kapitel zur »Empfindung überhaupt« sowie zu den einzelnen Sinnen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl).18 Von dem englischen Arzt John Allen, den er in französischer Übersetzung liest, übernimmt er ein Inventar der Sinnespathologien auf, die u. a. mit epileptischen, manischen und melancholischen Symptomen verbunden sind.19 Aus Voltaires Éléments de la philosophie de Newton entnimmt er ein eindeutig empiristisches Glaubensbekenntnis zur Sinneserfahrung als einziger Quelle menschlicher Erkenntnis: »Tous les Anciens, qui ont raisonné sur la physique sans avoir le flambeau de l’expérience, n’ont été que des aveugles qui expliquaient la nature des couleurs à d’autres aveugles«.20 Hervorzuheben ist dabei, dass sich Winckelmann von allen sinnlichen Organen vorzüglich für das Sehorgan zu interessieren scheint. Immer wieder taucht in seinen medizinischen Exzerpten die Frage auf: Was heißt ›Sehen‹? Kann das Sehen allein schon zu einer wahren Erkenntnis führen? Die Physiolo-
|| 17 Winckelmann: Exzerpt aus: Georges-Louis Leclerc de Buffon: Histoire naturelle générale & particulière. Bd. 3. Paris 1749. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 1–8, hier fol. 3rv. 18 Winckelmann: Exzerpt aus: J. G. Krüger: Naturlehre. 3 Bde. Halle 1740, 1742, 1749, hier Bd. 2 (Kap. 16–21, S. 536–763, passim). In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 55v. 19 Winckelmann: Exzerpt aus: J. Allen: Abrégé de toute la médicine pratique, où l’on trouve les sentimens des plus habiles médecins sur les maladies […]. 8 Bde. 4. Aufl. durchgesehen und verbessert von B. Boudon, 1750 [Erstveröffentlichung der frz. Übersetzung durch Jean Devaux: 3 Bde., Paris 1728]. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 37–45v. 20 Winckelmann: Exzerpt aus: Voltaire: Éclaircissements nécessaires donnés par M. de Voltaire le 20 mai 1738 sur les Éléments de la philosophie de Newton, s. l. n. d. [Amsterdam 1738]. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 78v. Deutsche Übersetzung: »All die Alten, die ohne das Licht der Erfahrung über die Physik spekulierten, waren nichts als Blinde, die anderen Blinden das Wesen der Farben erklärten«.
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gie des Auges, die Gesetze der Optik, die Verbesserung der Sehfähigkeit durch optische Geräte durchziehen fast leitmotivisch sein handschriftliches Exzerptenmagazin. So schreibt er die Bemerkungen Jean Merys über die Iris ab, entnimmt Allens medizinischem Traktat eine genaue Beschreibung zahlreicher Augenkrankheiten und interessiert sich für die Analysen Réaumurs zu einer neuen Purpurfarbe. Aus Buffons Histoire naturelle übernimmt er lange Ausführungen über das enge Zusammenwirken und die notwendige Mitwirkung des Gesichts und des Tastsinns beim Erkennen.21 Der optischen Funktion des Auges widmet er eine der schönsten Zeichnungen seiner handgeschriebenen Bibliothek: Krügers Darstellung der Wirkung der Lichtstrahlen auf das menschliche Auge (Abb. 2).22
|| 21 Winckelmann: Exzerpt aus: Jean Mery: Anatomie de l’Iris de l’œil [in: Mémoires de l’Académie des Sciences]. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 12; ders.: Exzerpt aus: J. Allen: Abrégé de toute la médicine pratique (Anm. 19). In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 44ff.; ders.: Exzerpt aus: R. A. Ferchault de Réaumur: Sur une nouvelle couleur pourpre [in: Mémoires de l’Académie des Sciences]. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 14; ders.: Exzerpt aus: Buffon, Histoire naturelle générale (Anm. 17). In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 5v-6. 22 Winckelmann: Exzerpt aus: J. G. Krüger: Naturlehre (Anm. 18), Bd. 2. In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 64, fol. 58.
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Abb. 1: Winckelmanns Exzerpt aus: Georges-Louis Leclerc de Buffon, Histoire naturelle générale & particulière avec la description du cabinet du Roy, Bd. 3, Paris 1749 (Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 64, fol. 1).
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Abb. 2: Winckelmanns Exzerpt aus: Johann Gottlob Krüger, Naturlehre, Bd. 2, Halle 1742 (Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 64, fol. 58).
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2 Dekonstruktion einer Antinomie Zweifelsohne haben diese naturgeschichtlichen Lektüren auf Winckelmanns Erkenntnisbegriff einen entscheidenden Einfluss ausgeübt. Vor allem in seiner kunstgeschichtlichen Methodik hebt er gerne seine empiristische Orientierung hervor, die der römische Aufenthalt allererst ermöglicht habe: »Man schreibe von nichts als man gesehen und gewiß weiß«, mahnt er 1758 in einem Brief aus Rom. Die Autopsie wird zum Gesetz seiner Geschichte der Kunst erhoben: »Ich habe alles, was ich zum Beweis angeführet habe, selbst und vielmal gesehen, und betrachten können, so wohl Gemälde und Statuen, als geschnittene Steine und Münzen«.23 Nun entspricht die von Winckelmann stilisierte Antinomie von Lesen und Sehen, vorrömischer Buchgelehrsamkeit und römisch-sinnlichem Kunsterlebnis nur zum Teil seiner eigentlichen Kunsterfahrung und Arbeitsmethode. Zwar brachte für ihn die Übersiedlung nach Rom einen tiefgreifenden Wechsel in der Kunstwahrnehmung mit sich. Jedoch muss gegen eine weit verbreitete Meinung hervorgehoben werden, dass er in Italien keineswegs mit der Praxis des gelehrten Lesens und Schreibens brach. In ihrem Umfang sind die in Rom verfassten Exzerpte keineswegs geringer als die in Deutschland verfassten, wie die Analyse der Wasserzeichen und der Papierqualität seiner handschriftlichen Lesenotizen beweist.24 Allem Anschein nach hat Winckelmann mit dem gelehrten Habitus des Exzerpierens nicht so radikal gebrochen, wie er es selbst darstellen wollte. Der antiquarischen Literatur entnahm er in Rom eine gewaltige Ausbeute an Informationen über antike Numismatik, Architektur, Glyptik usw., die er in seinen Exzerptheften sorgfältig registrierte. Von Pausanias bis zu Cay-
|| 23 Winckelmann: Brief an P. von Stosch, 8. Februar 1758. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 335; ders.: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. XXI (der ersten Auflage). 24 Die genaue Datierung von Winckelmanns Exzerpten wirft vielfache Probleme auf. Nur selten notiert Winckelmann ein präzises Datum in seinen Heften. Dennoch ist es meistens möglich, aufgrund der Papierqualität und der Wasserzeichen die in Deutschland verfassten Exzerpte von denen des italienischen Aufenthalts zu unterscheiden. In Deutschland benutzte Winckelmann ein ziemlich grobes, graues Papier mit holländischem Wasserzeichen, das sich gut erkennen lässt (Gegenmarke: I Villandry). Vgl. dazu: Marianne Bockelkamp: Was lehren uns die Wasserzeichen der Pariser Winckelmann-Handschriften. In: Philobiblon 40:1 (1996), S. 40– 48. Hierbei muss hervorgehoben werden, dass einige der von André Tibal im Nachlass-Inventar vorgeschlagenen Datierungen der Exzerpthefte fehlerhaft sind (André Tibal: Inventaire des manuscrits de Winckelmann déposés à la Bibliothèque Nationale. Paris 1911). Einige der von ihm als »deutsch« angegebenen Exzerpte wurden eigentlich in Italien geschrieben, wie das Wasserzeichen und die Qualität des Papiers bezeugen.
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lus, über Athanasius Kircher, Nicolas Fabri de Peiresc, Ezechiel Spanheim oder Jacob Spon, kein Autor fehlt in dieser schwindelerregenden römischen Exzerptensammlung.25 Selbst nach dem direkten visuellen Kontakt mit der LaokoonGruppe im Cortile del Belvedere entnimmt er der antiquarischen und kunsthistorischen Literatur vielerlei Notizen zum Laokoon, wie zum Beispiel die Laokoon-Beschreibungen von Joachim von Sandrart und Paolo Alessandro Maffei in der Teutschen Academie (1675–1679) und in der Raccolta di statue antiche e moderne (1704).26 In der Exzerpiermethode lassen sich allerdings deutliche Verschiebungen zwischen der deutschen und der italienischen Periode beobachten. Im Durchschnitt tendieren die Exzerpte der italienischen Periode dazu, nicht nur kürzer und gezielter, sondern auch thematisch einheitlicher auszufallen. In seiner ersten Zeit in Deutschland lässt Winckelmann gerne wahllos ein Exzerpt auf das andere folgen. Die ältesten Hefte enthalten Lesefrüchte aller Art: neuere Autoren und ältere, Reiseberichte und Lexikonartikel, Historisches und Medizinisches, Literarisches und Geographisches.27 Es wirkt, als habe er alles so aufgeschrieben, wie es ihm vor Augen gekommen war. Eine Änderung lässt sich schon ab etwa 1750 wahrnehmen, als er sich in Nöthnitz mit dem Plan zu den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke zu tragen beginnt, seinem ersten gedruckten Werk. Von nun an entstehen kohärentere Themenhefte zur antiken und neueren Kunst, zu den Sitten der Griechen usw. Diese Tendenz wird mit der Übersiedlung nach Rom noch deutlicher. Mit besonderer Vorliebe widmet sich nun der Exzerptor spezifisch den antiquarischen und kunsthistorischen Gegenständen. Abweichende Themen – wie z. B. Notate über Medizinisches, die mehrere in Deutschland angefertigte Hefte gefüllt hatten – werden nun vermieden. Man gewinnt den Eindruck, als habe der reife Winckelmann allmählich auf jene tiefe, ja fast fromme Achtung vor dem gelesenen Text verzichtet, die ihn zuvor, insbesondere vor der Arbeit an den Gedanken über die Nachahmung, dazu brachte, seitenlange Passagen über die verschiedensten Gegenstände texttreu zu kopieren. So spiegelt die || 25 Die Exzerpte aus diesen Werken befinden sich im Wesentlichen in den Bänden 63 und 67 des Pariser Nachlasses. 26 Winckelmann: Exzerpt aus: J. von Sandrart: Sculpturae veteris admiranda, sive delinea statuarum, Norimberga 1680 (lateinische Übersetzung von: J. v. S.: L’Academia todesca della architectura, scultura e pittura, oder Teutsche Academie. Nürnberg 1675–1679). In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 67, fol. 49v; ders.: Exzerpt aus: P. A. Maffei: Raccolta di statue (Anm. 5). In: J. J. W.: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 67, fol. 50rv. 27 Der Bd. 72 der Pariser Manuskripte, der Exzerpte aus der Nöthnitzer Periode enthält (1748– 1754), bietet ein gutes Beispiel für diesen Eklektizismus.
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Entwicklung dieser privaten Exzerptensammlung eine grundlegende Wandlung in Winckelmanns Selbstwahrnehmung wider: Aus einem Leser voller Ehrfucht vor dem exzerpierten Text wird allmählich ein autonomer Autor. Ab der Mitte der fünfziger Jahre dient das Arsenal des Gelesenen, welches in der ersten deutschen Phase auf die massive Reproduktion von fremden Kenntnissen zielte, ganz offensichtlich der Produktion eines eigenen Diskurses. Die Exzerptensammlung hat sich deutlich zur eigentlichen Schreibfabrik autonomisiert – eine Autonomisierung, welche sich an vielen Details ablesen lässt. So beschäftigt sich Winckelmann in Rom nicht nur intensiv damit, seine Exzerptensammlung durch neue Lesefrüchte zu erweitern, sondern er fängt auch an, Kataloge dieser Exzerptensammlung anzufertigen, seine bisherigen Exzerpte unter bestimmten Rubriken zu klassifizieren und sogar Exzerpte aus eigenen Exzerpten einzurichten (wie in seinen »Collectanea zu meinem Leben«).28 Unter dem Titel Collectanea ad historiam artis versammelt er z. B. Notizen aus Pausanias, Strabon, Lukian oder Plinius, die er dann in immer feineren Klassifizierungsrastern zu ordnen versucht: Architektur, olympische Spiele, Nachahmung der Natur, Ursprünge und Verfall der Kunst usw.29 Für die epistemologischen Grundlagen von Winckelmanns späterem Werk ist dieser ununterbrochene Rückgriff auf die alte gelehrte Methode des Exzerpierens von aufschlussreicher Bedeutung. So nimmt sowohl durch die Autopsie der Kunstwerke als auch durch die erneute Lektüre seiner handgeschriebenen Bibliothek das Unternehmen der Kunstgeschichte Gestalt an. Auf seine Exzerpiertätigkeit hat Winckelmann selbst zwar kaum hingewiesen. Spuren davon lassen sich jedoch deutlich in der Bibliographie erblicken, die er seiner Geschichte der Kunst des Alterthums voranstellt und welche vor allem diejenigen Werke enthält, die er in seinem Exzerptenmagazin exzerpiert hat.30 Würde man also den Winckelmann der römischen Periode als konsequenten Empiriker be-
|| 28 Winckelmann: [Exzerpthefte] (Anm. 13), Bd. 73, fol. 46–68 (Catalogus). Dieser Katalog der eigenen Exzerpte wurde wahrscheinlich um 1756 begonnen. Er blieb unvollendet. Vgl. auch: Winckelmann: Collectanea zu meinem Leben. In: J. J. W.: Briefe (Anm. 1), Bd. 4, S. 154–163 (das Manuskript dieser Collectanea befindet sich in der Bibliothek der Rubiconia Accademia dei Filopatridi in Savignano sul Rubicone in Italien). Vgl. dazu Wolfgang Schadewaldt: Winckelmann als Exzerptor und Selbstdarsteller. Mit Beiträgen von Walther Rehm. In: W. S.: Hellas und Hesperien. Bd. 2. Zürich/Stuttgart 1960, S. 637–657. 29 Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits (Anm. 13), Bd. 57, fol. 198– 233 (dort Rubriken wie »De Architectura«, »Ludi Olympici« usw., fol. 204v–205). Vgl. auch ebd., Bd. 59, fol. 252–273; Bd. 69, fol. 43–126. 30 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. XLI-XLVIII (der ersten Auflage).
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schreiben, der unter Verzicht auf Bücherwissen seine Kunstkenntnisse fast ausschließlich aus sinnlicher Kunsterfahrung gewinnt, so würde man das Ambivalente, Spannungsreiche und dabei auch das Anregende seiner epistemologischen Position verfehlen. Trotz aller öffentlichen Berufung auf die Vorzüge der empirischen Seherfahrung widmet sich Winckelmann seiner Exzerptensammlung auch noch nach seiner Ankunft in Italien mit unverändertem Eifer.
3 Winckelman und Caylus Um Winckelmanns ambivalentes Verhältnis zur empiristischen Methodik zu beleuchten, soll hier exemplarisch seine zweideutige Beziehung zu Graf Caylus analysiert werden, der als Antiquar und Sammler eine wichtige Rolle für sein Werk spielte.31 Winckelmanns Beziehung zu Caylus ist von einer gewissen Ambivalenz geprägt. In vielen seiner Werke – wie z. B. in der Geschichte der Kunst des Alterthums oder in der Description des pierres gravées – bezieht er sich oft auf Caylus’ Forschungen und Sammlungen. Dabei zögert er aber nicht, wie etwa im Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen an den hochgebohrnen Herrn, Herrn Heinrich Reichsgrafen von Brühl (1762), dessen gravierende Irrtümer anzuprangern. In seinem Recueil d’antiquités sei Caylus von einem gemeinen Fälscher irregeführt worden und habe eine schlechte Kopie des Italieners Giuseppe Guerra für ein antikes Original gehalten.32 Dennoch bekundete Caylus Winckelmanns Arbeiten großes Interesse: Auf seine Initiative hin wurde das Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen ins Französische übersetzt, und 1763 beteiligte er sich an der Sub-
|| 31 Zu Caylus’ Werk vgl. Joachim Rees: Die Kultur des Amateurs. Studien zu Leben und Werk von Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de Caylus (1692–1765). Weimar 2006. 32 Johann Joachim Winckelmann: Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen. Hg. von Stephanie-Gerrit Bruer/Max Kunze. Mainz 1997 [Erstveröffentlichung: Dresden 1762], S. 87. Andererseits findet man aber auch neutrale Erwähnungen von Caylus’ Sammlung in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums ([Anm. 3], S. 52, 73) sowie in seiner Description des pierres gravées du feu baron de Stosch ([Anm. 5], S. 21, 184, 230, 376, 453, 456, 468). In seiner Korrespondenz weist Winckelmann gerne auf dessen zweifelhafte Informationen, Beschreibungen aus zweiter Hand und offensichtliche Verwechslungen zwischen griechischen und römischen Werken hin – versäumt aber nicht, ihm seine herzlichen Grüße zu übermitteln (Winckelmann: Brief an P. von Stosch, 10. Dezember 1757. In: J. J. W.: Briefe [Anm. 1], Bd. 1, S. 317; ders.: Brief an J. G. Wille, [erste Hälfte Dezember 1757]. In: ebd., Bd. 1, S. 320; Brief an P. von Stosch, 4. Oktober 1760. In: ebd., Bd. 2, S. 102; ders.: Brief an J. G. Wille, 28. Januar 1764. In: ebd., Bd. 3, S. 13).
Winckelmanns Umgang mit den Quellen zur antiken Kunst | 331
skription der Monumenti antichi inediti.33 Jedoch war seine Rivalität zum deutsch-römischen Antiquar auf römischem Boden groß. Die Ambivalenz der Beziehungen, die die beiden Antiquare zueinander unterhielten, spiegelt sich in ihren jeweiligen theoretischen und methodischen Ansätzen wider. Zwar scheinen beide Gelehrte vom absoluten Vorrang des Kunstgegenstandes sowie vom Gesetz der Autopsie als Quelle antiquarischen oder kunstgeschichtlichen Wissens überzeugt zu sein. Darüber hinaus verbindet sie die gemeinsame Absicht, anhand der antiken Denkmäler eine Geschichte der Kunst und damit auch des Schönen zu schreiben.34 Trotz dieser Übereinstimmungen schreiben sie jedoch den Gegenständen eine unterschiedliche heuristische Qualität zu. Bekanntlich verstand sich Caylus als »Physiker« auf geschichtlichem Gebiet und stellte dabei seine Sammlung als ein Laboratorium dar, in dem anhand von Objekten Experimente geführt wurden.
|| 33 In der Korrespondenz von Caylus und Paolo Maria Paciaudi kann man die Chronologie dieser Übersetzung nachlesen, die mit der Hilfe von Pierre-Jean Mariette von Michael Huber geliefert wurde und 1764 bei Tilliard in Paris unter dem Titel Lettre de M. l’abbé Winckelmann […] à M. le comte de Brühl […] sur les découvertes d’Herculanum erschien. Vgl. Caylus: Briefe an P. M. Paciaudi, 24. Oktober 1763 und 4. Dezember 1763. In: Correspondance inédite du Comte de Caylus avec le Père Paciaudi, théatin (1757–1765). Hg. von Charles Nisard. 2 Bde. Paris 1877, hier Bd. 1, S. 374, 383. 34 Anne Claude Philippe de Tubières, comte de Caylus: Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines. 7 Bde. Paris 1752–1767, hier Bd. 1, 1752, S. XIf.: »Les arts sont en quelque façon l’objet principal de cet ouvrage; la forme, le trait et les détails de chaque monument sont devenus mes règles en plusieurs occasions et je n’ai pas eu lieu de m’en repentir. Quoique jusqu’ici on ait peu suivi cette manière d’écrire sur les antiquités, je la crois cependant très utile; elle est du moins très propre à donner aux artistes quelques idées des belles formes« (»Die Künste sind in gewisser Weise der Hauptgegenstand dieses Werkes; die Form, die Zeichnung und die Einzelheiten eines jeden Denkmals sind bei verschiedenen Gelegenheiten zu meinen Regeln geworden, und ich hatte noch keinen Grund, das zu bereuen. Auch wenn man bisher dieser Art, über die Antiken zu schreiben, wenig gefolgt ist, finde ich sie doch sehr nützlich, um den Künstlern ein paar Vorstellungen von schönen Formen zu geben«). Vgl. dazu Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. Xf.: »Die Beschreibung einer Statue soll die Ursache der Schönheit derselben beweisen, und das besondere in dem Stile der Kunst angeben: es müssen also die Theile der Kunst berühret werden, ehe man zu einem Urtheile von Werken derselben gelangen kann. Wo aber wird gelehret, worinnen die Schönheit einer Statue besteht? welcher Skribent hat dieselbe mit Augen eines weisen Künstlers angesehen? Was zu unsern Zeiten in dieser Art geschrieben worden, ist nicht besser, als die Statuen des Callistratus; dieser magere Sophist hätte noch zehenmal so viel Statuen beschreiben können, ohne jemals eine einzige gesehen zu haben: unsere Begriffe schrunden bey den mehresten solcher Beschreibungen zusammen, und was groß gewesen, wird wie in einen Zoll gebracht«.
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Je voudrais qu’on cherchât moins à éblouir qu’à instruire et qu’on joignît plus souvent aux témoignages des Anciens la voie de la comparaison qui est pour l’antiquaire ce que les observations et les expériences sont pour le physicien. L’inspection de plusieurs monuments rapprochés avec soin en découvre l’usage, comme l’examen de plusieurs effets de la nature combinés avec ordre en dévoile le principe. Et telle est la bonté de cette méthode que la meilleure façon de convaincre d’erreur l’antiquaire et le physicien, c’est d’opposer au premier de nouveaux monuments et au second de nouvelles expériences.35
Diesem empiristischen Paradigma zufolge weigert sich Caylus, Konjekturen aufzustellen, wenn die Denkmäler schweigen. Man müsse es »wagen, nichts zu wissen«, schreibt er im ersten Band seines Recueil d’antiquités.36 Mit anderen Worten darf der Antiquar nicht davor erschrecken, Lücken in seinem Diskurs offen zu lassen und sich von dem Traum einer linearen und vollständigen Erzählung zu verabschieden. Die der Erde entrissenen Denkmäler bilden eine vielfach unterbrochene, zerfetzte, lückenhafte Kette, so dass jede zusammenhängende narrative Übersicht und jede einheitliche These diese Kette notwendigerweise falsch darstellt. Von diesem Umgang mit den ausgegrabenen Gegenständen ist Winckelmann weit entfernt. In Übereinstimmung mit einer alten archäologischen Tradition, von der er unter anderem bereits bei Montfaucon lesen konnte,37 nimmt er sich durchaus das Recht, trotz aller Berufung auf einen strengen Empirismus Konjekturen zu formulieren, d. h. aus dem Bereich der fassbaren Sicherheiten in den der Wahrscheinlichkeit überzuwechseln, wenn das Material stumm bleibt. Schon in seiner Vorrede zur Geschichte der Kunst formuliert er dieses Lob der Hypothese:
|| 35 Caylus: Recueil d’antiquités (Anm. 34), Bd. 1 (1752), S. IIIf. Deutsche Übersetzung: »Ich wünschte, man würde weniger blenden und mehr lehren und für die Zeugnisse der Alten öfter den Weg des Vergleichs beschreiten, der für den Antiquar dasselbe ist wie für den Physiker Beobachtungen und Experimente. Die Betrachtung mehrerer sorgfältig nebeneinander gehaltener Denkmäler wird ihren Gebrauch entdecken, wie auch die Prüfung mehrerer verbundener Naturphänomene ihr Prinzip enthüllt. Und die Gültigkeit dieser Methode lässt sich an dem Umstand ablesen, daß die beste Weise, den Irrtum eines Physikers und eines Antiquars nachzuweisen, darin besteht, den ersteren mit neuen Denkmälern und den letzteren mit neuen Experimenten zu konfrontieren.« 36 Ebd., S. III. 37 Montfaucon: L’Antiquité expliquée (Anm. 3), Bd. 1 (1719), S. VIf.: »Ma maxime est de ne rien dire sur chaque chose en particulier que ce qu’on peut savoir de sûr ou de fort probable« (»Meine Maxime ist, nichts über jede Sache im einzelnen zu sagen, als was man sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit wissen kann«).
Winckelmanns Umgang mit den Quellen zur antiken Kunst | 333
Ich habe mich mit einigen Gedancken gewaget, welche nicht genug erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen; und wie oft ist durch eine spätere Entdeckung eine Muthmaßung zur Wahrheit geworden. Muthmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festen halten, sind aus einer Schrift dieser Art eben so wenig, als die Hypotheses aus der Naturlehre zu verbannen; sie sind wie das Gerüste zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bey dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viel leere Plätze machen will. Unter einigen Gründen, welche ich von Dingen, die nicht klar wie die Sonne sind, angebracht habe, geben sie einzeln genommen, nur Wahrscheinlichkeit, aber gesammelt und einer mit dem andern verbunden, einen Beweis.38
Hierin tritt eine erkenntnistheoretische Divergenz zwischen Caylus und Winckelmann zu Tage, die ihre unterschiedlichen Ansätze zum großen Teil erklärt. Während Caylus an einem streng empiristischen Modell festhält und sich weigert, die Lücken der Empirie durch Konjekturen zu füllen, erklärt sich Winckelmann gerne bereit, den Bereich der Empirie zu verlassen, um mit Hilfe von Hypothesen ein übergreifendes, kohärentes, lückenloses Bild der Entwicklung der antiken Kunst zu entwerfen. Einige Stellen aus Caylus’ Briefwechsel mit dem italienischen Antiquar und Theatiner Paolo Maria Paciaudi deuten darauf hin, dass er sich dieser Divergenz durchaus bewusst war. »Je suis content de lui [= Winckelmann] par rapport à Herculanum«, räumt Caylus 1764 ein, »mais je continue à ne pas l’être de la façon dont il traite les arts«. Winckelmann wird beschuldigt, sich mehr an der Kunst zu »erhitzen« (»s’échauffer«), als sie zu verstehen, und danach zu eifern, »Vergleiche über das Wesen der Antike zu erkünsteln«. Mit anderen Worten verlasse er zu schnell das Terrain der Erfahrung, um eine allgemeine Theorie aufzustellen, die leider jederzeit der Gefahr ausgesetzt sei, empirisch, d. h. durch weitere Ausgrabungen, widerlegt zu werden.39 Denn für Caylus hat eine Regel Vorrang: »Il n’y a pas de thèse générale sur les monuments, et un coup de pied donné au hasard est capable de démentir les propositions de tous les antiquaires, présents, passés et futurs«.40
|| 38 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Anm. 3), S. XXIV (der ersten Auflage). 39 Caylus: Briefe an P. M. Paciaudi, 23. Januar, 5. Februar, 26. Februar, 1. Juli 1764. In: Correspondance inédite (Anm. 33), Bd. 1, S. 410, 414f., 423; Bd. 2, S. 15. Deutsche Übersetzung: »Ich bin zufrieden mit ihm [= Winckelmann] wegen Herculaneum. Aber ich bin es weiterhin nicht wegen seiner Art, mit der Kunst umzugehen«. 40 Caylus: Brief an P. M. Paciaudi, 20. November 1763. In: ebd., Bd. 1, S. 380. Deutsche Übersetzung: »Es gibt keine allgemeine These über die Denkmäler und ein zufälliger Fußtritt kann die Sätze aller heutigen, früheren und zukünftigen Antiquare über den Haufen werfen«.
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Der offenkundigste Effekt dieser Divergenz macht sich in der Form ihrer jeweiligen Werke geltend. Zerbrochene Vasen, Scherben von Amphoren, Fragmente von Wandmalereien: Caylus unterstreicht bei seinen Antiken gerne ihren wesenhaft fragmentarischen Charakter, der wiederum in einer fragmentarischen Darstellungsform zum Ausdruck kommt, nämlich in der des »recueil«, d. h. der Sammlung, der Auslese. Nur die unsystematische, kumulative, zersplitterte Zusammenstellung des Recueil d’antiquités kann den in seinen Augen zentralen Wesenszug des Wissens über die Antike treu wiedergeben, dessen Unvollständigkeit. Winckelmanns hermeneutischen Prinzipien ist diese Vorstellung diametral entgegengesetzt. Wichtig ist für den Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums die narrative Vollständigkeit der Übersicht über die antiken Kunstnationen, die Kohärenz des zyklischen Ablaufs ihrer jeweiligen Kunstentwicklung, kurz gesagt: der Zusammenhang des »Lehrgebäudes«, auch wenn diese Kohärenz durch etliche Einflickungen, Zufügungen und Entstellungen erkauft werden muss. Wo Winckelmann auf historische Erzählung abzielt, also auf Verbindung und Synthese, wählt Caylus für sich die Position des Sammlers, dessen Bedingung die Verzettelung und die Lücke ist.
Christoph Bultmann
Drei Ringe und Ein Opal Matthew Tindals Religionsphilosophie als ein Faktor für Lessings Nathan der Weise. Mit einem Nachdruck von Tindals Abhandlung Reasons against restraining the press von 1704 Für Gotthold Ephraim Lessing ist es eine Selbstverständlichkeit anzunehmen, es sei sinnvoll, in seinem philosophischen Schauspiel Nathan der Weise (1779) den Lesern und Leserinnen, und eines Tages dem Theaterpublikum, einen temperamentvollen Tempelritter vorzustellen, der Nathan über seine Pflegetochter Recha mit dem Ausruf bestürmt: »Nathan, Nathan! | Was hattet Ihr für einen Engel da gebildet, | Den Euch nun andre so verhunzen werden!« (V/5, v. 340– 342). Das Christentum, die positive Religion, stellt – so klingt es hier – die Verhunzung eines vorgängigen religiösen Bildungsprozesses dar, gemeint ist die natürliche Religion. »Wird den lautern Weizen, | Den Ihr gesä’t, das Unkraut endlich nicht | Ersticken?« (V/5, v. 324–326) – kann es dafür auch in bewusster Aufnahme und Verfremdung eines biblischen Bildes heißen. Nathan prägt Rechas religiöse Bildung so, dass er, wie dem Tempelritter bekannt geworden war, »Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als | Vielmehr in keinem Glauben auferzogen [hat], | Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger | Gelehrt, als der Vernunft genügt« (IV/2, v. 177–180).1 Wenn heute von Lessings Schauspiel Nathan der Weise als einem höchst bedeutsamen Theaterstück zum Thema der Toleranz die Rede ist, wird stets vorausgesetzt, das Grunddatum jeder Religiosität sei die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, in der eine spezifische, historisch kontingente, positive Religion ihre soziale Gestalt gewonnen hat: Der Jude gehört zum Judentum, der Christ gehört zum Christentum und der Muslim gehört zum Islam. Aus Lessings Schauspiel ist dann für den Umgang mit solchen Zugehörigkeitsverhältnissen – neben der epistemologischen und frömmigkeitspraktischen Pointe der Ringpa-
|| 1 Lessings Nathan der Weise wird hier zitiert nach der Ausgabe in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Winfried Barner u. a. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1985–2003, hier Bd. 9. Vgl. zum Thema Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing und die Toleranzdebatten der Frühen Neuzeit. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Berlin 2015, S. 381–415; vgl. auch Christoph Bultmann: »Ewiges Verderben« als Schatten über der Toleranz. In: Christoph Bultmann/Birka Siwczyk (Hg.): Tolerant mit Lessing. Ein Lesebuch zur Ringparabel. Leipzig 2013, S. 196–209.
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rabel – die Ermahnung mitzunehmen, »Sei keinem Juden, keinem Muselmanne | Zum Trotz ein Christ!« (IV/4, v. 424f.); die Ermahnung lässt sich in den entsprechenden Analogien weiter konstruieren. Dem temperamentvollen Tempelritter, der Rechas religiöse Bildung bewundert, ist dieses übliche Verständnis religiöser Bildungsprozesse durchaus bewusst: »Der Aberglaub’, in dem wir aufgewachsen, | Verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum | Doch seine Macht nicht über uns. – Es sind | Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten« (IV/4, v. 377–379). Stehen der Weizen oder das Unkraut am Beginn der frühen Bildungsprozesse? Lessing hatte seinen Lesern schon gleich zu Beginn des Schauspiels eine Probe davon gegeben, wie ein religiöser Bildungsprozess aussieht, der auf die natürliche Religion setzt. Zwar gibt es, wie Lessing am Beispiel des Engelglaubens zeigt, auch eine religiöse Mythologie, die die positiven Religionen übergreift; dementsprechend lässt er Daja, Rechas christliche Gesellschafterin, an Nathan appellieren: »Lasst lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, | In dem sich Jud’ und Christ und Muselmann | Vereinigen; – so einen süßen Wahn!« (I/1, v. 151–153). Doch im Kontext der natürlichen Religion hat gegenüber der mythologischen Ausdrucksform für den Glauben an Gottes Vorsehung die Orientierung an ethischen Grundwerten Vorrang: Nun, einem Engel, was für Dienste, Für große Dienste könnt ihr dem wohl tun? Ihr könnt ihm danken; zu ihm seufzen, beten; Könnt in Entzückung über ihn zerschmelzen; Könnt an dem Tage seiner Feier fasten, Almosen spenden. – Alles nichts. (I/2, v. 306–311)
Wenn es darum geht, nach den eigentlichen religiösen Idealen zu leben, geht es um ein Leben in der Welt der Menschen, so dass Lessing Nathan seine erzieherische Intervention bei Recha zu der Klimax führen lässt: […] Begreifst du aber, Wie viel andächtig schwärmen leichter, als Gut handeln ist? Wie gern der schlaffste Mensch Andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten Sich schon der Absicht deutlich nicht bewusst – Um nur gut handeln nicht zu dürfen [= brauchen]? (I/2, v. 359–364).
Tindals Religionsphilosophie als ein Faktor für Lessings »Nathan der Weise« | 337
Was also »genügt« der Vernunft, wenn es um die Frage nach Gott geht? Es gibt die Vorsehung Gottes, auf die der Mensch mit »innigster Ergebenheit in Gott« antwortet (III/7, v. 531). Insofern kann er sich an die »tröstende Lehre« halten, »dass Ergebenheit | In Gott von unserm Wähnen über Gott | So ganz und gar nicht abhängt« (III/1, v. 73–76).2 Und es gibt die Mitmenschlichkeit in Gottes Welt, die durch die Frage nach ethischen Prinzipien dem »gut handeln«, geleitet und hingelenkt wird auf die Ideale von »Sanftmut, Verträglichkeit, Wohltun« (III/7, v. 529–531). Religion soll »vor Gott und Menschen angenehm machen« (III/7, v. 399f.). Das ist die Kraft des Opals in jedem der drei Ringe. Für das Modell der natürlichen Religion lassen sich verschiedene Theorien aufstellen, untersuchen und verwerfen. Der Einwand, dass in einem strikten epistemologischen Sinne von einer vernünftigen – und insofern natürlichen und universalen – Religion keine Rede sein könne, ist oft genug erhoben worden und bleibt bestehen. Auf der Seite der Philosophie lässt sich aus dem Modell der natürlichen Religion nur die Komponente der universalen Ethik festhalten, für die die Frage der Begründbarkeit und die Frage nach Grundprinzipien zu erörtern sind. Doch ist mit dieser philosophisch gebotenen Vereinseitigung das Potential des Modells der natürlichen Religion noch nicht erschöpft. Denn einerseits bleibt die Frage bestehen, ob sich eine vernünftige universale Ethik für Menschen, die sich zu einem entsprechenden Orientierungsrahmen bekennen, mit einem religiösen Bekenntnis verbinden kann – sei es im Sinne einer Deutungschiffre, sei es im Sinne einer Motivationsquelle. Andererseits geht es bei dem Modell der natürlichen Religion um ein Kriterium für die Kritik einer positiven Religion. »Nathan, Nathan! | Was hattet Ihr für einen Engel da gebildet, | Den Euch nun andre so verhunzen werden!« – Wo beginnt dieses »Verhunzen« im Aufeinandertreffen von natürlicher und positiver Religion? Lessing konnte die Spannung zwischen natürlicher und positiver Religion (oder zwischen natürlicher Religion und der Pluralität positiver Religionen) mit großer Selbstverständlichkeit als Thema in sein Schauspiel integrieren, weil die kriteriologische Funktion der natürlichen Religion seit dem Ende der europäischen Selbstzerstörung in den Religionskriegen und Religionsverfolgungen des 17. Jahrhunderts bekannt war. In Alexander Popes Essay on Man (1733), der Lessing und Moses Mendelssohn um 1754 intensiv beschäftigt hat, liest sich das Thema so:
|| 2 Vgl. für eine weitere Problematisierung des Themas ›Vorsehung/Ergebenheit‹ IV/7, v. 653– 692.
338 | Christoph Bultmann
[…] In faith and hope the world will disagree, But all mankind’s concern is charity: All [modes of faith] must be false that thwart this one great end, And all of God, that bless mankind or mend. (III, v. 307–310)3
Ein anderer maßgeblicher Text der Zeit ist Matthew Tindals Abhandlung Christianity as old as the Creation: or, the Gospel, a republication of the Religion of Nature (1730), in dem sich das Thema so liest: By the Law of Nature as well as the Gospel, the Honour of God, and the Good of Man, being the two Grand, or General Commandments; all particular Precepts must be comprehended under these Two, and belong alike to the Law of Nature as well as the Gospel; and what does not, can belong to neither. Thus any particular Precept, if by Change of Circumstances it ceases to contribute to the Honour of God, or the Good of Man, much more if it become prejudicial to either, must lose its obliging Force.4
Günter Gawlick hat 1967 einen Reprint von Tindals Buch von 1730 herausgegeben und dabei das bleibende religionsphilosophische Interesse des in seinem kompilatorischen Charakter nicht leicht lesbaren Werkes betont. So schreibt Gawlick in seiner Einleitung nach einer Übersicht über verschiedene Kritikpunkte, die gegen Tindal geltend gemacht wurden: So berechtigt die Kritik, die man an Christianity as old as the Creation geübt hat, in einzelnen Punkten auch sein mag, sie rührt nicht an den Kern der Lehre Tindals. Dieser Kern gehört zum Besten, das die Religionsphilosophie der Aufklärung hervorgebracht hat, und er scheint auch heute noch bedenkenswert, denn er ist auf ein Ziel gerichtet, das noch immer nicht verwirklicht ist, auf dessen Verwirklichung wir aber nicht verzichten können.5
Das gemeinte Ziel ist die Entschärfung von Religionskonflikten, die durch Religionsfunktionäre innerhalb der positiven Religionen bzw. im christlichen Europa innerhalb der separaten Kirchengemeinschaften gesteuert werden.6 Tindal
|| 3 Hier zitiert nach: Alexander Pope. The Major Works. Hg. von Pat Rogers. Oxford (1993) 2008, S. 270–309, vgl. S. 645f.; die Verse gehören zum Ende des dritten »Briefes«, Z. 283–318. Vgl. auch Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 237–244. 4 Matthew Tindal: Christianity as old as the creation or, the gospel a republication of the religion of nature. London 1730. Neudruck mit einer Einleitung von Günter Gawlick. StuttgartBad Cannstatt 1967, S. 70 (Kap. 7). 5 Gawlick: Einleitung (Anm. 4), S. 34*. 6 Vgl. ebd., S. 23*f.
Tindals Religionsphilosophie als ein Faktor für Lessings »Nathan der Weise« | 339
hat – wie viele seiner Zeitgenossen – ein recht anschauliches Bild von diesen »Ecclesiasticks«: The Ecclesiasticks, tho’ they cry up the Precepts of Mens loving their Own Enemies; yet they effectually evade this, and all other moral Precepts, by telling them ’tis their Duty to hate God’s Enemies; and those to be sure, are God’s Enemies, who refuse blindly to submit to their Dictates; especially in Matters relating to their Power and Profit […].7
Die Leser von Lessings Nathan der Weise können ein solches Bild nur bestätigen, wenn die Figur des christlichen Patriarchen mit großer Geste erklärt: »Mich treibt der Eifer Gottes lediglich« (IV/2, v. 214). Gawlick betont, dass Tindal eine »indirekte, aber philosophisch um so tiefere Wirkung« auf Lessing (und auf Kant) gehabt habe.8 Sein Interesse richtet sich dabei nur auf Lessings Sentenzenreihe über Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), zu der er notiert, Tindal habe »Lessings Deutung der Offenbarung als einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts zur sittlichen Autonomie mit veranlasst«.9 Die Verbindungslinien zu Lessings Nathan der Weise dürften indessen noch sehr viel wichtiger sein, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, ob mit dem »Verhunzen« der natürlichen Religion durch die positive Religion auch schon der typische priesterliche Anspruch auf die Autorität zur Erteilung der Absolution gemeint ist, den Tindal folgendermaßen kommentiert: In a Word, while Priests of what Denomination soever pretend Authority to absolve Sinners, and the People are so void of Sense as to rely on their Absolution; Natural Religion, which puts the whole Stress on internal Penitence and true Virtue in the Soul, will be despis’d; as allowing no Succedaneum, no Commuting, or Compounding with Heaven.10
Die vorliegende Skizze kann nicht als eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Lessing und Tindal gelten, dessen Buch von 1730 ja seit 1741 auch in einer deutschen Übersetzung durch Johann Lorenz Schmidt verfügbar war.11 Sie stellt nur einen Versuch dar, erneut an die notwendige Kontextualisierung von Lessings Nathan in der Debatte über das Verhältnis zwischen natürlicher und positiver Religion zu erinnern. Denn je stärker Lessing als Theoretiker der Toleranz zwischen den positiven Religionen und als Nachdichter der Parabel von den drei Ringen in den Fokus rückt, desto mehr droht das religionsphilosophische
|| 7 Tindal: Christianity (Anm. 4), S. 350 (Kap. 13). 8 Gawlick: Einleitung (Anm. 4), S. 38*. 9 Ebd., S. 30*. 10 Tindal: Christianity (Anm. 4), S. 129 (Kap. 10). 11 Vgl. Gawlick: Einleitung (Anm. 4), S. 36*f.
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Fundament seiner Betrachtung der positiven Religionen überhaupt vernachlässigt zu werden. Man spricht von den drei Ringen, aber nicht von dem Opal in jedem Ring. Auf christlich-kirchlicher Seite wird dabei gerne mit dem Vorwurf des »Indifferentismus« die Auffassung vermittelt, dass im Religionsdiskurs die Identifikation mit einer positiven Religion und deren exklusivistischem Selbstverständnis Priorität haben müsse. Während Lessing bei seinem Publikum eine Vertrautheit mit der kriteriologischen Funktion des Modells der natürlichen Religion voraussetzen konnte, ist das Modell heute weitgehend unbekannt: Wer nicht die »säkulare Moderne« vertritt, vertritt eine »positive Religion«.12 Eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Tindal und Lessing, oder genauer zwischen den religionsphilosophischen und religionspolitischen Motiven, die bei Tindal in England nach 1689 eine beachtenswerte Fassung gefunden haben, und den religionsphilosophischen Motiven, die Lessings Neukonzipierung der Religionskritik unter den Bedingungen der lutherischen Kirchendoktrin und Kirchenpolitik im deutschen Kontext der 1750er bis 1770er Jahre bestimmen, bleibt ein Desiderat. Die religionsphilosophischen Motive, die bei Tindal greifbar sind, dürften jedoch zu den wesentlichen Faktoren der Konstellation gehören, in der Lessing sein Schauspiel Nathan der Weise schrieb, das im Entwurf ja schon »viele Jahre« vor seinem Konflikt mit dem Hamburger Hauptpastor entstanden war.13 Auf theologischer Seite wird das Desiderat eines Motivvergleichs mit Tindal in der Regel nicht wahrgenommen, weil Tindal in ein Systemgeflecht einbezogen wird, das mit dem Begriff ›Deismus‹ belegt und abgelegt wird. So erläutert Albrecht Beutel in seinem souveränen Überblick Aufklärung in Deutschland unter der Position »Horizonte« – »Voraussetzungen« – »Westeuropäische Religionsphilosophie«: »In England begann das Zeitalter der Aufklärung mit der Ausformung des Deismus« und nennt vor allem den GrotiusZeitgenossen Herbert von Cherbury (1583–1648) mit seinem Buch De veritate von 1624. Korrespondierend dazu heißt es wenig später: »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts verlor der englische Deismus zusehends an intellektueller Anziehungskraft.« Die »kompendienhafte Übersicht« in Tindals Buch von 1730 soll insofern wohl als ein Schlusspunkt gelten. Für Deutschland stellt Beutel fest,
|| 12 Vgl. indessen bei Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 1), S. 381–383, das Stichwort »postsäkulare Gesellschaft«. 13 Vgl. Lessing: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 12, S. 185f., Lessings Brief an seinen Bruder Karl Lessing vom 11. August 1778, zitiert in Bultmann/Siwczyk: Tolerant mit Lessing (Anm. 1), S. 309f. Nach Nisbet: Lessing (Anm. 3), S. 783, ist »aller Wahrscheinlichkeit nach« an »die frühen fünfziger Jahre« zu denken, d. h. an die Zeit, in die u. a. die Lektüre von Alexander Pope fällt.
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dass »die Äußerungen des englischen Deismus zwar über Jahrzehnte hinweg verfolgt, aber kaum substantiell diskutiert und schon gar nicht – bei der einzigen namhaften Ausnahme des Reimarus – positionell übernommen und fortgeführt« worden seien. Nun bietet Beutel zum Stichwort ›Deismus‹ zwar eine gut abwägende Vorstellung der diese »vielschichtige religionsphilosophische Bewegung« prägenden »übergreifenden Motive«, doch drängt sich der Eindruck in den Vordergrund, dass die einen solchen ›Deismus‹ repräsentierenden Denker eine kurze und überwundene Episode der europäischen Religionsphilosophie darstellten.14 Auf dieser Linie kann auch Henning Graf Reventlow Tindals Buch von 1730 als »am Höhe- und zugleich Endpunkt der deistischen Bewegung« stehend beschreiben.15 Der ›Deismus‹ ist passé, wenn man zu Lessing gelangt.16 In einer Fallstudie zu Tindals Buch von 1706, The rights of the Christian church asserted, deutet Dmitri Levitin demgegenüber eine kritischere Sicht auf die begriffliche Klassifikation ›Deismus‹ an, wenn er abschließend schreibt: The tendency to classify Tindal’s work [1706] as ›deistic‹ – despite the fact that it contained nothing overtly deist – can […] be traced to the personal attacks of high-church critics. This is not to deny that Tindal may well have held ›deistical‹ positions from as early as c. 1690. But to start from this ›knowledge‹ in reading the Rights is to adopt the tactic of Tindal’s clerical opponents. Tindal may have been an arch-deist or closet republican, but his text reflected very different intellectual traditions. The gap between author and contextual meaning should not be forgotten.17
|| 14 Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland. Göttingen 2006, S. 219–221. 15 Henning Graf Reventlow: Freidenkertum (Deismus) und Apologetik. In: Helmut Holzhey (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 1/1. Basel 2004, S. 177–245, hier S. 187. 16 Vgl. auch Nisbet: Lessing (Anm. 3), S. 701f. – Wenn Herder in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend von 1780/81 den Leser mit der Frage konfrontiert, »Was solls z. E. heißen, daß wir den Namen Deist zum Schimpf- und Ekelnamen gemacht haben?«, dürfte das als Hinweis darauf zu werten sein, dass die Wirkungsgeschichte des ›Deismus‹ keineswegs mit dem postulierten Endpunkt 1730 zu einem Ende kam; vgl. Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von Martin Bollacher u. a. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1985–2000. Bd. 9/1, S. 382–413, hier S. 411. Auch noch im ersten Band der Adrastea (St. 2), äußert Herder sich kritisch zum »schwarzen Kirchenverzeichnis der Freidenker« (Herder: Werke, Bd. 10, S. 132). Vgl. hierzu Claas Cordemann: Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal. Tübingen 2010, S. 176–184. 17 Dmitri Levitin: Matthew Tindal’s ›Rights of the Christian church‹ (1706) and the ChurchState Relationship. In: The Historical Journal 54 (2011), S. 717–740, hier S. 740. Levitin setzt sich auch in einem weiteren Aufsatz mit dem Schematismus traditioneller Klassifikationen auseinander, vgl. Dmitri Levitin: From Sacred History to the History of Religion: Paganism, Judaism, and Christianity in European Historiography from Reformation to ›Enlightenment‹. In: The Historical Journal 55 (2012), S. 1117–1160.
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In vergleichbarer philosophischer Aufgeschlossenheit gegenüber Tindal und unabhängig von der Klassifikation ›Deismus‹ untersucht Peter Byrne Tindals eingestandene Abhängigkeit von John Lockes religionsphilosophischen und religionspolitischen Argumenten, wiederum in erster Linie mit Bezug auf Tindals Buch von 1706.18 Ein relativ scharfes Profil im Kontext seiner Zeit, auch unter Berücksichtigung der Naturphilosophie, erhält Tindal bei Jeffrey R. Wigelsworth in einer Studie, in der alle wesentlichen Schriften des Autors angesprochen werden.19 Tindals Sicht der Menschen als »rational creatures« dürfte einen guten Ansatzpunkt dafür bieten, die Radikalität zahlreicher Aussprüche in Lessings Nathan der Weise zu verstehen, nicht zuletzt auch den entsetzten Ausruf über das »Verhunzen« einer in der natürlichen Religion verankerten Glaubenshaltung. Der Opal in Lessings Dichtung, »der hundert schöne Farben spielte« (III/7, v. 398), korrespondiert mehr der Frage nach der Substanz einer vernünftigen »natürlichen Religion« als der Frage nach der Kontingenz der »positiven Religionen«. Um den religionsphilosophischen Impuls wieder aufzugreifen, den Günter Gawlick 1967 mit dem Reprint von Tindals Christianity as old as the Creation zu geben versuchte, und um das Interesse an dem Autor zu verstärken, soll im Folgenden eine prägnante frühe Schrift Tindals neu zugänglich gemacht werden, in der eindrucksvoll sein Engagement für die Befriedung von Religionskon|| 18 Peter Byrne: Matthew Tindal and Tolerance: Some Lockean Themes. In: Simo Knuuttila/Risto Saarinen (Hg.): Theology and Early Modern Philosophy. Helsinki 2010, S. 169–183. – Eine gewisse Mahnung zur Vorsicht im Begriffsgebrauch äußerte sogar Reventlow, der zu seiner Vorstellung von The rights of the Christian church asserted anmerkt: »Wenn man das Spätwerk Tindals: ›Christianity as old as the creation‹ als im echten Sinne deistische Schrift begreifen will, darf man die Vorstufen dazu, die schon in der früheren kirchenpolitischen Schriftstellerei des gleichen Verfassers sichtbar werden, nicht übersehen.« Henning Graf Reventlow: Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen 1980, S. 525–535, hier S. 534. Für Reventlow hat Tindal eine besondere Bedeutung, weil bei ihm »im Verhältnis zur Heiligen Schrift ein neues Stadium« erreicht sei, für das unter den Zeitgenossen allenfalls Shaftesbury zu vergleichen sei (ebd.). Die Vorstellung von Tindals Buch von 1730 (als »the major work of late deism«) durch Diego Lucci: Scripture and Deism. The Biblical Criticism of the Eighteenth-Century British Deists. Bern 2008, S. 169–186, bleibt sehr skizzenhaft. 19 Vgl. Jeffrey R. Wigelsworth: Deism in Enlightenment England. Theology, Politics, and Newtonian Public Science. Manchester 2009. Zu den Schriften Tindals besonders Kap. 1 (S. 14–43) und 2 (S. 44–70), ferner S. 74f., 178–186; vgl. auch ders.: »God can require nothing of us, but what makes for our Happiness«. Matthew Tindal on Toleration. In: Wayne Hudson/Diego Lucci/J. R. W. (Hg.): Atheism and Deism Revalued. Heterodox Religious Identities in Britain, 1650–1800. Farnham 2014, S. 139–155.
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flikten durch Etablieren eines Milieus von selbstständig urteilsfähigen Mitgliedern der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften erkennbar wird.20 Tindals Anliegen setzt voraus, dass in einer Gesellschaft die Freiheit zur Publikation kritischer Traktate, auch anonymer kritischer Traktate, gesichert ist; in diesem Sinne geht es in seiner Schrift Reasons against restraining the press von 1704 um die Abwehr von Zensurmaßnahmen. Das Problem findet auch in seinem Buch von 1730 ein Echo, wenn er in der Kritik an den »Ecclesiasticks« schreibt: If whatever tends to the Honour of God, and Good of Man, is evident from the Light of Nature, whence comes all this Uncertainty, Perplexity, Doubts and Difficulties? Is it not chiefly owing to the denying People that Liberty, which God, out of his infinite Goodness, has allow’d them by the Law of Nature; and hindring them from judging for themselves of the Means, which best tend to promote this End; and imposing on them, by the Terrors of temporal and eternal Punishment, such needless Speculations and useless Observances, as can’t be consider’d either as Means or Ends?21
Tindal lässt an dieser Stelle seinen Stichwortgeber in Statistenrolle zu Wort kommen und nachfragen: (B) You know that Divines, tho’ they can’t deny what you say to be true in general; yet they think there’s an Exception as to Church-Matters, and that here Men are not permitted to use such Means as they themselves think best; but such only as those, who set up to be their Spiritual Governors, shall appoint.
Und in Antwort darauf bekräftigt Tindal dann ein weiteres Mal die Notwendigkeit des freien Diskurses: (A) Nothing can be more absurd, than to suppose God has taken this Power from the People, who have an Interest to preserve Religion in its Purity (every Deviation from it being to their Prejudice) and plac’d it uncontroulably in the Hands of Men, who, having an Interest in corrupting it, do, generally speaking, so manage Matters, as if Religion was the Means, and their Power the End for which it was instituted.
Da Tindals Buch von 1730 leicht der genannten stereotypen Klassifizierung als Werk des ›Deismus‹ unterworfen wird, ist es reizvoll, das Anliegen des Autors
|| 20 Vgl. zu Tindal einführend neben der Einleitung von Gawlick (Anm. 4) den Artikel von B. W. Young: Tindal, Matthew (bap. 1657, d. 1733). In: Oxford Dictionary of National Biography [ODNB]. Bd. 54. Oxford 2004, S. 814–817, ferner vor allem Wigelsworth: Deism (Anm. 19). Einige Hinweise auf Tindal und sein Interesse an Hugo Grotius auch bei Christoph Bultmann, Natürliches Licht und natürliche Religion in der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013), S. 7–21, hier S. 8, 18f. 21 Tindal: Christianity (Anm. 4), S. 107 (Kap. 9).
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schon durch einen anderen, früheren Text kennenzulernen. In die Diskussion einbezogen werden könnten etwa die Abhandlung An essay concerning the power of the magistrate and the rights of mankind in matters of religion (1697) oder die Abhandlung A letter to a member of Parliament, shewing, that a restraint on the press is inconsistent with the protestant religion, and dangerous to the liberties of the nation (1698). Beide Texte sind ebenso wie Tindals Buch von 1706, The rights of the Christian church asserted, von einer Qualität, die es höchst fragwürdig scheinen lässt, wenn Jonathan Swift 1708 meint, in einer Satire gegen einen intellektuell ebenso wie literarisch unfähigen Tindal polemisieren zu müssen (An argument to prove that the abolishing of Christianity in England, may as things now stand, be attended with some inconveniences, and perhaps not produce those many good effects proposed thereby).22 Swift, der seinerseits bestens mit dem Sprichwort »corruptio optimi pessima« vertraut ist, wie seine »Apology« für A tale of a tub von 1709 zeigt,23 hätte bei Tindal zumindest die kriteriologische Funktion des Modells der natürlichen Religion ernst nehmen können. Und auch in Swifts Neuem Testament ist der Satz enthalten, der für Tindal offenbar eine erhebliche Inspirationskraft hatte: »Prüft aber alles, das Gute behaltet!« (1 Thess 5,21).24
|| 22 Hier zitiert nach: Jonathan Swift: A Critical Edition of the Major Works. Hg. von Angus Ross und David Woolley. Oxford 1984, S. 217–227. Zu der religionsvergleichenden Pirouette am Ende von Swifts Satire vgl. Dirk F. Passmann: The Dean and the Turk: Jonathan Swift, ›Mahometanism‹, and religious controversy before the ›Discourse concerning the mechanical operation of the spirit‹. In: Swift Studies 22 (2007), S. 113–145, bes. S. 142f. 23 Swift: Critical Edition (Anm. 22), S. 62–164 (180); die »Apology« von 1709 ebd. S. 62–71, das Sprichwort als »the tritest maxim in the world« ebd. S. 64. 24 Tindal zitiert 1 Thess 5,21 programmatisch schon in: An essay concerning the power of the magistrate, and the rights of mankind, in matters of religion (1697). In: M. T.: Four Discourses. London 1709, S. 142; das Motiv wird auch einleitend zitiert in Tindal: Christianity (Anm. 4), S. 2.
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Editorische Vorbemerkung Matthew Tindal publizierte in London 1709 anonym eine kleine Sammlung früherer Schriften unter dem Titel Four discourses on the following subjects: viz. I. Of obedience to the supreme powers, and the duty of subjects in all revolutions; II. Of the laws of nations, and the rights of sovereigns; III. Of the power of the magistrate, and the rights of mankind, in matters of religion; IV. Of the liberty of the press.
Die vierte Abhandlung in diesem Band, »Of the liberty of the press«,25 ist der Nachdruck eines Textes, der zuerst 1698 unter dem Titel A letter to a member of Parliament, shewing, that a restraint on the press is inconsistent with the protestant religion, and dangerous to the liberties of the nation erschienen und im Jahr 1700 noch einmal nachgedruckt worden war.26 In einer Notiz »The publisher to the reader« heißt es 1709 über diese Abhandlung: The last Tract in this Collection, The Discourse for the Liberty of the Press, was printed on account of an Attempt to revive the Act for restraining it. I shall leave the Reader to paß his own Judgment upon it, and only say, that I hope while That is preserv’d, all other Libertys, both Civil and Religious, will be secur’d to us under so faithful a Guardian.
Neben diesem Text von 1698/1709 steht eine kürzer gefasste Abhandlung Reasons against restraining the press, die zuerst 1704 anonym erschien.27 Diese Abhandlung hat einen Umfang von weniger als einem Drittel des »Briefes« von 1698, ist aber in enger und stellenweise wörtlicher Anlehnung an den »Brief« geschrieben. Im Jahr 1768 wurde sie in einer Sammlung The pillars of priestcraft and orthodoxy shaken noch einmal nachgedruckt; der Herausgeber, Richard Baron, merkt zur Frage der Autorschaft an: »I have a copy of this tract, which belonged to Anthony Collins, Esq; wherein it is ascribed to Dr. Tyndal, and therefore there can be no doubt that he was the real author.«28 Aus praktischen Grün-
|| 25 Tindal: Four discourses (Anm. 24), S. 291–329: »A discourse for the liberty of the press; in a letter to a member of Parliament. First printed in the year 1698«. 26 Beide Ausgaben sind in der Sammlung »Early English Books Online« (EEBO) enthalten, der Text von 1698 mit einer Zuschreibung an John Toland, der Text von 1700 mit einer Zuschreibung an Matthew Tindal. Die Sammlung Four discourses von 1709 ist in den »EighteenthCentury Collections Online« (ECCO) enthalten. 27 Auch in ECCO (Anm. 26, ESTC Nr. T066052); nach dieser Vorlage wird hier der Text geboten. 28 Richard Baron: The pillars of priestcraft and orthodoxy shaken. 2. Aufl. in 4 Bänden. London 1768, hier in Bd. 4, S. 281–299 (auch in ECCO, vgl. Anm. 26); einen Hinweis auf diesen
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den ist im gegenwärtigen Kontext als Beispiel für einen früheren Text von Tindal diese kurze Abhandlung von 1704 gewählt worden. Der »Brief« von 1698 hat einen aktuellen politischen Bezug auf die Debatte über den sogenannten Blasphemy Act (»An act for the more effectual suppressing of blasphemy and profaneness«), der vom Parlament beschlossen wurde, nachdem 1695 der sogenannte Licensing Act von 1662, erneuert 1685 und 1692, nicht mehr erneuert worden war (»An act for preventing the frequent abuses in printing seditious treasonable and unlicensed bookes and pamphlets, and for regulating of printing and printing presses«).29 Der aktuelle politische Anlass für das Pamphlet von 1704 besteht wohl in der gerichtlichen Verfolgung von John Tutchin, Begründer und Herausgeber der Zeitung Observator (seit 1702), dem Verleumdung vorgeworfen wurde.30 Die kurze Abhandlung ist jedoch vor allem ein pointiertes Votum zur Freiheit eines vernünftigen Religionsdiskurses und deshalb dazu geeignet, das Selbstverständnis eines philosophischen Kritikers zu erschließen, der sich nicht durch kirchliche Autoritäten einschüchtern und begrenzen lassen will.31
|| Nachdruck gibt Leslie Stephen: Tindal, Matthew (1653?–1733). In: Dictionary of National Biography (vgl. Anm. 20 für ODNB) [DNB]. Bd. 56. London 1898, S. 403–405. 29 Vgl. Wilfrid Prest: Albion ascendant. English history, 1660–1815. Oxford 1998, S. 70 bzw. 139; auch Passmann: The Dean and the Turk (Anm. 22), S. 132; vgl. E. N. Williams: The Eighteenth-Century Constitution 1688–1815. Documents and Commentary. Cambridge 1970, S. 397– 401; beide Dokumente in: Great Britain. The Statutes of the Realm. [s.l.] 1810–1828 (online: The making of the modern world). Bd. 5, S. 428–433 (14° Car. II. c. 33; vgl. Bd. 6, S. 20 [1° Jac. II. c. 17(15)], S. 418 [4° Gul. & Mar. c. 24(15)]), bzw. Bd. 7, S. 409 (9° Gul. III. c. 35). Zur Frage des Kontexts für Tindals Schrift von 1698 auch Stephen Lalor: Matthew Tindal, Freethinker. An Eighteenth-Century Assault on Religion. London 2006, S. 44–53. 30 Vgl. die Artikel zu John Tutchin (1660/64–1707) in ODNB (Anm. 20) Bd. 55, S. 708–710 (J. A. Downie) und DNB (Anm. 28), Bd. 57, 381–384 (G. A. A.) sowie Williams: The Eighteenth-Century Constitution (Anm. 29), S. 402. Ausführlich J. A. Downie: Robert Harley and the press: propaganda and public opinion in the age of Swift and Defoe. Cambridge 1979. 31 Vgl. zu dem Text auch Wigelsworth (Anm. 19), S. 51, 75.
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Reasons against restraining the press. London. Printed in the year M.DCC.IV. [3] Reasons against restraining the Press. If any Restraint is to be put on the Press, it must be either on a Religious or Civil Account. All that can be pleaded for it on the score of Religion, is, that ’tis necessary to prevent mens being led into error; and as a consequence of that, nothing is to be printed that may tempt ’em to question the Truth of any Part or Point of the Establish’d Religion. In order to answer this, I must beg leave to observe, that nothing is more certain than that God does not require of Men Impossibilities, as a means to obtain their future Happiness; and consequently all he desires of them, is to use their rational Faculties after the best manner they can, for the discovery of his Will. He therefore that does this, tho never so much mistaken, is as acceptable to God, who is no Respecter of Persons [Röm 2,11], as he that’s not mistaken, since he has done all God requires of him, and the other could do no more. To affirm his Mistakes are sinful, is to make God the Author of Sin, in so framing his Understanding, that after he had done all he could to avoid Error, he necessarily fell into it. And if it be the height of Impiety to condemn one of Sin for obeying God’s [4] Commands in impartially examining, it can be no less impious to affirm the Opinion unavoidably caused by so doing to be a Sin. How happy would men be, if, notwithstanding their difference of Opinion, they would allow on all sides, that Impartiality and Sincerity were sufficient to recommend ’em to God, and by consequence to one another? Going a step further than this, justifies the severest Method of the Inquisition: for if Men can be guilty of Impiety, Blasphemy, and other damnable Opinions, tho on the strictest examination they judg them agreeable to the Will of God; and if it be the Duty of those that are in Power in every Nation to prevent this, they are bound to restrain not only the liberty of Printing, but of Preaching; and to use the severest Methods they can, to hinder the spreading of whatever they apprehend to be such Opinions. But If God will judg Men as they are accountable, that is, rational Creatures; their Reward, whether they hit or miss of Truth, will be in an exact proportion to the use they make of their Reason: and consequently no Opinion can be a Sin, but for want of an impartial Examination; and according as that has been more or less omitted, so one is more or less accountable.
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If this, how paradoxical soever at first sight it may appear to some, is upon examination demonstratively true; What can be more unreasonable, than on pretence of preventing the growth of dangerous Errors, to restrain the Press, and thereby hinder Men from seeing, and consequently from examining the Reasons that make against the Establish’d Religion? when without an impartial examination, let our Re-[5]ligion be never so true, we hold it guiltily, and with it, tho never so false, innocently. But, What can be more inconsistent with this grand Duty of Examination, than a Restraint on the Press, since there can be no other Cause assigned why ’tis unlawful to publish Arguments against the State Religion, but because ’tis unlawful to read them, that being the sole reason of forbidding the publishing of them? And if it be once supposed unlawful to read, it must be as unlawful to hear or think on any thing, that inclines one to question the Truth of any Part or Point of the National Religion: and consequently it makes it every ones Duty in all Countries whatever, to profess that without the least Examination. But If one has no reason to expect a Heaven, who will not be at the pains to examine what ’tis God requires of him, in order to his coming there; what a condition must he be in, who not only neglects this himself, but labours to obtain a Law to make all others do the same? The examining the Reasons on all sides (for prevention of which the Press is to be restrain’d) not only makes the Mistaken acceptable to God, but is the only Method that can be taken to prevent Mistakes; for which end God has commanded every one to judg of himself [1 Kor 10,15], to try the Spirits [1 Joh 4,1], to prove all things [1 Thess 5,21], &c. And therefore those Divines that are for Mens trying nothing, or knowing nothing, but what pleases the Licens’d Guides in every Country, give God himself the Lie, after the worst manner that can be. And [6] The more People are subject to mistake, the less Reason there is to rely on any one side, but with Care and Diligence to examine the Reasons of all, and consequently the Press ought to be open to all. And when a Discourse is printed, Men by viewing and reviewing it, may form a better Judgment, than when ’tis only spoken. In answer to this, ’tis said, and alike said every where, that Men may have an impartial Information from the Clergy of the Establish’d Church. But Are not they under a greater Restraint than others, being oblig’d to profess those Opinions to which their Preferments are annex’d, or else to starve? so that in this case, ’tis not the Man, but the Bishoprick, the Deanery, the Prebend, the Rectory that preaches and prints nemine contradicente, Popery in one place, Lutheranism in another, Calvinism in a third; and they possibly may think it but fair to Maintain such Opinions as Maintain them; tho to speak the Truth, the
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Opinions generally Maintain the Priests, better than the Priests Maintain the Opinions. Are men, so bound and shackl’d, likely to give a fair Representation of what can be said against ’em, when the only Cause they can alledg for restraining the Press, is to hinder People from knowing it? Do not the Blind lead the Blind [vgl. Lk 6,39], when the Guides on which others are wholly to depend, are not trusted to guide themselves? In a word, all other Methods but this of examining, will equally serve to promote any Religion, tho never so false, and consequently cannot be the way to distinguish the true from the many false ones; but are the pious Frauds and holy Cheats, of not [7] very pious and very holy Men, to keep the People in a blind Obedience. As this Method is the only way to discover Truth, so ’tis this that makes it most effectual: where Men without Examination entertain a Religion, it will have but little Influence on their Practice. What does not convince the Understanding, can have but a small effect on the Will: And as far as the Reasonableness of an Opinion is seen, so far only can it operate on a rational Creature; and the more Examination renders it so, the more force it will have on the Affections, which are not mov’d without some sensible Connexion between the Cause and the Effect. For this reason thinking Men, Truth being endear’d to them as the discovery of their own Industry, are for the most part very conscientious; while those that owe their Religion to the chance of Education, have generally no more regard to it, than if they ow’d it to the Chance of a Die. If then the Freedom of the Press contributes not only to endear Truth when discovered, but to the discovery of it; and if that fails, to make even Error it self innocent, all the Arguments on the account of Religion do most religiously contend for its entire Liberty. To which let me add, that The Noble Art of Printing, that by Divine Providence was discovered to free Men from the Tyranny of the Clergy they then groaned under, and without which the Protestant Religion must have prov’d abortive, ought not to be made a means to reduce us again under Sacerdotal Slavery. And If our Ancestors could not secure themselves from more than Egyptian Bondage, which the Pulpits [8] brought on them, without the assistance of the Press: What hopes have we to defend our selves against both, when by the means of the latter, the Clergy have much greater Opportunities, as well as Abilities, to accomplish their Designs? The Restraint of the Press is consistent enough with Popery; but for Protestants to attempt it, is striking at the Foundation of their Religion, which is built on the natural Right every one has of judging for himself in matters of Religion. But what can savour more of a blind Popish Compliance, than so entirely to give
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up the Conduct of Religion to a few Licensing Priests, as that nothing shall be published but what they think fit? The Learned Dr. Clagget saith, (and after the same manner do all our Clergy write when they have to do with the Papists) , «They that have a good Cause, will not fright Men from considering what their Adversaries say by their Books, but rather encourage them so to do, that they may see the difference between Truth and Error, Reason and Falshood, with their own Eyes. This is the effect of a wellgrounded confidence in Truth, and there’s the sign of a good Cause apparently discernable, in the Application of the Clergy of the Church of England, both to their Friends and Enemies. They desire the one and t’other to consider impartially what is said for us, as well as against us; and whensoever Guides of a Party do otherwise, they give just Cause to examine their Doctrines more carefully, by how much they are unwilling to have them examined. ’Tis a bad sign, [9] when Men are loth to have their Opinions seen in the day, but love Darkness more than Light.«[32] Every one thinks he has a natural Right in all matters of Learning and Knowledg, except what relates to Religion and Government, to see what can be said on all sides, in order to form his Judgment aright; and there can be no reason why these should be excepted, since to have a right Understanding in them, is what is most worthy a rational Being. The more useful any Science is to Mankind, the greater will its Abuses be: Divinity, Law, Physick are sad Instances of this. But how can these Abuses be discovered, if the Press be in their Hands that gain by them? What can be more useful than History, especially of ones own Country? and can we expect a true Information, when only one side is to print? And there are few Persons, especially at a distance from London, but would think it a hardship to be deprived even of such Trifles as the common News Papers, which would not be allowed under a Restraint of the Press. Nay, we could not then hope for an impartial account even in natural things, since an evident Truth in Philosophy has been thought a monstrous Error in Divinity; and a rational Discourse on any subject may be hindred from being printed, lest, as the late Bishop of W – – r said of the || 32 Nicholas Clagett (1654–1727): A perswasive to an ingenuous tryal of opinions in religion. London 1685 (in EEBO enthalten, vgl. Anm. 26); vgl. ODNB (Anm. 20) Bd. 11, S. 720f. (Warren Johnston). Das Zitat, das Tindal auch schon in seinem »Brief« von 1698 anführte, ist etwas summarisch wiedergegeben. Clagett, Pfarrer der Church of England in Bury St Edmunds, vertritt einen alles andere als indifferenten Standpunkt (»We of this Church are perswaded that Papists and other Sectaries do causelesly divide from our Communion, and grievously sin against God, and endanger their own Souls, as well as disturb the quiet of the Church, by their separation from it, and their combinations against it.«, ebd., 50).
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most rational that ever was writ , it might be applied to other uses than what the Author designed.[33] Nothing can more discourage men of Abilities from writing, than to subject their Discourse to the [10] mercy of an Ignorant, or at least an Unleisured Licenser: such a Hardship on the Commonwealth of Learning, will be apt to make an Imprimatur signify no more, than that the Book is foolish enough to be printed. As the People retain a right to offer their Advice to their Representatives, so there cannot but happen several things, wherein they may receive satisfaction from what is published by those without doors (as happened in the case of the Standing Army, and several other matters) which may in a great measure be hindred, by the Licensers of the Press being influenced by those, who have an Interest to stifle Truth. In a word, as many things as are worth understanding aright, so many Arguments are there for the liberty of the Press; tho the only reason that is pleaded for its restraint upon a Civil Account, is to prevent false Representations of Peoples Designs and Actions, especially of such as are dignified with a publick Character. But Tho this may be done by speaking, who ever thought it reasonable, that all but one Party of Men should have a Padlock on their Lips? And yet this is all that’s meant by a restraint of the Press, since what is to be printed, is left to the arbitrary Will of men of this or that Party. And there can be no manner of reason, why writing and talking should not be on the same foot, since what’s contrary to Law is in both Cases equally punishable; and a restraint of the Press cannot hinder Books from coming out by stealth. What can be more unconscionable, considering how the Nation is divided, than to have all but one Party [11] restrain’d from writing in their own defence, whilst that is at liberty to use them as barbarously as they please? With what unchristian Temper and inhumane Insolence will Partymen treat those they are employ’d to write against? and what Misrepresentations, Lies and Calumnies will they not then be guilty of? ’Tis the danger of being detected and expos’d, that makes Men write with more Temper, as well as more regard to Truth. If the Honourable House of Commons have upon a solemn Debate, thought fit to publish their Proceedings to prevent being misrepresented, why should they deny those they Represent the same Liberty? And when both Houses have thought it necessary to print, (and one may venture to add, that neither House,
|| 33 John Locke: An essay concerning human understanding, zuerst 1690; der Bischof von Worcester war Edward Stillingfleet (1635–1699; Bischof seit 1689); vgl. ODNB (Anm. 20) Bd. 52, S. 789–798, bes. S. 796f. (Barry Till).
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without this Liberty, would have thought their Reputations safe) it cannot be presum’d that either House will be putting such a Hardship on the Nation. As Honour and Reputation secure their Votaries from committing ill and base Actions, so they incite them to all good ones; but if the Press be in the Hands of designing People, it may have a quite different effect, and be wholly employed to traduce, as it was in former Reigns, the best Men both in Church and State. And It will be a great encouragement for Men above the ordinary reach of the Law, to crush those beneath them, when the Press shall speak only in their favour, and the injur’d are depriv’d of the last satisfaction that opprest Vertue has, of appealing to the People, and justifying their Innocence to the World. And therefore I cannot see how one, that has any value for his Reputation, will be content to run the ha[12]zard of having it put out of his power, to justify himself as publickly as he is injur’d. Whether what is said of Truth, that none is against Truth but where that is first against them, may be applied to the Press, I will not determine; but those whose Actions cannot bear examination, will, no doubt, be glad of its restraint, and possibly may add Iniquity to Iniquity, by pretending they desire it out of Affection to the Government, or Zeal to the Church. The restraining the Press may not be so much for the Interest of any Party, as some fondly imagine; because their being for it, will be apt to make men believe the very worst things their Enemies say to be true; and that ’tis the fear of having their pernicious Designs discovered, which makes them take a Method, that till now they themselves oppos’d, and which in former Reigns was made use of to advance Slavery and Popery. But If this be of no weight, let it be consider’d, that the Press, Jackanapes like (as a Scots Gentleman said of their King) may be made to bite whomsoever they, in whose Custody it chances to be, think fit; and a restraining Law no sooner made, but the Scene of Affairs may so alter, that the Party which promoted it, may be scourg’d with Rods of their own providing, and be themselves debarr’d of that Liberty they design’d to exclude others from. And possibly some may be glad of such a Bill, the better to deprive them of those advantages, which without it they would not think prudent to attempt. But tho this might not be the consequence at present, who can be sure in what Hands the Press hereafter may be plac’d? [13] As the chief Happiness as well as Dignity of rational Creatures, consists in having the liberty of thinking on what Subject they please, and of as freely communicating their Thoughts: so all good Governments that have allow’d this Freedom, were so far from suffering by it, that it wonderfully endear’d them to
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their People. And no Ministry can be hurt by the liberty of the Press, since they have a number of Dependents, ready upon all occasions to write in justification of their Conduct; nay, to gild over the worst of their Actions, and give a fair Colour to their most pernicious Designs; and at the same time so to misrepresent the true Patriots of their Country, that the People, their real Friends, being deprived of the liberty of publickly justifying themselves, may mistake them for their Enemies, and caress those that are truly so. The liberty of the Press must keep a Ministry within some tolerable Bounds, by exposing their ill Designs to the People, with whom if they once lose their Credit, they will be very unfit Tools for a Court to work with. But The Arts of State in most Places being to enslave, or keep the People in Slavery, it became a Crime to talk, much more to write about State-Matters. And the Press in most Countries of Europe speaking nothing but Court-Language; the People, who till the Invention of Printing had tolerably well preserved their Liberty, were by degrees gull’d and cheated out of those inestimable Blessings. And there’s nothing, either with respect to Religion or Politicks, so destructive to Mankind, but may be made, where the [14] Pulpit and Press conspire together, to pass for Divine Truths. The slavish Condition the greatest part of Mankind in all Ages have been in, shews how much they have been wanting to themselves in not taking alarm soon enough at the Chains that were preparing for ’em. And as there are few, very few Instances of Peoples having perceived the intended Slavery, soon enough to prevent it; so there are fewer Instances of their having taken Arms, but upon very just Occasion. In a word, as there’s no Freedom either Civil or Ecclesiastical, but where the liberty of the Press is maintain’d; so wherever that is secur’d, all others are safe. That like a faithful Centinel prevents all surprize, and gives timely warning of any approaching Danger. And therefore ’tis to be hop’d, that the Trustees of the Peoples Liberties will preserve its Freedom entire; for if its sacred Liberty is but once affected, tho by never so gentle a Law, ’tis to be feared that this will be used as an Argument to restrain it as much as ever; for then ’twill be easy to engraft a new Law, on pretence that the old did not answer the end, as we see ’twas urged in the Case of the Conformity Bill.
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As to the obliging Authors to set their Names to their Works, that can only serve to hinder the publishing the most useful Books, viz. those designed to rectify Abuses. Besides, this prejudices People for or against a Book, and serves as a Handle for fulsom Flatteries, or gross Abuses; and we have too frequent Instances of mens thinking to atone, for not answering the Arguments, by railing at the Authors. And [15] therefore those Writers, such as the Author of the Whole Duty of Man, & c. that design the utmost good, have industriously concealed their Names.[34] Finis.
|| 34 The whole duty of man, erstmals 1657 anonym erschienen, wird Richard Allestree (1621/22– 1681) zugeschrieben; vgl. ODNB (Anm. 20) Bd. 1, S. 842–844 (John Spurr).
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Monika Fick
Goethes Iphigenie auf Tauris und der Stoff von Atreus und Thyest1 Seiner Übersetzung von Senecas Thyestes stellt Durs Grünbein als Motto ein Zitat aus Goethes Iphigenie auf Tauris voran: »Vernimm! Ich bin aus Tantalus’ Geschlecht.«2 Diese Rückkoppelung des Dramas der Aufklärung an diejenige Tragödie, welche stilbildend für die Repräsentation der Atridengräuel in der europäischen Theatertradition geworden ist,3 verweist auf eine Komponente in Goethes Schauspiel, die bislang vergleichsweise selten diskutiert wurde, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Bösen, die Vergegenwärtigung des Geschlechter- und Erbfluchs in der Phase seiner Auflösung.4 Goethes Bearbeitung
|| 1 Die Anregung zur Beschäftigung mit dem Thema gab ein Vortrag von Friedrich Vollhardt über »Imaginationen der ›Hölle‹ und deren Revisionen in der Literatur der Frühen Neuzeit«, den er am 3. Februar 2014 als Fellow des Internationalen Kollegs Morphomata an der Universität zu Köln gehalten hat. Vgl. auch Friedrich Vollhardt: Endzeiten. Jenseitsvorstellungen im 17. Jahrhundert. In: Jan Standke (Hg.): Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Heidelberg 2014, S. 467–479. 2 Seneca: Thyestes. Deutsch von Durs Grünbein. Lateinisch-deutsch. Mit Materialien zur Übersetzung und zu Leben und Werk Senecas. Hg. von Bernd Seidensticker. Frankfurt a. M./Leipzig 2002, S. 6. 3 Vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973; Martin Brunkhorst: Die Grausamkeit des Atreus: Senecas Botenbericht bei Shakespeare, Crébillon und Goethe. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 47–65. Zum Forschungsdesiderat einer Studie zu Atreus und Thyest auf der europäischen Bühne vgl. Anm. 59. 4 Vgl. Francis Lamports Bemerkung: »Goethe has thus used the ancient fable to confront, far more seriously than any of his predecessors in treating the story, the problem of evil in the world – in the language of the myth, the perpetuation of the curse upon Tantalus’ descendants« (Lamport: »Und Götter auf der Erden«: Humanity and Divinity in Some Enlightenment Versions of the Iphigenia Story. In: Forum for Modern Language Studies 40 [2004], S. 41–55, hier S. 51); vgl. auch Markus Winkler: Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen 2009. – In einer Studie mit reichem Opernund Bildmaterial rückt Ulrich Port die Furien, die Goethes Orest verfolgen, vor den Hintergrund der Eumeniden des Aischylos: Goethe und die Eumeniden. Vom Umgang mit mythologischen Fremdkörpern. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 49 (2005), S. 153–198. Zu überprüfen wäre die umfassendere These, ob Goethe nicht mit der Erinnerung an den generationenübergreifenden Fluch an die Orestie anknüpft und so hinter die ›Aufklärung‹ des Euripides zurückgreift. Die Belege, die Grumach für Goethes Aischylos-Lektüre anführt, datieren allerdings erst ab 1781 (Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Bd. 1. Berlin 1949, S. 242–253); im Kommentar der Hamburger Ausgabe konstatiert Dieter Lohmeier ohne nähere
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des Stoffes ›Iphigenie bei den Tauriern‹ unterscheidet sich nicht nur darin von zeitgenössischen Fassungen (z. B. von Johann Elias Schlegel, Claude Guimond de La Touche, Christoph Friedrich von Derschau),5 dass bei ihm Iphigenie die Aufklärung und zivilisatorischen Standards bereits nach Tauris gebracht hat und die Griechen keineswegs auf ein ›barbarisches‹ Volk treffen. Vielmehr ist seine Version auch dadurch ausgezeichnet, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Atriden ständig präsent ist, dass im glücklichen Ende der unheilvolle Anfang virulent bleibt – die Ahnen sprechen in diesem Stück mit.6 Warum, so ist zu fragen, diese prononcierte Zusammenschau von Ursprung und Neubeginn, was bedeutet die Darstellung der ›Aufklärung‹ als einer Erlösungsgeschichte, als Auflösung des Fluchs? Wir verfolgen eine doppelte These: Goethe antwortet mit seinem Stück auf die Herausforderungen von d’Holbachs Système de la Nature, und er tut es, indem er die Erbsündenlehre, jenes andere ›System des Fatalismus‹ (d’Holbach), in einer ebenfalls provokanten Umdeutung aktualisiert. Das mag überraschend klingen, hat man sich doch seit Raschs Analyse
|| Angaben, dass Goethe in Straßburg und Wetzlar kurz nach dem Homer auch die griechischen Tragiker im Original gelesen habe (Goethes Werke. Bd. 5. Textkritisch durchges. von Lieselotte Blumenthal/Eberhard Haufe. 8. völlig neubearb. Aufl. München 1977, S. 422). Außer intertextuellen Bezügen führt auch Port keine textexternen philologischen Belege für Goethes Kenntnis der Orestie an. Die intertextuellen Bezüge lassen sich jedoch um zwei weitere Beispiele ergänzen: Aischylos’ Klytaimnestra verweist auf die Versöhnung der feindlichen Familienmitglieder im Hades (Agamemnon, v. 1555–1559); und sie benutzt das Bild des Drachen für Orest (Die Totenspende, v. 527; v. 549f.; vgl. Iphigenie auf Tauris III,1, v. 1235). 5 Komparatistische Untersuchungen zu Iphigenie-Dramen (Iphigenie bei den Tauriern) aus der Aufklärungsepoche sind mittlerweile zahlreich; ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730–1760. Leipzig 2005 (J. E. Schlegel [S. 285–287]; natürliche Religion und Tugend der »Heiden« im religionskritischen Diskurs); Christopher Meid: Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung. »Bei den Alten in die Schule gehen«. Tübingen 2009, S. 53–64 (J. E. Schlegel), S. 65–76 (von Derschau); Werner Frick: Die Schlächterin und der Tyrann: Gewalt und Aufklärung in europäischen Iphigenie-Dramen des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 126–141; Lamport: Götter (Anm. 4); Gaby Pailer: Transformationen Iphigenies im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte 58/6 Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 297–302; Sybille Plassmann: Die Humanisierung Iphigenies: Von J. E. Schlegel zu Goethe. In: Heike Bartel/Brian Keith-Smith (Hg.): »Nachdenklicher Leichtsinn«: Essays on Goethe and Goethe Reception. Lewiston u. a. 2000, S. 83–100. 6 Beispiele: Iphigenies Schilderung der Gräuel ihres Hauses (I,3); Iphigenies Reaktion auf Orests Bericht über die Mordtaten in Mykene (I,3, v. 967–981); Orests Zusammenbruch und Vision des unerlösten Tantalus (III,1 und 2); Iphigenies Parzenlied (IV,5). Noch ganz am Schluss, wenn Iphigenie an Thoas’ Milde appelliert, argumentiert sie mit ihrem Stammbaum: die »Überbliebnen« von dem Geschlecht des Tantalus habe sie in seine Hand gelegt (V,3, v. 1934f.).
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der Iphigenie als »Drama der Autonomie«7 daran gewöhnt, in Goethes Stück die Rebellion gegen die Doktrin von der Erbschuld, sozusagen die »Anklage der Anklage«8, herauszulesen – und seit Goethes Rückerinnerung an seine d’Holbach-Lektüre in Dichtung und Wahrheit gilt seine Ablehnung des grauen, mechanistischen Materialismus als ausgemacht.9 Jedoch nicht ganz: Hans-Jürgen Schings wies frappierende Bezüge zwischen der Prometheus-Ode einerseits, d’Holbachs Mythenkritik und Konzeptualisierung der Naturnotwendigkeit andererseits nach;10 Schings verwies aber auch darauf, dass die Orest-Figur einen »Widerruf der prometheischen Rebellion« bedeute.11 Wir werden in einem ersten Schritt (1) an d’Holbachs ›Entlarvung‹ des Gottesglaubens als der Ausgeburt eines unglücklichen, vom Mangel bedrohten und vom Schrecken beherrschten, zugleich auf Machterhalt konditionierten Bewusstseins erinnern, an seine genealogische Analyse des Willkürgottes als Verbündeten des Willkürherrschers auf Erden – die Parallelen zu den Willkürgöttern des Parzenliedes der Iphigenie liegen auf der Hand.12 In diesem Zusammenhang werden wir jedoch vor allem die Brüche in d’Holbachs Programm einer auf Naturnotwendigkeit gegründeten Vergesellschaftung zeigen: Sie liegen in der Ethik des Eigennutzes und der Überhöhung der Natur zur Gottheit des Atheisten. Dass in der Iphigenie auf Tauris das ›Bild‹ der Götter nicht im Abstrakten verschwindet, wo es für eine sittlich autonome, aufgeklärte Gesellschaft schnell entbehrlich würde, sondern mit Leidenschaft von den Figuren verteidigt wird und somit Wirkung zeigt, liegt demnach nicht daran, dass Goethe hinter die
|| 7 Wolfdietrich Rasch: Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama der Autonomie. München 1979. 8 So die Formulierung Paul Ricœurs in seinen philosophischen Reflexionen über die Bedeutung der Erbsünde, z. B.: Die Anklage entmythisieren. In: P. R.: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II. Übersetzt von Johannes Rüsche. München 1974, S. 196– 216, hier S. 219. Zu Ricœur vgl. auch Anm. 86. 9 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986. (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Dieter Borchmeyer u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 14), S. 534–536. 10 Hans-Jürgen Schings: Im Gewitter gesungen. Goethes Prometheus-Ode als Kontrafaktur (1997). In: H.-J. S.: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien. Würzburg 2011, S. 269–283, hier S. 279–283. 11 Hans-Jürgen Schings: Beobachtungen über das Gefühl des Erhabenen bei Goethe (1990). In: H.-J. S.: Zustimmung zur Welt (Anm. 10), S. 257–267, hier S. 261f. 12 Die Engführung zwischen der im Parzenlied artikulierten Kritik an despotischen Göttern und Iphigenies Kritik an Thoas (v. 1812–1820) nimmt z. B. Rasch (Anm. 7, S. 153–158) vor; die politische Dimension von Iphigenies Klage gegen die Götter betont ebenfalls Dieter Borchmeyer: Iphigenien. Goethe und die Tradition eines Mythos. In: Goethe-Jahrbuch 126 (2009), S. 40–51, hier S. 48. Noch nie jedoch wurde meines Wissens der Bezug zu d’Holbach gesehen.
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Positionen der Avantgarde zurückfallen bzw. deren letzte Konsequenz scheuen würde,13 sondern daran, dass er Lösungen für deren Aporien sucht und eine reflektierte Alternative modelliert. Der gemeinsame Nenner bleibt die Ansiedlung im Bereich der Notwendigkeit, der Bestimmtheit, ja, Determiniertheit des Menschen.14 In welchem Sinn für diese Alternative der Erbsündenmythos, jenes Skandalon und Ärgernis nicht nur für aufgeklärte Religionskritiker, sondern auch für fortschrittliche Theologen der Epoche, von Bedeutung sein kann, werden wir in einem zweiten Schritt (2) herausarbeiten. Es wird darum gehen, das Modernisierungspotential und damit die Faszinationskraft dieser pessimistischen Anthropologie aufzudecken, das in ihr formulierte Wissen um die Macht der Triebe und des Unbewussten zum einen (2.1), die Antizipation einer Ethik der Daseinsbejahung und der ›Begierde‹, der überströmenden, verschwenderischen Lust (statt der gesellschaftlichen Norm und des Eigennutzes) zum anderen (2.2). Ein Blick auf Christian Felix Weißes Tragödie Atreus und Thyest wird zunächst den Befund untermauern, dass der Tantalidenfluch in der Spätaufklärung sozusagen ein Topos zum Transportieren der Erbsündendoktrin gewesen ist; auch in Voltaires Oreste fungiert er als solcher (2.1). Dabei ist eine genaue Modellierung des Rachemechanismus, der Determination, in Weißes Tragödie angezeigt, nachdem in der Forschung viel Verwirrung darüber herrscht. Die Rückkehr zu dem engeren und engsten Goethe-Kontext werden sodann Hallers Briefe über die Wahrheiten der christlichen Offenbarung (2.2) und vor allem Herders Essay Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele bahnen (2.2) – eine Schrift, in der Herder nicht nur massiv mit physiologischen Theoremen Hallers operiert, sondern auch der erbsündigen ›Begierde‹ des Menschen, seiner Lust am eigenen Sein, eine positive, wenn man so will: per-vertierte, umgedrehte Deutung gibt. Herders Abhandlung endet (im ersten Teil) mit einem dreifachen Hinweis: auf die Atriden, auf Luthers Schrift über »die Knechtschaft des Willens« (De servo arbitrio) – und auf Spinoza als ›modernen‹ Evangelisten Johannes. Dazu werden wir abschließend (3) Goethes Iphigenie auf Tauris in Beziehung setzen und den gegenchristlichen Anspruch herausarbeiten, der darin || 13 So Brigitte Kaute: Die durchgestrichene Aufklärung in Goethes Iphigenie auf Tauris. In: Goethe-Jahrbuch 127 (2010), S. 122–153. – Zur Sekundärliteratur zu Goethes Iphigenie vgl. die Diskussion in: Monika Fick: Gottebenbildlichkeit. Goethes Iphigenie auf Tauris und Herders religiöse Anthropologie. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2007, S. 123–148, bes. S. 124–126, Anm. 4. 14 Zu Goethes Begriff der ›Notwendigkeit‹ und Skepsis gegenüber der Freiheit des Willens vgl. John Erpenbeck: Freiheit/Notwendigkeit. In: Bernd Witte u. a. (Hg.): Goethe Handbuch. Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe A–K. Stuttgart/Weimar 1998, S. 319–323.
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liegt, dass Iphigenie im Dramengeschehen, im Prozess der Entsühnung, die »Systemstelle« Christi einnimmt.15
1 Zwei Momente von d’Holbachs ›Genealogie‹ der Religion sind besonders beunruhigend: Erstens die Herleitung des Gottesglaubens aus der Bedürftigkeit16 und dem Eigennutz, dem »Interesse« der Menschen;17 und zweitens die Decouvrierung des Gotteshasses als notwendiger Kehrseite des Glaubens an den absolut guten Gott. Um die Natur, deren Übergewalt die Menschen zunächst ohnmächtig ausgeliefert gewesen seien, beherrschen zu können, hätten sie sich einen Schöpfer konstruiert, den sie beeinflussen und gnädig stimmen konnten bzw. mussten, damit er die Geschicke bzw. Naturkräfte zu ihren Gunsten lenke. Eigentlich katastrophal habe sich jedoch die Fixierung auf einen Gott, der allmächtig und zugleich absolut gut sei, ausgewirkt. Denn die deprimierende Erfahrung der physischen und moralischen Übel sei ja geblieben. Um den Widerspruch zu beseitigen, habe man ein feindliches Prinzip angenommen,18 eine kosmische Opposition – Ursprung der Mythen von Gegengöttern, von Satan, dem Engelssturz und vom Kampf der Titanen. Vor allem jedoch habe man im Erbsündenmythos19 – aus dem heidnischen Kontext führt d’Holbach die Oedipus- und Orestsage an –20 die Schuld am Bösen den Menschen selbst zugeschoben, die sich nun als Gegenstand von Gottes Zorn hätten sehen müssen und deshalb darauf angewiesen, diesen Gott des Zornes durch Opfer und Gehorsam immer neu zu versöhnen, um seine so gerechte wie unergründliche Strafe abzuwenden.21 Gerade der absolut gute Gott manifestiere sich demnach als Will-
|| 15 Gerhard Kaiser: Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie. In: G. K.: Spätlese. Beiträge zur Theologie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Tübingen/Basel 2008, S. 108–122, hier S. 119. – Auf die Parallele von Iphigenies Appell »verherrlicht | Durch mich die Wahrheit« zu Joh 17,1 macht bereits Terence Reed aufmerksam: Iphigenie auf Tauris. In: Goethe Handbuch (Anm. 14), Bd. 2: Dramen. Stuttgart/Weimar 1996, S. 195–228, hier S. 222. 16 Vgl. Paul Thiry d’Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Übersetzt von Fritz-Georg Voigt. Frankfurt a. M. 1978 (zuerst Berlin/Weimar 1960), S. 305. 17 Ebd., S. 324; vgl. auch S. 306f., 314–316 u. ö. 18 Vgl. ebd., S. 331. 19 Vgl. ebd., S. 332f. 20 Vgl. ebd., S. 631, Anm. 61. 21 Vgl. ebd., S. 333–335, 337.
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kürgott und Despot.22 Im Glauben an ihn wirke ein verdrängter Hass; denn hassen müsse der Mensch da, wo trotz der Verheißungen die Erfahrungen des Übels dominierten. D’Holbach: »im Grunde unseres Herzens hassen wir sie […]. Wenn die Gottheit als die gemeinsame Quelle des Guten und des Schlechten […] betrachtet werden muß […] so müssen die Menschen die Launen oder die Strenge der Gottheit notwendigerweise fürchten«.23 Auf Lüge gebaut und dem Machterhalt der Priester und irdischen Gewaltherrscher dienlich, korrumpiere somit jede Religion das Gemeinwesen, schüre den Fanatismus und begünstige die Dekadenz der Sitten, Ausschweifungen, Grausamkeit und Laster jeder Art. Hat sich der Mensch jedoch von diesen theonomen Strukturen befreit, tritt er, in der Logik von d’Holbachs System, nicht ein in das Reich sittlicher Autonomie und Selbstbestimmung, sondern er erwacht zum Bewusstsein der unentrinnbaren Naturnotwendigkeit, die ihn und die Gesellschaft insgesamt steuert. Als sittliches Wesen erscheint der Mensch in d’Holbachs Konzeption entmündigt. Konditioniert durch das Prinzip des Eigennutzes, wird er idealtypischer Weise versuchen, denjenigen, von denen er sich Gegenleistungen erhoffen darf, gemäß den jeweils geltenden Regeln, Gesetzen und Konventionen wohlzutun, gleichgültig, ob diese schlecht oder gut sind, zum Laster oder zur Tugend leiten – die Verantwortung tragen die Institutionen, die Gesellschaft als ganze.24 Dabei nimmt die »Natur« in d’Holbachs Argumentation mehr und mehr Züge an, die denen des entthronten Willkürgottes in frappierender Weise gleichen. Sybille Gößl hat in ihrer Studie zum Materialismus im Roman der Spätaufklärung gezeigt, wie das fatalistische System mit seiner quasi automatisch, eben ›natürlich‹ sich ergebenden Harmonie von Eigennutz und gesellschaftlichem Nutzen gnadenlos die Unangepassten, die Außenseiter, die von Natur Unbegabten und Benachteiligten, die Beschädigten und Kranken aussortiert.25 Willkürlich, nach verborgenen, undurchschaubaren »Beschlüssen«, bestimmt d’Holbachs »Natur« die einen zum Glück, die anderen zum Tode;26 sie bestraft die Verbrecher und belohnt die Guten, die beide für ihr So-Sein nichts können, durch die psychophysischen Folgen ihrer Taten – exakt so wurde seit Luther der Wirkmechanismus von Gottes Zorn, der die Herzen der Menschen verstockt, beschrie-
|| 22 Vgl. ebd., S. 354 (Teil II, Kapitel 2 und 3). 23 Ebd., S. 337. 24 Vgl. ebd., S. 168f., 245f., 255–258 u. ö. 25 Vgl. Sybille Gößl: Materialismus und Nihilismus. Studien zum deutschen Roman der Spätaufklärung. Würzburg 1987, S. 24–26. 26 Vgl. d’Holbach: System der Natur (Anm. 16), S. 203, 244, 245.
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ben.27 D’Holbachs (personifizierte) »Natur« droht: »Solltest du an meiner Autorität und an der unwiderstehlichen Macht zweifeln, die ich über die Sterblichen ausübe, so gib acht auf die Rache, mit der ich alle diejenigen treffe, die sich meinen Ratschlüssen widersetzen.«28 Goethe arbeitet an dem Iphigenie-Drama zu einer Zeit, zu der er sich nicht nur intensiviert der Naturforschung zuwendet, sondern sich auch Spinozas Begriff der Notwendigkeit (und Gott-Natur) aneignet.29 D’Holbachs Système de la Nature gibt dabei, so meine These, die Probleme vor, die von Goethe in seiner Fassung des mythischen Stoffes angegangen werden. Auf dem Spiel stehen die Modellierung einer Notwendigkeit und der Entwurf eines Begriffs von Determination, die sich mit der sittlichen Existenz des Menschen in Übereinstimmung bringen lassen. Gleichzeitig muss der Glaube an den absolut guten Gott so integriert werden, dass weder die Phänomene geleugnet bzw. verdrängt werden, die uns »nötigen«, »eine Art von radicalem Bösen« anzunehmen,30 noch der Dualismus des Guten und Bösen das Gottesbild zerreißt. Genau an dieser Schnittstelle von Glaube, Naturnotwendigkeit und ethischem Vermögen jedoch entfaltet die Erbsündendoktrin, wie wir in den beiden Schritten des zweiten Teils (2.1 und 2.2) zeigen wollen, ihre intellektuelle und auch emotionale Brisanz – nicht zu Unrecht bezeichnet d’Holbach sie als nicht weniger fatalistisch denn sein eigenes System.31
|| 27 Der aufgeklärte Theologe Herder betont die Konvergenz zwischen den göttlichen Geboten und den zerstörerischen Folgen, die lasterhaftes Verhalten notwendig und naturgemäß mit sich bringt: »Wenn eine Kraft, eine Gewohnheit versäumt ist: so muß natürlich die andre zu lebhaft und stark wiegen, und so werden in der Seele eben solche häßliche Verzerrungen, wie im Gesicht, wenn wir uns an eine unnatürliche Mine zu sehr gewöhnen: so werden böse Neigungen, Affekten, Gewohnheiten, Schande und Laster.« Johann Gottfried Herder: Antritts-Rede in Bückeburg. In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 31. Berlin 1889. Repr. Hildesheim 1968, S. 144–172, hier S. 160. 28 D’Holbach: System der Natur (Anm. 16), S. 606. 29 Zu Goethes Spinoza-Rezeption vor den 80er Jahren vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969, bes. S. 353, Anm. 340. Zu Herders Vermittlerrolle vgl. unten Anm. 55, 114 und 119. 30 So Goethe in der Rezension (1824) des Romans Don Alonzo von Narcisse Achille Comte de Salvandy: Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1824–1832. Hg. von Anne Bohnenkamp. Frankfurt. a. M. 1999 (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 22), S. 87–94, hier S. 93. 31 Vgl. d’Holbach: System der Natur (Anm. 16), S. 178f. und S. 631, Anm. 61.
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2 2.1 Das ›andere‹ System des Fatalismus, sozusagen das metaphysische und religiöse Pendant und Gegenstück zum »Système de la Nature«: Weißes Trauerspiel Atreus und Thyest fußt auf Luthers Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens (De servo arbitrio). Den metaphysischen Horizont bildet bei Luther die Vorsehung und Allmacht Gottes, aus welcher die Notwendigkeit (Vorherbestimmung) des Welt- und jedes einzelnen Lebenslaufs hervorgeht: Da er aber vorherwusste, dass wir solche sein werden, und uns jetzt zu solchen macht, bewegt und lenkt – was, frage ich, kann erfunden werden, das in uns frei wäre, so oder anders zu geschehen, als er vorhergewusst hat oder jetzt wirkt? Es stehen also das Vorherwissen und die Allmacht Gottes unserem freien Willensvermögen diametral gegenüber.32
Entscheidend ist dabei die Verbindung dieser ›Notwendigkeit‹ mit der ›Begierde‹, modern: der menschlichen Triebstruktur. Luther will die Unausweichlichkeit des Weges in die Verdammnis, sofern die göttliche Gnade ausbleibt, nachweisen – eben die Unfreiheit des menschlichen Willens. Zu beachten ist das Umfassende seines Willensbegriffs: ›Wille‹ (voluntas; velle) heißt bei ihm die Grundrichtung der Existenz, die Ausrichtung der ›Begierde‹ des ganzen Menschen: hat er sein ›Herz‹ bei den weltlichen Gütern oder bei Gott? Jeder, der in sich blicke, wisse, dass er die Richtung seiner Affekte, Antriebe und Willensbestrebungen von sich aus nicht ändern könne, dass sein So-Sein nicht in seinem Belieben stehe, sondern determiniert sei: »Nichtsdestoweniger bleibt immer jener tief ins Herz eingetriebene Stachel, […] wenn es einmal ernst geworden ist, dass sie die Notwendigkeit auf unserer Seite spüren, wenn das Vorherwissen und die Allmacht Gottes geglaubt werden.«33 Ohne die Wirksamkeit der Gnade jedoch bleibe der ›Drang zu wollen‹ auf den Erwerb von Gratifikationen, die das Ich bestätigen, fixiert; die Begierde des natürlichen, gottfernen Menschen sei
|| 32 Martin Luther: De servo arbitrio 1525. Vom unfreien Willensvermögen. In: M. L.: LateinischDeutsche Studienausgabe. Bd. 1: Der Mensch vor Gott. Hg. von Wilfried Härle. Leipzig 2006, S. 219–661, hier S. 485 und 487; Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 18. Weimar 1908, S. 551–787, hier S. 718. 33 Ebd., S. 487 (WA S. 719).
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immer nur die Begierde zu sich selbst, die »Gier nach eigenem Ruhm«, wie Luther sagt.34 So erläutert Luther den Mechanismus der ›Wut‹ der Welt: Der Gottlose ist […] ganz auf sich und das Seine gekehrt […]; seine eigene Macht, seinen eigenen Ruhm, seine eigenen Werke, sein eigenes Wissen […] und überhaupt sein eigenes Reich erstrebt er, und das will er in Frieden genießen. Wenn sich ihm einer darin widersetzte oder etwas davon vermindern wollte, wird er von derselben Abkehr angetrieben, mit der er jenes erstrebt, ja, er erregt sich und ist entrüstet und wütet gegen seinen Gegner. Und es ist ihm so unmöglich, nicht zu wüten, wie es ihm nicht möglich ist, nicht zu begehren und zu erstreben. Und es ist ihm unmöglich, nicht zu begehren, wie es ihm nicht möglich ist, nicht zu sein, weil er ein Geschöpf Gottes ist, wenn auch ein fehlerhaftes. Das ist das Wüten der Welt gegen das Evangelium Gottes.35
Mit Atreus und Thyest, so unsere These, entwirft Weiße einen Aktionsraum genau für diesen Mechanismus des Bösen.36 Es ist ein Aktionsraum außerhalb der Reichweite der Offenbarung – sogar die Heiden, schreibt Luther, hätten die Notwendigkeit des Irdischen unter der Form des »unabwendbaren Schicksals« anerkannt, das sie ihren Göttern »zugeschrieben« hätten.37 Um die wahrhaft satanische Logik der Tragödienhandlung zu verstehen, ist ein Blick auf Weißes Toleranzdrama Der Fanatismus oder Jean Calas (1785) hilfreich. Jean Calas ist
|| 34 Ebd., S. 467. 35 Ebd., S. 465 und 467 (WA S. 710). 36 In der Forschung ordnet man dagegen das Erbsündenmotiv der Frage nach Heteronomie und Autonomie unter, die von Weiße in Atreus und Thyest verhandelt werde. Vgl. Jan-Oliver Decker: Die Atriden. Zur Meta-Metaphorik eines Mythos in der Literatur der Goethezeit. In: Dorothea Klein u. a. (Hg.): Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikenrezeption. Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 63–99, zu Weiße S. 68–84. – Forschungsliteratur zu Weiße und zu Atreus und Thyest: Günter Dammann: Christian Felix Weiße, Atreus und Thyest (1766) – die Aktualisierung Senecas im Trauerspiel der deutschen Aufklärung. In: Gerhard Lohse/Solveig Malatrait (Hg.): Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne. Zweites Bruno-Snell-Symposium. München/Leipzig 2006, S. 67–100 (mit einer kommentierten Übersicht zur Weiße-Literatur: S. 68, Anm. 2); Robert R. Heitner: Christian Felix Weisse and the Attraction of Evil. In: R. R. H.: German Tragedy in The Age of Enlightenment. A Study in the Development of Original Tragedies, 1724–1768. Berkeley/Los Angeles 1963, S. 232–278, 429– 432; Katrin Löffler/Ludwig Stockinger (Hg.): Christian Felix Weiße und die Leipziger Aufklärung. Hildesheim 2006; Jakob Minor: Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Innsbruck 1880 (zu Atreus und Thyest S. 230– 233); Walter Pape: »Ein billetdoux an die ganze Menschheit«. Christian Felix Weiße und die Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung 17 (1990), S. 267–295; Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988, S. 263–271. 37 Luther: De servo arbitrio (Anm. 32), S. 485 (WA S. 718).
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am Ende, vor seiner grausamen Hinrichtung, dazu fähig, seinen Anklägern und Mördern zu vergeben und jedem Racheverlangen abzuschwören. Die Kraft dazu fließt ihm durch seinen Glauben an den Gekreuzigten zu. Ein Traum, in dem er den Himmel offen sieht, weist seine Vergebungsbereitschaft als ein Gnadengeschenk aus.38 Der selbstmörderische Sohn hingegen spiegelt sich, mutlos und verzweifelnd, im Schicksal des Tantalus.39 In Atreus und Thyest müssen die Figuren ohne die christliche Offenbarung auskommen. Der Apollopriester Calchas erläutert den Willen der Götter und formuliert die Gebote der natürlichen Religion. Er legt den Orakelspruch, mit dem Aegisth aus Delphi zurückkommt, als Aufforderung zur Versöhnung aus; er erinnert Atreus an die ethische Verpflichtung, die in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gründet;40 er mahnt Aegisth, die Stimme des Gewissens höher zu achten als die Gehorsamspflicht den Eltern gegenüber, sobald diese Unrecht – gar den Mord – befehlen.41 Alle Figuren versagen vor diesen Anforderungen, weil, so Weißes Arrangement, sie sind, wie sie sein müssen – determiniert durch ihre Triebnatur, gefesselt an ihre Begierden.42 Der Priester, dem das letzte Wort in dem Stück gegeben ist, resümiert die Gesetzmäßigkeit wie folgt:
|| 38 Christian Felix Weiße: Der Fanatismus, oder Jean Calas. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen […]. Frankfurt/Leipzig 1785, V,1, S. 161–165; V,2, S. 173; V,3, S. 177; V,4, S. 178–180. Vgl. die vorzügliche kontextualisierende Analyse von Katrin Löffler: Aufklärung und Konfessionspolitik. Weißes Trauerspiel Der Fanatismus, oder: Jean Calas. In: K. L./Ludwig Stockinger (Hg.): Christian Felix Weiße und die Leipziger Aufklärung. Hildesheim 2006, S. 95–127, hier S. 123–127. 39 Weiße: Jean Calas (Anm. 38), I,5, S. 54. 40 Der »Priester« (d. i. Calchas) zu Atreus: »auch Du | Sollst sehn, wie treu ich meinem König bin, | So bald er nur der Götter Willen folgt, | Die ihm ihr Bild auf Erden eingeprägt« (III,4, S. 60). Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Christian Felix Weiße: Atreus und Thyest ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Zweyte Auflage. Leipzig 1769. 41 Auf die Frage Aegisths, ob er seinem Vater unbedingten Gehorsam schulde, antwortet der Priester, dies sei nur dann der Fall, wenn dessen »Forderung« im Einklang mit dem stehe, »was Recht, | Gesetz und Billigkeit erfordern« (S. 51), und wird mit seiner eigenen Haltung zum Vorbild: »Ich fürchte nur die Götter! Menschen nicht, | Nicht Könige, nicht ihn.« (III,2, S. 54). 42 Auch in Jean Calas zeigt sich die Nähe zu der Lehre von der Vorherbestimmtheit menschlicher Existenz: Marc Antoine, der unglückliche Sohn des Calas, bezeichnet sich als »Gefäß des Zorns«, damit den Römerbrief zitierend: Weiße: Jean Calas (Anm. 38), I,1, S. 38.
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Ein Laster knüpft sich stets dem zweyten an: Die Kette wird so lang und schwer, Daß keine Macht ihr unser Herz entwindet, Bis ihre Last uns in den Abgrund zieht.43
Ihr Streben nach Macht und Liebe hat Atreus und Thyest zu unversöhnlichen Rivalen gemacht, da es sich auf die gleichen Frauen (Aerope; unwissentlich: Pelopia) und das gleiche Königreich richtete; jetzt verharren sie monomanisch in ihrer Rachsucht. Der Unterschied zwischen ihnen ist ein gradueller, kein prinzipieller: Den Atreus treibt ein ›rasender‹ Hass voran, Thyest ein verzweifelter und resignierter. Um den Bruder nicht mehr sehen zu müssen, willigt er in den Verzicht auf den Thron ein; seine Antwort auf die Mahnung des Priesters zur Versöhnung lautet: »Was sagst Du? Haß, Haß bis ins Höllenreich!«44 In dem Augenblick, in dem er in Aegisth den eigenen Sohn erkennt, ihm also wieder eine Zukunftshoffnung winkt, kehrt auch der ›Wille zur Macht‹ zurück: »O! wär itzt Argos mein! (das erstemal! | Daß mir der Wunsch, den ich verflucht, aufs neu | Ins Herze schleicht!)«.45 Aegisth will zwar eifrig den Willen der Götter erfüllen, ist aber unfähig, ihn zu erkennen: Ratlos schwankend, lässt er sich von seiner Mutter Pelopia, die ihm damit droht, das Geheimnis seiner illegitimen Geburt dem König zu verraten und dadurch sich und ihn dessen Grausamkeit auszuliefern, dazu erpressen, dem Mordplan an dem wehrlosen Thyest zuzustimmen (IV,5f.).46 In der Schlussszene tötet er dann den Atreus im Affekt, was der Priester sofort als ›Sündenfall‹ erkennt: »Aegisth! Aegisth! | Du thatst nicht recht!«47 Damit betritt der ›empfindsame‹ junge Mann die Laufbahn, die ihn zum Mörder Agamemnons und Buhlen der Klytämnestra machen wird. Die Versöhnung ist misslungen, die Rachetaten setzen sich fort, die strafende Gerechtigkeit fordert das nächste Blutopfer … Den Eindruck der Notwendigkeit erzeugt Weiße dabei zum einen durch weissagende Träume und Prophezeiungen, zum anderen durch die Ausgestaltung des Atridenfluchs als Erbfluch. Schreckensträume und Horrorvisionen || 43 Weiße: Atreus und Thyest (Anm. 40) V,6, S. 112. 44 Ebd. II,4, S. 68. 45 Ebd. V,2, S. 100. In der Forschung nimmt man gemeinhin den Thyestes als Beispiel für einen Menschen, der eine Wandlung zum Besseren vollzogen habe, vgl. z. B. Decker: Die Atriden (Anm. 36), S. 75–78. Dabei übersieht man die Signale, die zeigen, dass im Grundsätzlichen, an der Wurzel der Begierde, sich Thyestes von Atreus nicht unterscheidet. Vgl. auch Anm. 52. 46 Exemplarisch für die Forschung ist dagegen die Sichtweise Dammanns, der Aegisth als Prototyp des empfindsamen Menschen versteht, der zwar tugendhaft, aber schwach sei, vgl. Dammann: Weiße, Atreus und Thyest (Anm. 36). 47 Weiße: Atreus und Thyest (Anm. 40) V,6, S. 110.
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suggerieren eine Vorsehung, die als Vorherbestimmung (Prädestination) wirkt: Ein Höllentraum des Priesters von den Gräueltaten des Atreus sagt dessen Untergang voraus,48 in ihrer finalen Ekstase vor ihrem Tod verkündet Pelopia, ihren Sohn verfluchend, dessen zukünftiges Schicksal; 49 sterbend schließlich imaginiert Atreus seine eigene Höllenfahrt.50 Wie Luther (in De servo arbitrio) verflicht also auch Weiße die metaphysische Notwendigkeit mit derjenigen des Begehrens, erfüllen sich doch, wie erläutert, die bösen Prophezeiungen durch das, was die Figuren sein müssen, durch ihre Selbstauslieferung an ihre herrschende Leidenschaft; eine Alternative freier Willensentscheidung kommt in dem Stück nicht zu Gesicht. Indem Weiße diesen Mechanismus von den Verwandtschaftsverhältnissen, dem Erbfluch, her motiviert, verleiht er dabei der Notwendigkeit den modernen Aspekt psychophysischer Determination, die tief in das Unbewusste hinabreicht. Als determiniert und unfrei in ihrem Willen werden vor allem auch Pelopia und Aegisth gezeigt – diejenigen Charaktere, die, innerlich zerrissen, zwischen ihren ›natürlichen‹ Impulsen und den grausamen Befehlen des Königs schwanken. Beide fühlen sich zwanghaft, wie durch einen Zauber gebannt, zu Thyest hingezogen, der sich als ihr Vater entpuppen wird.51 Weiße markiert die Sympathie, die sie füreinander empfinden, noch ohne sich erkannt zu haben, als naturgegebene ›Magie‹, vis attrativa der Blutsverwandtschaft.52 Weder dieser Zug des Herzens noch der ebenso elementare Abscheu gegen seinen vermeintlichen Vater Atreus können dem Aegisth jedoch die Kraft zu der sittlichen Entscheidung geben, sich furchtlos gegen den Tyrannen und die Mutter Pelopia zu stellen. Pelopia hinwiederum ist bestimmt durch das inzestuöse Begehren, das sie an ihren Vergewaltiger fesselt: So artikuliert es ihr Traum, in dem ihr Vater »buhlerisch« in ihren Armen liegt,53 und so drückt es ihre körperliche Reaktion auf Thyestes aus: Es bebt die kleinste Nerv’ in mir Bey seinem Namen! – Ah! sein Angesicht! – […] Ein jedes Wort von ihm
|| 48 Ebd. I,2, S. 9f. 49 Ebd. V,2, S. 105f. 50 Ebd. V,6, S. 110f. 51 Vgl. etwa ebd. I,3, S. 15 (Aegisth); II,6, S. 46f. (Pelopia). 52 Das sittlich Unzulängliche der natürlichen Empfindung erhellt schlaglichtartig aus des Thyestes unmutiger Frage, warum die Götter ihn zwängen, seinen Feind Aegisth zu lieben (II,3, S. 35) – das christliche Gebot der Feindesliebe liegt unerreichbar außerhalb seines Horizonts. 53 Weiße: Atreus und Thyest (Anm. 40) II,2, S. 29.
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Ward eine Flamm’ in meiner Brust und fuhr Empor in mir, erstickte mir die Sprache! – […] Sog ich ein Gift aus seinen Augen ein? Ist er ein Sohn des Erebus, der uns Durch Zauberey ein andres Auge giebt? […] Er muß es seyn! – Aerope – trank sie nicht Auch dieses Zaubergift?54
Eine entsetzliche Phantasmagorie also ist Weißes Trauerspiel mit seiner auf Horroreffekte setzenden Rhetorik, Simulation der ›Verstockung‹ der Herzen, die sie zur Hölle bereitet, Imagination von Satans Reich und seinen Gesetzen – kein Wunder, dass Herder solche Dramatisierungen des Atreus-Stoffes in der Nacht des Vergessens verschwinden lassen wollte.55 Gleichwohl erinnert Goethe in seiner Iphigenie daran, wenn er mit den Signalworten des »Widerwillens«, der »Begier« und der grenzenlosen »Wut« (v. 334f.) arbeitet,56 Bilder der Determination einsetzt57 und seine Figuren Blicke in die Hadeshölle tun lässt (s. u. S. 386). Allerdings ändert Goethe die Laufrichtung, scheint doch in der Hadesvision des Orest die Hoffnung auf Versöhnung auf statt der Ewigkeit der Höllenstrafen. Wo also steckt das Anregungspotential der Erbsündendoktrin, der Lehre von Sündenfall und Erlösung, angesichts der Nivellierung der Ethik und Reduktion der Begierde (Lust am Dasein) auf die Mechanik des Eigennutzes im materialistischen ›System der Natur‹?58 Noch liegt die Antwort nicht vor uns; allerdings || 54 Ebd. II,6, S. 46f. 55 Nach Minor: Christian Felix Weiße (Anm. 36), S. 233, Anm. 5 (Minors Belegstelle ist: Adrastea. In: Herder’s Werke [Hempel’sche Ausgabe], Bd. XIV, S. 321). Minor erwähnt (ebd., Anm. 6) des Weiteren eine in der Klotz’schen Bibliothek (III, 12. St., S. 613–630) gedruckte Abhandlung, in der Herders Lob der Verssprache von Atreus und Thyest erwähnt wird; allerdings habe er die Herder-Stelle nicht verifizieren können. Jedenfalls scheint Weißes Tragödie sofort die Aufmerksamkeit Herders auf sich gezogen zu haben, was wiederum Rückschlüsse auf die Kenntnisnahme Goethes zulässt. Auch die Tatsache, dass es sich um das erste in Deutschland aufgeführte jambische Stück handelt (28. Januar 1767 auf der Koch’schen Bühne in Leipzig; vgl. Minor: Christian Felix Weiße [Anm. 36], S. 230), mag das Interesse an ihm und seinem Sujet verstärkt haben. 56 Dies sind Termini aus dem Bereich der Erbsündenlehre und lutherischen Anthropologie. 57 Zu den Pflanzengleichnissen vgl. unten S. 28. 58 D’Holbach zur Begierde: System der Natur (Anm. 16), z. B. S. 263f. – Die Untersuchung der Bedeutung, welche die Erbsündendoktrin für die Auffassung des Unbewussten und der menschlichen Triebstruktur hatte, unter Berücksichtigung autobiographischer, fiktionaler und medizinisch-physiologischer Literatur, ist meines Wissens noch ein Desiderat – nachdem man für den theologischen Diskurs der Aufklärungsepoche das »Ende der Sünde« konstatierte
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kann Weißes Stück in dreifacher Hinsicht den Weg weisen: Es zeigt, dass dramatische Bearbeitungen des Atridenstoffs als Reflexionsmedium einer religiösen (und, darauf antwortend, religionskritischen) Anthropologie dienten; es lässt, zweitens, sichtbar werden, dass die Erbsündendoktrin mit ihrem Schlüsselbegriff, der den Menschen treibenden Begierde, geeignet war, die Physiologisierung der Seele zu integrieren, und es deutet drittens an, dass diese Integration deshalb gelang, weil in der Lehre von der sündigen Begierde die ethische Dimension in die Erschließung des Unbewussten verlegt war: dorthin, wo die ersten unwillkürlichen Impulse ihre Macht ausüben. Wie lassen sich diese Thesen an unserem Material konkretisieren, nämlich einschlägigen Bearbeitungen des Atridenstoffes und flankierenden diskursiven Entwürfen einer religiösen Anthropologie, wobei wir Haller contra Herder im Auge haben?59 Vornehmlich aufschlussreich ist hier zunächst dasjenige Stück, das markant die Positionen der religionskritischen Aufklärung artikuliert und der »Anklage der Anklage« (Ricœur)60 Raum und Stimme gibt, dabei die Diagnose d’Holbachs von der gesellschaftlichen Zerstörungskraft der Religion durchaus vorwegnehmend: Voltaires Tragédie Oreste, die mit dem Muttermord des Titelhelden den Höhepunkt des Atridenfluchs zum stofflichen Vorwurf hat. Am Ende fällt auf die Fortsetzung der Handlung ein denkbar düsteres Licht: Oreste fragt den Gott nach den nächsten Verbrechen, zu denen er ausersehen sei, und der
|| (Anselm Schubert: Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung. Göttingen 2002). Einige Hinweise auf die Zusammenhänge enthält Löffler: Anthropologische Konzeptionen (Anm. 5). 59 Wir können das Forschungsfeld, das sich hier auftut, nur selektiv bearbeiten. Insbesondere zu kurz kommt die Rekonstruktion der Stoffgeschichte von Atreus und Thyest, die auch Lessings Seneca-Rezeption (vgl. Barner: Produktive Rezeption [Anm. 3]) integrieren müsste. Ohne nähere Begründung nimmt Brunkhorst an: »Zumindest Lessings Äußerungen zu Crébillons Atrée et Thyeste wird Goethe genauer gekannt haben« (Die Grausamkeit des Atreus [Anm. 3], S. 64). Lediglich referierend, dabei materialreich ist die Darstellung von Franz Jakob: Die Fabel von Atreus und Thyestes in den wichtigsten Tragödien der englischen, französischen und italienischen Literatur. Leipzig 1907. Auf Frankreich fokussiert ist Klaus Rühl: Traditionen und Neuerungen der klassizistischen französischen Tragödie im 18. Jahrhundert – zur Situierung von Crébillon père (1674–1762) und seiner Tragödie Atrée et Thyeste. In: Lohse/Malatrait (Hg.): Die griechische Tragödie (Anm. 36), S. 45–66. Wir leisten eine Präzisierung des Kontextes, wenn wir die Auseinandersetzung mit der Erbsündendoktrin verfolgen und eine Verflechtung mit der Thematisierung von Menschenopfern aufzeigen. 60 Ricœur: Die Anklage entmythisieren (Anm. 8), S. 219.
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anvisierte Bewährungsort, »la Tauride«, steht im Bannkreis des blutigen Artemiskults und seiner Menschen schlachtenden Priesterin.61 In Oreste bringt Voltaires dramatische Analyse Opferkult, Erbfluch bzw. Erbsünde und psychische Triebkräfte, die mit einer Semantik des ›Bluts‹ belegt werden, in einen engen Zusammenhang, ja, er deckt deren Wechselwirkung und Wechselabhängigkeit auf. Entscheidend für die Sinnkonstitution ist dabei der doppelte Schluss, auf den die Handlung zuläuft. Zunächst wird die staatstragende Handlung zu ihrem Ziel geführt – einem Ziel, das den Normen der aufgeklärten Vernunft entspricht. Mit der Hilfe des Volkes, das dem eingepflanzten inneren Rechtsgefühl gehorcht,62 erobert Oreste den angestammten Thron zurück und erweist sich als aufgeklärter Regent, indem er, nach der Wiederherstellung des Rechts, zugleich Milde walten lässt. Ausdrücklich berichtet der Bote (Pilade), dass er die Pflichten des Sohnes achtete: Orest parle au peuple, il respecte sa mere, Il remplit les devoirs & de fils & de frere: A peine délivre du fer de l’ennemi, C’est un Roi triomphant sur son trône affermi.63
Hier könnte das Stück zu Ende sein; doch nun folgt der zweite Schluss, der die religiöse Handlung zu ihrem Ziel bringt. Die Szene kippt, sie gerät in den Dunstkreis des Blutes und des Opfers: Der Bote schildert, wie Oreste sich anschickt, im Grabmal des Agamemnon den Geboten der Götter ein Genüge zu tun und die Hinrichtung des Egiste als ein blutiges Opfer zu vollziehen: »Ce moment de terreur | Est destiné, Madame, à ce grand sacrifice | Que la cendre d’un pere attend de sa justice«.64 Jetzt sind es die diffusen unkontrollierten Affekte, welche die Handlung vorantreiben, allen voran Electrens Hass und Rachedurst. Dass Oreste dabei die Mutter tötet, ist ein Versehen: Schützend wirft sich Clitemnestre vor den immer noch geliebten Gatten. Wo die Rachbegierde herrscht, ist der Wirkungskreis der Erinnyen. Suggestiv lässt Voltaire die Figuren an die
|| 61 Arouet de Voltaire: Oreste, Tragédie. Paris 1750, hier V,9, S. 68, bzw. IV,8, S. 57. – Die deutsche Bühnenbearbeitung von Friedrich Wilhelm Gotter ist 1772 am Weimarer Hoftheater aufgeführt worden, eine Bühnentradition, an welche Goethe mit seiner Iphigenie anknüpft: Vgl. Dieter Borchmeyer: Quellen. In: Goethe: Dramen 1776–1790. Unter Mitarbeit v. Peter Huber hg. von D. B. Frankfurt a. M. 1988 (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Dieter Borchmeyer u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 5), S. 1017–125, hier S. 1023f.; Rasch: Drama der Autonomie (Anm. 7), S. 71–89. 62 Voltaire: Oreste (Anm. 61) V,7, S. 64. 63 Ebd. V,7, S. 65. 64 Ebd. V,8, S. 66.
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unterirdischen Götter der Hölle appellieren, die somit als Projektion der eigenen dunklen Affekte in Erscheinung treten und Regie führen; besonders deutlich ist der Konnex bei Electre.65 Der Götterglaube stärkt also genau diejenigen Affekte, die es, um das vernünftige Ziel zu erreichen, zu bändigen gälte. Dabei lässt Voltaire durchaus im Ungewissen, ob der Orakelspruch den Muttermord befohlen hat; frühzeitig entscheidet sich Oreste selbst gegen eine solche Tat.66 Vielmehr beschwören die Andeutungen des Orakels das Unvermeidliche der Schuldverstrickung, die mit der Familienzugehörigkeit gegeben sei – die Signatur der ›Erbsünde‹.67 Erzeugt wird eine bedrückende Atmosphäre des Ausgeliefertseins an etwas, das aus dem eigenen Innern aufsteigt; das ›Blut‹ (Oreste: »ce sang dont je suis né«)68 wird zur Vokabel dafür. Das ›Blut‹ treibt zur Rache (der Part Electrens); vor dem Blut, aus dem er stamme, müsse er sich deshalb hüten, so resümiert Oreste die (unklare) Warnung des Orakels.69 Das Sühneopfer (Egistes rituelle Hinrichtung im Grabmal Agamemnons) und die Rachbegierde, die von dem ›Blut‹ des verfluchten Geschlechts genährt wird, sind also auf unheilvolle Weise miteinander verflochten. Anders ausgedrückt: In Voltaires dramatischer Analyse gehören Erbsündenbewusstsein, Opferkult und Rachebedürfnis der gleichen Schicht einer verworrenen religiösen Sinnlichkeit an und erzeugen sich in einem circulus vitiosus gegenseitig. In seiner Voltaire-Bearbeitung findet Friedrich Wilhelm Gotter eine einprägsame Formel für diesen Wechselbezug: Orest ruft hier den »Gott des Bluts« an70 – den Gott der Ahnen, der aus dem eigenen Blut ›aufsteigt‹, und den Gott, dem das Blutopfer dargebracht werden muss. Der »Gott des Bluts« ist für die Verteidiger der christlichen Religion selbstverständlich diejenige Gottesvorstellung, die, entstanden durch das Verderben des Sündenfalls, allein durch die göttliche Offenbarung geläutert werden kann. Es wäre eine lohnende Forschungsaufgabe, die zahlreichen Dramen und Tragödien der (Spät-)Aufklärung, die das Menschenopfer – im biblischen oder heidnischen Kontext – thematisieren, auf diese Kontroverse zu beziehen, die ebenfalls rekonstruiert werden müsste: Wird in der jeweiligen Dramatisierung des Menschenopfers dem Christentum eine Blut- und Bestrafungstheologie vorge-
|| 65 Vgl. ebd. IV,4, S. 52; V,6, S. 84; V,8, S. 66. 66 Vgl. ebd. III,4, S. 46. 67 Etwa ebd. III,5, S. 53f. 68 Ebd. S. 55. 69 Vgl. ebd. III,5, S. 55. 70 Friedrich Wilhelm Gotter: Orest und Elektra. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Gotha 1774, S. 83.
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worfen, oder wird das Menschenopfer als Funktion und Ausdruck jener getrübten Gotteserkenntnis gezeigt, die im Christentum erst ihre Aufklärung gefunden habe?71 Die Religionskritik in Voltaires Oreste lässt für den christlichen (zeitgenössischen) Zuschauer durchaus die Option offen, die blutige Opferhandlung, die rituelle Rache, das dunkle Orakel samt den »Göttern der Hölle« (»Dieux de l’enfer«),72 die all dem vorstehen, auf das Konto der Gottesferne zu setzen, die durch die christliche Verkündigung überwunden werden soll. Doch auch ihn lenkt das Stück auf die Frage nach dem Zusammenhang von ›Begierde‹ und Gottesbild: darauf, dass diese kritische Frage innerhalb der christlichen Überlieferung und Auslegungstradition zu stellen ist. Halten wir fest: Die beiden besprochenen Tragödien aus dem Umkreis des Atridenstoffs, der die Engführung von Opfer- und Erbsündenthematik erlaubt, gewähren im Konstrukt des generationenübergreifenden Fluchs beunruhigende Einblicke in das Unbewusste. Der Opfertod Jesu wird interpretierbar als eine religiöse Vorstellungsweise, die das Produkt jener Begierden (Rache- und Strafphantasien) ist, von denen er erlösen sollte;73 religionspsychologische Verdachtsmomente werden in der literarischen Figurenmodellierung antizipiert. D’Holbach formuliert den Zusammenhang dann ganz ungeniert, wenn er das Opfer des Gottessohns als den Höhepunkt der religiösen Blutopfer seit der Antike darstellt.74
|| 71 Rasch verweist auf die aufklärerische Diskussion der biblischen Erzählung von Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern: Drama der Autonomie (Anm. 7), S. 51–55; zur Menschenopfer-Thematik in Schauspiel und Oper der Aufklärung vgl. auch Borchmeyer: Iphigenien (Anm. 12), S. 47f. – Iphigenie-Dramen wurden im 18. Jahrhundert mit Dramatisierungen einer anderen biblischen Geschichte parallelisiert, der Opferung der Tochter Jephtas; vgl. Ludewig Friederich Hudemann: Zwey Trauerspiele. I: Uebersetzung der Iphigenia des Herrn Racine; II: Das Schicksal der Tochter Jephtah. Bützow/Wismar 1767. In Klopstocks Trauerspiel Salomon (Magdeburg 1764) zeugt der Molochdienst des israelitischen Königs von dessen Gemütskrankheit und Verzweiflung. 72 Voltaire: Oreste (Anm. 61) V,9, S. 67. 73 Selbst in Weißes Toleranzdrama Jean Calas (Anm. 38), wo Jean Calas dem Fluch seiner Gattin, Gott möge die Missetat der falschen Richter noch an deren Kindeskindern strafen, das Gebet um Vergebung entgegengesetzt (S. 177), versteht der Protagonist sein Martyrium als stellvertretendes Leiden und als Strafe Gottes für den Selbstmord des eigenen Sohnes (S. 171), trägt also der allbarmherzige Erlösergott immer zugleich die Züge des Richters. 74 D’Holbach: System der Natur (Anm. 16), S. 309.
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2.2 Hallers 1771 zuerst veröffentlichte Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung sind eine explizite Antwort auf die materialistische Aufklärung: La Mettrie wird mehrmals genannt;75 im vierzehnten (und letzten) Brief weist Haller das mechanistische ›System der Natur‹ und das Maschinenmodell des Menschen zurück.76 Dabei versucht Haller, den Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen: Mittels einschlägigen sinnesphysiologischen Wissens, desjenigen Wissens, das er mit La Mettrie (und dem gemeinsamen Lehrer Boerhaave)77 teilt, demonstriert Haller zunächst die Wahrheit der Erbsündendoktrin. Zentralbegriffe sind wiederum die »Begierde« und der »Eigenwille« (bzw. »Widerwille«) sowie die naturgegebene Selbstsucht, die insbesondere im Verhalten des Kleinkinds unverstellt hervortrete.78 Die sündige »Begierde« verwirkliche sich im Gesetz der psychophysischen Wechselwirkung – unfehlbar werde die Seele von den sinnlichen Eindrücken, den verlockenden Bildern, gelenkt, die sich den Nervenbahnen einprägten; vorprogrammiert sei deshalb der Weg von der ersten Versuchung bis zu einem Leben im Verbrechen.79 Jesus der Seelenarzt und Menschenkenner wird zum ersten Physiologen: Die Warnung vor den begehrlichen Gedanken – dass »die Sünde in der Begierde schon liege«80 – deutet Haller als Antizipation eben dieser anthropologischen, auf der Kenntnis des Nervensystems beruhenden Einsichten (5. Brief). Aus der Diagnose leitet sich die Therapie ab, nämlich die Seele mit ›heilsamen‹ Eindrücken und Bildern zu füllen, d. h. mit den Verheißungen und mehr noch den Drohungen des Evangeliums. Vor Augen stellen und den Nerven einprägen möchte Haller die »Schrekensbilder«81 des göttlichen Strafgerichts sowie das Gefühl der Abhängigkeit von Jesu Opfertod – wenn man so will, eine Manipulation der Affekte, die auf den gleichen Prinzipien und Prämissen beruht wie die Verführung zu irdischem Glück und auch keine anderen Seelenkräfte mobilisiert; an die Stelle der Lust tritt die Angst vor der Strafe. (Es ließe sich fragen, ob Weißes Atreus und Thyest einer solchen Wirkungsabsicht dient.) Das Betätigungsfeld der göttlichen Gnade, welche in der Welt (und für die Welt) die Welt || 75 Albrecht von Haller: Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung. 3. verbesserte Aufl. Carlsruhe 1779, z. B. S. 5 und 20. 76 Vgl. ebd., S. 189; auch S. 39f. 77 Vgl. ebd., S. 44. 78 Ebd., S. 19. 79 Vgl. ebd., S. 48, 188. 80 Ebd., S. 45. 81 Ebd., S. 48.
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überwindet, schrumpft hier auf die Lenkung der Aufmerksamkeit zusammen: Die Seele müsse sich darin üben, den Reizen irdischen Glücks immer sofort im ersten Anfalle zu widerstehen.82 Symptomatisch ist denn auch die Identifikation von christlicher und bürgerlicher Sittlichkeit (eine Quelle von Hallers Intoleranz). Die bürgerlichen Gesetze zu erfüllen, biete die Lehre Jesu die sicherste Handreichung;83 auch sei es ein Verdienst des Christentums, dass das Gebot der Vergebung und Versöhnung zu einem gesellschaftlichen Standard geworden sei, wie man am Gegenbeispiel der heroischen Tradition der Antike und ihrer Verherrlichung der Rache sehen könne.84 Trotzdem wertet Haller das Diesseits als Feld menschlicher Betätigung ab. Die irdische Bewährungsphase erscheint als nichtige Zeit, auf die der drohende Schatten der Ewigkeit – die Ewigkeit der Höllenstrafen – fällt. Hallers Briefe können zeigen, wie die Lehre vom Verderben der menschlichen Natur zeitgenössisches Wissen über die Abhängigkeit der Seele vom Leib zu integrieren bzw. zu kanalisieren vermag. Zugleich dienen sie uns als Folie, um den Neuansatz Herders profilieren zu können. Die Rezension der Briefe in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (Merck, Petersen und ggf. Leuchsenring zugeschrieben)85 kritisiert vor allem die Diffamierung des Diesseits und die Verkehrung von Gottes Liebe in die Unbarmherzigkeit des Gerichts. Wir haben herausgearbeitet, dass Haller für diese Dimension von Opfer, Sühne und Strafe keine anderen Erklärungsprinzipien entwickelt als diejenigen der wissenschaftlichen Psychologie und der bürgerlichen Moral, sodass sich die Drohkulisse mittels der gleichen Prinzipien durchschauen lässt: als manipulatives Schreckbild im Dienst der Triebdisziplinierung. Die Vorstellungen christlicher Transzendenz bleiben der von Haller dargelegten Anthropologie äußerlich. Demgegenüber verstehen wir Herders Entwurf einer religiösen Anthropologie als einen Versuch, die ›Begierde‹ als unbewussten Impuls zum Dasein und die göttliche Transzendenz der Liebe nicht mehr einander äußerlich zu denken, sondern, auf der Höhe zeitgenössischen Wissens, einen Wechselbezug zwischen beiden zu stiften. Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ist ein Schlüsseltext für die Verleiblichung der Seele, die ›Gründung‹ geistiger Tätig-
|| 82 Vgl. ebd., S. 48, 190. 83 Vgl. ebd., S. 47, 52. 84 Vgl. ebd., S. 52. 85 Vgl. Seidels Kommentar zu Goethes Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen in: Goethe: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur I. Hg. von Siegfried Seidel. Berlin/Weimar 1970 (= Berliner Ausgabe Bd. 17), S. 791.
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keiten im Physischen bzw. Organischen.86 Herder baut den Menschen bottomup auf, ausgehend von Hallers physiologischem Konzept des ›Reizes‹ als primärer Lebensäußerung der organischen Materie. Er fordert eine Psychologie, die »in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei«, »Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben«.87 Keine feste Trennwand zwischen Materiellem und Immateriellem konstatierend, schreckt Herder vor der Frage »Aber so wäre ja die Seele materiell?« nicht zurück.88 Herr im eigenen Hause sei das Bewusstsein jedenfalls nicht; vielmehr ruhe die bewusste Seelentätigkeit auf dem dunklen Grund des organischen Lebens, sei bedingt und bestimmt vom ›Unbewussten‹ des Nervensystems: Die »tiefste Tiefe unsrer Seele« sei »mit Nacht bedeckt«; die »dunkeln Kräfte und Reize«, die ihr ständig zuströmten und sie bestimmten wie die Wurzeln die Blüte, bildeten einen »Abgrund[ ] von Unendlichkeit«, auf dem sie in »glückliche[r] Unwissenheit« stehe.89 Abhängig von unseren körperlichen Empfindungen seien wir also in unserem Denken, Erkennen und Wollen; »Reiz« sei die »Triebfeder« unseres Daseins und müsse es auch »bei dem edelsten Erkennen bleiben«;90 die »Ursachen« unserer Gedanken im Kopf lägen oftmals »unter dem Zwergfell«.91 Der erste Teil von Herders Schrift endet mindestens mit einem Teilbekenntnis zu Luthers De servo arbitrio: Auch die Frage entschiede sich hier also: ob dies unser Wollen was Angeerbtes oder Erworbnes, was Freies oder Abhängiges sei? […] War unser Erkennen nun nicht durch sich, willkürlich und ungebunden; hatte es, wenn es sich aufs tiefste als Selbst fühlen wollte, Stäbe der Aufrichtung […] nötig; wahrlich, so wirds dem Willen nicht anders sein können. Agamemnon hatte seinen Szepter von Thyest, der von Atreus, dieser von Pelops, dieser vom Zeus endlich, und Hephästus hatte ihn geschmiedet: so gehts auch mit dem edelsten
|| 86 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: J. G. H.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. von Jürgen Brummack/Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994 (= Werke in 10 Bänden. Hg. von Günter Arnold u. a. Bd. 4), S. 327–393 (Fassung des Erstdrucks 1778). Zur wissensgeschichtlichen Einordnung von Herders Essay vgl. Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 131f., Anm. 25. – Die Anregung, dass die Erbsündenlehre für eine »Ethik des Wunsches zu sein oder des Strebens nach Existenz« jenseits der Pflichtmoral und des Strafdenkens fruchtbar gemacht werden kann und dass Spinoza dafür den Weg weist, verdanke ich den Essays von Paul Ricœur: Hermeneutik und Psychoanalyse (Anm. 8), hier. S. 296f. (Religion, Atheismus, Glaube, S. 284–314). Vgl. auch ebd.: Die Anklage entmythisieren, S. 217–238; Interpretation des Strafmythos, S. 239–265; Schuld, Ethik und Religion, S. 266–284. 87 Herder: Erkennen und Empfinden (Anm. 86), S. 340. 88 Ebd., S. 354. 89 Ebd., S. 345. 90 Ebd., S. 360. 91 Ebd., S. 339.
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Königsszepter, ›der Freiheit unsrer Seele‹. […] Da ists wahrlich der erste Keim zur Freiheit, fühlen, daß man nicht frei sei, und an welchen Banden man hafte? […] Luther, mit seinem Buch de servo arbitrio, ward und wird von den Wenigsten verstanden; man widerstritt elend oder plärret nach, warum? weil man nicht wie Luther fühlet und hinauf ringet« (S. 362–363).92
Die Reverenz vor Luther verbindet Herder mit einem Hinweis auf das ethische Zentrum religiöser Existenz: die Überwindung ›der Welt‹ durch das Einschwingen in den Willen Gottes: Wo Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. […] Leuchtet uns aus allem nur Licht Gottes an, wallet uns allenthalben nur Flamme des Schöpfers: so werden wir, im Bilde Seiner, Könige aus Sklaven, und bekommen, was jener Philosoph suchte, in uns einen Punkt, die Welt um uns zu überwinden, außer der Welt einen Punkt, sie, mit allem was sie hat, zu bewegen.93
Mit der Verleiblichung der Seele, deren Bausteine er der modernen Physiologie (Haller) und Psychologie (Sulzer) entnimmt, aktualisiert Herder das überlieferte Wissen der religiösen lutherischen Anthropologie: dass es mit der selbsteigenen Schöpferkraft der Seele nichts sei, dass sie ihre Vermögen nicht ›aus sich‹ habe, dass sie auf Erden in einer »Schule« der Gottheit sei – so Herders Formulierungen.94 Das heißt: Wenn er Erkennen und Wollen bottom-up aus der empfindenden Materie, den organischen Reizen ›konstruiert‹, so bettet er jedoch gleichzeitig den dunklen ›Grund‹ und »Abgrund« top-down in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang, eine übergeordnete Notwendigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit ein. Nicht umsonst beginnt Herder mit einer sprach- und erkenntniskritischen Überlegung – einer Verteidigung der Analogie –,95 die gegen die Reduktion der Natur auf die Materie gerichtet ist, die sich mechanistisch beschreiben lässt. ›Wirklichkeit‹ ist für Herder nur denkbar als ›Umwelt‹ des Menschen: als der Gesichts- und Wirkungskreis, der in der Wechseldurchdringung von Reiz, Sinnesorganen, Empfinden und Fühlen bis hin zum sprachlichen Ausdruck – und umgekehrt – entsteht; wenn man so will: Uexkülls Merk- und Wirkwelt avant la lettre, eine Theorie des Menschen als ›Beziehungswesens‹.96 Wo dage-
|| 92 Mit der Erwähnung des Zepters Agamemnons spielt Herder auf die Ilias an (II, v. 101–108; vgl. Kommentar zu Herder: Erkennen und Empfinden [Anm. 86], S. 362, Z. 17–19; S. 1143). Doch legt seine Assoziation des Atriden-Zepters mit der Freiheit des Willens und der Erbsünde den Gedanken an die tragische Variante des Mythos nahe. 93 Herder: Erkennen und Empfinden (Anm. 86), S. 363. 94 Ebd., S. 355. 95 Vgl. ebd., S. 329–331. 96 Vgl. Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 132–135.
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gen eine nur für mechanischen »Hieb und Stoß« empfängliche Materie zum ›eigentlichen‹ Grund aller Existenz erhoben werde,97 sei dies eine willkürliche, rein spekulative Abstraktion. Die Energie seiner Argumentation speist sich dabei aus dem Bestreben, aus der Fragilität und psychophysischen Bedingtheit des Menschen Impulse für eine Ethik der Daseinsbejahung und Weltfreude abzuleiten. Zentrale Bedeutung hat erneut die »Begierde«, die Lust an sich selbst, für Luther der Herrschaftsbereich Satans. Herder modelliert sie so, dass sie – bottom-up und top-down – als Medium des göttlichen Lebens erscheint. Er fasst die Begierde wesentlich unter dem Aspekt der Bedürftigkeit, des auf Ergänzung angewiesenen Strebens: zwar als Durst »nach Befriedigung und Erhaltung seiner«, damit aber zugleich als »Wunsch« und »verlangende Sehnsucht«;98 als Manifestation von »Kraft und Mangel«.99 So aber tritt das Leben bzw. die ›Umwelt‹ zu der ›Begierde‹ in die Relation des Geschenks, der Gabe, der erfüllenden Antwort; eine »glückliche, unverdiente Erbschaft«, so Herder, sei der Seele mit der Sinnenwelt zuteil geworden.100 In allen Erscheinungsformen des Lebens, angefangen von der Reizbarkeit der organischen Materie über den Sexualtrieb und die Sinneswahrnehmungen bis hin zum »edelsten Erkennen«101 herrsche die gleiche Gesetzmäßigkeit, nämlich die Durchdringung von »Empfangen und Geben«.102 Kein Element bleibt ›für sich‹, sondern pulsiert im Bezug auf ein anderes, das ihm zugeordnet ist und antwortet. So seien organische Materie und einwirkender Gegenstand im »Reiz« koordiniert; Analoges gelte für die Wahrnehmung, wo das »Medium«, z. B. die Licht- oder Schallwellen, es ermögliche, dass das Sinnesorgan, z. B. das Auge bzw. das Ohr, und seine Gegenstände sich begegnen: »Alle groben Sinne, Fasern und Reize können nur in sich empfinden, der Gegenstand muß hinzu kommen, sie berühren und mit ihnen gewissermaße [sic] selbst Eins werden.«103 Die Umdeutung der ›Begierde‹ in eine Disposition für die Fülle des Lebens zeigt sich besonders markant in Herders emphatischer Feier des Sexualtriebes: Endlich der tiefste Reiz, so wie der mächtigste Hunger und Durst, die Liebe! Daß sich zwei Wesen paaren, sich in ihrem Bedürfnis und Verlangen Eins fühlen; daß ihre gemeinschaftliche Regung […] wechselseitig Eins ist und ein Drittes wird in beider Bilde – welche
|| 97 Herder: Erkennen und Empfinden (Anm. 86), S. 351. 98 Ebd., S. 335. 99 Ebd., S. 341. 100 Ebd., S. 355. 101 Ebd., S. 360. 102 Ebd., S. 334. 103 Ebd., S. 347.
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Würkung des Reizes im ganzen lebenden Ich animalischer Wesen! […] Der Abgrund aller organischen Reize und Kräfte scheint im wechselseitigen Überstrome: der Funke der Schöpfung zündet […].104
Die Eltern pflanzen ihr »Bild« im Zeugungsakt fort105 und geben so das Leben als Geschenk des Schöpfers weiter. Mit anderen Worten: Im Zuge der Aufwertung des Diesseits legt Herder im Blick auf ›die Welt‹ statt der Gravitation zur Verdammnis diejenige zur Seligkeit frei; oder auch: Er fokussiert nicht das natürliche Verderben, sondern macht die Gnade natürlich. Fassen wir zusammen. Herders Ethik der Daseinsbejahung hat ein essentielles Motiv in der Komplementarität von ›Begierde‹ (als Kraft und Mangel) und Lebenswelt (als Reiz, Sinnenwelt, Sprache etc.), wodurch diese Lebenswelt als »glückliche, unverdiente Erbschaft« konstituiert wird.106 Realisiert wird die Komplementarität durch »Empfangen und Geben«, was sich in der zum Bewusstsein erwachten Seele als Liebe spiegelt. Grund und Ziel der ethischen Haltung bleiben dabei der (Lebens-)Wandel im »Geist« Gottes und das Wirken aus seinem Geist heraus. So definiert Herder das »Gewissen«: »Den großen Urheber in sich, sich in andre hinein zu lieben und denn diesem sichern Zuge zu folgen: das ist moralisches Gefühl, das ist Gewissen.«107 Nicht die Vernichtung des »Selbstgefühls« befähige dazu, sondern im Gegenteil dessen Sensibilisierung, damit es ein »Sensorium seines Gottes in allem Lebenden der Schöpfung« werde;108 damit der Mensch alle Dinge im »Licht Gottes« erkennen, also lieben, könne.109 So würden wir »Könige aus Sklaven«110 und Götter auf Erden – jedoch nur in dem Maße, in dem wir bereit seien, die schöpferische Kraft in uns als eine empfangene anzunehmen – die Relation der Gottesebenbildlichkeit.111 Sehr
|| 104 Ebd., S. 336. 105 Das Zeugen eines Kindes »im Bilde« der Eltern ist, anklingend an Gen 5,3, eine traditionelle Metapher für die Weitergabe der Erbsünde. Vgl. [Art.] Sünde, (Erb-) Peccatum Originis. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 41: Suin – Tarn. Leipzig/Halle 1744. Sp. 52–63, hier Sp. 58. 106 Herder: Erkennen und Empfinden (Anm. 86), S. 355. 107 Ebd., S. 360. 108 Ebd., S. 361. 109 Ebd., S. 363. 110 Ebd., S. 363. 111 Ebd., S. 355. Vgl. Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 136f. In dem Entwurf Über die dem Menschen angeborne Lüge bestimmt Herder »Freiheit« als die Bereitschaft, dem »positiven Gesetz Gottes, einem höhern Sonnenplan zu folgen«; sobald der Mensch jedoch »sprach: Kann ich nicht selbst Sonne sein, und dieser Schlange zufolge mir meine Welt bilden, so war’s mechanische, sinnliche Knechtschaft, und der Mensch, Gottes Bild, […] fiel, d. i. es handelte nach
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genau also bezeichnet Herder seine Position, wenn er dem Namen Luthers denjenigen Spinozas hinzufügt. Die »Liebe« sei die »höchste Vernunft, wie das reinste, göttlichste Wollen; wollen wir dieses nicht dem h. Johannes, so mögen wirs dem ohne Zweifel noch göttlichern Spinoza glauben, dessen Philosophie und Moral sich ganz um diese Achse beweget.«112 Was aber für Herder Spinozas Ethik in diesen Rang erhebt, ist nicht nur die große Vision, alle Dinge der Welt unter dem Aspekt ihrer Teilhabe an der Liebe Gottes zu betrachten, sondern auch der Weg, den Spinoza zur Realisierung dieser umfassenden Lebensbejahung einschlägt: nämlich die Rechtfertigung der ›Begierde‹, des conatus und der cupiditas, des Strebens nach Selbstbehauptung im Dasein, als einer essentiellen Tugend, die, auf rechte Weise verstanden und geübt, zur Identifikation mit der Liebe Gottes führt.113 Goethes Iphigenie auf Tauris ist, wie wir nun im dritten Teil zeigen wollen, das Drama zu dieser Anthropologie,114 das die Fäden der Atridenhandlung an dem Punkt aufnimmt, an dem Voltaires Oreste sie liegen lässt.
|| Gesetzen einer niederern Ordnung, ward Tier, und da er das auch nicht ganz sein konnte, mit zwei widerbellenden Kräften, Teufel« (Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum [Anm. 86], S. 400f.). 112 Herder: Erkennen und Empfinden (Anm. 86), S. 363. 113 Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Lateinisch und Deutsch. Revidierte Übersetzung von Jakob Stern. Nachwort von Bernhard Lakebrink. Stuttgart 1977. Zum Beispiel: Pars IV, Propositio 18, Demonstratio: »Cupiditas est ipsa hominis essentia […], conatus, quo homo in suo esse perseverare conatur« (S. 476); Prop. 20, Dem.: »Virtus est ipsa humana potentia, quae sola hominis essentia definitur […], hoc est […], quae solo conatu, quo homo in suo esse perseverare conatur, definitur« (S. 482); Prop. 21: »Nemo potest cupere beatum esse, bene agere, & bene vivere, qui simul non cupiat, esse, agere, & vivere, hoc est, actu existere« (S. 484); Prop. 22: »Nulla virtus potest prior hac (nempe conatu sese conservandi) concipi« (S. 484); dazu kommt die Herleitung des Guten aus der Erkenntnis des Nützlichen: Prop. 8: »Cognitio boni, & mali nihil aliud est, quam Laetitiae, vel Tristitiae affectus, quatenus ejus sumus conscii« (S. 458); schließlich die Bestimmung der Liebe zu Gott als des Inbegriffs von Glückseligkeit, wahrer Tätigkeit und Daseinserfüllung im fünften Teil der Ethik. 114 Zu Herders Dialog mit Goethe über Spinoza vgl. Hans-Jürgen Schings: Philosoph des Klassischen. Spuren Spinozas in Goethes Werk (1999). In: H.-J. S.: Zustimmung zur Welt (Anm. 10), S. 297–311. Schings konzentriert sich allerdings auf Gott. Einige Gespräche und setzt den Akzent auf die Interpretation der Notwendigkeit. Näheres zur Beziehung zwischen Goethe und Herder während des ersten Weimarer Jahrzehnts vgl. Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 128–131. – Zur grundsätzlichen Differenz zwischen Goethes anschauendem und Spinozas systematischem Denken vgl. die Darstellung von Kurt Hübner: Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit. 2., durchges. Aufl. Tübingen 2004, S. 418–449.
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3 Anspielungen und Bezugnahmen auf die Erbsündendoktrin (und ihr Pendant, die Erlösung durch das Kreuz) sind im Werk des jungen Goethe vielfach präsent. Zum einen ist sie Gegenstand massiver Kritik, wie im Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***; in Dichtung und Wahrheit bestätigt Goethe aus dem Rückblick, mit welch genauer Kenntnis der theologischen Denkweise und ihrer Begrifflichkeit er den fiktiven Brief verfasst hat.115 Zum anderen deutet er die Lehre von der sündigen Begierde – der »Schlangenknotige[n] begier«, wie es wortschöpferisch im Ewigen Juden heißt116 – um und macht sie zu einem Baustein in seiner »Privatreligion«. Die ›Begierde‹ wird zu einem notwendigen Prinzip des Lebens, zur Manifestation von dessen konzentrativer Kraft; freilich müsse sie durch die Gegenbewegung, das Vermögen zur Expansion und Hingabe ans Göttliche, ergänzt werden. Nur im Rhythmus von Konzentration und Expansion, Verselbstigung und Entselbstigung, vollziehe sich das Leben, so die Formeln des Luzifermythos aus Dichtung und Wahrheit,117 den Rolf Christian Zimmermann auf das Weltbild des jungen Goethe sowie dessen hermetische Wurzeln hin transparent gemacht hat.118 Die Tradition der ›aufgeklärten Hermetik‹ ist es hinwiederum, die, da sowohl Goethe als auch Herder aus ihr schöpfen, die Affinitäten zwischen beider Anthropologie zu erklären vermag.119 ›Konzentration‹ und ›Expansion‹ sind für Goethe Grundkräfte der Natur und wirken zugleich im menschlichen Inneren, verschränken also beide Bereiche und schließen die unbewussten Triebimpulse mit ein. Die Frage nach dem Verhältnis zum Göttlichen und den Ausdrucksformen, die dieses Verhältnis annehmen soll, ist dabei nicht marginal, sondern zentral; sie bildet ein wesentliches Motiv der Kirchenund Religionskritik des jungen Goethe (z. B. Der ewige Jude). Wir wollen das für das Iphigenie-Drama konstitutive Gottesbild konturieren als einen Gegenentwurf zum »Gott des Bluts« (Gotter) auf der einen, dem d’Holbach’schen Natur-
|| 115 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 9), S. 557. 116 Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in 5 Bänden. Hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 4: Januar bis Dezember 1774. Berlin 1968, S. 95–103, hier S. 99. – Ferdinand Josef Schneider rückt Goethes Wortschöpfung in den Kontext der Hermetik und verweist auf ähnliche Wendungen in einer Programmschrift August Siegfried von Goues; vgl. Schneider: Goethes Satyros und der Urfaust. Halle/Saale 1949, S. 12. 117 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 9), S. 382–385. 118 Vgl. Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe (Anm. 29). 119 Zu Herders Verarbeitung der hermetischen Tradition vgl. Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 130f. (mit weiterführenden Literaturangaben).
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mechanismus auf der anderen Seite. Für diese Problemstellung ist nun die Beobachtung bedeutsam, dass bereits der junge Goethe die Erbsündenthematik mit der Genealogie des ›frommen Blutdursts‹ verbunden hat, wie ein Blick auf Satyros oder der vergötterte Waldteufel zeigen kann. In der Figur des heidnischen Fauns, des titelgebenden Satyros, verbindet sich, artgerecht, möchte man sagen, die Feindschaft gegen den Gekreuzigten mit der Negation der Erbsünde auf begrifflich und psychologisch äußerst prägnante Weise.120 Das hölzerne Kruzifix in der Klause des Einsiedlers tut Satyros »in den Augen weh« (v. 104), ihm, dem »in der Welt« nichts ›über sich‹ geht und der Gott das prometheische »ich bin ich« (v. 111) entgegensetzt. Den »Herr Gott« des Einsiedlers wird er »runter reisen | Und drausen in den Giesbach schmeissen« (v. 118f.). Die »Lust | An sich selbst« (v. 257f.) – homo in se incurvatus – hätten sich die Menschen verkümmern, ja, vergiften lassen; zu Siechlingen (»Sieglinge«: v. 258) seien sie geworden, anstatt sich »zu Göttern« zu entzücken (v. 256), so seine Predigt an das Volk, das sich um ihn schart. Er parodiert die christlichen Seligpreisungen: »Seelig wer fühlen kann | Was sey Gott seyn! Mann!« (v. 260f.). Die ›Lust an sich selbst‹ lebt Satyros vor allem in Form der sexuellen Befriedigung aus, wie der weitere Handlungsverlauf zeigt. Seine befreiende Botschaft mündet in eine Belehrung über das ›innere Wesen‹ der Natur. In einer mitreißenden Kosmogonie versprachlicht Satyros den Lebensrhythmus von Konzentration und Expansion: von Hass und Liebe, ›Verzehren‹ und ›Vermehren‹, Veränderung und Dauer, Finsternis und ›Lichtsmacht‹ etc. (v. 288ff.). Die Dynamik des Lebens wird dabei in seiner Vision keineswegs lediglich von der ›Lust an sich selbst‹ vorangetrieben; vielmehr bilden seine Worte die Korrespondenz von Verselbstigung und Entselbstigung ab. In seiner Ursprungsgeschichte wird eine ›Begierde‹ wirksam, wie wir sie bereits von Herder her kennen: die ›Begierde‹, in der nicht die Sünde schon liegt, sondern die Gnade und die Erlösung, da sie auf Ergänzung hin angelegt ist. Das Licht ›zeugt‹ den »Begehrungs schwall« [sic] und den »Hunger« der Elemente (v. 300–303), sodass sie sich gegenseitig erschließen, sich öffnen und – in Liebe – wechselweise durchdringen:
|| 120 Johann Wolfgang Goethe: Satyros oder Der vergötterte Waldteufel. Drama. In: Der junge Goethe (Anm. 116) Bd. 3: September 1772 – Dezember 1773. Berlin 1966, S. 298–321.
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Sich tähte Krafft in Krafft verzehren Sich tähte Krafft in Krafft vermehren, Und auf und ab sich rollend ging Das All und Ein und Ewig Ding Immer verändert! Immer beständig! (v. 309–313)
Des Satyros Ursprungsgeschichte der ›Gott-Natur‹ kommt ohne den Schöpfergott aus.121 Was sich allerdings nun im »Volck« abspielt, mutet beinahe wie eine satirische Parallele zu d’Holbachs polemischer Analyse der Mechanismen einer Religionsstiftung an.122 Das Volk erhebt den Lehrer, der, indem er die Geheimnisse der Natur verkündet, einen Weg zur Gottähnlichkeit aufzeigt, postwendend zu seinem neuen Gott. Es hat das Bedürfnis nach Anbetung, Verehrung, Hingabe und »Opfer« und macht Satyros zum Adressaten dafür.123 Weit davon entfernt, sich jeder selbst zum ›Gottsein‹ aufschwingen zu können, mangelt dem Volk jedoch in gleichem Maße die Kraft zur Entselbstigung; stattdessen zeigt es die Lust an der Unterwerfung. Alsbald erhält das »Opfer« denn auch eine sehr irdische, nämlich gesellschaftlich stabilisierende Funktion. Bedürftig und furchtsam möchte das Volk seinen Gott »gnädig« stimmen (v. 323) und zugleich sich nach außen abgrenzen. Zur Opferwilligkeit gesellt sich der Verfolgungsgeist; Frömmigkeit verquickt sich mit Blutgier (»Blutdurst« und »Schwindel«: v. 368f.), der neue Gott soll sein erstes Menschenopfer erhalten. Dazu ausersehen ist der (christliche) Einsiedler, der den Satyros wegen des begangenen Diebstahls zur Rechenschaft ziehen will und vom Volk sofort als Gotteslästerer ergriffen wird: »Höllen Spott | Er lästert unsern herrlichen Gott!« (v. 338f.). Und: »Sterben soll er!« (v. 348). Der Priester Hermes übernimmt die Führung: »Und zu versühnen den himmlischen Geist, | […] Wollen wir ihm unsern Tempel weihn, | Und mit dem blutigen Opfer erfreun« (v. 350-353).
|| 121 Schneider (Goethes Satyros [Anm. 116], S. 19) sieht denn auch in der Kosmogonie des Fauns eine Wendung »vom Christlichen ins ›rein Philosophisch-Naturalistische‹«. 122 Vgl. d’Holbach: System der Natur (Anm. 16), II. Teil, 2. Kap.: Von der Mythologie und von der Theologie, S. 318–338, bes. S. 319–324 u.ö. – In ihrem Kommentar weist Fischer-Lamberg (Anm. 116, S. 462–465) zahlreiche Parallelen zwischen Satyros und den Prometheus-Dichtungen nach, die Schings (Anm. 10) wiederum in den Kontext von Goethes d’Holbach-Rezeption rückt. – Von der Forschung herausgestellt wurde bislang vor allem die offenkundige Verspottung des Rousseauismus (z. B. Schneider [Anm. 116], S. 18 u. ö.); Schneider (ebd. S. 21– 24) benennt als Zielscheibe von Goethes Satire zudem die hermetisch-pansophischen Spekulationen und freimaurerischen Mystifikationen Goues; vgl. Anm. 116. 123 Vgl. Goethe: Satyros (Anm. 120), S. 313.
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Just die gegenchristliche Partei wendet sich also einem grausamen Kult zu. Beide Positionen und Lebenshaltungen, die christliche des Einsiedlers und die heidnische des Satyros, relativieren und ironisieren sich in Goethes »Drama« gegenseitig, damit ex negativo die Wechselbezüglichkeit von ›Konzentration‹ und ›Expansion‹ bestätigend (und die Parallele zu d’Holbachs ›Genealogie‹ der Religion einschränkend). Die sittliche Überlegenheit des Einsiedlers – er übt sowohl christliche caritas als auch wahre Toleranz – bleibt ohnmächtig gegenüber ›der Welt‹, während die Selbstherrlichkeit des Satyrs als Größenwahn entlarvt wird. Die Durchdringung der Lebenskraft mit der allverbindenden Liebe bleibt die Utopie des Ursprungs. In einer späten Rezension (1824) bezeichnet Goethe die Fähigkeit zur Hingabe und die religiöse Ehrfurcht als diejenigen Anlagen, die am vernehmlichsten dafür sprächen, dass dem Menschen neben der ›Erbsünde‹, auf die Phänomene eines ›radikal Bösen‹ deuten mögen, auch eine ›Erbtugend‹ angeboren sei.124 In Satyros zeigt die dramatische Analyse, leichthin und in komischer Brechung, wie eben diese ›höhere‹ Anlage korrumpierbar ist durch die Machtbegierde (statt seine Zuhörer zu emanzipieren, genießt Satyros deren Gefolgschaft und Unterwerfung), sodass sie sich ins Entsetzliche verkehrt (Menschenopfer). Eine entscheidende Rolle spielt deshalb das Gottesbild bzw. die Gotteserkenntnis. Gott, so legen wir die verunglückte Religionsstiftung in Satyros aus, muss zum angemessenen Adressaten der Ehrfurcht ›gebildet‹ werden, jener Steigerungsform, die durch das menschliche Bewusstsein in die Dynamik der Naturkräfte und -triebe gebracht wird. Abschließend wollen wir nunmehr untersuchen, wie Goethe in Iphigenie auf Tauris seine um die ›Begierde‹ zentrierte privat-religiöse Anthropologie mittels desjenigen antiken Stoffes objektivierend entfaltet, der, wie wir gezeigt haben, in der Theatertradition als Reflexionsmedium der Erbsündendoktrin etabliert war. »Es ist der Weg des Todes, den wir treten«, so lauten Orests erste Worte, die er auf der Bühne spricht.125 Er benennt damit präzise die Gravitation seiner ›Fallgeschichte‹ und antizipiert ihr vorläufiges Telos, die halluzinierte Opferung durch Iphigenie und den anschließenden Hadestraum. Mit dem von den Furien besessenen Orest hat Goethe eine Figur geschaffen, die den Verdammten des Atridenhauses aus der Feder Weißes durchaus vergleichbar ist. Orests innere Disposition und ›Begierde‹ sind sein Schicksal, welches in der sittlichen Verfeh-
|| 124 Vgl. Anm. 30. 125 Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. [1787]. In: Goethe: Dramen 1776–1790. Hg. von Dieter Borchmeyer (Anm. 61), S. 553–619, hier II,1, v. 561.
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lung besteht, ohne dass eine Wahlmöglichkeit oder Willensfreiheit ersichtlich wären. Er charakterisiert sich selbst als Melancholiker, dessen Blick auf die »Not« (II,1, v. 655) des Daseins fixiert ist; diese Not konkretisiert sich für ihn im Verfall des eigenen Hauses und den Verbrechen der Mutter, die ihn, vor jeglicher eigenen Entscheidung, dazu bestimmen, »des Vaters Rächer | Dereinst zu sein« (wie Iphigenie sofort erkennt: III,1, v. 977). Im Exil wächst in seiner »Seele | Die brennende Begier« der Rache (III,1, v. 1015f.). Sein weiterer Weg in den (vorläufigen) Untergang folgt dann exakt der Psycho-Logik der ›Verstockung‹. Wegen der Rachbegierde, die in ihm lodert, können die Götter ihn als Werkzeug benutzen; weil (und nicht obwohl) er sich zum Werkzeug des göttlichen Gerichts hat machen lassen, erfährt er sich nach dem Muttermord als verworfen und verflucht: Im entscheidenden Moment siegte »der Rache Feuer«, ›angeblasen‹ von Elektra (III,1, v. 1023), über die Ehrfurcht, welche die Gegenwart der Mutter einflößte. Orest resümiert: Mich haben sie zum Schlächter auserkoren, Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter, Und eine Schandtat schändlich rächend, mich Durch ihren Wink zu Grund’ gerichtet. (II,1, v. 707-710)126
Die angeborene Melancholie steigert sich nun zur Verzweiflung, welcher er sich widerstandslos überlässt.127 »Du mehrst das Übel | Und nimmst das Amt der Furien auf dich« (II,1, v. 756f.), tadelt ihn Pylades. Seine Verzweiflung lässt ihn keine Rettung für sich sehen; vor allem führt sie dazu, dass er, als vom »Fluch« Verfolgter, die eigene Lage nach dem Modell des blutigen Sühneopfers versteht, das einem grausamen Gott dargebracht werden muss. Als »Opfertier« bezeich-
|| 126 Die Frage, was es bedeutet, sich zum Werkzeug der göttlichen Rache machen zu lassen, ist zentral für den (Erb-)Sündendiskurs: Es sind die ›Gefäße des Zorns‹, die Verworfenen, derer sich Gott für seine Rache bedient. So warnt in Weißes Trauerspiel Rosemunde der tugendhafte Longin davor, selbst Rache zu üben: »Der Himmel, der sich nur die Rache vorbehält, | Wählt sich zum Werkzeug nie die Edelsten der Welt; | Elende, Hellmiche, die Schändlichsten der Erden« (Rosemunde. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Das Drama des Gegeneinander in den sechziger Jahren. Trauerspiele von Christian Felix Weiße. Hg. von F. Brüggemann. Leipzig 1938, S. 114–161, hier S. 142). 127 Dass Raschs Auffassung, die Reuequalen des Orest bezeugten die sittliche Autonomie seines Gewissens (Rasch: Drama der Autonomie [Anm. 7]), an den Konturen der Figur vorbeigeht, wurde in der Forschung bereits öfter betont; vgl. z. B. Winkler: Von Iphigenie zu Medea (Anm. 4), S. 139, Anm. 75.
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net er sich, das »im Jammertode bluten« soll (II,1, v. 577); um seinetwillen sei die »fromme Blutgier« unter den Tauriern wieder erwacht (II,1, v. 782); und sobald er in Iphigenie seine Schwester erkannt hat, halluziniert er, wie erwähnt, den Opfertod von ihrer Hand (III,1, v. 1252-1254)128 – eine Sühne, in der zugleich die Grausamkeit der Vergeltung (»Mit solchen Blicken suchte Klytemnestra | Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen«: v. 1240) ihren Höhepunkt erreichen würde: »Die liebevolle Schwester wird zur Tat | Gezwungen« (v. 1248f). Signatur von Orests Verzweiflung ist dabei ihr Zerstörungspotential, das sich nicht nur gegen ihn, sondern auch nach außen wendet: »Es stürze mein entseelter Leib vom Fels, | Es rauche bis zum Meer’ hinab mein Blut, | Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren!« (v. 1090–1093). Solche Verzweiflung führt zur Hölle; wie Orest denn auch das Höllenfeuer bereits in sich brennen fühlt: »Durch Rauch und Qualm seh’ ich den matten Schein | Des Totenflusses mir zur Hölle leuchten« (v. 1142f.); »Soll die Glut denn ewig, | Vorsätzlich angefacht, mit Höllenschwefel | Genährt, mir auf der Seele marternd brennen?« (v. 1153–1155, vgl. auch v. 1235f.). Die Verzweiflung macht sich noch in dem Hadestraum (III,2) geltend, der dem Zusammenbruch folgt, imaginiert Orest doch den Ahnherrn (Tantalus) weiterhin nicht als ›gerettet‹, sondern als ›gerichtet‹, als Opfer grausam strafender Götter. Unsere Modellierung der Orestfigur zeigt zum einen, dass Goethe die lutherische Sündenlehre funktionalisiert für die moderne Verflechtung von Empfinden und Erkennen: Orests düsteres Gottesbild wird transparent als eine Projektion seines ›Todestriebs‹. Zum anderen werden nur mit der Einordnung in den Horizont christlicher Tradition die Reich- und Tragweite von Orests Heilung, ihr gegenchristlicher Sinn, voll erkennbar. Nur die – übernatürliche – Gnade könnte, lutherischem Glauben zufolge, Orest retten. Seine Retter sind jedoch Pylades und vor allem Iphigenie, und seine Heilung, die mit der Vision der versöhnten Eltern sicherlich vorbereitet wird, vollendet sich erst im ›Schritt nach draußen‹, in der Berührung des Freundes und der Schwester (III,3). Komplementär dazu ist der gegenchristliche Sinn in der Entfaltung der Figur der Iphigenie angelegt, in der, statt des Erbfluchs, die »Erbtugend«129 – des Tantalus gottähnliche Weisheit – wirksam wird.
|| 128 Vgl. Winkler: Von Iphigenie zu Medea (Anm. 4), S. 135f. Winkler bezieht sich auf die Deutung von Cyrus Hamlin: »Myth and Psychology«: The Curing of Orest in Goethe’s Iphigenie auf Tauris. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S. 59–80. 129 Goethe: Rezension zu Don Alonzo (Anm. 30), S. 93.
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Auch hinsichtlich Iphigeniens dient die Vergegenwärtigung ihres Stammbaums zunächst dazu, das Bedingte ihrer Existenz zu zeigen: das ›Gesetz, nach dem sie angetreten‹. Iphigenie wehrt den Gedanken nachgerade ab, nur durch ein »Wunder« (I,3, v. 398) könne sie dem »wilden« Geschlecht der Atriden entsprossen sein, und sucht die Familiengeschichte als eine folgerechte Entwicklung zu verstehen. Die Ahnenreihe vergleicht sie einer Kette, an deren »Ende« sich das jüngste Glied »geschlossen« sehe: Denn es erzeugt nicht gleich Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer; Erst eine Reihe Böser oder Guter Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude Der Welt hervor. (I,3, v. 355-359)
Die Untaten der Pelopssöhne sieht sie im Kontext der Unfreiheit der existentiellen Grundrichtung. »Der Gott« habe die Nachkommen des Tantalus an deren kraftvolle Begierden ›geschmiedet‹; ihrer Begierde – nach Macht, Schönheit und Liebe, den höchsten irdischen Gütern – hätten sie deshalb unbedingt und ungebremst folgen müssen: »Zur Wut ward ihnen jegliche Begier, | Und grenzenlos drang ihre Wut umher« (v. 334f.). Wenn Iphigenie von den Mordtaten in Mykene erfährt, reagiert sie mit einem Gleichnis aus der Pflanzenwelt, das wiederum die Unfreiheit des Geschehens akzentuiert: So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch Mit vollen wilden Händen ausgesät! Und gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüttelnd und tausendfält’gen Samen um sich streuend, Den Kindes Kindern nahverwandte Mörder Zur ew’gen Wechselwut erzeugt! (III,1, v. 968-973)
Die Handlungsweise ihres eigenen Vaters muss Iphigenie dieser Ereigniskette zuordnen. Einerseits hat er »sein Liebstes« der Göttin am Altar dargebracht und sich so als fromm und gottesfürchtig erwiesen (I,1, v. 46), andererseits hat er damit nichts anderes getan, als wovor Iphigenie den König der Taurier warnt, nämlich seine »grausamen Begierden« der Göttin ›angedichtet‹ (I,3, v. 524f.). Für Pylades ist die Opferung der Tochter immerhin eine so »schwere Tat«, dass, wenn Gattenmord überhaupt entschuldbar wäre, Klytemnestra exkulpiert wäre (II,2, v. 906f.).
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Wir verfolgen nunmehr die These, dass Iphigenies Befreiung vom Fluch als ein Erkenntnisprozess sich entfaltet, der immer von den dunklen Wurzeln, den Bedingungen der Herkunft, gespeist bleibt und insofern keine Autonomie des sittlichen Willens demonstriert, sondern, ganz im Sinne von Herders Anthropologie, die Wechselabhängigkeit von Empfinden, Fühlen, Wollen und Erkennen vorführt. Im Zuge dieses Prozesses wird die ›Notwendigkeit‹ im Haus der Atriden neu beleuchtet bzw. ›aufgeklärt‹, wofür die Offenheit des ›Ursprungs‹ (Unklarheit über Schicksal und Schuld des Tantalus) eine entscheidende Rolle spielt. Iphigenie betritt die Szene als wahre Tantalidin: als Exilierte und Beraubte, die beherrscht wird von der Sehnsucht nach ›mehr‹, nach versagter Lebensfülle. Ihr Eingangsmonolog enthält eine Anspielung auf die Qual des Tantalus, Inbegriff unbefriedigten Begehrens: »Ihm zehrt der Gram | Das nächste Glück vor seinen Lippen weg« (I,1, v. 16f.); ein »Schauder« geht von ihrem Blick aus, wie Arkas bemerkt (I,2, v. 71); viel ist in der Forschung über ihren Eigen- und Widerwillen geschrieben worden, den sie der Göttin entgegensetzt.130 Die Erinnerungsbilder ihrer Heimat prägen die Richtung ihrer Seele.131 Dieses konkrete Glücksverlangen bleibt die Triebkraft ihres Handelns bis zum Schluss. Im Unterschied zu ihren Vorfahren ist Iphigenie jedoch mit einer Begierde nach Glück begabt – einer glücklichen Begierde –, die dazu befähigt, aus dem Mangel heraus das Dasein als Geschenk und Chance zu ergreifen (wie Herder es in seinem Essay Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele modelliert). Dazu gehört, dass ihr der religiöse Opfer- und Vergeltungsgedanke auf elementare Weise fremd ist. Wie sie die Göttin als »Retterin« erfahren hat, lässt sie sich selber nicht zum Opfer machen. Ihr Glück, ja nur die unbestimmte Hoffnung auf Glück, opfert Iphigenie der großen sittlichen Aufgabe, die sie an Thoas’ Seite verwirklichen könnte, nicht auf. So aber rückt in ihrer Deutung des (Familien-)Geschicks die »Rettung« an die Stelle der Rache, Vergeltung und Strafe. Die Möglichkeit der »Rettung« ist für sie noch der Maßstab, mit dem sie Klytemnestras Zustand bewertet. Sie »rettet weder Hoffnung, weder Furcht« (III,1, v. 996), antwortet sie auf Orests Frage; ihrem zum Muttermörder gewordenen Bruder begegnet sie mit vorbehaltloser Liebe. In der Anagnorisis-Szene, konfrontiert mit Orests verzweifelt-todessüchtiger Perspektive, verhilft sie ihrer entgegengesetzten Gefühls- und Sichtweise
|| 130 Rasch: Drama der Autonomie (Anm. 7), S. 95 u. ö.; Bernhard Zimmermann: Euripides’ und Goethes Iphigenie. In: B. Z.: Spurensuche. Studien zur Rezeption antiker Literatur. Freiburg i. Br. u. a. 2009, S. 91–101, hier S. 96, Anm. 19. 131 Fick: Gottebenbildlichkeit (Anm. 13), S. 139f.
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zum Sieg. Trotz der Verlusterfahrung gelingt es ihr, die Gegenwart als Glück zu begreifen, als erfüllten Augenblick (»Erfüllung«). Ihr Dankgebet an Jupiter (III,1, v. 1094–1117) verschränkt dabei die Haltung des Empfangens – Iphigenie nimmt die Ankunft des Bruders als Geschenk und Gabe der Götter an – mit einer beispiellosen Selbstbehauptung: Iphigenie akzeptiert die Vorgeschichte als Bedingung ihrer Rettung, ihr eigenes Dasein und Sosein enthält die Rechtfertigung für die Folge der Geschehnisse, die zu dem gegenwärtigen Moment führten, der ihr das Glück wiederbringt. Die Prosafassung (1779) macht dies sehr deutlich: Aus »der Eltern Blut«, sagt Iphigenie da, steige ihr »ein Reis der Errettung, das zum schattenreichen Baum Knospen und Wuchs« habe.132 »Ungeheuer«, heißt es in der Versfassung, steht das Bild von Jupiters Providenz vor ihr (v. 1096).133 Kein Wunder, möchte man sagen, dass Iphigenie die Sittlichkeit ihrer Existenz noch bewähren muss. Dies geschieht in ihrem Widerstand gegen den Betrug an Thoas, den Pylades mit einer utilitaristischen Argumentation als ›notwendig‹ verteidigt (IV,4). Wenn sie sich dazu durchringt, die Wahrheit zu sagen, wirken wiederum ihr Wille zur Selbstbehauptung und ihre Erkenntnis zusammen, spinozistisch ausgedrückt: Iphigenies Begierde, sich auf ihre Art im Dasein zu behaupten (conatus), wird identisch mit ihrer Tugend und ihrer Gotteserkenntnis.134 Weil Lüge, Trug und Hinterlist sie innerlich zerstören würden, wehrt sie sich dagegen. Die Lüge, so ihre Klage, »befreiet nicht«, sondern »ängstet | Den der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt | Ein losgedruckter [sic] Pfeil von einem Gotte | Gewendet und versagend, sich zurück | Und trifft den Schützen.« (IV,1, v. 1405–1411). Ihre Worte heben das Intuitive, Gefühlsmäßige ihrer Haltung hervor: »Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt« (IV,4, v. 1648); »Ich untersuche nicht, ich fühle nur.« (v. 1650)
|| 132 Goethe: Iphigenie auf Tauris . In: Goethe: Dramen 1776–1790 (Anm. 61), S. 149–197, hier S. 173. 133 Orests Gewittergleichnis im Dankgebet nach seiner Heilung (v. 1341–1354) entfaltet eine ganz ähnliche Logik: In der polaren Struktur des Seins ist die Finsternis die Bedingung für das Licht. 134 Die Erschließung von Iphigenies Motivation mittels Spinozas Konzept des conatus löst den immer wieder konstatierten Widerspruch zwischen dem Interessegeleiteten, TaktischNützlichen ihres Wahrheitsbekenntnisses und dessen ethischem Anspruch; vgl. Dieter Liewerscheidts eindringliche Darstellung von Iphigenies Überlebenswillen: Goethes Iphigenie. Nicht »rein«, nicht autonom – eine Selbstbehauptungskünstlerin. In: Wirkendes Wort 60:1 (2011), S. 1–14.
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Daraus erwächst die entscheidende Erkenntnis, dass der Bildraub nicht die Lösung des Geschlechter- und Erbfluchs bedeuten würde, sondern dessen Fortsetzung: »Nimmt doch alles ab! | […] Warum nicht der Fluch?« (IV,5, v. 1696; 1698). Die Vorstellung der erzwungenen Schuldverstrickung jedoch erzeugt den Gotteshass. Die Befürchtung, die böse Tat begehen zu müssen, weckt Iphigenies Erinnerung an das Parzenlied, welches dem Hass Priorität in allem Geschehen verleiht, ihn in die Götterdynastien zurückprojizierend: Der »alten Götter« tiefen »Haß« auf die Olympier assoziiert Iphigenie mit dem Lied (v. 1714), die ewige Geschichte von Macht und Überwältigung. Dieser Hass, den Iphigenie anschließend (V,3) auf Thoas überträgt – sie imaginiert ihn in der Rolle des Willkürgottes (v. 1815-1820) –, dient denn auch nur dazu, die Hinterlist zu legitimieren: »Ja der Gewaltige verdient, daß man sie übt« (v. 1872). Ihrem Wahrheitsbekenntnis dagegen geht die Rückbesinnung auf ihr ›Inneres‹, auf die Bedingungen ihrer Existenz, die »Kraft« in ihrer »Seele Tiefen« (v. 1885) voran; der Einsatz ihres Lebens ist in hohem Maße auch Verwirklichung ihres Selbst, ihrer eigenen Wahrheit. Gleichzeitig ist ihr Schritt erneut auf die ergänzende Liebe hin ausgerichtet, wenn sie als Schutzflehende ihre Tat den Göttern auf die »Kniee« legt und sie um »Beistand« anruft (v. 1916; 1918). Dass Iphigenie schließlich die »Wahrheit« den Göttern noch überordnet (»verherrlicht | Durch mich die Wahrheit!«, v. 1918f.), mag als Indiz für eine adäquate Erkenntnis der ›Notwendigkeit‹ verstanden werden: Die Götter stehen für die »Wahrheit« (Notwendigkeit) des Seins, die sich nur als Teilhabe an der Liebe Gottes realisieren lässt (Aufrichtigkeit und Achtung Thoas gegenüber), während der Zwang des Geschlechterfluchs sich dem vom Hass getrübten Blick zeigt. Die Verwandlung des Geschlechterfluchs in einen neuen Segen fungiert also in Goethes Schauspiel als mythische bzw. poetische Vorstellungsweise für die aus dem ›Begehren‹ (conatus) hervorgehende Erkenntnis der Notwendigkeit, die identisch ist mit der Liebe Gottes. Rückblickend, nach Orests richtiger Auslegung des Orakelspruchs und Erkenntnis der ›Gottesebenbildlichkeit‹ Iphigenies,135 kann die Geschichte der Tantaliden neu geschrieben werden – so geschrieben werden, dass ersichtlich wird, wie »eine Reihe Böser oder Guter« nicht nur das Entsetzen, sondern eben mehr noch »die Freude | Der Welt« (I,3,
|| 135 Vgl. die unübertroffenen Bemerkungen von Gerhard Kaiser zum Bedeutungshorizont von Orests Erkenntnis: Kann Klassik widerrufen werden? Gerhart Hauptmanns Iphigenie in Hitlers Weltkrieg. In: Goethe Jahrbuch 126 (2009), S. 182–193, hier S. 190f. – Den Bereich der Erkenntnis, die von dem »Wollen« gespeist wird, symbolisiert in dem Stück das Bild vom Band, das »ehern« den Atriden um die Stirn geschmiedet ist (v. 330–335) und am Ende dem Orest von der Stirne genommen wird (v. 2108–2110).
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v. 357-359) hervorbringt. Durch das ganze Stück hindurch haben die Figuren diese Spur festgehalten, indem sie in der Erinnerung an Tantalus, den Ahnherrn, sich nicht auf dessen Verbrechen, sondern auf dessen Weisheit bezogen, die ihn in den »Rat« der Götter erhoben hatte.136
|| 136 Beispiele: Thoas: v. 309–314 und v. 499–501; Iphigenie: v. 319 und v. 1754–1766; Orest: v. 1301–1309.
Jörg Robert
»Die Kunst, o Mensch, hast du allein« Kunstreligion und Autonomie in Schillers Gedicht Die Künstler1
1 Die Bestimmung des Menschen Im Winter 1788/89 verfasst Schiller ein philosophisches Gedicht mit dem Titel Die Künstler, das zuerst in Christoph Martin Wielands Der Teutsche Merkur (März 1789) erscheint.2 Mit 481 Versen (in der Fassung letzter Hand) ist es Schil|| 1 Die folgenden Thesen sind dem Jubilar in mehrfacher Hinsicht verpflichtet: Der Verf. erinnert sich gerne an einen Vortrag über Schillers Gedicht Die Künstler, den Friedrich Vollhardt im Rahmen einer von ihm selbst, Frank Büttner und Arne Zerbst durchgeführten Münchner Akademie-Tagung zum Thema »Mythos und Mythologie. Von Vico bis zum frühen Schelling« (17.– 19. Juli 2013) hielt. Zugleich ist an eine Reihe instruktiver Synthesen zu Problemen des Kunstsystems aus der Feder des Jubilars zu erinnern: Friedrich Vollhardt: [Art.] Autonomie. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 173–176; ders.: Selbstreferenz im Literatursystem: Rhetorik, Poetik, Ästhetik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft. München 1995, S. 249–272. Immer wieder hat Friedrich Vollhardt dabei auf die Dringlichkeit einer integralen Darstellung des Autonomieproblems hingewiesen: »Ob sich die semiologischen Erklärungsansätze mit literatur- und funktionsgeschichtlichen Studien verbinden lassen, hätte eine umfassende Darstellung zu zeigen, die noch aussteht« (Vollhardt: Autonomie [s. o.], S. 176). Das Autonomieproblem war weiterhin ein Fluchtpunkt der gemeinsamen Arbeit an Lessing und seinem Laokoon, an die sich der Verf. dankbar erinnert: Jörg Robert/Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston 2013. In diesem Zusammenhang ist Friedrich Vollhardts Neuedition des Laokoon zu nennen, die derzeit die verlässlichste, gründlich revidierte Textgrundlage bietet. Inzwischen liegt auch seine magistrale Darstellung im Rahmen der Reihe ›C. H. Beck Wissen‹ vor: Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. München 2016. 2 Dieser Beitrag schließt an Überlegungen meiner Habilitationsschrift an: Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011, S. 223–292; auch Jürgen Brokoff: Die Künstler (1789). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011, S. 265–267; Alessandro Costazza: ›Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget | Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein, | Das malerische Tal – auf einmal zeiget‹. Die ästhetische Theorie in Schillers Gedicht Die Künstler. In: Peter-André Alt u. a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 239–263; Hans-Dietrich Dahnke: Schönheit und Wahrheit. Zum Thema Kunst und Wissenschaft in Schillers Konzeptionsbildung am Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts. In: Manfred Beyer/
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lers längstes Gedicht überhaupt.3 In der Tradition des Lehrgedichts oder Sachepos’4 reflektieren Die Künstler das Verhältnis zwischen Poesie (allgemeiner: Kunst) und Wissen in einer geschichtsphilosophischen Perspektive. Der Text steht in einem Reflexionszusammenhang mit jenen universalhistorischen Schriften, die auf den methodischen Spuren August Ludwig Schlözers, Johann Christoph Gatterers und Herders die Geschichte des Zivilisationsprozesses nachvollziehen.5 Neben der Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (26./27. Mai 1789) sind dies die Aufsätze Etwas über die erste Menschengesellschaft (geschrieben 1789, erschienen 1790), Die || Helmut Brandt (Hg.): Ansichten der deutschen Klassik. Berlin/Weimar 1981, S. 85–116; Gisela Horn: Schillers Gedicht Die Künstler. Entwurf zwischen »ökonomischer Schriftstellerei« und menschheitlicher Poesie. In: Helmut Brandt (Hg.): Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Berlin 1987, S. 382–392; Barthold Pelzer: Schillers Die Künstler. Ein Gedicht im Spannungsfeld unterschiedlicher Erkenntnismodi. Kunst – Geschichte – Wissenschaft. In: Eberhard Knobloch (Hg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen. Wiesbaden 1997, S. 165–181; David V. Pugh: Die Künstler: Schiller’s philosophical programme. In: Oxford German Studies 18/19 (1989/90), S. 13–22; Wolfdietrich Rasch: Die Künstler. Prolegomena zur Interpretation des Schillerschen Gedichtes. In: Der Deutschunterricht 4:5 (1952), S. 59–75. 3 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt/Albert Meier/Wolfgang Riedel. München 2004 (im Folgenden: SW; die römische Ziffer steht für den Band), hier SW I, S. 173–187. 4 Das Lehrgedicht gehört von jeher (im Grunde seit Aristoteles’ Verdikt) zu den Stiefkindern der Forschung. Vgl. den Kurzabriss bei Wilhelm Kühlmann: [Art.] Lehrdichtung. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin/New York, S. 393– 397; zur metaphysisch-naturrechtlichen Lehrdichtung vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 260–298 (v.a. zur Pope-Rezeption); Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem unbekannten Gedicht Albrecht von Hallers. Aarhus 1967; L. L. A.: Lehrdichtung. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Das Fischer Lexikon: Literatur. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996, S. 937–960; Christoph Siegrist: Lehrdichtung. In: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Zwischen Absolutismus und Aufklärung. Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 219–233; vgl. meine Überlegungen zum Forschungsstand in Jörg Robert: Martin Opitz: Vesuvius. In: Roland Borgards u. a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 301–305. 5 Der Historiograph Schiller gehört zu den jüngsten ›Entdeckungen‹ der Schiller-Forschung. Vgl. Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart/Weimar 1995; Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000, hier Bd. 1, S. 587–675; Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer (Hg.): Schiller und die Geschichte. München 2006; Holger Bösmann: Schiller als Historiker. In: Jörg Robert (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 47–71.
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Sendung Moses (1790) und das Projekt der Allgemeinen Sammlung historischer Memoires, deren Vorbericht auf den 25. Oktober 1789 datiert ist. Mit den großen universalhistorischen Abhandlungen bilden sie eine historisch-werkchronologisch dichte Konstellation, deren geschichtsphilosophische und -theologische Voraussetzungen am intensivsten in den Künstlern reflektiert werden. Die Künstler bezeichnen einen doppelten Wendepunkt in Schillers Werk: Zusammen mit den Göttern Griechenlandes, die Anfang 1788 entstanden und wenig später im Märzheft des Teutschen Merkur gedruckt worden waren,6 bezeugen sie eine Wendung zum Klassischen und zur Klassizität die sich vor allem dem Einfluss des Weimarer Mentors Christoph Martin Wieland verdankt. Auf der anderen Seite erarbeitet das ausgreifende philosophisch-poetologische ›Gedichtgedicht‹7 ein Gesamtrepertoire jener Themen, um die Schillers Ästhetik nach der intensiven Auseinandersetzung mit der Kant’schen Ästhetik gravitieren wird. Die ersten »[z]ehen Bogen« der Ästhetischen Briefe zehrten noch von den »reichhaltigsten Ideen aus den Künstlern«8. Dass Kant schon in den Künstlern in erheblichem Maße präsent ist, wird noch auszuführen sein. Neben der ästhetisch-stilistischen Wende zu »Classicität« und »Correctität«9 (im Zeichen Wielands), zum Projekt des Weimarer Neoklassizismus also, formulieren Die Künstler zum ersten Mal jene Idee einer ›ästhetischen Erziehung‹ des Menschen.
|| 6 Aus der Fülle der Literatur seien genannt: Joachim Bernauer: »Schöne Welt, wo bist du?« Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin 1995, S. 105–130; Klaus Berghahn: Schillers mythologische Symbolik. Erläutert am Beispiel der Götter Griechenlands. In: Weimarer Beiträge 31 (1985), S. 1803–1822; Heinz Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik. Frankfurt a. M. 1981, S. 85–200; Helmut Koopmann: Poetischer Rückruf: Die Götter Griechenlands. In: Norbert Oellers (Hg.): Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996, S. 64–83; Peter-André Alt: Natur, Zivilisation und Narratio. Zur triadischen Strukturierung von Schillers Geschichtskonzept. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 18 (2008), S. 530–545; Jörg Robert: Fetisch und vergötterte Natur. Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes zwischen Landschaftsästhetik, Religionskritik und ›Neuer Mythologie‹. In: Aufklärung 25 (2013), S. 183–217. 7 Sandra Pott: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin/New York 2004. 8 Brief an Christian Gottfried Körner, 10. Dezember 1793, zitiert nach: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Begr. von Julius Petersen. Hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der deutschen Akademie. Weimar 1943ff. (im Folgenden: NA; die römische Ziffer steht für den Band); hier: NA XXVI, S. 336. 9 Schiller erwähnte eine »Horazische Correctität, welche Wielanden ganz betroffen hat« (NA XXV [Anm. 8], S. 29; zu den Göttern Griechenlandes). Zu dieser Wende vgl. Jörg Robert: Klassizität in der Modernität. Schillers Antike(n) und der Beginn der Klassik. In: Cordula Burtscher/Markus Hien (Hg.): Schiller im philosophischen Kontext. Würzburg 2011, S. 165–180.
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Damit stößt Schiller aber auch auf die Aporien des Modells. Sie betreffen Funktion und Status der Kunst zwischen Universalität und Historizität, Autonomie und Heteronomie.10 Ich bezeichne diesen Problemkreis, der um Heteronomie und Autonomie der Kunst zentriert ist, im Folgenden als das MediumTelos-Dilemma. Das Gedicht handelt von der zivilisatorischen Wirkung und pädagogischen Funktion der Kunst bzw. der Künstler in der Kulturgeschichte des Menschen; in einer universalhistorischen tour d’horizon wird diese (Vor-)Geschichte des modernen Menschen von der Vertreibung aus dem Paradies bis zur unmittelbaren Gegenwart des Jahres 1788/89 verfolgt. Der Text setzt folgendermaßen ein: Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige Stehst du an des Jahrhunderts Neige, In edler stolzer Männlichkeit, Mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle. Voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille, Der reifste Sohn der Zeit, Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze, Durch Sanftmut groß, und reich durch Schätze, Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg, Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet Und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg! SW I (Anm. 3), S. 173 (v. 1–12)
Die mehrfache Ankündigung des »kommenden Jahrhunderts« zeigt den historischen Ort des Textes: Die Künstler sind ein geschichtsphilosophisches carmen saeculare, ein Jahrhundertgedicht in der Tradition des Horaz.11 Die Jahrhundertwende 1800 (bzw. 1801) wird dabei eschatologisch als Wendepunkt und Erfül|| 10 Im Hinblick auf die Künstler vgl. David Pugh: Aesthetic und Moral Autonomy in Schiller's Gedankenlyrik. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, S. 314– 325. Zur Autonomie allgemein vgl. Vollhardt: Autonomie (Anm. 1); Antje Büssgen: Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn. Heidelberg 2006; Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck. Heidelberg 2012. 11 Vgl. August Sauer (Hg.): Die deutschen Säculardichtungen an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1901; Auf Sauer stützt sich Hans-Jürgen Malles: Jahrhundertwende und Epochenumbruch in der deutschen Lyrik um 1800. Frankfurt a. M. 1993; Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung. München 1999.
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lungsmoment verstanden. Die Aufklärung, so der Tenor, ist angebrochen. Performanz und Sprecherrolle sind bewusst inszeniert. Die Künstler sind eine Art versifizierte Abschluss- oder Abiturrede:12 Die Menschheit hat die ›Matura‹ erreicht (»reifste Sohn der Zeit«); nun ruft einer der Absolventen der Akademie (wir denken an die Hohe Karlsschule) zum Dank an die Lehrer, d. h. die Künstler, auf. Der Text wird von zwei Debatten der 1770er und 1780er Jahre geprägt: Einerseits setzt er die Diskussion um den Aufklärungsbegriff voraus, deren zentrales Dokument Kants Aufsatz Was ist Aufklärung (1784) in der Berlinischen Monatsschrift darstellt.13 Die Aufklärungsfrage ist mit einer Kontroverse um die »Bestimmung des Menschen« verflochten, die von Johann Joachim Spaldings Erfolgsschrift Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748) ausgeht.14 Unser Text steht dabei vor allem im Bann Herders und seiner Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (vier Teile, erschienen 1784–1791);15 Herders Thesen zur Stellung des Menschen im Kosmos werden in den Künstlern nicht nur reflektiert, sondern absatzweise versifiziert.16 Neben der Jenaer Antrittsvorlesung und der universalhistorischen Studie Etwas über die erste Menschengesellschaft (1789) sind Die Künstler Schillers primärer Beitrag einerseits zur Genealogie der Aufklärung, andererseits zur Frage der Autonomie bzw. Heteronomie der Kunst. Beide Probleme sind eng korreliert und nicht ablösbar von dem Diskurs über die Humanität, die Grenzen des Menschen, seine Bestim-
|| 12 Vgl. Robert: Vor der Klassik (Anm. 2), S. 270–275. 13 Vgl. die Zusammenstellung der Dokumente in Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Stuttgart 1980. 14 Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstadt 2013. Vgl. L. A. M.: Der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung. Friedrich Schillers Weg von der Aufklärung zu Kant. Von der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt, auf den letzten Stand gebracht und erweitert. Würzburg 2010 (zuerst ital. Il giro fangosos dell’umana destinazione. Friedrich Schiller dall’illuminismo al criticismo. Pisa 2008). 15 Schon Die Götter Griechenlandes stehen im Bann Herders. Vgl. NA XXV (Anm. 8), S. 25: »Herders vierter Theil der Ideen soll scharf über das Christenthum hergehen; man sagt hier, daß er’s zu bunt gemacht habe.« Vgl. hierzu Bernauer: »Schöne Welt, wo bist du?« (Anm. 6), S. 109. 16 Z. B. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. I. Teil, Buch 4, Abschnitt 4. In: J. G. H.: Werke. Hg. von Wolfgang Pross. Bd. III/1. München/Wien 2002, S. 135 (im Folgenden immer zitiert nach dieser Ausgabe): »[E]r kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen.«
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mung und Definition.17 Ich verfolge hier nur die Frage nach der Funktion der Künste im ›Dialog‹ mit den Wissenschaften. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen bildet das gedankliche Zentrum der Künstler. Schiller findet hier eine Antwort, die im diskursiven Umfeld keine Entsprechung hat. Dies fällt besonders auf, wenn man die Künstler mit dem wichtigsten Prätext – Herders Ideen – unmittelbar vergleicht. Gleich im zweiten Abschnitt von Schillers Text, am Ende der Exposition oder des Proömiums, heißt es: Im Fleiß kann dich die Biene meistern, In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein, Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern, Die Kunst, o Mensch, hast du allein. [...] Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, Die alternde Vernunft erfand, Lag im Symbol des Schönen und des Großen Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. SW I (Anm. 3), S. 174 (v. 30–34 bzw. v. 42–45)
Die Trias Biene – Wurm – Mensch wirkt zunächst befremdlich. Schillers zoologische Exkurse verdanken sich einerseits einer frühneuzeitlichen Tradition der Emblematik, die wiederum die Tiercharakteristik des Physiologus aufnimmt.18 Dass gerade der »Wurm« als Inbegriff einer Triebnatur in Schillers moralischer
|| 17 Diese Frage nach der Humanität zentriert eine Reihe von Reflexionsprozessen in unterschiedlichen Disziplinen und Feldern, die es von der integralen Frage nach einer literarischen Anthropologie her zu bestimmen gilt. Vgl. meine Überlegungen in: Jörg Robert: Die Grenzen der Menschheit – Anthropologie und Mythos im Zeitalter der Aufklärung (Voltaire, Linné, Goethe). In: Jochen Achilles/Roland Borgards/Brigitte Burrichter (Hg.): Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie. Würzburg 2012, S. 105–131; J. R.: Affenangst und Allerlösung – Goethes skeptische Anthropologie. In: Frank Fürbeth/Bernd Zegowitz (Hg.): Vorausdeutungen und Rückblicke. Goethe und Goethe-Rezeption zwischen Klassik und Moderne. Heidelberg 2013, S. 1–25. Zur literarischen Anthropologie vgl. Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008; Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung. In: Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 337–366, sowie Wolfgang Riedels klassische Studie: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg 1985. 18 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Emblematisches Zitat und emblematische Struktur in Schillers Gedichten. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 388–406.
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Zoologie oder zoologischer Moralistik eine prägnante Rolle spielt, ist Kennern des bürgerlichen Trauerspiels Kabale und Liebe oder der Ode an die Freude (entstanden 1784) bekannt. Wenn es dort heißt (v. 31f.): »Wollust ward dem Wurm gegeben, | Und der Cherub steht vor Gott«19, so drückt sich darin dieselbe Idee einer chain of being aus, die auch in den Künstlern verhandelt wird. Es geht um die Position des Menschen in der Schöpfungsordnung, in der ›Kette der Lebewesen‹, die vom niedrigsten Insekt bis zu den Engeln reicht (»vorgezogene Geister«; »Cherub«).20 Schiller findet zwei Argumente, um die Leistung und Bedeutung der Kunst für den Menschen herauszustellen: ein anthropologisch-naturalistisches und ein historisch-kulturalistisches. Das anthropologische Argument sieht den Menschen als »Kunstgeschöpf« (Herder).21 Dieses Argument geht von Aristoteles aus, der in der Poetik sagt, der Mensch »unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt.« Er sei – wie Aristoteles prägnant sagt – ein ζῷον μιμητικώτατον: τό τε γὰρ μιμεῖσθαι σύμφυτον τοῖς ἀνθρώποις ἐκ παίδων ἐστὶ καὶ τούτῳ διαφέρουσι τῶν ἄλλων ζῴων, ὅτι μιμητικώτατόν ἐστι καὶ τὰς μαθήσεις ποιεῖται διὰ μιμήσεως τὰς πρώτας, καὶ τὸ χαίρειν τοῖς μιμήμασι πάντας. Denn das Nachahmen ist den Menschen von Kind an in die Wiege gelegt; und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt, aber auch dadurch, dass sich alle Menschen an Nachahmungen erfreuen.22
Nachahmung – dies die Quintessenz des viel diskutierten Passus23 – ist eine »Unterart der Erkenntnis«.24 Sie beruht auf einer zutiefst menschlichen Lust am Lernen – auf der Seite der Produktion wie der Rezeption.25 Herder nennt den
|| 19 SW I (Anm. 3), S. 134. 20 Vgl. die klassische Studie von Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1936]. Frankfurt a. M. 1993. 21 Herder: Ideen (Anm. 16) I,4,3, S. 126. 22 Übersetzung, von mir leicht modifiziert, nach: Aristoteles: Poetik. Hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 11 (Poetik 1448b). 23 Arbogast Schmitt im Kommentar seiner Ausgabe: Aristoteles: Poetik. Übers. und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 268–302; Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems. Princeton/Oxford 2002, S. 177–206; Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung. Darmstadt 2 1992, S. 19–24. 24 Schmitt: Poetik (Anm. 23), S. 274. 25 Vgl. Fuhrmann: Dichtungstheorie (Anm. 23), S. 19f.
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Menschen ein »Kunstgeschöpf«, meint damit jedoch gerade nicht ›die‹ Kunst im engeren Sinne jenes Kollektivsingulars, der sich um 1800 allererst ausprägt (eines der ersten Dokumente sind Die Künstler!), sondern im älteren frühneuzeitlichen Sinne von ›Techniken‹/Technologien, der gerade die artes mechanicae mit einschließt. Diesem anthropologisch-naturalistischen Argument, das in jüngster Zeit die ›evolutionäre Ästhetik‹ wieder aufgenommen hat,26 steht in den Künstlern ein historisches zur Seite. Die Kunst erfüllt ihre historische Mission in den Anfängen der Gattungsgeschichte, die analog zur Individualgeschichte konstruiert wird – gleichsam als universalhistorische Schulgeschichte. Dass anthropologisches und historisches, naturalistisches und kulturalistisches Argument sich reiben oder ausschließen, gehört zu den immanenten Widersprüchen und Ambiguitäten des Entwurfs, die hier nicht weiter verfolgt werden können.
2 Parodia classica – Kultur- als Heilsgeschichte Die Rede von der Offenbarung der Kunst (v. 44) lässt die untergründigen Verbindungen zwischen Kunst- und Heilsgeschichte erkennen. Das »Symbol des Schönen und des Großen« in unserem Zitat verweist nicht nur auf die ›doppelte Ästhetik‹ des Schönen und des Erhabenen, sondern auch auf das Symbolum Nicaenum, das Glaubensbekenntnis. Das Symbol – im Ursprungssinn als Erkennungszeichen – des Glaubens wird durch die Bildersprache der Kunst ersetzt.27 Kunst beerbt Religion als vinculum societatis und zivilisierende Kraft. Im Hinblick auf das poetische Verfahren könnte man von einer klassizistischen Kontra-
|| 26 Vgl. Michele Cometa: Die notwendige Literatur. Skizze einer Biopoetik. In: Vittoria Borsò/ Sieglinde Borvitz (Hg.): Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«. Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik. Bielefeld 2013, S. 171–194; Dennis Dutton: The art instinct. Beauty, pleasure and human evolution. New York u. a. 2009; Karl Eibl: Animal poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004; Daniel Martin Feige: Biologische Evolution und Kunst. Eine Kritik. In: Martin Huber (Hg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn 2009, S. 165–181; Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Frankfurt a. M. 2011; Klaus Richter (Hg.): Evolutionstheorie und Geisteswissenschaften. Erfurt 2001; K. R.: Zur Herkunft des Schönen. Einige Grundzüge der evolutionären Ästhetik. In: K. R. (Hg.): Evolutionstheorie und Geisteswissenschaften. Erfurt 2001, S. 89–107; Gottfried Willems: Literaturwissenschaft und Evolutionstheorie. In: ebd., S. 191–215. 27 Zur Funktion der Bildersprache in Die Künstler vgl. Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie. Tübingen 1995, S. 611ff.; Robert: Vor der Klassik (Anm. 2), S. 232– 240.
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faktur bzw. einer interpretatio classica heilsgeschichtlicher Narrationen, Motive und Figuren sprechen. Diese neoklassizistische Resemantisierung christlich-biblischer Bestände erfasst nahezu alle markanten Wendepunkte und Schlüsselfiguren (Paradies und Vertreibung vs. Eschatologie/Erlösung, Himmelfahrt [Christi], die Sendung der Apostel, Offenbarung, Symbol, Typologie, alter vs. neuer Bund, überhaupt christliche Ikonographien).28 Der auffälligste Unterschied ist die Funktion Christi: Der Mittler wird durch die Mittlerin ersetzt. Diese – Venus – begegnet dabei in einer doppelten Erscheinungsform: als sinnliche (»Cypria«) und als intelligible (»Urania«). Dies nimmt den Mythos der beiden Aphroditen und damit das Liebesmodell des Platonischen Symposion auf, verleiht dieser doppelten Aphrodite aber auch marianische Züge. In jedem Fall ist es das Weibliche, das den Menschen – zivilisationsgeschichtlich – hinan zieht. Schillers Palimpsesttechnik lässt sich gut mit frühneuzeitlichen ImitatioVerfahren wie dem der parodia/Kontrafaktur vergleichen – nur, dass deren Richtung umgekehrt wird.29 Aus der parodia christiana wird die parodia classica.30 So evident das Verfahren ist, so ambivalent ist seine Tendenz. Dass die parodia classica als intertextuelle Schreiboperation säkularisierend wirkt, sofern hier der geistliche in einen weltlichen Sinn konvertiert wird, ist unabweisbar.31 Doch mit welcher Intention, unter welchen Vorzeichen? Wie verhalten || 28 Gerhard Friedl hat in einer Studie auf Schillers Prägung durch die höfische Kunst und Kultur hingewiesen (Verhüllte Wahrheit und entfesselte Phantasie. Die Mythologie in der vorklassischen und klassischen Lyrik Schillers. Würzburg 1987). Dieser Spur wäre unbedingt weiter zu folgen. Die poetische Bildlichkeit gründet genealogisch in den Bilderwelten der spätbarocken Malerei, wie sie Schiller von der Hohen Karlsschule kannte. Die Künstler sind in diesem Sinne ›malende Dichtung‹. 29 Zum frühneuzeitlichen Parodia-Begriff vgl. Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit. In: Reinhold F. Glei/Robert Seidel (Hg.): ›Parodia‹ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006, S. 47–66. 30 M. H. Müller: ›Parodia Christiana‹. Studien zu Jacob Baldes Odendichtung. Zürich 1964, S. 84–122. 31 Schillers Künstler bestätigen damit Karl Löwiths These von der Entstehung der Geschichtsphilosophie aus der Heilsgeschichte. »Daß das christliche saeculum weltlich wurde«, so Löwith, »rückt die Geschichte in ein paradoxes Licht: sie ist christlich von Herkunft und antichristlich im Ergebnis« (Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 2004, S. 216f.). Wenn man Säkularisierung als einen »geschichtsphilosophische(n) Prozeßbegriff moderner Entchristlichung in vielfältigen Perspektivmöglichkeiten« versteht, so deutet dies die vielfältigen Überlagerungs- und Mischungsverhältnisse zumindest an. Werner Conze: Vorsatz zum Art. Säkularisation, Säkularisierung. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosellek (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1984. Bd. 5,
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sich manifeste (philosophische) und latente (religiöse) Erzählung und Schicht zueinander? Soll religiöses Wissen durch klassisch-paganes ersetzt und ›durchgestrichen‹ werden (= Substitution, Agon) oder soll die biblisch-christliche Tradition der Geschichtsphilosophie narrative Plausibilität verleihen (= Affirmation, Emphase)? In jedem Fall bezeugt das Gedicht eine intensive Auseinandersetzung mit der christlichen Religion einerseits, mit metaphysischen ›letzten‹ Dingen andererseits, die Schillers Werk in den achtziger Jahren bestimmt.32 Für die Abrechnung mit der christlichen Religion sei noch einmal an Die Götter Griechenlandes, das Gedicht Resignation,33 für deren konfessionelle Dimension an den Geisterseher oder den Don Karlos erinnert. In dieses Tableau einer Abrechnung oder besser: Abarbeitung des Religiösen fügen sich auch Die Künstler ein. Ich deute deren Palimpsesttechnik, ihr parodia-Prinzip, als ein intertextuelles Ab- und Durcharbeiten religiösen Wissens mit dem Ziel der kompensierenden Übertragung. Kunst und Künstler müssen jene ohnehin nur noch historische Erlösungshoffnung garantieren, die der Religion nicht mehr zugetraut wird. Die Künstler dokumentieren eine Wende zur Ästhetik, in deren Verlauf Kunst zum Surrogat des Religiösen unter der Bedingung skeptisch hingenommener Endlichkeit wird.34 Im Fall der Künstler zeigt sich diese Ersetzungs- und Kompensationsbewegung besonders deutlich. Die ›alten‹ Figuren und Inhalte werden im || S. 790. Die Debatte um den Begriff der Säkularisierung hat gerade zuletzt wieder deutlich an Fahrt aufgenommen. Ausgangspunkt war Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2009 (A Secular Age. Cambridge 2007). Vgl. auch Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003; D. P./Karl Gabriel/Christel Gärtner (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Berlin 2012. Historischer Überblick bei Giacomo Marramao: Säkularisierung. In: Karlfried Gründer/Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8. Basel/Stuttgart 1992, Sp. 1133–1161. Für die Frühe Neuzeit vgl. Friedrich Vollhardt: ›Verweltlichung‹ der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin/New York 2002, S. 67–93; für die Vormoderne: Susanne Köbele/Bruno Quast (Hg.): Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Berlin/Boston 2014 (mit exzellenter Einleitung der Hg. S. 9–20). 32 Zum Thema Schiller und die Religion vgl. Cordula Burtscher: Glaube und Furcht. Religion und Religionskritik bei Schiller. Würzburg 2014; Matthias Schulze-Bünte: Die Religionskritik im Werk Friedrich Schillers. Frankfurt a. M. u. a. 1993; Manfred Misch: Schiller und die Religion. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 198–215. 33 Wolfgang Riedel: Abschied von der Ewigkeit [Resignation]. In: Norbert Oellers (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996, S. 51–63. 34 Vgl. Robert: Vor der Klassik (Anm. 2), S. 201–206.
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Verfahren der parodia classica zugleich bewahrt und überschrieben. Wo die institutionelle Vermittlung des Heils fragwürdig geworden ist (siehe den Jesuitenorden im Geisterseher oder im universalhistorischen Essay über das Jesuiterregiment in Paraguay), tritt die Kunst bzw. treten Künstler an deren Stelle. Diese Parodie- und Palimpsesttechnik stellt eine eigene Variante von ›Kunstreligion‹ um 1800 dar. Sie unterscheidet sich namentlich vom Synkretismus Hölderlins, der in der Elegie Brod und Wein Überschneidungen zwischen Dionysos und Christus auslotet und in der Anrede »Der Syrer, des höchsten Sohn« synthetisiert.35 Schiller synthetisiert nicht, sondern parodiert. Die Geschichte des Menschen beginnt in den Künstlern mit der Vertreibung aus dem Paradies, mit dem Sturz aus der Vaterwelt in die Mutterwelt der Kunst. Als der Erschaffende von seinem Angesichte Den Menschen in die Sterblichkeit verwies Und eine späte Wiederkehr zum Lichte Auf schwerem Sinnenpfad ihn finden hieß, Als alle Himmlischen ihr Antlitz von ihm wandten, Schloß sie, die Menschliche, allein Mit dem verlassenen Verbannten Großmütig in die Sterblichkeit sich ein. SW I (Anm. 3), S. 175 (v. 66–72)
Das Narrativ vom Sündenfall wird zitiert, ohne dass Gründe für die Vertreibung aus dem Paradies genannt würden. Der Akt der Verbannung ist ein absolutes, ›schlechthinniges‹ Faktum, das hier nur interessiert, weil es eine menschheitsgeschichtliche Such- und Rückkehrbewegung, eine metaphysische Queste nach dem Licht, initiiert. Damit greift Schiller ein kontroverses Thema der Zeit auf. Ausgangspunkt war Kants Aufsatz Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), der die mosaische Erzählung radikal umdeutete, und zwar zu einer »Geschichte der ersten Entwicklung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen«.36 Der Sündenfall sei in Wahrheit ein Glücksfall, felix culpa.37 Er bedeute nichts weniger als den
|| 35 Vergleichbar ist dagegen das Verfahren, das Hölderlin in der späten Hymne Germanien anwendet: Hier appelliert die Berufung der Jungfrau Germania durch den Adler des Zeus ganz offen an die Ikonographie der Verkündigungsszene. Nicht Synthese und Synkretismus, sondern parodia classica (in diesem Fall mit patriotischer Allegorie). 36 Immanuel Kant: Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte. In: I. K.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 51983. Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, S. 85–102, hier S. 85. Innerhalb der Kant-For-
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Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Wort: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit […].38
Dieser Ausgang aus dem Paradies entspricht damit dem Ausgang aus der Platonischen Höhle, auf den Kants einleitende Definition im Essay Was ist Aufklärung (1784) anspielt:39 Höhle und Paradies sind gattungsgeschichtlich analoge Ursprungsorte, sofern beide den »Sinnenschlaf« des Menschen symbolisieren. In Höhle und Paradies ist der Mensch ohne Reflexion, mit anderen Worten: Tier.40 An dieser Stelle setzt Schillers ›erste‹ Kant-Rezeption ein. Schiller hatte über Reinhold Kenntnis von »Kants kleinen Aufsätzen in der Berliner Monatschrift«41 erhalten. Am 29. August 1787 bekundet er gegenüber Körner, angeregt durch die beiden genannten Aufsätze sowie die Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, »Kant[] noch [zu] lesen und vielleicht [zu] studieren«.42 Kants Umdeutung von Gen 2–6 findet ein unmittelbares Echo sowohl in den Künstlern als auch in dem Essay Etwas über die erste Menschengesellschaft. Auf den Spuren Kants wird der Sündenfall als Befreiung des Menschen vom Instinkt zur Humanität gedeutet:
|| schung führt dieser Text eher ein Schattendasein. Vgl. Franz Gniffke: Die Gegenwärtigkeit des Mythos in Kants Mutmaßungen über den Anfang der Menschheitsgeschichte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984), S. 593–608; Manfred Koch: Der Sündenfall ins Schöne: Drei Deutungen der Paradiesgeschichte im 18. Jahrhundert (Kant, Herder, Goethe). In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden 1: um 1800. Paderborn u. a. 2004, S. 97–114; Martin Metzger: Die Paradieserzählung. Die Geschichte ihrer Auslegung von J. Clericus bis W. M. L. de Wette. Bonn 1959; Jörg Robert: Vormundschaft der Natur – Stand der Freiheit. Paradies und Sündenfall in Kants Aufsatz »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (1786). In: Annette Gerok-Reiter u. a. (Hg.): Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800). Transfers und Transformationen. Paderborn 2016. 37 Odo Marquard: Felix Culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3. In: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik. Bd. 9. München 1981, S. 53–71 (hier ältere Lit.). 38 Kant: Werke (Anm. 36) Bd. 9, S. 92. 39 Zum Höhlengleichnis und seiner Rezeption in der Neuzeit grundlegend Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt a. M. 1989. 40 Entsprechend kann Herder in den Ideen schreiben: »Das Tier geht noch im dunkeln Traum umher«. Herder: Ideen (Anm. 16) I,5,4, S. 170. 41 NA XXIV (Anm. 8), S. 143. 42 Ebd. Vgl. Macor: Die Bestimmung des Menschen (Anm. 14), S. 268.
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Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget. SW IV (Anm. 3), S. 769
In den Künstlern geht Schiller einen anderen Weg der ›Mythenkorrektur‹:43 Er deutet nicht den Sündenfall zum Glücksfall um, sondern parodiert die Heilsgeschichte unter Bewahrung ihrer tragisch-mythopoetischen Struktur von Vertreibung, Verbannung, Exil und Rückkehr. Auch im weiteren Gang zeigt sich eine Dialektik: Christliche Narrationen und Figuren werden nirgends erwähnt, bestimmen aber als Substrat die kulturgeschichtliche Erzählung. Die Stationen der Heilsgeschichte – Sündenfall, alter Bund (Kunst), neuer Bund (Verstand, Wissenschaft), Eschatologie (neues Paradies des Wissens) – scheinen durch die neoklassizistische Hülle gut sichtbar durch. Die Kunst (Schönheit) tritt dabei in mehrfach wechselnden Rollen auf: als Mutter des Menschengeschlechts, als ›Mittlerin‹ und Heilsbringerin und als Objekt einer »verschämteren Begierde«: Sie selbst, die sanfte Cypria, Umleuchtet von der Feuerkrone Steht dann vor ihrem mündgen Sohne Entschleiert – als Urania; SW I (Anm. 3), S. 186 (v. 433–436)
Die platonisierende Idee der doppelten Aphrodite (Urania/Pandemos hier: Urania/Cypria) ist ikonographisch ambivalent. Die Metapher der nuda veritas wird sinnlich konkretisiert.44 Die Stelle appelliert einerseits an die erotisch-frivolen Bilder der Rokoko-Lyrik und der spätbarocken Kunst, wie sie Schiller aus seiner Karlsschulzeit auf der Solitude kannte.45 Andererseits evoziert sie Elemente der Marienlyrik und -ikonographie.
|| 43 Vgl. Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin u. a. 2005. 44 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 71: »Die Metapher der ›nackten Wahrheit‹ gehört zum Selbstbewußtsein der aufklärerischen Vernunft und ihrem Herrschaftsanspruch«. 45 Zu Schillers Entdeckung der spätbarocken Kunst während seiner Karlsschulzeit und deren Einfluss auf sein Werk vgl. Friedl: Verhüllte Wahrheit und entfesselte Fantasie (Anm. 28), bes. S. 211–237.
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Der freisten Mutter freie Söhne, Schwingt euch mit festem Angesicht Zum Strahlensitz der höchsten Schöne, Um andre Kronen buhlet nicht. Die Schwester, die euch hier verschwunden, Holt ihr im Schoß der Mutter ein; SW I (Anm. 3), S. 186f. (v. 458–463)
Der Sinn der dunklen Passage erschließt sich nicht leicht: Schiller erzählt eine Geschichte von Ausgang und Verlust, von glücklicher Heimkehr und Vereinigung. Die Mutter der Künstler ist die Schönheit in ihrer himmlischen, ›intelligiblen‹ Form (Venus Urania). Die ›Schwester‹ dagegen ist die ›irdische‹ bzw. ›menschliche‹ Schönheit (Venus Cypria), die ihre Brüder, die Künstler, ›anagogisch‹ zurück zur Mutter führt – Kunstmetaphysik in den Konturen des Märchens! Die Logik des Fortschritts ist in Wirklichkeit – die Regression: Im Taumel der Bilder fallen Progress und Regress, religiöse und sexuelle Initiation, Mutterund Schwesterliebe zusammen. Die Künstlerfamilie bleibt ohne Vater, ohne Nachkommen, eine mönchisch-asketische Gemeinschaft von Brüdern. Heilsgeschichte ist dabei zugleich Geschlechtergeschichte: Der aus dem metaphysischen Vaterland bzw. vom Vater Vertriebene kehrt in den Mutterschoß zurück. Die Künstler im Gedicht wiederum erinnern an zwei Vorbilder: die Jünger Jesu auf der einen, die Geheimbünde – Freimaurer, Illuminaten – auf der anderen Seite.46 Als Emissäre des Schönen in Zeiten der Finsternis bewahren sie »der Menschheit Würde« (v. 443). Die Semantik von Mysterium, Initiation und »sanftem Bund« (v. 98) schließt an die zeitgenössische Geheimbundhysterie an, die in Schillers Projekten der 1780er Jahre – im Romanfragment Der Geisterseher, aber auch im Don Karlos – eine zentrale Rolle spielt. Bei allem Unbehagen, das Schiller gegenüber den Illuminaten empfindet, ist doch die Faszination für das Projekt selbst spürbar.47 Die Künstler beziehen damit in Schillers Werk eine Extremposition: Nirgends hat Schiller ästhetische Erziehung so konsequent vom Modell der Verschwörung her gedacht.48 Die Künstler sind Pioniere der Mensch-
|| 46 Vgl. Robert: Vor der Klassik (Anm. 2), S. 281–291. 47 Hans-Jürgen Schings hat in seiner klassischen Studie (Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996) vor allem die Seite der Aversion kenntlich gemacht. 48 Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Geleitwort von Eckhard Heftrich. Frankfurt a. M. 31982 (zuerst Berlin 1928), hier S. 177–225, hat – im Licht des GeorgeKreises und der Idee des ›geheimen Deutschlands‹ – Schillers Faszination für Verschwörung und Ordensgemeinschaften zuerst gesehen. Vgl. Jörg Robert: Schiller – Kommerell – George –
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heit; präadaptive Vorreiter auf einer – in Umrissen – bereits historisch gedachten chain of being. In Anspielung auf die Jakobsleiter (Gen 28,11) heißt sie hier »der Dichtung Blumenleiter« (v. 427). In der Kunst sind dabei alle zivilen Tugenden und zivilisatorischen Institutionen bereits keimhaft ›präformiert‹. Als erstes vinculum societatis begründet sie Religion (v. 214: »Der Mensch erbebte vor dem Unbekannten«), Theologie (v. 233: »Löst eine Ilias des Schicksals Rätselfragen«), Wissenschaft (v. 274: »Des Wissens Schranken gehen auf«) und Ethik mit den Unteraspekten der Deontologie (v. 320: »Daß der entjochte Mensch jetzt seine Pflichten denkt«) und der Affektkontrolle (v. 205: »verschämtere Begierde«). Vom historischen Standpunkt des Sprechers aus teilt sich die Menschheitsgeschichte in zwei Teile – wie alter und neuer Bund. Dem alten Bund korrespondiert ein Zeitalter der Kunst, in dem »Urania«, wie es heißt, »zum Kind [wird], daß Kinder sie verstehn« (v. 63). Auch diese Figur der ›Herablassung‹ zu pädagogischen Zwecken ist im theologischen Diskurs der Zeit gut bekannt: Es ist die Idee der ›Akkommodation‹, die – im Anschluss an die rhetorische Kategorie des aptum – die Anpassung eines göttlichen Heilsplans an das Fassungsvermögens eines noch unreifen, ›kindischen‹ Volkes – gemeint ist meist das Volk der Israeliten – bezeichnet. Zentral wird diese Idee in Lessings kontrovers rezipierter Schrift Über die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) entwickelt.49 Auch hier vollzieht sich eine Übertragung aus dem theologischen in den ästhetischen Kontext. Die Idee der Akkommodation wird auf die Kunst übertragen: Kunst ist ›wilde Weisheit‹, ›symbolische‹ Vorwegnahme der Offenbarung.50 Der typologische Verweisungszusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament wird auf die historische Sukzession von Poesie und Philosophie/Wissenschaft umgelenkt, die sich nun auch wie Verheißung und Erfüllung zueinander || Eine Konstellation der Moderne. In: Jeffrey High/Nicholas Martin/Norbert Oellers (Hg.): Who is this Schiller now? Essays on his Reception and Significance. Rochester/New York 2011, S. 367– 382. 49 In seinem universalgeschichtlichen Aufsatz Die Sendung Moses (1790) wird Schiller diese Idee der ästhetischen Erziehung aus dem Theologischen ins Politische wenden. Die ägyptische Erziehung Moses (seine Initiation in die Mysterien der Isis) wird zum unmittelbaren Modell der ästhetischen Erziehung. Vgl. Jörg Robert: Die Sendung Moses. Ägyptische und ästhetische Erziehung bei Lessing, Reinhold, Schiller. In: Wolfgang Riedel (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2009. Würzburg 2011, S. 109–174; zu Lessing vgl. Friedrich Vollhardt: ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre. In: Christoph Bultmann/Friedrich Vollhardt (Hg.): Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011, S. 104–125. 50 Vgl. dazu Jörg Robert: Ethnofiktion und Klassizismus. Poetik des Wilden und Ästhetik der Sattelzeit. In: Friederike Günther/Jörg Robert (Hg.): Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S. 3–39, hier S. 24–33.
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verhalten. Damit ist das Verfahrenswissen der Dichtung ›figurativ‹ in einem doppelten Sinne: dem der poetischen Bildlichkeit ebenso wie dem der typologischen (›präfigurierenden‹) Vorausdeutung,51 wobei die figurale Rede (figurative speech) Medium und Instrument der Präfigurationen des Wissens ist. Der entscheidende Unterschied zur Typologie liegt in der Rolle der Künstler: Sie eilen ›evolutionär‹ ihrer Zeit voraus und verfügen in ihrer jeweiligen Zeit und Epoche über einen Wissensvorsprung, den sie künstlerisch an ihre Mitwelt kommunizieren. Die Künstler sind die Avantgarde der Menschheitsentwicklung: »In die erhabne Geisterwelt | Wart ihr der Menschheit erste Stufe!« (v. 101f.). In der Idee einer solchen ästhetischen Avantgarde überlagern sich Typologie und Verschwörungsszenario. Die Künstler verwalten und kommunizieren einen verborgenen Heilsplan des Wissens, dessen eigentlicher Urheber im Dunkeln bleibt: »Der Dichtung heilige Magie | Dient einem weisen Weltenplane« (v. 445f.). Gott selbst als Urheber des Planes tritt freilich immer mehr in den Hintergrund. »Der fortgeschrittne Mensch« (v. 270) ist vor allem Diener einer Göttin, der »Venus Urania«. Die oben zitierte Stelle (»Der freisten Mutter freie Söhne usw.«) erweckt den Anschein, dass das Reich der Wissenschaft matriarchalisch organisiert ist.
3 Das Ende der Kunst Die typologische Logik von Verheißung und Erfüllung ist für die Stellung der Kunst in der Gegenwart des Sprechers durchaus heikel. Als reiner Vorschein der Wahrheit ist Kunst im eben ausgerufenen Zeitalter der Vernunft historisch überlebt, ein evolutionärer Atavismus. Kunst mag Keim aller Kulturtechniken und Wissensordnungen sein, mit der Ausdifferenzierung der sozialen Systeme wird sie jedoch abgelöst. Während die Rolle der Religion am Ende partiell von der Kunst übernommen wird, scheint der Siegeszug der Wissenschaft (»Der Forscher«) im Zeitalter der Aufklärung unabwendbar. Das Lob der Kunst ist zugleich ihr Abgesang. Das Enkomion wird zum Epikedion, das immerhin versöhnlich mit Verklärung und Apotheose schließt:
|| 51 Vgl. den klassischen Aufsatz von Erich Auerbach: Figura. In: E. A.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Hg. v. Gustav Konrad. Bern/München 1967, S. 55–92; Leonhard Goppelt: Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939 (Repr. Darmstadt 1969).
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Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift Und, trunken von siegrufenden Päanen, Mit rascher Hand schon nach der Krone greift; Wenn er mit niederm Söldnerslohne Den edeln Führer zu entlassen glaubt; Und neben dem geträumten Throne Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: – Verzeiht ihm – der Vollendung Krone Schwebt glänzend über eurem Haupt. Mit euch, des Frühlings erster Pflanze, Begann die seelenbildende Natur, Mit euch, dem freudgen Erntekranze, Schließt die vollendende Natur. SW I (Anm. 3), S. 184f. (v. 383–396)
Die Stelle zeigt das argumentative Dilemma. Das Zeitalter der Kunst ist zu Ende. Das Gedicht schwelgt in Bildern von Kampf, Krieg und Usurpation, die an die Prätendenten- und Umsturzthematik des Don Karlos und des Geistersehers denken lassen (»nach der Krone greift«). Der Schein des Unrechts fällt auf den Sieg der Wissenschaft über die Kunst. Die Führer ins gelobte Land der Erkenntnis werden an dessen Pforte (»Morgentor des Schönen«, v. 34) schnöde ›entlassen‹. Das sich neigende Jahrhundert ist eine Schwellenphase der Wissensgeschichte. Während der Sprecher noch den Künstlern dankt, hat die Kunst längst abgedankt: Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, Seelenlos ein Feuerball sich dreht, Lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät. Die Götter Griechenlandes SW I (Anm. 3), S. 170 (v. 17–20)
Arbeitet man diese elegische Schicht in der vermeintlich so fortschrittsoptimistischen Argumentation heraus, verschwindet die scheinbare Diskrepanz gegenüber der Moderne- und Rationalismuskritik der Götter Griechenlandes. Die Künstler nehmen aus den Göttern vor allem den kritischen Faden der Auseinandersetzung mit der ›New Science‹ (»Feuerball«) auf, während die Kritik am christlichen Monotheismus in die poetische Performanz hinübergespielt und gelöst wird: Im Verfahren der parodia classica wird der abweisende Vatergott durch neue, poetische Muttergottheiten abgelöst. Das ändert aber nichts an den
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wissensgeschichtlichen Tatsachen. Im Wettstreit der Disziplinen hat »an des Jahrhunderts Neige« die (Natur-)Wissenschaft gesiegt. Wie »dankbar« der »fortgeschrittne Mensch« der Entwicklungshelferin Kunst sein wird, bleibt abzuwarten. Das Telos der Kunst ist ihr eigenes Ende. Diese fatale Logik der Selbstabwicklung, die der Idee ästhetischer Erziehung inhärent ist, verleiht den Künstlern eine tragische Ambivalenz. Am Ende nimmt die Kunst allenfalls »den ersten Sklavenplatz« am »geträumten Throne« der Wahrheit ein.52 Die Einheit von Poesie und Wissen ist an der Schwelle zur funktionalen Ausdifferenzierung zerfallen. Auch die Flucht ins »Feenland der Lieder« ist keine Option mehr. Was bleibt, ist die stolze Geste der Verzeihung gegenüber dem Sieger, die wie milde Herablassung gegenüber Kunstbanausen daherkommt, tatsächlich aber Resignation und Ohnmacht ausdrückt. Die Diagnose von der Kunst, die aus der Heteronomie in die ›schlechte‹ Autonomie einer historischen und sozialen Ortlosigkeit stürzt, setzt ein Thema, das die Geschichte der (Autonomie-)Ästhetik weiter prägen wird. Schiller nimmt jenen »Satz vom Ende der Kunst« vorweg, den Hegel in der Einleitung zu seiner Ästhetik formulieren wird: »Der Gedanke und die Reflexion«, schreibt Hegel, »hat die schöne Kunst überflügelt […] In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«.53 Man kann sogar noch weiter gehen und die These wagen, dass Schiller nicht nur Hegels These vorwegnimmt, sondern geradezu deren Quelle und Bezugspunkt ist. Das lässt sich auch philologisch plausibel machen; nicht nur dadurch, dass die Einleitung in die Ästhetischen Vorlesungen voller offener oder verdeckter Schiller-Reminiszenzen ist (am auffälligsten der Satz: »Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späten Mittelalters sind vorüber«).54 In seiner Würdigung Schillers in den Vorlesungen bezieht sich Hegel explizit auf die philosophischen Gedichte, in denen »die Absichtlichkeit abstrakter Reflexionen und selbst das Interesse des philosophischen Begriffs« auffallend seien.55 Hegel deutet dies von Schillers Übergangsposition in der Geistesgeschichte her: Mit dem Dilemma zwischen Philosophie und Poesie, || 52 Dass Schiller im letzten der ästhetischen Briefe das »Reich[ ] des ästhetischen Scheins« tatsächlich »in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten« reifen sieht (NA XX [Anm. 8], S. 412), weist auf das Problem hin. 53 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1979, hier Bd. 1, S. 25 bzw. 24. 54 Ebd., S. 24. 55 Ebd., S. 90. Zu Hegels emphatischer Schiller-Rezeption in der Ästhetik vgl. Pott: Poetiken (Anm. 7), S. 162.
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Abstraktion und Imagination habe Schiller »als Dichter nur die Schuld seiner Zeit bezahlt, und es war eine Verwicklung in Schuld, welche dieser erhabenen Seele und tiefem Gemüte nur zur Ehre und der Wissenschaft und Erkenntnis nur zum Vorteil gereicht hat«.56 Die Künstler sind der Beleg, um nicht zu sagen: Grundlage und Bezugspunkt für Hegels These. Die wissensgeschichtlichen Umbrüche, von denen dieser bereits rückblickend spricht, schreiben sich Schillers Gedicht als fortgesetzte, unaufhebbare Inkongruenz ein – sowohl auf der Ebene der Performanz als auch auf jener der Reflexion selbst. Es kommt darauf an, die Ambiguität der Argumentation, ihr Schwanken nicht zu harmonisieren, sondern als Symptom einer Wende der Wissensgeschichte und der Ästhetik zu akzentuieren: Die Argumentation wird instabil, weil die Stellung der Kunst instabil ist, schwankend ausgespannt zwischen Triumph und Sklaverei. Der eben angeführte Passus (»Wenn auf des Denkens frei gegebnen Bahnen […]«) belegt diese Instabilität exemplarisch. Angesichts der elegischen Diagnose im ersten Teil wirkt die Wendung zur Apotheose der Kunst im zweiten abrupt: Plötzlich und unvermittelt erscheint der teleologisch notwendige Sieg des Forschers über den Dichter wie ein Scheinerfolg. Eben noch obsolet und versklavt, wird der Kunst nun »der Vollendung Krone« zugesprochen, gar die Kunst als Telos der Menschheit bezeichnet – ein offener Widerspruch, eine rhetorisch erpresste Versöhnung, durch die sich die Artistengeschichte in eine Artistenphantasie mit happy end verwandelt. Logisch lässt sich dieser Umschlag von Trauer in Triumph nicht heilen, aber doch problemgeschichtlich fruchtbar machen. Die Entstehungs- und Fassungsgeschichte gibt einen Hinweis: Das Gedicht entsteht im engen Dialog mit dem Weimarer Mentor Christoph Martin Wieland, dem das Verdienst zukommt, als erster auf den wunden Punkt in Schillers Konzept ästhetischer Erziehung – und damit der Autonomieästhetik – hingewiesen zu haben. Schiller schreibt Anfang Februar 1789 an Körner: »Wieland nehmlich empfand es sehr unhold, daß die Kunst nach dieser bisherigen Vorstellung doch nur die Dienerinn einer höhern Kultur sey«.57 Schiller reagiert, steuert gegen, ohne die Brüche vollständig zu glätten. Die letzten Zeilen setzen unvermittelt dem linearen, an der christlichen Heilsgeschichte orientierten Schema ein zyklisches Geschichts- und Kulturmodell entgegen, das im Hinblick auf den Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung noch bedeutsam werden wird; zuvor war es nur in der eschatologischen Idee einer »späte[n] Wiederkehr zum Lichte« (v. 68) angelegt. Die Kunst wird statt zum überwundenen Medium wieder zum Telos der Menschheitsge|| 56 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Anm. 53), Bd. 1, S. 90. 57 An Körner, 9. Februar 1789 (NA XXV [Anm. 8], S. 200).
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schichte erklärt. Das Gedicht transzendiert am Ende das Medium-Telos-Dilemma durch einen neuplatonischen Salto metafisico. Fern dämmre schon in euerm Spiegel Das kommende Jahrhundert auf. Auf tausendfach verschlungnen Wegen Der reichen Mannigfaltigkeit Kommt dann umarmend euch entgegen Am Thron der hohen Einigkeit. SW I (Anm. 3), S. 187 (v. 468–473)
Am Ende geht es nicht ohne metaphysische Kompensationen und »Religionströstungen«58 ab. Die Kunstreligion muss das Autonomieproblem verdecken. Im fulminanten Schlusstableau, das zentrale Gedanken der vor-revolutionären Dekade aufnimmt – vor allem die Vorstellung der universellen, kosmopolitischen Bruderschaft aller Menschen –, wird das Medium-Telos-Dilemma kunstreligiös-metaphysisch überspielt: Der Sklavenplatz am »geträumten Throne« der Wissenschaft wird gegen den »Thron der hohen Einigkeit« (v. 473) getauscht. Das »Morgentor des Schönen« ist nicht nur epistemologische, sondern auch die religiöse Schwelle. Eine Lösung für das Dilemma, die Frage nach der Bestimmung des Menschen und dem Ziel der Kultur in der Zeit, war diese Apotheose naturgemäß nicht.
|| 58 NA XII (Anm. 8), S. 24: »Strenge Moral ohne Religionströstungen« (zum Dramenentwurf Die Maltheser).
Barbara Mahlmann-Bauer
Friedrich Schillers Prinzipien der Geschichtsschreibung und die Geschichte der französischen Unruhen Einleitung: Lessing und Schiller Friedrich Vollhardt legt in seinen Forschungen zur Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts verborgene Traditionen offen und fragt danach, welchen Anteil Dichtungen an den großen philosophischen Diskursen über religiöse Toleranz, Ästhetik, Naturrecht und die Natur des Menschen haben. Dies sind Leitfragen,1 über die wir seit mehr als zwanzig Jahren im Gespräch sind. Die Überzeugung, dass Dramen, Gedichte und Romane ingeniöse Experimente sind, welche sich historischer Projektionen bedienen, um utopische Lösungen zu suggerieren, wie das soziale Miteinander und die staatliche Ordnung verbessert werden könnten, verbindet mich mit Friedrich Vollhardt. Das Urteil des späten Lessing über das Ziel der Menschheitsgeschichte schwankt zwischen Hoffnung und Skepsis. »So kann nach dem Sinn von Geschichte nur gefragt werden, wenn man ihr Ziel auch dann zu verstehen versucht, wenn sich dieses nicht enthüllt«, resümiert Friedrich Vollhardt seine Versuche, die »fehlende Vorgeschichte« zu Lessings Schrift Erziehung des Menschengeschlechts aufzuspüren.2 Das Zeitalter eines neuen Evangeliums der Ver-
|| 1 Auf diese Linie lassen sich Friedrich Vollhardts Lessing-Arbeiten bringen, z. B. Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: PeterAndré Alt u. a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und der Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 29–47; ders.: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100 (2006), S. 359–393; ders.: Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann. In: Jörg Robert/Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston 2013, S. 175–200; Friedrich Vollhardt: Nachwort zu: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von F. V. Stuttgart 2012, S. 437–467. 2 Friedrich Vollhardt: ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre. In: Christoph Bultmann/Friedrich Vollhardt (Hg.): Lessings Religions-
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nunft, das Lessing ankündigt, habe sich Joachim von Fiore im 13. Jahrhundert noch nicht enthüllt. Lessing ermahnte sich und andere beim Blick in die Zukunft zur Geduld mit den letztlich überwindbaren Formen traditioneller Religion.3 Im fünften und letzten der Gespräche für Freimäurer stellt Ernst angesichts des fraglichen Werts schriftlicher Überlieferung Sinn und Erkennbarkeit des Geschichtsverlaufs zur Diskussion: »O Geschichte! O Geschichte! Was bist du?«4 Lessings Vorschlag, die allmähliche Durchsetzung vernünftiger Formen der Gottesverehrung als Fernziel der Evolution monotheistischer Religionen in Analogie zur Reifung eines Individuums zu sehen, deren Gelingen durch geschickte väterliche Pädagogik gefördert werden könne, deutet Friedrich Vollhardt als spielerischen Versuch, Licht in das Verhältnis der Offenbarungsreligionen hineinzubringen und ihre Konkurrenz nach göttlichen Fingerzeigen zu durchsuchen, die eine erzieherische Absicht verraten könnten. Als der Editor der Reimarus-Fragmente, der wichtige Anstöße von der protestantischen Apologie empfangen hat, mit seinem Plan einer öffentlichen Diskussion über den Deismus und die Rettung des Glaubens vor der historisch-philologischen Bibelkritik an der Zensur im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel scheiterte, kam der Dramatiker zum Zuge, der sich, eingedenk der Ermunterung in § 9 der aristotelischen Poetik, in seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise eine besonders blutige Epoche aus der Geschichte Palästinas herausgriff, um ein Märchen von der Versöhnung der drei monotheistischen Religionen als Familienzusammenführung zu entwerfen. Der Richter in Nathans Parabel fordert die Söhne auf, den Streit um Echtheitsansprüche zu überwinden und in einen praktischen »Wettstreit der Religionen« einzutreten, »aus dem sich die Lösung der nicht verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird, nicht argumentativ, sondern ethisch«.5
|| philosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011, S. 104–125, hier S. 124f. 3 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing und die Toleranzdebatten der Frühen Neuzeit. In: F. V./Oliver Bach/Michael Multhammer (Hg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2015, S. 381–415, 414. 4 Vollhardt: Enthusiasmus der Spekulation (Anm. 2), S. 125. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk, Fünftes Gespräch. In: G. E. L.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 10. Hg. von Arno Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt a. M. 1998, S. 59. 5 Friedrich Vollhardt: Lessings Toleranzparabel. In: Christoph Bultmann/Birka Siwczyk (Hg.): Tolerant mit Lessing. Ein Lesebuch zur Ringparabel. Leipzig 2013, S. 29–38, hier S. 35; ders: Lessing und die Toleranzdebatten (Anm. 3), hier das Zitat S. 413; ders.: Gotthold Ephraim Lessing. München 2016, S. 114–122.
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Der folgende Beitrag widmet sich einer kritischen Wende in Friedrich Schillers intellektueller Karriere. 1793 brach er die historiographischen Großprojekte ab, wandte sich dem Drama zu und erarbeitete sich eine Theorie der Tragödie. Diese Wende ist vergleichbar mit Lessings Rückkehr zu seiner »alten Kanzel«, dem Theater,6 nachdem ihm die Fortsetzung der theologischen Polemik verboten worden war und seine streitbaren Gegner ihm die Aussicht auf das nahe Zeitalter der Vernunft verdüsterten. Schillers Ansicht von den Aufgaben des Universalhistorikers setzt ähnlich wie Lessings Vergleich der Entwicklungsgeschichte der Religionen in Analogie zum Bildungsgang eines Individuums eine optimistische Teleologie der Geschichte voraus. Die Erziehung des Menschengeschlechts beschloss den Fragmentenstreit doch mit dem Ausblick auf ein Zeitalter der Vernunft. Schiller dagegen begann seine Vorlesungstätigkeit in Jena mit Überlegungen, welche Ereignisse der »vorhergehenden Zeitalter« dazu beigetragen haben, »unser menschliches Jahrhundert herbey zu führen«.7 Als er die Geschichte der französischen Religionskriege schrieb, musste er sich indes fragen, ob diese wirklich dazu notwendig gewesen seien. Seine Geschichte der französischen Unruhen, welche der Regierung Heinrichs IV. vorausgiengen, blieb Fragment. Schiller brach die Arbeit daran ab, als er zur Schilderung des Attentats auf Admiral Coligny am 22. August 1572 gelangte. Nachdem im März 1793 der fünfte Teilband der deutschen Übersetzung der Memoiren des Herzogs von Sullys erschienen war, den Schiller mit der Vorgeschichte der Pariser Bluthochzeit einleitete,8 nahm er kein historisches Großpro-
|| 6 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 12. Hg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a. M. 1988, S. 194; vgl. Arno Schilson: »Auf meiner alten Kanzel, dem Theater«. Über Religion und Theater bei Lessing. Göttingen 1997. 7 Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: F. S.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17: Historische Schriften. Erster Teil. Hg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 375f. 8 Die deutsche Übersetzung der Mémoires des Maximilien de Béthune, duc de Sully, macht die zweite Abteilung der Allgemeinen Sammlung Historischer Memoires vom zwölften Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten aus. Zu fünf Bänden dieser zweiten Abteilung lieferte Schiller universalhistorische Einleitungen. Sie erschienen ab 1791 bis zum März 1793. Erst für die Bände 8 bis 10, in denen die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully unter Leitung von Schillers Kollegen Heinrich Eberhard Gottlieb Paulus fortgesetzt wurden, lieferte dieser ebenfalls Einleitungen (vgl. Anm. 10). Friedrich Schiller: Allgemeine Sammlung historischer Memoires zweyte Abtheilung, Bände 1–5. In: F. S.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1: Historische Schriften. Dritter Teil. Texte und Erläuterungen. Hg. von Waltraud Hagen und Thomas Prüfer. Weimar 2003. Das Thema seiner universalhistorischen Einleitungen wird in Schillers Titel genannt: Historische Einleitung zu den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully. Geschichte der französischen Unruhen, welche der Regierung Heinrichs IV. vorausgiengen (S. 68).
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jekt mehr in Angriff. Dafür möchte ich im Folgenden sachliche Gründe anführen, nachdem die Forschung vor allem mit biographischen argumentiert hat. Wieso gab Schiller die Weiterarbeit auf, als er über das Attentat auf Admiral Gaspard de Coligny berichtete? Die folgende Analyse von Schillers Darstellung der französischen Bürger- und Religionskriege soll eine Antwort darauf geben. In der zweiten Hälfte des Jahres 1792, als Louis XVI. in Haft war und das Herbstmassaker in Paris Tausende von Opfern forderte, orientierte sich der Schriftsteller Schiller neu.9 Ursprünglich wollte er einen universalhistorischen Überblick von der Herrschaft Franz’ I. bis zum Regierungsantritt Heinrichs IV. geben, um das Verständnis der Mémoires de Sully zu erleichtern. Erst Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Schillers Jenaer Kollege, fuhr 1794, als der achte Band der Memoirensammlung erschien, mit der Erzählung fort, wo der Extraordinarius sie abgebrochen hatte, und schilderte die Gräuel der Bartholomäusnacht und ihre Folgen. Zu diesen zählte er auch die Krankheit Karls IX., der 1574 starb, ohne eines seiner Ziele erreicht zu haben.10 Ich möchte das Ergebnis der folgenden Analyse thesenhaft vorweg nehmen: Bei der Arbeit am Projekt, die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully in deutscher Übersetzung mit einer universalhistorischen Einleitung zu edieren, könnte Schiller an dem 1789 formulierten Anspruch gescheitert sein, den Regierungsantritt Heinrichs IV. 1594 und den Ausgleich zwischen den verfeindeten Konfessionsparteien durch das Edikt von Nantes 1598 als Ergebnisse und Endzweck der Religionskriege zu erklären. Als er Anlauf nahm, die Pariser Bluthochzeit zu erzählen, und sich die Frage nach den Verantwortlichen für das Massaker der Bartholomäusnacht stellte, ging ihm auf, dass dies aus den überlieferten Zeugnissen nicht gelingen konnte. Mehr noch als in der Geschichte des Aufstands der Niederländer gegen die spanische Herrschaft oder in der Geschichte vom Aufstieg und Fall Wallensteins wäre poetisches Ingenium und psychologisches Einfühlungsvermögen nötig gewesen, um das Handeln Katharinas von Medici (1519–1589), Karls’ IX. (1550–1574) und des Herzogs Heinrich
|| 9 Peter-André Alt: Friedrich Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. 2 Bde. München 2000, hier Bd. 2, S. 111–123, und die Briefe Schillers aus den Jahren 1791 bis 1793 in: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26: Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.3.1790–17.5.1794. Hg. von Edith Nahler und Horst Nahler. Weimar 1992. 10 H. E. G. Paulus: Die Unruhen in Frankreich von der Bartholomäusnacht 1572, bis auf den Tod Carls IX. 1574. In: Allgemeine Sammlung Historischer Memoires vom 12. Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten durch mehrere Verfasser übersetzt, […] hg. von Friedrich Schiller […], Zweyte Abtheilung. Achter Band. Jena 1794, S. VII–XLVI. Paulus schreibt durchweg »Carl«, während Schiller die deutsche Schreibweise bevorzugt. Wir geben die Namen der französischen Akteure des 16. Jahrhunderts in der Schreibweise Schillers wieder.
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von Guise (1550–1588) verständlich zu machen. Hätte Schiller im sinnlosen Gemetzel den »Schattenriß« des Weltplans aufzeigen können, den der Tragödiendichter Lessing zufolge bühnenwirksam darstellen sollte?11 Es musste Schiller beim Quellenstudium aufgefallen sein, dass in der Geschichte Frankreichs vor Heinrich IV. Personen fehlten, welche das Format erhabener Helden gehabt hätten. Paulus stilisierte Coligny zu einem solchen, da dieser vertrauensselig in Hofnähe blieb, anstatt sich vor Katharina von Medici in Sicherheit zu bringen.12 Die Frage nach der Schuld und den Schuldigen am Massaker im August 1572 wurde von Zeitzeugen kontrovers beurteilt, aber eine Strafverfolgung der Mörder unterblieb. Es könnte sein, dass Kants 1792 erstmals publizierter Aufsatz »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« Schiller die Aporie einer Erklärung der Bartholomäusnacht vor Augen gestellt hat. Schillers erstes Drama Die Räuber wurde im Todesjahr Lessings veröffentlicht. Schillers erste vier Dramen nahmen Maß an Lessings Trauerspiel Emilia Galotti, in dem zeitgenössische und jüngere Kritiker Spitzen gegen absolutistische Willkürherrschaft erkannten.13 Schillers frühester Ansatz zu einer Theorie des Trauerspiels, »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?« (1784) knüpft ebenfalls an Lessings Position an, die Ergebnis des Briefwechsels mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn war.14 Geschichte sei vom philosophischen Kopf aus dem Aggregat von disparaten res gestae als ein auf die Gegenwart zulaufender teleologischer Prozess zu deuten, postulierte Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung 1789. In der Geschichte nach übergreifenden Entwicklungsprinzipien zu suchen, hielt der Extraordinarius für ein Gebot kritischer Vernunft. Sie gab dem Historiographen bei der Quellenauswer-
|| 11 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (1767/69). In: G. E. L.: Werke. Bd. 6. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, § 79, S. 577f. 12 Paulus: Die Unruhen in Frankreich (Anm. 10), S. XXII. Zu seinem Versuch, das mehrtägige Morden eschatologisch zu deuten, vgl. S. XXX. 13 Friedrich Vollhardt erarbeitet die Nachbarschaft des späten Lessing mit dem frühen Schiller aufgrund ihrer ähnlichen Anforderungen an die Tragödie, welche wenig mit den Wünschen des Mannheimer Hoftheaters übereinstimmten. Friedrich Vollhardt: Anton von Klein, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller. Hoftheater und Drama am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Wilhelm Kreutz/Wilhelm Kühlmann/Hermann Wiegand (Hg.): Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution. Regensburg 2013, S. 669–882. Vgl. das Urteil Goethes 1772 in: Jan-Dirk Müller (Hg): G. E. Lessing: Emilia Galotti. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1971, bibliographisch ergänzt 1993, S. 64. 14 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Hg. von Benno von Wiese und Helmut Koopmann.. Weimar 1962, S. 87–100; Bd. 21: Philosophische Schriften. Zweiter Teil. Hg. von Benno von Wiese und Helmut Koopmann. Weimar 1963, S. 141–145.
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tung wenigstens eine Heuristik, wenn nicht eine stringente Methode vor. Dieses Gebot der Vernunft leitete Lessing in seiner Erziehungsschrift ebenfalls. Der Jenaer Extraordinarius hielt, ähnlich wie Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, die historischen Entwicklungsgesetze für so objektiv wirksam wie Naturgesetze.15 Die Gesetzmäßigkeit des Geschichtsverlaufs ermöglichte nicht nur per analogiam Rückschlüsse auf dunkle Zeiten der Vergangenheit, in denen Dokumente fehlten, sondern erlaubte auch Zukunftsprognosen, im Vertrauen auf die Höherentwicklung des Menschengeschlechts und der Normen menschlichen Zusammenlebens. Diese Tendenz war nach Lessings Überzeugung dem Plan der göttlichen Vorsehung eingeschrieben. Der Dramendichter habe die Aufgabe, ihn auf der Bühne wie einen »Schattenriß« zum Trost und Vergnügen der Zuschauer darzustellen. Am Ende der Wallenstein-Trilogie erteilt Schiller allerdings der Hoffnung auf eine poetische Theodizee eine Absage, welche der Verfasser der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande noch rechtmäßig entdecken zu können glaubte.16 Den Schluss der Wallenstein-Trilogie, die Auszeichnung des treulosen Freundes Octavio Piccolomini, fand Hegel entsetzlich.17 Lessing hätte ihm vermutlich zugestimmt. Den ähnlich deprimierenden Ausgang von Christian Felix Weißes Tragödie Richard III. kritisierte Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie. Er hatte Bedenken, dass dieses Scheusal eines Königs den Zuschauern Zweifel am Plan der Vorsehung einflößen könnte, und warf Weiße vor, dieser habe die aristotelischen Bedingungen für die optimale tragische Wirkung missachtet.18 Die brisante, spannungsgeladene Dramaturgie der Wallenstein-Handlung um Treue, politische Sendung und Verrat, mit ihrem Höhepunkt im von Goethe so genannten ›Achsenmonolog‹ des böhmischen Feldherrn (Wallensteins Tod I,4), verdankt sich dem Bemühen des philosophisch ambitionierten Historikers, das Geheimnis von Wallensteins Motiven und Absichten ans Licht zu bringen, obwohl die überlieferten Quellen der kaisertreuen Reichspublizistik klare Auskunft über die Strafwürdigkeit von Wallensteins Avancen gegenüber den
|| 15 Vgl. Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. Köln/Wien 2002, S. 197–205. 16 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 21. 17 Georg Friedrich Hegel: Über Wallenstein (um 1800). In: Fritz Heuer/Werner Keller (Hg.): Schillers Wallenstein. Darmstadt 1977, S. 16; dazu Alt: Schiller (Anm. 9), Bd. 2, S. 461f. 18 Weißes Bearbeitung von Shakespeares Tragödie gab Lessing Anlass, sich über die berühmte Forderung in § 6 der aristotelischen Poetik Gedanken zu machen. Lessing: Hamburgische Dramaturgie (Anm. 11), §§ 74–79, S. 551–580.
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Schweden verweigerten.19 Während der Historiker eingestand, »keine seiner Thaten berechtigt uns, ihn [Wallenstein] der Verrätherey für überwiesen zu halten«, weil sein Unglück ebendies sei, dass die siegende Partei »ihn […] überlebte und seine Geschichte schrieb«,20 und noch der Weimarer Prolog zu Wallensteins Lager die Bühnenfigur folgendermaßen einführte: »Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, | schwankt sein Charakterbild in der Geschichte« (v. 102f.) – je nachdem, welchen Quellen man folgt –, gelang dem Dichter ein Porträt der geheimsten Seelenregungen des verschlossenen Feldherrn mit den Mitteln der tragischen Kunst: dem tragischen Verkennen und der jähen Anagnorisis, der durch Sesinas Gefangennahme (in Wallensteins Tod I,2) ausgelösten Peripetie und Katastrophe. Als er am Wallenstein-Drama dichtete, war Schiller schon von der Überlegenheit der tragischen Kunst über die Historiographie überzeugt, durch psychische Introspektion tragisches Verkennen und strategisch kluges oder fatales Handeln zu motivieren. Ein französisches Königsdrama hat Schiller zwar nicht geschrieben, aber er profitierte von seinen Studien der komplizierten außenpolitischen Beziehungen zwischen England und Frankreich unter Katharina von Medici sehr wohl, um die Befürchtungen am elisabethanischen Hof zu dramatisieren, Maria Stuart könnte tatsächlich danach streben, Königin von England zu werden und die Gegenreformation einzuführen, da sie von Jugend an und später als Gemahlin Franz’ II. unter dem Einfluss der Guise-Familie stand.21 Um einen Wandel in Schillers Einschätzung des Geschichtsverlaufs, den der Abbruch seiner Geschichte der französischen Religionskriege signalisierte, und um das Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und tragischer Kunst geht es im folgenden Beitrag.
|| 19 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18: Historische Schriften. Zweiter Teil. Hg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1976, S. 327–330; vgl. den Stellenkommentar von Frithjof Stock zu Schillers Wallenstein (Friedrich Schiller: Werke und Briefe. Bd. 4. Frankfurt a. M. 2000, S. 1031); außerdem Kurt Rothmann (Hg.): Friedrich Schiller: Wallenstein. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1982, S. 111–159. 20 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18 (Anm. 19), S. 329. 21 Diese Zusammenhänge analysiert Denise Blondeau: L’écriture de l’histoire dans Geschichte der französischen Unruhen, welche der Regierungszeit Heinrichs IV. vorangingen et Maria Stuart. In: Etudes Germaniques 60 (2005), S. 785–798.
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1 Schillers Historiographie und ihr Fragmentcharakter Von 1787 bis 1793 arbeitete der Dichter an universalhistorischen Großprojekten, welche die Arbeitskraft jedes Ordinarius überfordert hätten, weil sie extensives Quellenstudium, einen detaillierten Plan, intensive Zusammenarbeit mit Übersetzern und Mitarbeitern und einen fabrikmäßigen Fleiß verlangten. Keines seiner mit Eifer begonnenen drei historischen Großprojekte wurde so, wie ursprünglich geplant, fertig. Mit der Geschichtsschreibung wollte sich Schiller regelmäßige, sichere Einkünfte verschaffen und gleichzeitig ein Ideenmagazin für seine Dichtungen anlegen. Das »Gesetz der ökonomischen Interessen des freien Autors ohne festes Amt« bestimmte Schillers Hinwendung zur Geschichtsschreibung. Als »Mode und Waare für den Plaz«, mit dem er dem Bildungsbedürfnis nicht-akademischer Geschichtsfreunde entgegenkommen wollte, bezeichnete Schiller 1787 seine Arbeiten in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Lebrecht Crusius. »Ein nicht unbeträchtlicher Teil der von ihm vorgelegten Beiträge zu geschichtlichen Themen besitzt den Charakter von Auftragsarbeiten, deren Konturen nicht allein durch intellektuelle Neigung, sondern auch durch finanziellen Zwang bestimmt werden.«22 Schillers Blick auf seine historiographischen Arbeiten fiel nüchtern aus, solange er glaubte, sich mit ihnen als freier Schriftsteller zu etablieren. Eine Geschichtsdarstellung aufgrund ausgewählter Quellen und französischer Geschichtswerke falle ihm leichter als dichterische Werke, versicherte er. Aber die tägliche Fron erschöpfte ihn und drohte ihn auszulaugen.23 Eine verschleppte Lungen- und Rippenfellentzündung machten ihm jedoch den Dauerstress der Vorlesungen vor Jenaer Studenten schon 1791 unmöglich. Das Stipendium zweier dänischer Schiller-Verehrer – des Prinzen von Augustenburg und des Grafen von Schimmelmann – enthob Schiller für die nächsten drei Jahre von Arbeiten für die Bedürfnisse des literarischen Markts.24 Er
|| 22 Zitiert nach Alt: Schiller (Anm. 9), Bd. 1, S. 588. 23 Ebd., S. 590. 24 Schiller erhielt am 27. November 1791 einen Brief aus Kopenhagen mit der freudigen und ihn gänzlich überraschenden Nachricht des Stipendiums, dessen Höhe die herzogliche Unterstützung um das Fünffache überstieg. Es wurde ursprünglich für drei Jahre angesetzt und nach Ablauf noch um zwei weitere Jahre verlängert. Schiller unterrichtete am 13. Dezember 1791 seinen Freund Christian Gottfried Körner von dieser Aussicht. Schiller bedankte sich für das Stipendium in zwei ausführlichen Briefen an Jens Immanuel Baggesen am 16. Dezember wie
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hörte im Herbst 1792 mit den Jenaer Vorlesungen ganz auf. Aus den Briefen an seine Verleger und Freunde wird deutlich, dass Schiller nicht der Mann war, lukrative Projekte abzusagen, weil sie seine Kräfte eventuell überforderten oder seine poetischen Pläne behinderten. Weiterhin hielt er Crusius, Göschen und Maucke mit unkonkreten Aussichten zu Fortsetzungen der geplanten Großprojekte hin. Paulus gab noch 1794 der Hoffnung Ausdruck, Schiller werde die Arbeit an der Geschichte Frankreichs tatsächlich wieder aufnehmen.25 Schiller hegte wahrscheinlich selbst diesen Wunsch, die Allgemeine Sammlung Historischer Memoires so wie bisher betreuen zu können, obwohl er sich nach mehr Luft und Freiheit für seine Dichtungen sehnte.
1.1 Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung Sein erstes Geschichtswerk hatte Schiller ursprünglich für ein zusammen mit Ferdinand Huber konzipiertes Sammelwerk Geschichte merkwürdiger Verschwörungen und Rebellionen aus mittleren und neuern Zeiten konzipiert. Der Aufsatz wuchs ihm unter der Hand. Die Darstellung sollte sechs Bände umfassen, die Karriere Wilhelms von Oranien schildern und bis zum Tod Philipps II. reichen. Als Schiller Extraordinarius in Jena wurde und die Weiterarbeit stockte, lag gerade einmal die Einleitung zum gesamten Werk vor, des »ersten Teiles erster Band«. Sie reichte bis zum Jahr 1567, als Herzog Alba in die Niederlande einmarschierte und den Aufstand gegen die spanische Herrschaft gewaltsam unterdrückte.26 In der Vorrede bezeichnete Schiller seinen Text dann als ersten Teil und als bloße Einleitung zu der eigentlichen Revolution. In der späteren Überarbeitung
|| auch an Friedrich Christian von Augustenburg und Ernst von Schimmelmann am 19. Dezember 1791). Vgl. Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9). 25 »Bis Er selbst wieder zu einer Beschäftigung zurückkehren kann, von welcher Er sich nicht zu trennen entschlossen ist, hat Er mich überdieß nun auch aufgemuntert, dem Plan des Werks gemäß, durch einen fortgesetzten pragmatischen Umriß der Geschichte, in welche die Memoires eingreifen, die Auffindung des Standpunkts zu erleichtern, aus dem sie der Leser als einzelne Zeitgemälde leichte und richtiger überschauen kann« (Paulus: Vorrede zu den Unruhen in Frankreich [Anm. 10], Bl. a 2r). 26 Vgl. das Nachwort in Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 4. Aufgrund der Edition von Herbert G. Göpfert und Gerhard Fricke hg. von Peter-André Alt. München 2004, S. 1011–1013, und das Nachwort zu Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 61980, S. 1009f.
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der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von 1801 ließ Schiller jene Vorrede weg, da sie ja eine Fortsetzung der bis 1567 behandelten Geschichte der Niederlande ankündigte, und unterstrich die Dramaturgie der Ereignisse bis zum massenhaften Bildersturm 1566/67 durch Zwischenüberschriften.27 Ursprünglich dachte er sich das Ganze aus zwei Hauptepochen bestehend, die »eine vor die andre nach der Utrechtischen Union« von 1579. Seine Darstellung reicht jedoch bekanntlich nur bis 1567. Im gewählten Titel nahm er aber schon den Anspruch zurück, eine Geschichte des ganzen Unabhängigkeitskampfes zu präsentieren. Der Titel kündigt nur »den ersten Akt der Rebellion – den krisenhaften Beginn, nicht das erkämpfte Ergebnis« an.28 Johannes Süßmann schließt aus dem allmählichen Wandel des Plans und seiner Erweiterung, dass das Ganze ein work in progress gewesen sei.29 Schiller habe Gegenstand und Konzeption seines Textes mindestens zweimal geändert. Gleichwohl sei die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande kein Torso, kein unförmiges halbfertiges Ganzes, sondern ein elegantes Compositum, das durchaus Verwandtschaft mit einem Drama habe. Süßmann beobachtet, wie sich Schillers Erzähltempo verlangsamt, je näher er dem Höhepunkt – der Entartung des Aufstands zum Volksaufruhr und Albas Eintreffen – kommt. Währenddessen konfrontiere der Erzähler die Leser mit Einzelheiten aus unterschiedlichen Erlebnis- und Betrachterperspektiven. Die Fabel, die Schiller wirklich erzähle, handelt von der Entstehung und dem Scheitern einer Rebellion. Sie schildert die Bedingungen, unter denen eine Opposition so erstarkt, dass sie einen mächtigen Herrscher zum Zurückweichen veranlasst, und sie erzählt, warum die Aufständischen trotzdem untergehen. Sie bietet ein Lehrstück in politischer Organisation. Gewinnt sie in ihrer Strenge fast den Charakter einer Parabel, so wird sie dabei doch keineswegs simpel.30
Schiller habe die Einsicht der modernen vergleichenden Revolutionsforschung vorweggenommen, dass sich in frühneuzeitlichen Aufständen stets mehrere verschiedene Revolten vermischten und überlagerten, indem er den Geusenbund unter Wilhelm von Oranien und den spanischen König Philipp mit seiner Statthalterin Margarete von Parma als Antagonisten präsentierte und im letzten || 27 Ebd., S. 1010. 28 Johannes Süßmann: Denken in Darstellungen – Schiller und die Geschichte. In: Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer (Hg.): Schiller und die Geschichte. München 2006, S. 52; vgl. auch Süßmanns Analyse der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande in seiner Dissertation: Geschichtsschreibung oder Roman. Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000, S. 75–112. 29 Ebd., S. 84–97. 30 Süßmann: Denken in Darstellungen (Anm. 28), S. 56.
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Teil eine ungebärdige, nicht mehr manipulierbare Masse als naturwüchsigen Akteur einführte. Die Geusenrebellion, der anfänglich die Sympathie des Erzählers galt, ende tragisch: Was so sorgfältig eingefädelt worden sei und dank exzellenter Führung Aussicht auf Erfolg gehabt habe, sei durch Vermessenheit, Leichtsinn und Übermut der Anführer wie auch durch den Tumult des Pöbels zunichte gemacht worden. So sei Schiller unter der Hand ein »Lehrstück darüber, wie eine Rebellion an sich selbst zerbricht, indem sie die Grenze der Legitimität überschreitet«,31 entstanden. Allerdings sei Schillers Geschichte des Abfalls nur äußerlich unvollendet, innerlich dagegen gebe sie sich als »eine geschlossene Einheit« zu erkennen. Während der Arbeit mit den Quellen und jüngeren Geschichtsdarstellungen schälte sich eine »Parabel vom Entstehen und Scheitern der Geusenverschwörung« heraus, allerdings ohne dass Schiller ein solches Erkenntnisinteresse irgendwo angekündigt hätte32 – in der Vorrede von 1788 jedenfalls nicht, denn dort wird der Wunsch nach Freiheit als Leitthema beschworen: »Gründung der niederländischen Freiheit« im Kampf gegen die »Tyranney« oder Aufbegehren der Freiheit gegen anmaßende Fürstengewalt, Widerstand tapferer Niederländer gegen Despotie der spanischen Krone.33 In der Geschichte des Abfalls der Niederlande abstrahierte Schiller ein Gesetz für die Mechanik politischer Bewegungen, das sich ihm später in der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und in der Geschichte der französischen Unruhen bestätigte: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Repression ruft Gegenwehr hervor. Glaubensverfolgung ermutigt die verfolgte Sekte und disponiert ihre Anhänger und Anführer zu Fanatikern und Märtyrern. Die Reaktion der Unterdrückten erschien dem Historiker umso maßloser, die Sittengesetze seien umso rücksichtsloser verletzt worden, je brutaler und menschenverachtender die Unterdrücker vorgingen. Die Wut eines rebellischen Pöbels gegen brutale Gewalt schieße tragischerweise oft über das Ziel hinaus, das seine Anführer dem Volk suggerierten, um sich Anhänger zu verschaffen. Anstatt ihre alten, mit Füßen getretenen Rechte mit Anstand als Menschenrechte von den Unterdrückern zurückzufordern, trete die fanatisierte, wütend enthemmte Menge jene Rechte selbst mit Füßen. Dadurch werde das Gegenteil der von den Anführern intendierten Ziele bewirkt, die Unterdrückung, von der sich das Volk doch gerade befreien wollte, erneuert und womöglich verschärft. Schiller konstruiert eine gleichsam mechanische Kausalität, wonach der Vorenthaltung legitimer ererbter Rechte und Unterdrückung Protest und Gegenwehr durch Gründung
|| 31 Ebd. 32 Ebd., 61. 33 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 10.
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eines Rebellenbundes folgen müsse. Der sich steigernde Antagonismus verleite beide Seiten zu Gesetzesübertretungen, dadurch zerfalle die staatliche Ordnung und regrediere in den Naturzustand, in dem Recht allein durch physische Gewalt geschaffen werde. Die Peripetie, in der Opfer zu gewaltbereiten Tätern werden, kulminiert in einer pathetischen Exklamation: Eine rohe zahlreiche Menge, zusammengeflossen aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung, von Mordbefehlen, die in jeder Stadt auf sie lauren, von Gränze zu Gränze herumgescheucht, und bis zur Verzweiflung gehetzt, […] hinausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Augenblick an die Rechte dieses Standes erinnert!34
Der ›Erfolg‹ der Ausschweifungen der Bilderstürmer war, dass der Verschwörerbund, der diese indirekt veranlasst hatte, sowohl bei der Regentin Margarete von Parma als auch beim Volk an Glaubwürdigkeit verloren und die Katastrophe eingeleitet habe, die Repression des Aufstands 1567. Nur in einem mühseligen Prozess, mit dem Risiko von Rückschlägen, verschaffe sich langfristig das Recht Gehör; diese Lehre relativiert den anfänglichen Fortschrittsoptimismus. Schiller abstrahiert im siebten seiner Briefe über die ästhetische Erziehung ein mechanisches Gesetz historischer Protestbewegungen im Kampf gegen einen illegitimen Herrscher und um die Macht. Insurrektion und Usurpation lösen einander im ewigen Wechsel ab. Aufständische gegen ein illegitimes, repressives Regime untergraben die staatliche Ordnung und führen Auflösung und Regression des Staatsganzen in den Naturzustand herbei, wo bloß das Gesetz des Stärkeren gilt – so lange, bis ein Anführer oder ein Helfer der bekämpften Macht sich zum Usurpator erhebt. Die Gesetzmäßigkeit, wie unkontrollierte Aufstände in der Frühen Neuzeit entgegen ihrem ursprünglichen Ziel zu neuer Repression führten, hat Schiller am Beispiel der Geusen dramatisch effektvoll dargestellt. Solange die Individuen, Bürger eines Staates, noch nicht reif genug für eine verantwortungsvoll gemeinsam vollzogene Reform des Staats und der Gesellschaft seien, drohe sich die blinde Naturgewalt ihr Recht zu verschaffen: Von der Freyheit erschreckt, die in ihren ersten Versuchen sich immer als Feindinn ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich in die Arme werfen und hier von einer pedantischen Curatel zur Verzweiflung gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturzustands entspringen. Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrection auf die Würde derselben berufen, bis endlich die
|| 34 Ebd., S. 199.
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große Beherrscherinn aller menschlichen Dinge, die blinde Stärke, dazwischen tritt und den vorgeblichen Streit der Principien wie einen gemeinen Faustkampf entscheidet.35
Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung geriet Schiller also zur Beispielerzählung, die eine allgemeine überzeitliche Struktur, eine auch anderswo zu beobachtende Ereignisfolge von Aktionen und Reaktionen veranschaulicht, die durch die Maßlosigkeit aufständischer, enthemmter Massen in Gang gesetzt und mit neuer Repression beantwortet wird. Den Dreißigjährigen Krieg und die Bürger- und Religionskriege in Frankreich schildert Schiller ebenfalls als leidvolle, unheilvolle Folgen der Auflösung einer gesetzlichen Ordnung. Jeder Kriegszustand kommt dem Rückfall in den Naturzustand gleich, in dem einzig das Gesetz der physischen Stärke gelte.
1.2 Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges Die Abhandlung entstand auf Wunsch des Leipziger Verlegers Göschen für den Historischen Calender für Damen in drei Teilen. Im Oktober 1790 erschien der erste Teil der Geschichte des 30jährigen Krieges – Buch I und II – in Göschens Historischem Calender. Schiller arbeitete – mit einer krankheitsbedingten Pause 1791 – bis Herbst 1792 an der Fortsetzung. Die Darstellung des westfälischen Friedenswerks überließ er Karl Ludwig Woltmann. Dieser publizierte 1808 den dritten und vierten Teil der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Schillers erzählerische Aufmerksamkeit wandte sich im Lauf der Arbeit von der Exposition der verborgenen Gründe und Motive, die 1618 zum Kriegsausbruch in Böhmen geführt hatten, den heroischen Strategen zu, die teils mit politischem Weitblick, teils aus Abenteuerlust das Kriegsglück maßgeblich bestimmten: dem schwedischen König Gustav Adolf und dem böhmischen Feldherrn in kaiserlichen Diensten Wallenstein als Gegenspieler des Kaisers. Den deutschen Fürsten und Feldherrn im Dreißigjährigen Krieg stellte Schiller eine ähnliche Diagnose wie später den Häuptern der Religionsparteien in den französischen Religionskriegen. Die auf Herrschaftssicherung ausgerichtete Willkürherrschaft Katharinas von Medici und das Machtstreben der Guisen hätten die Hugenottenführer genötigt, auf das Niveau des Naturzustands zu regredieren, wo statt geltender Gesetze die Selbsthilfe nottat, Gewalt und List überlebensnotwendig waren. Die Ursache der Bürgerkriege ebenso wie des Aufbegeh-
|| 35 Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (Anm. 14), S. 330.
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rens der Niederländer gegen die spanische Unterdrückung und des Böhmischen Krieges war nach Schiller die Machtgier – das Vorwalten von Partikularinteressen – einiger weniger zum Herrschen unfähiger, weil verantwortungsloser Herrscher. Sie hätten die Religion als geeignetes Instrument benutzt, um den Kampfgeist der Menge für ihre Zwecke – zur Machtbereicherung – zu entzünden. Die Religion wirkte dies alles. […] Die Regenten kämpften zu ihrer Selbstvertheidigung oder Vergrößerung; der Religionsenthusiasmus warb ihnen die Armeen, und öffnete ihnen die Schätze ihres Volks. Der große Haufe, wo ihn nicht Hoffnung der Beute unter ihre Fahnen lockte, glaubte für die Wahrheit sein Blut zu vergießen, indem er es zum Vortheil seines Fürsten versprützte.36
Ähnlich wie im Falle der Niederlande verweilt Schiller ausführlich bei der Vorgeschichte und entwirft ein Tableau der politischen und kirchlichen Kräfte in Europa. Dies begründet er gegenüber Göschen am 26. Juli 1790 mit der Notwendigkeit, das Terrain des bevorstehenden Krieges genauestens abzustecken, denn nur so könne das Übrige unvorgebildeten Leserinnen verständlich werden und sie interessieren. »Denn was würden sich unsre Damen bey dem Wort: Deutsche Freiheit: Religionsfriede: Restitutionsedikt etc. denken, wenn man sie nicht vorher in die Verfaßung des Deutschen Reichs hineingeführt hätte?« Diesen Teil habe er mit besonderem Fleiß ausgearbeitet und hoffe, er sei »lesbar ausgefallen«. Seine Absicht sei gewesen, »das allertrockenste wenigstens menschlich auseinandergesetzt« zu haben.37 Die Charaktereigenschaften von Feldherrn, Fürsten und Herrschern sind, in Verbindung mit dem unberechenbaren Glück, die Hauptfaktoren, die Schiller zur Erklärung der Verschiebung militärischer und politischer Kräfte dienten. In Schillers Porträts werden die zur Durchsetzung ihrer Machtziele nötigen Führungsqualitäten eher politisch taxiert denn moralisch kommentiert. Positiv bewertet werden Staatsklugheit, Tapferkeit und militärisches Geschick, gleich, welchen moralischen oder politischen Absichten sie dienten. Milde, Mäßigkeit und praktische Frömmigkeit habe Gustav Adolf allein im Einsatz für die Sache der deutschen Protestanten bewiesen.38 Ungünstige Charaktereigenschaften,
|| 36 Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 4 (1980) (Anm. 26), S. 367; ders.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18 (Anm. 19), S. 10f. 37 Schiller an Georg Joachim Göschen, 26. Juli 1790. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 30. 38 Friedrich Schiller: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, drittes Buch. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18 (Anm. 19), S. 280–282.
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welche Feldherrn und Fürsten ins Unglück stürzen, sind in Schillers Tableau Eitelkeit, Ruhmsucht, Herrschsucht, Unberechenbarkeit, Unmäßigkeit, mangelnde Urteilskraft in Bezug auf den Gegner und leichtfertiges Vertrauen, Kleinmut, ängstliche Vorsicht und Verzagtheit. Wallenstein und Gustav Adolf werden aufgrund ihrer Fähigkeit, ihre Soldaten für ihre Ziele zu begeistern und auszurüsten, auf dieselbe Stufe gestellt. Beide seien die geborenen Gesetzgeber und Befehlshaber. Ihr Stolz erlaube es ihnen nicht, eine Einschränkung ihrer absoluten Herrschaftsgewalt hinzunehmen und sich von fremden Mächten abhängig zu machen. Dem Schwedenkönig sei die durch Staatsklugheit gebotene Verbindung mit Richelieu nicht weniger verhasst gewesen als Wallenstein seine Gängelung durch den Kaiser und seine Wiener Berater. Wallenstein unterscheide sich von Gustav Adolf aber durch den Mangel an den sanfteren Tugenden des Menschen, die den Helden zieren und dem Herrscher Liebe erwerben. Furcht war der Talisman, durch den er wirkte […]. Mehr als Tapferkeit galt ihm die Unterwürfigkeit gegen seine Befehle, weil durch jene nur der Soldat, durch diese der Feldherr handelt.39
Allerdings habe es ihm am Augenmaß zur Einschätzung seiner Machtbasis und des Machbaren gefehlt. Als Diktator, der noch dem Kaiser Bedingungen zu stellen hoffte, um sich für seine Entmachtung zu rächen, passt Wallenstein in das schon 1787 erarbeitete Erklärungsschema antagonistischer Kräfte, die nur nach langen Kämpfen zwischen Insurgenten und Usurpatoren, in denen aus loyalen Vasallen Rebellen und Verräter wurden, zu Ausgleich, Versöhnung und einem stabilen Gleichgewicht tendierten: »[S]o fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellirte, weil er fiel«.40 Milde und Humanität Gustav Adolfs hätten den protestantischen Fürsten nur zeitweise Anlass zur Hoffnung gegeben, er werde den Mechanismus extremer politischer Antagonismen aufbrechen. Den letzten Abschnitt des Krieges nach dem Tod Gustav Adolfs und Wallensteins, als sich durch den Eintritt Frankreichs 1635 der Schauplatz ausweitete, brachte Schiller nur noch summarisch gerafft zu Ende. Nachdem er den letzten Manuskriptteil abgeschickt hatte, schrieb er am 21. September 1792 an Körner: »Jetzt bin ich frei und will es für immer bleiben. Keine Arbeit mehr, die mir ein
|| 39 Ebd., S. 330. 40 Ebd., S. 329.
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anderer auferlegt oder die einen anderen Ursprung hat als Liebhaberei und Neigung!«41 Es ist Schillers spannender Darstellung zu verdanken, dass die beiden umfangreichen Geschichtsdarstellungen, ungeachtet ihres Fragmentcharakters – vielleicht gerade weil sich Schiller allzu Großes vorgenommen hatte –,42 von Gelehrten in Berlin, Göttingen und Leipzig wie auch vom breiteren Lesepublikum stark beachtet wurden. Wieland war begeistert; er und Herder ermunterten Schiller, mit der Geschichtsschreibung ja fortzufahren.43 Ein Grund für die Popularität beider Werke liegt in Schillers geschickter Dramaturgie. Sie sind in Exposition, Klimax, Peripetie und Katastrophe gegliedert und nehmen die Leser mit gut recherchierten Porträts der prominenten Akteure ein.
1.3 Das letzte historiographische Projekt, eine vielbändige Quellenedition mit Einleitungen Schillers Schiller vereinbarte am 17. Februar 1789 mit dem Jenaer Compagnon Friedrich Justin Bertuchs, dem Verleger Johann Michael Maucke, die Publikation einer Sammlung verschiedener Memoirenwerke in deutscher Übersetzung. Die Quellenedition erschien ab 1790 in zwei Abteilungen. Während Schiller die Übersetzungen zu den Memoirenwerken in Auftrag gab, schrieb er zu ihnen universalhistorische Einleitungen. Für die drei Bände der ersten Abteilung lieferte er eine »Universalhistorische Uebersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen theilnehmenden Nationen« und die »Universalgeschichte von der fränkischen Monarchie bis Friedrich II«, die 1790 und 1791 publiziert wurden.44 Als Begleittext und Verständnishilfe für die zweite Abteilung, die mit den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully anhob, schrieb Schiller einen Überblick über die Geschichte der konfessionellen Unruhen in Frankreich seit der Regierung Heinrichs II. in fünf Teilbänden.45 Sie sollten Schiller zufolge zur eigentlich fruchtbaren Epoche überleiten, die aus der Perspektive Sullys mit der Regierung seines Königs, Heinrich IV., anfing. Als Skopus wählte sich Schiller das Ende der konfessionel|| 41 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4 (1980) (Anm. 26), S. 1041; Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 151. Göschen brachte 1793 eine Buchausgabe der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges heraus, die den Stoff in fünf Bücher gliedert. 42 Dazu vgl. die Beiträge in Jörg Robert (Hg.): »Ein Aggregat von Bruchstücken«. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2013. 43 Alt: Schiller (Anm. 9), Bd. 1, S. 626. 44 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), S. 246–250. 45 Ebd., S. 250–253.
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len Bürgerkriege und die Befriedung der Monarchie seit der Konversion Heinrichs IV. 1593. Schiller lieferte jeweils dann einen neuen Text, wenn ein neuer Teil der Memoiren Sullys übersetzt worden war. Jeder Teilband schloss mit einer besonderen Zuspitzung. Schillers Darstellung der Geschichte der französischen Unruhen, die also den fünf ersten Kapiteln von Sullys Denkwürdigkeiten vorangestellt wurde, führt die Leser gerade bis zur Hochzeit Heinrichs von Bearn (d. h. von Navarra) mit der Schwester Karls IX., Margarete (d. h. Marguérite de Valois).46 Diese Peripetie war als kunstvolle Klimax einer sorgfältig aufgebauten Exposition gestaltet. Die letzte Märzlieferung 1793 brach mit dem 22. August 1572 ab, obwohl Schiller schon im ersten Buch und danach noch öfter auf die Bartholomäusnacht als Tiefpunkt der Krise der französischen Monarchie vorausgewiesen hatte. Schon im Herbst 1789 klagte Schiller, wie sehr ihn die Arbeit für die Memoires belaste. Die Memoires, die Vorlesungen und die Beiträge für die Neue Thalia beanspruchten ihn so, dass er sich überladen fühlte und keinen »Genuß dabey« mehr habe.47 Herbert Göpfert resümiert: Betrachtet man jedoch Schillers historisches Oeuvre insgesamt, so ist sein fragmentarischer Charakter unverkennbar. Der Abfall der Niederlande gedieh nicht über den ursprünglich als ›Einleitung‹ gedachten ersten Band hinaus, die weiteren geplanten fünf Bände blieben ungeschrieben, der Dreißigjährige Krieg wurde gewaltsam notdürftig-resümierend abgeschlossen, die Universalhistorischen Übersichten sowohl der Kreuzzüge wie Friedrichs I. blieben unvollendet, unvollendet blieb die Geschichte der Unruhen in Frankreich, die auf zwei Bände angelegte Geschichte der Rebellionen und Verschwörungen gedieh nicht über den ersten Band […], von dem großen Unternehmen der Historischen Memoires zog er sich nach wenigen Bänden als eigentlich-tätiger Herausgeber zurück. Der Plan einer Geschichte des alten Rom wurde ebenso wenig verwirklicht wie der frühere einer historischen Darstellung der Verschwörung des Fiesco oder das große Vorhaben eines Deutschen Plutarch.48
Peter-André Alt betont ebenfalls den Fragmentcharakter von Schillers historischen Arbeiten der Jahre 1787 bis 1792. Die Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen sei Bruchstück geblieben. Die erste Abteilung der Allgemeinen Sammlung historischer Memoires breche nach den ersten drei Bän-
|| 46 Die Namen der französischen Herrscher und Adligen (de Guise = die Guisen, de Condé = Conde, Ligue u. a.) werden hier und im Folgenden in der Schreibweise Schillers wiedergegeben (nach Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 [Anm. 8]). 47 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), S. 232f., 237. 48 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4 (1980) (Anm. 26), S. 1004.
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den ab. Die Fortführung der zweiten Abteilung, welche die Memoiren Sullys in deutscher Übersetzung enthielt, übergab Schiller nach Lieferung der ersten fünf Bücher 1793 seinem Jenaer Kollegen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus.49 »So bleiben Projektruinen, Bruchstücke und unerfüllte Versprechen zurück, als sich Schiller 1792 [!] von der Geschichtsschreibung verabschiedet.«50 Die älteren Kommentatoren Fricke und Göpfert erklären dieses Missverhältnis zwischen Anspruch und tatsächlicher Ausführung psychologisch. Planen, Konzipieren und Anregen im großen Stil – all dies sei seine Sache gewesen, »nicht die mühsame, unermüdliche wissenschaftliche Durcharbeitung bis zum letzten.«51 Ein Grund für den vorzeitigen Abbruch der ersten beiden großen historiographischen Projekte sei die Aussicht auf das großzügige Stipendium des Augustenburger Prinzen gewesen. Sicher trugen Schillers lebensgefährliche Erkrankung Anfang 1791 und die Rückfälle dazu bei, die mühsame Fleißarbeit als Historiker zu reduzieren. Peter-Andre Alt formuliert gleichwohl positiv, Schiller habe in seiner Geschichtserzählung den Anspruch aus der Antrittsvorlesung verwirklichen wollen, »einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte« zu bringen.52 Die beiden großen Werke – die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges – faszinieren besonders wegen Schillers Porträtkunst. Als er die Charaktere Katharinas von Medici, ihres Sohnes Karls IX. und des Admirals von Coligny beschrieb und die Quellen nach einer Motivierung der Massaker der Bartholomäusnacht durchsuchte, blieb er jedoch stecken. Wie sollte er erklären, wieso die konfessionelle Befriedung Frankreichs seit dem Herrschaftsbeginn Heinrichs IV. und seiner Konversion notwendig das Gemetzel der Bartholomäusnacht voraussetzte oder was genau Katharina von Medici während der Hochzeitsvorbereitungen zusammen mit den Guisen im Schilde führte? Schiller stand vor der 1789 selbst gestellten schwierigen Aufgabe, trotz »Argwohn und Erbitterung«, welche das Handeln sämtlicher Akteure (Könige, Adelige, Militärführer) seit den fünfziger Jahren vergifteten, aus der Kette der Gewalttaten gleichwohl die Bedingungen für einen Ausgleich, ein Einvernehmen zwischen den verfeindeten Religionsparteien herauszulesen. Die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs fand 1792 immerhin noch einen Abschluss durch den »Ausblick auf die Folgen des großen Friedenswerks von Münster und
|| 49 Ebd., S. 1003. 50 Ebd., S. 1004. 51 Ebd. 52 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4 (2004) (Anm. 26), S. 1006.
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Osnabrück, das in der Tat bis zum Ende des 18. Jahrhunderts seine sicherheitspolitische Bedeutung für Europa unter Beweis stellen sollte.«53 So lückenhaft die Darstellung des Kriegsverlaufs seit 1635 war, Schiller lag daran zu zeigen, dass die erzielte Friedensordnung Bedingung für eine mehr als hundertjährige Stabilität der europäischen Königreiche war. Damit folgte er der teleologischen Begründungsweise, die er in seiner Antrittsvorlesung dem Universalhistoriker als Prinzip seiner Datenauswahl aufgegeben hatte. Alt betont zudem, wie sehr Schiller als eifriger Leser französischer Zeitungen durch die Ereignisse in Frankreich absorbiert gewesen sei. Er vermutet, dass Schiller frappiert gewesen sei von den similitudines temporum, den Parallelen zwischen einerseits dem Verhalten der Adeligen aus konfessionell gegensätzlichen Lagern gegenüber dem Königshof vor 1572 und andererseits der Entfremdung der fanatisch die Hinrichtung Ludwigs XVI. fordernden Massen von den königstreuen Adeligen.54 Nach der Inhaftierung und Verurteilung, erst recht nach der Hinrichtung des Königs am 21. Januar 1793 schien für Schiller wie für andere Sympathisanten mit den Ideen der Französischen Revolution eine neue Ordnung auf der Basis einer von allen Parteien akzeptierten Constitution, welche den Frieden nach innen und außen garantieren hätte können, in weite Ferne zu rücken. Die Regression christlich sozialisierter Militairs und Geistlicher und ihre Gewaltbereitschaft versetzten im 16. Jahrhundert Frankreich in einen Zustand vorzivilisatorischer Anarchie, ganz ähnlich wie die Septembermorde in Paris 1792. Sullys befangene Schilderung des widersprüchlichen, rätselhaften Verhaltens Karls IX. nach dem Massaker im ersten Buch seiner Mémoires55 forderte den nach 200 Jahren zurückblickenden Historiker (und Editor einer deutschen Übersetzung) allerdings zu einer Erklärung heraus, die alle Akteure berücksichtigte. Das Massaker war ohne Parallele und spottete der christlichen Zivilisationsgeschichte, deren gloriosen Verlauf der Jenaer Extraordinarius, ausgehend vom Standpunkt seiner Gegenwart, als Folge von Ursachen und Wirkungen rekonstruieren zu können glaubte.56 Es mochte dem Historiker unter dem Eindruck der Septembermorde 1792 davor grauen, nach dem unerhörten Beispiel der enthemmten Massen am 24. August 1572 prospektiv auf weitere, noch maßlosere Ausschreitungen unter dem Nationalkonvent zu schließen. Sicher bewog die intensive Lektüre des Pariser Moniteur Schiller dazu, von der
|| 53 Ebd., S. 1007. 54 Ebd. 55 Maximilien de Béthune, baron, puis marquis d Rosny, duc de Sully: Mémoires des sages et royales oeconomies d’état de Henry Le Grand. Tome I (1570–1589). Paris 2001, chapitres III–VI. 56 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 368–371 und unten.
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Geschichtsschreibung Abstand zu nehmen und sich stärker mit den Verhältnissen seiner Gegenwart zu befassen. Vergegenwärtigen wir uns, welch unterschiedliche Manuskripte sich auf Schillers Schreibtisch häuften und was er sich neu vornahm, dann ist gut nachzuvollziehen, dass ihm die Weiterführung eines historisch mühevollen, wegen widersprüchlicher Quellen undankbaren Projekts, den historischen Hintergrund für die Inthronisation Heinrichs IV. zu skizzieren, zu viel werden musste. Im August 1792 wurde Ludwig XVI. inhaftiert. Die Ausrufung der Republik Anfang September wurde von Massakern begleitet, deren Opfer besonders Adelige und Kleriker waren. Als am 11. Dezember der Prozess gegen den König begann und Saint-Just sich für die Todesstrafe einsetzte, nahm sich Schiller vor, den französischen Monarchen in einer Rede zu verteidigen.57 Schillers Versuch, mit seiner Verteidigungsrede vor der Nationalversammlung das Todesurteil abzuwenden, wurde von den sich überstürzenden Ereignissen im Januar 1793 überholt.58 Zwei Wochen nach der Hinrichtung war Schiller so schockiert, dass er Körner eingestand, er könne seitdem »keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an«.59 Für das Projekt einer Geschichte der englischen Revolution, die mit der Hinrichtung des Königs 1649 anhob, wollte Göschen Schiller noch 1792 begeistern; dieser lehnte aber ab und versuchte (letztlich vergeblich) Körner dafür zu erwärmen, die similitudines temporum in England ab 1649 und in Frankreich seit 1789 herauszuarbeiten.60 Das publizistische Echo auf die Hinrichtung Marie Antoinettes im Oktober 1793 stimulierte Schiller sechs Jahre später dazu, der gefangenen schottischen Monarchin Maria Stuart Züge der Gemahlin Ludwigs XVI. zu verleihen.61 Während Schiller noch dabei war, für Göschens Historischen Calender für Damen sein zweites großes Geschichtsbuch abzuschließen, beschäftigte er sich schon mit ästhetiktheoretischen Fragen, wie sich im Kunstwerk Ästhetik, Ethik und Politik zu einem utopischen Tableau vereinigen könnten. Es sollte Vergnügen auszulösen, Leidenschaften erregen und Hochachtung für Dramenhelden
|| 57 Alt: Schiller (Anm. 9), Bd. 2, S. 120; Schiller an Körner, 21. Dezember 1791. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 171f. Rudolf Zacharias Becker sollte Schillers Verteidigungsrede übersetzen (ebd., S. 121). 58 Ebd., S. 120f. 59 Schiller an Körner, 8. Februar 1792. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 183; Alt: Schiller (Anm. 9), Bd. 2, S. 122. 60 Vgl. Schiller an Körner, 6. November 1792. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 164. Körner antwortete auf Göschens Anfrage und lehnte das Thema ab, nicht zuletzt wegen »der politischen Bedenklichkeit des Stoffes« (ebd., S. 642). 61 Vgl. Peter-André Alt: Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 147–152.
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wecken, die im Dilemma zwischen Pflichten und persönlichen Neigungen ihre sittliche Freiheit behaupteten und das Gemeinwohl nicht aus den Augen verloren. Seine Jenaer Vorlesungen über Ästhetik und Tragödientheorie im Sommersemester 1790 überarbeitete Schiller, bereits unter dem Eindruck der Kant-Lektüre, im Winter 1791, worauf sie im März 1792 in der Neuen Thalia erschienen. Das Porträt Wallensteins, das Schiller in der Mitte seiner Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs entwarf, weckte in diesem Jahr schon sein Verlangen, ihn zur Hauptfigur einer Tragödie zu machen.62
2 Anforderungen an den Universalhistoriker in Schillers Antrittsvorlesung Schiller hatte bereits sein dramatisches Tableau des niederländischen Freiheitskampfes publiziert, als er in der Antrittsvorlesung ein Programm für das Vorgehen des Universalhistorikers entwarf. Johannes Süßmann hat die unterschiedlichen Zielrichtungen beider Projekte herausgearbeitet.63 Die res gestae der Quellen betrachtete Schiller wie ein »Gerippe«, auf welches er mit Hilfe der Einbildungskraft »Nerven und Muskeln« zu tragen hoffte, um ein lebenswahres Gemälde zu erzielen.64 Dies war Resultat seiner Erzählung, die er aus den Zeugnissen wob. Erst müsse der »Verstand den Zusammenhang […] einsehen«, der sich nicht zwangsläufig so aus den Quellen erschließt, denn dazu waren dramaturgisches Geschick und psychologische Einfühlung vonnöten. So erzählte er die wechselvolle Geschichte eines legitimen, hoffnungsvollen Freiheitskampfes, in dem die Geusen zum Massenaufstand und zum chaotischen Bildersturm den Anstoß gegeben und dadurch indirekt die Strafexpedition Herzog Albas provoziert hätten. Anders verfahre der Universalhistoriker in Überblicksdarstellungen, welche die Bedingungen der Möglichkeit, ja Notwendigkeit der politischen, gesellschaftlichen und religiös-konfessionell bestimmten Gegenwart und von Prognosen zukünftiger Entwicklungen erklären sollten.
|| 62 Friedrich Schiller: Brief an Körner, 25. Mai 1792. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26 (Anm. 9), S. 141: »Ich bin jetzt voll Ungeduld, etwas poetisches vor die Hand zu nehmen, besonders jückt mir die Feder nach dem Wallenstein.« 63 Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman (Anm. 28), S. 79f. 64 Friedrich Schiller: Brief an Körner, 1. Dezember 1788. In: F. S.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 25: Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.1.1788–28.2.1790. Hg. von Eberhard Haufe. Weimar 1979, S. 149; vgl. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman (Anm. 28), S. 79.
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Dazu müsse er die historischen Begebenheiten so darstellen, dass sie wie Glieder einer Kette, wie »Ursache und Wirkung«, ineinander griffen. »Der Universalhistoriker neige dazu, »was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden.«65 Dies stellt Schiller als synthetische Leistung des philosophischen Verstandes dar: »[I]ndem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen«.66 Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren […].67
Der Universalhistoriker erschließt sich den Kausalzusammenhang mit Hilfe der Analogie, indem er »von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen auf diejenigen, welche sich in geschichtslosen Zeiten verlieren, rückwärts« schließt.68 Analogieschlüsse hält Schiller für legitim aufgrund der »Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Geistes«. Da bestimmte Kausalkombinationen von Ereignissen in der Geschichte wiederkehren, dürfe der Historiker aus Erscheinungen der Gegenwart auf ähnliche in der fernen Vergangenheit rückschließen. Eben diese mutmaßliche Analogie gestattet ihm auch Ausblicke auf die Zukunft. Den quasi naturgesetzlichen Charakter des Geschichtsverlaufs abstrahierte Schiller aus der Betrachtung der Geschichte der Niederlande: »Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich, wie die Gesetze der Natur, und einfach wie die Seele des Menschen. Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück.«69 Im Vertrauen auf analoge Geschehensabläufe sei auch zu hoffen, dass die Geschichte nicht nur den Niederländern, welche die spanische Tyrannis überwanden, sondern auch den Zeitgenossen Schillers und künftigen Generationen vielleicht »ähnliche Anlässe […] zu ähnlichen Thaten« bieten werde.70 Die Ereignisse folgen auseinander wie Wirkungen aus Ursachen, ganz analog zur naturgesetzlich verfahrenden Naturgeschichte. D. h. für die Geschichte politi-
|| 65 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 373. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 21. 70 Ebd., S.11.
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scher Umstürze und Usurpationen folgt auf einen Stoß ein Gegenstoß, gewaltsame Übergriffe provozieren Gegengewalt.71 Um dies erzählen zu können, muss der Historiker die Absichten und Zwecksetzungen der Akteure rekonstruieren. Die Einbildungskraft kommt ihm bei der nötigen Introspektion zu Hilfe, falls die Quellen über die Motive der Handelnden keine Auskunft geben. Der »harmonisch wirkende Verstand« deutet den komplexen Zusammenhang der kausal miteinander verknüpften Ereignisse teleologisch. »Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.«72 Das epistemologische Modell für diese Wissenschaft war für Schiller, ähnlich wie für Herder, der Vitalismus, wonach Kräfte und Triebe entelechetisch nach einer harmonischen Verbindung zum Zwecke der Höherentwicklung des Organismus als Ganzem streben. Das Programm, dem der Universalhistoriker in einer Überblicksdarstellung folgen sollte, war zudem von Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht inspiriert. Der Philosoph möge versuchen, »ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne, aus welcher, von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.«73 Versuche der Philosoph, in die Weltgeschichte einen Plan der Natur hineinzulesen, welcher auf die Höherentwicklung der Gattung und der Gesellschaften ziele, werde er dazu verleitet, Geschichte gleichsam wie einen »Roman« zu rekonstruieren. Unter der Voraussetzung, dass »die Natur […] nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre«, könnte »diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen als ein System darzustellen.«74 Was Kant also, ohne im einzelnen historische Fallbeispiele zu diskutieren, als regulative Idee der Natur, als Leitfaden a priori postulierte, damit Geschichte von höherer Warte aus überhaupt sinnvoll erzählt werden könne, gab Schiller dem Universalhistoriker auf. Die besondere Herausforderung sieht Schiller darin, dass der Historiker die »heutige Gestalt der Welt« zu erklären versuche, indem er aus der unübersehba-
|| 71 Peter Hanns Reill: Schiller, Herder, History. In: Michael Hofmann u. a. (Hg.): Schiller und die Geschichte. München 2006, S. 68–78, hier S. 69. 72 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 374. 73 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In: I. K.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik, Pädagogik. Darmstadt 1964, S. 34. 74 Ebd., S. 48.
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ren Vielzahl von Ereignissen und Akteuren eine Auswahl treffe, welche hinreichend wäre, den »Zustand der jetzt lebenden Generation« zu erklären. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln. Die Weltgeschichte geht also von einem Prinzip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen. Wenn er von dem laufenden Jahr und Jahrhundert zu dem nächstvorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt und unter den Begebenheiten, die das letztere ihn darbietet, diejenigen sich merkt, welche den Aufschluß über die nächstfolgenden enthalten – […], dann steht es bei ihm, auf dem gemachten Weg umzukehren und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter herunterzusteigen.75
Schiller schließt sich der pragmatischen Geschichtsauffassung Johann Christoph Gatterers und August Ludwig Schlözers an. Schlözer wies dem Historiker die Aufgabe zu, er solle mit Blick auf die Gegenwart als Resultante vergangener Begebenheiten »die vergangene Welt an die heutige anschließen, und das Verhältniß beider gegen einander lehren«.76 Die Gegenwart als Explanandum leite den Historiker bei der »Auswahl« der Begebenheiten. Um den gegenwärtigen Zustand als höhere Stufe einer Entwicklung aus früheren Begebenheiten zu erklären, sucht der Universalhistoriker Schiller zufolge nach hinreichenden Gründen und verknüpft sie finalistisch. Schiller schlägt folgendes Gesetz einer finalen Verknüpfung von Ereignissen vor: Y ist Resultat von x1, x2, x3 … xn. Oder: xn musste geschehen, damit x n-1 eintreten konnte, etc. Daß wir uns als Christen zusammenfanden, mußte diese Religion, durch unzählige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judentum hervorgehen, mußte sie den römischen Staat genau so finden, als sie ihn fand, um sich mit schnellem siegenden Lauf über die Welt zu verbreiten und den Thron der Cäsarn endlich selbst zu besteigen.77
Das Ereignis A wird vom Universalhistoriker als Bedingung für den Fortschritt B betrachtet:
|| 75 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 372. 76 August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie. Göttingen 1772, S. 4 und 14. Vgl. Prüfer: Bildung der Geschichte (Anm. 15), S. 290. 77 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 368.
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Die Hierarchie mußte in einem Gregor und Innozenz alle ihre Greuel auf das Menschengeschlecht ausleeren, damit das überhandnehmende Sittenverderbnis […] einen unerschrockenen Augustinermönch auffordern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben […].78
Diese Sichtweise setzt das Modell eines Geschichtsverlaufs nach einem zielgerichteten Plan voraus. Schiller mustert die Weltgeschichte von den mutmaßlichen Anfängen der Völkergeschichte bis zur Gegenwart und begreift die »rohen Völkerstämme« als »Spiegel«, aus dem wir den »verlornen Anfang unsers Geschlechts« gleichsam wie unsere »Kindheit« wieder erkennen.79 Der Rückblick auf Entwicklungsstufen, die erklommen werden mussten, damit eine fortgeschrittenere Bildung der Gesellschaft, Kultur und Religion erreicht werden konnte, bestätigt dem philosophischen Kopf das vorausgesetzte Prinzip der allmählichen Höherentwicklung der Menschheit. Herder beschreibt sie ebenfalls in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als Teil des Gesamtplans einer Bildungsgeschichte, die er mit der Kosmo- und Geogonie beginnen läßt.80 Kant verengt den Gegenstand der »Geschichte der Menschengattung im großen« – als Kritiker der monistischen Sicht Herders sub specie creatoris – auf die irdische Handlungsgeschichte. Dieser unterstellt er aber, aufs Ganze gesehen und um sie beschreiben zu können, einen geheimen, rational konstruierbaren Zweck.81 Entsprechend sah Schiller in seinen Einleitungen zu den Kapiteln aus den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully seine Aufgabe darin, den Antagonismus zwischen Adeligen und dem König bzw. der Regentin Katharina und ihren Söhnen, der eine Kette von Gewalttaten erzeugte, als Voraussetzung für die nachfolgende Epoche zu beschreiben, in der Heinrich IV. den religiösen Fanatismus durch Gesetze eindämmte und Gewalttaten aus religiösen Gründen unter Strafe stellte. Um Colignys riskante Annäherung an Karl IX. 1571/72 zu erklären, unterstellte Schiller dem Admiral die Ansicht, dass der König und seine Mutter sich von vernünftigen Gründen für die Einmischung in den niederländischen Freiheitskampf würden überzeugen lassen. Coligny habe geglaubt, Karl IX. werde geneigt sein, dem besseren Argument zur Sicherung Frankreichs nach innen und außen sein Ohr zu leihen. Der Vertrauensvorschuss, den Coligny seinem Monarchen gewährte, beruhte auf der Voraussetzung gemeinsamer Normen || 78 Ebd., S. 369. 79 Ebd., S. 364. 80 In: Johann Gottfried Herder: Ausgewählte Schriften. Hg. von Wolfgang Proß. Bd. 3,1. München 2002; dazu vgl. Prüfer: Bildung der Geschichte (Anm. 15), Kapitel VI. 81 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Anm. 73), S. 45.
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und Prinzipien des verantwortlichen Handelns. Einen ebensolchen Vertrauensvorschuss aber trägt in Schillers Modell auch der Universalhistoriker an die zu erklärenden Begebenheiten heran, um sie in eine teleologische Abfolge bringen zu können. Es sei daher verzeihlich, dass sich der Admiral im König verschätzt und ihm den Willen zur »Mäßigung« unterstellt habe, anstatt ihn a priori einer »Niederträchtigkeit« für fähig zu halten, einen Plan zur Auslöschung der Hugenotten zu billigen: Es gibt Unthaten, die der Rechtschaffene kaum eher für möglich halten darf, als bis er die Erfahrung davon gemacht hat; und einem Mann von Colignys Charakter war es zu verzeihen, wenn er seinem Monarchen lieber eine Mäßigung zutraute, von der dieser Prinz bisher noch keine Beweise gegeben hatte, als ihn einer Niederträchtigkeit fähig glaubte, welche die Menschheit überhaupt und noch weit mehr die Würde der Fürsten schändet.82
Die »Niederträchtigkeit«, unerhörte »Unthaten« zu begehen, war das Unbegreifliche, Unerklärliche, was sich der Subsumption unter das Finalisierungsgesetz entzog. Diese Niedertracht manifestierte sich im Massaker. Schiller zögerte allerdings, den Zeitzeugen zuzustimmen, die sie Karl IX. zuschrieben – aus Respekt vor der »Würde des Fürsten«. Paulus dagegen beurteilte in seiner Fortsetzung von Schillers Einleitungen den Thronfolger Karl durchweg als Psychopathen, von den Furien in schlaflosen Nächten gejagt und durch die Massaker völlig verstört, an denen er seine Mitschuld doch nicht leugnen konnte.83
3 Schillers Geschichte der Unruhen in Frankreich und das Scheitern psychologischer Erklärungen Die Nationalausgabe der Schiller’schen Einleitungen zu den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully mit dem Kommentar von Waltraud Hagen und Thomas Prüfer macht es leicht, sich das sukzessive Erscheinungen der Memoirenbücher und der Einleitungen Schillers zu den Mémoires vorzustellen. In der auf Ostern 1791 datierten Vorrede versprach er eine Einleitung zu den Mémoires de Sully, die selbst mit einer Rekapitulation der Bürgerkriege seit 1570 einsetzten – eine Einleitung, »welche die ganze Geschichte der Ligue in einer kurzen Uebersicht
|| 82 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), S. 152. 83 Paulus: Die Unruhen in Frankreich (Anm. 10), S. XV, XXVII–XXX und XL.
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umfaßt […] bis zum Untergang dieser Verbindung«, also bis zum Herrschaftsantritt Heinrichs IV. Der Stellenkommentar Hagens und Prüfers weist nach, dass Schiller häufig und intensiv eine zeitgenössische Geschichtsdarstellung verwendet hat, die stärker auf die psychologische Motivierung denn auf die konfessionelle Gesinnung der Akteure abhob: Louis Pierre Anquetils L’esprit de la Ligue ou histoire politique des troubles de France.84 Selten hat Schiller die älteren Quellen benutzt; nur an wenigen Stellen wird Jacques Auguste de Thous (1553–1617) Historia sui temporis (Frankfurt 1614) zitiert, nur einmal, im fünften Buch, die römisch-katholische Publizistik (Camillo Capilupi, 1534–1578).85 Schiller nähert sich den Begebenheiten, welche die Religionskriege provozierten, aus der Vogelperspektive. Er beschränkt sich nicht auf eine Perspektive und schildert die politischen Begebenheiten und Parteiführer aus der Distanz. Die behandelten Zeiträume werden nach Buch I allmählich immer kleiner, je ausführlicher der Erzähler einzelne Akteure ins Auge fasst. Buch I beginnt mit einer Skizze des Zeitalters der französischen Renaissance-Könige Karls VIII. (1470–1498), Ludwigs XII. (1462–1515) und Franz’ I. (1494–1547) und führt bis zur Übergabe des Königszepters an den zweiten der Söhne Heinrichs II., Karl IX., im Jahr 1561. Der Vertrag von Cateau-Cambrésis (3. April 1559) stellte die Beziehung zu Spanien auf eine neue Grundlage. Heinrich II. setzte die intransigente Politik Franz’ I. mit der Installierung von Inquisitionsgerichten und Ketzerprozessen fort. Die Anführer der verfeindeten Religionsparteien werden vorgestellt, die Familie der Herzöge de Guise aus Lothringen und die Prinzen von Condé. Die Dynamik der Kämpfe um die Macht beginnt nach der Reformation Luthers und Calvins, und die Spannung steigert sich aufgrund der fortgesetzten Unterdrückungspolitik Heinrich II. bis zur Regierungsübernahme Katharinas von Medici. Nur anfangs haben die »Religionsverbeßrer« die Sympathie des Erzählers, weil »Geschmack und Aufklärung« sie dazu
|| 84 Louis Pierre Anquetils Geschichte erschien in zwei Bänden erstmals 1767, in zweiter Auflage Paris 1771. – Der Curé im Kloster de la Villette bei Paris wurde 1790 im Gefängnis St. Lazare inhaftiert. 1793 gab er seine geistlichen Ämter auf. 1795 wurde er zum Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles Lettres gewählt und Attaché bei der französischen Botschaft. 1797 wurde er zum Zeithistoriker: Motifs des guerres et des traités de paix de la France en 1797. Vgl. data.bnf.fr, konsultiert am 29. Mai 2016. 85 Vgl. Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006, S. 187f. und 263; Gaspare de Caro: Artikel »Capilupi, Camillo« in: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. 18. Rom 1975, digitale Version: http://www.treccani.it/ enciclopedia/camillo-capilupi_%28Dizionario-Biografico%29/, konsultiert am 11. Juni 2016.
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bewogen hätten, um Anerkennung ihrer Religion und Kultfreiheit zu kämpfen, während auf Seiten der »Verfolger« »Unwissenheit, Pedanterey«, »Sittenlosigkeit« und »tiefe Ignoranz herrschten.86 Jene waren die geistigen Führer, diese bildeten aber die größere Menge. Als Schiller die Anführer der »Faktionen« vorstellt, die Brüder Karl und Franz von Guise und »die Prinzen von Bourbon, Anton von Navarra und Ludwig, Prinz von Conde, neben der berühmten Familie der Chatillons« (S. 79), lässt er keinen Zweifel daran, dass deren Machtkämpfe auf die Erschütterung der Pariser Königsherrschaft zielten und mehr von politischem Ehrgeiz denn von missionarischem Religionseifer geleitet worden seien. Das Komplott von Amboise im März 1560 bildet den Höhepunkt des ersten Buchs. Römisch-katholische Historiker mutmaßten, es habe den völligen politischen Umsturz zum Ziel gehabt und eine Republik nach dem Vorbild der Eidgenossenschaft errichten wollen. Die Verschwörung endete mit einem Massaker, in dem die hugenottischen Rebellen für ihren Plan, sich des Königs zu bemächtigen, bestraft worden seien. Nach der Niederschlagung der Verschwörung seien die Religionsparteien einander mit unversöhnlichem Hass gegenübergestanden. Die nachfolgenden Ausbrüche von Gewalt zur Verteidigung des Glaubens auf beiden Seiten werden geschildert, ohne für eine der Faktionen Partei zu ergreifen. Schiller gibt seine anfängliche Sympathie mit den Protestanten auf. Sogar Coligny, der im fünften Buch Charakterzüge erhält, die ihn Marquis Posa annähern, habe den Befehl zur Plünderung katholischer Kirchenräume gegeben. In Bildern wellenförmiger Bewegung von Expansion und Konzentration, Aggression und Abwehr skizziert Schiller die konfessionellen Antagonismen unter Heinrich II. (1519–1559) und seinen beiden Nachfolgern. Der Monarchie habe ein Gravitationszentrum gefehlt, in dem ein tüchtiger, die auseinander strebenden Kräfte bremsender und sie an den Hof bindender König für politische Stabilität hätte sorgen können. Schiller folgt in seiner Darstellung, die eher Kräfte, Gruppen und Massen als herausragende Anführer und Ideologien miteinander vergleicht, dem Modell, das er in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit kennengelernt und sich selbst anhand der Geschichte der niederländischen Erhebung gegen die spanische Okkupation erarbeitet hat. Demnach folgen die Begebenheiten der politischen Geschichte wie Ereignisse der Naturgeschichte oder auch wie heftig aufeinander prallende Leidenschaften gesetzmäßig aufeinander. Das Reaktionsmuster von Anführern und ihrem militärischen Anhang entspricht dem 1789 postulierten mechanischen || 86 Im Folgenden verweisen die Seitenzahlen in Klammern auf den kritischen Text in Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), hier S. 70.
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Gesetz: Aggressive Vorstöße provozieren eben solche Gegenmaßnahmen. Schiller sieht in der Krise der französischen Monarchie abstrakte Kräfte und Mächte walten, aus denen er nur dann, wenn er eine Begebenheit ausführlicher darstellt, einzelne Akteure herausgreift. Die Faktion wird wie ein Organismus geschildert, der eine Seele hat. Diese wird durch die politischen Anführer repräsentiert: »Die Guisen […] waren die Seele dieser furchtbaren Faktion«, und Franz von Guises einzige Triebfeder auf dem Weg zur Macht seien stürmische Ehrbegierde und Ehrsucht (S. 75). Am Ende des ersten Teilbandes entwirft der Erzähler ein desolates Bild völliger Zerrissenheit. Jeden Augenblick drohe die Monarchie im Chaos zu versinken. Die adversativ aneinander gereihten Kola bringen eine Spannung zum Ausdruck, die jeden Moment umzukippen droht. Eine fürchterliche Ruhe kündige den drohenden Sturz und Ruin an. In dieser Pause würden die Dolche für den Meuchelmord geschliffen (S. 90f.). Die mit einem Partizip Perfekt Passiv endenden kurzen Kola bezeichnen wie Regieanweisungen im zerrissenen Königreich gegensätzliche Aktionsräume und verborgene Etagen, wo Ränke geschmiedet und Betrügereien vorbereitet werden: […] beide Hälften der Nation gegen einander im Aufruhr begriffen, und ein Theil derselben schon die Hand am Schwert; die Fackel des Fanatismus geschwungen; von ferne schon das hohle Donnern eines bürgerlichen Kriegs; der ganze Staat auf dem Wege zu seiner Zertrümmerung. Verrätherey im Innern des Hofes, […] Im Karakter der Nation eine widersprechende schreckliche Mischung von blindem Aberglauben, von lächerlicher Mystik und von Freigeisterey; von Rohigkeit der Gefühle und verfeinerter Sinnlichkeit; hier die Körper durch eine fanatische Mönchsreligion verfinstert, dort durch einen noch schlimmern Unglauben der Karakter verwildert; beide Extreme des Wahnsinns in fürchterlichem Bunde gepaart. Unter den Großen selbst mordgewohnte Hände, truggewohnte Lippen, naturwidrige empörende Laster […]. Auf dem Throne ein Unmündiger, in machiavellischen Künsten aufgesaugt, heranwachsend unter bürgerlichen Stürmen, durch Fanatiker und Schmeichler erzogen, unterrichtet im Betruge […]. Von den Drangsalen eines offenbaren Krieges stürzt der unglücksvolle Staat in die schreckliche Schlinge einer verborgen lauernden Verschwörung […]. Frankreichs traurigster Zeitraum beginnt mit der Thronbesteigung Karls des Neunten [1550–1574], um über ein Menschenalter lang zu dauern, und nicht eher als in der glorreichen Regierung Heinrichs von Navarra [als Heinrich IV., 1553– 1610, reg. seit 1589] zu endigen. (S. 90f.)
Die »weise Hand«, welche der Universalhistoriker noch in der Konfrontation der Europäer mit den rohen Völkerstämmen zu erkennen vermochte,87 fehlt indes im Tableau des vom Bürgerkrieg zerrissenen Frankreich ganz. Wo aus Sicht des
|| 87 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 17 (Anm. 7), S. 364.
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Historikers alle Akteure aufeinander trafen, einander in Schach zu halten trachteten und sich offen oder im Verborgenen bekämpften (S. 73), mochten die Handelnden selbst nur das Walten von Zufällen erkennen. Als Heinrich II. und Franz II. unerwartet und plötzlich starben, konnten höchstens religiöse Fanatiker darin einen Fingerzeig der Vorsehung sehen. Die Faktionen und Kräfte werden vom Erzähler mit Metaphern beschrieben, die ihre vitale Wirkung dramatisch steigern. In diesem Tableau ist die Religion ein Verderben förderndes Ingrediens, das in den Händen von Ehrsüchtigen wirke wie ein Schwert oder einen heiligen Schleier über die schwarzen Entwürfe der Ehrsucht werfe (S. 76). Bösewichter übertreffen sich gegenseitig in ihrer Falschheit, Grausamkeit, Herrschsucht, Rachsucht. Die Guisen werden durch Rache getrieben, der Prinz von Conde, unsichtbarer Drahtzieher einer anti-monarchischen Rebellion, spiele seine »Rolle mit beyspielloser Verstellungskunst« (S. 85). Der zweite Band (d. h. die erste Fortsetzung) beleuchtet die Umstände der Herrschaft Katharinas de Medici im Jahr 1561/62 und ergründet ihre Strategie, ihre Macht zu erhalten, indem sie den verfeindeten Religionsparteien falsche Versprechungen mache oder Annäherung vortäusche. Das Porträt der Königinmutter ist furchterregend und bei Anquetil ohne Vorbild. Nichts weiter, keine höhere Idee treibe sie an als allein die Herrschsucht. Die »Mutter von drey Königen« sei eine »Schleuder von Unrecht, Mißgunst und Falschheit«. Sie kenne keinen Unterschied zwischen Gutem und Bösem; vollkommen unmoralisch, sei sie gleichermaßen »geneigt zur Unmenschlichkeit und zur Milde, zur Demuth und zum Stolz, zur Wahrheit und zur Lüge« (S. 94). Schillers distanzierte Sicht auf die Religion, das Bekenntnis und die Riten der Protestanten, also auf den Unruheherd, aus dem der Bürgerkrieg und das Blutvergießen der Bartholomäusnacht entspringen werden, hat etwas Verstörendes. Sein Erzähler nennt keine die Menschheit fördernde, Humanität versprechende Regung, keine Weltbeglückungslehre, keine Botschaft aus einer Welt harmonischer, friedlicher Gesellschaften, die für die Inthronisation Heinrichs IV. von langer Hand hätte verantwortlich gemacht werden können. Die Kräfte wüteten gegeneinander umso erbarmungsloser, je länger politische Verhandlungen zur Beendigung von Gewalt und Blutvergießen ausblieben. Die Religion selbst sei nur noch eine Hohlform für Betrugsstrategien und diene dazu, für den erbarmungslosen Vernichtungskampf gutwillige, ahnungslose Subjekte zu ködern. Das Religionskolloquium von Poissy 1561 wird als Farce geschildert, die Katharina von Medici inszeniert habe, damit die Uneinigkeit der Protestanten offenbar werde und die gefährlichen Verbindungen der Reformierten zu lutherischen Anführern im benachbarten Reich gekappt würden (S. 100–103). Wie
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wenig es der Königinmutter um den Erweis der wahren Religion und des rechten Glaubens gegangen sei, zeige ihre Sorge, ihr Sohn könnte sich vom Auftritt des Genfer Reformators Théodore de Bèze überzeugen lassen. Die feurige Rede des Reformators könnte den jungen König auf die Idee gebracht haben, dass es wirklich um »die heiligsten Artikel der Kirche« gehe. Nichts scheint Katharina fataler zu sein, als zu sehen, wie im Sohn und Thronfolger der Keim einer echten religiösen Überzeugung gepflanzt wurde (S. 102). Gänzlich fern vom humanitären Standpunkt, den er zu Beginn der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande eingenommen hat, wechselt der Erzähler im zweiten Teilband die Perspektive, je nachdem, ob er Empörung und Entsetzen der Opfer von Gewalt verständlich machen will oder die Rachgier von Hintergangenen. Jeder Anschein von Humanität, Moralität oder Gottesfurcht werde von der Gegenseite als Charakterschwäche gewertet, als gefährliche Blöße, wo sonst Verstellung herrschte. Religionseifer paare sich mit Habsucht und sei »die einzige Schwäche […], welche die Tugenden des Montmorency befleckte und wodurch er den hinterlistigen Intriguen der Guisen eine Blöße gab « (S. 98). Im Tableau des Erzählers herrschen Schwarz und Blutrot vor; die häufigsten Metaphern kreisen um das Feuer: ›Flammen‹, ›entzünden‹ und ›entflammen‹. Es gibt für die Handlungen der Oberhäupter der Faktionen, ihre Netzwerke und außenpolitischen Bündnisse nur ein Motiv: den Willen, drohende Gefahren für Leib und Leben ihrer Anhänger zu verhüten. Ausgelöscht sei das natürliche Bestreben, Frieden, Harmonie und religiösen Ausgleich herbeiführen zu wollen. So habe Katharina lieber eine gewisse, offenbare Gefahr gewählt, »um nicht in den größern Bedrängnissen einer ungewissen [sich] zu verstricken« (S. 108). Brutale, massenhafte und flächendeckende Zerstörungsaktionen werden mit Ironie als Heldentaten einstmals als ehrwürdig vorgestellter politischer Führer (wie Montmorency) oder als nutzlose Vorgeplänkel zu ernsthafterem Kriege geschildert. Der Erzähler vermeidet politische Erklärungsversuche. Er wolle den Blick ins Menschenherz eröffnen, um den Lesern die dunkelste, tiefste Quelle für die skrupellose Anwendung von Gewalt zu offenbaren, nämlich »Religionsfanatismus und Parteyhaß«: Antriebe, welche in Ertödung alles dessen, was den Menschen sonst das heiligste ist, bereits ihre Kraft bewiesen, welche das ehrwürdige Verhältniß zwischen dem Souverain und dem Unterthan und den noch stärkern Trieb der Natur übermeisterten, finden an den Pflichten der Menschlichkeit keinen Zügel mehr, und die Gewalt selbst, welche Menschen anwenden müssen, um jene starken Bande zu sprengen, reißt sie blindlings und unaufhaltsam zu jedem Aeussersten fort. Die Gefühle für Gerechtigkeit, Anständigkeit und Treue, welche sich auf anerkannte Gleichheit der Rechte gründen, verlieren in Bürgerkriegen ihre Kraft, wo jeder Theil in dem andern einen Verbrecher sieht, und sich selbst das Strafamt über ihn zueignet. (S. 112)
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Schiller leitet den unmenschlichen »Karakter dieses Kriegs« aus dem Religionsfanatismus her: Aus dem Schooße der reformierten Religion gieng der finstre grausame Geist hervor, der ihm diese unglückliche Richtung gab, der alle diese Unthaten erzeugte. […] Eine Religion, welche der Sinnlichkeit solche Martern auflegte, konnte die Gemüther nicht zur Menschlichkeit einladen; der Karakter der ganzen Partey mußte mit diesem düstern und knechtischen Glauben verwildern. Jede Spur des Papstthums setzte den Schwärmergeist des Kalvinisten in Wuth […] (ebd.)
In ihrer Habsucht und Rachebegierde unterschieden sich die französischen Protestanten nicht mehr von den lasterhaften Guisen, nachdem Verträge nicht mehr galten, Menschen- und Völkerrecht ignoriert wurden und »Treu und Glaube […] dahin« waren (S. 114). Das politische »Verdammungsurtheil«, welches das Pariser Parlement wider die reformierte Lehre ausgesprochen hatte, und ein weiteres Urteil des königlichen Conseil, wonach »Anhänger des Prinzen von Conde […] als Beleidiger der Majestät in die Acht« erklärt wurden, hätten den Antagonismus noch vergrößert. Der »Verfolgungseifer der Papisten« habe den verzweifelten »Muth der Hugenotten« gesteigert (S. 114). Das dritte Buch, welches die Begebenheiten der Jahre 1562 bis 1568 abdeckt, erweitert den Schauplatz des Bürgerkrieges. Die Interessen der benachbarten Mächte und ihre unterschiedliche Parteinahme für eine der beiden Konfessionsparteien kommen ins Spiel. Für England und Spanien seien religiöse Sympathien nur ein Vorwand für die Verfolgung von Machtinteressen gewesen. Die Ermordung des Franz von Guise, für die katholischerseits Admiral von Coligny verantwortlich gemacht worden sei, wird als »Anfang des Trauerspiels« bezeichnet, das »Fanatismus« und »Sektengeist« in einer Serie von »Greuelthaten« zur Aufführung gebracht hätten (S. 121f.). An dauerhaftem Frieden und Waffenstillstand, mit dem Katharina im Vergleich von Amboise 1563 den Status quo festschreiben und außenpolitischen Einmischungen vorbeugen wollte, seien die Hugenotten nach dem Tod des Franz von Guise gar nicht interessiert gewesen. Beide Konfessionsparteien verhandelten mit ausländischen Helfern. Sie drohten den Aktionsspielraum Katharinas und Karls IX. einzuschränken. Seien erst einmal deutsche Soldaten, von Pfalzgraf Kasimir entsandt, auf französischem Boden, um einer Partei zu Hilfe zu eilen, verlangten sie stur ihren Sold und drohten »alles mit Feuer und Schwert zu verheeren, wenn man ihnen den schuldigen Sold nicht entrichtete« (S. 129). Das vierte Buch gibt Schiller Gelegenheit, nach dem Tod Louis de Condés durch Soldaten der königlichen Macht den jungen »Heinrich von Bourbon, Sohn Antons von Navarra und Johannens von Albret«, »auf die politische Schaubühne« zu führen (S. 135). Seine Mutter habe ihn den hugenottischen
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Truppen zum Anführer angeboten. Er habe den Freunden gelobt, »für die Religion und die gemeine Sache zu streiten, bis uns Sieg oder Tod die Freyheit verschafft haben, um die es uns allen zu thun ist« (S. 137). Der gradlinige Weg dorthin war das Heiratsprojekt, konterkariert wurde er durch geheime, nie aktenkundig gewordene Pläne, alle Hugenotten – nicht nur die Anführer – während der Feierlichkeiten auszulöschen. Welchen Einfluss haben Rohheit, sittliche Enthemmung und die Perversion des Heiligsten auf die Bildung des Thronfolgers, fragt sich Schiller, der Schüler Jakob Friedrich Abels (1751–1829) und als Dramatiker ausgewiesener Spezialist für die Diagnose psychopathologischer Herrschereigenschaften. Die geheimen Antriebskräfte des jugendlichen Karl fesseln Schillers Neugier mehr und mehr, je näher er der Aufgabe kommt, die ohnmächtige, hilflose, ja lächerliche Rolle des Thronfolgers bei der Inszenierung des Massakers während der Bartholomäusnacht begründen zu müssen. Was hat ihm die hinterlistige, grundböse, heuchlerische Königinmutter beigebracht? Wie malen sich Bilder traumatischer Zerstörung und Leiden Verfolgter in der Seele des Monarchen? Der Anblick so vieler zerstörten Klöster und Kirchen, welche von der fanatischen Wut des protestantischen Pöbels furchtbare Zeugen abgaben, konnte schwerlich dazu dienen, diesem jungen Fürsten einen günstigen Begriff von der neuen Religion einzuflößen, und es ist wahrscheinlich genug, daß sich bey dieser Gelegenheit ein glühender Haß gegen die Anhänger Kalvins in seine Seele prägte (S. 122).
Was bewog Karl IX. dazu, ein doppeltes Spiel zu spielen, also Versöhnungsbereitschaft gegenüber dem Admiral zu signalisieren, den Bourbonen als Gemahl der Schwester zu akzeptieren und auf die Mutter und die Einflüsterungen der Guise-Partei zu hören? Welchen Anteil daran hatte der Funke einer gutartigen Natur, welchen Verstellung? War die Annäherung an Coligny nur eine Finte, zu der Katharina von Medici ihren Sohn abgerichtet hatte, um das gefährliche militärische Oberhaupt, am Ende der Darstellung die einzige Lichtgestalt, in ihre Schlingen zu locken? Oder war Karls Bereitschaft, mit Coligny Pläne zur Unterstützung der Niederländer in ihrem Kampf gegen die spanische Fremdherrschaft zu bereden, als Versuch zu werten, sich von der Herrschaft der Mutter zu befreien – ein Versuch, der jedoch misslang, da die Königinmutter ihren Sohn in einem Ausbruch von Leidenschaften zu einem Kniefall zu bewegen vermochte? Angesichts derartiger Fragen stockt dem Erzähler der Atem, und seine Darstellung bricht dort ab, wo er sich hilflos nach Quellen umsieht, welche die Motive von Mutter und Sohn hätten ausleuchten könnten. Wie will ein Psychologe das Denken, Empfinden und Handeln eines zutiefst irregeführten, durch den Anblick entsetzlicher Gräuel seit der Kindheit trauma-
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tisierten Monarchen auf verborgene, womöglich perverse Antriebskräfte zurückführen? Das wirkliche Betragen Karls des Neunten, bey dem Ausbruch des Blutbades selbst, zeugt unstreitig stärker gegen ihn […]; aber wenn er sich auch von der Heftigkeit seines Temperaments hinreißen ließ, dem völlig reifen Komplott seinen Beyfall zu geben, und die Ausführung desselben zu begünstigen, so kann dieses für seine frühere Mitschuldigkeit nichts beweisen. Das Ungeheure und Gräßliche des Verbrechens vermindert seine Wahrscheinlichkeit, und die Achtung für die menschliche Natur muß ihm zur Vertheidigung dienen. Eine so zusammengesetzte und lange Kette von Betrug, eine so undurchdringliche so gehaltene Verstellung, ein so tiefes Stillschweigen aller Menschengefühle, ein so freches Spiel mit den heiligsten Pfändern des Vertrauens scheint einen vollendeten Bösewicht zu erfodern, der durch eine lange Uebung verhärtet, und seiner Leidenschaften vollkommen Herr geworden ist. Karl der Neunte war ein Jüngling, den sein brausendes Temperament übermeisterte, und dessen Leidenschaften ein früher Besitz der höchsten Gewalt von jedem Zügel der Mäßigung befreyte. Ein solcher Charakter verträgt sich mit keiner so künstlichen Rolle, und ein so hoher Grad der Verderbniß mit keiner Jünglingsseele – selbst dann nicht, wenn der Jüngling ein König, und Katharinens Sohn ist (S. 154).
Ähnlich habe vermutlich Admiral Coligny gedacht, als er den König um militärische Hilfe zugunsten der Niederländer angegangen sei. Tragisch erscheint dem Erzähler das hoffnungsvolle Vertrauen des Admirals »auf die Redlichkeit des Königs«, hätte er sich doch denken können, dass Karl IX. von seiner Mutter manipuliert werde und Opfer einer falschen, bösartigen Erziehung sei (S. 156). Selbst wenn bezeugt wäre, dass Karl IX. »dem völlig reifen Komplott seinen Beyfall« gab, sich also nicht vom Massaker distanziert hat, dürfte ihm nicht unterstellt werden, dass er für dessen Planung mit verantwortlich sei. Dies hält Schiller aus »Achtung für die menschliche Natur«, vielleicht auch aus Sympathie mit Colignys Gutgläubigkeit, für unwahrscheinlich. Er sieht in Karl nicht einen »vollendeten Bösewicht«. Eher falle der Verdacht auf Katharina und die Guisen-Partei. Je näher der Hochzeitstag rückte, umso zahlreicher strömten die »Häupter der katholischen Partey« nach Paris. Ein Indiz dafür, dass sie die Hochzeit zu stören trachteten, könnte Schiller zufolge der plötzliche, mutmaßlich widernatürliche Tod der Mutter des Bräutigams, Johanna, sein, die anlässlich der Trauung nach Paris gereist war (S. 155). Währenddessen soll Karl IX. noch gewillt gewesen sein, den niederländischen Freiheitskampf zu unterstützen. Schiller kannte die Überlieferung, wonach Katharina die Guisen um Hilfe im Notfall gebeten habe. Sie habe ihren Sohn endlich mit List zum Einlenken auf die römisch-katholische Linie gezwungen, indem sie ihn vor vermeintlich geheimen Anschlägen der Hugenotten gewarnt habe. Ein gut vorbereiteter Anschlag auf
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Admiral Coligny in Paris habe dann tatsächlich »den Empörungsgeist der Hugenotten« geweckt, womit der Anlass zum Blutbad da gewesen sei (S. 157f.). Schiller präsentiert zwei konkurrierende Theorien, um das Verhalten von Karl IX. psychologisch zu erklären. Er vermag nicht einer von ihnen den Vorzug zu geben, da beide auf unüberprüfbaren Voraussetzungen beruhen. Die Geschichtsschreiber seien sich über die Gesinnung Karls IX. uneinig. De Thou glaubte, »daß Er für seine Person es damals aufrichtig meynte«. Es sei gut vorstellbar, daß er unter dem Einfluß des Admirals gestanden sei und dadurch »die katholischen Eiferer« – die Guisen und Katharina von Medici – beunruhigt habe (S. 153). Dagegen habe Capilupi, »Lobredner der Bartholomäusnacht«, Karl IX. schwer belastet und ihn zum Mitwisser des Plans erklärt, die Hugenotten auszulöschen. Schiller zweifelt jedoch an der Glaubwürdigkeit Capilupis, weil dieser seinen Helden – den Kardinal de Guise – zu verherrlichen meinte, indem er ihn als »Schmeichler verläumdet« und dafür den König unter den Verdacht gestellt habe, am Plan zur Vernichtung der Hugenotten maßgeblich mit beteiligt gewesen zu sein. Die Absicht des italienischen Historikers sei wahrscheinlich, die Verantwortung für das Massaker mehreren zuzuschreiben, »um den Fluch des Pariser Blutbads, den er [Kardinal de Guise] nicht von sich abwälzen konnte, mit dem König wenigstens zu theilen« (S. 154). Auch die moderne Geschichtsschreibung tut sich wegen der Parteilichkeit der zeitgenössischen Darstellungen und extremer Werturteile schwer mit eindeutigen Schuldzuweisungen.88 Die protestantische Zeitgeschichtsschreibung sah in Gaspard de Coligny einen Märtyrer und Freiheitskämpfer und machte vor allem Kardinal de Guise für den Tod der Mutter Heinrichs von Navarre, Colignys und Petrus Ramus’ verantwortlich, einzig um Karl IX. zu entlasten. Die Chroniksammlung des Zürcher Domherrn Johann Jakob Wick (1522–1588) dokumentiert ausführlich die Publizistik aus reformierter Sicht und dämonisiert die römisch-
|| 88 Vgl. Philippe Erlanger: Le massacre de Sainte Barthélémy. Paris 1960; Nicola Mary Sutherland: The massacre of Saint Bartholomew and the European conflict 1559–1572. Oxford 1973; Nicola Mary Sutherland: The Huguenot Struggle for Recognition. New Haven/London 1980; Janine Garrisson: La Sainte-Barthélémy 1572. Bruxelles 1987; Robert M. Kingdon: Myths about the St. Bartholomew’s Day Massacres 1572–1576. Cambridge 1988; Barbara B. Diefendorf: Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in 16th century Paris. New York 1991; Denis Crouzet: La nuit de la Sainte-Barthélémy. Un rêve perdu de la Renaissance. Paris 1994; Jean-Louis Bourgeon: Charles IX devant la Sainte-Barthélémy. Genève 1995; Arlette Jouanna: La Sainte-Barthélémy: Mystères d’un crime d’état. 24 août 1572. Paris 2007; englische Übersetzung Manchester 2013.
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katholische Partei.89 François Hotman (Hotomanus, 1524–1590) fügte ein Porträt Colignys als Held in die Neuauflage von De furoribus Gallicis (1573) ein. Simon Goulart (1543–1628) machte die Königinmutter in seinem Discours merveilleux de la vie, actions et deportemens de Cathérine de Médicis Royne mere zu einem Monster. Sie sei die Böse gewesen, der jede Gelegenheit zur Vernichtung der Hugenotten, aber auch gefährlicher katholischer Führer zur Sicherung ihrer königlichen Macht recht gewesen sei. Selbst die Mutterliebe habe ihr gefehlt.90 Goulart verfolgte in seinen Mémoires de l’estat de France sous Charles IX in drei Bänden (Genève 1576/77) drei Ziele: Seine parteiliche Berichterstattung sollte (1) die Erinnerung an das Massaker wach halten und das Martyrium Colignys und seiner Anhänger in der Tradition der frühchristlichen testes veritatis glorifizieren. Goulart wollte (2) die Konflikte, welche im Massaker vom 24. August 1572 kulminierten, als Symptom einer internationalen Verschwörung darstellen, an welcher der Papst, Philipp II. und die französische Monarchie beteiligt gewesen seien. Der reformierte Geschichtsschreiber sah (3) in der Bartholomäusnacht ein Lehrstück dafür, wie eine absolute Monarchie in Willkürherrschaft entarten könne. Das Recht zum Widerstand gegen Despotie und die Legitimität des Tyrannenmords diskutieren am Beispiel der Bartholomäusnacht Hubert Languet (1518–1581), François Hotman, Théodore de Bèze (1519–1605) und Jean Bodin (1529–1596). Christopher Marlowe nahm die Darstellungen von Hotman und Goulart zu Hilfe, um The massacre at Paris (1592) als eine tragische Szenenfolge über den Zeitraum von 1572 bis 1589 zu entwerfen; Marlowes seinerzeit oft gespielte Tragödie führt vor, wie Herzog Heinrich von Guise die Bartholomäusnacht organisiert, um die Krone an sich zu bringen, durch eine Hofintrige aber
|| 89 Besonders der elfte Band der Chroniksammlung Johann Jacob Wicks: Das Eylifft Buch Begryfft die wunder vnd Zeychen vnd Nüwen Zytungen das 1573. Jar belangend sampt Etlichen anderen Historien die sich zu anderen Zyten verloffen vnnd zuo getragen habennd (Zürich, Zentralbibliothek, Handschriftenabteilung, Ms. F 22, S. 172, 203–211, 326, 329, 330–332, 334 und 336). Vgl. Matthias Senn: Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Zürich 1975, Register s. v. »Hugenotten und Religionskriege in Frankreich«. 90 Simon Goulart schrieb den Discours merveilleux 1574 nach dem Tod Karls IX. und vor dem Regierungsantritt seines Bruders als Heinrich III. Er erschien 1576/77. Vgl. Discours merveilleux de la vie, actions et déportements de Catherine de Médicis, Royne-mère, édition critique par Nicole Cazauran. Genf 1995. Simon Goulart war Parteigänger des jüngsten Sohnes von Heinrich II., François, Herzog von Alençon. Vgl. Kingdon: Myths (Anm. 88), S. 200–213: »Catherine the villain«, bes. S. 208f. Eine kritische Ausgabe des Discours merveilleux publizierte Nicolas Cazauran (Genf 1995, Reihe Les classiques de la pensée politique).
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zu Fall kommt und Heinrich von Navarra am Ende die Nachfolge des meuchlings ermordeten Heinrichs III. übernimmt.91 Jean-Louis Bourgeon schlägt vor, Katharina nicht als »florentinische« Machiavellistin zu verdammen oder Karl IX. zum Psychopathen zu erklären; stattdessen sei es zweckmäßiger, die Bartholomäusnacht in ein politisches Kontinuum einzubetten und für ihre Erklärung sämtliche Parameter zu berücksichtigen, also religiöse, ökonomische, soziale, mentale, diplomatische und militärische Gründe. Die Bartholomäusnacht sei kein bloßer Unfall, sondern eingebettet in ein Bündel von Ereignissen und Teil einer komplexen, dichten Verkettung von Umständen.92 Katharina sei bestrebt gewesen, sich vom Einfluss der Spanier und der Guise-Familie zu befreien und, ähnlich wie später Richelieu, die Sache aller patriotischen Franzosen zu vertreten.93 Karl IX. gefährdete die Glaubwürdigkeit und Integrität des Königshofs mit widersprüchlichen Erklärungen in den Tagen nach dem Massaker. »Roi caméleon« nennt ihn deswegen Bourgeon.94 Arlette Jouanna spricht ebenfalls vom Rätsel (énigme) der Bartholomäusnacht.95 Karl IX. habe sich angesichts der Spekulationen, welche die konfessionelle Publizistik in Flugschriften und auf illustrierten Flugblättern über die Gründe für das Gemetzel verbreitete, zu einer raschen Erklärung veranlasst gesehen. Eine Rechtfertigung des blutigen Geschehens schien dem König gegenüber den europäischen Höfen schleunigst geboten, sie fiel jedoch widersprüchlich aus.96 Die Exekution des Admirals de Coligny sollte legitimiert, die Verantwortung für das Massaker jedoch dem Pöbel zugeschrieben werden. Die Legitimität des Massakers zu erweisen, war letztlich in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land ein Ding der Unmöglichkeit, hätte doch eine Legitimierung nur von einem gemeinsam eingenommenen Standpunkt aus geleistet werden können, auf der Grundlage von kollektiv geteilten Normen und inneren Überzeugungen davon, was recht und billig sei. Der Hof brachte die These in Umlauf, die Ermordung der Hugenotten sei aus Gründen der Staatsräson geboten gewesen. Es handele sich um eine Strafaktion als Antwort auf ein staatsgefährdendes Komplott der Hugenotten. Aber ausländische Beobachter und Diplomaten, welche dieser Interpretation mit Rücksicht auf die zu Hilfe genommene || 91 Christopher Marlowe: The massacre at Paris (1592). In: ders.: The Complete Plays. Hg. von Frank Romany and Robert Lindsey. London 2003, S. 509–562 und 664. 92 Jean-Louis Bourgeon: L’assassinat de Coligny. Genève 1992, S. 14 und 16. 93 Ders.: Charles IX devant la Saint-Barthélémy (Anm. 88). 94 Ebd., Kapitelüberschrift. 95 Jouanna: La sainte Barthélémy (Anm. 88), hier die englische Übersetzung Manchester 2013, S. 1–18 und 163–178. 96 Ebd., S. 157.
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Staatsräson beipflichteten, kritisierten indes einmütig die Anwendung exzessiver, blinder Gewalt. Sie waren sich darin einig, dass es weniger kompromittierende Mittel gegeben hätte, die nicht Tausende Unschuldiger in den Tod gerissen hätten. Besonders die englische Königin befand sich in einer Zwickmühle. Aus anti-katholischer Perspektive wurde das Massaker verurteilt, andererseits aber war Zurückhaltung geboten, war Elizabeth doch durch den Vertrag vom April 1572 mit Frankreich verbündet.97 Will man das abrupte Ende des fünften Buchs erklären, in dem Schiller am Leitfaden der Darstellung Anquetils in spannungsvoller Steigerung die Leser bis in die privaten Gemächer der Königinmutter und der Guisen führt, liegt die Vermutung nahe, dass es ihm unmöglich erschien, das ungeheure Gemetzel zu motivieren, geschweige denn, es zu schildern. Der Mangel an zuverlässigen Quellen mit eindeutigen Belegen frustrierte ihn. Musste das Massaker an den Hugenotten vollzogen werden, damit Heinrich IV. mit dem Edikt von Nantes die Versöhnung der verfeindeten Religionsparteien herbeiführen konnte? Mit welchen erzählerischen Mitteln war aus dem düsteren Tunnel eines achttägigen landesweiten Massakers, für welches schon den Zeitgenossen die Rechtfertigungsgründe fehlten, zur Lichtgestalt Heinrichs IV. zu gelangen? Dies mochte sich Schiller fragen, wollte er Geschichte nach dem Leitfaden des philosophischen Kopfes aus seiner Antrittsvorlesung schreiben. Hätte er das Geschehen der Bartholomäusnacht nach dem Muster rekonstruiert: ›A musste geschehen, damit B eintreten konnte, und B war nötig, um eine Reihe von Fortschritten zu initiieren, von der wir in der Gegenwart noch profitieren‹, hätte er das Massaker banalisiert. Zwar trug sich Schiller bereits nach Publikation seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit der Konzeption des Wallenstein-Dramas, weil die düstere, psychologisch und politisch nicht recht fassbare Gestalt seine poetische Gestaltungskraft herausforderte. Wallensteins Neigung zum Staatsverbrechen des Verrats konnte Schiller sehr wohl psychologisch erklären, nämlich mit der ungeheuren Kränkung der zweimaligen Absetzung: »so fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellierte, weil er fiel.«98 Am Vorabend des Massakers hätten jedoch die Motive und Pläne Katharinas de Medici, Karls IX., Heinrich von Guise und des Admirals Coligny auf ähnliche Weise ausgeleuchtet werden müssen. Danach hätten die widersprüchlichen Aussagen Karls IX. nach der Bartholomäusnacht analysiert und die Urteile ausländischer Beobachter gegeneinander abgewogen werden
|| 97 Ebd., S. 159. 98 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18 (Anm. 19), S. 327.
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müssen. Letztlich hat sich Schiller einer umfassenden Erklärung, wie er sie 1789 von seinem exemplarischen Universalhistoriker verlangt hatte, verweigert. Es scheint, als bleibe immer ein irrationaler Rest, wenn jemand versuchen will, den Einsatz von Terror und Gewalt als Mittel der Politik zur Erhaltung der Macht und Ausschaltung gegnerischer Gefahren zu erklären. Schiller war geneigt, im Mutter-Sohn-Konflikt einen Grund für die Eskalation der Gewalt zu sehen, ohne das radikal Böse damit jedoch psychologisch oder politisch zu rechtfertigen. Es hätte vielleicht Stoff für ein Drama abgeben können, in dem Coligny die Rolle des um Ausgleich bemühten Helden hätte spielen können. Warum das aber wenig reizvoll war, wird aus Paulus’ Fortsetzung von Schillers Darstellung im achten Band der Memoirenkollektion erhellen.
4 Das Massaker im August 1572 und das radikale Böse Für die lasterhaften Triebkräfte, die Historiker, Psychologen und Ethiker als Motive für die vielfach von Augenzeugen dokumentierten Massentötungen am 24. August 1572 anzunehmen geneigt waren, hatten dem Studenten der Hohen Karlsschule weder die Psychologie Johann Friedrich Abels, der Motiven von Verbrechern durch Analyse ihrer Seele auf den Grund zu kommen versuchte, noch Ernst Platners (1744–1818) Studien zur Psychopathologie der Macht ein Erklärungsmuster liefern können.99 Die empirische Psychologie, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein eigenes wissenschaftliches Profil entwickelte, erschöpfte sich in individuellen Psychopathographien aufgrund der Anamnesen von Straftätern und Geisteskranken. Diese Analysen konzentrierten sich auf den Widerstreit und die Aufschaukelung der Affekte, welche Willen und Handlungsvermögen von Psychopathen beherrschten. Für die Enthemmung von
|| 99 Jakob Friedrich Abel: Erläuterungen wichtiger Gegenstände aus der philosophischen und christlichen Moral, besonders der Ascetik durch Beobachtungen aus der Seelenlehre. Tübingen 1790; ders.: Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart 1786, Reprint Hildesheim/New York 1985; Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. 2 Bde. Leipzig 1776 und 1782; ders.: Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik. Leipzig 1790. Dazu Barbara Mahlmann-Bauer: Die Psychopathologie des Herrschers. Demetrius, ein Tyrann aus verlorener Selbstachtung. In: Georg Braungart/Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Sonderheft 6 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg 2005, S. 107–138, bes. S. 120, 122, 124 und 127.
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Massen und den Verlust der Ich-Autonomie ihrer Mitglieder, des Realitätsprinzips also, haben dagegen erst die Massenpsychologien Gustave Le Bons, Sigmund Freuds und Elias Canettis Erklärungen geliefert. Schillers Rede vom Bösen bzw. von der Niederträchtigkeit verweist jedoch auf Kants Begründung des radikalen Bösen in der menschlichen Natur. Aufhorchen lässt Schillers zweimalige Verwendung des Begriffs des ›Bösen‹ in Zusammenhang mit den Plänen des Königshofs und der Guisen, politische Gegner fernzuhalten und die Hugenotten als politische Kraft auszuschalten. Wir haben gesehen, wie Schiller im zweiten Teilband seiner Geschichte der französischen Unruhen Katharina als fürchterlichen »Karakter« schilderte. Ihr Hauptlaster bestand darin, »zwischen Böse und Gut keinen Unterschied zu kennen«, weswegen sie gleiche Neigung »zur Unmenschlichkeit und zur Milde, […] zur Wahrheit und zur Lüge« gezeigt habe (S. 94). Dem Freund eines Staatsverbrechers und Mörders dürfe die historische Kritik ruhig glauben, wenn er das von diesem verübte »Böse« berichtete, nicht aber einem Schmeichler, der eigene Verantwortung auf den König und den Kardinal de Guise abwälzen wollte (S. 153). D. h., was der Schmeichler als böse diffamiere, sei es im Grunde gar nicht. Schiller nimmt Colignys Zutraulichkeit gegenüber Karl IX. in Schutz, weil der Admiral, wie bereits gezeigt, den König nicht zu »einer Niederträchtigkeit fähig« glaubte, die mit der »Würde des Fürsten« unvereinbar gewesen wäre (S. 152). Die vorsätzliche Planung des Mordes an den hugenottischen Hochzeitsgästen, die in ein massenhaftes Massaker ausartete, gilt Schiller als das Böse. Fraglich ist, ob aus ihm Gutes erwachsen könne. Das Edikt von Nantes schob weiteren Massakern einen Riegel vor: Es gewährte den Hugenotten von April 1598 an das Recht auf Ausübung ihrer Religion, gestattete ihnen Zugang zu allen Würden und Ämtern, schuf konfessionell gemischte Kammern im Pariser Parlement für den Fall von Religionsstreitigkeiten und garantierte 150 Sicherheitsplätze für Hugenotten. Aber es machte die Bartholomäusnacht weder ungeschehen noch gab es ihr einen Sinn. Es hätte des Massakers nicht bedurft, um zu einer gesetzlich garantierten friedlichen Koexistenz zwischen Katholiken und Protestanten zu gelangen. Im April 1792 war in der Berlinischen Monatsschrift das erste Kapitel von Kants Religionsschrift mit dem Titel »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« erschienen.100 Schiller dürfte diesen Aufsatz gekannt haben. Dafür spricht seine Charakterisierung des »consequenten Bösewicht[s]«, der sein moralisches Gefühl, das er wie alle anderen Menschen habe, besiege und zu die|| 100 Vgl. die Einleitung von Karl Noack zu Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von Karl Vorländer. Hamburg 1990, S. XXXIf.
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sem Zweck seinen Verstand dazu zwinge, »sich durch keine moralische Regung in seinem Handeln irre machen zu lassen«.101 Zuschauer hießen die Art, wie der Bösewicht auf dem Theater seinen Verstand zum Erreichen seiner Zwecke einsetze, nur deswegen gut, weil der Schurke so e negativo »die Uebermacht des moralischen Gefühls recht einleuchtend« demonstriere.102 Kant unterscheidet drei Stufen des bösen Herzens. Auf der ersten folgt es aus Schwäche, wegen der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, der Neigung lieber als dem moralischen Gesetz. Auf der zweiten Stufe neigt das Herz zum Selbstbetrug, der das Böse als gut und zweckmäßig erscheinen lässt. So entscheidet sich das Herz für das moralisch Gute nur aufgrund von Maximen, die anderen Triebfedern folgen als dem moralischen Gesetz. Es betrügt sich also über die nur vermeintlich edlen Motive des Handelns, die nur vorgetäuscht sind. Das Herz ist drittens ganz verdorben, insofern es »die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt«.103 Ein ganz böser Mensch ist demnach einer, der das moralische Gesetz kennt, es aber bewusst außer Acht lässt, um einer widergesetzlichen Maxime zu folgen.104 Kant ist überzeugt, dass die Erfahrung die Existenz solcher Menschen bestätige. Als Beispiel nennt er anarchische, ziellose Gewaltexzesse bei unzivilisierten Völkern im »so genannten Naturzustande«, bei denen der Krieg kein anderes Ziel habe »als bloß das Totschlagen«.105 Seine anschließende Analyse der Disposition eines jeden Menschen a priori, willentlich die Maxime zum sittlichen Handeln außer Kraft zu setzen, kommt ohne Beispiele von Straftätern oder Massenexzessen aus. Böse ist ein Mensch nur dann, wenn er »die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt«, wenn er also das moralische Gesetz vorsätzlich der Triebfeder der Selbstliebe unterordnet.106 Sofern der »Hang zum Bösen« auf freier Willkür beruht, lässt er sich dem Menschen zurechnen, fällt also in seine Verantwortung als moralisches Wesen. Radikal ist das Böse, »weil es den Grund aller Maximen verdirbt«.107 Ein böses Herz setzt sich über die von der praktischen Vernunft vorgestellten Maximen der Sittlichkeit hinweg, aus »Gebrechlichkeit«, »Unlauterkeit«, »Tücke« oder »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen«,108 wodurch die echte || 101 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (Anm. 14), S. 146. 102 Ebd. 103 Kant: Die Religion (Anm. 100), S. 30. 104 Ebd., S. 33. 105 Ebd., S. 34. 106 Ebd., S. 36. 107 Ebd., S. 39. 108 Ebd., S. 40.
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moralische Gesinnung verhindert werde. Diese Schuld hält Kant für angeboren, da sie sich offenbare, sobald einer die Freiheit hat, das Gute oder Böse zu tun. Der Wille zum Bösen ist dem Menschen, obzwar er seiner angeborenen Natur entspringt, dennoch anzurechnen.109 Böse Taten entspringen nach Kant aus einem grundbösen, vernunftgesteuerten Wollen, das Maximen der Sittlichkeit, wie sie die praktische Vernunft gebietet, bewusst außer Kraft setzt. Dazu sei die Anlage in jedem Menschen potentiell vorhanden. Den Hang des Menschen, das moralische Gesetz zu übertreten, das ihm zuerst als Verbot entgegentritt, hält Kant für angeboren. Der biblische Mythos vom Sündenfall, der Übertretung eines göttlichen Verbots, versuche diesen eingewurzelten Hang zu erklären. Vor Kant liegt gleichsam das Herz des radikal Bösen offen, und er entwirft ein psychisches Protokoll, was in ihm ablaufen müsse. Unerforschlich sei aber, »woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne«,110 weswegen die Genesiserzählung einen äußeren Versucher und Verführer einführte. Insofern bestehe Hoffnung, dass trotz eines verderbten Herzens immer noch ein guter Wille vorhanden sei, der sich dem Guten zukehren könne. Der Historiker, der die Gründe eines Massakers eruieren will, lernt aus Kants Analyse, dass der Plan zu diesem Massenmord Einzelnen moralisch angerechnet werden müsse, weil sie die moralische Maxime, den Anderen als Mitmenschen zu respektieren und ihm denselben Spielraum zum Gebrauch seiner Freiheit wie sich selbst zuzugestehen, bewusst und willentlich außer Kraft gesetzt haben müssen. Dazu kommt, dass die Verantwortlichen dies unter Berufung auf eine Religion taten, die Nächstenliebe gebietet und auch von ihren Gegnern anerkannt wurde. Nicht einen Beweis, dass sich im Massaker das radikal Böse, zu dem Menschen befähigt seien, massenhaft manifestierte, musste der Historiker, der Kants Analyse sich zum Vorbild nahm, beibringen, sondern es lag an ihm, Karl IX., den Kardinal de Guise oder die Königinmutter als potentielle Vertreter des radikalen Bösen zu profilieren, die als einzelne oder gemeinsam das Blutvergießen gewollt, die Auslöschung der Hugenotten angeordnet und sich dabei auf das Gebot der Notwehr berufen hatten, nämlich auf die Furcht vor einer dem Thron gefährlichen Verschwörung. Während Schiller die Königinmutter als eine zum Bösen jederzeit bereite Intrigantin zeichnete, hält sich Paulus in seiner Fortsetzung von Schillers universalhistorischen Einleitungen an Kants dreifache Gradabstufung des bösen Herzens. Karl IX. war als Bösewicht nicht ernst zu nehmen, da er aus Schwäche || 109 Ebd. 110 Ebd., S. 46.
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und psychopathischem Unvermögen, nach Maximen planvoll zu handeln, zum Bösen geneigt war (Kants 1. Stufe). Katharina machte sich selbst etwas vor, wenn sie religiöse Rücksichten vorschob, wo es ihr einzig um Erhaltung ihrer Herrschaft und Beseitigung gefährlicher Gegner ging (2. Stufe). Einzig Heinrich de Guise hatte das Format, das radikal Böse planvoll zu wollen (3. Stufe), wobei ihm seine Vernunft gebot, im Verborgenen zu operieren, mit Rücksicht auf das Urteil ausländischer Beobachter über die vollkommene Immoralität seines Planens. Diese kantische Gradabstufung bösen Handelns kommt erst nach dem Attentat auf Coligny in Paulus’ differenzierten Porträts der Akteure zum Tragen.
5 Nähe der Historiographie zur Dramaturgie: typische Plots und Paulus’ Fortsetzung von Schillers Geschichte der französischen Unruhen Der verwickelten Dramaturgie des Trauerspiels Don Karlos und ihrer Begründung in den Briefen über Don Karlos folgte die Arbeit an der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung, die vom Wunsch inspiriert war, die Verschwörung der Niederländer gegen die spanische Okkupation im Kontext der frühneuzeitlichen Staatenbildung zu erklären. Das Gespür des Dramatikers für starke Wirkungen aufgrund heroischer Gesinnungen leitete auch die Feder des Historiographen, der das tragische Scheitern des übermächtigen Philipp II. mit dem Aufstieg der Geusen und ihrer Anführer konfrontierte. Nach der Schilderung des Einzugs Herzog Albas und seiner Herrschaft mit Furcht und Schrecken erlosch indes Schillers Interesse am niederländischen Freiheitskampf, der heldenmütige Opfer gefordert hatte und hoffnungsvolle Akteure zur Flucht bewog. Als Schiller die Geschichte der zweimaligen Absetzung Wallensteins schilderte und darüber spekulierte, wie aus maßloser Kränkung Wallensteins Plan zur Rache erwuchs und er mit dem Verrat zu liebäugeln begann,111 entstand aus dem Antagonismus zwischen dem mächtigen Feldherrn, dem kaiserlichen Lager und den schwedischen Heerführern der Plot der Wallenstein-Tragödie. Nach der Ermordung Wallensteins in Eger 1635 trat aus Schillers Sicht – abgesehen von Herzog Bernhard von Weimar – kein ähnlich kühner Held mehr auf den
|| 111 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 18 (Anm. 19), S. 302–304 und 311f.; vgl. auch Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4 (1980) (Anm. 26), S. 90–92, 580 und 662.
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Kriegsschauplatz, so dass sein Interesse, das Werk in gleicher Dichte bis 1648 zu Ende zu führen, wiederum nachließ. In beiden Fällen plante Schiller ursprünglich, eine dichte Erzählung der Ereignisse bis zur Unabhängigkeit der Generalstaaten und zum Tod Philipps II. bzw. bis zur Friedensordnung von 1648 zu liefern. Aus der Geschichte der französischen Religionskriege komponierte Schiller indes kein Drama, in dem Admiral Coligny idealer Antagonist Karls IX. und seiner Mutter hätte sein und der jugendliche Heinrich von Navarra Bewährungsproben seiner Tapferkeit hätte zeigen können. Die Zeitspanne von der Pariser Bluthochzeit bis zum Herrschaftsantritt Heinrichs IV. blieb eine Lücke, die erst Paulus als Schillers Fortsetzer der Memoirensammlung zu füllen begann. Marquis Posa, Max Piccolomini und Thekla sind Erfindungen Schillers, welche als erhabene Charaktere das Interesse der Zuschauer fesseln sollten. Diese Idealisten sind durch ihre Nähe zu denen, welche die politische oder die militärische Macht innehaben, außerordentlich gefährdet. Die Zuschauer sollten bangen, ob es diesen Figuren gelingen werde, durch ihre Vertrauensposition ihre mächtigen, nicht ganz durchschaubaren Freunde von ihren Plänen zu überzeugen. Marquis Posa lädt mit seinem Weitblick, den starken, kühnen Worten an Philipp und seiner Lieblingsidee, der Unterstützung der Aufständischen in den Niederlanden, Schillers Publikum zur Identifikation ein. Max und Thekla nehmen die Zuschauer vermöge ihrer Bereitschaft ein, aus dem Leben zu scheiden, in dem sie die Reinheit ihres Herzens nicht bewahren könnten. Max scheut als Kind von Wallensteins Lager die krummen Wege seines Vaters, auf denen er ihm folgen und seine Loyalität zu Kaiser und Reich demonstrieren soll. Thekla will sich der Heiratspolitik ihres Vaters verweigern und hält zu Max. Ihre Liebe, gepaart mit Friedenssehnsucht, hat, solange der Krieg dauert, keinen Ort. Der dramatische Antagonismus in Don Karlos und in der Wallenstein-Tragödie wird also jeweils durch ein gespanntes Vater-Sohn Verhältnis und ein politisch außergewöhnliches Verhältnis zwischen Machthaber und Berater profiliert. Aus dem Konflikt zwischen Vater und Sohn und ihrer jeweils engen, aber unterschiedlichen Beziehung zu einem Freund und Berater erwächst in beiden Tragödien tragisches Potential. Der Infant muss von Posa erst zu einem Helden, der zu Triebverzicht um des Gemeinwohls und der Befreiung der Niederländer willen bereit ist, gemodelt werden, wozu Posa als autoritärer Erzieher mit List und Hintergehung des Infanten in die höfische Handlung einzugreifen für zweckmäßig fand (Don Karlos, 4. Akt und V,3). Dem sternengläubigen Feldherrn dagegen wird sein Waffenbruder Octavio Piccolomini zur Crux. Während Octavio Wallenstein misstraut und die Loyalität zum Kaiser zur Maxime seines Handelns macht, hält Max Piccolomini an seinem Glauben an den ideellen Vater
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Wallenstein fest, widersetzt sich seinem eigenen kaisertreuen Vater (Die Piccolomini V,1 und 3) und stürzt sich aus Verzweiflung über Wallensteins Politik in die Schlacht (Wallensteins Tod III,21). Tatsächlich zeichnet sich im vierten und fünften Teilband der Geschichte der französischen Unruhen eine den beiden tragischen Plots analoge Konfliktkonstellation ab. Schiller erzählt das Projekt der interkonfessionellen Heirat zwischen Margarete von Valois und dem Prinzen Heinrich von Bearn (von Navarra) in einer Engführung mit dem Plan Colignys, die hugenottischen Kämpfer zur Unterstützung der niederländischen Aufständischen gegen die spanische Herrschaft abzukommandieren und Karl IX. für diesen Plan zu gewinnen. Seit 1570 entfremden sich die Regentin Katharina und Karl IX. voneinander in dem Maße, wie Admiral Coligny mit seinen Ideen und Plänen Einfluss auf den jungen Thronfolger gewinnt.112 Schiller betont die bis zur Leichtgläubigkeit gehende Kühnheit Colignys, Karl IX. für seine Idee zu begeistern, den niederländischen Befreiungskampf zu unterstützen und dadurch die Spanier von Aggressionen gegenüber Frankreich abzuhalten; dabei habe es nicht an skeptischen Stimmen hugenottischer Anführer gefehlt, die Coligny vor der Annäherung an den Königshof warnten. Coligny sei von »Freyheitsliebe« erfüllt gewesen, die »Geist und Herz weiter macht«, als er am Hofe dafür warb, mit hugenottischer Hilfe die niederländischen »Republikaner« zu bewaffnen und Frankreich auf diese Weise vom »verderblichen Einfluß der Spanischen Intrigen« zu befreien.113 Karls Beteiligung an den Vorbereitungen zur Hochzeit seiner Schwester und seine Annäherung an Coligny entsetzten die Anhänger der Ligue. Ein mutmaßliches Motiv des Königsohns sieht Schiller in Karls Bestreben, sich von der Vormundschaft seiner Mutter und ihrer fanatischen Berater, der Guisen, zu emanzipieren. Wir sehen, wie Schiller die dramatische Konstellation in Analogie zur Figurentrias Don Karlos, Marquis Posa und Philipp schürzt: Karl IX. und sein neuer Vertrauter Coligny schienen durch das Interesse geeint, Spanien durch das Schüren des Aufstands in den Niederlanden von der Einflussnahme in Frankreich fernzuhalten und die hugenottischen Militairs mit einer für Frankreich heilbringenden Mission zu betrauen. Dadurch vergrößerte sich aber die Spannung zwischen Katharina und ihrem Sohn; zugleich wuchs die Sorge der Guisen, politischen Einfluss zu verlieren und sich Kritik aus Rom und Spanien einzuhandeln. Schiller hält seine Leser in Atem mit der Kautele, es sei nicht entscheidbar, ob das, was wie der Plan aussah, eine Annäherung der verfeinde|| 112 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), S. 150–152. 113 Ebd., S. 150f.
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ten Religionsparteien aus außenpolitischem Interesse Frankreichs gegen Spanien zu bewirken, einer hoffnungsvollen Wende in der königlich-höfischen Politik gleichkam oder nur eine Falle war, ersonnen dazu, Misstrauen und Feindseligkeit der Hugenottenführer zu überwinden, um sie desto sicherer vernichten zu können. De Thou und Sully seien sich, wie erwähnt, einig, dass Karl »für seine Person es damals aufrichtig meynte«, dabei jedoch ein gewagtes, gefährliches Spiel betrieben habe. Römische Schriftsteller seien dagegen geneigt, Karl IX. »durch den schwärzesten Verdacht« als Fallensteller und somit als heimlicher Drahtzieher des späteren Massakers zu belasten.114 Ob aber das Massaker der Bartholomäusnacht mit Wissen und Billigung Karls IX. oder einzig auf Initiative der Guisen geplant wurde und welche Stellung Katharina dabei einnahm, ließ sich aus der Dreierkonstellation Katharina – Karl IX. – Coligny nicht ablesen. Die Involvierung des Thronfolgers in die Pläne der Guisen und die Art der Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Hof waren den Quellen zufolge eben unklar. Schiller folgt nur den unterschiedlichen Mutmaßungen der Historiker, die sein Hauptgewährsmann Anquetil anführt,115 wenn er nicht wagt, die Frage definitiv zu beantworten, ob denn der Dauphin und seine Mutter tatsächlich die massenhafte Exterminierung der Hugenotten in Paris und in den übrigen Städten gewollt hätten. Beim Quellenstudium zur Geschichte Philipps II., des Infanten Don Carlos und der Okkupation der Niederlande und bei der Durchsicht der Zeugnisse über die Geschichte des Aufstiegs und Falls des Feldherrn Wallenstein hat Schiller die Entscheidung getroffen, eine Darstellung mit poetischen Mitteln – in Form der Tragödie – sei der skizzierten Konfliktkonstellation zwischen den drei Hauptakteuren, wie er sie sah, angemessener als die trocken reihende Darstellung des Historikers. Dabei nahm er wie selbstverständlich die Lizenz aus dem 9. Kapitel der aristotelischen Poetik in Anspruch und genehmigte sich um der tragischen actio willen Freiheiten gegenüber dem Stoff dort, wo ihn die Quellen hinsichtlich der Motive der Akteure im Stich ließen.116 Aber wie hätte er das Verhalten Karls IX., Katharinas und des Kardinals de Guise inszenieren können, die nach Auskunft der Quellen alle mehr oder weni|| 114 Ebd., S. 153. 115 Ebd. Hier schließt sich Schiller weitgehend seiner Vorlage an, dem zweiten Band von Anquetils L’Esprit de la Ligue (Paris 21771, Bd. 2, S. 9–17); vgl. Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 19,1 (Anm. 8), S. 336. 116 Diese Freiheit gegenüber den historischen Quellen begründet Schiller später bei der Konzeption der Maria Stuart Goethe gegenüber am 19. Juli und 3. September 1799; vgl. Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 30. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.11.1798–31.12.1800. Hg. von Lieselotte Blumenthal. Weimar 1961, S. 73 und 95).
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ger als Planer der Massaker an den Hugenotten in Frage kamen? In seinem Aufsatz Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen und dem nachfolgenden Essay Über die tragische Kunst entwirft Schiller, bereits nach Lektüre der Kritik der Urteilskraft, eine Grammatik der Leidenschaften in ihrem Verhältnis zum Erkenntnisvermögen und Willen sowie in ihrer Wirkung auf das moralische Urteilsvermögen. Detailliert erörtert Schiller hier, unter welchen Bedingungen Bösewichter, die sich durch die mehr oder weniger eklatante Unsittlichkeit ihres Zwecks, aber auch hinsichtlich der Klugheit bei der Wahl ihrer Mittel, voneinander unterschieden, als dramatis personae Vergnügen auslösen könnten. Damit ein Bösewicht Zuschauer faszinieren könne, hätten seine Strategien durchsichtig und seine Mittel für die Realisierung seines Plans, gleich wie sittenwidrig er war, begreiflich zu sein; die »Consequenz eines Bösewichts in Anordnung seiner Maschinen« müsste Bewunderung erregen.117 Eine »geistreiche Bosheit« sei auf der Bühne deswegen tolerabel, »weil sie ein Mittel ist, uns den Genuß der moralischen Zweckmäßigkeit zu verschaffen«. Ein planvoll handelnder Bösewicht diene zur Folie, damit »das Gefühl der moralischen Zweckmäßigkeit« triumphieren könne.118 Diese Bedingungen aber trafen auf die im fünften Buch geschilderten Akteure am Vorabend der Bartholomäusnacht gerade nicht zu, weil Coligny seinen Gegnern in die Falle ging und einfach keine Chance mehr hatte, seine Tugend zu bewähren. Herzog Heinrich von Guise hätte als Urheber der siebentägigen Massaker auf dem Schauplatz auftreten müssen, damit sich auf ihn die moralische Entrüstung aller inländischen und ausländischen Beobachter, gleich welcher Konfession, hätte entladen können. In seiner Fortsetzung der Unruhen in Frankreich präsentiert Paulus in seiner an Schillers pathetischem Stil geschulten Rhetorik119 eine Erzählung, die suggeriert, wieso die Umgestaltung zur Tragödie nach Schillers tragischer Kunst nicht hätte gelingen können. Katharina und Karl taten Böses und ließen die Mörder gewähren, aber handelten mit umnebelten Sinnen: Katharina, indem sie sich ihre Herrschbegierde als oberste Maxime ihres unmoralischen Handelns
|| 117 Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792). In: Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (Anm. 14), S. 145. 118 Ebd., S. 146. 119 Um die Spannung zu steigern, reiht Paulus gern gleich gebaute, anaphorische Perioden aneinander. Vgl. z. B. die Schilderung, wie Coligny meuchlings ermordet wurde: Die Perioden beginnen mit »Schon […]. Schon […]« (Paulus: Die Unruhen in Frankreich [wie Anm. 10], S. XXIf.). Ein Beispiel für die Theatralik psychologischer Introspektion ist die Schilderung der geistigen Verwirrung Karls (S. XXXIX–XLII). Paulus bekannte im Vorwort, wie sehr er Schillers Prosa bewunderte: »Wer würde nicht lieber der geistigen Wollust des Lesens sich überlassen, als selbst zur Feder greifen« (S. a 2v).
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nicht eingestand, und Karl, insofern er nicht imstande war, sich überhaupt von einer sittlichen Maxime leiten zu lassen. Die Königinmutter und ihre katholischen Freunde glaubten, sie dürften sich gegen die Hugenotten alles erlauben, »weil sie glücklicher weise zugleich Ketzer seyen. Auch Katharina selbst mag Afterglauben genug gehabt haben, um in Coligny den Reformierten von ganzem Herzen zu hassen und diesen Haß sogar für verdienstlich zu halten«.120 Nach geschehenem Massaker erstarrt diesen Häuptern des Frevels das Herz. Die Menschheit in ihnen fühlt die letzte [!] Zuckungen. Blaß und ausser sich zittern sie vor sich selbst, starren einander an und sind im Augenblick eins, durch einen Eilenden den Mordbefehl zurückzunehmen und den Ausbruch der Greuel zu hemmen, welche gewünscht, beschlossen, geboten zu haben, sie sich nun selbst nicht mehr zutrauen.«121
Auf Schillers Bühne würden die von Paulus geschilderten Figuren nur Abscheu erregen, dies umso mehr, da ihnen vor ihrem Tod kein Held, kein Rächer Einhalt gebot. Sogar die Partei »der Misvergnügten, die sich […] die Politiker nannten«, nützte mit ihrer Vermittlungspolitik einzig »ihren Gegnern«, vor allem und immer dem Königshof. Gegen Protestanten, die sich ihnen wenig heldenhaft anschlossen, habe die Königinmutter leichtes Spiel gehabt.122 Karl eignete sich um keinen Deut besser als Katharina zur Bühnenfigur. Er ließ sich treiben, schwankte in seiner Haltung zur Mutter und zu den Protestanten, durch und durch unglaubwürdig, ganz »das Spiel der Jntriguen seiner Mutter«.123 Als Hugenotten sich an den Guisen zu rächen drohten, ward er genöthigt, in die ganze Schuld einzustehen, um nicht als der schwache, nichtsbedeutende Jnnhaber des Throns zu erscheinen, unter dessen Augen jeder ohne seinen Willen alles sich zu erlauben wage. Um den Schein zu haben, von dem, was er nicht war und nicht werden konnte, wurde er wirklich das, was er von sich zu bekennen erröthete und was für sich selbst zu unternehmen ihm Muth und List gefehlt hätten. Um nicht schwach zu scheinen, war er schwach genug, von allen übrigen sich zur Verschleyerung ihrer Thaten misbrauchen zu lassen und in ihrem Namen der Gegenstand jener Verachtung zu werden […]. Und für all diese Unsterblichkeit der Schande hatte er nicht einmal auf einen Augenblick den Zweck erreicht, welchen die Stifter des Unglücks ihm als seine Entschädigung vorgespiegelt hatten.124
|| 120 Paulus: Die Unruhen in Frankreich (Anm. 10), S. XIX. 121 Ebd., S. XXf. 122 Ebd., S. XLIV. 123 Ebd., S. XXVIII. 124 Ebd., S. XXIXf.
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Hin- und hergerissen zwischen den Parteien, sei Karl vom Thron abgetreten. Danach sei »das ganze mächtige Uebergewicht, welches die Erhabenheit des Thrones giebt, […] verlohren«, kein »Sitz der gemeinschaftlichen Gerechtigkeit« mehr vorhanden gewesen, an den die Protestanten hätten appellieren können.125 Ein solcher Charakter war für eine tragische Handlung gänzlich ungeeignet. Er gab für einen Helden keine Folie ab, und zu alledem folgte ihm keine Nemesis nach, es sei denn, man wollte die Geistesverwirrung den Furien zuschreiben, die nach dem Massaker seine Ruhe zunichtemachten. Einzig Herzog Heinrich von Guise war nach Paulus’ Ansicht als vollkommener Bösewicht »zur Hauptrolle« bestimmt. Er handelte aus gekränkter Eitelkeit, weil auch er seine Augen auf Margaretha, Karls Schwester, geworfen hatte, aus Rachsucht, weil er Coligny für den Mörder seines Bruders Franz im Jahr 1563 hielt, und aus Ehrsucht, die Protestanten auszutilgen »und sich dadurch dreist der Königin Mutter an die Seite zu stellen.«126 Als sein Attentat auf Coligny missglückt war, sann er auf ein noch größeres »Verbrechen«. Aber er operierte aus dem sicheren Hinterhalt, weswegen ihm bis 1589 nichts geschah. Aristoteles hielt im 13. Kapitel seiner Poetik den Verbrecher, dessen Untaten keiner richtet, ja der durch einen glücklichen Ausgang belohnt wird, für ungeeignet, eine optimale tragische Wirkung hervorzurufen, und Lessing und Schiller folgten ihm darin. Ein »glücklicher Ausgang« ersparte den »Häupter[n] der siegenden Partie« die Reue, während über Coligny und seine Anhänger »förmliche Gerichte« verhängt wurden.127 Mit Genugtuung urteilt Paulus, dass gerade die bösesten Pläne ihr Ziel verfehlt hätten, dass »gerade die entschiedensten Wagstücke des Lasters, wenn gleich alle Verschlagenheit an ihnen sich müde gesonnen, […] oft die entgegengesetzteste Folgen herbeygezogen und den Thätern nichts als eine verdoppelte Verzweiflung des leeren Bestrebens und der nagenden Vorwürfe ihres innern Richters bereitet haben«.128 Paulus mahnt als apokalyptischer Prediger eher denn als Historiker, muss aber im Todesjahr Karls die schon wieder und nun »wie aus doppelten Rachen« ausbrechenden Flammen des Bürgerkrieges konstatieren.129
|| 125 Ebd., X. XXXIII. 126 Ebd., S. XVI. 127 Ebd., S. XXX. 128 Ebd. 129 Ebd., S. XLVI.
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Da Admiral de Coligny seinen Gegnern keinen Widerstand leistete, sich nicht in Sicherheit brachte, sich vielmehr wehrlos als Opfer seinen gedungenen Mördern auslieferte, womit das hemmungslose Morden seinen Anfang nahm,130 taugt er kaum zum erhabenen Helden. Der »biedere Mann« habe seinen Feinden sogar geholfen, »die Schlingen über sich und die Seinigen zusammen[zu]ziehen«.131 Nur einmal rührt der beim Beten gestörte Admiral die Sympathie der Leser bzw. Betrachter, als er seinen Meuchelmördern auf die Frage, ob er Coligny sei, mit den Worten entgegentritt, »Jch bins […] – und hier, junger Mensch, achte du meinen grauen Kopf«.132 Im Betenden stellt Paulus, wie Schiller es vom Tragiker forderte,133 zwar die leidende Natur und zugleich die moralische Selbständigkeit im Leiden dar. Aber es fehlt hier ganz die Darstellung »des moralischen Widerstandes gegen das Leiden«.134 Zwar weckt Coligny heftiges Mitleid, da er »reinen moralischen Schmerz« zum Ausdruck bringt, aber der Affekt dauert nicht an, und die momentane Rührung weicht der Trauer über seine Ermordung.135 Urteile Schillers über Paulus’ Darstellung der Begebenheiten vom August 1572 bis 1574 sind nicht bekannt. Paulus’ Bericht könnte ihn dazu bewogen haben, aus dem französischen Stoff, besonders dem Plot um Karl, Katharina und Coligny, keine Tragödie zu machen. Wenn Elisabeth der Maria Stuart entgegenschleudert, »euer Oheim gab | Das Beispiel allen Königen der Welt, | Wie man mit seinen Feinden Frieden macht, | Die Sankt Barthelemi sei meine Schule« (III,5, v. 2349–52), erklärt sie Kardinal Karl von Guise zum Drahtzieher des Massakers, Marias Onkel, der seit 1569 allerdings in Rom weilte. Paulus dagegen sieht die Schuld beim Neffen des Kardinals, Herzog Heinrich von Guise, dem Sohn des 1563 ermordeten Franz von Lothringen. Schillers Quellenstudien zur französischen Geschichte kamen sechs Jahre nach Abbruch der Geschichte der französischen Unruhen der Gestaltung Marias aus der Sicht ihrer Gegner zugute.136 Maria Stuart, die Gemahlin Franz’ II. und Nichte des Kardinals de Guise,
|| 130 Ebd., S. XXII. 131 Ebd., S. XVII. 132 Ebd., S. XXII. 133 Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (Anm. 14), S. 195. 134 Ebd., S. 199. 135 Ebd., S. 149 und 163. 136 Vgl. Blondeau: L’écriture de l’histoire (Anm. 21); Kingdon: Myths (Anm. 88), S. 131. Simon Goolart stipulierte die Furcht der englischen Königin, dass Kardinal Charles de Lorraine seinen Einfluss geltend mache, um Elizabeth abzusetzen und Mary Stuart zur Königin beider Reiche, Englands und Schottlands, zu machen. Goulart und George Buchanan machten Stimmung gegen Mary Stuart und rechtfertigten Prozess und Bestrafung mit der Anklage auf Hochverrat.
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nicht aber den Admiral de Coligny, stattete Schiller mit den Eigenschaften des erhabenen Charakters aus.
|| Schiller wandelte also auf publizistisch ausgetretenen Pfaden, wenn er die Vorgeschichte Mary Stuarts in Frankreich aus englischer Sicht schildert.
Liliane Weissberg
Das Projekt der Aufklärung und der »Tugendbund« 1 Ein Tugendbund Irgendwann im Jahre 1785, so müssen wir annehmen, beschloss Gottlob Johann Christian Kunth, Verwalter und Hofmeister im Hause Humboldt in Tegel, das Unterrichtsprogramm seiner Zöglinge zu erweitern.1 Er begleitete den achtzehnjährigen Wilhelm und den zwei Jahre jüngeren Alexander zu Vorlesungen des Arztes und Philosophen Marcus Herz in dessen Berliner Wohnung in der Spandauer Straße 53. Zwei Lehrer im Humboldt’schen Hause, der Philosoph Johann Jakob Engel und der Staatsrechtler Christian Wilhelm von Dohm, gingen dort bereits ein und aus. Engel, Dohm und Kunth waren wie Herz der Philosophie der Aufklärung verbunden. Die jungen Brüder Humboldt sollten nun durch ihre Besuche im Herz’schen Haus mit dem aufklärerischen Denken intensiver vertraut gemacht werden. Herz praktizierte am Jüdischen Krankenhaus der Stadt, dessen Leitung er von Benjamin de Lemos 1782 übernommen hatte. Er war dafür bestens vorbereitet. Herz hatte in Königsberg Medizin studiert, dabei aber auch die Gelegenheit wahrgenommen, die Vorlesungen des jungen Immanuel Kant zu besuchen. Er wurde zu einem großen Verehrer Kants, und dieser schätzte offenbar auch umgekehrt Herz als Denker hoch ein, lud er ihn doch 1770 als Respondenten zu der mündlichen Disputation seiner eigenen Dissertation ein. Dies war eine Ehrbezeugung einem jungen jüdischen Wissenschaftler gegenüber, die an einer preußischen Universität in dieser Zeit schon fast als Sensation gelten konnte. Als Herz nach Abschluss seines eigenen Studiums nach Berlin heimkehren wollte, gab Kant ihm auch ein Empfehlungsschreiben an Moses Mendelssohn mit. Der Berliner Bankier und Schutzjude David Friedländer hatte Herz bei dessen Studien finanziell unterstützt. De Lemos half Herz, sich in Berlin als Arzt zu etablieren. Seine Bekanntschaft mit Kant wiederum trug aber entscheidend dazu bei,
|| 1 Möglicherweise entschied sich Gottlob Johann Christian Kunth bereits Ende 1784 für dieses Erziehungsprogramm; Briefe der Brüder Humboldt, die von den Besuchen im Hause Herz berichten, sind allerdings erst ab 1785 erhalten.
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dass Herz seine Stellung als Wissenschaftler und Philosoph in der preußischen Hauptstadt festigen konnte. Hier lohnt es sich, eine Jahreszahl genauer zu beachten. Ausgerechnet 1776 nämlich, also im wichtigen Jahr der amerikanischen Revolution und der Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, begann Herz, in seinem Hause Vorlesungen zu halten, die sich nicht nur den medizinisch-physikalischen Disziplinen widmeten, sondern auch der Kant’schen Philosophie, welche sich auf das selbstbestimmte Individuum berief. Die Vorlesungen waren sehr erfolgreich. Viele Repräsentanten des Berliner Bürgertums besuchten sein Haus, aber ebenso Vertreter des preußischen Adels und interessierte ausländische Diplomaten, die in Berlin ein temporäres Zuhause fanden. Auch der preußische König Friedrich Wilhelm, sicherlich kein Vertreter bürgerlicher Selbstbestimmung, erinnerte sich im Alter daran, als junger Prinz einmal Herzens Vorlesung besucht zu haben.2 So wurde die Spandauer Straße zu einem Zentrum der Berliner Aufklärung, unbenommen der Tatsache, dass Herz selbst die nach seiner Abreise aus Königsberg verfassten großen Kritiken seines Lehrers kaum noch verstand und sich beide somit auch intellektuell voneinander entfernten.3 Was Herz den Brüdern Humboldt bieten konnte, war somit keineswegs eine philosophische Avantgarde, und diese hätte Kunth wahrscheinlich weder gesucht noch erwartet. Als Person verkörperte Herz jedoch eine wichtige politische Lektion. So konnten die Brüder Humboldt, die es in dieser Zeit aus Tegel, jenem »Schloss Langeweile«,4 wie sie es nannten, in ihre Berliner Stadtwohnung verschlug, nicht nur einen jüdischen Gelehrten kennenlernen, sondern auch einen frischgebackenen Hofrat. Der Fürst von Waldeck, den Herz auf einer Badekur in Pyrmont getroffen und behandelt hatte, hatte ihm 1785 diesen Titel verliehen.
|| 2 Vgl. Christoph Maria Leder: Die Grenzgänge des Marcus Herz. München 2007, S. 14. Wilhelm von Humboldt konnte bei Friedrich Wilhelm dadurch später auch eine Witwenrente für Henriette Herz bewirken; vgl. Rainer Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Berlin 2013, S. 618. Hinsichtlich einer intellektuellen Biographie von Marcus Herz vgl. Martin Davis: Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit 1995. Johann Gottfried Schadow übersandte 1845 dann Friedrich Wilhelm IV. ein Jugendbildnis der Henriette Herz von Elise Fraenkel. Vgl. Angelika Wesenberg: Zwischen Aufklärung und Frühromantik. Jugendjahre in Berlin. In: Bernhard Maaz (Hg.): Johann Gottfried Schadow und die Kunst seiner Zeit. Köln 1994, S. 41–47, hier S. 47. 3 Aber auch Moses Mendelssohn, der Kant sehr schätzte, war eher der frühen Aufklärung als dem Kant der Kritiken verbunden, besonders dem Hallenser Philosophen Christian Wolff. 4 Als Ortsangabe in seinen frühen Briefen an Henriette Herz nannte Alexander von Humboldt das »Schloß Langweile«. Vgl. dazu auch Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 56.
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Daheim in Preußen hätte es Herz sicherlich nicht zu dieser Ehrung bringen können, gab es für ihn doch wie für Mendelssohn und andere jüdische Gelehrte noch nicht einmal die Möglichkeit, Mitglied in der Berliner Akademie zu werden. Dabei leiteten Herzens Vorlesungen eine intensiven Beschäftigung jüdischer Intellektueller mit Kants Werk ein, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert einen neuen Höhepunkt erreichen sollte und die, dies darf man betonen, bis heute anhält. Außerdem trugen diese Vorlesungen zu einer Tradition offener Häuser bei, in der Juden eine bedeutende Rolle spielen sollten. Diese Häuser ersetzten eine Universität, die es in Berlin noch nicht gab, boten ein aktives Geistesleben in alternativen Räumen und trugen insgesamt zu einer Neubestimmung von Öffentlichkeit und Privatbereich zum Ende des 18. Jahrhunderts bei. Sie entwarfen auch einen Begriff von Geselligkeit, der bald weiblich konnotiert schien, aber zuerst in den Wohnzimmern eines Mendelssohn oder Herz geprägt wurde. Jeden Dienstag und Freitag fanden sich die Hörer der Vorlesungen in der Herz’schen Wohnung ein, die er seit 1779 allerdings nicht mehr alleine bewohnte: Herz hatte sich in diesem Jahr mit der um siebzehn Jahre jüngeren Henriette de Lemos vermählt, der ältesten Tochter seines Vorgesetzten. Die Brüder Humboldt nahmen nun an diesen Dienstags- und Freitagstreffen teil, aber es sind keine Notizen oder Briefe der beiden erhalten, die Herzens’ Vorlesungen kommentieren. Dagegen sind Briefe überliefert, die Wilhelm seit 1786 an die drei Jahre ältere, verheiratete, und auf ihn wahrscheinlich sehr reif und lebensklug wirkende Henriette schrieb.5 Während Henriette versuchte, für ihren Ehemann ein gastliches Haus zu führen, lud auch sie Gäste ein. Herzens Vorlesungen waren an eine wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit gerichtet. Henriettes Teetisch, der, dem Bildhauer Johann Gottfried Schadow zufolge, gleichzeitig zu den Vorlesungen und – zumindest metaphorisch – im Nebenzimmer ausgerichtet wurde,6 beruhte ebenfalls auf einer offenen Gastfreundschaft, jedoch anderer Art. Er richtete sich vor aber allem an jüngere Gäste, an eine andere Generation, die sich weniger für Naturwissenschaften als für die neue empfindsame Literatur interessierte. Hier waren auch Frauen vertreten. Henriette lud ihre jüdischen Freundinnen ein, die in der Regel ebenfalls bereits verheiratet waren, aber zum Teetisch ohne ihre Ehemänner erschienen, sowie junge Aristokraten, Schriftsteller und Besu-
|| 5 In Henriette Herz’ Erinnerungen heißt es da: »Ich führte ihn gewissermaßen in die Welt ein.« Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen (Anm. 2), S. 76 6 Johann Gottfried Schadow: Kunst-Werke und Kunst-Ansichten. Berlin 1849, S. XIX–XX.
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cher Berlins. Vielleicht begann dieser Teetisch als Lesegesellschaft – Wilhelm schätzte anscheinend die Vorlesekünste Henriettes wie auch ihrer engen Freundin Brendel Veit, der ältesten Tochter Mendelssohns. Aber der Teetisch bot auch die Gelegenheit, Gespräche zu führen und gesellschaftliche Ereignisse zu kommentieren. In Berlin, wo sich die Amüsements auf Opern- und Theateraufführungen, Militärparaden und Bordellbesuche beschränken mussten, bot Henriettes Teetisch hierzu eine gute, wichtige und intellektuell anregende Alternative. Für Henriettes nichtjüdische Gäste schien die Gastgeberin besonders originell. Schon ein jüdischer Hofrat mochte selten sein, aber wo fand man eine Frau, die begeistert Fremdsprachen lernte und damit auf ihre Weise dem linguistisch interessierten Wilhelm von Humboldt Kontra bieten konnte? Und wo Frauen, die neben der ›schönen‹ Literatur auch philosophische Schriften lasen? Hier schienen sich die Bildungsprogramme jüdischer und nichtjüdischer Frauen kaum zu gleichen, ebenso wie die der jüdischen Frauen und ihrer jüdischen Ehepartner, die wohl eher mit ihren Geschäften zu tun hatten. Die Zeiten hatten sich allerdings auch geändert. Mendelssohn hatte den jungen Frauen seines Kreises noch das Lesen von Romanen verboten, die er für sie als zu gefährlich empfand. Marcus Herz dagegen betrachtete ihre Lektüre lediglich als unverständlichen Zeitvertreib. Für ihn, wie für die meisten Berliner Juden, waren sie einfach unwichtig und ihr gefährlicher Einfluss auf junge Frauen daher recht begrenzt; diese sollten sich stattdessen von hebräischen religiösen Texten fernhalten. In dieser Welt der Geschlechterrollen wurde Frauen also nur eine säkulare Bildung zugesprochen. Ihre Ausbildung beschränkte sich dabei jedoch nicht nur auf Handarbeit oder Tanz, sondern umfasste auch Französisch-, Englisch- und Italienischunterricht sowie wissenschaftliche, literarische und philosophische Texte. Dass diese Frauen mit der Lektüre von Rousseaus Nouvelle Heloïse oder Goethes Werther auch eine andere Welt kennenlernten, geriet zur nicht einkalkulierten Konsequenz. So sollte zwar eigentlich in einem Raum der Herz’schen Wohnung der Verstand, in einem anderen, dem Henriettes, die Seele sprechen. Doch ließen sich Verstand und Seele wirklich so leicht voneinander trennen? Henriettes Schönheit half dabei, Gäste anzuwerben, und sie hatte ein großes Talent, Menschen zusammenzubringen. Heute würde man sie als Netzwerkerin betrachten, als Ehestifterin sogar, obwohl gerade auch das Gegenteil der Fall war; viele früh verehelichte jüdische Frauen beschlossen nach Besuchen in ihrem Haus, sich von ihren ungeliebten Partnern zu trennen, und befreundeten
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sich mit nichtjüdischen Verehrern.7 Henriettes Freundin Brendel, die Tochter Moses Mendelssohns, Ehefrau Simon Veits und Mutter zweier Söhne, lernte dort zum Beispiel ihren Geliebten und späteren Ehemann Friedrich Schlegel kennen.8 Man konnte Henriette zwar zuhören, wenn sie sprach oder las, aber sie war vor allem eine geduldige Zuhörerin anderen gegenüber, eine passive Qualität, die oft gelobt wurde. Sie galt als gutmütig. Radikale Entscheidungen traf sie nicht. Ihre Präsenz war vielleicht sogar wichtiger als ihre Worte. Folgt man den Briefen Wilhelms, so kann man eine Art psychoanalytischer Situation avant la lettre erkennen, bei der sie gelegentlich die Herzensergießungen des jungen Mannes zu kommentieren schien. Henriettes Rolle als Ansprechpartnerin im Haus oder Korrespondentin half seinem Selbstfindungsprozess. Von dem, was Henriette selbst beschäftigt hat, wissen wir nur wenig, weil sich aus ihrer Feder keine Briefe an Humboldt erhalten haben. Dabei ist gerade die Frau, die in diesem Briefwechsel unsichtbar bleibt und bleiben muss, durch ihre Sichtbarkeit berühmt gewesen. So bezeichnete später ein Stadtführer für das Berlin der Jahrhundertwende die schöne Henriette als eine Sehenswürdigkeit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.9 Der Fall der Brüder Humboldt ist daher ein deutliches Beispiel einer verfehlten pädagogischen Mission. Kunths geplante Ausflüge gerieten besonders für Wilhelm weniger zu Lehrstunden bei Herz als zu Lehrstunden des Herzens bei Henriette; statt Thesen zur Aufklärung verfolgte er seine éducation sentimentale. Die unerwartete, ungeplante Freundschaft zwischen dem aristokratischen Zögling und der jungen jüdischen Frau brachte außerdem noch ein drittes Modell der Geselligkeit hervor, das wenig mit Herzens philosophischen Gesprächen oder Henriettes Teetisch gemein hatte und bislang wenig Beachtung erlangte. Dieses dritte Modell war nicht durch gesellschaftliche Inklusion, sondern durch Exklusion geprägt, durch eine vorsichtige Wahl der Gesprächspartner und Korrespondenten, mit denen man sich nicht austauschen, sondern denen man sich offenbaren wollte. Es war daher nicht Henriettes Teetisch, der später als erster Berliner Salon in die Kulturgeschichte der Stadt einging, son-
|| 7 Hierzu besonders Deborah Herz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Übersetzt von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt a. M. 1991. 8 Brendel Mendelssohn (1764–1839) hatte zwei Söhne mit dem Kaufmann und Bankier Simon Veit, der auch ein Schüler ihres Vaters gewesen war, nämlich die späteren Maler Philipp (Feibisch) und Johannes (Jonas) Veit. Sie nahm später den Namen Dorothea Friederike an. 9 Vgl. Karl August Böttiger, zitiert bei Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin 1989, S. 59.
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dern diese andere Form der Geselligkeit, die dem Projekt eines Marcus Herz am deutlichsten entgegenstand. Ihre Teilnehmer sahen sich weder als Lernende noch als Gäste; sie waren Verbündete, und sie verfolgten Strategien der Abgrenzung, die Intimität produzieren sollten. Sie beschrieben nicht nur, was sie dachten und vor allem fühlten, sondern auch, was sie nicht sein wollten oder konnten. Sie bestätigten ihr Ich durch eine Setzung des Nicht-Ichs. In diesem Kreis war Henriette keine Gastgeberin, sondern ein Spiegel, in dem sich Wilhelm und andere erkennen sollten. Dass sie dabei auch Frau und Jüdin war, machte sie zu einem Spiegel besonderer Art. Das, was von Henriette und Wilhelm 1786 nicht nur geschaffen, sondern wahrhaft zelebriert werden sollte, war eine geheime Gesellschaft, die ihre eigene Sprache erfand und in geheimen Zeichen kommunizieren sollte; man übersetzte einen Geheimbund, wie er in der Zauberflöte auf der Bühne erschien, in das tägliche Leben. So schrieb Wilhelm Henriette nicht einfach nur Briefe, sondern sandte ihr Botschaften, die entziffert und übersetzt werden mussten, um verstanden zu werden, und die nicht in den Besitz eines anderen übergehen durften. Die Korrespondenten bedienten sich leihweise eines fremden Alphabets; zugleich waren ihre Briefe selbst Leihgaben, die sich in andere, nicht geheime Briefe einfalten ließen und nach ihrer Lektüre dem jeweiligen Autor zurückgeschickt werden sollten. In Henriettes Fall hatte dies besondere Konsequenzen; diese Praxis ermöglichte schließlich ihren Entschluss, das Private, Geheime und Unleserliche ihrer Briefe bis ins Extrem zu führen und sie zu vernichten. Die Briefe Wilhelms und mancher anderer, die sich erhalten haben, sind autobiographische Schriftstücke, die den Autor zum eigentlichen Leser seiner Briefe bestimmen und kein Freundschaftspfand für einen anderen sein wollen. Die rationale Aufklärung, die Marcus Herz vertrat, stellte sich offen dar und wollte offen mitteilen. Auch für diejenigen, welche Aufklärung hinsichtlich ihrer Gefühle verlangten, blieb ihr Innenleben zwar privat, aber für die engsten Freunde nicht geheim. Paradoxerweise bestätigten Dutzende von Briefen Wilhelms und anderer lediglich, dass diese Gefühle eigentlich keiner Mitteilung bedurften. Im Gegensatz zu ihrer schriftlichen Form mussten sie selbst nicht erst entziffert werden, sondern sie wurden bereits auf den ersten Blick erkannt. Dies hatte literarische Vorbilder. So teilte sich der junge Werther in Goethes Roman seinem Freund Wilhelm mit – und schrieb doch letztlich nur an sich selbst, der eigentlich dieser Kommunikation nur bedingt bedurfte. Jean-Jacques Rousseau entwarf in seinen Confessions das Bild eines transparenten Herzens. Und jener andere Wilhelm, nämlich Humboldt, schrieb nun einen langen Brief nach dem anderen, um zu beweisen, dass zwischen ihm und Henriette eigent-
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lich keine Worte notwendig seien. Sie waren sich beide offensichtlich, und auch dies kann als ein weiterer Kommentar zu dem sich in dieser Zeit wandelnden Begriff der Öffentlichkeit verstanden werden. Der Forderung nach Übersetzung stand eine Sprachlosigkeit gegenüber, ein Modell der Offenbarung, das nur eines gewissen Kontaktes, aber keiner Worte mehr bedurfte. Mit und um Henriette und Wilhelm bildete sich somit ein geheimes Bündnis, das geheim sein konnte, weil es sich im kleinsten Zeichen verbarg. Ein Wort, einen Namen gar, gab es für diese Bündnis nicht. Wilhelm sollte das Zeichen erfinden, das sich nun scheinbar jenseits des Artikulierbaren befand: Es war ein Kreis mit einem in die Mitte gesetzten Punkt: . Es ist schwer, in diesem Kreis und diesem einen Punkt mehr als eine einzige, sich selbst reflektierende Person zu sehen. War Henriettes Teetisch dem Dialog verbunden, so bezeichnete dieses Zeichen das Gegenteil: das geheime Bündnis bestand aus fortgesetzten Monologen. Einige dieser Briefe fielen später dem Autographen-Sammler Karl August Varnhagen in die Hände, dem späteren Ehemann von Henriettes Freundin Rahel Levin. Er fand seine eigene Deutung für das Geheimzeichen des Bündnisses, und ergänzte damit den Text der Briefe. Für ihn bedeutete das Zeichen etwas, was ihm bereits von den Freimaurern her bekannt war: »Loge«.
Abb. 1: Briefausschnitt, Wilhelm von Humboldt an die »Verbündeten«. Brief vom 11. November 1788 mit Geheimzeichen für die Verbindung, aufgelöst und überschrieben von Karl August Varnhagen als »Loge« (Biblioteka Jagiellońska, Krakau).
Aber Wilhelm war kein Freimaurer, ebensowenig Henriette und ihre Freundinnen als (zumeist jüdische) Frauen. Wilhelm dachte zwar in diesen Jahren über eine Mitgliedschaft bei einer Freimaurerloge nach, sollte sie aber letztendlich ablehnen. Denn 1786 hatten die Freimaurer bereits eine politische Bedeutung;
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eine Mitgliedschaft konnte einen Karriereweg ebnen. Das neue Bündnis sollte jedoch als nicht pragmatisch verstanden werden, es war nach außen hin interesselos. Nicht von Weltveränderung war hierbei die Rede, sondern nur von Selbsterkenntnis. Wilhelms Briefe an Henriette dokumentieren eine jugendliche Trunkenheit des Ichs. Es war Henriette, die als erste eine kurze Beschreibung dieses Bündnisses veröffentlichte. Sie begann um 1818, ihre Autobiographie niederzuschreiben; zu dieser Zeit war sie bereits verwitwet und die Zeit ihrer Tee-Gesellschaften war vorbei. Ihr Text konzentrierte sich nur auf ihre Kindheit und frühe Jugend. Zwanzig Jahre später verarbeitete der Berliner Schriftsteller Joseph Fürst diese Skizze mit den Aufzeichnungen seiner mündlichen Gespräche mit Henriette und noch erhaltenen Briefen zu einer besonderen Komposition, die nach Henriettes Tod zwischen 1849 und 1850 in mehreren Folgen in der Berliner Konstitutionellen Zeitung erschien und 1850 auch als Buch veröffentlicht wurde.10 Auch hier mag das Datum wichtig sein: Fürsts Publikation fiel in die Zeit der politischen Restauration nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. Bis heute ist unklar, wer das »Ich« ist, das in Fürsts Buch munter von Henriettes Leben berichtet. Von ihm jedoch erfahren wir in einem Kapitel mit der Überschrift »Ein Tugendbund – Wilhelm von Humboldt« zum ersten Mal von einer Organisation, die 1787 gegründet wurde und in der Henriette Herz und Wilhelm von Humboldt die Hauptrollen spielten; erst in der Darstellung bei Fürst erhielt diese Organisation einen Namen: In dem Kreise der Bekannten wurde bald darauf ein Bund gestiftet, in welchen wir nach und nach auch uns persönlich Unbekannte, deren ernstes Streben und deren Bedeutung uns durch gemeinschaftliche Freunde kundgeworden war, hineinzogen. Der Zweck des Bundes, eine Art Tugendbund, war gegenseitige sittliche und geistige Heranbildung sowie Übung werktätiger Liebe. Er war ein Bund in aller Form, denn wir hatten auch ein Statut und sogar eigene Chiffern, und ich besaß noch in späteren Jahren manches von der Hand Wilhelms von Humboldt in diesen Chiffren Geschriebene. Zu den Mitgliedern gehörten unter anderen Karl von la Roche [...], Dorothea Veit und ihre Schwester Henriette Mendelssohn, aber auch die uns persönlich unbekannten: Caroline von Wolzogen, Therese Heyne [...], und Caroline von Dacheröden, mit welchen ein brieflicher Austausch von Gedanken und Gefühlen stattfand.11
|| 10 Die Geschichte der Veröffentlichungen wird bei Schmitz im Nachwort seines Buches nachgezeichnet, vgl. Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen (Anm. 2). 11 Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen (Anm. 2), S. 76–77.
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2 Revolutionen Dies ist nicht das gleiche Bild, das aus Wilhelms Briefen hervorgeht. Zeitgenossen wie Karl August von Varnhagen, die Henriette Herz noch persönlich gekannt hatten, äußerten ohnehin schon gewisse Zweifel am Wahrheitswert ihrer Aufzeichnungen. War Henriettes Erinnerungsvermögen eingeschränkt, wollte sie für die Nachwelt ein bestimmtes Bild ihrer selbst prägen?12 Oder stammte dieser Text ohnehin aus der Feder Fürsts? Wieso wurde die Insistenz auf Empfindsamkeit und Selbsterkenntnis, die in den Briefen betont wird, hier durch die Forderung nach Tätigkeit ersetzt? Stellten die Verbündeten nicht gerade Nutzen und Tätigkeit in Frage oder belächelten zumindest diese Forderungen als solche einer anderen Generation? So machte sich Wilhelm in seinen damaligen Tagebuchnotizen zum Beispiel über seinen früheren Lehrer Johann Heinrich Campe lustig. Dieser habe nämlich darauf bestanden, dass ein jeglicher Kirschbaum dem Rheinfall in Schaffhausen vorzuziehen sei. Denn Kirschen könne man doch essen, während ein Wasserfall schlichtweg keinen Nutzen habe.13 Aber in der Umschreibung des geheimen Bündnisses zum aufgeklärten Tugendbund in Henriettes Erinnerungen sind auch andere Modifikationen erkennbar. Die Anzahl der Mitglieder des sogenannten Tugendbundes, die erwähnt werden, ist übertrieben hoch. So finden sich in Wilhelms Briefen an Henriette Grüße an ihre Freundin Brendel. Ihr fühlte sich Wilhelm sehr verbunden; manche seiner Briefe sind auch an beide Freundinnen, Henriette und Brendel zugleich, gerichtet. Zu Brendels jüngerer Schwester Henriette bestanden dagegen kaum Beziehungen; keine Spuren in Wilhelms erhaltenen Tagebüchern oder Briefen oder den Korrespondenzen anderer Personen verbindet sie näher mit dem engeren Kreis. Ebenso tut Wilhelm seinen Bruder Alexander oft mit der liebevollen, doch leicht ironischen Anrede »mon frère« ab; er beschreibt Alexander als intelligenten Jungen, dessen Interessen und Vorlieben ihm unverständlich waren.14 Erst in späteren Jahren sollten sich die Brüder intellektuell näher kommen. Anders steht es um Carl, den gutaussehenden Sohn der Schriftstellerin Sophie LaRoche, von dem auch Alexander schreibt, dass bei ihm auf wundersame
|| 12 Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen (Anm. 2), S. 591. 13 Wilhelm von Humboldt: Tagebuch der Reise nach Paris und der Schweiz 1789. In: W. v. H.: Tagebücher. Hg. von Albert Leitzmann. Band I: 1788–1798. Berlin 1916, S. 86. 14 Vgl. Wilhelm von Humboldts Jugendbriefe an Henriette Herz (Anm. 17), passim.
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Weise das schöne Äußere mit dem Inneren im Einklang gestanden habe.15 Henriette hatte ihn bereits zufällig auf einer Reise nach Leipzig getroffen, die sie mit der Levin’schen Familie unternahm; er fand sich 1786 gleichfalls aus pädagogischen Gründen im Herz’schen Hause ein. Somit reduziert sich die Anzahl der Mitglieder des geheimen Bündnisses zu Beginn auf lediglich vier. Es waren zwei jüdische Ehefrauen, Henriette und Brendel, die in ihren Ehen wohl wenig Erfüllung gefunden hatten, sowie zwei nichtjüdische, jüngere Männer aus gutem Hause, die sich bald an die Universität begeben sollten, Wilhelm und Carl. Zwei korrespondierende Mitglieder des Kreises gesellten sich wenig später dazu. Carl kannte und verehrte Caroline von Dacheröden, die in Burgörner und Erfurt lebte, und mit der er sich ehelich zu verbinden hoffte. In Folge seines Vorschlags, Caroline als korrespondierendes Mitglied aufzunehmen, reiste Wilhelm nach Burgörner. Carolines Vater gegenüber erfand er den Vorwand, die dort aufgestellte Dampfmaschine besichtigen zu wollen – es war tatsächlich die erste in Deutschland, einem englischen Modell nachgebaut.16 Die Besichtigung Carolines verlief dabei erfolgreich, und sie wurde auf Wilhelms Rat hin von der Gruppe aufgenommen. Caroline schlug wiederum eine weitere Freundin vor, die unglücklich verheiratete Caroline von Beulwitz aus Rudolstadt, später verheiratete von Wolzogen. Nun statteten Carl und Wilhelm als Emissäre des Bündnisses beide jener anderen Caroline Besuche ab, die ebenfalls die Prüfung bestand und ein korrespondierendes Mitglied wurde.17
|| 15 Alexander von Humboldt: Brief an Wilhelm Gabriel Wegener, 28. April bis vor dem 3. Mai 1789. In: A. v. H.: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts. Hg. von Ilse Jahn/Fritz G. Lange. Berlin 1973, S. 52. Carl Georg von LaRoche (1766–1839) wurde später Königlich-Preußischer Oberbergrat, Direktor des Salzamtes Schönebeck und schließlich Direktor bei der Generalsalinendirektion in Berlin. 16 Vgl. Caroline von Dacheröden: Brief an Wilhelm von Humboldt, 28. Juli 1788. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen 1788–1835. Hg. von Anna von Sydow. Berlin 1920, S. 1. Dacheröden (1766–1829) korrespondierte mit Wilhelm von Humboldt von ihrem Familiengut Burgörner oder schrieb aus Erfurt. 17 Diskussionen um die Aufnahme Caroline von Beulwitz’ ins Bündnis und Besuche bei ihr erfolgten kurz nach der Aufnahme ihrer Freundin Dacheröden; vgl. die Korrespondenz Wilhelm von Humboldts mit Dacheröden aus dem Jahr 1788, z. B. Wilhelm von Humboldt: Brief an die Verbündeten in Berlin (Henriette Herz und Brendel Veit), 11. November 1788. In: W. v. H.: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung 1: Briefe bis zum Beginn der diplomatischen Laufbahn 1781–1802. Band I: 1781–Juni 1791. Hg. von Philip Mattson. Berlin 2014, S. 121. Caroline von Lengefeld (1763–1826) war unglücklich mit dem älteren, doch wohlhabenden Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz verheiratet, sie ließ sich später scheiden und heiratete ihren Vetter Wilhelm von Wolzogen.
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Somit hatte das Bündnis um 1789 sechs Mitglieder. Vier Mitglieder kannten einander, zwei Frauen waren nur Carl und Wilhelm bekannt. Weitere schienen zunächst nicht hinzuzukommen. Wilhelm hatte zwar in Göttingen Therese Forster getroffen, die ebenfalls unglücklich verheiratete Frau Georg Forsters und Tochter eines Göttinger Professors. Sie strahlte nicht nur Empfindsamkeit aus, sondern schien Wilhelm auch erotisch zu interessieren. Aber letztendlich hatte er Zweifel an einer Seelenverwandtschaft, und die anderen Mitglieder der Gruppe wandten sich gegen sie.18 Caroline von Beulwitz’ Schwester Charlotte von Lengefeld, die spätere Ehefrau Friedrich Schillers, kam ebenfalls nicht in Betracht. Schienen Thereses philosophische Ansichten den Verbündeten allzu merkwürdig, so war Charlotte vielleicht zu blaß und profillos – in Wilhelms Briefen finden sich über sie keine langen Kommentare. 1789 zeigte sich Wilhelm dann bereits als zukünftiger preußischer Verwaltungsbeamter. Er entwarf in einem langen Brief eine Verfassung des Bündnisses, die Caroline ausarbeiten und die alle Mitglieder akzeptieren sollten. Wilhelm suchte Gesetze für das, was keinen Namen hatte und sich nur unter einem Zeichen formieren sollte. Es war der Anfang vom Ende. Caroline wollte sich zunächst nicht gegen Wilhelms Vorschlag wenden, denn schließlich hatte er begonnen, um ihre Hand zu werben, und dabei Carl ausgestochen. Aber sie hielt nichts von vertraglichen Regelungen und Gesetzen19 für ein freundschaftliches Bündnis und forderte stattdessen Flexibilität. So zeigen sich etwa in den Briefwechseln zwischen Wilhelm und Henriette sowie zwischen Wilhelm und Caroline Extreme des Verhaltensspektrums innerhalb des Bundes. Auf der einen Seite stand die Inkompatibilität von potentiellen Mitgliedern, auf der anderen Seite jene Steigerung der Freundschaft, die man Liebe nennen könnte. »Der Zweck unserer ist Beglükkung durch Liebe,« schreibt Wilhelm an Caroline.20 Aber was bedeutete Liebe in einem Freundschaftsbund? Da war zum einen das Problem der erotischen Anziehungskraft. Zweifellos schwärmte Wilhelm für Henriette, die wiederum Carl attraktiv fand, der sich seinerseits um Caroline bemühte, deren Hand jedoch Wilhelm gewann. Da konnte schon einmal von Tränen und Enttäuschung die Rede sein. Inwieweit
|| 18 Vgl. die Korrespondenz zwischen Wilhelm von Humboldt und Dacheröden über Therese Forster, etwa Wilhelms Brief an Dacheröden vom 2. April 1790. In: W. v. H.: Briefe (Anm. 17), S. 263. 19 Die Diskussion um die Richtlinien des Bündnisses, die Wilhelm von Humboldt von Dacheröden notieren lassen möchte, durchzieht ihre Korrespondenz vom Januar 1789. 20 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, 11. November 1788. In: W. v. H.: Briefe (Anm. 17), S. 121.
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aber entsprach die Überschwänglichkeit der Sprache dem Gefühl, das sie ausdrücken sollte? Wilhelm mochte sich von Henriette oder Caroline angezogen fühlen, aber in seinem Tagebuch gestand er sich auch eine andere Vorliebe ein. Er bemerkte ein sexuelles Verlangen nach Frauen der unteren Klasse, besonders nach jenen, die physische Arbeit leisten, oder, wie er deutlich schrieb: nach Sklavinnen eben.21 Im geheimen Bündnis dagegen gab es keine Sklavinnen, sondern gleichrangige Freundinnen und Freunde, Schwestern und Brüder. Ein Kreis war nicht hierarchisch, sondern rund. Die Beziehungen der Verbündeten untereinander wurden instabil, als sich ein Verhältnis einstellte, das über die verlangte Freundschaft hinausging. Für unglückliche Ehefrauen war in diesem Bündnis Platz vorhanden gewesen, aber für eine Ehe innerhalb des Bündnisses gab es keinen Platz. Sofort kam ein Standesbewusstsein zur Geltung. Nicht die Schwester Caroline, sondern Wilhelms Verlobte Caroline ermahnte ihn sogleich, seine Beziehungen zu den Berliner Jüdinnen abkühlen zu lassen. Auch Kosenamen wie »Jette« oder das familiäre »Du« konnten nicht mehr von Dauer sein.22 Und die geheimen Chiffren? Wilhelms erste Briefe an Henriette sind in hebräischer Schrift verfasst und deuten auf einen geheimen, fast schon heiligen Bund. Henriette lehrte Wilhelm diese Schrift, aber es war auch Henriette, die ihn nach einigen Monaten anwies, wieder zum lateinischen Alphabet zu wechseln. Der Gebrauch der hebräischen Schrift war aber keineswegs exklusiv und nur dem Bündnis und Briefwechsel von Wilhelm und Henriette zu Eigen. Auch Alexander hatte intime Freunde, Studienkollegen aus Göttingen oder Frankfurt an der Oder. Wilhelm Gabriel Wegener und der Berliner Jude Israel (nach seiner späteren Taufe: Johann) Stieglitz, dessen Vater als Waldeck’scher Kammeragent in Berlin wirkte, wurden seine engen Freunde; Alexander redete sie in seinen Briefe als seine »Brüder« an.23 Ein Bedürfnis nach einem größeren intimen Zirkel artikulierte Alexander damit jedoch nicht, ganz im Gegenteil: »Gott scheint die Menschen fast nur paarweise gebildet zu haben. Wer zwei Freunde zählt, die ihm gleich theuer sind, ist glüklich«.24
|| 21 Wilhelm von Humboldt: Tagebuch (Anm. 13), S. 79. 22 Vgl. Rahel Levin Varnhagen: Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde in 6 Bänden. Hg. von Barbara Hahn. Göttingen 2011, Bd. 6, S. 263; aber auch Wilhelm von Humboldt kehrte zum »Sie« zurück; vgl. etwa Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen (Anm. 2), S. 606. 23 Vgl. die Briefe Alexander von Humboldts an Wegener und Stieglitz aus dem Jahre 1788 und 1789. In: A. v. H.: Jugendbriefe (Anm. 15). 24 Alexander von Humboldt, Brief an Wegener vom 12. Dezember 1788: In: A. v. H.: Jugendbriefe (Anm. 15), S. 31.
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Abb. 2: Wilhelm von Humboldt: Seite eines Briefes an Henriette Herz, 29. und 30. November und 2. Dezember (?) 1787. Der Brief ist in deutscher Sprache, aber mit dem hebräischen Alphabet verfasst (Biblioteka Jagiellońska, Krakau).
Auch Alexander benutzte in seinen Briefen hebräische Buchstaben – einmal etwa, um ausgerechnet den Namen »Herz« in hebräischer Schrift zu schreiben, dann wieder, um etwas vertraulich mitzuteilen.25 Mit dem Berliner Bündnis hatte dies wenig zu tun. Das Hebräische war in diesem Fall auch Element einer klassischen Bildung – Wegener wurde Theologe, Stieglitz Arzt. Dagegen bilde-
|| 25 Vgl. dazu Adolph Kohut: Ragende Gipfel. Beiträge zur Litteraturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Essays und Skizzen. Minden/Westfalen 1887, S. 159; allerdings erscheinen hebräische Lettern auch als vertrauliche Schrift, vgl. Alexander von Humboldt, Brief an Wegener, 12. Dezember 1788. In: A. v. H.: Jugendbriefe (Anm. 15), S. 33. In Alexander von Humboldts Brief an Wegener vom 12. August 1788 gibt es auch die folgende Randbemerkung: »Möchte mein prophetischer Geist sich doch diesmahl nicht trügen!!!!!!! «. In: A. v. H.: Jugendbriefe (Anm. 15), S. 23. In Alexander von Humboldts Briefen gibt es weitere Hinweise auf seinen Hebräischunterricht und die Forderung nach allgemeinem, universitärem Hebräischunterricht; vgl. wiederum den oben zitierten Brief vom 12. Dezember 1788 an Wegener, S. 32. Vgl. dazu auch Peter Honigmann: Alexander von Humboldt und die Juden. In: Chaim Selig Slonimski: Zur Freiheit bestimmt. Alexander von Humboldt – eine hebräische Lebensbeschreibung. Hg. von Kurt-Jürgen Maaß. Bonn 1997, S. 45–75.
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ten Brendel, Wilhelm, Carl und die beiden Carolinen nun eine neue Familie nach einem ganz anderen Modell. Bei diesem gab es mehrfache Müttern, Schwestern, ja sogar Liebhaber und potentielle Ehepartner. Das namenlose Bündnis sollte zwar exklusiv sein, die Strategien der Mitglieder waren es nicht. Auch Wilhelms Zeichen für das Bündnis blieb nicht das einzige einer neuen Geheimsprache, die bald auch jenseits des Bündnisses Anwendung fand. Caroline von Dacheröden erfand in ihrer Korrespondenz mit Charlotte von Lengefeld ein Zeichen für den Namen Schiller; sie drehte die beiden in seinem Namen erhaltenen Buchstaben »l« um 90° zur Seite, und so wurden sie zu einem Verbindungs- und Trennungszeichen zugleich: =.26
Abb. 3: Caroline von Dacheröden: Brief an Charlotte von Lengefeld (Ausschnitt), November 1789, mit dem mehrfachen Zeichen = für Schiller (Deutsches Literaturarchiv Marbach).
|| 26 Vgl. etwa die Briefe Dacherödens an Charlotte von Lengefeld vom 30. November 1789 und November 1789 (Deutsches Literaturarchiv Marbach). Charlotte von Lengefeld (1766–1826) heiratete später Friedrich Schiller, der sowohl sie wie auch ihre Schwester Caroline verehrte.
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Um sich brieflich weiterhin ungestört unterhalten und sich ihre gegenseitige Vertrautheit beweisen zu können, legte Caroline in einem ihrer Brief an Charlotte auch eine ganze Übersetzungsliste von Zeichen bei, die sie fortan benützen wollte. Doch was sagt all dies über ein Bündnis aus, wenn jene, die nicht dazu gehören sollten, ähnliche Kommunikationsformen benutzten und weitergaben wie der innere Kreis?
Abb. 4: Caroline von Dacheröden: Brief an Charlotte von Lengefeld, Beilage mit Symbolschlüssel, 27. August 1789 (Deutsches Literaturarchiv Marbach).
Noch einmal könnte es wichtig sein, auf eine Jahreszahl zu achten. 1789 machte sich Wilhelm mit seinem ehemaligen Lehrer Johann Heinrich Campe auf eine Reise nach Frankreich und in die Schweiz, es war seine erste lange Reise ins Ausland.27 Wilhelms Verlobung mit Caroline war noch nicht offiziell. In der Schweiz wollte Wilhelm den Theologen Johann Caspar Lavater sowie andere bekannte Persönlichkeiten kennenlernen; er wollte auch die Alpen sehen, was
|| 27 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Tagebuch (Anm. 13), S. 76–236.
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ja als das Naturerlebnis schlechthin galt. Der erste Teil seiner Reise galt aber weniger der Begegnung mit bestimmten Personen oder der Entdeckung der Natur. Vielmehr plante Wilhelm, an der Seite Campes die große Weltstadt Paris mit ihren Sehenswürdigkeiten zu erleben; auch dies war Teil eines Erziehungsprogramms. Campe wiederum entwarf eine Reisebeschreibung, welche auch die jüngsten politischen Veränderungen schildern sollte. Er und Wilhelm waren nichts anderes als Revolutionstouristen, und im Paris dieser Zeit gab es viele davon. Es ist erstaunlich, dass in Wilhelms Briefen aus Paris an Caroline und an die anderen Verbündeten von den politischen Ereignissen in Paris kaum die Rede ist; sie reflektieren ähnliche Beschreibungen von Innerlichkeit wie frühere Briefe, die innerhalb des Berliner Raums kursierten. Spuren der Rezeption der Französischen Revolution findet man bei den Mitgliedern des Freundeskreises später andernorts; bei Henriette etwa in dem Wunsch, Mary Wollstonecrafts Traktat über Frauenrechte zu übersetzen,28 oder in der Fertigstellung eines Stickbildes von Napoleon um 1807.29 Während Wilhelm in seinen Briefen über die Ereignisse schweigt, bieten seine Tagebuchaufzeichnungen, die er eigentlich für seine Verbündeten aufbereiten wollte – was jedoch nie geschah – mehr Informationen. Bereits auf dem Weg nach Paris war Wilhelm eifrig damit beschäftigt, seine Gesprächspartner nach ihrer Meinung über die Entwürfe preußischer Religionsund Emanzipationsedikte zu befragen; in Paris selbst schrieb er über Massenansammlungen und häufig stattfindende Hinrichtungen. Campe wiederum, der seine Aufzeichnungen zu einem erfolgreichen Buch über diese Reise umgestalten sollte, führte ein neues Wort in die deutsche Sprache ein: fraternité oder Brüderlichkeit.30 Dazu brauchte er nicht Mitglied eines geheimen Bundes zu sein. Als Wilhelm nach vielen Wochen wieder nach Berlin zurückkehrte, war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Die politische fraternité schien mit dem Gedanken der Brüderlichkeit im Bündnis nicht mehr im Einklang zu ste-
|| 28 Henriette Herz erwähnt die Übersetzung von Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Women (1792) in ihren Erinnerungen; erhalten sind ihre anderen Übersetzungen aus dem Englischen, Mungo Parks Reise in das Innere von Afrika, Berlin 1799, und Weld des Jüngeren Reise in die Vereinigten Staaten v. Amerika, Berlin 1800. 29 Das Stickbild des Porträts Napoleons entstand 1807 in Hamburg und ist mit »HH« signiert; es befindet sich heute im Deutschen Literaturarchiv Marbach. 30 Vgl. Johann Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. Braunschweig 1790. Repr. Neu-Isenburg 2009; vgl. auch Jörg Kilian/Thomas Nier/Jürgen Schiewe: Sprachkritik. Ansätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung. Berlin, New York 2010, S. 23.
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hen. Darüberhinaus beendete der Einsatz der Guillotine den Enthusiasmus für die neue Revolutionsbewegung in Frankreich; durch Wilhelms Ehepläne fand auch das Bündnis zu Hause ein rasches Ende. Guillotine und Ehepläne setzten hier wie dort bedeutsame politische Zeichen. Doch konnte die Revolution nicht auch in einer neuen Ehe, verstanden als Kreis mit Mittelpunkt, fortleben? Bereits in der Verlobungszeit versprach Wilhelm Caroline eine Verbindung, in der fraternité, egalité und liberté herrschen sollten; eine Ehe, die ein freies Bündnis sein konnte, gerade weil sie sich nicht allein nach dem Verstand, sondern nach dem Herzen richtete. Dachte Wilhelm bei der Formulierung seines neuen Konzepts an die unglücklichen Ehen seiner verbündeten Freundinnen? So schrieb er an seine zukünftige Frau, die er Li oder Lina nannte: Indeß entspringt doch wohl das Unglük so vieler Ehen nur daher, daß die Enge der gegenseitigen Empfindungen nicht immer der Enge des Verhältnisses gleich ist. Hängt es aber nicht immer von uns ab, diese Ungleichheit aufzuheben, und, da die Empfindung unsrer Willkühr nicht unterworfen ist, das Verhältniß ihr anzupassen? Gehört dazu wohl auch mehr, als nur die Klugheit einzusehn, daß gewisse Dinge aufhören zu sein, was sie sind, wenn nicht die Empfindung sie giebt, sondern Ideen von Pflicht, Nachgiebigkeit, Mitleid sie erpressen, und – wenn man es noch so nennen darf – Feinheit genug, da keinen Genuß zu finden wo der gegenseitige Genuß nicht gleich groß ist? Zwischen Lina und mir wird nie etwas andres, als die Empfindung, das Verhältnis bestimmen, und sollte sie es je weiter wünschen sollte einer von uns nicht mehr in dem andren, sondern in einem Dritten das finden, worin er seine ganze Seele versenken möchte; nun so werden wir beide genug Wunsch einander glüklich zu sehn, und genug Ehrfurcht für ein so schönes, großes, wohlthätiges Gefühl; als das der Liebe ist, von wem es auch genossen werde, besizen, um nie auch durch die mindeste Undelikatesse die Empfindung des andren zu entweihen.31
So wird die Ehe für Wilhelm jetzt zu einem neuen Freundschaftsbund, der seine Exklusivität durch die Inklusivität der Gefühle beider Partner definieren sollte. Hatte sich das bisherige Bündnis der Freunde die Beglückung durch Liebe zum Ziel gesetzt, so wollten Wilhelm und Caroline nun ihre Gefühle zu anderen wie zu sich selbst ehrlich ausleben. Und Caroline sollte als Ehefrau die zahlreichen Affären oder Bordellbesuche ihres Mannes ebenso tolerieren wie dieser als Ehemann die fragwürdigen Vaterschaften von Carolines Kindern.32 War ein Bündnis zu sechst möglich, dann sicherlich auch eine Ehe zu dritt oder viert.
|| 31 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, Januar 1790. In: W. v. H.: Briefe (Anm. 17), S. 236. 32 Zur offenen Ehe von Wilhelm und Caroline vgl. Dagmar von Gersdorff: Caroline von Humboldt. Eine Biographie. Berlin 2011; außerdem Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt. Frankfurt a. M. 2009.
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Die Etablierung des neuen Bündnisses der Ehe verlangte die Auflösung des alten. Wilhelm distanzierte sich von den alten Freundinnen, vor allem von Henriette. Im September 1788 schrieb er noch an Caroline, dass er Henriette den größten Teil der Bildung seines Herzens verdanke.33 Zwei Jahre später dagegen erscheint Henriette ihm bereits als »ein sonderbares Weib, wirklich so kleinlich, von wenig innerem Gehalte.«34 Bei anderer Gelegenheit schreibt er: »Mit Jetten bin ich sehr auseinander gekommen. Ich kann mir nicht helfen, sie erscheint mir so ganz anders, als ich sie sonst in den Träumen meiner Phantasie sah.«35 Wilhelm lernte weiterhin Hebräisch – nun allerdings bei keiner Jüdin mehr, sondern bei Georg Ludwig Spalding, einem Gymnasial-Professor für alte Sprachen am Grauen Kloster in Berlin.36 Viele Jahre später – die alten Bündnispartner selbst waren verstorben – wurde das von Humboldt gesetzte Zeichen, der sprachlich nicht zu formulierende Kreis mit seinem Mittelpunkt, von Fürst in seiner Edition der Herz’schen Erinnerungen neu gedeutet und übersetzt. Aus dem Gebot der Liebe, einer egalité, fraternité, liberté der Emotionen, wurde das Gebot der Tugend. Die Verbündeten und ihr Bündnis erscheinen nun nicht mehr als »Loge« wie bei Varnhagen, sondern als »Tugendbund«, der bereits durch seinen Namen Gewicht erhalten konnte. Ein Tugendbund schien auch gut in eine Reihe weiterer deklarierter Bünde zu passen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert populär wurden – man denke zum Beispiel an Stefan George und seinen Kreis. Und das Bild von Henriette Herz erhielt im Kontext des Tugendbegriffes idealisierenden Beispielcharakter, wie auch der »Tugendbund« als Beispiel deutsch-jüdischer Symbiose zählen sollte. Mit der Erfindung des »Tugendbundes« wurde das Gesellschaftsexperiment der Jahre 1786–1789 gezähmt. Diese Zähmung des war politisch wie kulturgeschichtlich so bedeutsam, dass der »Tugendbund« als solcher noch 2014 als Eintrag in das Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften aufgenommen wurde.37
|| 33 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, 1. September 1788. In: W. v. H.: Briefe (Anm. 17), S. 109. 34 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, September 1790. In: ebd., S. 320. 35 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, 26. Juni 1790, In: ebd., S. 296. 36 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, 8./9.November 1790. In: ebd., S. 343. 37 Vgl. Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815. Hg. von Ute Motschmann. Berlin 2014, S. 387–393.
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Tugend sei, so schrieb Kant, »die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht«;38 sie sei »eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft […], insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert.«39 Kant machte die Tugend zum zentralen Begriff seiner Aufklärungsphilosophie. Wäre Henriette zur Zeit ihres Bündnisses damit einverstanden gewesen? Oder Wilhelm? Dieser schrieb doch noch 1790: »Doch viel verhaßter noch ist mir die Aufklärung, die das auch und gerade da ausrotten will, wo es wahres Gefühl ist.«40
|| 38 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: I. K.: Werkausgabe in 6 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1998, hier Bd. 6, S. 437. 39 Kant: Metaphysik der Sitten. In: I. K.: Werkausgabe (Anm. 38), Bd. 4, S. 537. 40 Wilhelm von Humboldt: Brief an Dacheröden, September 1790. In: W. v. H.: Briefe (Anm. 17), S. 237.
Gideon Stiening
Zwischen gerechtem Krieg und kluger Politik Naturrecht, positives Recht und Staatsraison in Kleists Michael Kohlhaas
1 Das ›Kohlhaasische Mandat‹ Nachdem er die Burg Wenzels von Tronka niedergebrannt und dessen »Schlossvogt und Verwalter, mit Weib und Kindern« getötet hatte, nicht aber des eigentlichen Übeltäters habhaft geworden war, sah sich der ehemalige Pferdehändler Michael Kohlhaas zu folgendem Schritt veranlasst: Kohlhaas, nachdem er sich von diesem Umstand unterrichtet hatte [dass nämlich der Junker ins nahe gelegene Stift seiner Tante geflohen war], bestieg den Turm der Vogtei, in dessen Innerem sich noch ein Zimmer, zur Bewohnung brauchbar, darbot, und verfasste ein sogenanntes »Kohlhaasisches Mandat«, worin er das Land aufforderte, dem Junker Wenzel von Tronka, mit dem er in einem gerechten Krieg liege, keinen Vorschub zu tun, vielmehr jeden Bewohner, seine Verwandte und Freunde nicht ausgenommen, verpflichtete, denselben bei Strafe Leibes und des Lebens, und unvermeidlicher Einäscherung alles dessen, was ein Besitztum heißen mag, an ihn auszuliefern.1
Sucht man den Gehalt der Passage vorläufig zu rekonstruieren, so ergibt sich folgendes Bild: Neben der charakteristischen, von der Forschung zu Recht detailliert analysierten und interpretierten Sprache2 fällt die präzise Begrifflichkeit dieser Passage auf, die sich erkennbar naturrechtlicher Wissensbestände bedient: Kohlhaas formuliert schriftlich ein »Mandat«, d. h. er sieht sich als Vollstrecker eines Befehls bzw. einer Vollmacht, die er am Junker Wenzel von Tronka auszuführen habe und zu dem er die Unterstützung des ganzen Landes einfordert. Er fordert alle Bewohner des Landes auf, ihm den Junker auszuliefern, wobei Nichteinhaltung zu einer ›Strafe von Leib und Leben‹ führt – d. h. zur Todesstrafe. Als Grund seiner Forderung nennt der Verfasser des Mandats || 1 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. In: H. v. K.: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a. M. 22013, S. 6523–33; Hervorhebungen von mir. 2 Vgl. hierzu insbesondere die Studie von Walter Müller-Seidel: Kleists Weg in die Dichtung. In: Hans Steffens (Hg.): Die deutsche Romantik. Göttingen 1967, S. 112–133.
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ausdrücklich den »gerechten Krieg«, den er mit dem Junker auszutragen habe. Nur dieser Status der Kontroverse als gerechter Krieg erlaubt, erzwingt aber auch die bedingungslose Aufforderung an die Bevölkerung und die strenge Strafandrohung. Erkennt man in dieser Passage folglich die Ankündigung eines bellum iustum, dann stellt sich mit Notwendigkeit die Frage nach dem Auftraggeber bzw. dem Bevollmächtigenden, als dessen Vollstrecker bzw. Bevollmächtigter sich Kohlhaas in seinem Mandat darstellt. Darüber hinaus drängt sich eine weitere Frage geradezu auf: Was veranlasst Kohlhaas dazu, sich als Streiter bzw. Soldat in einem »gerechten Krieg« zu sehen, d. h. einer ebenso gewaltsamen wie berechtigten Auseinandersetzungsform, deren Begriff seit der Antike trotz vielfältiger, auch kontroverser Begründungsformen3 noch in den Naturrechtsdebatten des späten 18. Jahrhunderts – gegen die Kritik Rousseaus und Kants – eindeutig bestimmt war?4 Mit dem ›mandatum‹ und dem ›bellum iustum‹ liegen folglich zwei präzise definierte Begriffe zeitgenössischer Naturrechtstheorien vor, deren juridischen Gehalt und deren rechtslogische Funktion es im Folgenden zunächst zu prüfen gilt. Dass in dieser rechtsphilosophiehistorischen Perspektive – gegen deren kulturwissenschaftliche Relativierungen5 – nicht etwa marginale Reflexionen an den Text herangetragen werden, sondern deren zentraler poetischer Gehalt zu erfassen ist, hat schon Joachim Rückert in seiner brillanten Interpretation der Erzählung nachweisen können: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« – so lautet eine bekannte Wendung des Kohlhaas. Die Kleistsche Erzählung enthält eine ganze Reihe solcher auffallenden Begründungselemente. Sie fordern und rechtfertigen eine spezielle Untersuchung im Kontext der intensiven zeitgenössischen Diskussionen um bürgerlichen Ungehorsam, Selbsthilfe, Widerstand, Revolution und die Grundlagen von Moral, Sittlichkeit und Recht überhaupt. Auf
|| 3 Siehe hierzu u. a. Dieter Janssen/Michael Quante (Hg.): Gerechter Krieg. Ideengeschichtliche, rechtsphilosophische und ethische Beiträge. Paderborn 2003 sowie Merio Scattola: Konflikt und Erfahrung: Über den Kriegsgedanken im Horizont frühneuzeitlichen Wissens. In: Heinz-Gerhard Justenhoven/Joachim Stüben (Hg.): Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik. Stuttgart 2006, S. 11–53. 4 Siehe hierzu u. a. Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914. München 2008, S. 215ff. 5 Siehe hierzu exemplarisch Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a. M. 2011, S. 414–432, der den rechtspolitischen Gehalt der Erzählung durch eine weitgehend politische Moralisierung (Kohlhaas als tumber deutscher Michel) verkennt und deshalb keine der einschlägigen rechtshistorischen Studien zitiert.
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dieser Basis und erst auf ihr lässt sich Kleists Stellungnahme ermitteln – wenn es denn eine gibt, und wenn man ihn sachlich und poetisch so ernst nimmt, wie er es verdient.6
Die folgenden Überlegungen verstehen sich daher als kritische Fußnoten zu Rückerts Ausführungen, wobei ›kritisch‹ hier im kantischen Sinne zu verstehen ist, nach dem sich der Kritik »alles unterwerfen muss«.7
2 Mandat und gerechter Krieg Die Forschung zu den rechtsgeschichtlichen, rechtsphilosophiegeschichtlichen oder rechtspolitischen Kontexten der kleistschen Erzählung ist bekanntlich kaum noch zu überblicken. Zu Recht ist insbesondere in den letzten 25 Jahren auf die naturrechtlichen Theoriebestände der frühen Neuzeit verwiesen worden, die im Kohlhaas auf komplexe Weise poetisch reflektiert werden.8 Weil aber seit der einflussreichen Studie von Hartmut Boockmann der in der oben zitierten Passage verwendete Terminus ›Mandat‹ auf Bestimmungen des mittelalterlichen Fehderechts bezogen wurde,9 erschienen die zugleich unverkennbaren Elemente frühneuzeitlichen Naturrechts in der gleichen Passage erläuterungsbedürftig. Nimmt man also das ›Mandat‹ als Begriff des mittelalterlichen Fehderechts,10 so entsteht eine rechtshistorische Gemengelage, die es zu interpretieren gilt.11 Erst in jüngster Zeit wurden die mit diesem Vermittlungsproblem
|| 6 Joachim Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …«. Kleists ›Kohlhaas‹ als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme. In: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 375–404, hier. S. 375. 7 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 31990, A XI. 8 Die ältere Forschung zusammenfassend und den Stand der Erkenntnisse bündelnd: Paul Michael Lützeler: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. In: P. M. L. (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Stuttgart 1981, S. 213–239; zu einem Überblick über die neuere Forschung vgl. Bodo Pieroth: Recht und Literatur. Von Friedrich Schiller bis Martin Walser. München 2015, S. 155–176 u. S. 305–308. 9 Hartmut Boockmann: Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des »Michael Kohlhaas«. In: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 84–108. 10 So – ohne jedes rechtshistorische Problembewusstsein – Bernd Hamacher: Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2003, S. 27f. (gar in Bezug auf den Terminus Mandat); wiederholt in ders.: 2.2. Michael Kohlhaas. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2013, S. 97–106, bes. S. 99f. 11 Dass diese hermeneutische Vermittlung von mittelalterlichem und neuzeitlichem Recht nicht gelingen kann, sondern zu einem rechtstheoretischen Irrlichtern führen muss, dokumentiert anschaulich Hans H. Hiebel: Das Rechtsbegehren des Michael Kohlhaas. Kleists und Kaf-
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verbundenen Schwierigkeiten dadurch gelöst, dass man – wenngleich ohne philologisches oder historisches Argument – diesen Bezug zum mittelalterlichen Fehderecht als insgesamt wenig hilfreich bewertete.12 Dabei lässt sich der Begriff des Mandats ohne größere Schwierigkeit in den entscheidenden, allen juristisch und politisch gebildeten Zeitgenossen bekannten naturrechtlichen Kompendien des 17. und 18. Jahrhunderts nachweisen, und zwar in der auch im Kohlhaas verwendeten Semantik; ein Bezug auf das mittelalterliche Fehderecht ist mithin überflüssig oder gar irreführend.13 Es heißt nämlich beispielsweise in Christian Wolffs Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts im elften Hauptstück des zweiten Teils, das sich mit den naturrechtlich verbindlichen »Contracten« befasst: Die Vollmacht (mandatum) nennt man den wohltätigen Contract, in welchem man einem andern etwas in unserm Nahmen zu thun aufträgt, und er solches zu verrichten ohne Entgelt übernimmt. Wer einem anderen etwas aufträgt, wird der Bevollmächtigende (mandans); der andere aber, dem es aufgetragen wird, der Bevollmächtigte (mandarius, procurator) genannt. Auftragen (committere) aber ist nichts anders, als sich den andern, etwas in seinem Nahmen zu thun, vollkommen verbindlich zu machen. […] Im Gegentheil aber verbindet sich der Bevollmächtigte dem, welcher ihm die Vollmacht ertheilet, was ihm aufgetragen worden, mit allem Fleiße auszurichten. Und da er nicht in seinem, sondern im Nahmen des andern, von dem er Vollmacht hat, handelt; folgends sein Recht also nicht nach seinem eigenen Willen, sondern nach dem Willen dessen, der ihm Vollmacht giebt, zu bestimmen ist; so darf er nichts thun, als wozu er Vollmacht hat; und der ihm
|| kas Rechtsvorstellungen. In: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1988, S. 282–311. spez. S. 285f., der mit Bezug auf Michael Bogdal (Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. München 1981) meint feststellen zu müssen, dass Kohlhaas’ »gerechter Krieg […] selbst nach positiven Recht gewissermaßen gerechtfertigt sei«. Wo eine positivrechtliche Legalisierung des gerechten Krieges hinführen kann, mag man sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht ausmalen. Von Cicero bis Kleist (und darüber hinaus) bleibt diese – stets prekäre – Legitimierung daher wenigstens naturrechtlich. Der germanistischen Kohlhaas-Forschung scheint diese Unterscheidung aber gleichgültig zu sein. 12 So vor allem Jochen Schmitt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, S. 207–244, spez. S. 220f., sowie Andreas Vosskuhle/Johannes Gerberding: Michael Kohlhaas und der Kampf ums Recht. In: Werner Frick (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers. Freiburg 2014, S. 231–256; ausdrücklich verworfen wird dieser rechtshistorische Kontext des Fehderechts schon bei Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 391 u. ö. 13 So auch Vosskuhle/Gerberding: Michael Kohlhaas (Anm. 12), S. 240f.; deren auf Schmitt fußende Anbindung an die Naturrechtstheorie John Lockes scheint mir allerdings ebenfalls problematisch.
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Vollmacht ertheilet, verbindet sich hinwiederum das gutzuheißen, was nach dem Inhalt der Vollmacht geschehen.14
Der Mandatsträger handelt nach dieser Definition nicht nach eigenem Willen, sondern vollständig nach dem Willen des Bevollmächtigenden, und dies gemäß naturrechtlicher Verbindlichkeit ohne jede Einschränkung. Zugleich hat der mandans die volle rechtliche Verantwortung für die in seinem Auftrag ergangenen Handlungen. Wenn Kohlhaas sich also öffentlich als mandarius bekennt, dann sieht er sich als gleichsam ›willenlosen‹ Vollstrecker eines ihn naturrechtlich verpflichtenden Auftraggebers, dessen Willen er uneingeschränkt auszuführen hat. Diese Bestimmung des ›Mandats‹ durch Christian Wolff ist im Übrigen keineswegs spektakulär oder ungewöhnlich für die bedeutenden und einflussreichen Naturrechtstraktate der Zeit; auch Hugo Grotius oder Samuel von Pufendorf handeln in ihren einschlägigen Kompendien dieses naturrechtliche Theorem in vergleichbarer Weise ab.15 Das Mandat wurde deshalb im Naturrecht abgehandelt, weil ihm – u. a. im Gesandtschaftsrecht oder im Rahmen der Entdeckungsreisen – überpositiver Status zukommen musste, wenn es denn irgend Verbindlichkeit haben sollte. Dieser naturrechtliche – also überpositive – Charakter des Mandats spielt auch für den Kohlhaas eine besondere Rolle.16 Wolff liefert jedoch nicht nur präzisere Begriffsbestimmungen als seine Vorläufer, er leistet zudem Differenzierungen, die auf das ›Kohlhaasische Mandat‹ Anwendung finden, d. h. zu weiteren Erläuterungen führen können. So heißt es im an die eben zitierte Passage anschließenden § 552: Eine besondere Vollmacht (mandatum speciale) nennt man, wenn einem ein nahmhaftes Geschäfte aufgetragen wird; als ein Haus, oder Pferde zu kaufen: Eine allgemeine Vollmacht (mandatum generale) aber, wenn einem gewisse Geschäfte überhaupt aufgetragen werden. Beydes geschieht entweder mit freyer Hand (mandatum cum libera), wann nur
|| 14 Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinnen alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigem Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 344f. (§ 551). 15 Hugo Grotius: De Iure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicvatur. Hg. von B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Aalen 1993, II, 11, § 12, und III, 22, § 4; Samuel von Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 4.1/2: De iure naturae et gentium. Hg von Wilhelm Schmidt-Biggemann. 2 Bde. Berlin 1998, III, 9. 1ff. 16 Insofern sind die naturrechtlichen leges fundamentales keineswegs nur politisch, als ständische Begrenzung der ansonsten absolutistischen Souveränitätslehre des älteren deutschen Naturrechts zu interpretieren; so aber Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt 1994, S. 235.
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überhaupt bestimmt wird, was der Bevollmächtigte thun soll, und das übrige seinem Gutbefinden überlassen; oder ohne freye Hand (mandatum sine libera), wenn nämlich alles, was der Bevollmächtigte thun soll, so genau bestimmt wird, dass nichts dem Gutbefinden des Bevollmächtigten überlassen wird. Man theilet die Vollmacht auch ein in eine offenbahre (mandatum manifestum), wenn dieselbe dem, mit welchem der Bevollmächtigte zu thun hat, kund gemacht wird; und in eine geheime (arcanum), welche der Bevollmächtigte bloß vor sich behält.17
Nimmt man diese Distinktionen als Grundlage auch für die spezifische Kontur des ›Kohlhaasischen Mandats‹, dann sieht sich der ehemalige Rosshändler als Bevollmächtigter eines mandatum speciale, sine libera et manifestum, einer Vollmacht also, die eine besondere ist, weil sie sich auf die Verfolgung, Ergreifung und Bestrafung des Junkers bezieht; sie ist darüber hinaus ohne Entscheidungsspielräume, weil es für diesen Auftrag keine freien Handlungsoptionen gibt, und sie ist offenbar, weil Kohlhaas sie in einem öffentlichen Schreiben – und damit auch dem von ihm verfolgten Junker – kund tut. Erkennbar ist zudem, dass Kohlhaas sich durch die Verwendung des Begriffs ›Mandat‹ als Vollstrecker des Willens einer anderen Person sieht, sich mithin als »Mittelsperson«18 in diesem Mandat definiert. Kleist gestaltet dieses ›Kohlhaasische Mandat‹ also nach Vorgaben der zeitgenössischen Naturrechtstheorie, die einem solchen »wohlthätigen Contract«, zu dem neben der Vollmacht auch Leihgaben oder Bürgschaften gerechnet werden, überpositive Geltung und Verbindlichkeit zuschreibt, weil derartige Vereinbarungen auch außerhalb bzw. unabhängig von positiver staatlicher Gesetzgebung wirksam sein sollten: Die Handlungen, welche eine vollkommene Verbindlichkeit hervorbringen, werden Contracte (contractus) genannt. Es sind also Verträge und Contracte nach dem Naturrecht nicht unterschieden.19
»Vollkommen« heißt die Verbindlichkeit dieser naturrechtlichen Verträge, weil sie uneingeschränkt wirkt, ohne jede Ausnahme und unter allen Bedingungen. Wie aber können sie dies leisten? Wer garantiert diese starke Verbindlichkeit naturrechtlicher Bestimmungen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie nicht kodifiziert sind, folglich ausschließlich im Gewissen des Einzelnen ihre Existenz haben? Was zwingt den Einzelnen außerhalb bzw. unabhängig von jeder Staatsgewalt, den Normen der natürlichen Gesetze zu folgen? || 17 Wolff: Natur- und Völkerrecht (Anm. 14), S. 345f. (§ 551). 18 Ebd., S. 347 (§ 553). 19 Ebd., S. 320 (§ 514).
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Kohlhaas scheint sich über solche Fragen – das zeigt die Sicherheit und Präzision seiner Sprache im Mandat – wenig Gedanken zu machen; im Gegenteil scheint er sie für sich schon beantwortet zu haben, und das dokumentiert die Selbstverständlichkeit naturrechtlicher Argumentation nicht nur im 16., sondern noch im frühen 19. Jahrhundert.20 Bevor die entscheidende Frage nach dem Geltungsgrund natürlicher Gesetze zu beantworten ist, muss noch ein Blick auf den zweiten naturrechtlichen Begriff des ›Kohlhaasischen Mandats‹ geworfen werden: auf den ›gerechten Krieg‹, in den sich Kohlhaas mit dem Junker verwickelt sieht. Auch hier erweist sich ein Blick in die zeitgenössische Naturrechtstheorie als hilfreich. Keineswegs nämlich galt jeder Krieg als rechtmäßig und damit gerecht. Die Hürden für einen bellum iustum wurden dabei hoch gelegt, wenngleich er durchaus immer noch ein zentrales Theorem der Natur- und Völkerrechtstheorien darstellt.21 Dabei wird zwischen einem Krieg zwischen Staaten oder Nationen und einem Krieg zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Staaten präzise unterschieden. Letzteres wird als Frage des Widerstands gegen die Staatsgewalt interpretiert und von nahezu allen Naturrechtlern – auch in den 1790er Jahren – verworfen. So heißt es bei dem Göttinger Staatsrechtler August Ludwig Schlözer im Abschnitt »Pflichten und Rechte der Untertanen«: Das ganze Volk, und jeder Einzelne, ist dem Herrscher schuldig, I. Gehorsam, selbst blinden Gehorsam: d. i. er muß immer voraussetzen, der Herrscher befele wirklich und zweckmäßig, falls er auch die Gründe davon nicht einsieht, oder gar vom Gegentheil überzeugt zu seyn glaubt. Ruhig befolge er alle Befele, ruhig unterwerfe er sich, wenn er gesündigt hat, der einmal von dem Herrscher festgesetzten Strafe, selbst TodesStrafe nicht ausgenommen. Erster Grundsatz im Stat, und höchste Pflicht des Bürgers, wenn er den Gräueln der Anarchie ausweichen will. Jeder vorsetzliche Ungehorsam gegen irgend einen Befel, der vom Herrscher und dessen Subalternen ergeht, ist HochVerrat.22
|| 20 Siehe hierzu Diethelm Klippel: Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Otto Dann u. Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hamburg 1995, S. 270–292; ders.: Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Naturrechts. Zur Einführung. In: Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung. Goldbach 1997, S. VII–XIII. 21 Vgl. hierzu Julia Fahl: Renaissance des bellum iustum? Krieg im Namen der Menschenrechte: natürliche Begründungsprobleme der humanitären Intervention. Hamburg 2014, S. 107–141, sowie Jessicas Jensen: Krieg um des Friedens willen. Zur Lehre vom gerechten Krieg. BadenBaden 2015, S. 235–248. 22 August Ludwig Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere. Göttingen 1793, S. 103f.
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Es wird sich noch zeigen, dass Kohlhaas gegen dieses Dogma des revolutionskritischen Staatsrechts, das durchaus nicht nur bei Kant zu finden ist,23 keineswegs verstoßen wird, weil er nämlich seinen gerechten Krieg nicht gegen einen Staat führt. Neben diesem möglichen, zeitgenössisch aber weitgehend verworfenen Recht eines kriegerischen Verhältnisses des Untertanen zu seiner Staatsmacht24 gibt es in diesem Theoriezusammenhang einen völkerrechtlich geregelten Krieg zwischen Staaten, der im Rahmen der so genannten Befreiungskriege wieder von der Doktrin des gerechten Krieges beeinflusst wird,25 sowie das im engeren Naturrecht geregelte kriegerische Verhältnis einzelner Menschen gegeneinander, das ausschließlich unter den Bedingungen des Naturzustandes abgehandelt werden kann – aber auch muss.26 So heißt es bei dem neben Christian Wolff einflussreichsten deutschsprachigen Naturrechtstheoretiker des 18. Jahrhunderts,27 Samuel von Pufendorf: Doch manchmal ist auch für den Menschen Kriegsführung gestattet und sogar notwendig. Das ist der Fall, wenn wir wegen der Bosheit anderer nicht ohne Anwendung von Gewalt unser Hab und Gut bewahren oder unser Recht durchsetzen können. […] Alle gerechten Gründe für einen Krieg lassen sich darauf zurückführen, dass wir uns selbst und unser Eigentum, vor einem widerrechtlichen Angriff anderer schützen und bewahren, ein Recht durchzusetzen, dessen Erfüllung uns von anderen verweigert wird oder eine Ersatzleistung für ein erlittenes Unrecht und eine Sicherheit gegen künftiges Unrecht durchzusetzen.28
|| 23 Vgl. hierzu: Kant, Gentz, Rehberg: Über Theorie und Praxis. Hg. von Dieter Henrich. Frankfurt a. M. 1967. 24 Zu den wenigen Ausnahmen vgl. die Textsammlung von Jörn Garber (Hg.): Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland 1789– 1810. Kronsberg i. Ts. 1974. 25 Das gilt natürlich insbesondere für die Schriften Ernst Moritz Arndts, der den Kampf gegen Napoleon als heiligen und gerechten Krieg bezeichnete; vgl. hierzu u. a. Albert Portmann-Tinguely: Krieg und Romantik. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern. Freiburg 1989. 26 Diese unerlässliche Unterscheidungen von Auseinandersetzungsformen und deren Konsequenzen für die Erzählung leisten nur Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 395f. und Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 173. 27 So auch die Einschätzung von Kersting: Gesellschaftsvertrag (Anm. 16), S. 225, sowie das Ergebnis der vielfältigen, das Feld der Philosophie überschreitenden Nachweise von Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. 28 Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übers. v. Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 202 (II. 16. § 1f.).
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Ein Krieg ist nach diesen – schon bei Cicero, Thomas von Aquin oder Hugo Grotius zu findenden29 – Festlegungen für den einzelnen Menschen und für den Staat nur dann gerecht, wenn er auf erlittenes Unrecht mit Gewalt reagiert. Entscheidend ist, dass diese Regelung ausschließlich für das Verhältnis zwischen Staaten, also im Völkerrecht, oder aber zwischen Einzelnen im Naturzustand gilt, einem Zustand extra societatem civilem. So heißt es bei dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Standardautor der Naturrechtslehre geltenden Gottfried Achenwall im Kapitel »Über die Verfolgung des Seinen im reinen Naturzustand«: Wer [im Naturzustand] verletzt wird, übt deshalb rechtmäßigen Zwang gegen den Verletzer aus. Der Zweck dieses Rechtes ist, dass wir nicht gestört werden und dass wir das Unsere, das gestört wird, erhalten; also, dass die Verletzung und der Schaden aufhören und der Verletzer davon ablässt, das Unsere zu stören. Aus dem Zweck dieses Rechts ergibt sich ein Recht auf alle Zwangsmittel, mit denen erreicht wird, dass der Verletzer von der Störung abläßt. […] Ein Krieg kann an sich sowohl rechtmäßig als auch unrechtmäßig sein. Eine erlittene Verletzung führt zum rechtmäßigen Krieg; denkt man die Verletzung hinweg, dann ist der Krieg unrechtmäßig. Daher ist der alleinige und einzige rechtmäßige Kriegsgrund die Verletzung. 30
Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum sich Kohlhaas im Zustand eines gerechten Krieges gegen den Junker von Tronka (und nicht etwa gegen den sächsischen bzw. späterhin brandenburgischen Staat31) wähnt und in seinem gewalttätigen Handeln legitimiert wähnen kann: Das tatsächlich begangene Unrecht an seinem bzw. die Verletzung seines Eigentums versetzt ihn in die Lage,32 diesem Unrecht mit Gewalt zu begegnen, um nach Pufendorf eine Ersatz-
|| 29 Siehe hierzu u. a. M. Tullius Cicero: De re publica / Vom Gemeinwesen. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. von Karl Büchner. Stuttgart 2004, S. 282f. (III. 23f.); Thomas von Aquin: Summa Theologica I–II, q. 40; Grotius: De Iure Belli ac Pacis (Anm. 15), Prol., §§ 25ff. 30 Gottfried Achenwall/Johann Stephan Pütter: Anfangsgründe des Naturrechts. (Elementa iuris naturae). Hg. u. übers. v. Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995, S. 149f. (§§ 462–463). 31 Weshalb jeder Versuch, die Figur der kleistschen Erzählung für die Legitimierung eines Widerstandsrechts zu verwenden, fehlschlagen muss; so bei Minika Frommel: Die Paradoxie vertraglicher Sicherung bürgerlicher Rechte. Kampf ums Recht und sinnlose Aktion. In: KleistJahrbuch 1988/89, S. 357–374, spez. S. 367ff: kritisch hierzu Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 173. 32 Vor dem Hintergrund der naturrechtlichen Garantie von Eigentum, die jene Tradition politischer Theorie begründete, auf die Kleist sich in seinem Kohlhaas bezieht, ist es weder »bemerkenswert«, dass Kohlhaas in seiner Argumentation gegenüber Luther einen »Konnex zwischen Ökonomie und Recht herstellt«, noch liegt ein evidenter Bezug auf Vertragstheorien vor, weil diese Naturrechtstheorien keineswegs durchgehend kontraktualistisch argumentierten; so
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leistung für erlittenes Unrecht zu erhalten. In diesem naturrechtlich legitimierten Krieg sind laut Achenwall alle Zwangsmittel erlaubt. Dies gilt u. a. für die Ermordung der Familien von Verwalter und Vogt seiner Burg sowie die Androhung der Todesstrafe für alle, die ihm den Junker nicht ausliefern. Diese naturrechtliche Fundierung des kohlhaasschen Handelns lässt sich bestätigen mit einem kurzen Blick auf jenen Naturrechtstheoretiker, bei dem Kleist Vorlesungen zu diesem Thema hörte: Ludwig Gottfried Madihn.33 In dessen Grundsätzen des Naturrechts heißt es nämlich: »Jeder Einzelne hat das Recht, seine Rechte mit Gewalt zu vertheidigen, Krieg zu führen, dem andern beyzustehn.«34 Dies gilt allerdings ausdrücklich nur im Naturzustand und unter Wahrung der im Folgenden noch zu betrachtenden Einschränkung, zuvor alle anderen Mittel zur Konfliktbehebung ausgeschöpft zu haben. Gleichwohl gilt auch für diesen Naturrechtler aus den 1790er Jahren, dass der Einzelne bei Verletzung der jedem Menschen zustehenden natürlichen Rechte einen gerechten Krieg zu führen berechtigt ist. Auch nach Madihn, wie nach Pufendorf oder Achenwall, handelt Kohlhaas also durchaus rechtens.
|| aber: Sigrid G. Köhler: Der Vertrag als ›Technik‹, ›Gefühl‹ und ›Idee‹. Kontraktualismus und postsouveräne Regierungskunst bei Michael Foucault, Heinrich von Kleist und Adam Müller. In: Arne de Winde/Sientje Maes/Bart Philipsen (Hg.): StaatsSachen / Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert. Heidelberg 2014, S. 323–341. 33 Zu Madihns Naturrecht und dessen ausnehmend kritischer Aufnahme durch das zeitgenössische Rezensionswesen vgl. Diethelm Klippel: Ideen zu einer Revision des Naturrechts. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 73–90, bes. S. 77; zu den Rezeptionsverbindungen zwischen Kleist und Madihn siehe Hans Matthias Wolff: Heinrich von Kleist als politischer Dichter. Berkeley/Los Angeles 1947, S. 423ff.; diese Thesen sind seither nicht wieder überprüft worden (sondern schlicht wiederholt, vgl. u. a. Lützeler: Michael Kohlhaas [Anm. 8], S. 231; Schmitt: Heinrich von Kleist [Anm. 12], S. 224; Hamacher: 2.2. Michael Kohlhaas [Anm. 10], S. 99); das entscheidende Problem der überzeugenden positivistischen These liegt in ihrer anschließenden Interpretation, in der zumeist zwischen naturrechtlichem Handeln und einem Agieren nach Widerstandsrecht keine hinreichenden Unterscheidungen getroffen wurden; präzise und kritisch dagegen Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 394ff. 34 Ludwig Gottfried Madihn: Grundsätze des Naturrechts. 2. Teil: Hypothetisches Naturrecht. Frankfurt/O. 1794, S. 11 (§ 138).
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3 Naturzustand und Gottesinstanz Allerdings sind noch zwei weitere Bedingungen zu berücksichtigen, die allererst dazu führen, dass Kohlhaas sich legitimerweise in einem naturzuständlichen bellum iustum gegenüber dem Junker von Tronka sieht. Dazu gehört zum einen die offenkundige Tatsache, dass er davon überzeugt ist, sich überhaupt in einem Naturzustand zu befinden. Das ist keineswegs selbstverständlich; denn zunächst begegnen wir dem Rosshändler als einem verlässlichen und getreuen Untertanen des Kurfürsten von Brandenburg. Schon im ersten Absatz der Erzählung wird uns der nachmalige Aufwiegler und »Mörder«35 als gottesfürchtiger, treuer und arbeitsamer Untertan vorgestellt. Dabei ist eine seiner Eigenschaften im vorliegenden Zusammenhang von konstitutiver Bedeutung: Kohlhaas wird als »rechtschaffen«, ja als einer der »rechtschaffensten« Menschen geschildert – neben der Tatsache, dass er zu einem der »entsetzlichsten Menschen« wurde.36 Nun ist auch dieser Terminus rechtswissenschaftlich präzise bestimmt; der eben zitierte Madihn definiert diesen Begriff nämlich wie folgt: Man sagt, Spinoza sei ein wirklicher Atheist, und doch ein rechtschaffener Mann gewesen. Beydes wird von andern geleugnet. Ist Spinoza wirklich ein Atheist gewesen, hat er also keinen Oberherrn und Gesetze angenommen, so kann er kein rechtschaffener Mann in dem Sinn gewesen seyn, wo man darunter einen Mann versteht, welcher die Pflicht oder Verbindlichkeit und zwar bloß darum erfüllt, weil sie ihm ein Oberherr vorgeschrieben hat.37
Lässt man den noch zu betrachtenden theologischen Aspekt vorerst außer Acht, so wird der »rechtschaffene Mann« dadurch definiert, dass er sich freiwillig in ein Herrschaftsgefüge einpasst, indem er Gesetze befolgt, weil sie vom zuständigen Herrscher erlassen wurden – unabhängig von ihrem Inhalt. Schon mit dem ersten Absatz weiß der Leser folglich, dass er mit Kohlhaas einem Untertanen begegnet, der den von Schlözer formulierten und oben zitierten Pflichten uneingeschränkt nachkommt. Mit dem Begriff der Rechtschaffenheit ging es der Naturrechtstheorie allerdings nicht um die kritische Darstellung von Untertanengeist, sondern vielmehr um die Bestimmung einer Haltung, die den status naturalis verlässt und aus bestimmten Gründen in den status civilis eintritt. An der Frage nach den Grün|| 35 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 1316. 36 Ebd., S. 134–5. 37 Ludwig Gottfried Madihn: Grundsätze des Naturrechts. Erster Theil: Absolutes Naturrecht. Frankfurt a. d. O. 1787, S. 7 (§ 6); Hervorhebung. von mir.
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den und der je spezifischen Notwendigkeit dieses Übertritts verliefen die Konfliktlinien der frühneuzeitlichen Naturrechtsphilosophie: Für Pufendorf oder Wolff ist es ein Akt der Klugheit, einer Gesellschaft von Menschen anzugehören; er lässt sich aber auch verweigern, so dass man aus freiem Willen auch im Naturzustand verbleiben kann.38 Für Kant dagegen ist der Eintritt in den status civilis und damit unter die Leitung einer staatlichen Zwangsgewalt von unbedingter praktischer Notwendigkeit und damit eine apriorische, ja die oberste Rechtspflicht des Menschen.39 Gleichwohl ist mit den Ausführungen Madihns zur Rechtschaffenheit keineswegs ein kritischer Bürger des Rechtsstaates zu verbinden, und Kohlhaas wird an keiner Stelle des Textes dieses mit Kants Aufklärungsschrift40 und den Ereignissen der französischen Revolution wirksame Ideal verkörpern oder einfordern.41 Vielmehr wird uns der Rosshändler als zufriedener und williger Untertan Gottes und seiner weltlichen Vertreter, als einer absolutistischen, mithin von Gott gewollten Herrschaft vorgeführt. Allerdings wird im Verlauf der Handlung, die den Rosshändler vom rechtschaffensten zum entsetzlichsten Menschen macht, diesem willigen Untertanen erkennbares Unrecht zugefügt.42 So ist zwar die Zahlung eines Binnenzolls an die Handlager des Junkers rechtmäßig, nicht aber die Einforderung eines »Paßscheines«43 sowie die Misshandlung seines Knechtes und seiner Pferde während ihres – ebenfalls unrechtmäßig – erzwungenen Aufenthaltes auf der Burg. Nicht
|| 38 Vgl. hierzu u. a. Hasso Hofmann: Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Reinhard Brandt (Hg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Berlin/New York 1982, S. 12 – 46; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg/München 1999 sowie Oliver Bach: Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. Zu den theonomen, rationalistischen und voluntaristischen Systemstellen des Denkens vom Naturzustand bei Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius. In: Aufklärung 25 (2013), S. 23–50. 39 Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlass: Moralphilosophie. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.; Bd. 19, R. 7961. 40 Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: Kants Begriff des öffentlichen Amtes oder »Staatsverwaltung« zwischen Aufklärung und Rechtstaatlichkeit. In: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 19 (2007), S. 141–169. 41 Falsch dazu Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 377. 42 Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass Kohlhaas tatsächlich Unrecht widerfährt, vgl. hierzu Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 376–382; Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 215ff.; sowie Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 168ff. 43 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 1523ff..
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nur sind die Pferde aufgrund der erlogenen Pflicht eines Passierscheins als Pfand auf der Burg zurückgelassen worden, auch ihre Behandlung, die zu einer schweren Verwahrlosung führt, ist unrechtens, so dass Kohlhaas durch den Junker doppeltes Unrecht widerfährt.44 Darüber hinaus kommt es nach seiner Klage bei den sächsischen Justizbehörden zu einer durch Korruption erwirkten »Rechtsverweigerung«45 – doch dazu später. Kohlhaas greift allerdings keinesfalls unmittelbar nach dem Gewahrwerden dieses doppelten Unrechts zur Gewalt, vielmehr durchläuft er eine Stufenleiter von Maßnahmen, die die naturrechtliche Gewalt des gerechten Krieges verhindern sollen, indem sie dem Verletzten doch noch zu seinem Recht verhelfen.46 Zu diesen, nur allmählich eskalierenden Schritten gehören folgende sieben Ansätze: Zunächst beschwert sich Kohlhaas beim Junker selbst und fordert Wiedergutmachung (1), was kläglich scheitert und mit einer ordinären Beleidigung durch den Junker endet; sodann befragt er seinen Knecht Herse, um die wahren Gründe für dessen und der Pferde erbärmlichen Zustand zu erfahren (2).47 Daraufhin legt er mit »Hülfe eines Rechtsgelehrten«48 eine offizielle Beschwerde bei der sächsischen Justiz ein, um sich sein Recht auf juristischem, d. h. positivrechtlichem Wege zu verschaffen und damit der »öffentlichen Gerechtigkeit«49 zum Durchbruch zu verhelfen (3). Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Kohlhaas nicht allein seine unmittelbar persönlichen Interessen aufruft, um seine Anklage zu begründen, sondern auch und vor allem die »öffentliche Gerechtigkeit«, d. h. die allgemeine Geltung eines Rechts, das auf das Gemeinwohl als seinen Zweck ausgerichtet ist.50 Dabei weiß Kleist seinen Protagonisten mit
|| 44 So auch Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 377f. 45 Dazu Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 378 und Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 168. 46 So auch Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 169, der allerdings nicht erkennt, dass diese Maßnahmen durch einen naturrechtlichen Katalog zur Verhinderung eines bellum iustum gefordert sind. 47 Zur juristischen Bedeutung dieser ›Vernehmung‹ vgl. Klaus Lüderssen: »Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend. Anmerkungen zu Kleists »Michael Kohlhaas«. In: K. L.: Produktive Spiegelungen III. Recht im künstlerischen Kontext. Berlin 2104, S. 87–105, spez. S. 90f. 48 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 3911. 49 Ebd., S. 3736. 50 Diese Verknüpfung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl gilt seit der Antike (vor allem seit Thomas von Aquin) als eines der Dogmen des Naturrechts, vgl. hierzu Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a. M. 1977, S. 105: »Aber das Gemeinwohl ist genau das, was wir mit
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der Tradition der Staatstheorie seit Cicero und Thomas von Aquin einig; noch bei seinem Naturrechtslehrer Madihn heißt es hierzu: [A]us der Erfüllung und Erhaltung des gemeinschaftlichen Endzwecks [einer Gesellschaft] entstehn Vortheile und Nutzen, welche sich auf alle Glieder mehr oder weniger mittelbare oder unmittelbare erstrecken, und daher das gemeine Beste, die Wohlfarth der Gesellschaft (commune bonum, salus societatis) genennet wird.51
Weil auch er neben seinen persönlichen Interessen dieses bonum commune verfolgt, ist Kohlhaas sich im Verein mit seinem Anwalt seiner Sache als einer juridisch gerechten vollkommen gewiss: Die Rechtssache war in der Tat klar. Der Umstand, dass die Pferde gesetzwidriger Weise festgehalten worden waren, warf ein entscheidendes Licht auf alles Übrige; und selbst wenn man hätte annehmen wollen, dass die Pferde durch einen bloßen Zufall erkrankt wären, so würde die Forderung des Roßkamms, sie ihm gesund wieder zuzustellen, noch gerecht gewesen sein.52
Die Antwort aber lässt auf sich warten. Erst nach einer langen Verzögerung der Bearbeitung dieser Anzeige erkundigt sich Kohlhaas bei seinem Rechtsbeistand nach dem Stand der Dinge und wird von diesem darüber informiert, dass die Klage gar nicht erst angenommen wurde, und zwar weil der Junker von Tronka von zwei Verwandten geschützt werde, die im Regierungsrat in Sachsen hochrangige Posten einnehmen. Kohlhaas’ Anwalt berichtet ihm folglich von einer rechtlichen Korruption, einer Rechtsbeugung im Lande Sachsen,53 gegen die man aber machtlos sei und die auch den Anwalt aus Gründen des Selbstschutzes dazu veranlasst, sein ›Mandat‹ für Kohlhaas niederzulegen. Kohlhaas und mit ihm der Leser der kleistschen Erzählung muss also erkennen: Nicht nur gibt es in diesem Staat keinerlei Rechtssicherheit, was ihn der Tyrannis annähert und allein am Rückzug des Anwalts aus der Sache erkennbar wird;54 auch verunmöglichen die familiären Bande des Adels eine Rechtsprechung, die als gerecht im Sinne der oben zitierten Beförderung des bonum commune bezeichnet werden könnte. Das Gemeinwohl wird von diesem Adel zugunsten eines parti-
|| dem ›Gerechten‹ meinen. Gesetze sind in dem Ausmaße gerecht, als sie dem Gemeinwohl dienen.« 51 Madihn: Grundsätze des Naturrechts. 2. Teil (Anm. 34), S. 14 (§ 141). 52 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 3918–24. 53 Vgl. hierzu auch Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 214; Vosskuhle/Gerberding: Michael Kohlhaas (Anm. 12), S. 241. 54 So auch Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 210;
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kularen Interesses, dem Schutz eines Familienmitgliedes vor staatlicher Strafverfolgung, zurückgestellt; an dieser ›Verrückung‹ von Gemein- und Eigenwohl sind die Gründe für die erfolgte Rechtsverweigerung zu erkennen. Die politische Führung Sachsens erweist sich in diesem Zusammenhang nicht nur als staatsrechtlich korrupt, sondern als politisch delegitimiert, weil ihre Vertreter das Partikularwohl vor das Gemeinwohl setzen und gar die Instrumente des Staates – hochrangige Hofangehörige – zur Beugung des Rechts und des Gemeinwohls im eigenen Interesse einzusetzen suchen. Gut 20 Jahre nach Kleists Erzählung wird Georg Büchner in seinem Hessischen Landboten eben diesen Vorwurf zum entscheidenden Argument für einen Revolutionsaufruf machen.55 Kleist verweigert sich dieser Konsequenz in seinem Kohlhaas ausdrücklich, denn Kohlhaas ist durchaus kein Revolutionär, sondern gerechter Krieger.56 Kohlhaas aber ist nach den ersten Misserfolgen bei der Verfolgung seines Rechts und der öffentlichen Gerechtigkeit noch keineswegs an der Schwelle zu einem bellum iustum. Vielmehr erfährt er Unterstützung von einem für seinen Wohnort Kohlhaasenbrück zuständigen Stadthauptmann, d. h. einem regionalen, aber hochrangigen Militär, der seine Beschwerde nunmehr dem Kurfürsten von Brandenburg zukommen lässt, weil Kohlhaas tatsächlich dessen Untertan ist (4). Auch dieser Versuch scheitert jedoch, weil der Kurfürst das kohlhaassche Anliegen seinem Kanzler übergibt, der mit den Tronkas verwandtschaftlich verbunden ist und der ebenfalls diesen familiären Partikularinteressen den Vorrang vor dem staatlichen Zweck der öffentlichen Gerechtigkeit gibt. Kohlhaas wird gar in einem Reskript, d. h. einem staatlichen Antwortschreiben, als »Querulant« bezeichnet,57 d. h. als pathologischer Fall, der die brandenburgische Staatskanzlei mit solcherart »Plackereien und Stänkereien verschonen«58
|| 55 Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen.« Recht und Gesetz nach Büchner. In: Patrick Fortmann/Martha B. Helfer (Hg.): Commitment and Compassion: Essays on Georg Büchner. Amsterdam 2012, pp. 21–45. 56 So auch Lützeler: Michael Kohlhaas (Anm. 8), S. 221; ob die Erzählung deshalb gleich als Plädoyer für revolutionsverhindernde Reformen zu lesen ist, wie dies Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 215ff. vorschlägt, mag man bezweifeln; gewiss ist allerdings, dass Kleist eine scharfe Auseinandersetzung mit den – letztlich theonomen – Vorstellungen des bellum iustum führt, die sein Protagonist zunächst selbstverständlich und nach der Auseinandersetzung mit Luther reflektiert in die Tat umsetzt; Kohlhaas ist ein Streiter im heiligen Krieg – und keineswegs ein pathologischer Fall. 57 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S.4534. 58 Ebd., S. 471f..
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möge – ein Urteil, das die Kohlhaas-Forschung bis in die Gegenwart teilt.59 Im äußersten Gegensatz zu seiner eigenen und der anfänglichen Position seines Anwalts, mit der sich beide auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit wähnten, wird Kohlhaas im Schreiben der für ihn zuständigen Herrschaftsinstanz, der er sich als »rechtschaffener Mensch« zeitlebens willig unterwarf, ein pathologisches Rechtsverständnis vorgeworfen, und damit eben jene Form einer ›Verrückung‹ von Gemein- und Einzelwohl, der er tatsächlich ausgesetzt ist; schlimmer noch: sein Rechtsbegehren wird als Ausdruck psychischer Erkrankung – der »Querulanz« – interpretiert, womit seinem Anliegen jeglicher Grund und damit jegliche Legitimität abgesprochen wird. Dabei muss die Zuweisung einer pathologia iuris, mit der die Forschung häufig leichtfertig verfährt,60 mit Nachdruck zurückgewiesen werden. Nur weil Kohlhaas eben nicht krank ist, kommt seiner Referenz auf das Naturrecht einige subjektive Legitimität zu, die Kleist in rechtspolitischer, nicht aber in psychologischer Hinsicht analysiert. Selbst der parteiische Erzähler hält Kohlhaas nicht für psychisch krank – und das ganz zu Recht, müsste man Kohlhaas doch sonst als Inaugurator eines religiös motivierten gerechten Krieges exkulpieren oder ihm wenigstens die Zurechnungsfähigkeit absprechen. Dafür aber gibt es in der Erzählung keinerlei Anhaltspunkte. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese zweite Rechtsverweigerung, die aus Brandenburg ergeht, nicht als schlichter Willkürakt erfolgt, sondern mit der Pathologisierung des Klägers eine – perfide – Begründung erhält, die allein deshalb den Konflikt weiter eskaliert, weil Kohlhaas sich zeitlebens dem brandenburgischen Herrscher »rechtschaffen« unterworfen hat; spätesten an dieser Stelle müsste Kohlhaas jene Haltung aufkündigen.61
|| 59 So schon bei Alfred Erich E. Hoche: Das Rechtsgefühl in Justiz und Politik. Berlin 1922, S. 99; Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt a. M. 1961, S. 93–102; Hubert Tellenbach: Die Aporien der wahnhaften Querulanz. Das Verfallen an die Pflicht zur Durchsetzung des Rechts in Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas«. In: Colloquia Germanica 7 (1973), S. 1–8; oder auch Blamberger: Heinrich von Kleist (Anm. 5), S. 426f. Die – falsche –These von Kohlhaas als paradigmatischem Querulanten hat sich bis ins Feuilleton verbreitet; vgl. Katharina Teutsch: Rechts-Qualitätsprüfer: Querulant. In: FAZ, 28. November 2012, S. N 3. 60 Vgl. u. a. Blamberger: Heinrich von Kleist (Anm. 5), S. 427, der von einem »pathologischen Fanaticismus« spricht, oder auch Lüderssen: Anmerkungen (Anm. 47), S. 103, der Kohlhaas einen »pathologischen Narzissmus« attestiert; die politische Analyse, die Kleist am poltittheologischen Vertreter des neuzeitlichen Naturrechts vornimmt, wird so psycho-pathologisierend verfehlt. 61 Siehe hierzu auch Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 220ff.
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Kohlhaas scheint nun zum Äußersten entschlossen, ist jedoch der Sache nach noch immer nicht auf dem Wege zu einem bellum iustum. Vielmehr verkauft er Haus und Hof und will Frau und Kinder außer Landes schicken, um entweder in einem letzten Versuch (5), dem Herrscher von Brandenburg seinen Fall persönlich vorzutragen, und zwar zu dem Zweck, doch noch sein Recht zu erhalten – unter der durch und durch ›rechtschaffenen‹ Annahme: »Der Herr selbst, ich weiß es, ist gerecht.«62 Oder Kohlhaas verließe bei abermaligem Scheitern seines Begehrens das Land Brandenburg, »weil ich in einem Lande, liebste Lisbeth, in welchem man mich in meinen Rechten nicht schützen will, nicht bleiben mag«.63 Gleichwohl scheint er auch für den Fall des erneuten Scheiterns nicht sofort das Land verlassen zu wollen, sondern schon zu diesem Zeitpunkt eine gewaltsame Lösung des Rechtskonfliktes anzustreben. Auf die bange Frage seiner Frau, ob sie tatsächlich mit den Kindern nach Schwerin zu ihrer Familie auswandern solle, antwortet der Pferdehändler: Allerdings […], und das, wenn es sein kann, gleich, damit ich in den Schritten, die ich für meine Sache tun will, durch keine Rücksichten gestört werde. – »O! ich versehe dich!« rief sie. »Du brauchst jetzt nichts mehr, als Waffen und Pferde; alles andere kann nehmen, wer will!«64
Es ist für eine Interpretation der naturrechtlichen und rechtspolitischen Argumentationsbewegungen des Textes von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass Kohlhaas sich schon vor der letzten Dramatisierung seiner Lage durch die Tötung seiner Frau dazu entschließt, sich im Falle eines abermaligen Scheiterns seines legalen und legitimen Anspruches sein Recht mit Gewalt zu erstreiten. Schon zu diesem Zeitpunkt des Konflikts steht Kohlhaas an der Schwelle zum Naturzustand. Sollte auch der brandenburgische Kurfürst selbst, den Kohlhaas als »gerecht« bezeichnet, sein Begehren zurückweisen – was der Rosskamm trotz seiner Verehrung für den Herrn durchaus als möglich vermutet –, dann sähe er sich »aus der Gemeinschaft verstoßen«, d. h. in einem naturzuständlichen Verhältnis zu der ihn umgebenden Gesellschaft, gegen die er – wie oben gesehen – jedes Mittel einsetzen darf, um sich und sein Eigentum zu schützen. Darauf ist zurückzukommen. Zunächst ist festzuhalten, dass die am Rande der naturzuständlichen Gewaltanwendung stehende Lage des Rosshändlers durch einen »Einfall« seiner Frau entschärft wird, weil sie vorschlägt, die vom Kanzler abgelehnte Bittschrift || 62 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 5328. 63 Ebd., S. 5317–19. 64 Ebd., S. 555–7.
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dem Kurfürsten selber zu überreichen (6). Sie begründet ihre guten Chancen auf eine erfolgreiche Übergabe der Bittschrift damit, dass sie den Kastellan des kurfürstlichen Schlosses aus Jugendtagen kenne und dass der ihr Zugang zum Kurfürsten verschaffen werde. Kohlhaas – von der Klugheit und religiösen Prinzipienfestigkeit seiner Frau aus Erfahrung überzeugt65 – stimmt diesem Vorschlag zu, gerade um den sich abzeichnenden gewaltsamen Konflikt noch einmal zu verhindern. Der in seinem Recht verletzte Kohlhaas handelt hier gleichsam lege artis der naturrechtlichen Vorgaben zur prudentiellen Verhinderung und – im Falle des Scheiterns dieser Versuche – des legitimes Ausrufens eines gerechten Krieges. So heißt es bei Samuel von Pufendorf im Zusammenhang der oben zitierten Passage zum gerechten Krieg: Aber man darf nicht ohne weiteres zu den Waffen greifen, wenn man sich verletzt glaubt, insbesondere nicht, so lange noch ein Zweifel hinsichtlich des Rechts oder dessen, was geschehen ist, besteht. Vielmehr muß man versuchen, die Sache auf friedlichem Wege beizulegen, z. B. durch Vermittlung eines Gespräches zwischen den Parteien, durch Anrufung von Schiedsrichtern oder auch durchs Los. Insbesondere derjenige, der eine Forderung erhebt, muß diese Wege erproben, zumal da alles für die Aufrechterhaltung eines Besitzes spricht, der auf seinem gerechten Grund beruht.66
Dieses Postulat, vor Beginn tatsächlicher Kampfhandlungen in einem gerechten Kriege alle anderen Mittel zu einer friedlichen Lösung des bereits bestehenden Konfliktes, d. h. eines schon erfolgten Unrechts, auszuschöpfen, gehört zu den Dogmata der Naturrechtstheorien des späten 18. Jahrhunderts.67 So heißt es bei Madihn im Zusammenhang »der allgemeinen natürlichen Rechte und Pflichten in Ansehung der Erhaltung, Vertheidigung und Verfolgung der Rechte«, man sei auch im Konfliktfall zunächst gehalten, »Gütliche Mittel« einzusetzen: || 65 Dabei ist er keineswegs blind für die von ihr angekündigten erotischen Mittel, die sie dem ehemaligen Verehrer gegenüber einzusetzen bereit ist (so aber Blamberger: Michael Kohlhaas [Anm. 5], S. 423, der Kohlhaas in diesem Zusammenhang als »dämlich« bezeichnet); vielmehr weiß er als gläubiger Mensch einer gläubigen Ehefrau um deren bedingungslose Treue. Blambergers Versuch, die Figur zum tumben deutschen Michel und damit für intellektuell minderbemittelt zu erklären, verkennt, wie die Pathologisierungsstrategien der Forschung, die Schärfe (und Aktualität) der kleistschen Analyse des religiösen Fanatismus; zur theoretischen und praktischen Aktualität politischer Theologie und religiöser Politik vgl. Ahmet Cavuldak: Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie. Bielefeld 2015. 66 Pufendorf: Über die Pflicht (Anm. 28), S. 202, (II.16.§ 2.) 67 Siehe u. a. auch Wolff: Natur- und Völkerrecht (Anm. 14), S. 558ff. (§ 768ff.), sowie Achenwall/Pütter: Anfangsgründe (Anm. 30), S. 169f. (§ 523ff.)
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Zu diesen gelinden und gütlichen Mitteln gehört 1) die An- und Ausführung unserer Rechte. Wir haben also die natürliche Verbindlichkeit, falls noch Zeit dazu vorhanden, den Andern durch Vorstellung und Ausführung von unserm Rechte und von seinem Unrechte zu überzeugen, von beyden Beweis anzubringen, und ihn dergestallt, auch durch Warnung und Drohung, zu der Erfüllung seiner Pflicht zu bewegen. […] 2) Die Protestation und sep. Drohung und Warnung in so fern etwa durch mein Stillschweigen, meine Einwilligung mögte gefolgert werden können. 3) Die gütliche Uebereinkunft, Vereinbarung, Transaction, wenn beyde Theile um Streitigkeiten beyzulegen wechselseitig von ihren Rechten etwas aufopfern, und sich zu gewissen Leistungen verbinden […] 4) Schiedsrichterliche Entscheidungen, weil auch diese ein Mittel ist, die Streitigkeiten beyzulegen […].68
Es ist unverkennbar, dass sich Kohlhaas um alle hier vorgeschlagenen Vermittlungsversuche bemüht hat – mit Ausnahme des Loses. Kleist inszeniert diese Bemühungen seines Protagonisten zur Verhinderung des gewaltsamen Konfliktes mit einiger Akribie – was dessen nachmalige Berufung auf das Naturrecht des gerechten Krieges nur umso legitimer erscheinen lässt. Noch nach dem Tode seiner Frau, die bei dem Versuch, dem Kurfürsten von Brandenburg das Bittgesuch ihres Mannes zu übergeben, von einer Wache so schwer verletzt wird, dass sie diesen Verletzungen erliegt, »übernimmt er [zwar] das Geschäft der Rache«,69 doch das bedeutet erstens keineswegs, dass Kohlhaas sich gleichsam fanatisch einem unbedingten Vergeltungsgefühl überließe, weil Rache vielmehr ebenfalls ein – wenn auch umstrittener – Begriff der zeitgenössischen Naturrechtssysteme ist,70 der ein naturrechtlich legitimes Begehren bezeichnet – ohne die bestehende Rechtsordnung in Zweifel zu ziehen.71 Und zweitens impliziert dieser Entschluss zum Geschäft der Rache, d. h. zur eigenmächtigen Herstellung der juridischen Gerechtigkeit, nicht, dass Kohlhaas umgehend zur Burg des Junkers ritte, sondern dass er zunächst einen »Rechtsschluss« verfasst (7), in dem er unter Berufung auf eine ihm »angebohrene Macht«72 – mithin auf das natürliche Recht der Wiedererstattung seines Eigentums – den Junker auffordert, seine Rappen innerhalb von drei Tagen nach || 68 Madihn: Grundsätze des Naturrechts. Erster Theil (Anm. 37), S. 165f. (§ 122). 69 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 6119f.. 70 Der Begriff der »Rache« steht also keineswegs für das außerrechtliche Ansinnen eines querulantischen Rechtsfanatikers, sondern firmiert als Bestimmung des zeitgenössischen Naturrechts; immerhin gilt sie dem Hallenser Naturrechtslehrer Johann Jakob Schnauß als »instinctum divinum«, während sie allerdings von Christian Wolff als unerlaubtes principium talionis verworfen wird, vgl. hierzu Martin Reulecke: Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2007, S. 80ff. 71 Vgl. hierzu auch Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Halle 1767, S. 179f. (§ 89), der von einem »Recht […] der Rache« im Naturzustand spricht. 72 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 6120–22.
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Kohlhaasenbrück zurückzubringen und selbsttätig die Tiere wieder in den ursprünglich gesunden Zustand zu füttern. Unverkennbar ist die Forderung, der Adelige selber müsse die Pferde gesund füttern, als Provokation zu verstehen; dennoch sieht sich Kohlhaas nach einem Naturrecht, das ihm alle Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen im Falle des erlittenen Unrechts zugesteht, vollauf im Recht. Vor allem hält er sich erneut an die Postulate zur Vermeidung des tatsächlichen Ausbruchs von Gewalt, indem er einen letzten, wenn auch wenig realistischen Vermittlungsvorschlag unterbreitet. Kohlhaas unternimmt folglich insgesamt sieben Versuche, den Ausbruch eines gerechten Krieges gegen den Junker, zu dessen Aufnahme er wegen dessen Unrecht naturrechtlich legitimiert wäre, zu verhindern. Dabei gehören einige der Versuche, wie die Eingabe mit seinem Anwalt und die Bittschrift an den Kurfürsten von Brandenburg, in das Feld des positiven, d. h. staatlichen Rechts; andere, wie der Versuch eines Gesprächs mit dem Junker und der »Rechtsschluss« kurz vor Ausbruch des Krieges, in das Feld des Naturrechts. Kohlhaas hält sich also an positives und natürliches Recht,73 weil er als rechtschaffener Mann nicht nur an der Gerechtigkeit der weltlichen Herrschaft grundsätzlich keine Zweifel hegt, sondern weil er als gläubiger Mensch auch an der Geltung und Verbindlichkeit überpositiven Rechts festhält und festhalten muss. Und eben hier lässt sich die entscheidende zweite Bedingung dafür erkennen, dass sich Kohlhaas legitimerweise im Naturzustand mit dem Rest der Gesellschaft wähnen kann: sein unerschütterlicher Glaube an einen gerechten Gott. Noch in seinem zweiten und dritten Mandat, in denen er nicht nur die Bevölkerung Brandenburgs und Sachsens, sondern »jeden guten Christen« dazu aufruft, seine Sache gegen den Junker Tronka als den allgemeinen Feind aller Christen zu unterstützen, hält er fest, dass er zwar »Reichs- und Weltenfrei« sei, dennoch »Gott allein unterworfen« bleibe.74 Im Übrigen bringt diese Haltung unter naturrechtlichem Gesichtspunkt keinerlei Veränderung bzw. Verschärfung seiner Position zum Ausdruck, sondern verfolgt nur konsequent seinen Status als Naturständler, weil Kohlhaas noch immer primär auf die gerechte Strafe des Junkers von Tronka abzielt, also sein naturrechtlich legitimiertes Telos verfolgt, dafür aber ab seinem vierten Mandat bereit ist, eine »bessere Ordnung der Dinge«75 herbeizuführen, d. h. eine gegenüber den bestehenden Staaten Sachsen und Brandenburg eigenständige Vergemeinschaftung zu er-
|| 73 Anders dazu Joachim Bohnert: Positivität des Rechts und Konflikt bei Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 39–55. 74 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S.6736–686. 75 Ebd., S. 7329f..
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richten. Ob diese Gemeinschaft allerdings im Naturzustand verbleibt oder aber einen eigenen Staat ausbildet, ob sie durch Widerstand gegen die alten Staaten oder durch Inauguration eines neuen Staates erfolgt, wird von Kohlhaas nicht ausgeführt. Insofern sind alle Versuche, die Formel von einer »besseren Ordnung der Dinge«, die mehr nach einem neuen Jerusalem als nach einem bürgerlichen Verfassungsstaat klingt, mit revolutionärem Umsturz zu verbinden, aus der Luft gegriffen,76 weil ein revolutionärer Umsturz gemäß Widerstandsrecht nicht eine Willkürherrschaft durch eine andere ersetzt – schon gar nicht zum Behuf der Durchsetzung eines naturrechtlich gerechten Krieges zwischen Einzelpersonen –, sondern einen Systemwechsel erwirken will und muss.77 Entscheidend ist einzig, dass seine durch das Unrecht erpresste Existenz im Naturstand ihm diese Handlungsweise uneingeschränkt erlaubt, weil im status naturalis alle Mittel erlaubt sind und weil Kohlhaas immer wieder deutlich macht, dass das einzige und eigentliche Ziel seines Handelns die gerechte Bestrafung des Junkers von Tronka ist, der gegenüber alle anderen Handlungen bloße Mittel bleiben. Um dieses religiös legitimierte Ziel zu erreichen, ist er bereit, die »Ordnung der Dinge« umzustürzen. Kohlhaas ist kein politischer und sozialer Revolutionär, der die politischen Verhältnisse verändern will, er ist ein Soldat in einem gerechten Kriege, der zur Durchsetzung der öffentlichen Gerechtigkeit so weit geht und gehen muss, die Ordnung zu stürzen. Die oben zitierte religiöse Grundlegung seines natürlichen Rechts auf einen gerechten Krieg gegen den Verletzer seines Eigentums, Kohlhaas’ Berufung auf Gottes Willen, entspricht dabei den zentralen Prämissen des neuzeitlichen Naturrechts: Denn ohne Gott kein überpositives Recht, das tatsächlich Verbindlichkeit enthielte; ja, ohne Naturrecht – so zumindest einige Theoretiker78 – kein Gott. So heißt es bei Samuel von Pufendorf:
|| 76 So aber Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 221. 77 Siehe hierzu Florian Grosser: Theorien der Revolution zur Einführung. Hamburg 2013, S. 33–63. 78 So gibt es bei Francisco Suárez die Variante eines naturrechtlichen Gottesbeweises, vgl. hierzu Gideon Stiening: Urheber oder Gesetzgeber? Zur Funktion der Gottesinstanz im Naturrecht des Francisco Suárez (DL II. 6.). In: Oliver Bach/Norbert Brieskorn/Gideon Stiening (Hg.): Lex naturalis est lex Dei. Das Naturrechtsdenken des Francisco Suárez. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017 [i. D.]
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Damit das Gesetz seine Wirkung bei denjenigen, denen es gegeben worden ist, ausüben kann, ist Kenntnis des Gesetzgebers und von Gesetz selber erforderlich. […] Den Gesetzgeber zu kennen, ist höchst einfach. Denn das Licht der Vernunft zeigt, dass niemand anderes der Urheber des Naturrechts ist als der Schöpfer des Universums.79 Wenn auch der Nutzen dieser Gebote offensichtlich ist, so ist doch für ihre Geltung als Gesetz notwendige Voraussetzung, dass es einen Gott gibt, der in seiner Vorsehung alles lenkt, und der den Menschen die Verpflichtung auferlegt hat, die Gebote der Vernunft wie Gesetze, die von ihm kraft des angeborenen Lichts der Vernunft verkündet worden sind, zu befolgen.80
Die reine Rationalität von natürlichen Gesetzen und damit ihre objektive Geltung, hier als Nützlichkeit gefasst, ergibt sich zwar aus der vernünftigen Natur des Menschen; diese reicht aber nicht zu, ihnen eine wirksame Verpflichtungskraft zu verschaffen.81 Es bedarf einer realen Hierarchie zwischen Herrscher und Untertan sowie zwischen der in ihr und durch sie realisierten Willensäußerung des Herrschers. Es gibt also eine zwar asymmetrische, aber doch notwendige Interdependenz von Naturrecht und Gottesinstanz: ohne Gott kein überpositives Naturrecht und ohne Naturrecht kein normativ wirksamer Gott. So heißt es auch bei Ludwig Gottfried Madihn: »Naturgesetze sind göttlich […], d. h. dass ohne diesen göttlichen Willen anzunehmen, auch keine Naturgesetze angenommen werden können.«82 Nur aus dieser engen Verbindung von lex naturalis und voluntas dei ergibt sich nach Madihn der erste und allgemeine Grundsatz des Naturrechts: Aus wahrem Gehorsam gegen Gott als höchstem und natürlichem Oberherrn muß der Mensch dem nothwendigen Willen desselben, welcher nach der Natur der Menschen gesetzt werden muß, und welcher aus der Betrachtung desselben in Verbindung mit den andern Creaturen erkennt werden kann, gemäs leben.83
Kohlhaas’ Glaube an einen wirksamen Willen Gottes ist also das fundamentum inconcussum seines politischen Handelns; Gott allein kann die Verbindlichkeit
|| 79 Pufendorf: Über die Pflicht (Anm. 28), S. 40 (I.2. § 6). 80 Ebd., S. 48 (I.3. § 10). 81 Siehe hierzu u. a. Dieter Hüning: Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie. In: Oliver-Pierre Rudolph/JeanFrançois Goubet (Hg.): Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte. Tübingen 2004, S. 143–167, sowie Bach: Natur als juridisches Argument (Anm. 38). 82 Madihn: Grundsätze des Naturrechts. Erster Theil (Anm. 37), S. 27 (§ 22). 83 Ebd., S. 35 (§ 29).
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natürlicher Gesetze garantieren, an deren Bestimmungen sich der Rosskamm penibel hält. Damit ist auch erkennbar, wer der Auftraggeber der Mandate ist, die Kohlhaas als Beauftragter formuliert: Es ist niemand anderes als Gott. Umgekehrt aber gilt: Weil die natürlichen Gesetze letztlich göttliche Gesetze sind, ist ein Verstoß gegen sie zugleich ein Verstoß gegen den Willen Gottes und damit Sünde.84 Der Sünder aber ist in der Tat von allen guten Christen in seinem Tun zu behindern, so dass Kohlhaas’ gerechter Krieg gegen den Junker Tronka nach naturrechtlichen Festlegungen zugleich ein heiliger Krieg ist. Mag auch der von der Forschung eher unglücklich als unzuverlässig bezeichnete,85 der Sache nach als parteiisch zu beurteilende Erzähler diese religiöse Verschärfung der Argumente Kohlhaasens in seinem zweiten und dritten Mandat als »Schwärmerei« distanzieren; das Gros der noch im frühen 19. Jahrhundert wirksamen neuzeitlichen Naturrechtstradition liefert für diese Positionierung hinreichende Begründungen.86 Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, dass Kohlhaas zu jenem entsetzlichsten Menschen wird, nicht obwohl, sondern weil er jener gottesfürchtige und rechtschaffene Mensch ist.87 Die naturrechtliche Tradition, innerhalb derer Kohlhaas agiert, ist daher gerade nicht die von der Forschung häufig aufgerufene, säkulare Linie von Hob-
|| 84 Schon Paulus definiert die Sünde präzise als Übertretung der bzw. Verstoß gegen die Gebote Gottes; vgl. Röm 1, 24–32. 85 Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 237; aufgenommen von Hamacher: 2.2. Michael Kohlhaas (Anm. 10), S. 102. 86 Unbestreitbar gibt es seit Christian Wolffs berühmter Rede über die Chinesen (vgl. Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers., eingel. und hg. von Michael Albrecht. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 1985) intensive Debatten über die Frage, ob auch Atheisten ein Naturrecht anerkennen; vgl. hierzu Dieter Hüning: Das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden«. Naturrecht und Naturzustand in Georg Friedrich Meiers Recht der Natur. In: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Berlin/Boston 2015, S. 259–283. Erkennbar wird aber spätestens mit Kants Kritik am neuzeitlichen Naturrecht, dass es eine Verbindlichkeit für naturrechtliche Normen nur unter der Annahme einer diese garantierenden Gottesinstanz geben kann; vgl. hierzu demnächst Gideon Stiening: Jus naturale belli. Streit- und Kriegstheorie im Naturrecht Feyerabend. In: Bernd Dörflinger/Dieter Hüning (Hg.): Das Naturrecht-Feyerabend. Hildesheim 2017. Kohlhaas’ Gottesglaube ist folglich für seine naturrechtliche Argumentation unerlässlich. 87 Insofern ist das Verhältnis von ›rechtschaffen‹ und ›entsetzlich‹ nach Kleist für den konsequenten Vertreter des Naturrechts keineswegs eine Paradoxie, sondern höchstens für den vom Erzähler kultivierten gesunden Menschenverstand; vgl. hierzu aber Regina Ogorek: Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifung des Michael Kohlhaas. In: KleistJahrbuch 1988/89, S. 96–125.
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bes und Rousseau bis Kant,88 weil es in deren Systematik zwar einen bellum omnium contra omnes im Naturzustand geben, diesem aber keinesfalls der Status eines gerechten Krieges zugeschrieben werden kann. So heißt es bei Kant: »Wir werden aber künftig sehen, dass alles Verfahren im statu naturali, folglich auch aller Krieg, Unrecht ist.«89 Vielmehr liegt dem kohlhaasschen Handeln jene Naturrechtskonzeption zugrunde, die sich von Pufendorf und Thomasius über Wolff, Darius, Achenwall bis ins späte 18. Jahrhundert durchsetzt – auch gegen die von Kant ausgehende Kritik: eine letztlich theonome Variante des Naturrechts.90 Dabei unterscheidet sich diese Tradition nicht nur von der durch Hobbes, Rousseau und Kant markierten, sondern auch und in erheblichem Maße von der in der KohlhaasForschung der letzten Jahre häufig aufgerufenen Variante John Lockes.91 Locke schreibt zwar dem Willen Gottes ebenfalls eine entscheidende Funktion für die Geltung und Verbindlichkeit natürlicher Gesetze zu,92 bestimmt den Krieg aber nicht als mögliche und gar naturrechtlich geregelte Handlungsoption innerhalb des Naturzustands. Im Gegenteil ist für Locke der Zustand des Krieges eine Abweichung von der Natur, weil diese vom Schöpfer als an sich friedlich erschaffen wurde.93 Kohlhaas aber ist der festen Überzeugung, innerhalb des Naturzustandes nach dessen vorgegebenen und durch Gott verbindlich gemachten Gesetzen zu agieren.94 Es sind daher die Pufendorfs, die Achenwalls und die Madihns, es
|| 88 Vgl. hierzu Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 (1982), S. 161–189. 89 Zitiert nach: Heinrich P. Deffosse/Norbert Hinske/Gianluca Sadun Bordini (Hg.): Kant Index. Bd. 30: Stellenindex und Konkordanz zum »Naturrecht Feyerabend«. 2 Bde. StuttgartBad Cannstatt 2010, Bd. 2, S. 6918f.. 90 Siehe hierzu auch Diethelm Klippel: Kant im Kontext. Der naturrechtliche Diskurs um 1800. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, S. 77–97; Kersting: Gesellschaftsvertrag (Anm. 16), S. 217–245; Hartung: Die Naturrechtsdebatte (Anm. 38), S. 207–227. 91 Siehe hierzu vor allem Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 219ff., Vosskuhle/Gerberding: Michael Kohlhaas (Anm. 12), S. 240ff., und Pieroth: Literatur und Recht (Anm. 8), S. 172ff. 92 Vgl. hierzu u. a. Johannes Müller: »Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlichen weisen Schöpfers«. Zur religiösen Fundierung der Staatsphilosophie John Lockes. In: Jahrbuch Politisches Denken (2011), S. 207–234. 93 Siehe hierzu Kersting: Gesellschaftsvertrag (Anm. 16), S. 117, sowie den exzellenten Beitrag vom Bernd Ludwig: »… one who has put himself into a state of war with me« – Natur und Kriegszustand im Second Treatise (Kap. 2 + 3). In: Michaela Rehm/Bernd Ludwig (Hg.): John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Berlin 2012, S. 65–77. 94 Insofern ist eine der jüngeren Forschung zu entnehmende These (so Davide Giuriato: »Der Wolf der Wüste«. »Michael Kohlhaas« und die Rettung des Lebens. In: Nicolas Pethes [Hg.]:
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sind mithin die Varianten des von Luther und Melanchthon ausgehenden protestantischen Naturrechts, die jene politische Legitimationstheorie liefern, nach der sich Kohlhaas in seinem gerechten Krieg gegen den Junker wie selbstverständlich richtet und die Kleist einer ebenso subtilen wie grundsätzlichen Kritik unterzieht.95 Weil diese theonome Tradition des Naturrechts aber von Luther ausgeht,96 muss Kohlhaas, der sich zu dessen Konfession ausdrücklich bekennt, von den kritischen Einwänden des Theologen zutiefst in seiner Überzeugung und damit seinem Handeln irritiert werden.
4 »Aus der Gemeinschaft des Staates verstoßen« – das Gespräch mit Luther Seit Augustinus und Thomas von Aquin gilt die gesetzliche Ordnung der Welt – und das bedeutet die Ordnung der Natur und der Gesellschaft – als Teil der Schöpfungsleistung Gottes. Zwar wurde bis ins 18. und 19. Jahrhundert intensiv über die Frage gestritten, ob das weltliche Recht Teil der ursprünglichen Schöpfung oder aber allererst Ordnungsleistung für den sündigen Menschen dar-
|| Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist. Göttingen 2011, S. 290– 306), der kohlhaassche Rechtsfall sei mit dem von Carl Schmitt und Giorgio Agamben entwickelten Begriff des Ausnahmezustands zu interpretieren, nur als falsch zu bezeichnen. Denn Kohlhaas befindet sich nicht »außerhalb des Rechts«, schon gar nicht als ein diktatorischer »Souverän«, der zugleich innerhalb und außerhalb des Rechts stünde (wie bei Schmitt), sondern er ist als ein rechtlich Verletzter im Naturzustand (steht also nur – und dabei erzwungenermaßen, keineswegs, wie der Souverän, freiwillig – außerhalb des positiven Rechts); dieser folgt nicht der »Logik der Ausnahme«, sondern klar bestimmten natürlichen Gesetzen, die sogar durch verbindliche Klugheitsregeln zu ergänzen sind. 95 Insofern ist es irreführend, die rechtliche Problematik von einer religiösen Schicht zu »isolieren«, wie dies Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 392ff., versucht. 96 Anders als die germanistische Kohlhaas-Forschung annimmt (vgl. u. a. Hamacher: 2.2. Michael Kohlhaas [Anm. 10], S. 99, der ausführt, dass »Luther […] das Naturrechtsdenken völlig fremd war«), gibt es ein frühes protestantisches Naturrecht, das u. a. Melanchthon (vgl. hier u. a. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 29–55), aber auch Luther (siehe hierzu u. a. ErnstWolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 22006, S. 412ff.) in ihren Rechtstheologien differenziert ausführten.
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stellt.97 Dass aber die Einhaltung göttlicher und menschlicher, positiver und überpositiver Gesetze Moment eines gottgefälligen Lebens ist, wurde kaum je bestritten. Diese unmittelbare Verbindung von Gottgefälligkeit und Gesetzestreue wird auch in Kleists Erzählung mehrfach und für den Handlungsverlauf konstitutiv gestaltet, und zwar als besondere Form der Legitimation der Handlungen des Protagonisten. Schon nach der Befragung seines Knechts sowie dem Entschluss, sich mit Hilfe eines Anwalts sein Recht am Dresdener Hof zu verschaffen, um damit der »öffentlichen Gerechtigkeit« genüge zu tun, wird Kohlhaas von seiner Frau »aus voller Seele« mit der Aussage bestärkt, »dass es ein Werk Gottes wäre, Unordnungen, gleich diesen, Einhalt zu tun«.98 Auch wenn Lisbeth sich später anders entscheidet und den »Kampf um das Recht« zugunsten eines nicht mehr intakten, aber überhaupt möglichen Familienlebens aufzugeben bereit ist; an dieser Stelle gibt sie dem Rechtsbegehren ihres Mannes die größtmögliche Legitimation: Ordnung zu schaffen im Feld der weltlichen Gesetze bedeutet Arbeit am Werke Gottes. Noch nach dem beleidigenden Reskript aus Berlin, das ihn zum Querulanten abstempelt, weiß Kohlhaas wenigstens um seine gottgefällige, weil auf der Seite der Ordnung des Rechts stehende Haltung: Er hörte aber in kurzer Zeit schon, durch einen Bekannten, der die Straße gereiset war, daß die Gäule auf der Tronkenburg, nach wie vor, den übrigen Pferden des Landjunkers gleich, auf dem Felde gebraucht würden; und mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.99
Es ist die Ordnung der Schöpfung seines Gottes, die in der Brust des Protagonisten wirksam und deren naturrechtlichen Teil er umzusetzen entschlossen ist. Kohlhaas ist mit sich zufrieden, weil er der ungerechten Unordnung der Welt seine gottgefällige innere Ordnung entgegenhalten und aus dieser Überzeugung sein dem Willen Gottes entsprechendes Werk in Gang setzen kann. Diese innere Ordnung ist aber nichts anders als das Gewissen, das seit alters her,100 vor allem || 97 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Politische Theologie als Lösung und Problem. Francisco Suárez’ De legibus ac de legislatore als Krisenphänomen und Befriedungsangebot. In: Wilhelm Schmidt-Biggemann/Friedrich Vollhardt (Hg.): Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017 [i. D.]. 98 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 391–5. 99 Ebd., S. 4712–19. 100 Zum Gewissen bei Thomas vgl. u. a. Wolfgang Kluxen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Hamburg 31998, S. 34ff.
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aber in den neuzeitlichen Naturrechtstheorien, als Ort der Geltung überpositiven Rechts gilt.101 Kleist gibt dieser Instanz, die auch als forum internum bzw. forum conscientiae bezeichnet wurde, eine der Zeit entsprechende emotionalistische Note, für die er u. a. bei seinem Naturrechtslehrer Madihn Anregungen finden konnte.102 Anders als Madihn gibt er diesem praktischen Gefühl jedoch nicht den Namen eines »moralischen Gefühls« sondern den eines »Rechtgefühls«. Dieses Gefühl, das keineswegs als ein allgemeines Rechtsgefühl ausgerichtet sein muss,103 sondern als Gefühl auf das überpositiv Rechte und Unrechte, also auf die grundlegenden Normen des Naturrechts, ist bei Kohlhaas in besonderem Maße ausgeprägt (es gleicht »einer Goldwaage«104), veranlasst ihn als solches jedoch zu den grausamen Handlungen im Rahmen seines gerechten Krieges: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.«105 Dieses Rechtsgewissen, das die Prinzipien des Naturrechts enthält und erkennt, erhält seine Gültigkeit aufgrund seiner unmittelbaren Identität mit der Gottesinstanz, denn auch für Kohlhaas gilt wie für die gesamte Naturrechtstradition: forum conscientiae est forum dei.106 Umso mehr muss der in seinem gerechten Krieg bis zum Instrument der Errichtung einer »besseren Ordnung der Dinge« greifende Kohlhaas von den Einwänden Martin Luthers erschüttert sein, weil er dessen theologische Autorität uneingeschränkt anerkennt.107 Vor allem die abschließenden Argumente, die || 101 Vgl. hierzu Pufendorf: Über die Pflicht (Anm. 28), S. 26, S. 57 u. ö., sowie in Bezug auf Leibniz Hubertus Busche: Einleitung. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Hubertus Busche. Hamburg 2003, S. XCVf. 102 Siehe hierzu Madihn: Grundsätze des Naturrechts. Erster Theil (Anm. 37), S. 33f. (§ 34): »In dem ersten Falle [d. i. dem subjektiven Erkenntnisgrund der Naturgesetze] gehört hierher das bey allen vernünftigen Menschen befindliche Gewissen, moralisches Gefühl, oder innerlicher Trieb, welcher uns in den concreten einzelnen Fällen antreibt, das Naturgesetz zu erfüllen.« 103 Schon Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 384f., hat überzeugend nachgewiesen, dass sich das von Kleist auf Kohlhaas applizierte »Rechtgefühl« auf überpositive Nomen beziehen muss, mit einen Rechtsgefühl im positiv-rechtlichen Zusammenhang also nichts gemein hat. Das wurde jedoch in der Kohlhaas-Forschung vollständig ignoriert; siehe hierzu die vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Rückerts verfehlten Überlegungen bei Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 229; Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 172. 104 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 2510. 105 Ebd., S. 1315f.. 106 Zitiert nach Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Liber III. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch III. Hg., eingeleitet und ins Deutsche übers. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, Bd. II, 20/21: »Ratio autem dubitandi esse potest, quia forum conscientiae est forum Dei; sed homo non potest obligare in foro Dei; ergo nec in foro conscientiae.« 107 Zum Folgenden siehe auch Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 234ff.
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Luther in seinem offenen Brief ausführt, delegitimieren das Handeln des in seinem Selbstverständnis gerechten Kriegers von Grund auf: Das Schwert, wisse, das du führst, ist das des Raubes und der Mordlust; ein Rebell bist du und kein Krieger des gerechten Gottes, und dein Ziel auf Erden ist Rad und Galgen, und jenseits die Verdammung, die über die Missetat und die Gottlosigkeit verhängt ist.108
Kohlhaas, der selbst am Totenbett seiner Frau oder bei Eingang des ihn pathologisierenden Reskripts aus Berlin zwar Tränen vergießt, nie aber die Contenance bzw. die Gewissheit über die (gottgewollte) Ordnung in sich und seiner selbst verliert, scheint für einen Moment eben diese Überzeugung der Rechtmäßigkeit seiner Handlungen und damit die Beherrschung zu verlieren: Kohlhaas, als er, mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen, in Gedanken vertieft, unter das Portal kam, schlug die Augen auf und stutzte; und da die Knechte, bei seinem Anblick, ehrerbietig auswichen: so trat er, indem er sie zerstreut ansah, mit einigen raschen Schritten, an den Pfeiler heran. Aber wer beschreibt, was in seiner Seele vorging, als er das Blatt, dessen Inhalt ihn der Ungerechtigkeit zieh, daran erblickte: unterzeichnet von dem teuersten und verehrungswürdigsten Namen, den er kannte, von dem Namen Martin Luthers! Eine dunkle Röte stieg in seinem, Antlitz empor.109
Nicht einmal im Angesicht des Schafotts wechselt Kohlhaas derart die Farbe, womit angezeigt wird, dass der Protagonist den schwersten inneren Konflikt der Erzählung auszutragen hat.110 Dieser besteht in seinem Zentrum darin, dass Luther alles kohlhaassche Handeln gegen das Unrecht, das er erfuhr und das er im Sinne der öffentlichen Gerechtigkeit sowie seines eigenen Rechts meinte bestrafen zu müssen, eben nicht als Ausführung naturrechtlicher Normen und damit als im Einklang mit dem Willen Gottes wertet, sondern als Verbrechen gegen das positive staatliche Recht. Weil Kohlhaas aber die objektive Legitimität und die subjektive Motivation seines Agierens ausschließlich aus der Überzeugung bezieht, nicht nur gemäß, sondern vor allem aus naturrechtlicher Pflicht zu handeln, muss ihn diese Kriminalisierung mehr noch treffen als die Versuche, seine positiv-rechtlichen Einsprüche zu pathologisieren. Kohlhaas hat, um diese Beurteilung seines Handelns als ordinäres Verbrechen zu ändern, nur die eine Möglichkeit: er muss Luther von der Interpretation seines Handelns als eines naturrechtlich erlaubten und notwendigen überzeu-
|| 108 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 7530–34. 109 Ebd., S. 7623–33. 110 Siehe hierzu u. a. Rolf-Peter Janz: Affektive Exzesse bei Kleist. In: Dieter Sevin/Christoph Zeller (Hg.): Heinrich von Kleist: Style and Concept. Berlin 2013, S. 247–255, bes. S. 248.
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gen. Deshalb sucht er das Gespräch mit dem Reformator. Dieser Akt eines kritischen Aufbegehrens gegen eine, ja gegen die von ihm anerkannte theologische Autorität muss in seiner unerhörten Devianz für einen »rechtschaffenen« Mann – also einen solchen, der in gutem Glauben an Gott und die weltliche Obrigkeit deren Anordnungen ausführt, weil sie von ihnen kommen – ermessen werden: Kohlhaas weicht von seiner Rechtschaffenheit nicht nur ab, weil er ein Unrecht erfährt sowie die anschließende Rechtsverweigerung, auch nicht nur, weil er in seinem Rechtsbegehren als Querulant pathologisiert wird, sondern vor allem, weil ihm die naturrechtliche Legitimität seines Handelns bestritten und er im Rahmen positiven Rechts zu einem einfachen Räuber und Mörder herabgewürdigt wird. Das schwierige Gespräch mit Luther wird sich daher in seinem argumentationslogischen Zentrum mit eben dieser These des ehemaligen Rosshändlers beschäftigen, dass nämlich sein Handeln nur als ein gerechter Krieg gegen den Junker von Tronka angemessen zu werten ist und damit sein Agieren als gottgefällig und gerecht, d. h. legitim und legal. Denn auf Luthers Frage, was er, Kohlhaas, von ihm wolle, antwortet der Eindringling, den der Reformator zunächst mit den Insignien des Teufels bedachte: »[E]ure Meinung von mir, dass ich ein ungerechter Mann sei, widerlegen!«111 Erneut sei darauf hingewiesen, dass mit diesem Begriff der Gerechtigkeit kein unbestimmt moralischer, sondern ein präzise definierter naturrechtlicher Gehalt zu verbinden ist: iustitia als Ausrichten des eigenen Handelns am bonum commune.112 In seinem zentralen Argument referiert Kohlhaas vor diesem Hintergrund auf seinen schon früh formulierten Anspruch, einen gerechten Krieg zu führen: »Der Krieg, den ich mit der Gemeinheit der Menschen führe, ist eine Missetat, sobald ich aus ihr nicht, wie Ihr mir die Versicherung gegeben habt, verstoßen war!«113 Zu Recht ist diese Aussage als Argument für Kohlhaas’ Annahme interpretiert worden, er befinde sich nach dem erlittenen und nicht innerhalb der staatlichen Rechtsordnung geahndeten Unrecht in einem naturzuständlichen Verhältnis gegenüber dem Junker und all jenen, die diesem Hilfe gewähren.114 Dass dieser Krieg sich zu einem gegen die »Gemeinheit der Menschen«, also || 111 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 7732f.. 112 Vgl. hierzu erneut die Ausführungen bei Strauss: Naturrecht und Geschichte (Anm. 50), S. 105ff., oder auch Stefan Arnold: Vertrag und Verteilung. Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht. Tübingen 2014, S. 55f. 113 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 787–10. 114 So u. a. Hamacher: Erläuterungen und Dokumente (Anm. 10), S. 84ff.; Pieroth: Recht und Literatur (Anm. 8), S. 172f.; Rückert: »… der Welt in der Pflicht verfallen …« (Anm. 6), S. 390ff. sowie Vosskuhle/Gerberding: Michael Kohlhaas (Anm. 12), S. 238ff.
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gegen deren Mehrheit entwickelt hat, ändert nichts an der für Kohlhaas evidenten Tatsache, dass er sich aufgrund des ihm von Tronka zugefügten und innerhalb der positiven Rechtsordnungen nicht geahndeten Unrechts im Naturzustand befindet – verstoßen aus der staatlichen Gemeinschaft. Wie entwickelt, ist diese Annahme mit dem Gros der zeitgenössischen Naturrechtstheorien gut begründbar. Luthers Erwiderung auf dieses Argument dokumentiert mit Nachdruck, wie genau sich Kleist mit den kontrovers diskutierten Theoriebeständen der Naturrechtsdebatten des 18. Jahrhunderts auskannte. Denn der Reformator bestreitet nicht primär das empirische Urteil des Rosshändlers, dass er sich im Naturzustand befinde; er bestreitet vielmehr die theoretische Voraussetzung für diese Annahme, nämlich die These, es gebe überhaupt so etwas wie einen Naturzustand neben dem status civilis: Verstoßen! rief Luther, indem er ihn ansah. Welch eine Raserei der Gedanken ergriff dich? Wer hätte dich aus der Gemeinschaft des Staates, in welchem du lebest, verstoßen? Ja, wo ist, so lange Staaten bestehen, ein Fall, dass jemand, wer es auch sei, daraus verstoßen worden wäre?115
Luther bestreitet dem Rosshändler mithin, sich extra societatem in einem Naturzustand befinden zu können, weil ein solcher status naturalis solange (d. h. sobald) es Staaten gibt, nicht existiert. Dieses Argument referiert auf eine spätestens mit Hobbes anhebende kontroverse Debatte innerhalb des Feldes der neuzeitlichen Naturzustandstheorien, die sich um den ontologischen Status des Naturzustandes drehte. Dabei ging eine Position, die u. a. Hobbes und Kant begründeten, davon aus, dass der Naturzustand nur eine rationale Fiktion sei, die für die kontraktualistische Deduktion notwendig anzunehmen sei, allerdings niemals wirklich existiert habe, während eine zweite Konzeption – die u. a. von Rousseau vertreten wurde – diesen Zustand als eine Wirklichkeit annahm, die vor aller staatlichen Vergemeinschaftung bestanden habe; eine dritte Haltung, die von Pufendorf, Wolff oder auch Madihn vertreten wurde, schrieb diesem Zustand auch die Möglichkeit zu, parallel zum status civilis zu existieren.116 Kleists Luther bedient sich erkennbar der Argumente der zweiten Position, nach der ein Zustand extra societatem zwar vor aller menschlichen Vergemeinschaftung bestanden habe, nicht aber nach dem Auftreten von Staaten noch existiere, so dass der Einzelne aus einem Staat gar nicht ausgestoßen werden könne. || 115 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 7810–14. 116 Vgl. hierzu Hofmann: Lehre vom Naturzustand (Anm. 38).
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Kohlhaas lässt sich durch diese grundlegende Kritik an der Interpretation seines Handelns nicht beirren und besteht mit dem folgenden Argument darauf, sich tatsächlich im Naturzustand gegenüber von Tronka und allen seinen Helfershelfern, d. h. der Gemeinheit der Menschen«, zu befinden: Verstoßen, antwortet Kohlhaas, indem er die Hand zusammendrückte, nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es, dessenhalb ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft flüchte; und wer mir ihn versagt, der stößt mich zu den Wilden in die Einöde hinaus, er gibt mir, wie wollt ihr das leugnen, die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand.117
Es sind das Unrecht und die mehrfach erfahrene Rechtsverweigerung im Zusammenhang seines »friedlichen Gewerbes«, d. h. seiner Arbeit und Eigentumsverwaltung als Züchter und Händler, die nach Kohlhaas den Ausschlag dafür geben, dass er sich im Naturzustand wähnt. Der Terminus des »Wilden« ist nämlich seit Rousseau und Schiller – im Unterschied zu dem des kulturell depravierten Barbaren – auf den Menschen im Zustand extra societatem bezogen.118 Dieser Zustand ist – bei allen naturrechtlichen Einschränkungen – ein Zustand der Gewalt, in dem vor allem das Recht des Stärkeren gilt – was Kohlhaas mit dem Bild der Keule anzeigt. Dabei wählt er diesen Zustand extra societatem et violente keineswegs freiwillig – wie dies etwa Wielands Diogenes gemäß der pufendorfschen Doktrin tut119 –, sondern er wird in diesen Zustand gestoßen, ihm wird die »Keule« der naturzuständlichen Gewalt von jenen gereicht, die ihm anhaltend Unrecht tun. Stimmt man dieser Argumentation und deren naturrechtstheoretischen Voraussetzungen zu, dann ist evident, dass Kohlhaas keineswegs ein Räuber oder Mörder, mithin ein Verbrecher nach positivem Recht ist, sondern tatsächlich ein Soldat in einem gerechten Krieg, dem in seinem gottgefälligen Werk gegen den Junker von Tronka jedes Mittel erlaubt ist. Unabhängig von dem weiteren Verlauf des Gespräches zwischen Luther und dem Rosshändler wird jedoch ersicht-
|| 117 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 7815–22. 118 Siehe hierzu Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’inégalité. Edition Meier. Paderborn u. a. 31993, S. 196f.; Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F. S.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 1959, Bd. V, S. 579 (4. Brief). 119 Vgl. hierzu Christoph Martin Wieland: Σωκράτης μαινόμενος oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. In: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin/New York 2008ff., Bd. 9.1 [bearbeitet von Hans-Peter Nowitzki], Berlin/New York 2008, S. 1–105.
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lich, dass sich der Reformator von seinem Konfessionsbruder in eben diesem entscheidenden Argument überzeugen lässt. Zwar verweigert er ihm Absolution und Abendmahl, weil Kohlhaas nicht bereit ist, nach Mt 5,44 seinen Feind zu lieben und ihm zu vergeben; aber das betrifft ausschließlich moraltheologische Problemlagen.120 In naturrechtlicher Hinsicht, die auch nach dem historischen Luther die Notwendigkeit eines gerechten Krieges implizierte,121 folgt er aber der Argumentation des sich aus der Gesellschaft ausgestoßen sehenden Rosshändlers. In Luthers Sendschreiben an den sächsischen Kurfürsten, das er verfasst, nachdem ihm Kohlhaas zugesichert hat, von seinem gerechten Krieg genau dann abzulassen, wenn der Junker von Tronka in Dresden vor Gericht gestellt würde und er für die Verfolgung seiner rechtlichen Interessen in Dresden freies Geleit erhielte, heißt es ausdrücklich: Er schloß, dass man, in diesem außerordentlichen Fall, über die Bedenklichkeit, mit einem Staatsbürger, der die Waffen ergriffen, in Unterhandlung zu treten, hinwegsehen müsse, dass derselbe in der Tat durch das Verfahren, das man gegen ihn beobachtet, auf gewisse Weise außer der Staatsverbindung gesetzt worden sei, und kurz, dass man ihn, um aus dem Handel zu kommen, mehr als eine fremde, in das Land gefallene Macht, wozu er sich auch, da er ein Ausländer sei, gewissermaßen qualifiziere, als einen Rebellen, der sich gegen den Thron auflehne, betrachten müsse.122
Mag sich Luther in moraltheologischer Hinsicht einer »tyrannischen Geste des selbstsicheren Heilsverwalters« bedienen,123 in naturrechtlicher Hinsicht stimmt er – entgegen seiner ursprünglichen Position – dem gerechten Krieger Kohlhaas zu, indem er dessen Argumentation zu einem Ausstoß aus der Gesellschaft durch Unrecht und Rechtsverweigerung übernimmt und damit ausdrücklich
|| 120 Dass aber die moraltheologischen und die polittheologischen Ansprüche, die an den Menschen gestellt werden, sich in ihrer Tendenz unauflösbar widersprechen, hat Kleist dem Text deutlich eingeschrieben; denn Kohlhaas kann nicht zugleich dem göttlichen Gebot entsprechen, die Ordnung der Schöpfung und damit auch die Rechtsordnung einzuhalten und gegen Anwürfe mit den Mitteln des gerechten Krieges zu verteidigen, und dem Postulat der Feindesliebe folgen. Gelöst wird diese objektiv-praktische Antinomie der christlichen Postulatenlehre gegen Ende der Erzählung durch die Aufgabe des Vergebensgebotes; denn ohne dass Kohlhaas seinen Feinden vergeben hätte, wohl aber nachdem er der positiven Rechtsordnung sich wieder eingefügt hat und das Todesurteil gegen sich akzeptiert, erteilt ihm Luther in absentia die Absolution. 121 Siehe hierzu Andreas Stegmann: Luthers Auffassung vom christlichen Leben. Tübingen 2014, S. 479. 122 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 8222–31; Hervorhebung von mir. 123 Schmitt: Heinrich von Kleist (Anm. 12), S. 238.
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von seiner anfänglichen Bewertung des kohlhaasschen Handelns als Verbrechen abrückt. Dabei transfomiert er die naturrechtliche Begründung für Kohlhaas’ anfängliches Verhalten in eine völkerrechtliche Argumentation, um dessen Handeln als Anführer eines gewaltanwendenden ›Haufens‹ zu legitimieren: man möge dieses Agieren als das einer fremden Macht interpretieren, mithin einer äußeren Staatsmacht, was die Behandlung aller daran Beteiligten als Verbrecher verunmöglichte. Wie in der zeitgenössischen politischen Philosophie, so zeigt sich auch bei Kleists Luther eine enge systematische Verbindung zwischen Natur- und Völkerrecht, die u. a. bei Christian Wolff dadurch begründet wird, dass sich die Staaten zueinander nach den Gesetzen des Naturrechts verhalten, weil sie keine innerweltliche Zwangsgewalt über sich anerkennen.124
5 Naturrecht versus Staatsräson – Zur Problemlösung im sächsischen Staatsrat Überhaupt ist Luther, wie neben ihm nur Graf Wrede und Prinz Christiern von Meißen in der anschließenden Beratung des Staatsrats, bereit anzuerkennen, dass Kohlhaas Unrecht geschehen ist, und zwar nicht allein durch Wenzel von Tronka, sondern auch durch dessen Vettern Hinz und Kunz von Tronka. Die sich daraus ergebende Problemlage und deren Lösung eröffnet sich in jener Staatsratssitzung, die aufgrund des lutherschen Sendschreibens einberufen werden muss. In dieser Situation prallen erneut die unterschiedlichen Positionen zu Recht und Gerechtigkeit des kohlhaasschen Handelns sowie zu dessen Veranlassungen aufeinander. Hier jedoch entscheidet sich auch der Ausgang des Rechtsfalles Kohlhaas, der weder natur- noch positiv-rechtlich entschieden wird, sondern nach Maßgaben herrschaftspolitischer Klugheit.125 Das Beratungsgespräch zwischen den sechs führenden Politikern Sachsens ist für den weiteren Handlungsverlauf ebenso prägend wie das Gespräch zwischen Luther und Kohlhaas, weil es die rechtspolitischen Ergebnisse des letzteren konterkariert. Es wird eröffnet durch ein – sich zugleich relativierendes –
|| 124 Vgl. hierzu Wolff: Natur- und Völkerrecht (Anm. 14), S. 794f. (§ 1088); siehe auch Achenwall/Pütter: Anfangsgründe des Naturrechts (Anm. 30), S. 299ff . sowie Madihn: Grundsätze des Naturrechts. 2. Teil (Anm. 34), S. 133ff (§ 236ff.). 125 Zum prekären Verhältnis von Staatsphilosophie und Staatskunstlehre vgl. Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990.
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Schuldeingeständnis des Kämmerers Kunz von Tronka. Dieser versichert nämlich, dass er die eingereichte Klage des Kohlhaas nicht niedergeschlagen hätte, wenn er über den Sachverhalt nicht falsch informiert worden wäre; die politische und juristische Verantwortung wird also auf untergebene Verwaltungsbeamte abgewälzt; die eigentlich handlungsmotivierende Korruption, die das Wohl der Familie über die des Staates stellte, wird dabei zugleich verschwiegen. Dieses halbe Verantwortungseingeständnis ermöglicht dem Kämmerer zugleich, den für die gesamte Familie von Tronka gefährlichen »Vorschlag, den der Doktor Luthers gemacht,«126 zurückzuweisen; neben einer Reihe machtpolitischer Argumente bedient er sich zunächst einer raffinierten rechtspolitischen Begründung: Er bemerkte, dass, weder nach göttlichen noch menschlichen Gesetzen, der Roßkamm, um dieses Mißgriffs willen, befugt gewesen wäre, eine so ungeheure Selbstrache, als er sich erlaubt, auszuüben […].127
Weder Luther noch Kohlhaas hätten diese Behauptung bestritten, ihre Begründungen verliefen auch durchaus anders. Zum Verständnis dieser Passage muss man aber wissen, dass spätestens seit Thomas von Aquin128 und noch bis ins 18. Jahrhundert nicht nur zwischen menschlichem und göttlichem Recht, sondern auch zwischen diesen und dem Natur- und Völkerrecht präzise unterschieden wurde.129 Dabei subsumierte man unter menschliche Gesetze die staatlichen und kirchlichen Gesetzgebungen, unter den Begriff der göttlichen Gesetze die in der heiligen Schrift offenbarten Rechtsnormen, wie die zehn Gebote und die Liebesgebote Jesu, unter Natur- und Völkerrecht aber überpositive Rechtsnormen, deren Verbindlichkeit zwar durch die Gottesinstanz garantiert, deren Ursprung aber in die menschliche Vernunft verlegt wurde. Kunz von Tronka dagegen reduziert die möglichen Rechtsformen zur Bewertung des kohlhaasschen Handelns auf die positiven menschlichen und göttlichen Gesetze, während er die von Luther in seinem Sendschreiben aufgeführten überpositiven Natur- und Völkerrechte schlicht ausspart und dennoch den Eindruck erweckt, das gesamte
|| 126 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 8325. 127 Ebd., S. 8313–16. 128 Zur jahrhundertelang einflussreichen Leges-Hierarchie des Thomas vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 2 2006, S. 233–242. 129 Siehe hierzu Eckhard Helmuth: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1985, S. 95ff.
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gültige Rechtsspektrum aufzurufen. Noch in seinem Bezug auf das Recht also ist der Junker Kunz von Tronka ein Betrüger. In den Antworten des Großkanzlers von Wrede und des Prinzen von Meißen wird dies mehr als deutlich; so vor allem in der Forderung des Prinzen, man müsse den Kämmerer anklagen und vor Gericht stellen, und zwar wegen Missbrauchs des landesherrlichen Namens, um den sächsischen Staat in einem strafenden Handeln gegen den Rosshändler und seinen Haufen zu legitimieren. Damit zeigt sich, dass geistliche und weltliche Autoritäten, Luther sowie hochrangige sächsische Politiker, der Argumentation des Rosshändlers durchaus zustimmen; sie bestätigen und legitimieren sein Rechtsbegehren – bis hin zu dessen Bezug auf die Normen des Naturrechts –, ohne allerdings den Konsequenzen dieser Argumentation zu folgen. Dabei referieren sie zunächst auf rein politische, d. h. staatsraisonable Argumente, weil sie zu bedenken geben, dass der aufständische Kohlhaas in der »öffentlichen Meinung«130 und durch den enormen »Zulauf, den der Rosshändler fortdauernd erfahre,«131 eine Gefahr für die politische Stabilität des Landes darstelle, gerade weil ihm Unrecht widerfahren sei. Luther, Graf Wrede wie auch Prinz Christiern von Meißen anerkennen also als erste öffentliche Autoritäten überhaupt das dem Rosshändler angetane Unrecht, durch das er in den Naturzustand gestoßen, d. h. »das Schwer, das er führe«, ihm tatsächlich »selbst in die Hand« gegeben worden sei.132 In den Kontroversen innerhalb des Staatsrates wird aber vor allem deutlich, dass alle Beteiligten, einschließlich Wredes und Meißens, sich weniger dem Problem der juridischen, d. h. »öffentlichen Gerechtigkeit« im Falle Kohlhaas widmen als vielmehr dem politischen Problem, indem sie das gewaltsame und somit das Herrschaftsmonopol der Regierung gefährdende Verhalten der kohlhaasschen Truppen unterbinden. So tritt von Meißen energisch dafür ein, »einen Kriegshaufen von hinreichender Größe zusammenzuraffen, und den Roßhändler, der in Lützen ausgepflanzt sei, damit aufzuheben«133 – das entscheidende Problem also machtpolitisch zu lösen. Dabei hält er gegen Wrede ausdrücklich fest, dass dieses Problem der bedrohten Ordnung des Staates so groß sei, dass man es nicht durch einen »Grundsatz aus der Wissenschaft des Rechts«134 werde lösen können. Von Meißen trennt folglich deutlich die staatsräsonable Herrschaftspolitik des absolutistischen Staates von Fragen des Rechts.
|| 130 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S. 8213. 131 Ebd., S. 8334f. 132 Ebd., S.851f.. 133 Ebd., S. 8417–19. 134 Ebd., S. 8414.
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Um allerdings diesen Schritt, nämlich die »Zermalmung des Roßhändlers«, in »bevollmächtigter« Weise gehen zu können, bedürfe es der Anklage und Verurteilung des ursprünglich schuldigen Kämmerers, weil nämlich die ursprüngliche Sache des Kohlhaas »gerecht« sei. Von Meißen unterscheidet also erneut zwischen dem ursprünglichen Unrecht, das dem Rosshändler angetan wurde, und seiner die staatliche Ordnung gefährdenden Selbstjustiz. Eine ›Vollmacht‹ zur gewaltsamen Zerstörung einer aufständischen Bevölkerungsgruppe und ihres Anführers kann aber nur von einem echten Souverän ausgehen, einem solchen also, der die Geltung des Rechts garantiert.135 Eben dies nötigt nach von Meißens Meinung den Kurfürsten, der die Korruption derer von Tronka durchaus akzeptierte, seinen Kämmerer »auf Leben und Tod« anzuklagen, was dem Herrscher allerdings die Schamesröte ins Gesicht treibt. Eine Lösung, die von der sächsischen und brandenburgischen Obrigkeit in einer gleichsam konzertierten Aktion tatsächlich ausgeführt wird, erwächst allerdings erst aus einem Vorschlag des Mundschenks Hinz von Tronka, der den folgenden »Staatsbeschluß« anrät: Der Roßhändler habe, seines Wissens, gegen bloß freies Geleit nach Dresden, und erneuerte Untersuchung seiner Sache, versprochen, dem Haufen, mit dem er in das Land gefallen, auseinander gehen zu lassen. Daraus aber folge nicht, dass man ihm, wegen dieser frevelhaften Selbstrache, Amnestie erteilen müsse: zwei Rechtsbegriffe, die der Doktor Luther sowohl, als auch der Staatsrat zu verwechseln scheine. Wenn, fuhr er fort, indem er den Finger an die Nase legte, bei dem Tribunal zu Dresden, gleichviel wie, das Erkenntnis der Rappen wegen gefallen ist; so hindert nichts, den Kohlhaas auf den Grund seiner Mordbrennereien und Räubereien einzustecken: eine staatskluge Wendung, die die Vorteile der Ansichten beider Staatsmänner vereinigt, und des Beifalls der Welt und Nachwelt gewiß ist.136
Am Ende wird der politische und juristische Fall Kohlhaas in eben dieser Weise – wenn nicht in Sachsen, so doch in Brandenburg – abgeschlossen werden: Kohlhaas erhält vollumfänglich sein Recht in der Streitsache mit dem Junker von Tronka, der ihm die Pferde gesund zurückerstattet und zwei Jahre in Kerkerhaft genommen wird. Alle Maßnahmen aber, die Kohlhaas im Rahmen des von ihm beanspruchten »gerechten Krieges« durchführte, werden nicht unter naturrechtlichen, sondern unter positiv-rechtlichen Maßgaben gewertet und der Rosskamm so als Mordbrenner, Räuber und Aufwiegler zum Tode verurteilt. || 135 So die Souveränitätstheorie schon Jean Bodins: Sechs Bücher über den Staat. Übers. und mit Anm. versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und hg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. 2 Bde. München 1981/1986, hier Bd. I, S. 95. 136 Kleist: Kohlhaas (Anm. 1), S.8521–35.
Naturrecht, positives Recht und Staatsraison in Kleists »Michael Kohlhaas« | 521
Der Vorschlag des Junkers während des Staatsratsgespräches zielte allerdings keineswegs auf diese juristische Lösung mit positiv-rechtlicher Dominanz. Vielmehr beabsichtigte er, das politische Problem des Konfliktes mit einer aufständischen Bevölkerungsgruppe durch das Angebot des freien Geleits für die privatrechtliche Streitsache zwischen Kohlhaas und von Tronka zu lösen, da der Rosskamm versprochen habe, unter diesen Bedingungen seine Truppe aufzulösen. Der Mundschenk unterscheidet mit seiner »staatsklugen Wendung« das ursprüngliche Unrecht von der durch die »Selbstrache« des Rosshändlers ausgelösten Mordbrennerei, die er als öffentlich-rechtliche Strafsache behandelt sehen will, um damit Kohlhaas den naturrechtlichen Anspruch zu bestreiten. Nach dieser Differenzierung der »zwei Rechtsbegriffe«, der Unterscheidung nämlich zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Strafsache ›Kohlhaas‹, bleibt aber von einem Anspruch des Naturrechts, den Kohlhaas ganz selbstverständlich erhob, nichts mehr übrig. Unter dem Primat der nach Klugheitskriterien vorgehenden Staatsraison differenziert sich das positive Recht zwar aus, überpositive Rechtsnormen aber haben in diesem Staatsrechtsmodell keinen Platz, weil das Recht zum Instrument einer aristokratischen Herrschaftsordnung herabgewürdigt wird. Machiavelli hatte diese Konsequenz vorgeführt und sich dafür die geballte Gegenwehr der neuzeitlichen Naturrechtler eingehandelt,137 aber erst Christian Wolff hatte unter den Bedingungen der Geltung überpositiver Normen gezeigt, dass und wie das Naturrecht vom Staatsrecht in seiner Geltung beschränkt werden konnte.138
6 Schluss: Kohlhaas und das Ende des Naturrechts Kleists Kohlhaas handelt von diesem Paradigmenwechsel. Mit exzellenten Detailkenntnissen führt Kleist vor, zu welchen Konsequenzen ein neben dem Staatsrecht geltendes Naturrecht führen kann, nämlich zu Mord und Totschlag || 137 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Politisch-theologischer Anti-Machiavellismus. Die Rechtslehren Francisco de Vitorias, Philipp Melanchthons und Francisco Suárez’. In: Andreas Höfele/Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher (Hg.): Die Frühe Neuzeit: Revisionen einer Epoche. Berlin/Boston 2013, S. 357–390. 138 Siehe Frank Grunert: Vollkommenheit als (politische) Norm. Zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754). In: Bernd Heidenreich/Gerhard Göhler (Hg.): Politische Theorien im 17. und 18. Jahrhundert. Staat und Politik in Deutschland. Darmstadt/Mainz 2011, S. 164–184.
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selbst an Kindern. Kleist zeigt aber auch, dass die Abdankung solchen Naturrechts nur zugunsten eines maßstablosen Staatsrechts erfolgt, das sich den machiavellistischen Prinzipien einer rein prudentiellen Machttechnik, jener »staatsklugen Wendungen«, unterworfen hat. Wenn der Rosshändler in Berlin das Schafott besteigt, dann stirbt mit ihm der Anspruch auf die Geltung des Naturrechts als eines überpositiven Rechts, das seit dem frühen 17. Jahrhundert den entscheidenden Maßstab für die Gerechtigkeit der positiven Rechtsordnungen liefern sollte. Zwar wird Kohlhaas in der Streitsache mit Wenzel von Tronka sein Recht zuteil, aber sein Ausrufen eines gerechten Krieges bleibt ohne jede juristische Konsequenz; er stirbt nach positiv-rechtlichen Prinzipien als Aufwiegler und Verbrecher. Kleist beklagt diesen Paradigmenwechsel keineswegs; zu klar und direkt stand ihm vor Augen, dass der undifferenzierte Bezug auf ein Naturrecht des Tyrannenmordes, wie dies Robespierres vorführte,139 Willkürhandlungen ermöglichte, die die Stabilität jeder Ordnung eines Staates untergräbt oder, wie bei Kohlhaas, selbst die Ermordung von Frauen und Kindern rechtfertigte. Zugleich zeigt er mit seiner Erzählung, dass die Ablösung des Naturrechts als Grundlage staatlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung durch eine nur prudentielle Staatsraison jener Willkür nur neue Legitimationsgrundlagen verschaffte. Kleists Erzählung ist daher keineswegs eine grundlegende Kritik am Recht überhaupt, wie dies eine am rechtskritischen Poststrukturalismus geschulte Literaturwissenschaft gerne sähe;140 sie liefert auch keineswegs Grundlagen für eine bei Kant fehlende Widerstandstheorie, wie dies rechtshistorische Überlegungen vermuten,141 weil Kohlhaas’ Handeln keineswegs auf Widerstand gegen den Staat abzielt, sondern sich der Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen bedient, um das Ziel seines gerechten Krieges zu erreichen. Kleists pessimistisch endende Erzählung ist daher vielmehr ein über seine minutiöse Kritik an Naturrecht und reiner Staatsraison höchst vermitteltes Plädoyer für eine hinreichend tragfähige und so jegliche Willkür einhegende Rechtsstaatlichkeit.
|| 139 Vgl. hierzu u. a. Uwe Schulz: Der König und sein Richter. Ludwig XVI und Robespierre. Eine Doppelbiographie. München 2014, S. 298f. 140 Paradigmatisch hierfür Susanne Kaul: Radikale Rechtskritik bei Kleist. In: IASL 31:1 (2006), S. 212–222. 141 Siehe hierzu Vosskuhle/Gerberding: Michael Kohlhaas (Anm. 12), S. 244.
Ralph Häfner
»Sandbänke« und »Korallenstämme« Adolf Ellissen als Herausgeber von Montesquieus Geist der Gesetze Das Werk des Dichters, Literaturhistorikers und Politikers Adolf Ellissen (1815– 1872)1 ist heute beinahe vergessen. Die eminente Rolle, die er auf der literarischen, gelehrten und politischen Bühne seiner Zeit spielte, ist erst noch zu rekonstruieren. Der vorliegende Beitrag kann diese Aufgabe nicht leisten; er fokussiert vielmehr auf einen – wesentlichen – Aspekt seines literarischen Schaffens: die Rezeption, Adaption und Appropriation der französischen Aufklärung. Nach kurzem Studium der Medizin studierte Ellissen in Göttingen und Berlin die philologischen Fächer, brach aber nach vier Jahren ab, ohne einen Abschluss zu erwerben. Die Promotion erfolgte erst 1846 in Heidelberg. Nach Beendigung des Studiums reiste er im Dezember 1836 nach Paris, erkundete die Schweiz und Oberitalien und langte endlich in Griechenland an, wo er bis Juni 1838 blieb. Damals begann er sich für die mittel- und neugriechische Literatur zu interessieren und entdeckte die volkssprachliche griechische Lyrik. Bei seiner vorzeitigen Rückkehr – bedingt durch den Tod seines Vaters – hielt er sich zwei Monate in München auf und knüpfte unter anderem Kontakte zu den Kunsthistorikern Friedrich Thiersch und Ernst Förster und dem Landschaftsmaler Carl Rottmann. Sie alle vereinigte der Philhellenismus – Blüte der Saat, die Lord Byron und andere in der Folge des griechischen Befreiungskampfes am Jahrhundertanfang gelegt hatten. Eine weitere Reise führte Ellissen 1854 nochmals nach Paris. 1860 vertiefte er seine sprach- und literaturgeschichtlichen Studien in Konstantinopel und in Griechenland. Die Anstellungen, die ihm den Lebensunterhalt sicherten, waren zeit seines Lebens bescheiden. Seit 1847 war er als Hilfsarbeiter, seit 1852 als Sekretär an der Göttinger Bibliothek beschäftigt. Infolge der Revolution von 1848 übernahm er wiederholt politische Ämter; als
|| 1 Vgl. Hans Ellissen: [Art.] Ellissen, Adolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), S. 54– 57 [Onlinefassung]; Annemarie Borsche: [Art.] Ellissen, Georg Anton Adolf. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 458f. [Onlinefassung]; Eberhard Borsche: Adolf Ellissen 1815–1872. Ein Vorläufer der modernen byzantinischen Literatur- und Sprachforschung. Ein Gelehrtenleben zwischen Politik und Wissenschaft. Hildesheim 1955. Verzeichnis der Schriften Ellissens in: Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Bearbeitet von Herbert Jacob. Bd. E–F. Berlin 1998, S. 134–140.
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Abgeordneter vertrat er Göttingen in der zweiten Kammer der hannoverischen Ständeversammlung. 1867 war er Abgeordneter des konstituierenden norddeutschen Reichstags, der preußischen Abgeordnetenkammer und des hannoverischen Provinzial-Landtags.2 Ellissen hat ein ausgesprochen vielseitiges Werk hinterlassen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte bestand in der Erforschung der byzantinischen Literatur, die er zwischen 1855 und 1862 in einem fünfbändigen Werk, den Analekten der mittel- und neugriechischen Literatur, aus den Quellen edierte, umfassend kommentierte und ins Deutsche übersetzte. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die Edition herausragender Werke der französischen Aufklärung, deren Hauptvertreter er in einer eigens hierfür konzipierten Reihe, »Französische Classiker«, in Übersetzung wieder ins Licht hob. Als Verleger konnte Ellissen Otto Wigand in Leipzig gewinnen. Wigand (1795–1870)3 war der Verleger der von Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbücher, dem seit 1838 erscheinenden wirkmächtigsten Publikationsorgan der Junghegelianer. Darüber hinaus unterhielt Wigand enge Kontakte zu Ludwig Feuerbach und veröffentlichte Schriften von Friedrich Engels und Karl Marx sowie Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844). Ellissen nutzte Wigands Verlag als Plattform, um die wichtigsten Exponenten der französischen Aufklärung in Deutschland ins Bewusstsein zu rufen. Zwischen 1844 und 1846 publizierte er Voltaire’s Werke in Auswahl in zwölf Teilbänden; 1845 erschien Rousseaus Abhandlung über die politische Oekonomie. Die Reihe »Französische Classiker« begann indes mit Montesquieus Geist der Gesetze. Ellissens Übersetzung des Hauptwerks des französischen Staatstheoretikers, De l’esprit des loix (1748), erschien erstmals 1843; vom Publikationserfolg dieser Ausgabe zeugen mehrere Auflagen, die in kürzester Zeit aufeinander folgten. Ellissens Edition zeichnet sich neben einer sorgfältigen Übersetzung durch die Beigabe aller verfügbaren Kommentare aus. Der wichtigste Teil war, neben den knappen zeitgenössischen Beobachtungen und Bemerkungen von Claude-Adrien Helvétius (1715–1771) und von Voltaire (1694–1778), der umfangreiche kritische Kommentar des ›Ideologen‹ Antoine Louis Claude Destutt de Tracy (1754–1836), den Ellissen vollständig aufnahm; die deutsche Ausgabe wurde so zu einem umfassenden Diskussionsforum, das Fragen der Staatsform und der gesellschaftlichen Organisation thematisierte. In den Lustren rund
|| 2 Vgl. Eberhard Borsche: Adolf Ellissen (1815–1872) als Politiker. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 25 (1953), S. 87–131. 3 Vgl. Inge Kießhauer: Otto Friedrich Wigand (10. August 1795 bis 1. September 1870). In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 1 (1991), S. 155–188.
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um das Revolutionsjahr 1848 stellte Ellissen mit der deutschen Ausgabe von Montesquieus De l’esprit des loix ein Instrument bereit, das die politische und gesellschaftliche Diskussion seiner Zeit maßgeblich beeinflusste. Der Umbau der Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen sollte sich an denjenigen Modellen der französischen Aufklärung orientieren, die die Revolution von 1789 und das Ende des Ancien Régime intellektuell vorbereitet hatten. Der Bezug zu den Junghegelianern und zur französischen ›Ideologie‹ war evident. Denn die politische Gesellschaftstheorie, die Destutt de Tracy in seinem Hauptwerk Les Eléments d’idéologie (1801–1815) erarbeitet hatte,4 war bei Ellissens Unternehmen immer mitzudenken. Erst wenige Monate vor der Publikation von Ellissens Montesquieu-Übersetzung, am 28. Mai 1842, hatte der Historiker François-Auguste Mignet vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften einen Abriss des Lebens und Werks des französischen Gelehrten gegeben.5 Heinrich Heine berichtete von dieser Sitzung in einem Korrespondenzartikel, der später in die Sammlung Lutezia einging.6 Tracys Gesellschaftstheorie gründete in der Einsicht, dass alles Handeln Äußerung energetischer Prozesse im Gehirn sei; auf der Grundlage der Ergebnisse des Sensualismus der Condillac, Pierre-Jean-Georges Cabanis7 und zeitgenössischer Gehirnforschung versuchte Destutt de Tracy nachzuweisen, dass der psycho-physische Prozess als Verwirklichung oder energetische Entladung der ›Ideen‹ in der Tat aufzufassen sei.8 Auch politisches – revolutionäres – Handeln konnte so verstanden werden, dass sich Ressourcen intellektueller Energie in Bewegungsenergie – zugleich destruktiv und gestaltbildend – verwandelten. Ellissens Edition von Montesquieus De l’esprit des loix gliedert sich in ihrem ersten Band wie folgt: Auf das Vorwort des Herausgebers Ellissen folgen »Zwei || 4 Vgl. Brian William Head: Ideology and Social Science. Destutt de Tracy and French Liberalism. Dordrecht 1985; Emmet Kennedy: Destutt de Tracy and the Origins of »Ideology«. A Philosophe in the Age of Revolution. Philadelphia 1978. 5 Vgl. François-Auguste Mignet: Notice historique sur la vie et les travaux de M. Destutt de Tracy […]. Lue dans la séance publique du 28 mai 1842. In: Mémoires de l’Académie royale des sciences. Paris 1842, S. [LXXVII]–CXVII; zum Kontext vgl. Ralph Häfner: Masken in Gesellschaft. Bacchanale, Bankette, Petits Soupers von Heine bis Rabelais. Heidelberg 2014, S. 131– 137. 6 Vgl. Heinrich Heine: Lutezia XLIV, 2.6.1842. In: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1990, Bd. 14/1, S. 15–17 (= H. H.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb, Bd. 5, S. 400–403). 7 Vgl. Bernard Baertschi: Diderot, Cabanis and Lamarck on Psycho-Physical Causality. In: History and Philosophy of the Life Sciences 27 (2005), S. 451–463. 8 Zum Begriff der Energie vgl. Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières (1770– 1820). Paris 1988, bes. S. 415–420.
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Briefe von Helvetius über den ›Geist der Gesetze‹«, der eine gerichtet an Montesquieu, der andere an Bernard-Joseph Saurin, einen Theaterdichter aus dem Umfeld der Philosophes. Zu diesen beiden Briefen gehört thematisch das darauf folgende Stück, »Voltaire’s Vorwort zu seinem Kommentar über den ›Geist der Gesetze‹«. Ellissen beschließt den insgesamt über 80-seitigen Einleitungsteil mit einer knappen Charakteristik von »Montesquieu und der Geist der Gesetze« des liberalen Politikers und Staatsrechtlers Carl Theodor Welcker (1790–1869). Aus der Fülle der Fragen, die Ellissens Edition aufwirft, möchte ich zwei Themenkreise etwas näher analysieren: (1) Ellissens Wertschätzung der französischen Zivilisation im allgemeinen und seine Vorliebe für die französische Aufklärung im Besonderen, und (2) die Interaktion von Montesquieus Text und Destutt de Tracys Kommentar am Beispiel der von letzterem vehement bestrittenen Plausibilität der Regierungsformen Republik, Monarchie und Despotismus.9 Ellissens »Vorwort« zerfällt in zwei Teile, deren erster sich durch einen markanten ironisch-polemischen Duktus auszeichnet. Dem Vergleich zwischen deutschem und französischem Geist liegt die landläufige Annahme zugrunde, dass sich in Deutschland ›tiefes‹, in Frankreich aber ›seichtes‹ Denken ausgeprägt habe. Die »klassische« »Periode französischer Kunst und Wissenschaft« habe »in Folge der glorreichen Emanzipation des deutschen Geistes durch Lessing und Herder und der Entwickelung seiner Schöpferkraft durch Goethe und Schiller«10 ihre Vorbildfunktion verloren. Nach der »Restaurazion« habe der »offiziell genährte Nazionalhaß der Deutschen gegen Frankreich« den »Kredit«, den die französische Literatur in Deutschland noch hatte, ausgelöscht. Ellissens Invektiven steigern sich zu bitterem Sarkasmus, wenn er die gesellschaftsrevolutionär wirksame Philosophie des bon sens den ›Träumen‹ der Transzendentalphilosophie im Kontext einer Geschichte des menschlichen Verstandes11 gegenüberstellt: In der Wissenschaft aber war der germanische Tiefsinn zu jenem Grade der Reife gelangt, die ihn befähigte, die nämlichen Phasen der Geschichte des Menschengeists, die Frankreich im Sturm und Sonnenschein des Lebens durchkämpfte, in einer Reihe philosophischer Systeme gründlichst zu durchträumen. An der Masse des Volks gingen diese tiefsin-
|| 9 Vgl. Pierre-Henri Imbert: Destutt de Tracy, critique de Montesquieu, ou de la liberté en matière politique. Paris 1974. 10 Adolf Ellissen: Vorwort. In: Montesquieu, Geist der Gesetze. Nebst Destutt de Tracy’s Commentar und Noten von Helvetius und Voltaire. Zweite Auflage, Erster Theil. Leipzig 1848, S. 3– 84, hier S. 3. 11 Zur Theorie des »bon sens« der d’Argens und d’Holbach vgl. Häfner: Masken (Anm. 5), S. 149–151.
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nigen Systeme freilich spurlos vorüber, doch brachte es ein Theil der Tonangeber unter den sogenannten ›Gebildeten‹ wenigstens in der Terminologie derselben zu einer hinlänglichen Geläufigkeit, um darauf Prätensionen an Geist und ›Tiefe‹ und zu deren Bethätigung eine souveräne Geringschätzung alles dessen, was ihnen als ›seicht‹ bezeichnet wurde, zu begründen. Unter letztre Kategorie paßte aber trefflich die Mehrzahl der französischen Klassiker, insofern sie, transzendentalen Forschungen fremd, unter den Bannern der einfachsten Logik und brillenloser Empirie für die Begründung der Herrschaft des gesunden Menschenverstandes auf Erden kämpften.12
Ellissens Rekurs auf die Philosophie des gesunden Menschenverstandes führt ins Zentrum der französischen Aufklärung. Der Verweis auf die »als gefährliche Freidenker« verketzerten und verfolgten Denker »Voltaire, Rousseau, Diderot etc.«13 schließt eine Richtung innerhalb der französischen Philosophie ein, die mit einschlägigen Werken des Marquis d’Argens und des Barons d’Holbach bezeichnet ist. Man muss in diesem Kontext Ellissens Wort von der ›klassischen‹ Periode der französischen Literatur geradezu als einen Kampfbegriff auffassen. Offenbar handelte es sich nach Ellissen um wertlose Wertsetzungen, wenn die einst als vorbildlich angesehene Literatur, in der »Goethe und selbst unser großer Schiller, der trotz seines oben hervorgehobenen Verdammungsurtheils über die Verirrungen der französischen Poesie, in ihr ›ein Reich des Wohllauts und der Schöne‹ erkannte«,14 in einer Epoche der Restauration mit den »Prädikaten flach, seicht, frivol etc.«15 belegt werde. Ellissens Unternehmen, die »klassische Literatur der Franzosen« in deutscher Übersetzung zu präsentieren, trägt damit einen dezidiert revolutionären Grundzug, der sich implizit gegen die Behauptung der Kunstautonomie im Kontext des Weimarer Klassizismus richtet. Politisch ist dieser revolutionäre Charakter durch die Namen Friedrichs des Großen und Napoleons bestimmt, in denen man die Chiffren der politischen Analyse Ellissens zu sehen hat. An ihnen orientiert sich seine revolutionäre Praxis, wenn er die französischen »Sandbänke« den deutschen »Korallenstämmen« entgegensetzt: ›Seicht, seicht!‹ schreit man, ›seichte Poesie, seichte Philosophie, seichte Kritik, Seichtigkeit in Vers und Prose!‹ Gut! Aber erinnert euch, daß an den Sandbänken der vielverschrienen französischen Seichtigkeit die stolze Armada der Tyrannei scheiterte, während die Korallenstämme aus dem bodenlosen Ozean deutscher Tiefe noch nicht ans Tageslicht emporwuchsen, sondern bisher nur einzelnen kühnen Tauchern zugänglich waren, deren
|| 12 Ellissen: Vorwort (Anm. 10), S. 4f. 13 Ebd., S. 5. 14 Ebd., S. 6. 15 Ebd., S. 5.
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etwa mit heraufgebrachte kostbare Perlen das Volk wohl anstaunen, aber noch nicht zur Krone der Selbstständigkeit und Freiheit reicher und herrlicher als die französische an einander zu reihen vermochte.16
Die revolutionäre Zielsetzung hinter Ellissens vielfach verschlungener Meeresmetaphorik konnte seinen Lesern nicht verborgen bleiben. Im zweiten Teil des »Vorworts« umriss er ein Editionsprogramm, das die »Sandbänke«, auf denen die »Tyrannei« des Ancien Régime strandete, »vom Regierungsantritt Ludwig’s XIV. bis auf den Ausbruch der Revolution«17 weiträumig vermaß. Für Ellissen besitzt Montesquieus Geist der Gesetze deshalb eine so herausragende Bedeutung für die Geschichte des menschlichen Verstandes, weil dieses Werk, wie er mit Destutt de Tracy darlegte, die Periode jener »wundervollen Jahre (1748– 1807)« eröffnet hatte,18 die den revolutionären Umbau der Gesellschaft erst ermöglicht hatte. Obwohl Montesquieus Staatsphilosophie in der Erklärung der sozialen »Erscheinungen« Fehler aufweise, sei sie im Ergebnis ebenso präzis wie die auf falschen Prämissen beruhende Astronomie des Thales: Sei es doch gewiss, dass Montesquieu »trotz der Irrthümer in den philosophischen Grundbegriffen, einen unerschöpflichen Schatz praktischer Staatsweisheit niederlegte, analog fast, wie der alte Thales nach dem irrigen Weltsystem der Aegypter die kosmischen Erscheinungen so genau berechnete, wie unsere Astronomen nach dem kopernikanischen«.19 In Ellissens Plan einer Edition der »Französischen Classiker« bildet Montesquieus Abhandlung den Anfang eines Dreischritts, innerhalb dessen Rousseaus Contrat social und eine »nicht zu eng begrenzte Auswahl« der Schriften Voltaires folgen sollten. Rousseaus Werk ist ihm das »Evangelium der Humanität und der gesunden Vernunft«, das durch »Lamennais’s mystische Nebel« »noch nicht in den Schatten« gestellt sei. Gemeint ist die katholische Soziallehre des Rousseauisten Félicité de Lamennais (1782–1854), die in der Zeit der Restauration und unter der Julimonarchie die Diskussion über die Reform der Gesellschaft wesentlich bestimmte. Im Werk Voltaires endlich fand Ellissen »Wahrheiten«, die »in den Reden Mirabeau’s und Desmoulin’s und in dem Kanonendonner der Revolutionskriege einen lautern welterschütternden Nachhall finden sollten, als wir bis jetzt von allen männlich kühnen Worten und geharnischten Liedern unsrer Gegenwart uns zu versprechen wagen.«20 Voltaires Ideen – so hatte man || 16 Ebd., S. 7. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 9.
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Ellissens Auslassungen im Geist der ›Ideologie‹ zu verstehen – waren im Wort der Revolutionäre Mirabeau und Desmoulins zur Tat geworden. Für diejenigen, die zwischen den Zeilen zu lesen verstanden, war der im »Vorwort« niedergelegte Editionsplan Ellissens ein Aufruf zur Revolution. Ellissen ging durch den »Nebel« Lamennais’ und die vorgebliche ›Tiefe‹ der Transzendentalphilosophie zurück auf die Philosophie des gesunden Menschenverstandes, die er als Philosophie des freien – von der Knechtschaft des Systems befreiten – Denkens verstand. Unter den Beigaben, die Ellissen der Ausgabe anfügte, verdienen zunächst die beiden Briefe von Helvétius Beachtung. Im Brief an Montesquieu äußerte sich Helvétius skeptisch gegenüber dessen Prinzip der Gewaltenteilung, weil sie, nach englischem Vorbild, nicht wirklich die Herrschaft des Volks – der »Staatsbürger« – begünstigte: »Erlebten wir nicht wirklich, daß Abgaben wirklich wurden, um ein Parlament zu besolden, welches dem Könige das Recht verleiht, dem Volke Abgaben aufzulegen?«21 Ganz im Sinne von Voltaires Verdikt gegen ›Thron und Altar‹ (Le fanatisme, ou Mahomet le prophète, II,3) argumentierte Helvétius, dass eine »Nazion« erst dann möglich sei, wenn sie die subsidiären Kräfte der Kirche und des Adels ausschalte: »Unsre Priester sind zu fanatisch und unsre Edelleute zu unwissend, um Staatsbürger zu werden und die Vortheile zu erkennen, die es ihnen verschaffen würde, wenn sie es wären, wenn sie eine Nazion bildeten.«22 Scharfe Kritik übte Helvétius an Montesquieus Unterscheidung der Regierungssysteme. Der Wert einer Regierung bemesse sich vielmehr danach, wie weit sie in der Lage sei, durch Reduktion der Steuerlast dem Staatsbürger freien Entfaltungsspielraum zu lassen: Schließlich, mein theurer Präsident, muß ich Ihnen gestehen, daß ich die beständig wiederholten feinen Unterscheidungen der verschiednen Regierungsformen nie recht begreifen konnte. Ich kenne nur zwei Arten, die guten und die schlechten: die guten, welche erst noch zu erfinden sind; die schlechten, deren ganze Kunst darin besteht, durch verschiedne Mittel und Wege das Geld der Regierten in die Taschen der Regierenden zu spielen. Was die alten Regierungen durch den Krieg raubten, erlangen unsre jetzigen noch sichrer durch das Steuersystem.23
|| 21 Zwei Briefe von Helvetius über den »Geist der Gesetze«. In: Montesquieu, Geist der Gesetze (Anm. 10), S. 69–78, hier S. 73. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 74.
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Im Brief an Bernard-Joseph Saurin (1706–1781) – der Rechtsgelehrte und Schriftsteller frequentierte dieselben Zirkel wie Montesquieu und Helvétius – kritisierte Helvétius den Zwang zum System, dem sich Montesquieu unterworfen habe. Anstelle von Maximen – der Form eines freien Denkens abseits aller Konventionen, wie es Montaigne vorgeprägt hatte – herrsche ein Systemgeist vor, der der Bindung des Autors des Esprit des loix an seinen sozialen Stand geschuldet sei: »Neben dem Geiste eines Montaigne hat er alle seine Vorurtheile als Rechtsgelehrter und Edelmann beibehalten: dies ist die Quelle aller seiner Irrthümer.«24 Abgesehen vom Steuersystem, das die Regierenden alimentiere, sei es vor allem der »Korporazionsgeist«, der die Gesellschaft unterminiere: »Der Korporazionsgeist überwältigt uns von allen Seiten. Unter den Namen von Korporazionen errichtet man eine Macht auf Kosten der ganzen Gesellschaft.«25 In Verbindung mit Voltaires Rückgriff auf das Naturrecht (Grotius, Pufendorf)26 entfaltete Ellissens Textauswahl ein Tableau, das es dem Leser ermöglichte, Probleme und Lösungsansätze im Blick auf die Einrichtung einer staatsbürgerlichen Verfassung zu diskutieren. Die bedeutendste Beigabe in Ellissens Übersetzung des Esprit des loix ist der umfangreiche Kommentar von Destutt de Tracy. Ich beschränke mich auf zwei sachliche Aspekte, die in die Art der Kommentierung Einblick geben. Im Kontext der Naturrechtsdebatte übte Tracy grundsätzlich Kritik an Montesquieus Begriff des Gesetzes: »Die Gesetze sind nicht, wie Montesquieu sagt, ›nothwendige Beziehungen, die aus der Natur der Dinge fließen‹.«27 Der Begriff des Gesetzes ermöglicht Tracy vielmehr die grundlegende Unterscheidung von durchs Naturrecht legitimierten Gewalten auf der einen Seite und der Willkürherrschaft auf der anderen. Gesetz sei »eine unsern Handlungen vorgeschriebene Regel, insofern sie von einer Macht ausgeht, die wir als zur Aufstellung eines solchen Gesetzes berechtigt ansehen. Diese letzte Bedingung ist nothwendig; denn wenn sie fehlt, ist die vorgeschriebene Regel nichts weiter als ein willkürlicher Befehl, ein Akt der Gewalt und Unterdrückung.«28 Auch die positiven, auf »Übereinkunft« beruhenden Gesetze, die »vermittelst unsrer Regierungsbehörden, unsrer Gerichtshöfe und unsrer künstlich geschlossenen Gewalt« zustande || 24 Ebd., S. 76. 25 Ebd., S. 78. 26 Vgl. Voltaire’s Vorwort zu seinem Kommentar über den »Geist der Gesetze«. In: Montesquieu, Geist der Gesetze (Anm. 10), S. 79–81, hier S. 79. 27 Destutt de Tracy’s Kommentar zu Montesquieu’s »Geist der Gesetze. Erstes Buch. – Von den Gesetzen im Allgemeinen«. In: Montesquieu, Geist der Gesetze (Anm. 10), S. 104–107, hier S. 104. 28 Ebd.
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gekommen seien, seien nur dann als verbindlich anzuerkennen, wenn sie aus dem Naturrecht abgeleitet werden können: »Diese Gesetze müssen also den Gesetzen unsrer Natur entsprechen, sie müssen in folgerichtiger Weise aus ihnen hergeleitet werden, nicht ihnen zuwider laufen […] Recht ist, was das Gute, Unrecht, was das Böse erzeugt.«29 Tracys Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und positiver Gesetzlichkeit ist zugleich ein gutes Beispiel für die Interaktion von Kommentator (Tracy) und Übersetzer (Ellissen). Im Blick auf das Widerstandsrecht hatte Tracy nämlich eine Einschränkung bei der Berufung auf das Naturrecht zugelassen. Tracy hatte geschrieben: »Damit ist aber, was wohl zu beachten, durchaus nicht gesagt, daß es immer rechtgethan sei, einem ungerechten Gesetze zu widerstreben, immer vernünftig, dem als unvernünftig Erkannten thätigen und gewaltsamen Widerstand entgegenzusetzen.«30 Sei doch jeweils abzuwägen, »ob der Widerstand nicht noch größeres Uebel wirkt, als der Gehorsam.«31 Vergleichbar mit Helvétius’ Herleitung von Montesquieus Irrtümern aus dessen sozialem Stand sah sich auch Ellissen in einer »Anm[erkung] d[es] Übersetzers« zu einer polemischen Invektive veranlasst: »Nicht dem Bürger Destutt, dem Sohn der Revoluzion, sondern dem Grafen de Tracy, Mitglied des Erhaltungssenats unter Napoleon und Pair von Frankreich unter Ludwig XVIII., scheint dieser Grundsatz anzugehören. Es wäre überflüssig auf die Konsequenzen desselben hinzuweisen.«32 Der zweite Problemkomplex, den ich aus Tracys Kommentarwerk herausgreife, betrifft Montesquieus Unterscheidung der Regierungsformen in Republik, Monarchie und Despotie. Destutt de Tracy stellte seinen Überlegungen die Maxime voran: »Es gibt nur zwei Arten der Regierung: solche, die auf den allgemeinen Menschenrechten beruhen, und solche, die auf besondern Rechten zu beruhen vorgeben.«33 Für Tracy ist der Begriff der Republik »ein sehr schwankender Ausdruck«, und er sei folglich nicht geeignet, eine Rechtsform zu begründen. Ebenso verhalte es sich mit den Begriffen Monarchie und Despotie. Despotie, d. h. ein »Mißbrauch« der Macht, sei ein »Fehler, der sich mehr oder weniger in allen Regierungen findet, weil alle menschlichen Einrichtungen un-
|| 29 Ebd., S. 106. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 106f. 32 Adolf Ellissen: Anm[erkung] d[es] Übersetzers. Ebd., S. 106. 33 Destutt de Tracy’s Kommentar zum zweiten Buche. Von den Gesetzen, welche unmittelbar aus der Natur der Regierung fließen. In: Montesquieu, Geist der Gesetze (Anm. 10), S. 129–134, hier S. 129.
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vollkommen sind, wie ihre Urheber.«34 Vielmehr müsse man Herrschaft im nationalen oder gemeinschaftlichen Sinne von Herrschaft im »privatrechtlichen« Sinne unterscheiden. Der Herrschaft im privatrechtlichen, speziellen oder ausnahmsweisen Sinne fehle die Berufung auf den »allgemeinen Willen« (volonté générale), insofern sie sich auf »andre gesetzmäßige Quellen der Rechte und Gewalten« berufe – »wie die Gnade Gottes, die Eroberung, die Geburt an dem und dem Orte oder in der und der Kaste« usw.35 Tracy begründet die Legitimität der Regierungsform demnach mit der Prüfung, inwiefern sie Ausdruck der volonté générale ist. Der »allgemeine Wille«, insofern er sich in den Menschenrechten konkretisiert und in ihnen kodifiziert ist, lässt also eine Vielzahl von Regierungsarten zu – von der »absoluten Demokratie« bis zur »unbeschränkten Monarchie«.36 Die im Naturrecht begründeten Menschenrechte sind demnach die eigentliche Quelle des allgemeinen Willens, der sich der jeweils realisierten Form nach auf sehr unterschiedliche Weise darstellen kann. Die Wirkung der ›Ideologie‹ in den rechtsphilosophischen Diskussionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war beträchtlich, wie die Auseinandersetzung mit Destutt de Tracy zeigt. Für Heinrich Heine sind die Menschenrechte geradezu ›religiöses‹ Prinzip von Herrschaft. Aus dem Badeort Boulogne-surmer schrieb er am 23. November 1835 an Heinrich Laube: Machen Sie eine genaue Scheidung zwischen politischen und religiösen Fragen. In den politischen Fragen können Sie so viel Concessionen machen, als Sie nur immer wollen, denn die politischen Staatsformen und Regierungen sind nur Mittel; Monarchie oder Republik, Demokratische oder Aristokratische Instituzionen sind gleichgültige Dinge[,] solange der Kampf um erste Lebensprinzipien, um die Idee des Lebens selbst, noch nicht entschieden ist.37
Das waren Überlegungen, wie sie Heine bei Destutt de Tracy kennengelernt hatte. Heines Kritik an den Republikanern ist von hier aus nachvollziehbar, denn die Frage nach der Republik war für ihn im Verhältnis zur Frage nach der Durchsetzung »erster Lebensprinzipien« – der Menschenrechte also – sekundär. Ellissens Übersetzung und Edition des Esprit des loix im Rahmen der »Französischen Classiker« stellte im Verein mit dem Kommentar Destutt de Tracys ein
|| 34 Ebd., S. 130. 35 Ebd., S. 133. 36 Ebd. 37 Heinrich Heine: Brief an Heinrich Laube, Boulogne-sur-mer, 23. November 1835. In: H. H.: Säkularausgabe. Bd. 21, Nr. 553, S. 125–128, hier S. 125. Vgl. Ralph Häfner: Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens. Berlin/New York 2006, S. 284.
Adolf Ellissen als Herausgeber von Montesquieus »Geist der Gesetze« | 533
Werkzeug bereit, um der im Frankreich der Julimonarchie praktizierten Philosophie des gesunden Menschenverstands auch in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen – zu einer Zeit übrigens, in der Karl Marx mit dem nie vollendeten polemischen Projekt Die deutsche Ideologie (1845/1846) die dem Junghegelianismus assimilierte Staatstheorie Tracys zu überwinden trachtete.38
|| 38 Zum Kontext vgl. Häfner: Masken (Anm. 5), S 133f.; vgl. des weiteren Kennedy: Destutt de Tracy (Anm. 4), S. 341–346 (»Marx and Ideology«), sowie: Studien zu Marx’ erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der Deutschen Ideologie. Trier 1990.
| Moderne
Achim Aurnhammer
»Im Anfang war das Wort!« – »Im Anfang war die Tat!« Wort und Tat in Stefan Georges Ideal des Heroischen*
1 Einleitung In dem Gedenkbuch Maximin (1906) verherrlicht Stefan George den früh verstorbenen Maximilian Kronberger (1888–1904), dem er seit dem ersten Treffen im Jahre 1902 als poetischer Mentor und väterlicher Freund zur Seite gestanden hatte. Die Prosa-»Vorrede« reaktualisiert die »plötzliche ankunft« und Begegnung des Jünglings mit George und seinem Kreis im einvernehmlichen Wir und überhöht sie zur »Offenbarung«. Um den Kreis als Kultgemeinschaft zu festigen und seine Rolle als deren »Meister« und Prophet Maximins zu stärken, sucht George in der »Vorrede« die Sakralität des Verstorbenen zu verbürgen und preist Maximin als Erfüllung einer kollektiven Hoffnung und Erfordernis des Kreises: »Wir erkannten in ihm den darsteller einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten« und »was uns not tat war Einer der […] uns die dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen«.1 Doch bleibt die präsumtive Göttlichkeit Maximins vage, da sie mehr mit seiner epochalen Wirkung auf die Kreismitglieder als mit der Person selbst beglaubigt wird: An der helle die uns überströmte merkten wir dass er [»Einer der von den einfachen geschehnissen ergriffen wurde«] gefunden war […]. Je näher wir ihn kennen lernten desto mehr erinnerte er uns an unser denkbild […]. Zu andren Zeiten erschien er uns als der märchenhafte waise […]. Wir ahnten in ihm ein fremdes das uns nie angehören würde […].2
|| * Alexandra Hertlein danke ich für ihre hilfreichen Hinweise. 1 Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: S. G.: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 61–66, hier S. 62– 63. George hat die »Vorrede zu Maximin« allerdings nicht in das Buch Maximin, das Zentrum des Siebenten Rings aufgenommen, sondern erst in den Tagen und Taten wieder veröffentlicht. Die Gedichte Georges werden zitiert nach: S. G.: Sämtliche Werke in 18 Bänden [künftig abgekürzt: SW, Band- und Seitenzahl]. Hg. von der Stefan George Stiftung. Stuttgart 1982–2013. 2 Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: SW (Anm. 1), Bd. 17, S. 63.
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Angesichts des schwach begründeten Charismas Maximins wirkt die Aussage: »Wir waren die sieghaften krieger des auszuges: er war zum herrscher erkoren« eher wie eine Beschwörung als eine zwingende Schlussfolgerung. Das Paradoxon, dass mit Maximin ein unbeschriebenes Blatt als göttlicher Heros etabliert wird, benennt George selbst, um es sogleich zu entkräften: Allein wir wissen dass nur greisenhafte zeitalter in jugend ausschliesslich vorstufe und zurichtung · niemals gipfel und vollendung sehen – dass mehr in ihrer gestalt als in ihren worten und taten die überdauernde macht der Hehren und Helden liegt […].3
George bagatellisiert die Wort- und Tatlosigkeit des jungen Menschen, indem er stattdessen die »gestalt« als ein holistisches Ganzes zum Prädikat des Heroischen macht: Damit entwertet George zwar nicht die klassischen Felder heroischer Bewährung, die er mit der Zwillingsformel ›wort und tat‹ selbst zitiert, aber er relativiert sie. In dem ›Gestalt‹-Heroismus, den George als ein ebenso esoterisches wie elitäres Wissen darstellt (»allein wir wissen«),4 fungieren Wort und Tat lediglich als »heroische Seismographen« und als Austragungsort des Heldenhaften – in »Tat und Wort« übersetzt sich die »Gestalt« in Größe.5 In diese Vermittlungsfunktion ist allerdings zunächst keine Bewertung der Komponenten eingeschrieben. Die Beiordnung von ›Wort‹ und ›Tat‹ erlaubt nicht nur, an ein getrenntes Auftreten von Wort und Tat zu denken, sondern auch an eine untrennbare Kombination oder implizite Hierarchie. Die unterschiedlichen Lesarten der Zwillingsformel im Werk Stefan Georges sind in der Forschung bislang kaum betrachtet worden. Lediglich im Hinblick auf das Hitler-Attentat Claus von Stauffenbergs hat Wolfgang Graf Vitzthum eine Deutung geliefert, die den engen Zusammenhang der ›Tat‹ mit der Dichtung Georges plausibilisiert.6
|| 3 Ebd., S. 64. Zur Formel der ›Hehren und Helden‹ vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu den Prosa-, Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges. München/Düsseldorf 1962, S. 58. 4 Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: SW (Anm. 1), Bd. 17, S. 64. Damit schreibt George der Verehrergemeinde Maximins, seinem Kreis, ein Gruppencharisma zu; vgl. Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande. Hg. von Erik Jentges. Mit einer biografischen Skizze von Hermann Korte. Marbach a. N. 2014. 5 So erläutert Friedrich Gundolf in seinem Essay Dichter und Helden den Zusammenhang von Wort, Tat und Gestalt in der Auffassung des George-Kreises: »Tat und Wort sind nur die Mittel worin die neue Gestalt sich ausdrückt: d. h. die neue Einswerdung einer menschlichen Seele mit einer sachlichen Welt« (F. G.: Dichter und Helden. Heidelberg 1921, S. 47f.). 6 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum: Wider den entgrenzten Staat. Der Weg der Brüder Stauffenberg. In: Jörn Axel Kämmerer (Hg.): An den Grenzen des Staates. Berlin 2008, S. 231–255, und
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Im Folgenden soll das Verhältnis von Wort und Tat in Georges ästhetischem Heroismus überblickshaft und im intratextuellen Vergleich einschlägiger Gedichte ausgelotet und schließlich durch die Interpretation von Georges programmatischem Gedicht »Kommt wort vor tat kommt tat vor wort« zugeschärft und differenziert werden. Bereits in der antiken abendländischen Literatur erwies sich ›Wort und Tat‹ als schlagkräftiges Begriffspaar: Ob, wie in Aesops Fabel vom Fuchs und vom Holzhacker,7 die Kongruenz von Wort und Tat problematisiert oder, wie in Sophoklesʼ Elektra, eine natürliche Verwandtschaft von Wort und Tat behauptet wird8 – immer wird die Komplementarität, in manchen Fällen gar die funktionale Kongruenz oder Reziprozität von Werken und Worten betont. Sie begegnet in der frühneuzeitlichen Literatur im sogenannten Verewigungstopos9 von Feder und Schwert, der neben der Komplementarität eine inhärente Rivalität zeigt: Gäbe es denn überhaupt eine Heldentat, wenn es nicht den Dichter gäbe, der sie poetisiert?10 Den ebenso engen wie problematischen Zusammenhang von
|| W. G. V.: »Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?« Die Brüder Stauffenberg und der Dichter Stefan George. Berlin 2010. 7 Aesop 22 (Perry), 34 (Chambry). 8 Sophokles: Dramen. Griech. und dt. Hg. und übers. von Wilhelm Willige, überarb. von Karl Bayer. Mit Anm. und einem Nachwort von Bernhard Zimmermann. München/Zürich 21985, hier S. 418f.: Elektra, v. 622–625. 9 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 9 1978, S. 469–470 (IX. Dichtung als Verewigung); zum poetologischen Topos von ›Feder und Schwert‹ vgl. die knappen Bemerkungen von Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin 2007, S. 22. 10 Nach Martin Opitz: Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Krieges, III, 417–422 (M. O.: Gesammelte Werke. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. 1. Stuttgart 1968, S. 243), ist es erst der Dichter, der den ewigen Ruhm schafft und damit sogar die Tat des »Helden« übertrifft: […] dann were nicht die hohe Kunst gewesen Durch welche wir noch jetzt des Helden Mannheit lesen / So were mit dem Grabʼ in das er ward gestreckt Auff eine Zeit sein Leib vnd Name zugedeckt. Der Bücher Gutthat ists / daß viel noch wird gefunden Was längs hat fort gemust. […] Vgl. dazu Andreas Solbach: Rhetorik des Trostes: Opitzʼ »Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges« (1621/1633). In: Thomas Borgstedt/Walter Schmitz (Hg.): Martin Opitz (1597–1639): Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002, S. 222–235, hier S. 234; zur Stoisierung des Verewigungstopos bei Opitz und Paul Fleming vgl. Achim Aurnhammer: Martin Opitzʼ Trost-Getichte – ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus. In: Jochen Schmidt/Barbara Neymeyr/Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der
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Wort und Tat erörtert Faust, wenn er in Goethes Der Tragödie erstem Teil das Johannes-Evangelium in »[s]ein geliebtes Deutsch« überträgt: Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!« Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. […] Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!11
Die Konkurrenz von militärischer Tat und dichterischem Wort dauert weit in die Moderne fort, sie bestimmt etwa das Einleitungsgedicht von Friedrich Rückerts Geharnischten Sonetten, dessen Schlussterzett die Durchhaltelyrik ihres Verfassers als Surrogat soldatischen Handelns ausgibt: Ich will hinunter in des Lebens Drang, Eingreifen in das irdische Getriebe, Wo nicht durch Thaten, doch durch irdischern Gesang.12
Ungeachtet ihrer engen Zusammengehörigkeit können Worte und Taten unterschiedliche Funktionen erfüllen. Aus der jeweiligen Abfolge und Bewertung ergeben sich – ähnlich wie in der Debatte um den Vorrang von Wort oder Ton in der Oper (»prima le parole poi la musica«) – verschiedene Hierarchien. Systematisch lassen sich die möglichen Verhältnisse in einem heuristisch hilfreichen Schema darstellen, das sowohl das temporale Moment der Sukzession als auch das qualitative Moment der Bewertung berücksichtigt: 1 ›Wort und Tat‹ 1.1 Temporal Das Nebeneinander von Wort und Tat in der Zwillingsformel betont die Synchronie von Sprechakt und Handlung.
|| europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. 2 Bde. Berlin 2008, Bd. 1, S. 711–729, bes. S. 726–727. Zur emblematischen Verbindung und Gegenüberstellung von Feder (Buch) und Schwert (Waffe) vgl. Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 21978, Sp. 1503f. und 1736. 11 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 7/1: Faust, Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1992, hier S. 61: Faust. Der Tragödie erster Teil. Studierzimmer. 12 Friedrich Rückert: Werke. Bd. 1. Leipzig/Wien [1897], S. 13.
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1.2 Evaluativ/Qualitativ Wort und Tat werden als gleichrangig dargestellt. 2 ›Tat vor Wort‹ 2.1 Temporal Die temporale Position der ›Tat‹ vor dem ›Wort‹ scheint intuitiv stimmig, da der Tat größeres Verwandlungs-, dem Wort größeres Vermittlungspotential zukommt. Das Wort kontextualisiert und vermittelt die Tat historisch berichtend oder panegyrisch, kollektiviert oder personalisiert sie, wertet sie ab oder stilisiert sie zur Heldentat. 2.2 Qualitativ Der Tat wird die größere, faktuale Wirkmacht zuerkannt, während die sprachliche Bearbeitung sekundär bleibt. 3 ›Wort vor Tat‹ 3.1 Temporal Hier geht es vor allem um die prophetische Funktion des ›Wortes‹.13 Das Wort kündigt an, was sich später in der Tat erfüllt. Denkbar ist auch eine adhortative Funktion: Das Wort gemahnt an eine Tat, die zu tun ist, wie Cato in seiner Aufforderung, Karthago zu zerstören. Aber auch das inhibierende, tathindernde Potential des Wortes im Sinne von Hamlets ›Blässe des Gedankens‹ ist zu bedenken. Das Zaudern eines Helden vor der großen Tat ist eine klassische poetische Situation. Insofern kann das Wort der Tat entgegenstehen und zum Hinderungsgrund werden oder die Tatkraft sich gegen das mahnende Wort durchsetzen. 3.2 Qualitativ Das Wort wird in seiner Bedeutung der Tat übergeordnet. Die Tat verblasst und das Wort verselbständigt sich, indem die poetische Glorifizierung die Heldentat zurückdrängt. Auf diese Weise sublimiert und dominiert das fiktionale Moment das faktuale Geschehen. Im heroischen Kontext gewinnt || 13 Auch ein Scheitern der Verheißung ohne Verletzung der Zusammengehörigkeit beider Begriffe ist denkbar. Ein Beispiel für prophetisches Versagen ist die antike Kassandra-Figur, deren Misserfolg jedoch nicht in der mangelnden katalytischen Kraft ihrer Worte, sondern vielmehr in paratextueller Prädestination zu suchen ist. Die misslungene Abstimmung von Taten auf Worte erweist sich als fatales Moment. Dass sogar Gedanken in die Tat umschlagen können, hat Hölderlin in seinem Gedicht An die Deutschen (1798) als poetische Option formuliert: »[…] Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt, | Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald? […]« (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992, hier S. 202: An die Deutschen [1798], v. 5f.).
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das Wort oft selbst einen ›Tat-Charakter‹. Angefangen bei der profanen eloquentia und persuasio ließe sich diese Vorherrschaft des Wortes bis zum christlichen logos creator skalieren. Eine solche temporal wie evaluativ fundierte Kategorisierung muss freilich neben den je spezifischen medialen Ausdrucksformen auch die Historizität der Wort-Tat-Beziehung berücksichtigen. So wechseln mit den ›Wort-Tat-Konzepten‹ auch die poetischen Leitgattungen. Während das Epos oder die Panegyrik das Wort in den Dienst der Tat stellen,14 heben utopische und appellative Texte oder Dichtungen mit einem ausgeprägt prophetischen Modus die Bedeutung des Worts hervor. Doch wird sowohl in den tat- wie wortbasierten Gattungen häufig das Verhältnis von Wort und Tat metapoetisch problematisiert.15
2 Wort und Tat im Werk Stefan Georges Stefan Georges Lyrik thematisiert das Verhältnis von ›Wort und Tat‹ vielfach und in unterschiedlicher Weise und Bewertung. Zum einen begegnet es auf der Wortebene sensu strictiore in der klassischen Zwillingsformel von ›Wort und Tat‹, zum anderen werden auf der Sinnebene immer wieder die Wortfelder ›Sang, Ton oder Lied‹ und ›Werk oder Tat‹ miteinander konfrontiert, bisweilen auch in syntaktischer und lexikalischer Abschwächung, und unterschiedlich bewertet.
|| 14 Maurice Bowra leitet ein Kapitel zur Poesie der Tat folgendermaßen ein: »Erste Aufgabe jeder Heldendichtung ist es, von Taten zu berichten […]«. In: M. B.: Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten. Stuttgart 1964, S. 51. Doch selbst in tatbasierten Gattungen kann das Wort eine Eigendynamik gewinnen und mit dem eigentlichen Anlass konkurrieren oder diesen gar überbieten, wie im heroisch-komischen Epos, wo ein kleiner Anlass, wie etwa ein ›geraubter Eimer‹ in Tassonis Secchia rapita, einen komischen Kontrast zum hohen Stil und sprachlichen Aufwand erzeugt. 15 Gerade im Drama wird die Frage nach dem Vorrang von Wort und Tat oft durch verschiedene Figuren, meist Held und Gegenspieler, verkörpert. So zeigt etwa der sophokleische Dialog zwischen Klytämnestra und ihrer Tochter Elektra, wie prekär die scheinbare Trennung von Wort und Tat ist; vgl. Sophokles: Elektra (Anm. 8), v. 622–625.
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2.1 Die Zwillingsformel ›wort und tat‹ Die Formel ›Wort und Tat‹ findet sich vor allem in Georges späteren Werken, dem Siebenten Ring und dem Stern des Bundes. Hierin zeigt sich, dass der Maximin-Kult einen Einschnitt in Georges Heroisierungsstrategien markiert, die sich zunehmend ins Prophetische und Ästhetische verlagern. Das Gegensatzpaar gibt es freilich auch schon im Frühwerk, ohne aber in der Zwillingsformel prägnant kombiniert zu sein. So verkörpern im Gedichtpaar »Die Lieblinge des Volkes« aus dem Buch der Hirten- und Preisgedichte · der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten von 1895 zwei verschiedene Heldentypen, DER RINGER und DER SAITENSPIELER, Tat und Wort, stehen aber unvermittelt und ebenbürtig nebeneinander. Beide werden als charismatische »helden« gefeiert, ohne dass ihr Ruhm oder ihr unterschiedliches Medium (»arm« vs. »haupt«) in irgendeiner Weise hierarchisiert würden.16 Vielmehr wird die Gleichrangigkeit von Wort und Tat durch das unterschiedslos hingerissene Publikum, das »Volk«, verbürgt, das unabhängig von Alter und Geschlecht sich beide zu »Lieblingen« erkoren hat. Frühester Beleg der Zwillingsformel ist das Gedicht »Kunfttag III« aus dem Siebenten Ring. Wort und Tat, wie sie in der zweiten Strophe auftauchen, schließen semantisch an die christliche Deutungstradtition nach dem Johannes-Evangelium an:17 Nun wird es wieder lenz . . Du weihst den weg die luft Und uns auf die du schaust – So stammle dir mein dank. Eh blöd der menschen sinn Ihm ansann wort und tat. Hat schon des schöpfers hauch Jed ding im raum beseelt. Wenn solch ein auge glüht Gedeiht der trockne stamm ·· Die starre erde pocht Neu durch ein glühend herz.18
|| 16 Stefan George: Die Lieblinge des Volkes. In: SW (Anm. 1), Bd. 3, S. 22, v. 1, und S. 23, v. 1. 17 »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« (Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεὸν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος). Joh. 1,1. 18 Stefan George: Kunfttag III. In: SW (Anm. 1), Bd. 6/7, S. 92.
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Dieses Gedicht leitet als eines der »Advent-Gedichte«19 den Maximin-Ring ein, die symmetrische Mitte und Spiegelachse des Siebenten Ringes. Das Gedicht feiert in einer Du-Apostrophe die Ankunft Maximins als Epoche (»nun«) einer triadischen Heilsgeschichte, als Erneuerung (»wieder«) im jahreszeitlichen Bild des Frühlings. Das lyrische Ich gibt sich als Sprecher der Verehrergemeinde (»uns«) zu erkennen. In der Mittelstrophe werden – wie in der »Vorrede zu Maximin« – »wort und tat« als nachträgliche Zuschreibung göttlicher Attribute abgewertet. Georges Gedicht löst den Helden von der Charismatisierung, dem »Ansinnen« von Wort und Tat durch eine Verehrergemeinde, und macht seine Göttlichkeit unabhängig von der Prädikation durch »der menschen sinn«. Der heroische »schöpfer« hat bereits »jed ding im raum beseelt«, bevor ihm »wort und tat« zugeschrieben werden. Es bleibt unklar, ob der Schöpfungsakt an sich eine Tat darstellt, oder er sich dieser begrifflichen Bestimmung versagt. Dementsprechend bleibt auch die Deutung des »hauch[s]« als ›Wort‹ offen, liegt jedoch mit Blick auf die inspirationstheoretische Tradition nahe.20 Die Schlussstrophe unterstreicht in ihrer chiastischen Spannung des »Glühens«, wie allein Blick und Herz die Natur neu beleben und die Welt verändern können. In »Kunfttag III« wird wie in der »Vorrede« die Begegnung mit Maximin zum göttlichen Inspirationsmoment stilisiert. Er verbürgt sich geradezu in der Transgression von materieller Tat und großem Wort, im unbegrifflichen Erkennen einer Gestalt, deren Größe sich in ihrer epochalen Wirkung auf die Verehrer manifestiert. Das zweite Gedicht, welches die Zwillingsformel isoliert, lässt sich als konsequente Weiterführung des »Kunfttages III« lesen. Es findet sich im Eingang zum Stern des Bundes, der antonomastischen Verrätselung Maximins: Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt: Noch nicht begann ich wort und tat der erde Was mich zum menschen macht . . nun naht das jahr In dem ich meine neue form bestimme. Ich wandle mich doch wahre gleiches wesen
|| 19 Vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. Düsseldorf/München 21969, S. 271: »Die drei Gedichte, die den Obertitel ›Kunfttag‹ als Übersetzung des Wortes Advent tragen, umschreiben rückblickend die Gefühle des Dichters vor und beim Erscheinen Maximins«. 20 In der Antike wird die Inspiration häufig als Ausgangspunkt künstlerischer Kreativität durch das ›Einhauchen‹ von Ideen und Worten höherer Wesen verstanden. Die frühesten Zeugnisse enthusiastischen Selbstbewusstseins geben die Dichter Hesiod (Theogonie, Vers 21– 25) und Demokrit (Frag. B 18 nach Diels-Kranz). Für die Wirkungsgeschichte des ›Enthusiasmos› ist Platons Dialog Phaidros ein zentraler Ausgangstext (244a–245c).
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Ich werde nie wie ihr: Schon fiel die wahl. So bringt die frommen zweige und die kränze Von veilchenfarbenen von todesblumen Und tragt die reine flamme vor: lebt wohl! Schon ist der schritt getan auf andre bahn Schon ward ich was ich will. Euch bleibt beim scheiden Die gabe die nur gibt wer ist wie ich: Mein anhauch der euch mut und kraft belebe Mein kuss der tief in eure seelen brenne.21
Dem Ankunftserlebnis in »Kunfttag III« aus der Verehrerperspektive antwortet das vierzehnversige reimlose Rollengedicht aus der Sicht des »schöpfers« Maximin. Er kündigt dem »Bund« seinen Abschied vom diesseitigen Leben und seine Metamorphose an: »Ich wandle mich doch wahre gleiches wesen« (v. 5).22 Diesen epochalen Übergang betonen die zahlreichen Zeitadverbien, die Maximins Ansprache an den Kreis strukturieren. Das Incipit erinnert den Kreis im »noch nicht« (v. 1–3) an die Asymmetrie zwischen Mensch und Gott und die Unbegreiflichkeit des Göttlichen, bevor die Metamorphose (»meine neue form«) angekündigt wird, die von den Adverbien »nun« (v. 3) und »schon« (v. 6) gerahmt wird. Sie legt die Liturgie für den rite de passage fest, mit dem Maximin selbst seine kultische Verehrung stiftet (»So bringt die frommen zweige und die kränze […] und tragt die reine flamme vor«, v. 7–9). Mit dem anaphorischen »schon« wird der Übergang Maximins in die »neue form« performativ vorgestellt und seine Mission an die esoterische Verehrergemeinde in »anhauch« und »kuss« als Versprechen und Verpflichtung verkündet. Damit wird die in »Kunfttag III« evozierte Inspiration als Realität verbürgt: Der aus dem Leben scheidende Gott spricht zu seinen Verehrern und verkündet ihnen seinen Kult, die Gabe von »anhauch« und »kuss«. Auch in Maximins letzten Worten umschreibt die Formel ›Wort und Tat‹ die bloß menschliche || 21 Stefan George: »Ihr wisst nicht wer ich bin . . nur dies vernehmt:«. In: SW (Anm. 1), Bd. 8, S. 10. 22 Die Parallele zur autofiktionalen Selbstcharakterisierung Georges im ersten Zeitgedicht (»Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche«, SW (Anm. 1), Bd. 6/7, S. 6f., v. 28) deutet die Affinität des Seherdichters zu seinem »geschöpf« Maximin an. Die Deutung des Sterbens als Gestaltwandel alludiert außerdem die berühmte Michelangelo-Stelle Qui vuol mie sorte cʼanzi tempo iʼ dorma: né son già morto: e ben cʼ albergo cangi, resto in te vivo, cʼor mi vedi e piangi; se lʼun nellʼaltro amante si trasforma. Michelangiolo Buonarotti: Rime. Hg. von Enzo Noè Girardi. Bari 1967, S. 99, Nr. 194.
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Manifestation einer Inkarnation von Göttlichem oder Heroischem: »Noch nicht begann ich wort und tat der erde | Was mich zum menschen macht . . […]« (v. 2f.). Taten und Worte werden als anthropologische Spezifika gedeutet, die, selbst wenn sie göttlich inspiriert sind, immer der irdischen Sphäre zugehören. Da George den Jüngling Maximin zum Gott und Retter stilisiert, spielen »wort und tat« für die Frage nach der wahren metaphysischen Größe keine Rolle. In Worten und Taten äußern sich zwar heroische Qualitäten, sie stellen jedoch keine notwendigen Kennzeichen großer Gestalten dar. Dass George einem christlichen Wort-Tat-Verständnis nur in begrenztem Maße verpflichtet war, zeigt auch das Gedicht »Was euch betraf ist euch das band aus erz . .« aus dem Dritten Buch des Stern des Bundes.23 Das Gedicht mahnt den Bund zu religiöser Treue und gibt Regeln für potentielle Apostaten. In schweren Fällen und Glaubenszweifeln wird zum Freitod aufgefordert: »So lernt von helden euch ins schwert zu stürzen« (v. 4). Der Rat für minder schwere Verfehlungen lautet: Habt ihr im kleinen gegen euresgleichen Gefehlt – so geht und sühnet stumm mit tat Dann kommt zurück: […].24
Auch wenn die Zwillingsformel ›Wort und Tat‹ hier nicht explizit vorkommt, wird sie auf semantischer Ebene alludiert. Das adverbiale »stumm« fordert vom Delinquenten eine »tat« in gezielter Isolation vom Wort. Anders als in der Beichtkonvention des Christentums könne nur diese ein Fehlverhalten »sühnen« und die erneute Inklusion in den Kreis gewähren. Georges Dichtung verneint hier entschieden eine exkulpative Indienstnahme des Wortes, welches als Phrase ebenso abgetan wird wie die Geste der Vergebung: »Verzeihung heischen und verzeihn ist greuel« (v. 10).
2.2 Konkurrenz von Wort und Tat Wie gezeigt, gebraucht George die Zwillingsformel relativ selten, zudem nur im Spätwerk und ausschließlich mit Bezug auf Maximin. Dagegen ist die Konkurrenz von Wort und Tat, wie das Gedicht »Was euch betraf ist euch das band aus erz . .« aus dem Dritten Buch des Stern des Bundes zeigt, ein durchgängiges
|| 23 Stefan George: »Was euch betraf ist euch das band aus erz . .«. In: SW (Anm. 1), Bd. 8, S. 93. 24 Ebd., v. 5–7 (meine Hervorhebung).
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Leitmotiv. In Georges Werk begegnen alle in der Heuristik vorgestellten Hierarchien von Wort und Tat in temporaler und evaluativer Hinsicht.
2.2.1 Tat vor Wort George stellt mehrfach den Helden vor der Tat dar. In dem bedeutenden Rollengedicht »Der Täter« wird der Abend vor der Tat geschildert, ein Gedicht, das Graf Claus Stauffenberg in seinem Attentatsversuch bestärkte.25 Das Zögern (»Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn | Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt«26) entspringt dem Dilemma zwischen eigengesetzlichem transgressiven Handeln und der Achtung normativer Gebote. In dem Gedicht »Du sprichst mir nie von sünde oder sitte« aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens liegt jene strukturell einfachste Form der verbalen Referentialität vor. In der Schlussstrophe reagiert das Sprecher-Ich mit der lächelnd zuckenden Anrede »sohn ! O sohn !«, als ein apostrophiertes Du »taten« rühmt: Und bei den taten denen weder lohn Noch busse – die du strahlend rühmst vor freien Und die nach volkes wahn zum himmel schreien Da zuckte ich nur lächelnd: sohn ! o sohn !27
Indem das Du »taten« rühmt, denen »weder lohn | Noch busse« (v. 13f.) zukommt, verwendet es das Wort in panegyrischer oder propagandistischer Funktion. So lässt die elliptische Konstruktion nicht nur offen, wessen Taten gerühmt werden, sondern auch, ob die Taten bereits begangen wurden – dann wären es zweckfreie Taten – oder noch begangen werden sollen. Dass es umstrittene »Taten« sind, zeigt die Differenz der Adressaten. Das Du rühmt vor einer Elite von »freien« die Taten, welche in der Mehrheitsperspektive, »nach volkes wahn«, ein Sakrileg darstellen (»zum Himmel schreien«). Die Reaktion des Sprecher-Ichs (»Da zuckte ich nur lächelnd«), welche, im Imperfekt distanziert, die consecutio temporum der Schlussstrophe durchbricht, bleibt ebenfalls ambivalent, zeigt sie doch ebenso verständnisvolle Nachsicht wie Überlegenheit gegenüber dem Lobpreis von Taten. Bezeichnend ist, dass die ›Taten‹
|| 25 Stefan George: Der Täter. In: SW (Anm. 1), Bd. 5, S. 45. Vgl. Vitzthum: »Kommt wort vor tat« (Anm. 6), bes. S. 4. 26 Stefan George: Der Täter. In: SW (Anm. 1), Bd. 5, S. 45, v. 5f. 27 Stefan George: »Du sprichst mir nie von sünde oder sitte«. In: SW (Anm. 1), Bd. 5, S. 17, v. 13–16.
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selbst unbestimmt bleiben, während das ›Wort‹ sich nur an eine spezifische Adressatengruppe richtet. Das Sonett »Ein Angelico«, ein Bildgedicht auf eine Marienkrönung des Malers Fra Angelico, aus der frühen Sammlung Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal konfrontiert zwar nicht die Begriffe ›Wort‹ und ›Tat‹, stilisiert jedoch das Kunstwerk zur Repräsentationsform der gestaltenden Tat. So qualifiziert das erste Quartett die bildkünstlerische Schöpfung: »Auf zierliche kapitel der legende | […] Errichtet er die glorreich grosse tat«.28 Während das zweite Quartett den Schaffensprozess als eklektische Konzentration von Naturelementen schildert, malt das Sextett die »tat« sprachlich aus. Der künstlerische Schöpfungsakt ist hier keine illustrative Reaktion auf die reale Welt, sondern schafft vielmehr eine eigene Realität. Indem sich das Dichterwort Georges in den rühmenden und vermittelnden Dienst dieser »tat« stellt, übernimmt es genau den glorifizierenden Gestus, welcher traditionell von der bildkünstlerischen Darstellung einer Marienkrönung erwartet wurde.
2.2.2 Wort vor Tat Das problematische Verhältnis von Wort und Tat veranschaulicht in neun Reimpaarstrophen das Gedicht »Die Tat« aus dem Buch der Hirten- und Preisgedichte · der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten:29 Ein »knappe« zieht nach der abschlägigen Anwort der Geliebten in den Kampf, um sich dort ruhmreich zu bewähren. Sein Tatendrang wird periphrastisch als Todeswunsch dargestellt, seine Entscheidung als von fremder Rede unbeirrbarer jugendlicher Drang romantisiert: Am abend nach den wäldern die vor schrecknis pochen Ist er nach tod und wunden gierig aufgebrochen. Er achtet nicht auf wohlgesinnter wesen wort Er dringt mit wilden knabenhaften schritten fort Und als vor seiner hand bewehrt mit blossem degen Das ungetüm in gift und glut getaucht erlegen :
|| 28 Stefan George: Ein Angelico. In: SW (Anm. 1), Bd. 2, S. 27, v. 1–4. 29 Stefan George: Die Tat. In: SW (Anm. 1), Bd. 3, S. 45.
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Verfolgt er seine bahn erhellt vom fackelbrand · Die schönen blicke still und grad zum himmelsrand.30
Die Tat, der Sieg über den Drachen – der eigentliche Kampf bleibt ausgespart – wandelt den Knappen zum miles christianus, dessen heroische Haltung im abschließenden Reimpaar verklärt wird. Die innere Wandlung vom erfolglosen Liebeswerben zur heroischen Tat wird zwar durch eine futurische Selbstschau angedeutet, bleibt aber offen (»vielleicht«): »Dann warf er kiesel nieder von des brunnens walle | Vielleicht darin sich sehend ruhm- und blutbedeckt« (v. 4f.). Entscheidend ist die Tat selbst, die den Knappen zum heroischen Ritter werden lässt. Eine umgekehrte evaluative Hierarchie von Wort und Tat entwickelt das Gedicht »Kindliches Königtum« aus dem Buch der hängenden Gärten. Die fünf fünfhebigen jambischen Kreuzreimstrophen apostrophieren einen jugendlichen Herrscher, den die imaginative Kraft des prophetischen Wortes zur Tat reizen soll: In ihrem düster ward dir vorgesungen Die lust an fremder pracht und ferner tat.31
Der König ist zu diesem Zeitpunkt noch ein tatenloser Knabe, trägt jedoch schon das Stigma des gottbegnadeten Herrschers:32 Das weisse banner über dir sich spannte Und blaue wolke stieg vom erzgestell Um deine Wange die vom stolze brannte Um deine stirne streng und himmelhell.33
Wie hier das Wort die Tat antizipiert und das Kind sich als königliche Gestalt bewährt, noch bevor es eine Tat begeht, so geschieht ähnliches mit dem ›Wort‹
|| 30 Ebd., v. 11–18. 31 Stefan George: Kindliches Königtum. In: SW (Anm. 1), Bd. 3, S. 76, v. 7f. 32 Vgl. Ernst Morwitz: Kommentar (Anm. 19), S. 95: »Durch Geburt war er zum Herrscher bestimmt, er suchte schon vor seinem siebenten Lebensjahr im Kies der schützenden väterlichen Gärten Edelsteine für seinen künftigen Thron und seine Krone. […] Das Weiss und das Blau, die den Knaben im Weihrauchdampf in der Kirche angezogen hatten, bilden die Grundfarben des ganzen Gedichts, dessen lichte Klarheit durch die Schilderung der kindlichen Stirn betont wird, die streng und himmelhell ist, weil sie nichts als Berufung zu einem Amt und den sicheren Glauben daran widerspiegelt«. Zum engen Verhältnis von Stigma und Charisma vgl. Wolfgang Lipp: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten. Würzburg 2010. 33 Stefan George: Kindliches Königtum. In: SW (Anm. 1), Bd. 3, S. 76, v. 17–20.
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in dem Gedicht »Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele« aus dem Jahr der Seele: Ein lyrisches Ich fragt nach der unvermindert anrührenden Wirkung eines überzeitlichen »Saitenspiels«, das von »einer […] grössern tat« rauscht, und dessen »ERSTE[S] früh und spat«, wie das dreifach vorkommende Zeitadverb »noch« betont, seine Wirkung von »einst« in der Gegenwart bewahrt.34 Der diachrone Vergleich verschiedener Tat-Wort-Konzeptionen in Georges Werk fördert eine hierarchische Verschiebung zugunsten des Poetischen zutage. In den frühen und mittleren Werken (Algabal, Buch der Hirten-und Preisgedichte · der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten, Der Teppich des Lebens) gilt die Glorifizierung vorrangig der Tat35 – entweder, indem die Tat antizipiert wird und, ohne noch vollbracht zu sein, auf alles Folgende wirkt, oder, indem eine panegyrische Huldigung das Wort in den Dienst der Tat stellt. »Das Ende des Siegers« aus dem Buch der Hirten- und Preisgedichte zeigt jedoch, dass der Poetisierung Grenzen gesetzt sind. Sie vermag den heroischen Status des vormaligen »Siegers« nicht zu verewigen, nachdem dieser im kosmischen Kampf von einer »geflügelte[n] schlange« eine »wunde« empfing, »die nimmer verharschen wollte«: »Der glanz seiner augen erlosch · keine tat mehr verlockte · | […] Allein sich in leiden verzehrend und sorglich verborgen | Vor […] wachsenden helden · begünstigten freunden der götter«.36 In den späteren Werken nach dem Tode Maximins (Der Siebente Ring, Der Stern des Bundes) erfüllt das Dichterwort eine essentielle Vermittlerfunktion, welche die Gestalt des Knaben sowohl zu »vergotten« wie zu »vermenschlichen« hilft. Das Wort wirkt religionsstiftend und inthronisiert Maximin als zentrale Kultfigur, zugleich erweist sich das »wort« als dem Menschen verliehene Fähigkeit zur Bemessung göttlicher Größe.
|| 34 Stefan George: »Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele«. In: SW (Anm. 1), Bd. 4, S. 55. Morwitz: Kommentar (Anm. 19), S. 128, weist auf die »Doppelbedeutung des Wortes als Bezeichnung des Instrumentes und des Spielens« hin. 35 Bereits in den frühen Werken deutet sich jedoch eine hierarchische Aufwertung des Poetischen an, so beispielsweise in dem Rollengedicht »O mutter meiner mutter und Erlauchte« aus dem Algabal-Zyklus (SW (Anm. 1), Bd. 2, S. 68). Darin verwahrt sich Algabal gegen den Vorwurf seiner Mutter, dass er seinen »geist […] achtlos ohne tat verhauchte« (v. 3f.), indem er zunächst seine Bewährung auf dem Schlachtfeld erinnert, dann jedoch sich von dem bewährten Heldenund Tatkonzept abwendet, um sich nicht zur Ermordung seines Bruders zu bekennen, sondern diese ästhetisch zu verbrämen. 36 Stefan George: Das Ende des Siegers. In: SW (Anm. 1), Bd. 3, S. 26, v. 8–13.
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3 Georges Programmgedicht »Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?« Vor dem Hintergrund der leitmotivischen Konkurrenz von Wort und Tat im frühen und mittleren Werk Georges hat sein Gedicht »Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?« programmatische Bedeutung. Stefan Georges lyrische Behandlung der Streitfrage nach der Priorität von ›Wort‹ und ›Tat‹ findet sich im Ersten Buch des Sterns des Bundes (1914). In der Forschung ist das Gedicht bislang nur beiläufig betrachtet worden.37 Es bekundet auf eindrucksvolle Weise, wie im ästhetischen Heroismus Stefan Georges und seines Kreises das traditionelle Verhältnis von Heldentat und nachträglicher mythopoetischer Stilisierung umgekehrt wird: Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? Die stadt Des altertumes rief den Barden vor . . Gebrach auch seinem arm und bein die wucht Sein vers ermannte das gebrochne heer Und er ward spender lang vermissten siegs. So tauscht das schicksal lächelnd stand und stoff: Mein traum ward fleisch und sandte in den raum Geformt aus süsser erde – festen schritts Das kind aus hehrer lust und hehrer fron.38
Das neunversige, nicht strophisch gegliederte und reimlose Gedicht rekurriert auf den traditionellen Typus ›Rätsel und Lösung‹ bzw. ›Frage und Antwort‹: Bildet das poetische Wort die Grundlage für die heroische Tat oder gebührt der Tat die Präzedenz, so dass der Poesie nur eine zelebrierende Rolle ex post bleibt? Ist das Heroische eine wesentlich inner- oder extrapoetische Kategorie? Die schwebenden Betonungen der Versanfänge 6 und 7, die den Gleichklang der jambischen Fünfheber mit männlichen Versschlüssen unterbrechen, markieren metrisch die Zweiteiligkeit der Antwort, die zunächst für die Antike, dann für die
|| 37 Vgl. Morwitz: Kommentar (Anm. 19), S. 352f.; Manfred Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George. Stuttgart 1974, S. 63f.; lediglich als ungedeuteter Beleg für die inkarnierende Kraft des »dichterischen Worts« zitiert das Gedicht Nina Gutschinskaja: Sprache als Prophetie: Zu Stefan Georges Gedichtband »Das Neue Reich«. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Tübingen 2011, S. 114–124, hier 121. 38 Stefan George: »Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?«. In: SW (Anm. 1), Bd. 8, S. 25–26. Siehe dazu den Stellenkommentar von Ute Oelmann (ebd., S. 132).
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Gegenwart gegeben wird. Zuerst wird paradigmatisch das Verhältnis von Wort und Tat in der Antike resümiert. Mit der »Stadt des Altertumes« ist Sparta, mit dem »Barden« der Elegiker Tyrtaios gemeint.39 Dessen Durchhaltelyrik soll wesentlich zum militärischen Sieg der Spartaner über die Messenier im 7. Jahrhundert beigetragen haben. Georges antonomastische Verrätselung verallgemeinert das historische Beispiel zum Muster antiker Heroisierung, das im Dichterwort den Grund heroischer Tat sieht. Die enge Wechselbeziehung von ›Dichter‹ und ›Tat‹ zeigt sich in der paronomastisch markierten Interdependenz »Gebrach« und »gebrochne«, auf den Vorrang des Dichterworts weisen hin: die metonymische Personifikation »Sein vers ermannte das gebrochne heer« (v. 4) und die Stilisierung des Dichters zum ›Siegesspender‹ (v. 5). Der metrisch hervorgehobene Vers 6 hat eine Scharnierfunktion. Einerseits deutet das Modaladverb ›so‹ den Substanzwandel retrospektiv auf die Antike zurück (der körperlich schwache Barde bewirkt den militärischen Sieg), andererseits leitet es den Übergang zum zweiten Teil ein, welcher das Verhältnis von Wort und Tat in der Gegenwart bestimmt: Des Dichters Traum wird Fleisch. Die dem Schicksal zugeordnete alliterierende Zwillingsformel »stand und stoff« vollzieht die Umwidmung des poetisch-heroischen Wechselspiels in der Gegenwart nach. Das sich einzig im Possessivpronomen ›mein‹ artikulierende Dichtersubjekt bekundet zwar stilistisch im identischen Verb »ward« (»ward spender« und »ward fleisch«) sowie durch gleiche Anfangsstellung und Subjektfunktion des metonymisch zugespitzten Dichterwortes (»Sein Vers« und »Mein traum«) die Analogie zum antiken Dichtertypus. Doch die schwebende Betonung und der harmonische Binnenreim »traum« und »raum« markieren andererseits die Differenz der Moderne zur Antike. Die Fleischwerdung des modernen poetischen Wortes überbietet das antike Heldentum. Wurde der antike Barde noch von der Stadt gerufen und hatte seine Poesie einen klaren sozialen und militärischen Zweck, so erscheint Georges Wort losgelöst von raumzeitlichen Zusammenhängen, als absolut, und zwar nicht nur produktions-, sondern auch wirkungsästhetisch. Das poetische Wort wird unter Anspielung auf das Johannes-Evangelium zum göttlichen Logos stili-
|| 39 Morwitz: Kommentar (Anm. 19), S. 352f. Zur Tyrtaios-Rezeption in Deutschland vgl. Wilhelm Kühlmann: »Vermanung zur Dapfferkeit« (1622). Zincgrefs Heidelberger Kriegsgedicht im Kontinuum der Tyrtaios-Rezeption des 16. bis 19. Jahrhunderts. In: W. K./Hermann Wiegand (Hg.): Julius Wilhelm Zincgref und der Heidelberger Späthumanismus. Zur Blüte- und Kampfzeit der calvinistischen Kurpfalz. Ubstadt-Weiher u. a. 2011, S. 165–190, und Friedrich Vollhardt: Julius Wilhelm Zincgrefs »Vermanung zur Dapfferkeit« und die Popularisierung der Elegie durch Johann Michael Moscherosch. In: ebd., S. 409–426.
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siert, der sich in einem Messias inkarniert. Die christliche Inkarnation alludiert deutlich das Incipit von Vers 7: »Mein traum ward fleisch« – eine wörtliche Anspielung auf Joh 1,14: »Das Wort ward Fleisch«. In Georges kühner Säkularisierung des Bibelworts wird das poetische Wort zum Logos Creator. Der zweckfreie »Traum« wird Fleisch, indem er »in den Raum«, also in die Geschichte, eintritt und »das kind aus hehrer lust und hehrer fron« entlässt bzw. – wie es wiederum in biblischem Duktus heißt – »sendet«. Das »Kind« ist eine kaum verschleierte Chiffre für den Jüngling Maximilian Kronberger, den George postum als Maximin zum göttlichen Jüngling verklärte. Maximin, ein ›Held ohne Tat‹, wird von George zum »Stern des Bundes« erhoben, zum Zentrum des George-Kreises. Wie verhält es sich nun mit der am Anfang gestellten Frage nach dem Vorrang von Wort und Tat? In beiden Partien erweist sich fraglos das Wort als das schöpferische Prinzip, das Taten aus sich entlässt. Auffällig bleibt indessen die Diskrepanz zwischen dem antiken und dem von George imaginierten modernen Heroismus. In der Antike hatte das poetische Wort nämlich bei aller raumzeitlichen Bedingtheit doch eine konkrete heroische Tat zur Folge, es feuerte zur Heldentat an und bescherte zuletzt der erschöpften Armee den Sieg. Trotz der Erhebung der Poesie zum göttlichen Logos Creator bleibt die Wirkung von Georges eigenem Wort hingegen auffällig unheroisch. Auf das Heldenhafte verweist neben dem »feste[n] Schritt« des Kindes, der allerdings wiederum – ganz nach Georges Manier – die heroische Tat allenfalls antizipiert, das durch Anadiplosis markierte Adjektiv »hehrer«, klanglich ein Komparativ zum militärischen »heer« in Vers 4.40 Die in ihrer Bedeutung umstrittene Zwillingsformel »aus hehrer lust und hehrer fron« lässt sich unabhängig davon, ob man »fron« hier als ›Herrschaft‹ versteht,41 sowohl auf den Traum und Träumer als auch auf das Kind selbst beziehen. Held ist Maximin kraft seiner jugendlichen Schönheit, nicht weil er eine Tat begangen hat, es sei denn, man wollte die Inkarnation des Wortes selbst als heroische Tat interpretieren. Folgt man dieser Deutung, dann bestätigt sich die erkenntnisleitende These unseres Überblicks, der zufolge George eine ausgeprägt ästhetische Heroismuskonzeption vertritt. Dies nicht nur, weil anstelle einer konkreten Tat – des militärischen Sieges – jetzt eine nur
|| 40 George gebraucht zudem das substantivierte Adjektiv ›der Hehre‹ in Kombination mit ›Held‹ als Hendiadyoin für das Heroische, sowohl in der »Vorrede zu Maximin« (SW (Anm. 1), Bd. 17, S. 64) als auch im Schlussvers des programmatischen Einleitungsgedichts (»Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande«) der »Sprüche an die Toten«: »Die Hehren · die Helden !« (SW [Anm. 1], Bd. 9, S. 114). 41 Nach Kurt Hildebrandt: Das Werk Stefan Georges. Hamburg 1960, S. 363, bedeutet ›fron‹ hier Herrschaft und nicht Dienst.
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potentielle Tat tritt, die der heroische Jüngling verkörpert. Vielmehr wird dieser Held in potentia selbst zum Kunstwerk erhoben. Wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte ist das Kind nämlich »geformt aus süsser Erde«: Der Held verkörpert somit das Formprinzip und geht selbst aus der formenden Tätigkeit des Dichters hervor. Gerade als Held ist er zugleich und in erster Linie ein Kunstwerk.
Udo Roth
»Uns ist so kannibalisch wohl!« Wissenschaft und Literatur im Spannungsfeld der Weltanschauungen um 1900 1856 veröffentlichte ein gewisser »Dr. Mantis« ein Drama mit dem Titel Göthe im Fegefeuer. Goethes Faust, aber auch Dantes Divina Commedia adaptierend, lässt Mantis Goethe in Begleitung von Mephistopheles auf die Erde zurückkehren und in teils absurden Szenerien eine Fülle seltsamer Gestalten kennenlernen. Schon in der Heidelberger Hirschgasse zieht eine Handvoll Studenten singend an ihnen vorbei: Das Wasser gibt den Ochsen Kraft, Dem Menschen Bier und Wissenschaft. Denn Kraft und Stoff, und Stoff und Kraft, Uns unverhofft Gedanken schafft. Uns ist so kannibalisch wohl Als wie fünfhundert Säuen.1
Den ob dieses Missbrauchs seiner ihm vormals durch die Musen zugeflüsterten Verse durch das »rohe Volk« sichtlich verärgerten Goethe drängt Mephistopheles in ein Gasthaus, in dem sich unter Vorsitz des »deutsche[n] Lord Byron« »Mr. Firebachlor« eine illustre Runde zu einem Symposion eingefunden hat. Sogleich entbrennt zwischen Goethe und den Anwesenden ein heftiger Disput um den ›Fortschritt‹: Dem Beharren Goethes auf ein idealistisches Weltverständnis entgegnet ein gewisser »Prof. Moleküleschott« lapidar: Ihr kennt den Unterschied der Zeiten; Dies alles ist schon lange her, Und klingt wie eine alte Mähr’, Wenn man gewußt hat fortzuschreiten.2
Diesen ›Fortschritt‹, der den aus Epirrhema rezitierenden Goethe irritiert, definiert »Mr. Firebachlor« wie folgt:
|| 1 Dr. Mantis: Göthe im Fegefeuer. Eine materialistisch-poetische Gehirnsecretion. Stuttgart 1856, S. 11. 2 Ebd., S. 18f.
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Gemach! Was soll das myst’sche Reden? Was soll mir heilig? was Geheimniß? […] Was außen ist, das bring’ ich ein, Und kann nicht vorher drinnen seyn; Von außen her bring’ ich die Nahrung, Sie, meines Geistes Wohlverwahrung, Die mir zum Hirn als Phosphor steigt Und prächtige Gedanken zeugt.3
Dem immer verwirrter werdenden Goethe, der sogar seines »Famulus | […] seufzend jetzt gedenken muß«, reicht Professor »Hahnebüchner« eine Pastete, mit den Worten: Was sitzt Ihr, Herr, denn so in Sinnen? Ich bitte, sorgt für’s Feuer drinnen! Bedürft Ihr Kraft – greift zu dem Stoff, Da wird man erst recht Philosoph. Ich sag: ich muß auf Alles pfeifen, Was ich nicht kann mit Fingern greifen.4
Goethe entgegnet: »Ich gönn’ dies Alles gern dem Leibe; | Daß nur der Geist zurück nicht bleibe!«5 Letztendlich resigniert der ›Dichterfürst‹. An Mephistopheles gerichtet unternimmt er im »Waldgebirg« eine Bestandsaufnahme: Ich sag mich los, verruchter Gast, Der Du mich so genarret hast! Ich sollt’ auf Erden alles finden, Das Dir mich wieder könnt’ verbinden?! Du hast zum Schweinstall sie gemacht.6
Dieser »Schweinstall«, den »Firebachlor«, sprich: Ludwig Feuerbach, Autor von Das Wesen des Christenthums,7 »Moleküleschott, sprich: Jakob Moleschott, Verfasser von Der Kreislauf des Lebens,8 und »Hahnebüchner«, sprich: Ludwig
|| 3 Ebd., S. 20. 4 Ebd., S. 21f. 5 Ebd., S. 22. 6 Ebd., S. 52. 7 Vgl. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christenthums. Leipzig 1841. 8 Vgl. Jakob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. Mainz 1852.
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Büchner, der 1855 seinen ›Bestseller‹ Kraft und Stoff veröffentlichte,9 um die Mitte des 19. Jahrhunderts hinterließen, ist kritischer Gegenstand des lange Zeit unbekannten Dramas. Autor des unter dem Pseudonym »Dr. Mantis« erschienenen Stückes war der aus Nürnberg stammende Theologe, vormalige Ordinarius in Erlangen und Leipzig und zur Zeit der Publikation Präsident des bayerischen Oberkonsistoriums, Adolf Gottlieb Christoph von Harleß (1806–1879), ein strenggläubiger Lutheraner und vehementer Gegner des Materialismus.10 Göthe im Fegefeuer darf als literarische Waffe angesehen werden, dazu bestimmt, den Kampf vor allem konservativ-protestantischer Kreise zu unterstützen, die den Materialismus des radikalen Atheismus, der moralischen Indifferenz, der Anstößigkeit bezichtigten, geeignet, die Jugend zu verderben und die öffentliche Sicherheit zu bedrohen.
1 Materialismus und die Weltanschauungsbünde um 1900 Der ›dogmatische‹ Materialismus Büchners, Vogts und Moleschotts schien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Fundament einer neuen Weltanschauung zu legen, die nicht auf metaphysische Determinanten zurückgreifen musste.11 Emil du Bois-Reymond stellte jedoch bereits 1872 in seiner Rede Über die Grenzen des Naturerkennens vor der 45. Versammlung der ›Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte‹ in Leipzig die materialistische Theorie in Abrede. Fragen nach der Natur von Kraft und Stoff bezögen sich sehr wohl auf Transzendenzen und seien daher unbeantwortbar: Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein »Ignoramus« auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er we-
|| 9 Vgl. Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein verständlicher Darstellung. Frankfurt a. M. 1855. 10 Zu Harleß vgl. u. a. Theodor Heckel: Adolf von Harleß. Theologie und Kirchenpolitik eines lutherischen Bischofs in Bayern. München 1933. 11 Vgl. hierzu u. a. Günter Mensching: Philosophie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Der Materialismus im 19. Jahrhundert. In: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, S. 24–49.
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nigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: »Ignorabimus«.12
Obwohl auch Wilhelm Bölsche 1887 apostrophierte, dass die Naturwissenschaften geeignet seien, die »Basis unseres gesammten modernen Denkens« zu legen,13 blieb es zweifelhaft, ob sich auf der Grundlage eines mechanisch-materialistischen Verständnisses der Natur, als reinem Verstandeskonstrukt, alle Fragen nach der Existenz beantworten ließen. So war Walter Rathenau noch 1898 der Überzeugung, dass ein solches Naturverständnis nicht in der Lage sei, einen einheitlichen Begriff der Welt, […] eine Richtschnur unseres geistigen Handelns, […] eine glaubhafte Ethik und am wenigsten das, wonach wir alle dürsten: ein absolutes Ziel des Daseins
zu geben.14 Gleichwohl waren die Konsequenzen einer in dieser Weise sich etablierenden naturwissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung in Bezug auf die Werte der christlichen Religion, aber auch auf die säkularen der Moral gravierend. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Arten populärer naturwissenschaftlicher Literatur ausmachen, die ein enges Korrelationsverhältnis ausprägten, nichtsdestotrotz aber vollkommen unterschiedlich waren. Um die kulturelle Bedeutung wissenschaftlichen Fortschritts wissend, veröffentlichten Naturwissenschaftler einerseits ihre Forschungsergebnisse in leicht verständlichen Beiträgen für die breite Masse, in Vorträgen und Lesungen. Andererseits publizierten sie sogenannte ›Weltanschauungsliteratur‹, in der sie nicht nur die Phänomene der und in der Natur auf wissenschaftlichem Wege erläuterten, sondern im Aufzeigen der Zusam|| 12 Emil du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig 1872; hier zitiert nach: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden. 2., vervollständigte Auflage. Hg. von Estelle du Bois-Reymond. Leipzig 1912, Bd. 1, S. 441–473, hier S. 464; vgl. ebd., Bd. 2, S. 65–98. Zu der durch du Bois-Reymonds Rede ausgelösten Debatte über die Grenzen der Naturerkenntnis, dem so genannten »Ignorabimus-Streit«, vgl. Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2007. 13 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Leipzig 1887, S. 3. 14 Walter Rathenau: Ignorabimus [1898]. In: W. R.: Nachgelassene Schriften. 2 Bde. Berlin 1982, Bd. 2, S. 145–167, hier S. 149.
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menhänge zwischen der natürlichen Existenz und der Gesellschaftsstruktur auch Regelwerke für eine praktische Lebensführung entwickelten. Zum Ende des 19. Jahrhunderts differenzierten sich die Naturwissenschaften mehr und mehr aus; technische, aber auch soziale Fortschritte verdichteten sich dabei zu einer Krise des religiösen und moralischen Verständnisses menschlichen Lebens und warfen einen Schatten auf die individuelle Existenz. Vor allem unter jenen Materialisten, die sich im so genannten ›Freidenkerbund‹ zusammengeschlossen hatten, kam es zu Auseinandersetzungen. Der deutsche ›Freidenkerbund‹, 1881 von Ludwig Büchner gegründet, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die zerstreuten und darum mehr oder minder ohnmächtigen Kräfte der deutschen Freidenker […] zu organisieren und durch Vereinigung, sowie durch gegenseitige Verständigung aller derer, welche sich selbst und die Menschheit von religiösen und wissenschaftlichen Irrthümern und Vorurtheilen zu befreien und die volle Freiheit der Gewissen herzustellen wünschen, stark zu machen.15
Doch schon vor Ende des 19. Jahrhunderts sprach sich die Mehrheit der Mitglieder dafür aus, den ›Vulgärmaterialismus‹ Büchner’scher Prägung hinter sich zu lassen und ein neues Weltanschauungsprogramm zu etablieren, das einerseits den modernen Wissenschaften, vor allem den Naturwissenschaften Genüge tun könne, andererseits sowohl Gefühl wie Verstand des Menschen zu integrieren in der Lage sei. Ein solches Modell schien Ernst Haeckel anzubieten, der 1892 konstatierte, dass der Monismus ein »Band zwischen Religion und Wissenschaft« zu schlagen ermögliche,16 und der sieben Jahre später in den Welträthseln gar propagierte, die ›monistische Religion‹ werde die christliche ersetzen.17 Schon ein Jahr später kam es zu einer koordinierten Abspaltung im ›Freidenkerbund‹, deren tragende Kraft Bruno Wille war. Mit Rudolf Steiner gründete Wille 1900 den ›Giordano-Bruno-Bund‹, der, so Wille, eine Weltanschauung vertreten sollte, die nicht nur den Anforderungen der modernen Wissenschaften, sondern auch den »Bedürfnissen des Gemütes« gerecht werde,
|| 15 Anonymus: ›Verfassung des Deutscher Freidenkerbunds‹. In: Menschenthum 10 (1881), S. 65f., hier S. 65. 16 Ernst Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers [1892]. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre. 2 Bde. Bonn 1902, Bd. 1, S. 281–344, hier S. 327. 17 Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studie über monistische Philosophie. Bonn 1899, S. 381–398.
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also Wissenschaft, Poesie, Religion (im besten Sinne des Wortes) und Lebensführung zu einem Ganzen, einem Monon, vereinigt, und somit der monistischen Weltanschauung eine gewisse Erweiterung zu geben sucht.18
Eben diesen Ansprüchen suchte auch der deutsche ›Monistenbund‹19 nachzukommen, eine 1906 unter anderem von Wille initiierte Vereinigung. Auch wenn sich der ›Monistenbund‹ öffentlich nicht als eine areligiöse Gesellschaft präsentierte, reagierten protestantische wie katholische Kreise mit der Gründung von Gegenbewegungen, etwa der überkonfessionellen ›Gesellschaft für Naturwissenschaften und Psychologie‹ (1906)20 oder der naturwissenschaftlichen Sektion der katholischen ›Görres-Gesellschaft‹ (1906)21. Doch nur eine Organisation war in der Lage, den Monisten Paroli zu bieten: der 1907 von Eberhard Dennert (1861–1942) gegründete ›Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis‹.22 Dennert, Protestant und Lehrer für Naturgeschichte am Gymnasium in Bad Godesberg, billigte der »theistische[n] Weltanschauung«23 dieselben Rechte bei einer Neuorientierung in den Naturwissenschaften zu wie der materialistischen. Dem ›Keplerbund‹ kam die Aufgabe zu, den Theismus gegen die »Reiseapostel des Monismus« zu verteidigen.24 Mitstreiter Dennerts war der Botaniker Johann Reinke (1849–1931), der bereits 1899 in Die Welt als That Haeckels monistische Weltanschauung heftig
|| 18 Bruno Wille: Monismus. In: Der Freidenker 8 (1900), S. 18–20, 30–32, hier S. 18. 19 Vgl. Max Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Frankfurt a. M. 1914, S. 16; 1904 hatte Haeckel – ohne Resonanz – sein monistisches Programm auf dem ›Internationalen Freidenker-Kongress‹ in Rom vorgestellt (vgl. ebd.); doch schon ein Vierteljahrhundert zuvor gab es Bemühungen um die Institutionalisierung der monistischen Weltanschauung: 1878 versuchte man – erfolglos – in Zürich einen ›Cosmologischen Weltbund‹ zu gründen, 1899 wurden etwa in Salzburg und Ulm ›HaeckelVereine‹ gegründet, 1903 folgte die Gründung einer ›Monistischen Gesellschaft‹ in Hamburg; vgl. Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München 1998, S. 217 mit Anm. 40. 20 Über diese Vereinigung gibt es kaum Informationen, vgl. ebd., S. 220, Anm. 56. 21 Die Sektion wurde eigentlich 1906 auf Initiative von Max Ettlinger (1877–1929) und Erich Wasmann (1859–1931) erneut gegründet, nachdem es bereits 1876 erfolglose Bemühungen um eine naturwissenschaftliche Sektion der ›Görres-Gesellschaft‹ gegeben hatte. 22 Die Wahl des Namens war Programm: Die Gründungsmitglieder erkannten in Kepler die »beispielhafte Verbindung von wahrer Naturwissenschaft und tiefer Religiosität« (Statuten des ›Keplerbundes‹, § 2). 23 Eberhard Dennert: Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Wort zur Begründung des Keplerbundes. Frankfurt a. M. 1908, S. 12. 24 Ebd.
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attackiert hatte.25 Dennert und Reinke gelang es, die öffentliche Diskussion um die Weltanschauung entscheidend zu beeinflussen, konnten sie doch durch detaillierte naturwissenschaftliche Argumentation aufzeigen, dass es möglich war, Religion und Naturwissenschaften zu verbinden.26
2 Weltanschauung und Literatur Aber nicht nur institutionell organisierten sich Monisten und Anti-Monisten, auch Schriftsteller griffen engagiert in den Kampf um die Weltanschauung ein. So ließen sich Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und die Brüder Heinrich und Julius Hart, führende Köpfe des literarischen Naturalismus, 1890 in Friedrichshagen nieder, einem kleinen Ort in der Nähe von Berlin. Hier, in der »Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt«, wollten sie »literarische[s] Zigeunertum« und eine »vorurteilslose, eigenfreie Lebensweise« praktizieren. Schnell etablierte sich in Friedrichshagen eine avantgardistische ›Dichterkolonie‹, deren Mitglieder weitgehend mit literarischen Strömungen wie dem Post-Naturalismus, der Neuromantik und dem Neuidealismus sympathisierten. Die in Friedrichshagen reflektierten und erprobten Konzepte werden beispielsweise in Willes 1901 publizierten Offenbarungen des Wacholderbaums umgesetzt.27 In diesem – so der Untertitel – Roman eines Allsehers entwickelt Wille eine ästhetische Kosmologie, die vor allem auf der Autorität Goethes basiert: »Das Goethewort«, so heißt es im Kapitel über ›Chaos and Kosmos‹,
|| 25 Vgl. Johann Reinke: Die Welt als That. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Berlin 1899. 26 Vgl. z. B. Alfred Kelly: The Descent of Darwin: The Popularization of Darwinism in Germany, 1816–1914. Chapel Hill 1981, S. 94, der festhält: »Almost without exception, the devout defenders of Christianity simply surrendered to the enemy of techniques of the popular science that could have helped them fight Darwinism. […] Without a Christian genre of popular science, Christians missed the opportunity to give the Darwinism some of their own medicine«; hingegen konstatiert Paul Ziche: Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Differenzen monistischer und anti-monistischer Bewegungen. In Klaus-M. Kodalle (Hg.): Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900–1940. Würzburg 2000, S. 79, dass etwa der ›Keplerbund‹ keinerlei wirkliches Interesse an den Naturwissenschaften gehabt, sondern sie als ein Instrument der institutionellen Rechtfertigung genutzt habe. 27 Vgl. Bruno Wille: Offenbarungen des Wacholderbaums. Roman eines Allsehers. 2 Bde. Leipzig 1901.
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das ich am Steintisch mit Haeckel besprach, fesselte mich aufs neue, und seinem Zusammenhange spüre ich nach.28
Jenes »Goethewort« beinhaltet die Idee des Aufsteigens oder der Transformation in eine höhere Form, umschrieben als »werdende Vollkommenheit« oder als »Aufwärtstrieb in allem Materiellen«. Der Gesprächspartner vertritt eine gegensätzliche Meinung. Er votiert für einen »chaotischen Materialismus«,29 dem entsprechend alle organischen Formen nichts weiter seien als eine zufällige Kombination von Materie. Beider Gegner aber bleibt ein vulgärer Materialismus, was sich abschließend in einer Art ›Glaubensbekenntnis‹ niederschlägt: Monist bist du ja wohl, Oswald – nicht wahr? Nun siehst du, für mich bedeutet Monismus ohne weiteres die Erklärung: Bei aller Verschiedenheit enthalten die Teile der Natur ein Monon, ein ewig Identisches […] – und weil nun A = A ist, kann Allnatur nie und nimmer Chaos sein – Kosmos ist sie allenthalben, und der sogenannte Zufall bedeutet einfach unverstandene Ordnung.30
Schlagworte wie »Chaos«, »Kosmos«, »Allnatur« verbinden sich um 1900 zu einer anthropologischen ›Poetologie‹ und einem literarischen Weltanschauungsprogramm. Die Autoren nehmen sich der biologischen Natur des Menschen und seiner Existenz an, nicht so sehr orientiert an den modernen empirischen Naturwissenschaften, als vielmehr an naturphilosophischen Systemen, wie sie Haeckel, Lotze oder Fechner im Ausgang des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten. In der monistischen Naturpoesie und Lebensmystik31 wird die Identität von menschlichem Wesen und Natur in einem ewigen Kreislauf, jener als »Alleinheit« verstandenen Allnatur, gepriesen. So heißt es schon 1903 in Richard Dehmels »Epos in Romanzen« Zwei Menschen: Nun schau und lausche, ganz wie wir sind, ganz Geist im Leib, nicht trunken blind, klar aufgetan bis ins Unendliche, […] bis wir im Schooß alles Daseins sind: und du wirst sehn, Herz, daß die Erde noch immer mitten im Himmel liegt, und daß Ein Blick von Stern zu Stern genügt,
|| 28 Ebd., Bd. 1, S. 156. 29 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 158f. 30 Ebd., Bd. 1, S. 163f. 31 Vgl. Wolfgang Riedel: »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996, S. 112f.
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damit dein Geist zum Weltgeist werde. Es ist ihm eingefügt jeder Leib, vom kleinsten Stäubchen bis zum herrlichsten Sterne.32
Trotz aller Initiation in die Geheimnisse der Natur, die die monistische Naturpoesie und Lebensmystik heraufbeschwört, kann sich diese Dichtung nicht vollständig der Verwendung wissenschaftlicher Begrifflichkeiten verwehren. Auch der Rezipient benötigt deshalb ein zumindest rudimentäres Vorwissen etwa über die modernen Entwicklungs- und Zelltheorien, wenn ›Phantasus‹ in Arno Holz’ Blechschmiede (1902) erklärt: Nebelfleck, Urzelle, Wurm und Fisch, Alles war ich – verschwenderisch. Alles bin ich: Hottentott, Goethe, Gorilla, Griechengott. Ich bin die Rose, die der Lenzwind wiegt, ich bin der Wurm, der ihr im Schoße liegt. Ich bin ein Stäubchen nur im Wind, ich bin, was meine Zellen sind.33
Oder aber, um ein anderes Beispiel zu nennen, es werden die Theorien molekularer Strukturen und Kräfte vorausgesetzt, wenn in Julius Harts 1898 publiziertem Gedicht Triumph des Lebens34 von ›empfindsamen Molekülen‹ die Rede ist, wie auch ein Jahr später in dem programmatischen »Zukunftsland des kommenden Jahrhunderts«, Der neue Gott.35 Die dem literarischen Programm zugrunde liegende monistische Weltanschauung schlug sich auch in der praktischen Lebensführung nieder. Und dies nicht nur in Friedrichshagen: Seit November 1892 verkehrten Friedrichshagener mit Mitgliedern der Berliner Bohème, in der Berliner Gastwirtschaft Gustav Türkes, die bekannt – und gefürchtet – war für die 900 Sorten Schnaps, die dort angeboten wurden.36 Hier trafen sich in den folgenden Jahren regelmäßig Julius Bierbaum, Wilhelm Bölsche, Richard Dehmel, Otto Erich Hartleben, Peter Hille, Arno Holz, Felix Stanisław Przybyszewski, Paul Scheerbart, Johannes Schlaf || 32 Richard Dehmel: Zwei Menschen. Roman in Romanzen [1903]; hier zitiert nach ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Berlin 1906–1909, Bd. 5 [1908], S. 172. 33 Arno Holz: Die Blechschmiede [1902]; hier zitiert nach Das Werk von Arno Holz. Hg. mit einem Vorwort von Hans W. Fischer. 10 Bde. Berlin 1924/25–25, Bd. 4 [1924], S. 693. 34 Vgl. Julius Hart: Triumph des Lebens. Leipzig 1898. 35 Vgl. Julius Hart: Der neue Gott. Ausblick auf das kommende Jahrhundert. Leipzig 1899, S. 228–234. 36 Vgl. Adolf Paul: Erinnerungen und Briefe. München 1924, S. 64.
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und viele andere; meist endeten die Zusammenkünfte in »gewaltige[n] Gelage[n] mit gewaltigen Alkoholmengen«.37 Auch viele Skandinavier nahmen an den Treffen teil, so etwa Edvard Munch (1863–1944), Arne Garborg (1851–1924) und August Strindberg (1849–1912), der dem Lokal den späterhin bekannten Namen ›Zum schwarzen Ferkel‹ gegeben haben soll.38 Diese Treffen in Berlin dokumentieren, wie die Friedrichshagener ihr literarisches als weltanschaulich-lebenspraktisches Programm kultivierten. Doch sie zeigen auch, wie desolat eine solche Lebensführung in finanzieller und sozialer Hinsicht sein konnte. So schrieb Przybyszewski rückblickend: Unsere Symposien bestanden aus ein Paar Flaschen Bier, einer Flasche Nordhäuser, etwas Aufschnitt, den jeder mitbrachte, wenn es bei ihm dazu langte – und es kam vor, daß wir zu acht oder zehnt keinen einzigen Taler zusammenbrachten.39
Laut Przybyszewski musste sich Arno Holz mit dem Schnitzen von Kinderspielzeug über Wasser halten, Johannes Schlaf fristete sein Leben abwechselnd ein halbes Jahr in einem schäbigen Mansardenzimmer und ein halbes Jahr im Irrenhaus, und der immer am Hungertuch nagende Peter Hille besaß […] überhaupt kein Hemd, und die Papiermanschetten, beschrieben mit kleinen, nur für ihn lesbaren Krakeln, waren mit einer Schnur befestigt, die dem armen Schlucker um den Hals hing.40
Gleichwohl kultivierten die Friedrichshagener ihre anti-bourgeoise Lebensführung, sie zelebrierten exzessive Trinkgelage, freie Liebe, erhoben den Geschlechtsverkehr zu einer Kunstform, veranstalteten Séancen. Bruno Wille hielt später fest, solche Séancen hätten Bölsche zu seinem Weltanschauungsroman Die Mittagsgöttin41 inspiriert, was, blickt man auf ein Gedicht von Dehmels erster Frau Paula, gar nicht einmal so abwegig scheint: Willy Bölsche hat’s verewigt, Richard Dehmel war benebligt
|| 37 Vgl. Julius Bab: Die Berliner Bohème. Berlin 1904, S. 633. 38 Olof Lagercrantz: Strindberg. Übers. von Angelika Gundlach. Frankfurt a. M. 1980, S. 340. 39 Stanisław Przybyszewski: Erinnerungen an das literarische Berlin. Vorwort von Willy Haas. München 1965, S. 191. 40 Vgl. ebd., S. 129–133. 41 Vgl. Bruno Wille: Erinnerungen an Gerhart Hauptmann und seine Dichtergeneration. In: Walter Heynen (Hg.): Mit Gerhart Hauptmann. Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis. Berlin 1922, S. 99; vgl. auch Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. 3 Bde. Stuttgart 1891.
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und den Schnaps von seltner Art stifteten die Brüder Hart Doch es war (verzeiht) jemein: keiner wollt’ ein Medium sein wie auch Julius streicht und drückt, Heinemann bleibt unverzückt, auch Adelen unberührt kriegt er nicht hypnotisiert. Alles ist nun mißgestimmt schleunigst jeder Abschied nimmt. Doctors sowieso schon gehen Heinrich phantasiert von Flöhen dies elegische Poëmel traurig tief ich schrieb’s im Nachthemd Paula Dehmel.42
Auch wenn sich der Friedrichshagener Dichterkreis 1904 auflöst, bleiben nicht nur die literarischen Programme seiner Mitglieder virulent. Vor allem in München, wo sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts aus Literaten wie etwa Alfred Schuler (1865–1923), Ludwig Klages (1872–1956) und Karl Wolfskehl (1869–1948) der Kreis der ›Kosmiker‹ bildet, werden sie diskutiert, aus- und umgestaltet – »wahnmochinger« Verhältnisse, die Fanny zu Reventlow in Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) ironisch-humorvoll dokumentiert.43
3 Felix Hausdorff: Mathematiker, Literat und Kritiker materialistischer Weltanschauungen Ein weiteres literarisches Denkmal setzte dem Friedrichshagener Kreis und seinem Programm der ›ewige Student‹ und Begründer der ›Halkyonischen Akademie‹ Otto Erich Hartleben. Hartleben übertrug Anfang der 1890er Jahre die Gedichtsammlung Pierrot Lunaire44 des unter dem Pseudonym Albert Giraud45
|| 42 Literarischer Nachlass von Wilhelm Spohr, Akademie der Künste Berlin; zitiert nach Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. München 1994, S. 59. 43 Vgl. Fanny zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München 1913. 44 Vgl. Albert Giraud: Pierrot Lunaire. Rondels bergamasques. Paris 1893. 45 Vgl. Albert Giraud: Pierrot Lunaire. Übertragen von Otto Erich Hartleben. Berlin 1884.
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schreibenden Belgiers Albert Kayenbergh (1860–1929) ins Deutsche,46 wobei er viele seiner Übertragungen Mitgliedern des Friedrichshagener Kreises dedizierte. Unter den so Gewürdigten aber findet sich ein Name, den man auf den ersten Blick nicht mit Diskussionen über eine naturphilosophisch-anthropologische Weltanschauung in Verbindung bringt: Felix Hausdorff, Mitbegründer der mengentheoretischen Topologie. Hausdorff, 1868 im schlesischen Breslau geboren, begann 1887 in Leipzig, wohin die Familie 1870 übergesiedelt war, ein Studium der Mathematik und Astronomie, das er in Freiburg, Berlin und zuletzt wieder in Leipzig erfolgreich absolvierte. 1891 schloss er dieses Studium mit einer Arbeit über mathematische Astronomie ab.47 Nach Ableistung des einjährig-freiwilligen Militärdienstes arbeitete er zwischen 1893 und 1895 als wissenschaftlicher Rechner an der von Heinrich Bruns (1848–1919) geleiteten Leipziger Sternwarte, wo seine Habilitationsschrift entstand – wiederum im Gebiet der mathematischen Astronomie.48 Mit der Erteilung der venia legendi im Juli 1895 trat Hausdorff an der Leipziger Universität eine breit gefächerte Lehrtätigkeit an, zunächst als Privatdozent der Mathematik, ab dem Dezember 1901 als »ausseretatsmässige[r] ausserordentliche[r]« Professor.49 Seine jüdische Herkunft verhinderte eine rasche Karriere,50 erst 1910 erhielt Hausdorff ein Ordinariat in Bonn und 1913 den Ruf auf eine ordentliche Professur in Greifswald; 1921 folgte die Rückkehr nach Bonn, wo er bis zu seiner Entlassung im März 1935 – später in eine Emeritierung umgewandelt – lehrte. Am 26. Januar 1942 nahm er sich, um der Verfolgung durch die National-
|| 46 Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Pierrot Lunaire. Form und Flüchtigkeit des Schönen in der europäischen Literatur, Kunst und Wissenschaft um 1900 (Giraud, Hartleben, Hausdorff). In: Werner Frick/Ulrich Mölk (Hg.): Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Göttingen 2003, S. 89–113. 47 Vgl. Felix Hausdorff: Zur Theorie der astronomischen Strahlenbrechung. Leipzig 1891 [Berichte der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Math.-Phys. Classe 1891, S. 482–566]. 48 Vgl. Felix Hausdorff: Über die Absorption des Lichtes in der Atmosphäre. Leipzig 1895. 49 Vgl. Personalakte Nr. 547, UA Leipzig. 50 An dieser Stelle sei auf den auch in Leipzig praktizierten unverhohlenen Antisemitismus hingewiesen – die Fakultät hielt sich nach Hausdorffs Ernennung zum außerordentlichen Professor 1901 für »verpflichtet«, »dem Königlichen Ministerium noch zu berichten, dass der vorstehende Antrag in der am 2. November d. J. stattgehabten Fakultätssitzung nicht mit allen, sondern mit 22 zu 7 Stimmen angenommen wurde. Die Minorität stimmte deshalb dagegen, weil Dr. Hausdorff mosaischen Glaubens ist« (Personalakte Nr. 547, UA Leipzig; Abdruck des Gutachtens in den Leipziger mathematischen Antrittsvorlesungen. Hg. von Herbert Beckert und Walter Purkert. Leipzig 1987, S. 231–234).
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sozialisten und der Deportation in ein Konzentrationslager zu entgehen, gemeinsam mit seiner Frau und seiner Schwägerin das Leben.51 Doch nur auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass Hausdorffs Name in Hartlebens Übertragung an prominenter Stelle fällt (ihm ist das Rondel Rote Messe gewidmet52). Denn Hausdorffs Interessen galten um 1900 nicht nur der Mathematik, sondern auch und vor allem der Literatur und Philosophie, und hier auch der praktischen Philosophie.53 Darüber hinaus stand er in engem Kontakt zu den Friedrichshagenern und war ein Freund Richard Dehmels, den er Paul Fechter zufolge im ›Schwarzen Ferkel‹ kennengelernt hatte.54 Unter dem Pseudonym ›Paul Mongré‹ veröffentlichte Hausdorff zahlreiche Essays und erkenntniskritische Werke,55 so zum Beispiel Sant’ Ilario: Gedanken aus der Landschaft Zarathustras56 oder Das Chaos in kosmischer Auslese, eine Kritik an aller Metaphysik und Transzendenz.57 Auch literarisch betätigte sich Hausdorff, so in der Lyriksammlung Ekstasen, deren Gedichte Natur, Leben, Tod und Erotik
|| 51 Vgl. Egbert Brieskorn: Felix Hausdorff – Elemente einer Biographie. In [Katalog zu] Felix Hausdorff – Paul Mongré 1868–1942. Ausstellung vom 24. Januar bis 28. Februar 1992 im Mathematischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bonn 1993. 52 Vgl. Giraud: Pierrot Lunaire (Anm. 44), S. 29. Die ursprüngliche Fassung des Tagebuchs weicht in mehrfacher Hinsicht von der Druckfassung ab, nämlich Z. 4: »Pierrot tritt an den Altar«, Z. 10: »zeigt er den bangen Gläub’gen«, Z. 11f.: »sein Herz in blut’gen Fingern, | die triefend rote Hostie«; vgl. Otto Erich Hartleben: Tagebuch. Fragment eines Lebens. München 1906, S. 36f. 53 Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft? Die literarisch-essayistischen Schriften des Mathematikers Felix Hausdorff (1868–1942): Vorläufige Bemerkungen in systematischer Absicht. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 551–573; ders.: Essayismus und Mathematik um 1900. Die Schriften von Paul Mongré (d.i. Felix Hausdorff) im Kontext. In: Andrea Albrecht/Gesa von Essen/Werner Frick (Hg.): Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur. Berlin/Boston 2011, S. 308–326. 54 Vgl. Paul Fechter: Menschen und Zeiten. Begegnungen aus fünf Jahrzehnten. Gütersloh 1948, S. 156–159. 55 Hausdorffs unter Pseudonym veröffentlichte Schriften finden sich neu ediert und kommentiert in Felix Hausdorff: Gesammelte Werke. Einschließlich der unter dem Pseudonym Paul Mongré erschienenen philosophischen und literarischen Schriften und ausgewählter Texte aus dem Nachlaß. Hg. von Egbert Brieskorn u. a. Bd. 1ff. Berlin 2001ff. als Band 7: Philosophisches Werk. Hg. von Werner Stegmaier. Berlin 2004, und Band 8: Literarisches Werk. Hg. von Friedrich Vollhardt und Udo Roth. Berlin 2010. 56 Vgl. Paul Mongré: Sant’ Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras. Leipzig 1897. 57 Vgl. Paul Mongré: Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntniskritischer Versuch. Leipzig 1898.
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thematisieren,58 und in einem Drama, betitelt Der Arzt seiner Ehre, einer Satire auf das Duellwesen des Wilhelminischen Kaiserreichs.59 In vielen seiner Essays zu Literatur und Philosophie zeigt sich Hausdorff als ein aufmerksamer Beobachter der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um eine adäquate Interpretation der menschlichen Existenz als einer natürlichen und sozialen. In einer Flut von Ismen, so Hausdorff, »leben und taumeln wir Modernen«,60 und ein nebelhafter Spuk von Okkultismus, Obskurantismus und Mystizismus finde seinen Ausdruck in den Wissenschaften, der Kultur und der Literatur.61 Seine Zeit, so resümiert er, verlange nach einer einheitlichen Weltanschauung, in der die ungeheuer gewachsene Fülle der Einzelerkenntnisse [sich] zu einem beziehungsreichen systematischen Ganzen aufbaut, statt wie bisher in zusammenhangloses Nebeneinander zu zerfallen.62
Trotz allem aber kritisiert Hausdorff die monistische Lehre mit ihren romantischen Anachronismen und leeren Phrasen auf das Schärfste und überzieht sie mit verstecktem Spott: Ältere Menschen, die auf Harmonie, Einheit, Monismus aus waren, quälte der Zweifel, die Möglichkeit des Auseinanderfallens ihrer Welt in zwei oder viele unverbundene Weltfragmente. Wir suchen umgekehrt die Vielheit […]; nichts peinigt uns mehr, als das Zusammenrinnen geschiedener Welten zu einem grossen grauen Ganzen, die Ahnung einer einzigen welterklärenden, weltenträthselnden Formel, die Fernsicht auf jenen Gipfel der Trivialität ›Alles ist eins‹.63
Laut Hausdorff basiere der Irrationalismus, den man in den pseudo-religiösen Weltanschauungstraktaten finde, darauf, dass Philosophie, und hier insbesondere die deutsche Philosophie, nichts mehr sei als »Religion oder Kunst auf
|| 58 Vgl. Paul Mongré: Ekstasen. Leipzig 1900. 59 Vgl. Paul Mongré: Der Arzt seiner Ehre. (Den Bühnen gegenüber als Manuskript gedruckt.) In: Die neue Rundschau (Freie Bühne) 15 (1904), S. 989–1013; vgl. ebenso Paul Mongré: Der Arzt seiner Ehre. Komödie in einem Akt mit einem Epilog. Leipzig 1910 und Paul Mongré: Der Arzt seiner Ehre. Groteske. Berlin 1912. 60 Mongré: Sant’ Ilario (Anm. 56) ; S. 243f. 61 Paul Mongré: Das unreinliche Jahrhundert. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 9 (1898), S. 443–452, hier S. 451. 62 Felix Hausdorff: [Rezension von] W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig, Veit & Comp. 1902. XIV u. 457 S. In: Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht 33 (1902), S. 190–193, hier S. 190. 63 Mongré: Sant’ Ilario (Anm. 56), S. 207.
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Umwegen«.64 Seit Leibniz, Wolff, Kant und Schopenhauer habe sich die Philosophie bemüht, nahe bei den Wissenschaften zu stehen zu kommen, daher »die Nachahmung gelehrter Manieren, das Beweisenwollen, wo nichts zu beweisen ist«.65 Und eben dieses habe durch »das theoretische Hinterpförtchen« einen »wissenschaftlichen Schleichweg« eröffnet, der geradewegs in die Metaphysik führe.66 Viele Versuche seien unternommen worden, um eine Lösung weltanschaulicher Probleme auch auf empirischer Basis herbeizuführen, doch die meisten dieser Versuche seien nichts mehr als die »Weigerung, eine Lösung zu suchen«. Wilhelm Ostwalds ›Energetik‹ etwa, die sich explizit gegen die Theorie der Atome wendet, leide an ihren Widersprüchen zur modernen Mathematik (Cantor, Dedekind); Ostwald habe zu oft »psychologische Entstehung und logische Grundlegung« vermischt.67 Felix Auerbachs gegen die Thermodynamik gerichtete ›Ektropismus‹-Theorie habe sich als eine »Andacht des Lebens« entpuppt, doch könne die Physik niemals zu einer ›Religion‹ des Lebens werden, Biologie niemals zu einer »Biolatrie«.68 Das zur Metaphysik führende »Hinterpförtchen« ist demnach »zu niedrig«; »Unsereiner« – und dies meint den modernen Wissenschaftler – kann aufrechten Ganges nicht hindurch. Aber was hindert uns, statt dieses wissenschaftlichen Schleichweges den offenen ästhetischen Zugang zu wählen?69
Einzig die Künstler seien, so Hausdorff, in der Lage, sich mit »verhältnismäßig einfachen Mitteln« zu behelfen: [M]it Anbetung! Sie beten das Leben an, das Weltgeheimnis, das Unerforschliche, das Mysterium der Zeugung […]. Hier wird das Ignoramus zur Geste der Verehrung, zu hochgezogenen Augenbrauen und öligen Blicken, zu weichen, feuchten, von Tiefsinn dampfenden Worten priesterlicher Lyrik, und kein Peitschenknallen Zarathustras kann das Girren dieser pathologischen Liebhaber übertönen, die sich gerade am Irrationalen, Grausamen, Dämonischen der vita femina berauschen.70
|| 64 Ebd., S. 349. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 294. 67 Hausdorff: W. Ostwald (Anm. 62), S. 191f. 68 Vgl. Paul Mongré: Andacht zum Leben. In: Die neue Rundschau (Freie Bühne) 21 (1910), S. 1737–1741. 69 Mongré: Sant’ Ilario (Anm. 56), S. 294. 70 Mongré: Andacht zum Leben (Anm. 68), S. 1737.
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Wo philosophische Spekulation also nicht statthaft ist, ist es die künstlerische Intuition sehr wohl. Denn gleich einem Speisenden nehme die künstlerische Intuition zu sich, »was […] schmeckt, ohne zuvor den chemischen Nährwert feststellen zu lassen«.71 Ein solcher ›ästhetischer Schleichweg‹72 zu einem spekulativen, quasi-religiösen Weltverständnis realisiert sich Hausdorff zufolge in August Strindbergs Blaubuch.73 Als wissenschaftlich gebildeter Mensch musste Hausdorff Strindbergs ›Universallehre‹, die gespickt ist mit monistischen Theorien, mit Okkultismus und Mystizismus, ablehnen;74 als aufmerksamer Beobachter aber musste er seine Zeitgenossen auffordern, das Buch zu lesen: Euch aber, ihr Mitmenschen, die ihr leidet an euren Nerven und euren Büchern, euch empfehle ich dieses Blaubuch als heilsames Fangobad und schwedische Gymnastik. Wir sind alle so sensitiv geworden, so andächtig zum Leben, so spinozistisch begreifend, so spinnewebig behutsam im Denken, so abgeneigt allem lauten Ja und Nein. Hier habt ihr von alledem das Gegenteil: fossile Logik, vorsintflutliche Schlüsse, brutale Fäuste, dröhnendes Kampfgeschrei: hie Welf, hie Waiblingen! hie christliche Wahrheit, hie gottlose Fälschung! […] Eine Stunde unter Troglodyten! und mit einer neuen Begierde, einer neuen Dankbarkeit werdet ihr ins alluviale Europa zurückkehren, zu den feinverzweigten Geweben eurer Wissenschaft, zu dem verstehenden Lächeln eurer Dichtung, zu den guten Manieren eures unbekehrten Heidentums.75
Hausdorff erkannte demnach die Poesie als einen Rückzugsraum der Metaphysik an. Denn durch die Kunst offenbare sich »die Natur, nicht durch die Wissen-
|| 71 Mongré: Sant’ Ilario (Anm. 56), S. 295. 72 Ebd., S. 294. 73 Unter den Originaltiteln En blå bok (Stockholm 1907) und En ny blå bok (Stockholm 1908), En blå bok, Avdelning III (Stockholm 1908) und En extra blå bok (Stockholm 1912) erschienen; die ersten beiden Bände wurden 1908 von Emil Schering (1873–1951) als Ein Blaubuch. Die Synthese meines Lebens. Erster Band und Ein Blaubuch. Die Synthese meines Lebens. Zweiter Band. (Mit dem Buch der Liebe) übersetzt als fünfter und sechster Band der sechsten Abteilung (Wissenschaft, Philosophie) in die Deutsche Gesamtausgabe der Werke Strindbergs aufgenommen; Hausdorff besprach diese Bände 1909, vgl. Paul Mongré: Strindbergs Blaubuch. In: Die Neue Rundschau (Freie Bühne) 20 (1909), S. 891–896. 74 Bereits in Sant’ Ilario hatte Hausdorff konstatiert, dass es »allen verfeinerten Culturen gesund [sei], wenn von Zeit zu Zeit naive Barbaren an sie herantreten, grosse Kinder und Tölpel, die nichts von ihren Voraussetzungen wissen und schlankweg nur die Folgerungen anfeinden. So muss unsere europäische Bildung ihrem Tolstoj, unsere Naturwissenschaft ihrem Strindberg dankbar sein« (Mongré: Sant’ Ilario [Anm. 56], S. 8). 75 Mongré: Strindbergs Blaubuch (Anm. 73), S. 896.
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schaft«.76 Auch Kurd Laßwitz, einer der Pioniere der deutschen Science fiction, billigte nur dem Poeten zu, die Sprache eines Staubkorns verstehen zu können.77 Doch kann die Kunst – so Hausdorffs Überzeugung –niemals in Konkurrenz zu den Wissenschaften treten, so dass ihre wie auch immer gearteten Lösungsansätze, gegründet auf einer poetischen Lesart zeitgenössischen Wissens, für eine Praxis fruchtlos bleiben müssen. Gleichwohl ist hiermit keine Kapitulation der Poesie vor den modernen Naturwissenschaften impliziert; vielmehr geht es um die Beantwortung der traditionell letzten aller Fragen, der nach der menschlichen ›Existenz‹, deren Beantwortung die »unangenehmste aller Komplikationen« aufzeigt.78 Poesie wird somit nicht gesehen als ein Korrektiv quasi-religiöser Tendenzen, deren Ursprünge im Bereich des Unbeantwortbaren liegen. Die fehlgeleitete Affinität der Weltanschauungsliteratur zur Transzendenz, zu dem nach Hausdorff »Brunstgeleier der Freier« für ›Mutter Erde‹,79 müsse überführt werden in Bemühungen um deren ›Tochter‹, die Wissenschaft.80
|| 76 Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 bis 1920. Hg. von Ida Dehmel. 2 Bde. Berlin 1922, Bd. 1, S. 16f.: »Durch die Kunst offenbart sich die Natur, nicht durch die Wissenschaft«. 77 Vgl. Kurd Laßwitz: Seifenblasen. Moderne Märchen. Leipzig 1906, S. 46. 78 Mongré: Andacht zum Leben (Anm. 68), S. 1737. 79 Vgl. Paul Mongré: Das Chaos in kosmischer Auslese. Selbstanzeige. In: Die Zukunft 8 (1899), S. 222f., hier S. 223. 80 Vgl. ebd.
Paul Michael Lützeler
Literarische Kooperation und politisches Engagement Broch und Kahler im Princetoner Exil
1 Die Literatursprache: Deutsch oder Englisch? Schon am zweiten Tag seines amerikanischen Exils, am 10. Oktober 1938, lernte Hermann Broch in New York Erich Kahler kennen, der ebenfalls gerade aus Europa in die USA geflohen war. »Der Kontakt«, berichtete Kahler später, »hat blitzartig eingeschlagen und wurde sehr bald zu einer Lebensfreundschaft«.1 Die gegenseitige Sympathie hatte Gründe. Nicht nur die Herkunft und das gleiche Alter verbanden, auch die gemeinsamen geistigen Interessen und politischen Ziele trugen zur Festigung der Freundschaft bei. Kahler und Broch waren Privatgelehrte und freie Schriftsteller. Sie stammten aus jüdischen Industriellenfamilien, die es in der Zeit um 1900 in der österreichischen Monarchie zu Reichtum gebracht hatten. Kahler wurde in Prag geboren und wuchs dort auf, doch siedelte die Familie im Jahr 1900 nach Wien über. Broch wurde in Wien geboren und verbrachte dort bis zur Flucht aus Österreich die meiste Zeit seines Lebens. 1912 zog Kahler nach Wolfratshausen bei München, wo er zum GeorgeKreis gehörte und zusammen mit Friedrich Gundolf bekannt wurde. Seit 1919 stand er in freundschaftlicher Beziehung zu Thomas Mann, und dieser Kontakt riss auch im Exil nicht ab.2 Theoretisch hätten der junge Broch und der junge Kahler sich in Wien begegnen können, doch da die Lebenspraxis jeweils anders aussah, ist es dazu nicht gekommen. Broch und Kahler verstanden sich anfänglich als kulturphilosophische Zeitkritiker, wobei Broch zum Romancier, Kahler zum Kulturhistoriker wurde. Beide fühlten sich jedoch schon vor der Flucht in die USA dazu verpflichtet, mit politischen Analysen und Stellungnahmen öf|| 1 Zitiert nach Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1985, S. 243. 2 Vgl. Anna Kiel: Erich Kahler, ein »uomo universale« des zwanzigsten Jahrhunderts – seine Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossen. Vom Georgekreis, Max Weber bis Hermann Broch und Thomas Mann. Bern 1989; Gerhard Lauer: Die verspätete Revolution: Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil. Berlin/New York 1995; Hermann Broch: Briefe an Erich von Kahler. 1940–1951. Berlin 2010.
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fentlich wirksam zu werden. Broch baute 1932 seine systemtheoretische Studie über den Zerfall der Werte in seinen Roman 1918. Huguenau oder die Sachlichkeit ein. Das ist der dritte Teil der Trilogie Die Schlafwandler (KW1).3 Kahler stellte zur gleichen Zeit sein 1933 erschienenes Buch Israel unter den Völkern fertig.4 Broch hatte im Zerfall der Werte auf die Bedeutung der jüdischen Gesetzesreligion für die europäische Kultur verwiesen; Kahler schilderte in Israel unter den Völkern die fruchtbare Interaktion zwischen jüdischer und deutscher Kultur im Sinne eines gegenseitigen Gebens und Nehmens. Er träumte von einer deutschjüdischen Symbiose, die im europäischen Kontext ein »höheres Menschentum« ermöglichen werde. Das Ineinander von jüdischer Identität und dem Idealismus von Stefan George ist bei Kahler leicht herauszuhören. Vier Jahre später fielen seine Zukunftsprognosen in dem Buch Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas sehr viel kritischer und pessimistischer aus.5 Hier sprach er in der Einleitung vom geistigen Verfehlen deutscher und europäischer Kultur und sagte die Zerstörung Europas durch das nationalsozialistische Deutschland voraus. Ähnliches begriff zur gleichen Zeit – nämlich 1937 – Hermann Broch, als er an der zweiten Fassung seines antifaschistischen Romans Die Verzauberung (KW3) arbeitete und seine Völkerbund-Resolution (KW 11, 195–231) verfasste. Mit der Resolution wollte er die Friedensorganisation in Genf dazu aufrufen, gegen die eklatanten Verletzungen der Menschenrechte und den Terror in totalitären Staaten Europas vorzugehen. Verwandtschaften und Parallelen in der geistigen Arbeit fallen bei Broch und Kahler auch im amerikanischen Exil auf. Von 1942 bis 1948 wohnte Broch in Kahlers Haus in Princeton zur Untermiete. Das Exil in Amerika brachte eine neue Herausforderung mit sich: die der Sprache. Vor 1938 hatte sich weder bei Broch noch bei Kahler die Frage gestellt, in welcher Sprache man schreiben und veröffentlichen sollte. Broch freute sich 1932 darüber, dass seine SchlafwandlerTrilogie unter dem Titel The Sleepwalkers fast gleichzeitig in englischer Übersetzung in London und New York erschien.6 Sie wurde von dem schottischen Schriftstellerehepaar Edwin und Willa Muir erstellt, die vorher schon Kafka ins Englische übertragen hatten. Auf den Gedanken, selbst Englisch schreiben zu
|| 3 Brochs Arbeiten werden in der Folge zitiert nach Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe (KW). Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1974–1981. Die Bandnummer wird mit folgender Seitenzahl in Klammern angegeben. 4 Vgl. Erich von Kahler: Israel unter den Völkern. Zürich 1936. 5 Vgl. Erich von Kahler: Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas. Zürich 1937. 6 Vgl. Hermann Broch: The Sleepwalkers. Translated by Edwin and Willa Muir. London/New York 1932.
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müssen, wäre er vor dem Exiljahr 1938 nicht gekommen. Deutsch war neben Englisch und Französisch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine der drei wichtigsten Wissenschaftssprachen in Europa und was immer man als deutschsprachiger Gelehrter von Rang zu Papier brachte, wurde auch international wahrgenommen.7 Dass man das Deutsche wie auch das Französische und Englische zumindest als Lesesprache beherrschte, war in großen Teilen der gelehrten Welt üblich. Das änderte sich mit dem Jahr 1933, als man unter Hitler mit der Vertreibung und Verhaftung zahlloser jüdischer WissenschaftlerInnen und auch nichtjüdischer AkademikerInnen begann, die gegen Rassismus und ideologische Gleichschaltung opponierten. Broch und Kahler wollten im Exil ein amerikanisches Lesepublikum erreichen. Die notwendige Umstellung aufs Englische als Publikationssprache fiel nicht leicht. Ist man bereits jenseits der Fünfzig, ist der Schritt von einem schlechten umgangssprachlichen Schulenglisch zu einem Amerikanisch, mit dem man in einem renommierten New Yorker Verlag bestehen kann, alles andere als einfach. Kahler fiel die Umstellung aufs Englische leichter als Broch. Die Sprache der Wissenschaft ist eine andere als die des Romanciers. Philosophische Termini und Begriffe der Historiker sind, was ihren Bedeutungshorizont betrifft, meistens eindeutiger in andere Sprachen zu übersetzen als literarische Metaphern. Das gilt besonders für das Englische mit seinem großen Wortschatz, den es seiner germanisch-romanischen Doppelerbschaft verdankt. Broch sah bald ein, dass es ihm unmöglich sein werde, sich in kurzer Zeit eine amerikanische Literatursprache anzueignen, die jene Subtilität und Vielfalt aufweisen werde, die er in seiner muttersprachlichen Dichtung erreicht hatte. Dabei befürchtete er in jene Falle des Sprachverlusts und der Resonanzlosigkeit zu geraten, die jede Exilexistenz als ständige Gefahr begleitet.8 Broch wollte mit seinem literarischen Werk Der Tod des Vergil (KW5),9 das in so vieler Hinsicht ein Buch
|| 7 Vgl. Friedhelm Debus u. a. (Hg.): Deutsch als Wissenschaftssprache im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2000. 8 Vgl. Susanne Utsch: Sprachwechsel im Exil. Die ›linguistische Metamorphose‹ von Klaus Mann. Köln/Weimar/Wien 2007; Wulf Koepke: Das Sprachproblem der Exilliteratur in der Sprachgeschichte. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Teilband 4, S. 3110–3116; Dieter Lamping: »Linguistische Metamorphosen«. Aspekte des Sprachwechsels in der Exilliteratur. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart/Weimar 1995, S. 528–540; Guy Stern: Ob und wie sie sich anpaßten. In: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil. Hamburg 1981, S. 68–76. 9 Der Roman Der Tod des Vergil und die Übersetzung The Death of Virgil erschienen zeitgleich 1945 bei Pantheon Books in New York. Vgl. John Hargraves: »Beyond Words«: The Translation
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des Exils ist, als Amerikaner in den USA wie auch als ehemaliger Österreicher in Europa wahrgenommen werden. Aus der Not eine Tugend machend, fand er einen Kompromiss: Er verlegte sich auf die co-translation, die Mitübersetzung. Broch schrieb den Tod des Vergil doppelt: zum einen auf Deutsch, zum anderen parallel als Mitübersetzer unter dem Titel The Death of Virgil auf Englisch. Die englische Fassung erstellte er gemeinsam mit seiner Freundin, der jüdischamerikanischen Lyrikerin Jean Starr Untermeyer, die eigentlich nur selten übersetzte.10 So entstand eine der eigenartigsten und bemerkenswertesten literarischen Übersetzungen des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Passage des Romans, die Broch nicht mündlich oder brieflich (meistens sowohl als auch) mit Untermeyer diskutiert und verändert hätte. Da die Übersetzung zeitgleich mit dem Original geschrieben wurde, mussten die Änderungen, die Broch im deutschen Original dauernd vornahm, auch permanent in der Übersetzung nachvollzogen werden. Für Broch waren solche Revisionen eine Sache der handwerklichen Routine, für die Übersetzerin aber bedeuteten sie eine fünfjährige Tortur, die sie nicht aus Berufsethos, sondern aus Liebe zum Autor ertrug. Einerseits bedeutete die Kooperation mit Broch für Untermeyer eine starke Belastung, weil sie in dieser Zeit nur selten zum eigenen Dichten kam, doch empfand sie andererseits die Zusammenarbeit als literarisches Experiment und geistiges Abenteuer, wie man ihrer Autobiographie entnehmen kann.11 Bei dieser Art von ›team translation‹ verband sich das englischsprachige Talent einer Lyrikerin, die nicht ganz sattelfest im Deutschen war, mit der deutschsprachigen Begabung eines Romanciers, der das Englische nur unvollkommen beherrschte. Bei The Death of Virgil handelt es sich also nicht um eine der vielen möglichen Übersetzungen, die im Laufe der Zeit durch neue abgelöst werden können. Zu sehr trägt das Buch die Handschrift des Autors Hermann Broch, als dass The Death of Virgil in Zukunft durch eine neue Übertragung einfach ersetzt werden könnte. Das ist bei den auf Englisch erschienenen Exilromanen z. B. von Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger anders. Bei der intimen Kooperation erfuhr Broch von Untermeyer und Untermeyer von Broch viel über die Sprache des Partners. Das merkt man auch dem Vortrag Einige
|| of Broch’s Der Tod des Vergil by Jean Starr Untermeyer. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch, Visionary in Exile. The 2001 Yale Symposium. Rochester 2003, S. 217–229. 10 1928 übersetzte sie das Schubert-Buch von Oskar Bie und 1970, in ihrem Todesjahr, erschien ein Band mit Gedichten, die sie aus dem Französischen, dem Deutschen und dem Hebräischen übersetzt hatte, unter dem Titel Re-Creations. 11 Jean Starr Untermeyer: Midwife to a Masterpiece. In: J. S. U.: Private Collection. New York 1965, S. 218–277.
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Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens an (KW9/2, 61–86), bei dem Broch die Rolle der Übersetzerin übernahm und Erkenntnisse vortrug, die ihnen gemeinsam aufgegangen waren. In diesem Essay hat Broch seine Erfahrungen beim sprachlichen Grenzverkehr zwischen Deutsch und Englisch zu Papier gebracht. In freier Anlehnung an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen12 denkt er über das Geheimnis der Übersetzbarkeit von Sprachen nach und erkennt es in der »MetaSyntax«. Die »Meta-Syntax« entspreche der »Grundstruktur des Menschengeistes« und verleihe unterschiedlichen »Symbolinhalten« der Sprachen eine »Symbolformung« (KW9/2, 63). Was die speziellen Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Englischen betrifft, meint Broch, dass die deutschen Sätze »hierarchisch« gebaut seien: Es gebe den wichtigen »Hauptsatz« und »untergeordnete Nebensätze« (KW9/2, 73). Im Englischen dagegen komme nur ein »Nebeneinander« von Sätzen vor, und die »logische Konstruktion des Ausdrucks« sei der rezipierenden »Imagination« überlassen (KW9/2, 74). Was für den Satz gelte, könne analog auch für das einzelne Wort festgehalten werden: Das Englische sei um »die Vokabel« zentriert, das Deutsche dagegen basiere »auf dem syntaktischen Zusammenhang der Vokabeln« (KW9/2, 75). So sei das Englische eine »Wortsprache«, das Deutsche dagegen eine »Satzsprache«: Das Deutsche könne als Sprache des »geformten Inhalts«, das Englische dagegen als Sprache »inhaltlicher Formung« definiert werden (KW9/2, 76). James Joyce, mit dem Broch sich gerne verglich, habe »neue Wörter bilden müssen, um ihnen vielsinnige Bedeutung zu geben«. Im »Deutschen hingegen« – wobei Broch an den Tod des Vergil dachte – werde die »vielsinnige Bedeutung« von »der Syntax besorgt« (KW9/2, 77).
2 Die Sprache der Wissenschaft: Unterschiedliche Wege Erich Kahler beschritt einen anderen Weg bei seinen Versuchen, sich der amerikanischen Kultur und ihrer Sprache anzupassen. Eine New Yorker Freundin, mit der er hätte sym-philosophieren und ko-übersetzen können, hatte er nicht. Kahler bekleidete in den frühen 1940er Jahren eine Gastprofessur an der New School for Social Research in New York. Das war eine 1919 von Alvin Johnson
|| 12 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bände. Berlin 1923–1929.
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gegründete Erwachsenenbildungsstätte. Durch Johnsons Engagement war es schon 1933 gelungen, eine Reihe von Sozialwissenschaftlern, die aus Deutschland und Italien geflohen waren, als Professoren an die New School zu bringen. Dabei half u. a. die Rockefeller-Stiftung mit Stipendien aus.13 Diese ›University in Exile‹, die sogenannte ›Graduate School‹ der New School, konnte nach dem Anschluss Österreichs, dem Fall der Tschechoslowakei und besonders nach Hitlers Sieg im Frankreichfeldzug wegen der neuen Flüchtlingswellen stark erweitert werden. Professoren wie Max Ascoli, Adolph Lowe, Emil Lederer, Hans Speier, Arnold Brecht und Hans Staudinger lehrten dort, denn Wirtschafts-, Staats- und Rechtswissenschaften standen im Mittelpunkt der Lehre. Aber auch der Philosoph Leo Strauss fand ein Unterkommen, und später wurde Hannah Arendt Mitglied des Kollegiums an der New School. Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 emigrierten viele französische Wissenschaftler aus Paris nach New York, und so gründeten der Theologe Jacques Maritain, der Mediävist Gustave Cohen und der Historiker Pierre Brodin in New York die École Libre des Hautes Études. Ich erwähne die École Libre deswegen, weil sie zwar mit der New School locker verbunden war, jedoch eine entgegengesetzte Sprachpolitik betrieb. An der New School musste wie an allen anderen amerikanischen Universitäten auf Englisch unterrichtet werden; die École Libre dagegen repräsentierte – durch Charles de Gaulle offiziell unterstützt – die intellektuelle Résistance. Sie war vor allem ein akademischer Treffpunkt der französischen Gemeinde von New York, und so wurde, geradezu selbstverständlich, auf Französisch unterrichtet. Bezeichnend ist auch, dass fast alle Dozenten der École Libre 1944/45 in ihr Heimatland zurückkehrten, dass jedoch die meisten aus Deutschland stammenden Professoren der New School nach Kriegsende in den USA blieben. Kahler war in Amerika auf ein Einkommen angewiesen, und die Anstellung an der New School bedeutete seine Existenzsicherung. Er sprang als ein Nichtschwimmer in den kalten Strom der amerikanischen Wissenschaftssprache, und nach dem Prinzip learning by doing entwickelte er sich allmählich zum Frei- und Fahrtenschwimmer. Er gehörte wie Leo Strauss zur winzigen Fraktion der Philosophiedozenten an der New School. Anfang der 1940er Jahre hielt er eine Vorlesungsreihe auf Englisch, die 1943 unter dem Titel Man the Measure. A New Ap-
|| 13 Peter M. Rutkoff/William B. Scott: New School. A History of the New School for Social Research. New York 1986; Claus-Dieter Krohn: Intellectuals in Exile. Refugee Scholars and the New School for Social Research. Amherst 1987; Alvin Johnson: Pioneer’s Progress. An Autobiography. New York 1952.
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proach to History erschien.14 Kahler schrieb da ein Englisch, das man auch als ›Emigranto‹ bezeichnen kann,15 das, wie Robert Neumann einmal in einem anderen Zusammenhang sagte, »in einer Sprache« geschrieben sei, »die Nichtengländer für Englisch halten«.16 Das Buch erschien im Exilverlag Pantheon Books, den Kurt und Helene Wolff begründet hatten. Weder sie noch ihre Lektoren, die ebenfalls Flüchtlinge aus Europa waren, konnten das Buch sprachlich korrigieren. Aber da es seine erste englischsprachige Publikation war, stellte dies für Kahler den entscheidenden Schritt in die amerikanische Universitätswelt dar. Broch sagte selbst über den Roman Der Tod des Vergil, dass die »Unendlichkeits- und Todeserkenntnis« im »Mittelpunkt seines Werkes« stehe (KW4, 494). Auch Kahler stellte sich im Exil Grundfragen menschlicher Existenz: Was ist das Besondere am Menschen innerhalb der Schöpfung? Was ist dasjenige, was ihn prinzipiell von anderen Lebewesen unterscheidet? Worin besteht die Zielsetzung der Menschheit als Spezies? Über die einzeldisziplinären theologischen, philosophischen und biologischen Ansätze hinausgehend, wollte er das spezifisch Menschliche generell bestimmen. Das Besondere am Menschen ist nach Kahler der Geist. Der menschliche Geist weise drei Besonderheiten auf: erstens die Existenz mit ihrer Selbstreflexivität, zweitens die Geschichte mit dem Bewusstsein von Zeitdimensionen und drittens die Humanität als ein durch die Psyche bedingtes Verhalten. Kahler meint in Man the Measure, dass es einen faktischen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit gibt, dass sie in ihrer Entwicklung zwar Rückschläge erleiden könne (wie etwa in der von ihm durchlebten Zeit des Totalitarismus), dass aber die Zukunft an sich wegen der eigentümlichen Konstitution des Menschen weitere Progression verspreche. Man the Measure erwies sich als Kahlers erfolgreichstes Buch. Die Amerikaner verziehen ihm offensichtlich sein unelegantes Englisch. Ins Deutsche ist es bis heute nicht übersetzt worden. Broch hat – auf Deutsch – in einer ausführlichen Rezension dieses Werkes Kahlers anthropologischen Ansatz gewürdigt (KW 10/1, 298–311), hat sein Verdienst um das Erkennen der »Grundnatur« (KW 10/1, 299) des Menschen herausgestellt, womit ihm auch eine »Entdogmatisierung der Geschichtsphilosophie« gelungen sei (KW 10/1, 300). Das war eine freundschaftliche Besprechung. Für Broch war Man the Measure durchaus eine intellektuelle Herausforderung. Zur gleichen Zeit arbeitete er an seiner Massenwahntheorie (KW 12), die ein anderes Bild vom Menschen ent|| 14 Vgl. Erich Kahler: Man the Measure. A New Approach to History. New York 1943. 15 Vgl. Hermann Sinsheimer: Emigranto. In: Deutsche Rundschau 71:4 (1948), S. 34–37. 16 Zitiert nach Koepke: Das Sprachproblem (Anm. 8), S. 3112.
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wirft als das bei Kahler der Fall ist. Für Broch waren Nationalsozialismus und Stalinismus nicht lediglich historisch vorübergehende Rückfälle in die Barbarei, sondern Symptome einer Menschheit, in der die Trias von Existenz, Geschichte und Humanität eben nicht selbstevident und gesichert ist. Gegen ein Abgleiten ins Subhumane sei keine Gesellschaft zu irgendeinem Zeitpunkt gefeit. Eine kognitive Kategorie wie die des »menschlichen Dämmerzustands« (KW 12, 177ff.) in Brochs Massenwahntheorie kommt bei Kahler nicht vor. Broch ist sie eine anthropologisch vorgegebene Größe, die ein massenwahnartiges Verhalten ermöglicht, für das Menschen in jeder geschichtlichen Phase anfällig sind. Einmal dem Massenwahn mit seinen Phänomenen der geistigen wie physischen Versklavung verfallen, bedürfe der Mensch der aktiven und gezielten »Bekehrung zur Humanität« (KW 12, 510ff.). Repräsentanten solch ethisch-erzieherischer Bekehrungsbemühung waren für Broch in früheren Menschheitsepochen die biblischen Propheten und die christlichen Kirchenväter. Im Zentrum edukatorischer Maßnahmen im Zeitalter des spezifisch totalitaristischen Massenwahns steht bei Broch das »Menschenrecht« als etwas in ethischer Hinsicht »IrdischAbsolutes« (KW 12, 456). Aufschlussreich ist, dass Kahler sich in seinem Buch The Tower and the Abyss von 1957 der Brochschen Position annähert.17 Dort konstatiert Kahler für die Gegenwart seiner Zeit die Gefahr, dass die Menschen ihre Humanität verlieren, weil der Einzelne durch Vermassung seines Individualismus verlustig gehe. Warum schrieb Broch seine Massenwahntheorie (KW12) auf Deutsch und nicht auf Englisch? Anfänglich (um 1940) hatte Broch noch gemeint, er müsse ein Buch für ein deutsches Lesepublikum nach Hitlers Niederlage schreiben. Aber davon nahm er schon bald Abstand. Seine Untersuchung entwickelte sich weg vom spezifisch Historischen ins allgemein Anthropologische (»Dämmerzustand«) und international Juristische (»Menschenrechte«). Während der ersten Tage seines Aufenthalts im Kahlerhaus in Princeton schrieb Broch 1942 seine Psychische Selbstbiographie. Darin heißt es: »Ich bin gierig, immer mehr in das spezifisch amerikanische Leben einzudringen, ich muß dies umsomehr tun, als ich für meine Arbeit mir einen politischen Widerhall schaffen muß, und all dies kann ich bloß durch intensive Selbstamerikanisierung erreichen«.18 Tatsache ist, dass Broch in seiner Privatgelehrtenklause bei Erich Kahler der englischsprachige Umgang fehlte, denn in dessen Haus, in dem auch Antoinette von
|| 17 Vgl. Erich Kahler: The Tower and the Abyss. An Inquiry into the Transformation of the Individual. New York 1957. 18 Hermann Broch: Psychische Selbstbiographie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1999, S. 57.
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Kahler (die Mutter) und Alice Loewy (die Geliebte) wohnten, wurde kaum Englisch gesprochen. Und die Mehrzahl von Brochs Freundinnen und Freunden, Verlegern und Lektoren in New York, wohin Broch regelmäßig Abstecher machte, waren ebenfalls Exilanten. Wann immer Broch Texte auf Englisch abliefern musste, halfen seine Freundinnen Ruth Norden oder Trude Lederer aus, die beide zweisprachig waren. Nach der Fertigstellung des Vergilromans sprang zeitweilig auch Jean Starr Untermeyer ein, doch war die Sprache der Wissenschaft ihre Sache nicht. Letztlich war Brochs Doppelberuf als Romancier und Wissenschaftler der Grund für sein Sprachdilemma. In der Dichtung traute er sich das Erreichen eines angemessenen englischen Sprachniveaus nicht zu, und da er über die Hälfte seiner Zeit mit Romanprojekten verbrachte, fehlte ihm auch die Gelegenheit, sich an ein Denken in der englischen Wissenschaftssprache zu gewöhnen. Kahler beschäftigte sich nach dem Abwurf der Atombomben in Japan stärker als Broch mit den Folgen der nuklearen Bewaffnung und veröffentlichte eine Reihe Artikel gegen das Wettrüsten, die er mit Broch diskutierte. Broch stimmte mit Kahler darin überein, dass die Atombomben voraussichtlich nicht benutzt würden, »einfach weil der Sieger im Atom- und Hydrogenkrieg im Vorhinein der Verlierer« sein werde.19 Kahler und Broch planten damals zwei Jahre lang – zwischen dem Sommer 1945 und dem Sommer 1947 – gemeinsam an einem Buch über Demokratie zu schreiben. Kahler hatte sich inzwischen aufs Englischschreiben verlegt, während Broch seine Kapitel zu dem Werk auf Deutsch verfasste. Die Sprache wurde der Spaltpilz ihres Projektes, und so gaben sie es auf. Heute kann man durch die Lektüre von Brochs Politischen Schriften aus den Jahren zwischen 1945 und 1947 und durch das Lesen in Kahlers Buch The Tower and the Abyss erkennen, dass das Aufgeben des Gemeinschaftsprojekts einen Verlust bedeutete. Vielleicht hätten die beiden ein Werk produziert, das man heute als eine wissenschaftliche Leistung im Exil anerkennen würde wie etwa die zeitgleich entstandene Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.20 Brochs Studien zur »International Bill of Rights«, zum Thema der »Zweiteilung der Welt« und zum »strategischen Imperialismus« der Nachkriegsepoche (KW11, 243–362) sind nie auf Englisch erschienen und blieben bis in die 1970er Jahre auch im deutschen Sprachkreis unbekannt. Gemeint waren sie für ein internationales Lesepublikum in den
|| 19 Hermann Broch: Briefe an Erich von Kahler (1940–1951), S. 134. 20 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947.
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Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.21 Dasselbe lässt sich für Brochs Massenwahntheorie sagen, die bis heute nicht auf Englisch erschienen ist und die ebenfalls bis in die 1970er Jahre deutschsprachigen Lesern unbekannt war.22 Publikationsstrategisch war der in zwei Sprachen schreibende Erich von Kahler seinem Freund Hermann Broch zunächst überlegen. Kahler verfasste seine Bücher auf Englisch oder auf Deutsch, je nachdem, für welche Lesegruppen sie bestimmt waren. Allerdings sind andere Exilwerke Brochs wie die Epochenanalyse Hofmannsthal und seine Zeit (KW9/1, 111–275) und sein Roman Die Schuldlosen (KW5) längst ins Englische (und in andere Sprachen) übertragen worden. Und Ähnliches gilt für Kahler: Israel unter den Völkern ist inzwischen auf Englisch unter dem Titel Jews among the Nations23 erschienen, und zu erwähnen ist auch seine mit Thomas Mann auf Deutsch geführte Korrespondenz.24 Sein Buch über Die Philosophie von Hermann Broch schrieb Kahler zehn Jahre nach Brochs Tod auf Deutsch,25 denn er wusste, dass die Rezeption seines Freundes in den deutschsprachigen Ländern stärker war als in Amerika. Aus heutiger Perspektive ist es sowohl gut, dass Kahler die amerikanische Wissenschaftssprache zu beherrschen lernte, als auch dass Broch seine Exilromane auf Deutsch schrieb. Ein wissenschaftliches Nachkriegswerk Kahlers, das nicht durch die Schule des nüchternen amerikanischen Wissenschaftsidioms gegangen wäre, dem also nach wie vor der hohe Ton von Georges Idealismus anhaften würde, hätte kaum Leser gefunden. Und umgekehrt wäre ein Roman Hermann Brochs, den er auf ›Emigranto‹ geschrieben hätte, gleichermaßen ungenießbar gewesen. Brochs co-translation könnte gerade in multikulturellen Zeiten Schule machen: Hier lösen sich die Unterschiede zwischen Autorarbeit und Übersetzungsleistung nicht symbiotisch auf, vielmehr halten sich Assimilation und Behauptung der Herkunft in einer dialogischen Balance, und Integration bedeutet nicht, Eigenes abzulegen. Diese Art der Mitübersetzung wiederholte sich übrigens im letzten Lebensjahr des Autors, als er die erste Fassung der französischen Übersetzung des Tod des Vergil26 von Robert Kohn erhielt. Broch schrieb diese Übersetzung in großen Teilen um, und die Korrespondenz || 21 Barbara Picht: Erzwungener Ausweg. Hermann Broch, Erwin Panofsky und Ernst Kantorowicz im Princetoner Exil. Darmstadt 2008. 22 Vor einigen Jahren ist übrigens eine vorzügliche französische Übersetzung der Massenwahntheorie erschienen. 23 Erich Kahler: Jews among the Nations. New Brunswick 1991. 24 An Exceptional Friendship: The Correspondence of Thomas Mann and Erich Kahler. Translated from the German by Richard and Clara Winston. Ithaca 1975. 25 Vgl. Erich Kahler: Die Philosophie von Hermann Broch. Tübingen 1962. 26 Hermann Broch: La Mort de Virgile. Übersetzt von Albert Kohn. Paris 1952.
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mit Robert Cohen, mit dem Verleger Gaston Gallimard und dem Lektor Raymond Queneau in dieser Sache wäre eine eigene Translationsstudie wert. Dabei muss man wissen, dass Broch das Französische seit seiner Jugend vorzüglich sprach. Auch diese Übersetzung wurde durch Broch nicht einfach autorisiert, sondern mitgeschrieben, und so kommt auch ihr innerhalb der fremdsprachigen Versionen von Brochs Romanen eine Sonderstellung zu. Vergleichbare, aber keineswegs identische Ko-Übersetzungen kennt man von Fall zu Fall von James Joyce und Jorge Luis Borges, von Milan Kundera und Joseph Brodsky.27 Kahler und Broch hatten zwar nicht vor zu remigrieren, aber ihre Aufmerksamkeit war auf die Entwicklungen sowohl in Amerika wie in Europa gerichtet. Sie wurden zu transatlantischen Autoren, bei denen Heim- und Fernweh sich im Diasporesken aufhoben. Was ihre Identität betraf, verstanden sie sich – auf unterschiedliche Weise – als jüdische Intellektuelle. Kahler fühlte sich dem Zionismus verbunden und hielt in Amerika häufig auf Englisch Vorträge über die kulturelle Rolle des Judentums.28 Broch bekannte 1947 in einem Brief an eine Freundin im englischen Exil auf Deutsch: »Merkwürdig, daß Dich [...] noch immer die sogenannte Heimatlosigkeit stört. Da bin ich viel israelitischer, denn ich habe mich tatsächlich, bei aller Liebe zu manchen Landschaften, mein ganzes Leben lang ausschließlich diasporesk gefühlt« (KW13/3, 143).
3 Die Sprache der Literatur: Europäischer Intertext durch Vergil und Dante Brochs Tod des Vergil ist vor allem durch Vergils Aeneis und Dantes Commedia beeinflusst. Es sind dies zwei Meisterwerke der europäischen Literatur, die aufs Engste mit dem Thema Exil verbunden sind. Brochs Latein und sein Italienisch waren nicht gut genug, um diese Werke im Original zu lesen, wenngleich er entsprechende Kenntnisse besaß, um einzelne Stellen in den Originalsprachen nachzulesen und zu verstehen. Erich Kahler hatte, im Gegensatz zu Broch, ein humanistisches Gymnasium besucht und verfügte über ausgezeichnete Lateinkenntnisse. Er und seine Mutter, Antoinette von Kahler, bewohnten ihr Haus in Princeton gemeinsam. Sie kannten außerordentlich viele Stellen aus den lateinischen und griechischen Klassikern in den Originalsprachen. Diese benutzten || 27 Vgl. Claudia Buffagni/Beatrice Garzelli/Serenella Zanotti (Hg.): The Translator as Author: New Perspectives on Literary Translation. Berlin/London 2011. 28 Vgl. dazu den Kahler-Nachlass im Leo Baeck Institute in New York, NY.
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sie in ihren Gesprächen gerne, so dass Besucher zuweilen den Eindruck bekamen, sie unterhielten sich abwechselnd auf Lateinisch oder Altgriechisch. Kahler konnte Broch bei der Auswahl von Textstellen für den Tod des Vergil beraten und ihm Nuancen ihrer Bedeutungen erklären. Anders als Kahler kannte Broch auch Homers Ilias, ohne die Vergils Epos nicht denkbar ist, nur aus deutschsprachigen Übersetzungen. Schlagen wir Homers Ilias aus dem siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf. Den erzwungenen Exodus des Aeneas und anderer überlebender Trojaner schildert Homer am Ende dieses Epos. Vergil setzt in der zwischen 29 und 19 v. Chr. geschriebenen Aeneis die Schilderung des Auszugs aus Troja fort. Er schildert den Exodus als Massenflucht mit verschiedenen Exilstationen wie Kreta, Trapani und Karthago. Die Reise durchs Mittelmeer endet erst in Latium, wo der Heros ein zweites Troja gründet, von dem aus sich ein neues Imperium entfalten soll. Aeneas kann nicht in die zerstörte Stadt seiner Vorfahren zurückkehren, aber die identitätsstabilisierende Orientierung auf Heimat ist bei ihm dominant, wie die Gründung eines Ersatz-Trojas zeigt. In der Aeneis des Vergil wird die neue Siedlung als sozialer Nukleus geschildert, der den Ausgangspunkt des späteren römischen Weltreichs bildet. Zu jenen Autoren der römischen Antike, die als Exilschriftsteller ihren Verbannungsstatus literarisch reflektierten, gehört vor allem Ovid. Broch hat in seinem Vergil-Roman das Exilschicksal des Ovid mitbedacht, wie er nach Erscheinen seines Buches Hermann Weigand mitteilte (KW13/3, 63f.). Im Jahr 8 n. Chr. verbannte Kaiser Augustus den Dichter Ovid nach Tomis ans Schwarze Meer, und dieser Beschluss wurde auch nach dem Tod des Imperators nicht revidiert. In den zwischen 8 und 12 n. Chr. verfassten Tristia, seinen teils fiktionalen, teils autobiographischen Klageliedern, hat Ovid elegisch die Härten des Exils besungen, ja geradezu mythisiert. Wie bei so vielen Exilanten blieb auch bei ihm die Heimat – hier Rom – der Fixpunkt seiner Identität als Autor und die Inspirationsquelle seiner Kreativität. Ovid durfte sich zwar nicht in der Metropole des Weltreichs aufhalten, wohl aber dort publizieren. So gab er in den ersten Zeilen der Tristia seinem Werk den Auftrag, ihn als Heimwehkranken bei den römischen Freunden und Lesern zu vertreten.29 Die Tristia bezeichnen den Beginn jener Exilliteratur, in deren Mittelpunkt die Trauer um den Heimatverlust steht. Ihre Nachwirkungen sind im 20. Jahrhundert nicht zu übersehen. Der russische Dichter Ossip Mandelstam, der später ein Opfer des Stalinschen Terrors wurde, benutzte für seine Gedichtsammlung von 1922 den gleichen Titel. In
|| 29 Vgl. Jo-Marie Claassen: Ovid Revisited. The Poet in Exile. London 2008.
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Lion Feuchtwangers Roman Exil leidet die Hauptfigur – der Komponist Sepp Trautwein, der nach Paris ausgewichen ist – ähnlich wie das Ich in Ovids Lyrik. Auch Dante wurde aus seiner Heimatstadt vertrieben.30 Er durfte bei Androhung der Todesstrafe Florenz seit 1302 nicht mehr betreten und schrieb sein Exilwerk, die Commedia, in Verona und anderen norditalienischen Stadtstaaten. Im siebzehnten Gesang des Paradiso steht eine Voraussage der Verbannung aus Florenz, die sich so liest:31 Alles, was dir am teuersten und liebsten, Wirst du verlassen müssen, und am schwersten Trifft dich der Pfeil vom Bogen des Exils. Wie bitter uns das Brot der andern schmeckt, Wirst du erfahren, wie das Steigen schwer, Das Auf und Ab auf andrer Leute Treppen.
Auf Dante muss hier hingewiesen werden, weil es auch in der deutschen Literatur eine ununterbrochene Auseinandersetzung mit der Commedia gibt,32 auch bei den Exilautoren Hermann Broch und Peter Weiss.33 Brochs Vergil-Roman ist ein Motto aus der Commedia vorangestellt, und zwar aus dem letzten Gesang des Inferno. Dort lauten die hoffnungsvollen Zeilen:34 Durch den geheimen Gang begannen nun Ich und mein Führer in die helle Welt Zurückzukehren, ohne uns Rast zu gönnen, Und stiegen, er voran, ich hinter ihm, Bis wir den schönen Schmuck des Himmels Durch eine runde Lücke blinken sahen Und beim Hinausgehn wiederum die Sterne.
|| 30 Vgl. Heinz-Willi Wittschier: Dantes Divina Commedia. Einführung und Handbuch. Erzählte Transzendenz. Frankfurt a. M. 2004. 31 Zitiert nach Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Nora Urban, Wien o. J., S. 403 (Paradiso XVII, V. 55–60). 32 Vgl. Petra Christina Hardt (Hg.): Begegnungen mit Dante. Untersuchungen und Interpretationen zum Werk Dantes und zu seinen Lesern. Göttingen 2001; Christine Ivanovic: Versehrt. Die Sprache des Schmerzes in der Dante-Rezeption nach dem Holocaust. In: Yoshihiko Hirano (Hg.): Kulturfaktor Schmerz. Würzburg 2008, S. 65–81. 33 Vgl. Eva Hölter: »Der Dichter der Hölle und des Exils«. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002. 34 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (Anm. 31), S. 174 (Inferno XXXIV, V. 133–139). Bei Broch wird der Text auf Italienisch zitiert. Vgl. Hermann Broch: Der Tod des Vergil (Anm. 9), S. 10.
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Dante als Figur taucht in Brochs Roman nicht auf, aber ein Commedia-Subtext ist nicht schwer auszumachen. Das hat bald nach Erscheinen des Buches eine Interpretation Hermann Weigands gezeigt.35 Dessen Beobachtungen aufgreifend lässt sich sagen, dass Vergil hier beim Gang durch die Tiefen eines selbst erlebten psychischen, ästhetischen und politischen Infernos und Purgatorios geschildert wird, wobei Vorstellungen eines Paradiso im Schlusskapitel durchscheinen, ohne dass es – anders als bei Dante – selbst beschrieben werden könnte. Aber auch bei Dante ist Vergil der Zugang zum Paradiso verschlossen. Anders als Dantes Commedia weist Brochs Tod des Vergil nicht drei, sondern vier Teile auf. Während man Teil I (»Wasser – Die Ankunft«) dem »Inferno«, Teil II (»Feuer – Der Abstieg«) dem »Purgatorio« und Teil IV (»Äther – Die Heimkehr«) dem »Paradiso« zuordnen kann, gibt es für Teil III (»Erde – Die Erwartung«) bei Dante kein Äquivalent. Dieses müsste dann »Terra« geheißen haben, aber das kann es bei Dante nicht geben, denn hier werden die christlich imaginierten Jenseitsbereiche abgeschritten, nicht die irdische Wirklichkeit geschildert, wenn sie auch in Anspielungen – besonders im »Inferno« – immer wieder durchscheint. Broch dagegen hat in seinem »Terra«- oder »Erde«-Kapitel die Diskussionen mit seinen Schriftstellerfreunden und das große Gespräch mit dem Kaiser Augustus untergebracht. Absichtliche Referenzen auf die Commedia hat Broch geleugnet, gibt aber in dem erwähnten Brief an Weigand zu, dass sich bei der langen Entstehungszeit seines Vergil-Romans der Florentiner quasi »durch eine Hintertür des dichterischen Geschehens – zufallsmäßig eingeschlichen haben mag« (KW13/3,68). Allerdings hat Broch Dante mit dem bereits zitierten Inferno-Motto nicht durch die Hinter-, sondern durch die Vordertür hereingelassen, der Commedia also nicht »zufallsmäßig«, sondern programmatisch eine intertextuelle Bedeutung bescheinigt. Broch wurde durch die Interpretation Weigands zu dem Gedicht »Dantes Schatten« (KW8, 67) angeregt, das er dem Germanisten widmete. Seinem zionistischen, in Jerusalem lebenden Freund Abraham Sonne (Avraham Ben Yitzhak) schrieb er daraufhin ein paar Zeilen, aus denen hervorgeht, wie durchdrungen der Broch’sche Vergil vom diasporesken Lebensgefühl eines exilierten jüdischen Schriftstellers ist. Da heißt es im Brief vom 8. Oktober 1947 aus Princeton:
|| 35 Vgl. Hermann J. Weigand: Broch’s Death of Vergil. Program Notes. In: PMLA 62 (1947), S. 525–554, hier besonders S. 528–534 und 550f.
Broch und Kahler im Princetoner Exil | 587
Aber neulich insinuierte mir ein Kritiker danteske Ambitionen mit dem Vergil […] und als ich das gelesen hatte, träumte ich in der drauffolgenden Nacht von Dante: er promenierte in der Wiener Textilei, sic Gonzagagasse, u. z. mit einem Spazierstöckchen als flotter Jud im Kaftan, und auf einer Firmentafel, neben all den andern Textilisten, stand: ›Er nahm nicht schwer was schwer von ihm sich wandte,/ und daß sich nichts in ihm zu ihm bekannte:/ so namenlos war er, und trotzdem hieß er Dante.‹ Es war ein bösartig-heiterer Traum, auf dessen analytischen Inhalt ich nicht eingehe. (KW13/3, 175f.)
Deutlicher fallen die Dante-Referenzen36 in der Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands37 des Exilautors Peter Weiss aus, und geradezu Pate gestanden hat die Commedia in dessen Drama Inferno.38 Dieses Stück hatte Weiss schon 1964 beendet, doch hielt er es, was die Publikation betrifft, zurück und gab dem etwa zur gleichen Zeit geschriebenen dokumentarischen Drama Die Ermittlung den Vorzug.39 In Inferno – 2003 aus dem Nachlass veröffentlicht – kehrt ein jüdischer Emigrant als Dante aus dem Exil heim und begibt sich auf eine InfernoWanderung durch seine deutsche Geburtsstadt. Das Stück ist sowohl Gesellschafts- wie Selbstanalyse, zeigt die Situation eines kritischen und selbstkritischen, somnambulen wie aufmerksamen, von Erinnerungen heimgesuchten, von Skrupeln geplagten und von Selbstvorwürfen gequälten Remigranten, der gerade mit seiner Selbstkritik eine Verwandtschaft zur Brochschen Vergilfigur aufweist. Seiner Heimat ist er entfremdet und konfrontiert wird er mit einer Nachkriegsgesellschaft, die die Schrecken des Holocaust und des Krieges verdrängt hat, in der nach wie vor Naziphrasen zu hören sind und in der man in einer Mischung aus Arbeitswut und Partystimmung wenig mehr im Sinn hat, als die Wirtschaftswunderwelt zu stabilisieren. Mit seinem Roman The Death of Virgil hat Broch durch seine Mitübersetzung als Exilschriftsteller einen einzigartigen Beitrag zur amerikanischen Literatur seiner Zeit geleistet. Zudem hat er durch dieses Buch, das auf Englisch und auf Deutsch gleichzeitig erschien, die alteuropäischen Exilwerke der Aeneis und der Commedia intertextuell auf neue Weise, nämlich durch die Betonung von Aspekten des Exils und der Diaspora, sowohl dem amerikanischen wie dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht. Die vermittelnde und übersetzende Hilfe, die ihm sein Freund Erich Kahler dabei leistete, darf nicht
|| 36 Vgl. Jens Birkmeyer: Bilder des Schreckens. Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss’ Roman »Die Ästhetik des Widerstands«, Wiesbaden 1994; Yannick Müllender: Peter Weiss’ »Divina-Commedia«-Projekt (1964–1969). St. Ingbert 2007. 37 Vgl. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a. M. 1975, 1978, 1981. 38 Vgl. Peter Weiss: Inferno. Frankfurt a. M. 2003. 39 Vgl. Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1965.
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unterschätzt werden. In der modernistischen Aktualisierung eines antiken Stoffes war Broch auf der Höhe der Zeit, wie die Arbeiten zeitgenössischer Autoren von James Joyce, Thornton Wilder, Eugene O’Neill und Cesare Pavese bis Paul Valéry, Jean Giraudoux und Jean Cocteau zeigen.
Walter Hettche
Günter Eichs lyrische Ordnungen Mit einem Seitenblick auf Ilse Aichingers Gedicht »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße«
1 In seinen Essays und Reden hat Günter Eich wiederholt gefordert, Literatur solle nicht zur Anwendbarkeit im Dienste der Machtausübung, zur Festigung bestehender Ordnungen oder überhaupt zu irgendwelchen ›Zwecken‹ brauchbar sein. »Gedichte haben keinen beabsichtigten Nutzwert«,1 schreibt er schon 1932; in der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1959) spricht er beinahe ausschließlich über die Notwendigkeit, die Literatur gegen die Gefahr missbräuchlicher Vereinnahmung zu immunisieren, und 1967 hat er in einem Gespräch mit Schülern der Odenwaldschule gesagt, dass Sprache grundsätzlich »unbenutzbar sein sollte« (IV, 509). Gerade lyrische Gedichte sind jedoch besonders anfällig für einen sentenzhaften Zitatgebrauch, sind doch die Ordnungssysteme von Metrik, Reim und Strophenbindung nicht zuletzt aus mnemotechnischen Gründen ersonnen worden, von den Merseburger Zaubersprüchen bis zur Werbesprache des 21. Jahrhunderts, wie man nicht erst seit Peter Rühmkorf weiß.2 Die Tatsache, dass Eich von der frühen Lyrik der späten 20er Jahre bis etwa 1950 dennoch gerne zu metrisch und strophisch gebundenen, auch gereimten Formen gegriffen hat, sollte indessen nicht dazu verleiten, seiner Äußerung gegenüber Alfred Andersch zu »mißtrauen«,3 von »Metrik und festen Gedichtformen« halte er »gar nichts« und insbesondere Sonette seien
|| 1 Günter Eich: Bemerkungen über Lyrik, in: G. E.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Hg. von Axel Vieregg und Karl Karst. Frankfurt a. M. 1991, Bd. IV, S. 460. Nach dieser Ausgabe wird durchgehend zitiert, künftig direkt im Text unter Angabe der Bandzahl in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern. 2 Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven. Reinbek 1981. – In einem Gedicht aus dem Band Anlässe und Steingärten (1966) zitiert Günter Eich mit den Worten »Bein zu Bein« das »Geraun | aus merseburgischen Schächten« (I, 148). 3 So Albrecht Zimmermann: Das lyrische Werk Günter Eichs. Eine Gestaltanalyse. Diss. Erlangen-Nürnberg 1965, S. 75.
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ihm »ein Greuel«,4 letzteres vor allem, weil sich in der »Vorliebe« für diese Form eine Neigung zum »Rückzug in erprobte Ordnungen« verrate (IV, 366). Schon die acht Gedichte, mit denen er 1927 erstmals an die Öffentlichkeit trat, sind sämtlich freirhythmische Gebilde,5 und auch das erste selbständige, nur 23 Seiten dünne Lyrikbändchen mit dem schlichten Titel Gedichte (1930) enthält zahlreiche Versuche in freien Versen. Wenn Eich aber metrisch organisierte Verse baut, versucht er meist, die besonders einprägsamen streng alternierenden Versmaße zu vermeiden. In den Gedichten, dem Band Abgelegene Gehöfte (1948) und in Untergrundbahn (1949) finden sich insgesamt nur sieben Texte, die romanischen Formen wie der Suleikastrophe oder der Schenkenstrophe folgen, in den übrigen jambisch oder trochäisch gefügten Gedichten erlaubt sich Eich viele Freiheiten in der Hebungszahl (zwischen zwei und sechs) und der Abfolge der Kadenzen. In den wenigen Fällen, in denen er ›echte‹ alternierende Verse schreibt, bestimmt nicht die bequeme Unterwerfung unter eine Formtradition die Wahl des Metrums, sondern dessen passende Semantik, zum Beispiel in dem Zyklus »Untergrundbahn«, wo in drei von vier Gedichten das Geräusch der fahrenden U-Bahn im Stakkato der Hebungen und Senkungen hörbar wird. Viele Gedichte in den drei Sammlungen von 1930, 1948 und 1949 sehen nur so aus, als bestünden sie aus alternierenden Versen, gehören in Wirklichkeit aber architextuell zu denjenigen Strophenformen, die freie Senkungsfüllungen zulassen, und zwar solchen aus der germanischen Verstradition wie der Volksliedstrophe (»Wacholderschlaf«, I, 28f.; »Wiepersdorf, die Arnimschen Gräber«, I, 66f.) oder der Chevy-ChaseStrophe (»Der Beerenwald«, I, 63; »Mirjam«, I, 70).
|| 4 Brief an Alfred Andersch vom 22. August 1948; zit. nach Angela Abmeier u. a.: Der Briefwechsel Alfred Andersch – Günter Eich 1948–1972. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 47–74, hier S. 54. 5 Unter dem Pseudonym Erich Günter in: Anthologie jüngster Lyrik. Hg. von Willi R. Fehse und Klaus Mann. Geleitwort von Stefan Zweig. Hamburg 1927, S. 30–37. – Zu Eichs frühen Gedichten vgl. Thomas Betz: »mit fremden Zeichen« – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs 1927– 1935. In: Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hg.): Modern times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955. Bielefeld 2005, S. 93–114; Friedhelm Rathjen: Von der Zeit angefressen. Joyce, Beckett, Jolas, Eich – eine kleine Gedankenflucht. In: F. R.: Die Kunst des Lebens. Biographische Nachforschungen zu Arno Schmidt & Consorten. Scheeßel 2007, S. 107–112; Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff: Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte? In: C. D./D. v. P. (Hg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposion aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007. Heidelberg 2009, S. 9–23.
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Häufig lassen die Texte althergebrachte Strophen- und Versformen gerade noch erahnen, zum Beispiel, wenn Eich im Gedicht »Frühling in der Goldenen Meil« das Vorbild der Chevy-Chase-Strophe nur noch in den durchgehend männlichen Kadenzen und den drei- bis vierhebigen Versen durchscheinen lässt, die aber nicht in der üblichen regelmäßigen Abwechslung 4-3-4-3 angeordnet sind. So reden diese Verse nicht nur davon, wie »Daheim verbrannten Kleider und Schuh | Nibelungen und Faust« (I, 30), sie zeigen auch durch das Formzitat, wie der mit den Werktiteln »Nibelungen und Faust« aufgerufene literarische Kanon nur noch in spärlichen Fragmenten der metrischen Strukturen überlebt und sich jeder ungebrochenen Reproduktion entzieht.6 Auch die populäre Suleikastrophe7 gebraucht Eich nicht ohne derlei Verfremdungen, etwa, wenn er unter die 20 Verse des Gedichts »Wiederkehr« (I, 62f.) zwei dreihebige Verse mischt, obwohl die Form doch durchgehend trochäische Vierheber verlangt. Joachim W. Storck hat in diesem Zusammenhang von einem »Verfahren der Destruktion« gesprochen, dem Eich auch »ehrwürdige poetische Gattungen« unterwerfe,8 und als Beleg einen der ironisch mit »Lange Gedichte« überschriebenen Texte aus Zu den Akten (1964) zitiert: Ode an die Natur Wir haben unsern Verdacht gegen Forelle, Winter und Fallgeschwindigkeit. (I, 175)
Der Titel scheint auf eine strenge Gedichtform zu verweisen, aber wohl kaum auf eine der ›horazischen‹ Odenstrophen, mit denen diese Verse in der Tat nichts mehr gemeinsam haben. Eine längere Vorstufe der »Ode an die Natur« ist immerhin noch in drei Versgruppen gegliedert (I, 504), und so mag man auch in
|| 6 Müller-Hanpft deutet das Gedicht ähnlich, ohne jedoch auf das verfremdete Formzitat einzugehen; Susanne Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich. München 1972, S. 44. Zur Funktion der »Erinnerung an diese Formen und Traditionen« vgl. auch Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. Mit einem Vertiefungsprogramm im Internet. München 62008, S. 158. 7 Nach Horst Joachim Frank handelt es sich um die »in der gesamten neueren deutschen Lyrik dritthäufigste, in der Goethezeit und im 19. Jahrhundert sogar häufigste Strophenform«; Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. München 1980, S. 180. 8 Joachim W. Storck: Günter Eichs Lyrik. In: Peter Walther (Hg.): Günter Eich 1907–1972. Nach dem Ende der Biographie. Berlin 2000, S. 17–31, hier S. 26.
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den drei Zeilen des publizierten Gedichts einen fernen Nachhall der Bauform pindarischer Oden vernehmen. Etwas deutlicher ist der Rückbezug auf eine sehr alte Form in dem Gedicht »Der Mann in der blauen Jacke« aus Botschaften des Regens (I, 98): Zwei Vierzeiler werden von zwei Dreizeilern eingerahmt, reimlose freie Verse allesamt; das ist zwar ein sehr verschleiertes, aber immer noch erkennbares Zitat des Architexts Sonett. Auch das Gedicht »Die Herkunft der Wahrheit« (I, 109) ist ein solches Krypto-Sonett, das in seinen 14 Zeilen die Zugehörigkeit zu dieser Formtradition offenbart, so, wie die im Gedicht angesprochene »Wahrheit« die Spuren ihrer Herkunft an den »mit Sand behafteten Wurzeln« mit sich trägt.9 Auch andere Strophenformen verfremdet Eich auf solche Weise, zum Beispiel im zweiten Gedicht des Zyklus »Gemischte Route« aus Anlässe und Steingärten (1966; I, 141f.), das zwar in der Anordnung der Verse, aber sonst in nichts mehr an die Terzine erinnert. Nur so kann die »Destruktion« der »ehrwürdigen« Formen überhaupt bemerkt werden, denn wenn nicht wenigstens Reste ihrer ursprünglichen Faktur konserviert würden, wäre nicht einmal deren Zerstörung wahrnehmbar. Erst die bestehenden Regeln ermöglichen den Verstoß, in der Dichtung wie in allen anderen Lebensbereichen. Das hat bereits Goethe in seinem Sonett »Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen« mit dem pointierten Schlussvers in eben dieser Doppeldeutigkeit gesagt: »[D]as Gesetz nur kann uns Freiheit geben«. Das ist eine Sentenz, die zwar die Normen menschlichen Zusammenlebens meint, aber aus dem Nachdenken über die strengen Formgesetze des Sonetts erwachsen ist, die nur dann ein gelungenes ›Klinggedicht‹ hervorbringen, wenn man die metrischen Vorgaben gleichzeitig befolgt und in der rhythmischen Realisation gegenmetrisch übertritt. Die Ordnungs- und Orientierungsfunktion seiner Lyrik hat Günter Eich in der Rede Einige Bemerkungen zum Thema »Literatur und Wirklichkeit« (1956)10
|| 9 Selbst in »Inventur« glaubt Jochen Vogt ein verstecktes Shakespeare-Sonett entdecken zu können: »Versuchen Sie doch einfach mal, immer zwei kurze Verse zu einer Langzeile zusammenzufassen (was sich auch rhythmisch anbietet)! Dann haben wir zwar immer noch ein reimloses Gedicht, aber eines mit – genau 14 Zeilen (nach der Shakespeare-Variante)« (Vogt: Einladung [Anm. 6], S. 158). Das scheint mir etwas weit hergeholt; man müsste dann konsequenterweise alle Gedichte, deren Versanzahl sich durch 14 teilen lässt, »Krypto-Sonette« nennen. 10 Die Rede wurde zuerst in der Zeitschrift Akzente 3:4 (1956), S. 313–315 publiziert. In den beiden Werkausgaben von 1973 und 1991 erscheint sie unter dem Titel der Tagung, auf der sie gehalten wurde: »Der Schriftsteller vor der Realität«, und zwar jeweils mit der Begründung, sie sei in dem von Susanne Müller-Hanpft herausgegebenen Band Über Günter Eich (Frankfurt
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mit einem Bild aus der Vermessungstechnik erläutert: »Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren« (IV, 613). Was er damit meint, hat er viele Jahre später – 1970 – in einem Gespräch mit Berliner Schülern erklärt, die ihn darauf angesprochen hatten: Ich darf einmal anknüpfen an ein Wort – ich glaube, es ist von Mörike –, das heißt: »Wo Reime sind, muß ein Zusammenhang sein.« Und: »Es wird eventuell ein Zusammenhang zwischen zwei Reimwörtern hergestellt oder gesehen«. So in etwa ist das auch, das heißt, es werden Zusammenhänge gesehen, die nicht ohne weiteres einsehbar sind […]. Im großen ganzen möchte ich eigentlich sagen: Ein Gedicht ist ein Punkt, ein zugespitzter Augenblick, in dem Raum und Zeit aufgehoben sind. (IV, 519)
In einer Zeit, in der Eich keine im herkömmlichen Verständnis gereimten Gedichte mehr geschrieben hat, kann der Begriff ›Reim‹ nur in einem umfassenderen Sinn gemeint sein, der allerdings kaum auf Mörike zurückzuführen sein dürfte. Wahrscheinlicher ist, dass bei der Transkription des auf Tonband aufgenommenen Gesprächs ein Hörfehler unterlaufen ist. Eher als bei Mörike findet man solche Überlegungen zu einem erweiterten Reimbegriff nämlich bei dem von Eich geschätzten Oskar Loerke, der 1935 in seinem Aufsatz Das alte Wagnis des Gedichts schreibt:11 Eine andere Form des lyrischen Rhythmus ist der Reim; seine Einschnitte begrenzen vergleichsweise das, was der Musiker als Vergrößerung des Themas bezeichnet. […] In diesem Verstande wird offensichtlich, daß bloße Silbengleichklänge beileibe keine Reime sind; vielmehr reimen sich die hinter ihnen stehenden Dinge, und der Klang versinnlicht den rhythmischen Ablauf der Welt. Auch reimlose Verse reimen sich in diesem Sinne […].
Eine praktische Umsetzung derartiger Theorien ist in Eichs früher und mittlerer Lyrik allenthalben zu finden. Seit dem Band Abgelegene Gehöfte von 1948 werden die bei oberflächlicher Lektüre konventionell anmutenden Gedichte nicht nur durch metrische Brüche, sondern auch durch – damals – provokante Reime aufgesprengt: Goethes »Faust« verbindet sich mit dem Partizip »verlaust«, »Hölderlin« mit »Urin« – eine auch über die lyrische Form geführte Auseinan-
|| a. M. 1970) unter dieser Überschrift gedruckt worden. Ich sehe darin keinen Grund, vom Titel des Erstdrucks abzuweichen. 11 Oskar Loerke: Das alte Wagnis des Gedichts. In: O. L.: Gedichte und Prosa. Hg. von Peter Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1958. Bd. I, S. 692–712, hier S. 703.
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dersetzung mit der pervertierten Klassiker-Rezeption im Nationalsozialismus.12 In »Inventur« (I, 35f.) äußert sich die Kargheit im gänzlichen Verzicht auf den Reim, dessen Fehlen durch versprengte Binnenassonanzen wie »Teller« / »Becher« und die Paarung »Notizbuch« / »Handtuch« umso stärker hervorgehoben wird. Auch im Strophenbau erlaubt sich Eich mit den achtmal vier zweihebigen Versen nur ein Minimum an lyrischer Formensprache, so dass sich Friedrich Sengle allen Ernstes die Frage stellte: »Ist es Dichtung, ist es Lyrik?«13 Selbst in dem Gedicht »Camp 16« (I, 33f.), von dem Susanne Müller-Hanpft meint, seine »sechs Volksliedstrophen« flössen in »einem sehnsuchtsvollen, ruhigen Ton […] dahin« und es sei überhaupt »ein schönes, ein ruhiges Gedicht, voller Wohlklang«,14 versteckt Eich zwei ›falsche‹ zweihebige Verse und reimt »Sturm« auf »Regenwurm«. Die Erzeugung von »Wohlklang« ist in Eichs GefangenschaftsGedichten ohnehin nicht das vordringliche Ziel seiner Reimkunst, die »Boot« mit »Kot« (I, 37) zusammenspannt, »Nachbarbett« mit »Skelett« (I, 25), »Todesgeruch« mit »Leichentuch« (I, 26), die »Weberknechte« mit dem »Menschengeschlechte« (I, 39) und – in einem trostlos düsteren Gedicht mit dem ganz andere Erwartungen weckenden Titel »Frühlingsbeginn« – das »Wolkenblau« mit dem »Todesschrei der Sau« (I, 26). Der ursprüngliche mnemotechnische Zweck des Reims, der eine problemlose Verfügbarkeit garantieren sollte, kann auch durch Übererfüllung unterlaufen werden. Für viele seiner Gedichte erfindet Eich eigene, oft raffiniert gebaute Strophenformen mit elaborierten Reimbindungen, zum Beispiel in »Abendliches Fuhrwerk« (I, 19) mit seiner kunstvollen Mischung aus Reim und Assonanz, in »Moränengelände« (I, 20) mit den Reimen abbc addc abbc, in »Mohn« (I, 34) mit seinen vier dreizeiligen, durchgehend auf aba gereimten Strophen, und besonders in dem Gedicht »Im verflossenen Herbst« (I, 33), dessen zwei Versgruppen auf eine in der deutschen Lyrik wohl singuläre Weise reimen, nämlich nach der Formel abbbaba abbaaa. Solche kaum noch als ›Schemata‹ zu bezeichnenden Reimstrukturen erschweren das Einprägen eher, als dass sie es
|| 12 »Frühling in der Goldenen Meil« (I, 30), »Latrine« (I, 37). Vgl. zum Beispiel Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich. München 1972, S. 44, und Michael Kohlenbach: Günter Eichs späte Prosa. Einige Merkmale der Maulwürfe. Bonn 1982, S. 94f. 13 Friedrich Sengle: Moderne deutsche Lyrik. Von Nietzsche bis Enzensberger (1875–1975). Mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr. Hg. von Gabriele Schneider. Heidelberg 2001, S. 307. Der Band enthält Vorlesungen, die Sengle zwischen 1949 und 1975 an verschiedenen deutschen Universitäten gehalten hat. 14 Müller-Hanpft: Lyrik (Anm. 12), S. 40. Auch Schafroth reduziert die Lyrik des ›mittleren‹ Eich allzu sehr auf den »schön[en] Stil« (Heinz F. Schafroth: Günter Eich. München 1976, S. 49).
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befördern, zumal Eich sie nicht selten mit komplizierten und wenig eingängigen Metren verbindet. Reim und Metrik, das geht aus all dem hervor, sind um 1945 für Eich keineswegs nur »Fesseln«.15 Sie sind einerseits der selbstgesetzte oder nach alten Mustern modifizierte, jedenfalls aber notwendige kohärenzschaffende Rahmen, andererseits werden die Rudimente der aus Klassik und Romantik überkommenen Formen zu Metaphern für den Verlust kultureller Tradition, so dass man mit Werner Weber argumentieren kann, in einem Gedicht wie »Latrine« handle es sich um »Verse voller Störung, Verse, in denen eine gewisse Ordnung nur mühsam behauptet wird.«16 So falsch es ist, die Texte »allein aus den Eigenschaften von Reim und Rhythmus«17 zu deuten, so falsch wäre es, von der Semantik dieser vermeintlichen Formalia gänzlich abzusehen.
2 »Versmaße halten nicht vor«, schreibt Eich in dem Ende 1964 entworfenen und 1966 in den Band Anlässe und Steingärten aufgenommenen Gedicht »Kunsttheorien« (I, 172).18 Der weitgehende Verzicht auf Reim und metrische Ordnung seit Zu den Akten (1964) ist die Konsequenz aus dieser Erkenntnis, deren Genese erst im Rückblick auf Abgelegene Gehöfte, Untergrundbahn und Botschaften des Regens als genau kalkulierter Prozess der Reduktion und Chiffrierung sichtbar wird. Gerade das frühe Fundament metrisch und strophisch regulierter Gedichte ermöglicht es, die Abwesenheit dieser Gerüste in der späten Lyrik zum einen als Resultat der von Eich zuvor und parallel theoretisch formulierten Verweigerung aller Regelkonformität zu begreifen, zum andern aber in den Gedichten der sechziger und siebziger Jahre immer noch die alten Formen aufscheinen zu sehen. Das gilt etwa für das zwischen 1950 und 1959 entstandene Gedicht »Gärtnerei« aus Zu den Akten, in dessen Arbeitsmanuskripten Eich noch ganz unoriginelle Reimschemata benutzt, während die letzte Fassung mit der unge-
|| 15 Peter Horst Neumann: Die Rettung der Poesie im Unsinn. Über Günter Eich. Aachen 2007 [zuerst unter dem Titel: Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich. Stuttgart 1981], S. 47. 16 Zit. nach Müller-Hanpft: Lyrik (Anm. 12), S. 42. 17 Müller-Hanpft: Lyrik (Anm. 12), S. 42. 18 Im ersten Entwurf lautet der Vers: »Trochäen halten nicht vor« (I, 503).
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wöhnlichen »umarmende[n] Reimklammer«19 abxxba endet (»fort«, »Tor«, »Ton«, »rot«, »Ohr« und »Ort«; I, 114 und 467–469). Der Weg geht vom eher ziellosen Experimentieren mit verschiedenen Formvorbildern in der Vorkriegslyrik über die Versuche mit unkonventionell gereimten Gedichten und das Spiel mit den nur noch im Akt ihrer Verletzung erahnbaren metrischen Regeln bis hin zu den reimlosen freien Versen der letzten drei Gedichtsammlungen. Eich hat diese »Entwicklung« in dem gleichnamigen poetologischen Gedicht aus Anlässe und Steingärten nachgezeichnet, das zwar ohne Reim und metrische Bindung auskommt, aber in Gestalt der dreizeiligen Strophen noch immer die früheren Phasen seiner lyrischen Dichtung konserviert, die hier als »Verzögerungen […], Umwege, Aufenthalte, Wartesäle« aufgerufen werden:20 Entwicklung Verzögerungen erfinden, Relais einbauen, Umwege, Aufenthalte, Wartesäle. Kann, soll und muß, und kreuzungsfrei, im Hundert, vom Hundert, auf Hundert. Und schließlich einsilbig, Buchstaben, Interjektionen zusammenschrumpfend, Hinweise auf Wörterbücher, Journale, der Vorzug von Sprachfehlern. (I, 158)
|| 19 Horst Ohde: Günter Eichs Gedicht »Gärtnerei«. In: Susanne Müller-Hanpft (Hg.): Über Günter Eich. Frankfurt a. M. 1970, S. 90–97, hier S. 94. Vgl. auch Schafroth: Eich (Anm. 14), S. 111–114. 20 In der Handschrift dieses auf den 6. Dezember 1965 datierten Gedichts lauten die letzten beiden Zeilen zunächst: »deutliche Sprachfehler, | taubstumm« (I, 495), womit Eich auch auf seine Hörspielproduktion anspielt; das bis dato letzte Hörspiel, Man bittet zu läuten (1964), spielt in einem Taubstummenheim.
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Anders als andere Autoren, die – wie beispielsweise Johannes Bobrowski – ihre eigenen Gedichte gerne in Interviews und Essays kommentiert haben,21 hat sich Günter Eich stets jeder interpretierenden Selbstauskunft verweigert. Im Kreis der Familie Schmid in Geisenhausen, bei der er nach dem Krieg zehn Jahre lang wohnte, hat er gelegentlich seine Gedichte vorgelesen; Oskar Schmid, einer der Söhne der Familie, erzählt in seinen Erinnerungen an »Günter Eich in Geisenhausen«: »Wenn man ihn bat, eine schwer verständliche Stelle seiner Texte zu erläutern, meinte er lachend, er verstünde diese Stelle selbst nicht, sie gefiele ihm aber und jeder könne sich dabei denken, was er wolle.«22 Jahre später antwortet Eich einem Studenten, der sich vom Dichter persönlich »einige Anregungen« für eine Seminararbeit über dessen Lyrik erbeten hatte:23 »Was die Interpretation meiner Gedichte betrifft, so bin ich etwas ratlos, wie ich Ihnen helfen könnte. Ich selber kann über meine Gedichte über ihren Wortlaut hinaus nichts sagen«;24 gegenüber Lilly von Sauter, Organisatorin der österreichischen Jugendkulturwochen in Innsbruck, behauptet er ein wenig kokett, er verstehe »nur wenig vom Hörspiel«,25 und als ihn Hilde Domin zur Beteiligung an ihrer Anthologie Doppelinterpretationen einlädt, holt auch sie sich eine Abfuhr: »Ich lehne es immer und überall ab, mich zu mir und meinen Sachen zu äußern.«26 Sind explizite Interpretationshinweise von ihm also weder im mündlichen noch im brieflichen Gespräch zu bekommen, so versteckt er hingegen implizite Deutungsangebote nicht selten in den literarischen Texten selbst. Wie schon im Gedicht »Zum Beispiel« aus Zu den Akten, wo »die Frage | nach einer Enzyklopädie« gestellt »und eine Interjektion | als Antwort« gegeben wird (I, 136), ist auch in »Entwicklung« eine ausdrücklich als »Hinweis« markierte Leseregel für die späte Lyrik gegeben, in der die Verknappung bis zur Lakonik der »Formeln« || 21 Das hat im Falle Bobrowskis dazu geführt, dass seine Selbstinterpretationen im Kommentar zu den Gesammelten Werken ausgiebig zitiert werden, so, als sei der Autor die Autorität, die über den ›Sinn‹ der Texte gültige Auskunft geben könne. Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Fünfter Band: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass. Hg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1998. 22 Oskar Schmid: Günter Eich in Geisenhausen. In: Geisenhausen. 1000 Jahre Heimat und Lebensraum. Festschrift zum Jubiläumsjahr 1982. Hg. im Auftrag der Marktgemeinde Geisenhausen von Joseph Hager. Geisenhausen 1982, S. 272–279, hier S. 273. 23 Horst Heiderhoff an Günter Eich, 3. November 1960 (Privatbesitz). 24 Günter Eich an Horst Heiderhoff, 7. November 1960 (Privatbesitz). 25 Günter Eich an Lilly von Sauter, 25. März 1963 (Privatbesitz). Vgl. Christine Riccabona/Erika Wimmer/Milena Meller: Ton Zeichen : Zeilen Sprünge. Die österreichischen Jugendkulturwochen 1950–1969 in Innsbruck. Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 190f. und S. 325f. 26 Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Hg. und eingeleitet von Hilde Domin. Frankfurt a. M./Bonn 1966, S. 88.
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reicht, zwei Zyklen von Kürzestgedichten, deren Texte (nicht etwa die Titel!) zum Beispiel »Lachreiz vor Säulen«, »Fernsehstrumpf«, »Baumwollust« oder »Kandierte Chinesen« lauten.27 Nachschlagewerke wie das Rückläufige Wörterbuch der deutschen Umgangssprache von Erich Mater (1965) und Meyers Großes Konversationslexikon in der 6. Auflage von 1905 bis 190928 gehörten zu Eichs Lieblingslektüre, der Meyer schon seit frühester Kindheit, wie er in einem um 1946 verfassten Lebenslauf erzählt; »[l]eider fehlten die Bände von R bis Z. Hier hat meine Bildung noch heute empfindliche Lücken« (IV, 464). Während dem Kind die Repräsentation der »Welt« in diesem Lexikon »koloriert und verworren« (ebd.) vorkam, hat es dem späten Eich gerade der Eindruck strenger Regelhaftigkeit angetan, den die Ordnung des Alphabets erweckt, die aber in Wahrheit eine geradezu anarchische Unordnung ist, in der – wie im Gedicht »Zum Beispiel« zitiert – der »Stein der Weisen« irgendwo »[z]wischen Schöneberg | und Sternbedeckung« zu stehen kommt, im 18. Band, der tatsächlich die Stichwörter »Schöneberg bis Sternbedeckung« enthält.29 Wie man mit Hilfe des Meyer manche auf den ersten Blick kryptische Texte entschlüsseln kann, haben Michael Kohlenbach an Eichs Maulwurf »Nördlicher Seufzer« und Peter Horst Neumann am Gedicht »Zum Beispiel« gezeigt.30 Neben den zeitgenössischen Lexika, Wörterbüchern und Enzyklopädien, die Eich für seine Dichtung ausgeschöpft hat, enthalten die im Nachlass enthaltenen Entwürfe zu den Gedichten reiches Material für textgenetische Studien.31 Er wolle Gedichte schreiben, »in denen man sich zugleich ausdrückt und verbirgt«, hat Günter Eich einmal notiert (IV, 513), und in dem Gedicht »Huhu« aus Zu den Akten ruft er dem Leser zu: »Wo die Beleuchtung beginnt, | bleibe ich unsichtbar. | Aus Briefen kannst du mich nicht lesen | und in Gedichten verstecke ich mich« (I, 135). In der »Beleuchtung«, der öffentlichen Rezipierbarkeit gedruckter Gedichte, erscheinen die Texte paradoxerweise dunkel, aber aus den
|| 27 Publiziert wurden die »Formeln« in Zu den Akten und Anlässe und Steingärten (vgl. I, 137f. und I, 175); hinzu kommt eine dritte, zu Lebzeiten Eichs unveröffentlichte Reihe von »Formeln« (I, 286f.) 28 Künftig: MGK. – Beide Lexika hat Eich besessen. Vgl. auch seinen Maulwurf »Rückläufiges Wörterbuch« (I, 363). 29 Vgl. die Interpretation von Neumann: Rettung (Anm. 15), S. 94–99. 30 Michael Kohlenbach: Eichs späte Prosa (Anm. 12), S. 194f.; Neumann: Rettung (Anm. 15), S. 94–101. 31 Zum Begriff »Textgenese« vgl. grundlegend Axel Gellhaus (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994, darin besonders Gellhaus’ Beiträge »Textgenese als poetologisches Problem. Eine Einführung« (S. 11–24) und »Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik« (S. 311–326).
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Entwürfen fällt nicht selten ein erhellendes Licht auf Eichs Chiffren. Freilich verbietet es sich, die publizierten Fassungen der Gedichte schlicht mit Hilfe der Entstehungsvarianten zu interpretieren; es geht vielmehr darum, die Rätselhaftigkeit der späten Lyrik Eichs nicht nur zu konstatieren, sondern den Chiffrierungsprozess und seine Ergebnisse zu analysieren.32 An den Gedichten »Bankette nicht befestigt« und »Ohne Unterschrift« aus dem Band Zu den Akten von 1964 lässt sich exemplarisch demonstrieren, auf welchen Wegen Eich das Zugleich von Aussprechen und Verschweigen zu erreichen versucht. Bankette nicht befestigt Unruhe über den Straßenrand: Man hat Leuchtzeichen gesetzt, aber der Huflattich wächst ungenau in den Teerbereich.
|| 32 Leider fehlt bis heute eine vollständige Edition der Arbeitsmanuskripte; selbst die »revidierte Ausgabe« von Eichs Gesammelten Werken (1991) enthält nur eine Auswahl. Schon vereinzelte Ansätze zu textgenetischen Studien aus den siebziger und achtziger Jahren belegen, welches heuristische Potential die Nachlassmaterialien in sich bergen; vgl. Schafroths Analyse der verschiedenen Fassungen des Gedichts »Air« (Schafroth: Eich [Anm. 14], S. 116–120) sowie Gerhard Schmidt-Henkel: »Poetizitätsgrade«. Die Entstehung von Günter Eichs Gedicht »Mittags um zwei« in sechs Fassungen. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Poetik und Geschichte. Viktor Žmegač zum 60. Geburtstag. Tübingen 1989, S. 284–296. Eine erste umfangreiche, dem Vorbild der französischen critique génétique verpflichtete Analyse und Interpretation hat Sandie Attia mit ihrer Dissertation Signes et traces dans l’œuvre poétique de Günter Eich (1907–1972) (Zeichen und Spuren in der Lyrik Günter Eichs) vorgelegt (verteidigt im November 2009 an der Université Paris-Sorbonne und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.). Die Arbeit ist bis jetzt noch nicht in Buchform erschienen; die elektronische Version (in französischer Sprache) ist über keine einzige deutsche Bibliothek erreichbar. Immerhin sind daraus einige Aufsätze hervorgegangen: Sandie Attia: Günter Eich / Wilhelm Lehmann: Malentendu, désaveu ambivalent et innovation poétique. In: Sidonie Kellerer u. a. (Hg.): Missverständnis – Malentendu. Kultur zwischen Kommunikation und Störung. Würzburg 2008, S. 209–224; S. A.: Günter Eichs Gedicht »Gespräche mit Clemens« und seine Vorfassungen. ›Versuche in Wasserfarben‹ und poetologische Verschlüsselung. In: Dutt/von Petersdorff (Hg.): Eich (Anm. 5), S. 13–46; S. A.: Le prisonnier et le poète. L’écriture du Moi dans les manuscrits de la captivité de Günter Eich. In: Alain Muzelle (Hg.): Chemins de la poésie allemande de Friedrich Hölderlin à Volker Braun. Hommage à Rémy Colombat. Paris 2011, S. 395–410; S. A.: »Quer durch die Fährten gehn«. Histoire(s) et déraillements poétiques dans la poésie tardive de Günter Eich. In: Françoise Lartillot/Rémy Colombat (Hg.): Poésie et histoire(s) en Europe aux XXe et XXIe siècles / Poesie und Geschichte(n) in Europa im 20. und 21. Jahrhundert. Bern u. a. 2013, S. 245–265.
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Was tun? Die Abstrakta lauern im Gras, Regenlachen, gefüllt mit Biologie, viel Ränder, Übergänge, Grenzkorrekturen, ohne Ergebnis, ohne Lerchenlied, – die Regierung der großen Blätter, ebenso ruhlos. (I, 133)
Autoritäten, die sich hinter dem Indefinitpronomen »Man« verbergen, versuchen vergeblich, eine Ordnung in das Chaos der Natur zu bringen. Die »Leuchtzeichen«, die vor dem Abgleiten in die unbefestigten Seitenstreifen warnen, sind nutzlos, sobald die nichtmenschlichen Lebewesen ins Spiel kommen, deren potentielle Gefährlichkeit durch das Verbum »lauern« angedeutet wird. Das Gedicht lässt aus dem ›abstrakten‹ Wissenschaftsterminus »Biologie« ein sehr konkretes lebendiges Gewimmel wachsen, das die Fahrbahn wie den Text zu durchwuchern beginnt, in einem Vorgang, der die Herstellung desjenigen Stoffes abbildet, aus dem der Straßenbelag geformt ist: Teer ist ein organisches Material aus Bestandteilen von Holz, Torf oder Kohle. Neben den mit dem Begriff »Biologie« metonymisch aufgerufenen Bewohnern der »Regenlachen« – Mikroorganismen, Wirbellose, Insekten, vielleicht auch Reptilien und Amphibien – erweist sich vor allem der Huflattich als Bedrohung des Menschenwerks. Seine Anwesenheit in diesem Gedicht hat mehrere Gründe, botanische wie poetische. In botanischer Hinsicht ist er eine »Pionierpflanze«, die zuvor nicht bewachsene Gebiete besiedelt und »durch menschliches Zutun zum Beispiel an Straßenböschungen […] manchmal Bedingungen« findet, »die zu Massenbeständen führen«.33 Poetisch ist der Huflattich eine Anspielung auf Eichs Hörspiel Die Stunde des Huflattichs,34 in dem die Pflanze sich über die ganze Welt verbreitet und die Menschheit auslöscht – die »großen Blätter« übernehmen die »Regierung«35 und widerlegen damit die im
|| 33 http://de.wikipedia.org/wiki/Huflattich [02.04.2015]. 34 Erste Fassung 1956, zweite Fassung 1959 (III, 269–304 und 577–622). 35 Ein ähnliches Eindringen des anarchisch Ungeordneten in ein verwaltungstechnisch organisiertes Ambiente ereignet sich in Eichs Gedicht »Büro«; vgl. dazu Jörg Döring: Naturmagie mit Markenartikel. Büro – ein unbekanntes Gedicht von Günter Eich. In: Berliner Hefte zur
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Hörspiel als »hochmütig« decouvrierte Annahme der Menschen, dass sie »die einzige Möglichkeit wären« (III, 304). Anders jedoch als in Die Stunde des Huflattichs erzeugt im Gedicht »Bankette nicht befestigt« der Mensch selbst die Bedingungen, die gerade denjenigen Pflanzen zuträglich sind, die ihrerseits die menschlichen Ordnungen und Bauwerke zu zerstören beginnen. Das erinnert in seiner zirkulären Sinnlosigkeit an die Verfertigung der Kunststeine in dem Roman Die Stadt hinter dem Strom (1947) von Günter Eichs engem Freund Hermann Kasack: In der einen Fabrik werden künstliche Steine hergestellt, die in der anderen wieder zu einem Pulver gemahlen werden, das zum Rohstoff für die Fabrikation neuer Steine dient – ein ewiger Kreislauf, auf den der Archivar Lindhoff mit dem seitdem als signatura temporis berühmt gewordenen Ausruf reagiert: »Es ist absurd!«36 Der Begriff Textgenese, der sich in der Editionswissenschaft für den poetischen Arbeitsprozess etabliert hat, ist – als Metapher aus dem Bereich der Biologie – im Zusammenhang mit Eichs Gedicht »Bankette nicht befestigt« besonders passend, denn das von den nicht befestigten Banketten ausgehende vegetabilische Wachstum findet seine Entsprechung in der literarischen Produktionsweise, die bei Eich (wie bei vielen anderen Autoren) in einem sich verzweigenden Um- und Neuschreiben des bereits Vorhandenen geschieht. Auch die beiden Gedichte »Bankette nicht befestigt« und »Ohne Unterschrift« sind aus einem einzelnen Text erarbeitet worden, den Axel Vieregg auf »April 1957 oder später« datiert hat (I, 484): Bundesstraße 299 oder das Unvermögen, die Ordnung zu ordnen Unruhe über den Straßenrand. Man hat Leuchtzeichen gesetzt, doch der Huflattich bleibt ungenau. Die Abstrakta lauern im Gras, bereit dem Wunsche zu sterben.
|| Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 125–130, bes. S. 128f. (das Gedicht ist in den Gesammelten Werken nicht enthalten). 36 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom. Berlin 1947, 12. Kapitel, S. 275; Wilhelm Genazino nennt es ein »Jahrhundertwort unseres Weltverstehens«; Wilhelm Genazino: Kein Mann der letzten Schärfe. Hermann Kasack und sein Roman Die Stadt hinter dem Strom. In: Herbert Heckmann und Bernhard Zeller (Hg.): Hermann Kasack zu Ehren. Eine Präsidentschaft in schwerer Zeit. Göttingen 1996, S. 11–17, hier S. 14.
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Die Lösungen, die gelten sollen: Raupen unter der Rinde von Bäumen, die gefällt sind, Essigbäume am Beginn der Steigung, verdunstetes Wasser im Honigglas. Eine Weltordnung durch frische Blumen und die gefällige Linie der Waldränder. Einige Geheimnisse an Windrädern aufbewahrt, genug für Klarheit und Überdruß. Und doch, und doch Unruhe über den Straßenrand, Grenzkorrekturen durch Huflattich, die Regierung der großen Blätter, zugetan dem eigenen Sturz. (I, 484f.)
Der Haupttitel dieses Gedichts stiftet einen Bezug zur Biographie des Autors, und zwar zu einer Lebensphase, die für seine literarische Entwicklung entscheidend war. Einer der Handlungsorte von Eichs Hörspiel Sabeth aus dem Jahr 1951 liegt zehn Minuten von der Bundesstraße 299 entfernt – »freilich nur eine sehr lose Berührung mit der Welt« (II, 444), aber für Eich von existenzieller Bedeutung: An dieser Straße liegt zwischen Landshut und der Kreisstadt Vilsbiburg der Markt Geisenhausen, wo Eich von 1945 bis 1954 bei der Handwerkerfamilie Schmid gewohnt hat,37 und sie führt von dort bis in den Chiemgau, wohin er nach seiner Eheschließung mit Ilse Aichinger übersiedelt ist. Als Eich den Text des Gedichts »Bundesstraße 299« am 18. Dezember 1963 für die Publikation in Zu den Akten in zwei einzelne aufgespalten hat,38 war auch in einer der erwogenen Überschriften für das zweite Gedicht die biographische Komponente noch präsent: »Im Kreis Vilsbiburg« sollte es heißen, bevor sich Eich für den endgültigen Titel »Ohne Unterschrift« entschied.39
|| 37 Vgl. dazu grundlegend Roland Berbig: Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954. Göttingen 2013. 38 Vgl. I, 477 und I, 484. 39 Eine weitere Variante lautet »Vor der Unterschrift«; vgl. I, 477.
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Ohne Unterschrift Die Antworten: Raupen unter der Rinde gefällter Pappeln, Essigbäume am Beginn der Steigung, verdunstetes Wasser im Honigglas. Eine Weltordnung durch Schnittblumen und die gefällige Linie der Waldränder. Einige Geheimnisse an Windrädern aufbewahrt, genug für Klarheit und Überdruß – Keine Fragen mehr, Einverständnis, überlappt von Tod. (I, 124)
Nicht nur die Biographie Günter Eichs, sondern auch Ilse Aichingers Lebensgeschichte ist mit einer intertextuellen Chiffrierung in diesen Text verwoben. Der Essigbaum, der sowohl in »Bundesstraße 299« als auch in dem daraus hervorgegangenen Gedicht »Ohne Unterschrift« erwähnt wird – aber nirgendwo sonst in Eichs Lyrik – ist für Niederbayern gewiss kein charakteristisches Gewächs. Er gedeiht, wie Meyers Großem Konversationslexikon zu entnehmen ist, »im Mittelmeergebiet, in Südtirol bis Wien«,40 und eben dort, so liest man es in einem Gedicht von Ilse Aichinger, lässt ihn der Baumeister an einer Straße pflanzen, die für die Familie der Autorin schicksalhaft sein wird. Auf der Schriftstellertagung in Vézelay im Juni 1956, bei der auch Günter Eich Einige Bemerkungen zum Thema »Literatur und Wirklichkeit« vortrug, hat Ilse Aichinger ihr Gedicht »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße« gelesen. Wie bei Eich die »Essigbäume am Beginn der Steigung« stehen, so soll nach dem Willen des Baumeisters auch »Gleich zu Beginn« der Prinz-Eugen-Straße ein Essigbaum wachsen:
|| 40 MGK Bd. 16, S. 889 s. v. »Rhus«.
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Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße41 Gleich zu Beginn ein breiter Streifen Wind, an seinem Rande pflanzt den Essigbaum. Vergeßt die Tauben nicht, und bald – ich schwör es – geht der Staub an euren Träumen hoch, wenn diese Wolken sich zu den helleren am Himmel schlagen, kennt ihr das Muster, findet ihr den Plan. Gegeben am –
Das Gedicht ist oft untersucht worden, ohne dass seine biographische Brisanz erkannt worden wäre.42 Annette Ratmann deutet es als poetologisches Gedicht, die meisten anderen Interpreten konzentrieren sich auf den historischen Prinzen Eugen und auf den Bau der nach ihm benannten Straße, ohne sich zu fragen, warum Ilse Aichinger von allen Wiener Gassen und Straßen just diese zum Gegenstand eines Gedichtes gewählt hat, das nach eigener Auskunft der Autorin »gegen die Verplanung« agitiert.43 Da Ilse Aichinger mit Selbstinterpretatio-
|| 41 Zitiert nach dem Erstdruck in Akzente 3:4 (1956), S. 315. Weitere Drucke in: Österreichische Lyrik nach 1945. Hg. von Ernst Schönwiese. Frankfurt a. M. 1960, S. 39; TRANSIT. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Hg. von Walter Höllerer. München 1965, S. 140; Ilse Aichinger: verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt a. M. 1978 u. ö., S. 52. – Bei Schönwiese und Höllerer steht in Vers 7 »Türmen« statt »Träumen«, in verschenkter Rat fehlt die Schlusszeile »Gegeben am –«. 42 Vgl. Kurt Bräutigam: Ilse Aichinger: Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-EugenStraße. In: K. B.: Bräutigam: Moderne deutsche Balladen (»Erzählgedichte«). Versuche zu ihrer Deutung. Frankfurt a. M. 1968, S. 79–81; Antje Friedrichs: Untersuchungen zur Prosa Ilse Aichingers. Diss. Münster 1968, S. 104f.; Dagmar C. G. Lorenz: Ilse Aichinger. Königstein/Ts. 1981, S. 236; Rüdiger Görner: Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger. In: Neue Rundschau 97:4 (1986), S. 8–21, hier S. 17f.; Vera Neuroth: Sprache als Widerstand. Anmerkungen zu Ilse Aichingers Lyrikband Verschenkter Rat. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 142–145; Dagmar C. G. Lorenz: Sprache und Macht bei Ilse Aichinger. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Bielefeld 1999, S. 31–45, hier S. 39; Annette Ratmann: Spiegelungen, ein Tanz. Untersuchungen zur Prosa und Lyrik Ilse Aichingers. Würzburg 2001, S. 93–103; Hannah Markus: Ilse Aichingers Lyrik. Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin 2015 (nach Abschluss meines Manuskripts erschienen; Markus hält das Gedicht für »optimistisch[ ]«, S. 82). 43 In einer Liste mit Antworten auf Fragen von Carine Kleiber; vgl. Carine Kleiber: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Bern u. a. 21986, S. 128.
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nen ähnlich zurückhaltend war wie Günter Eich, hat sie verschwiegen, um welche monströse Form der Planung es ihrem metaphorischen »Baumeister« geht: In der Prinz-Eugen-Straße 20–22 befand sich die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«,44 und von dort nahm 1942 auch die Deportation der Großmutter Ilse Aichingers, Gisela Krämer, und ihrer Kinder Erna und Felix ihren Ausgang. Darauf beziehen sich die Schlussverse von Eichs Gedicht »Alte Postkarten« aus dem Band Anlässe und Steingärten: »Aber wenn der Krieg vorbei ist, | fahren wir nach Minsk | und holen die Großmutter ab« (I, 151). Wenn man diese Zusammenhänge kennt, erschließt sich das Gedicht beinahe mühelos. Es führt mitnichten »die Dekonstruktion der Macht vor«,45 wie Dagmar C. G. Lorenz meint, sondern im Gegenteil deren Perversion. Der »breite Streifen Wind« erinnert an die endlose Weite der KZ-Anlagen, und der Essigbaum mit seinem »scharfe[n], oft giftige[n] Saft«46 signalisiert »[g]leich zu Beginn« der Straße die tödliche Gefahr, die von ihr ausgeht. Die »Tauben«, die nicht »vergessen« werden sollen, sind ahnungslose Opfer der geplanten Vernichtung, für die diese Vögel schon in Aichingers Prosaskizze Straßen und Plätze (1954)47 und in dem daraus entwickelten Hörspiel Tauben und Wölfe stehen, das 1956 in den Akzenten erstmals gedruckt wurde.48 In einem Gedicht Aichingers aus dem Jahr 1955 nehmen »die Tauben [...] zu«,49 während rundum in der Gonzagagasse der Krieg tobt; das ist wie die Prinz-Eugen-Straße ein stigmatisierter Ort »from which Jews were deported in 1941«.50 Bei Günter Eich dagegen haben die Tauben ihre tradi-
|| 44 Niemals vergessen! Novemberpogrom 1938 in Wien. Broschüre zum antifaschistischen Gedenkrundgang am 11.11.2012 Wien, 4. Bezirk, Wieden & 5. Bezirk, Margareten, S. 38–43, bes. S. 42. 45 Lorenz: Sprache (Anm. 42), S. 39. 46 MGK Bd. 16, S. 889 s. v. »Rhus«. – Dagmar C. G. Lorenz interpretiert: »Der Essigbaum spielt auf die Kreuzigung an und erinnert so an die Kriege, die im Zeichen religiösen Fanatismus unternommen wurden, z. B. die Türkenkriege«; das halte ich für abwegig. Lorenz: Ilse Aichinger (Anm. 42), S. 236. 47 Ilse Aichinger: Straßen und Plätze. In: Akzente 1:3 (1954), S. 276–279, hier S. 277. 48 Akzente 3:3 (1956), S. 200–204, danach in: Ilse Aichinger: Zu keiner Stunde. Frankfurt a. M. 1957, S. 77–83. Vgl. dazu Manuela Gerlof: Tonspuren. Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR (1945–1989). Berlin/New York 2010, S. 326f., S. 335 und S. 337f. 49 »Gonzagagasse«, zuerst gedruckt in: Nelly Sachs zu Ehren. Zum 75. Geburtstag am 10. Dezember 1966. Gedichte, Beiträge, Bibliographie. Frankfurt a. M. 1966, S. 15, dann in verschenkter Rat (Anm. 41), S. 50. Vgl. auch »die erstarkten Tauben« in Aichingers Gedicht »Außer Landes«, ebd. S. 11. 50 Dagmar C. G. Lorenz: Viennese Memories of History and Horrors. In: Studies in 20th & 21st Century Literature 31:1 (2007): Austrian Literature: Gender, History, and Memory, S. 236–259, hier S. 246.
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tionellen Rollen aufgegeben und fungieren weder als Liebes- und Friedenssymbole noch als arglose Objekte der Verfolgung: In seinem Gedicht »Tauben« (1955) sind sie die Bewohner und Beherrscher einer unverständlichen, unheimlichen und furchteinflößenden Parallelwelt, vor denen im Entwurfsmanuskript explizit gewarnt wird – »Fürchte dich vor den Tauben!« (I, 464) –; in der Buchfassung richtet der Sprecher diese Mahnung an sich selbst: »Ich rate mir selbst, mich vor den Tauben zu fürchten« (I, 105). Die »Träume« in Aichingers Gedicht zitieren das gleichnamige Hörspiel von Günter Eich aus dem Jahr 1951, in dem die handelnden Figuren im Viehwaggon in ein Vernichtungslager transportiert werden. Der aufwirbelnde »Staub« wiederum stellt eine Verknüpfung mit der Staub-Bildlichkeit in der Holocaust-Lyrik her, etwa in Nelly Sachs’ erstem Gedichtband In den Wohnungen des Todes: »Morgen schon werdet ihr Staub sein | In den Schuhen Kommender«, »Unser Gestirn ist vergraben im Staub«, »Es könnte sein, es könnte sein | Daß wir zu Staub zerfallen – | Vor euren Augen zerfallen in Staub«.51 Die mit den »helleren« kontrastierenden und daher als dunkel wahrzunehmenden »Wolken« verweisen auf den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien,52 wie auch im Schwur des Baumeisters – »bald […] | geht der Staub | an euren Träumen hoch« – eine ähnliche Voraussage aus Paul Celans »Todesfuge« anklingt: »dann steigt ihr als Rauch in die Luft«.53 Erst, wenn es zu spät ist, wenn bereits die Wolken aus den Kaminen der Verbrennungsöfen aufsteigen, wird klar, was sich hinter dem »Muster« und dem »Plan« verborgen hat: die ›Endlösung der Judenfrage‹, eine jener barbarischen »Ordnungen«, die der »Schrei« der Gejagten »aufhebt«, wie Günter Eich 1961 in dem Nelly Sachs gewidmeten Gedicht »Wildwechsel« schreiben wird (I, 121). Der Gedankenstrich, der in der letzten Zeile von Aichingers Gedicht als Platzhalter für das Datum des »Befehls« steht, wäre dann mit dem 20. Januar 1942 zu ersetzen, dem Datum der Wannseekonferenz. Nach all dem wird man nicht mehr mit Kurt Bräutigam fragen: »Darf man dabei an den Baumeister der Welt denken, an Gott?«,54 sondern in Aichingers todbringendem Baumeister doch eher den
|| 51 Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes. Berlin 1947, S. 16 und S. 66; zahlreiche weitere Belegstellen. Zu Ilse Aichinger und Nelly Sachs vgl. Barbara Agnese: Wo wir wohnen. Ilse Aichinger und Nelly Sachs. In: Ingeborg Rabenstein-Michel/Françoise Retif/Erika Tunner (Hg.): Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement? Würzburg 2009, S. 147–160, zur StaubMetaphorik bes. S. 148. 52 Vgl. Nelly Sachs: »O die Schornsteine« und »Chor der Wolken«, in: Sachs: Wohnungen (Anm. 51), S. 13 und S. 71. 53 Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Erster Band: Gedichte I. Frankfurt a. M. 1983, S. 42. 54 Bräutigam: Aichinger (Anm. 42), S. 81.
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»Meister aus Deutschland« aus Celans »Todesfuge« wiedererkennen, deren Autor ebenfalls ein Teilnehmer des Schriftstellertreffens in Vézelay war, bei dem Ilse Aichinger ihr Gedicht vorgestellt hat.
3 Die dritte Versgruppe des Gedichts »Bundesstraße 299«, die bis auf ein signifikantes Detail fast wörtlich in »Ohne Unterschrift« übernommen wurde, konturiert eine Gegend, die nur in den Entwurfsstufen eindeutig als der »Kreis Vilsbiburg« identifiziert ist, als eine Region also, die Eich so sehr zur vertrauten Heimat geworden war, dass er im Alter an eine endgültige Rückkehr nach Geisenhausen dachte, wo er sich zwischen 1945 und 1954 seinen literarturgeschichtlichen Rang erschrieben hat. Doch die »gefällige Linie der Waldränder« und das Bild einer Welt, die »durch frische Blumen« verziert ist, fügen sich nicht zu Eichs »Nichteinverständnis[] mit der Welt« (IV, 508) und seiner Unfähigkeit, »die Welt nur in der Auswahl des Schönen und Edlen und Feierlichen zu sehen« (IV, 503). Das Gedicht »Bundesstraße 299« und seine späteren Fortschreibungen handeln von der Unmöglichkeit, die als ›schön‹ empfundene Natur lyrisch zu vergegenwärtigen: Waldränder und Blumen sind in der modernen Lyrik nicht mehr verwendbare Relikte aus dem Biedermeier, und wo immer sie als lyrische Bilder in Erscheinung treten, sind die verhasste Ordnung – »Klarheit« –, das »Einverständnis« mit der eigentlich nicht mehr akzeptierten »Schöpfung« (I, 124 und IV, 534) und der »Überdruß« nicht weit. Die »frischen Blumen«, die Eich an der »Bundesstraße 299« aufblühen ließ, werden in »Ohne Unterschrift« zu allenfalls mäßig dekorativen »Schnittblumen« degradiert und damit in die Nähe der abscheulichen »Geranien« gerückt, mit denen »positiv« gesinnte Schriftsteller das »Schlachthaus« schmücken.55 Wie der ordnenden »Klarheit« doch etwas Positives abzugewinnen sei, hat Eich in einer zunächst für das Gedicht »Ohne Unterschrift« erwogenen, dann aber verworfenen Versgruppe überlegt: Wenn die Grenzen sich schärfen, – ich weiß, ich weiß, es bedeutet den Tod. Aber könnte es nicht auch Glück sein? (I, 485)
|| 55 Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1959 (IV, 627).
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Die sich schärfenden Grenzen – sie kehren in »Bankette nicht befestigt« als ergebnislose »Grenzkorrekturen« wieder – sind eine Metapher für die »Ordnung«, die zwar »den Tod« bedeutet, aber gleichzeitig als verführerisches Glücksversprechen erscheinen kann, dem die Verse über den ›anarchischen‹ Huflattich entgegengesetzt werden. Die »Lösungen« und »Antworten«, die in »Bundesstraße 299« und »Ohne Unterschrift« auf derlei Aporien gegeben werden, sind die Zeichen des Verfalls, des unterminierenden Treibens der »Raupen unter den Rinden« gefällter Bäume und des langsamen Vergehens der Zeit, das in dem oxymoronischen Bild vom »verdunsteten Wasser im Honigglas« gefasst wird, einer Negation, die nur im literarischen Text möglich ist: Von »verdunstetem Wasser« kann nur reden, wer das unverdunstete Wasser vorher gesehen hat; »verdunstetes Wasser« ist realiter so wenig wahrnehmbar wie das berühmte Messer ohne Klinge, an dem der Stiel fehlt.56 Aus solchen Versatzstücken entsteht das Bild einer menschenleeren Ödnis »ohne | Lerchenlied«, die mit den lieblichen Wäldern und Hügeln Niederbayerns wenig gemeinsam hat. Die Abwesenheit des Vogelsangs wird durch das Enjambement und die isolierte Stellung des Substantivs »Lerchenlied« – es füllt allein einen ganzen Vers – nachdrücklich akzentuiert, aber wie in allen Negationen57 ist auch in dieser das Negierte nicht einfach absent, denn das Abwesende oder gar nicht Existente kann ohne seine Benennung nicht als solches dargestellt werden. Das selbst noch in der Negation präsente Abwesende ist mithin immer noch privilegiert gegenüber dem Nichtgenannten, und das so Ausgesprochene ist die größtmögliche Annäherung an Eichs poetisches Ziel des Schweigens mit Worten, das gar »die vollkommenste Art des Aussprechens« sei, wie eine Figur im Hörspiel Meine sieben jungen Freunde sagt (III, 678). Im Gedicht »Bankette nicht befestigt« referiert das »Lerchenlied« nicht einfach nur auf eine Vogelfamilie, sondern auf eine lange lyrische Überlieferung vor allem gereimter, metrisch strukturierter und damit sangbarer Lyrik, vom »Lerchenlied« des Troubadours Bernart de Ventadorn (ca. 1130–1200) über die zahllosen Lerchengedichte des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu Günter Eich selbst, der 1946 in dem Gedicht »Erwachendes Lager« den »Lerchenchor« sei-
|| 56 Georg Christoph Lichtenberg: Verzeichniß einer Sammlung von Geräthschaften, welche in dem Hause des Sir H. S. künftige Woche öffentlich verauctionirt werden sollen. (Nach dem Englischen.) Die erste Position des Auktionsverzeichnisses ist »Ein Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt« (Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften. Neue vermehrte, von dessen Söhnen veranstaltete Original-Ausgabe. Bd. 6. Göttingen 1845, S. 164). 57 Vgl. dazu das Kapitel »Negationen« bei Zimmermann: Das lyrische Werk (Anm. 3), S. 34– 41.
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nen »lobpreise[nden]« Gesang anstimmen lässt (I, 30) und 1947 das Gedicht »An die Lerche« publiziert hat, ein reimloses freirhythmisches Klagelied aus der Kriegsgefangenschaft. Die darin geschilderte Landschaft ist so unwirtlich wie die in »Bankette nicht befestigt«, eine »Wüste«, in der »die Apfelbäume, die entrindeten, | zweiglos wie gelb gebleichte Baumskelette | geschändet stehen«, und nachdem »die bunten Vögel« geflohen sind, ist allein die Lerche als letzter Hoffnungsspender geblieben: »Keine Kehle sänge | den Mai uns vor, den schallenden von Liedern, | bliebst du nicht, Lerche, Vogel der Gefangenen« (I, 38). Zusammen mit den Blumen, den Bäumen und den übrigen Bestandteilen des Formen- und Bilderarsenals der romantisierenden Lyrik wird aber schließlich auch dieses Geschöpf aus den poetischen Welten des späten Eich verbannt. Die vom Eindringen der Flora und Fauna gestörten menschlichen Ordnungen, die in den drei Gedichten »Bundesstraße 299«, »Bankette nicht befestigt« und »Ohne Unterschrift« durch das Bild der Straße repräsentiert werden, sind nicht wieder in die ursprüngliche Ordnung zurückzuverwandeln, die sich auflösenden Grenzen sind nicht zu »schärfen« und zu kontrollieren, so dass nur die hilflose Frage »Was tun?« zu stellen bleibt. Der in »Bundesstraße 299« mit einer pleonastischen Figura etymologica umschriebene »Versuch, die Ordnung zu ordnen«, also eine potenzierte Ordnung herzustellen, bringt nur verrätselte und unbrauchbare Antworten hervor. Das ist nun für Günter Eich prinzipiell nicht problematisch, es entspricht vielmehr genau seinem poetischen Programm: »Nein, ich bin nicht auf Antworten aus, sie erregen mein Mißtrauen. Ich optiere für die Frage, für die Kritik«, sagt er in der Büchnerpreisrede (IV, 620), und im Kontext eines Sommerkurses des Münchner Goethe-Instituts notiert er: »Mit meinen Versen stelle ich Fragen, gebe ich keine Antworten. Lebenshilfe irgendwelcher Art ergibt das nicht« (IV, 502). Ein Reflex der poetischen Realisierung dieser Forderungen ist das seit dem Band Botschaften des Regens von 1955 zu beobachtende Verschwinden des Reims aus Eichs Gedichten. »Lyrik ist überflüssig, unnütz, wirkungslos. Das legitimiert sie in einer utilitaristischen Welt. Lyrik spricht nicht die Sprache der Macht, – das ist ihr verborgener Sprengstoff«, lautet eine seiner »Thesen zur Lyrik« (IV, 514), und schon aus diesem Grund kann Eich dem Reim und seinen erinnerungsstabilisierenden, ordnenden Eigenschaften nichts mehr abgewinnen, so dass er sein 1946 geschriebenes Gedicht »Die Häherfeder« ein Vierteljahrhundert später unter anderem deshalb schlecht findet, weil es gereimt ist (IV, 521). Hinzu kommt, dass dem Reim seit jeher die symbolische Bedeutung der »Antwort« anhaftet. »Immer trachtet er […] auf die Frage die Antwort zu
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geben«, schreibt Oskar Loerke in seinem Essay Vom Reimen,58 und er findet ein anschauliches Bild für die Funktions- und Wirkungsweise des Reims: »Man geht rüstig die Straße, und alle zehn Schritte begegnet ein Baum, und auf der anderen Straßenseite drüben, versetzt, ebenfalls ein grünender Baum.«59 In Eichs Gedichten »Bankette nicht befestigt« und »Ohne Unterschrift« sind aus diesen makellos drapierten Reimbäumen die metaphorisch ganz anders aufgeladenen Essigbäume und die von Raupen bevölkerten gefällten Pappeln geworden. Eich zeigt nur noch die kümmerlichen Reste alter lyrischer Bildreservoire und Ordnungsformen, die beide in ihrem Vergehen vorgeführt werden. Wo es keinen »rhythmischen Ablauf der Welt« mehr gibt, den der Reim nach Loerkes Theorie »versinnlichen« soll,60 treten an seine Stelle verschlüsselte, durch Paronomasien (»Waldränder« / »Windräder«), Alliterationen (»Raupen« / »Rinden«) und unauflösbare »Geheimnisse« generierte Beziehungen, die, wie Eich meinte, »meditiert, nicht interpretiert werden müssen« (IV, 513). Nun zählt das Meditieren gewiss nicht zu den germanistischen Kernkompetenzen, aber man kann wenigstens, wie Eich in dem Gedicht »Fortsetzung des Gesprächs« aus dem Band Anlässe und Steingärten vorschlägt, »mit List | die Fragen aufspüren | hinter dem breiten Rücken der Antwort« (I, 156). Die Lektüre der textgenetischen Spuren ist eine solche »List«, die Eich zwar nicht ausdrücklich gestattet, aber durch die Aufbewahrung der älteren Fassungen immerhin ermöglicht hat. Ohne deren Kenntnis wären die Verbindungslinien zwischen »Bankette nicht befestigt« und »Ohne Unterschrift« kaum zu rekonstruieren, zumal die beiden Gedichte in Zu den Akten durch 18 Druckseiten voneinander getrennt sind, und selbst der Titel des zweiten Gedichts bliebe dunkel, würde man den Ursprungstext »Bundesstraße 299« ignorieren. »Ohne Unterschrift«: Das meint die Tilgung der autobiographischen Referenzen auf Niederbayern und Wien, die im publizierten Gedicht fehlen wie die legitimierende Signatur, die Bestätigung der Identität des Unterzeichnenden und dessen Gegenwart in der Spur seiner Handschrift, die in diesen Gedichten gerade nicht mehr auffindbar ist.
|| 58 Loerke: Gedichte und Prosa (Anm. 11), I, S. 714, zuerst in: Neue Rundschau 46 (1935), S. 414–426. 59 Loerke: Gedichte und Prosa (Anm. 11), I, S. 724f. 60 Loerke: Gedichte und Prosa (Anm. 11), I, S. 703.
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4 Die Aufhebung der Ordnungen von Metrik und Reim spiegelt sich in Eichs Lyrik in der Suspendierung kartographischer und geometrischer Orientierungssysteme. Von Landkarten und Atlanten war Eich von Beginn seiner Schriftstellerexistenz an fasziniert, bieten sie doch die Möglichkeit, Phantasiereisen zu unternehmen, in denen die »Ordnung von Raum und Zeit« nicht mehr gilt, wie Peter Horst Neumann in seiner Interpretation des frühen Prosatexts Eine Karte im Atlas (1932; IV, 223–225) dargelegt hat.61 Die »Welt« erscheine »so einfach in Atlanten«, schreibt Eich in dem Gedicht »Kartographien«; die Formen der »Einbuchtungen« und »Inseln«, eingefärbt in »Braun, Grün und Blau«, suggerieren die Existenz einer übersichtlichen Welt, die tatsächlich so aufgeräumt und »geordnet« aussieht wie die bilderbuchhafte Unterkomplexität ihrer Repräsentation im Atlas. In Wahrheit bedürfen die Linien der »Kartographien« einer permanenten Dechiffrierung: wir wollen ihnen sorgfältig nachgehen. Dort muß es sein. Dort, eine Spur. (I, 288)
Solche Spurensuche geschieht in und mit der Literatur, aber sie hat kein sprachlich benennbares Ziel, sondern richtet sich auf ein undefiniertes, undefinierbares, nie zu findendes »es«, und die Suchbewegung selbst ist der eigentliche, der einzige Zweck der Dichtung. In dem Gedicht »Ungültige Landkarte« ist das Bildfeld der Kartographie und ihrer individuellen Auslegung noch enger mit den Verfahrensweisen literarischen Schreibens assoziiert: Das Muster von Regen und Schonung, die Knoten von Dorfweihern, – ich habe sie eingefärbt, wie es mir notwendig war.
|| 61 Neumann: Rettung (Anm. 29), S. 49.
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Meine lieben Spinnen haben darüber gewebt, ein zweites Muster, dem ich zustimmte, als ich fortging. (I, 133)
Die »lieben Spinnen« sind mit dem Possessivpronomen eindeutig als dem Sprecher-Ich zugehörig markiert und werden so als Metapher für das literarische Schreiben lesbar, für die Produktion eines Gewebes – textus –, das alte mit neuen Texten überschreibt (»zugewebt« lautet eine Entstehungsvariante; vgl. I, 484). Poetische »Landkarten« und Weltdeutungen sind nicht ein für allemal gültig, sondern Veränderungs- und Überfremdungsprozessen ausgesetzt wie alles vom Menschen Geschaffene.62 Die Metaphorik der Geographie funktioniert aber auch in der umgekehrten Richtung, wenn Eich manche Länder zu Fiktionen erklärt. Das Gedicht »Einsicht« aus Botschaften des Regens beginnt mit der Behauptung: »Alle wissen, | daß Mexiko ein erfundenes Land ist« (I, 102), und selbst ein Land, in dem sich das Ehepaar Eich-Aichinger persönlich aufhält, wird zu einem Phantom. Aus Óbidos schreibt Eich am 5. Dezember 1955 an Albert von Schirnding: »Portugal ist übrigens auch für uns ein erfundenes Land, obgleich oder weil wir nun dort sind.«63 Beide Aussagen über Mexiko und Portugal sind klassische Paradoxa, auf den ersten Blick widersinnig, aber dennoch wahr, denn die Länder und ihre Grenzen sind ja tatsächlich willkürliche Konstrukte menschlichen Macht-, Ordnungs- und Systematisierungsstrebens. Überdies ist jede Form von Weltwahrnehmung subjektiv, ausschnitthaft und damit fiktionalisierend, und deshalb kann auch Portugal für Ilse Aichinger und Günter Eich »erfunden« sein, im doppelten Sinne von ›aufgefunden‹ und von ›fingiert‹. Im Spätwerk wird Eich selbst solcher lyrischer Fluchten in fiktive Parallelwelten überdrüssig, dann hat er »Keine Lust mehr anzustehen | um die Aufenthaltserlaubnis | für erfundene Länder« (I, 172). In der Literatur müssen weder die Regeln der Mathematik noch diejenigen der Zeitmessung gelten, und so gibt es in Eichs Lyrik einerseits Parallelen, die
|| 62 Vgl. zu diesem Gedicht und seinen werkbiographischen Implikationen – insbesondere zu Eichs Auseinandersetzung mit Wilhelm Lehmann – Sandie Attia: Günter Eich / Wilhelm Lehmann (Anm. 32), S. 209–224. 63 Literatur in Bayern 29 (2014), Nr. 115, S. 9. Vgl. auch das 1959 entstandene Marionettenspiel Unter Wasser: »ELIAS […] Was hältst du von Mexiko? KREBS Ein erfundenes Land« (IV, 25f.).
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sich im Widerspruch zum geometrischen Axiom auch im Unendlichen nicht schneiden (»ohne Schnitt die Eisenparallelen«, I, 77), andererseits kann man »Dorthin gehen, | wo die Parallelen sich schneiden« (»Fortsetzung des Gesprächs«, I, 154). Auch die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Zukunft existieren nicht mehr. Im Hörspiel Der Strom von 1950 sagt der »1. Sprecher«: »In den ziehenden Wassern empfinden wir die unabwendbare Zeit, den Augenblick, der noch weniger als ein Punkt und immer schon Vergangenheit ist« (II, 393), und sechs Jahre später fand Eich es gar »absurd«, dass der Augenblick, in dem er zu den Tagungsteilnehmern in Vézelay sprach, »sogleich der Vergangenheit angehört« (IV, 613). Diese Absurdität kann aber in der Literatur ohne weiteres aufgehoben werden, etwa im epischen Präteritum (›morgen war Ostern‹) oder in Eichs Gedicht »Merkblatt des Tierschutzvereins«. Dort sind die »versteinerten Vögel« und die seit Urzeiten konservierte »Fliege im Bernstein« jeder Zeitlichkeit enthoben, was sich auch in der Achronie der Verse kundgibt, in denen von ihnen geredet wird: »gestern werden sie ins Haus kommen, | morgen wurden sie gefüttert« (I, 119). Solche alogischen Konstruktionen sind ein Ausdruck der Entwicklung »vom Ernst zum Blödsinn« (IV, 508), die Eich nach eigener Einschätzung durchlaufen hat. Dabei war es ihm mit dem »Humor […] im dadaistischen Sinne« durchaus ernst, attestierte er dem »Blödsinn« doch »eine ganz bestimmte wichtige Funktion in der Literatur […], vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt« (IV, 508). Das ist nicht so weit von einer Vorstellung der ›Literatur als praktischer Vernunft‹ entfernt, wie man glauben könnte. Der »Ernst« im »Blödsinn« des Spätwerks von Günter Eich besteht nicht in der Vermittlung moralischer oder juristischer Verhaltensregeln – das wäre bloßes Verabreichen von »Lebenshilfe« (IV, 502) –, sondern vielmehr in der Einübung subversiven Denkens und eines Misstrauens gegenüber der »gelenkte[n] Sprache« (IV, 623).64 Schon der – manchmal vergebliche – Versuch, den Rätseln in Eichs später Lyrik lesend auf die Spur zu kommen, konstituiert ein Gegengewicht und eine anarchische Gegenwelt zu den Vorschriften und »Texte[n], gesetzt | um deine Verfolgung zu regeln« (I, 105). Im Unnützen, Unpraktischen der Lyrik liegt für Eich der einzig vernünftige Grund ihrer Existenz; sie sollen nicht durch Reim und Metrik geordnet sein, daher unverfügbar, »unangetastet | von Verstehen«, gleichermaßen »verständlich und nicht« (I, 128).
|| 64 Vgl. dazu auch Müller-Hanpft: Lyrik (Anm. 12), S. 77.
Friedrich Vollhardt
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Monographien Herausgeberschaften 2.1 Editionen 2.2 Buchreihen 2.3 Lexika 2.4 Zeitschriften 2.5 Sammelbände Aufsätze Miszellen Handbuchartikel Rezensionen (in Auswahl) Radiobeiträge
1 Monographien 1.
2.
3.
Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie »Die Schlafwandler« (1914–1932). Tübingen: Niemeyer, 1986 (Studien zur deutschen Literatur 88). Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 2001 (Communicatio 26). Gotthold Ephraim Lessing. München: Beck, 2016 (bw 2789).
2 Herausgeberschaften 2.1 Editionen 1.
a.
Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Mit Anmerkungen und einem Nachwort. Stuttgart: Reclam, 1986 (RUB 8356). b. Übersetzung ins Serbokroatische durch Truda Stamac: Kulturologija i prirodoslovlje. Zagreb: Matica Hrvatska, 2008 (Biblioteka Parnas – Niz Filozofija).
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2.
a.
Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Band XIX: Cautelae circa praecognita jurisprudentiae. Mit Vorwort und neuen Registern. Hildesheim: Olms, 2006. b. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Band XX: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Mit Vorwort und neuen Registern. Hildesheim: Olms, 2006. 3. Felix Hausdorff: Gesammelte Werke. Band VIII: Literarisches Werk. Hg. von Friedrich Vollhardt und Udo Roth. Berlin, Heidelberg: Springer, 2010. 4. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam, 2012 (RUB 18865).
2.2 Buchreihen 1.
2.
[Hg. mit Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Martin Mulsow:] Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. Bd. 1–143: Tübingen: Niemeyer; ab Bd. 144: Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer. [Hg. mit Martin Mulsow:] Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag; ab Bd. 2: Berlin, Boston: de Gruyter.
2.3 Lexika 1.
2.
[Hg.] Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Dritte, neubearbeitete Auflage in drei Bänden: a. Band II. Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Harald Fricke. Berlin, New York: de Gruyter, 2000. b. Band III. Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York: de Gruyter, 2003. [Broschierte Ausgabe: Berlin, Boston: de Gruyter, 2007 u. ö.] [Hg.] Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon [VL 16]. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger und Friedrich Vollhardt. Redaktion: Klaus Kipf. Berlin, Boston: de Gruyter, 2011ff. [sechs Teilbände].
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2.4 Zeitschriften 1.
2.
3.
[Hg. mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider, Frieder von Ammon und Michael Waltenberger:] Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft. Tübingen: Niemeyer; ab Heft 2/2003. [Hg. mit Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Andreas Kablitz, Gerhard Regn und Wilhelm Schmidt-Biggemann:] Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften. Jg. 1–7 (1997–2003) Tübingen: Niemeyer; ab Jg. 8 (2004) de Gruyter, Berlin. [Hg. mit Lothar Kreimendahl und Martin Mulsow:] Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Hamburg: Felix Meiner; ab Bd. 19 (2007).
2.5 Sammelbände 1.
[Hg. mit Albert Meier u. a.:] Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. Von Gottsched bis Goethe. München: dtv, 1988. 2. [Hg. mit Lutz Danneberg:] Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen nach der ›Theoriedebatte‹. Stuttgart: Metzler, 1992. 3. [Hg. mit Lutz Danneberg:] Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: Kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990). Stuttgart, Weimar: Metzler, 1996 [recte 1995]. 4. [Hg.] Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer, 1997 (Frühe Neuzeit 37). 5. [Hg. mit Frank Grunert:] Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen: Niemeyer, 1998 (Frühe Neuzeit 45). 6. [Hg. mit Ute von Bloh:] Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46:4: Germanistik als Kulturwissenschaft. Bielefeld: Aisthesis, 1999. 7. [Hg.] Innovation und Fortschritt in der Literatur- und Sprachwissenschaft. Sektion VI des Deutschen Germanistentages Erlangen 2001. In: www.germanistik2001.de. Bd. 2. Hg. von Hartmut Kugler. Bielefeld: Aisthesis, 2003, S. 898–1048. 8. [Hg. mit Lutz Danneberg:] Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 2002. 9. [Hg. mit Peter Strohschneider:] Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49:2: Interpretation. Bielefeld: Aisthesis, 2002. 10. [Hg. mit Lutz Danneberg, Sandra Pott und Jörg Schönert:] Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Band 2: Zwischen christli-
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cher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin, New York: de Gruyter, 2002. [Hg. mit Peter Strohschneider:] Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49:3: Epochen. Bielefeld: Aisthesis, 2002. [Hg.] Hermann Broch. Neue Studien. Unter Mitarbeit von Marianne Gruber, Barbara Mahlmann-Bauer, Christine Mondon und Friedrich Vollhardt hg. von Michael Kessler. Tübingen: Stauffenburg, 2003. [Hg. mit Ute von Bloh:] Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51:3: Schlechte Literatur. Bielefeld: Aisthesis, 2004. [Hg. mit Vanda Fiorillo:] Il diritto naturale della socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo. Torino: Giappichelli, 2004. [Hg. mit Jörg Schönert:] Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin, New York: de Gruyter, 2005 (Historia Hermeneutica. Series Studia 1). [Hg. mit Joachim Telle und Hermann Wiegand:] Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Tübingen: Niemeyer, 2006. [Hg. mit Frank Grunert:] Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin: Akademie, 2007. [Hg. mit Denis Thouard und Fosca Mariani Zini:] Philologie als Wissensmodell. Philologie und Philosophie in der Frühen Neuzeit. Berlin: de Gruyter, 2010 (Pluralisierung & Autorität 20). [Hg. mit Jan-Dirk Müller und Wulf Oesterreicher:] Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin: de Gruyter, 2010 (Pluralisierung & Autorität 21). [Hg. mit Christoph Bultmann:] Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin, New York: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2011 (Frühe Neuzeit 159). [Hg. mit Wilhelm Kühlmann:] Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2012 (Frühe Neuzeit 173). [Hg. mit Jörg Robert:] »Unordentliche Collectanea«. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2013 (Frühe Neuzeit 181). [Hg. mit Martin Mulsow:] Jahrbuch Aufklärung 25 (2013). Thema: Natur. [Hg.] Hölderlin in der Moderne. Kolloquium für Dieter Henrich zum 85. Geburtstag. Berlin: Erich Schmidt, 2014.
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25. [Hg.] Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Berlin: Akademie, 2014 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit 2). 26. [Hg.] Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2015 (Frühe Neuzeit 198). 27. [Hg. mit Elisabeth Décultot:] Jahrbuch Aufklärung 27 (2015). Thema: Winckelmann. 28. [Hg. mit Achim Aurnhammer und Giulia Cantarutti:] Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2016 (Frühe Neuzeit 200). 29. [Hg. mit Wilhelm Schmidt-Biggemann:] Ideengeschichte um 1600: Konstellationen zwischen Schulmetayphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation. Stuttgart: frommann-holzboog (problemata 158). (Druck in Vorbereitung.)
3 Aufsätze 1.
»Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!« Anmerkungen zu einer unbekannten Erklärung Arthur Schnitzlers zum Fall Ernst Toller aus dem Jahr 1919. In: Literatur und Kritik 157/58 (1981), S. 462–474. 2. a. Heinrich von Kleist: »Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«. In: Meistererzählungen der deutschen Romantik. Hg. von Sibylle von Steinsdorff u. a. München: dtv, 1985, S. 364–373. b. (Zweite, überarbeitete Auflage) Erzählungen der deutschen Romantik. Hg. von Sibylle von Steinsdorff u. a. München: dtv, 1998, S. 363–372. 3. Büchners philosophische Studien, insbesondere zu Spinoza; »Lenz« – Fallstudie und Identifikationsfigur. In: Georg Büchner. Atti del seminario 19 e 20 marzo 1985. Palermo: Goethe-Institut 1986, S. 37–44 und 55–64. 4. Hermann Brochs Literaturtheorie. In: Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986 (stm 2065), S. 272–288. 5. Das Kunstwerk als ein ›in sich selbst Vollendetes‹. Zur Entstehung und Wirkung der Autonomieästhetik in Deutschland. In: Kreativität und Leistung – Wege und Irrwege der Selbstverwirklichung. Hg. von Konrad Adam. Köln: Bachem, 1986, S. 79–85. 6. a. Nachwort. In: Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam, 1986, S. 185–207.
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16.
b. Pogovor [Übersetzung ins Serbokroatische von Truda Stamac]. In: Kulturologija i prirodoslovlje. Zagreb: Matica hrvatska 2008 (Biblioteka Parnas. Niz Filozofija), S. 177–199. J. J. Bodmers und S. Gessners »Inkel und Yariko«. In: Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. München: dtv, 1988, S. 233–243. J. M. R. Lenz’ »Der Waldbruder«. In: Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. München: dtv, 1988, S. 258–268. Philosophische Moderne [zu Hermann Brochs »Schlafwandler-Roman« und dem Nachlaßfragment »Über syntaktische und kognitive Einheiten«]. In: Brochs theoretisches Werk. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988 (stm 2090), S. 85–97. Straßburger Gottesbeweise. Adolph Stoebers »Idées sur les rapports de Dieu à la Nature et spécialement sur la Révélation de Dieu dans la Nature« [1834] als Quelle der Religionskritik Georg Büchners. In: Georg-Büchner-Jahrbuch 7 (1988/89), S. 46–82. Der Schrecken, das Erhabene und die Aufklärung. In: Merkur 43 (1989), S. 935–939. Der Begriff der »Selbsterhaltung« im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlaßschriften Georg Büchners. In: Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. Hg. von Burghard Dedner und Günter Oesterle. Frankfurt/M.: Hain, 1990 (Büchner-Studien 6), S. 17–36. Die Kritik der anthropologischen Begründung barocker Staatsphilosophie in der Literatur des 18. Jahrhunderts (J. M. von Loën und J. A. Eberhard). In: Europäische Barockrezeption. Teil I. Hg. von Klaus Garber. Wiesbaden: Harrassowitz, 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), S. 377– 395. Literaturkritik und philosophische Ästhetik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Problemkonstellationen im Frühwerk von Georg Lukács (1910–1918). In: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hg. von Wilfried Barner. Stuttgart: Metzler, 1991 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XII), S. 302–318. ›Unmittelbare Wahrheit‹. Zum literarischen und ästhetischen Kontext von Georg Büchners Descartes-Studien. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 196–212. Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert. In: Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hg. von Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 293– 310.
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17. Auslegung und Deutung literarischer Texte: Prinzipien wissenschaftlicher Bewertung und Begründung. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Metzler, 1992, S. 117–124. 18. [Mit Lutz Danneberg]: Grenzen des Pluralismus, Wissenschaft, Selbstbindung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 386– 390. 19. Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung. Zur Anthropologie der moraltheoretischen und -praktischen Literatur der Aufklärung in Deutschland. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994 (DFG-Symposion 1992. Berichtsbände XV), S. 112–129. 20. Die Tugendlehren Christian Weises. In: Christian Weise. Dichter, Gelehrter und Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlaß des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bern, Berlin: Lang, 1994 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A/37), S. 331–350. 21. Naturrecht und ›schöne Literatur‹ im 18. Jahrhundert. In: Naturrecht, Spätaufklärung, Revolution. Hg. von Otto Dann und Diethelm Klippel. Hamburg: Meiner 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 16), S. 216–232. 22. Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin: de Gruyter, 1995, S. 79–100. 23. Der Eco-Effekt oder: Wie steht es um den ›Historischen Roman‹ in der Gegenwartsliteratur? In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – Türkei 1994. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Hg. von Werner Roggausch. Bonn: DAAD, 1995, S. 263–275. 24. Selbstreferenz im Literatursystem: Rhetorik, Poetik, Ästhetik. In: Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. München: Fink, 1995 (UTB 1874), S. 249–272. 25. a. [Mit Lutz Danneberg, Michael Schlott und Jörg Schönert:] Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren. In: Das achtzehnte Jahrhundert 19:2 (1995), S. 172–192. b. [Französische Übersetzung:] Tendances de la recherche germaniste sur les lumières depuis les années 1970. In: La recherche dix-huitiémiste. Objets, méthodes et institutions (1945–1995). Hg. von Michel Delon et Jochen Schlobach. Paris: Champion, 1998, S. 45–66. 26. Die Grundregel des Geschmacks. Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: Dichtungstheorien der deut-
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schen Frühaufklärung. Hg. von Theodor Verweyen. Tübingen: Niemeyer, 1995 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 1), S. 26–37. a. Horror vacui. Naturerkenntnis und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. In: Universitätsschriften. Antrittsvorlesungen der Fakultät für Geisteswissenschaften. Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 2 (1995), S. 73–92. b. [Erweiterte Druckfassung:] Otto von Guerickes Magdeburger Versuche über den leeren Raum: Untersuchungen zum Verhältnis von Naturerkenntnis und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. In: Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raums. Hg. von Michael Schilling und Gunter Schandera in Zusammenarbeit mit Dieter Schade. Magdeburg: Scriptum, 1999, S. 165–185. c. [Überarbeitete Vortragsfassung:] Die Schwere der Luft. Das Vakuumexperiment und die Naturerkenntnis in der Literatur der frühen Neuzeit. In: Die Praxis und die höheren Sphären – »Zwei Kulturen« oder nur ein Missverständnis? Acta Hohenschwangau. Hg. von Stefan Krimm und Martin Sachse. München: Bayerischer Schulbuch Verlag, 2006, S. 55–78. Christliche Moral und civiles Ethos. Mosheims Sitten=Lehre der Heiligen Schrifft. In: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hg. von Martin Mulsow, Ralph Häfner, Florian Neumann und Helmut Zedelmaier. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 77), S. 347–372. ›Die Finsternüß ist nunmehro vorbey‹. Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer, 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 3–13. Die christliche Liebe und das Naturrecht der Sozialität: Problembezüge im Werk von Johann Ludwig Prasch (1637–1690). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Teil I. Hg. von Wolfgang Adam. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 275–287. Natur, Recht, Staat. Problemkonstellationen in Hölderlins Hyperion. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. von Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1997 [recte: 1998], S. 71–106. Die Grundregel des Naturrechts. Definitionen und Konzepte in der Unterrichts- und Kommentarliteratur der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hg. von
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Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer, 1998 (Frühe Neuzeit 45), S. 129–147. a. Eine Kultur? Zeitgenössische Darstellung und wissenschaftshistorische Deutung frühneuzeitlicher Vakuumexperimente. In: Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Hg. von Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser. Tübingen: Narr, 1998 (Forum für Fachsprachen-Forschung 39), S. 387–405. b. [Gekürzte Vortragsfassung:] Monumenta Guerickiana 6 (1999), S. 30– 40. Ueber Eigennutz und Undank. Knigges Beitrag zur Moralphilosophie der Spätaufklärung. In: Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hg. von Martin Rector. Göttingen: Wallstein, 1999 (Das Knigge-Archiv 2), S. 45–67. Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur »Empfindsamkeit«. In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. von Holger Dainat und Wilhelm Voßkamp. Heidelberg: Winter, 1999 (Beihefte zum Euphorion 32), S. 49–78. Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft? Die literarisch-essayistischen Schriften des Mathematikers Felix Hausdorff (1868–1942): Vorläufige Bemerkungen in systematischer Absicht. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Huber und Gerhard Lauer. Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 551–573. [Mit Lutz Danneberg:] Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur »Empfindsamkeit«. In: Jahrbuch Aufklärung 13 (2001), S. 33–69. Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert: Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten. In: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. von Carsten Zelle. Tübingen: Niemeyer, 2001 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 68–90. Kittlers Leere. Kulturwissenschaft als Entertainment. In: Merkur 55 (2001), S. 711–716. Eigennutz – Selbstliebe – Individuelles Glück. Theoretische und literarische Entwürfe zwischen 1500 und 1800. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Richard van Dülmen. Köln: Böhlau, 2001, S. 219–242.
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Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 29–48. b. [Wiederabdruck:] Gotthold Ephraim Lessing. Neue Wege der Forschung. Hg. von Markus Fauser. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, S. 182–198. Selbstreflexive Aufklärung. Johann Georg Schlosser in den literarischen Kontroversen der Spätaufklärung. In: Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Hg. von Achim Aurnhammer und Wilhelm Kühlmann. Freiburg: Rombach, 2002, S. 367– 394. ›Verweltlichung‹ der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Hg. von Lutz Danneberg u. a. Berlin, New York: de Gruyter, 2002, S. 67–93. [Mit Udo Roth:] Die Signifikanz des Außenseiters. Die Kritik des Mathematikers Felix Hausdorff an der Weltanschauungsliteratur. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1930. Hg. von Christine Maillard und Michael Titzmann. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002, S. 213–234. Heinrich Rickerts Begriff der »Kulturwissenschaft« und die gegenwärtig geführte Diskussion über die Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen. In: Neukantianismus und Rechtsphilosophie. Hg. von Robert Alexy, Lukas H. Meyer, Stanley L. Paulson und Gerhard Sprenger. BadenBaden: Nomos, 2002, S. 373–387. [Mit Merio Scattola:] ›Historia literaria‹ – Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen vom 16. Jahrhundert bis zur Frühaufklärung. In: Christian Thomasius im literarischen Feld. Hg. von Manfred Beetz und Herbert Jaumann. Tübingen: Niemeyer, 2003 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 20), S. 159–186. Engelbert Kaempfers (1651–1716) Beschreibung seiner Japanreise und ihre Wirkung im 18. Jahrhundert. In: Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Gerhard Giesemann. Amsterdam, New York: Rodopi, 2003 (Chloe 34), S. 521– 540. Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine kon-
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vergente Entwicklung? Hg. von Wolfgang Adam, Holger Dainat und Gunter Schandera. Heidelberg: Winter, 2003 (Beihefte zum Euphorion 44), S. 189– 209. Pierrot Lunaire. Form und Flüchtigkeit des Schönen in der europäischen Literatur, Kunst und Wissenschaft um 1900 (Giraud, Hartleben, Hausdorff). In: Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Hg. von Werner Frick und Ulrich Mölk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen I. Philologisch-historische Klasse Nr. 3), S. 89–113 bzw. [31]–[55]. Der deutsche Parnaß im späten 18. Jahrhundert: Die Eigenperspektive der Epoche am Beispiel der Rezeption antiker Modelle. In: Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hg. von Reto Sorg, Adrian Mettauer und Wolfgang Proß. Paderborn: Fink, 2003, S. 139–154. Das Problem der »Weltanschauung« in den Schriften Hermann Brochs vor dem Exil. In: Hermann Broch. Neue Studien. Unter Mitarbeit von Barbara Mahlmann-Bauer, Marianne Gruber, Christine Mondon und Friedrich Vollhardt hg. von Michael Kessler. Tübingen: Stauffenburg, 2003, S. 492–509. Kulturwissenschaft– Wiederholte Orientierungsversuche. In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Hg. von Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel und Michael Waltenberger. Berlin: Erich Schmidt, 2004, S. 29–48. Plausible Religion, softe Säkularisierung. Die Aufklärung wird endlich sensibler. In: Merkur 58 (2004), S. 62–67. Religion und Ressentiment. In: Merkur 58 (2004), S. 783–790. Von Thomasius bis Höpfner. Aspekte der naturrechtlichen Vertragslehre im 18. Jahrhundert. In: Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt. Hg. von Manfred Schneider. München: Fink, 2005, S. 127– 136. Der Ursprung der Empfindsamkeitsdebatte in der ›Tafelrunde‹ um Richard Alewyn. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Hg. von Klaus Garber und Ute Széll. München: Fink, 2005, S. 53–66. a. Vorwort. In: Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Band XX: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Hg. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim: Olms, 2006, S. I–XXXVI. b. ›Abwege‹ und ›Mittelstraßen‹: Zur Intention und Programmatik der Höchstnöthigen Cautelen zur Erlernung der Rechts=Gelahrheit. In: Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu sei-
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nem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Hg. von Heiner Lück. Hildesheim: Olms, 2006, S. 173–198. Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100:3 (2006), S. 359–393. Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenschrift. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Tübingen: Niemeyer, 2006 (STSL 105), S. 135–147. »Welt–an=Schauung«. Problemkonstellationen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Hg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger. Paderborn: mentis, 2006 (Poetogenesis 3), S. 505– 525. Lessing, Reimarus und einige der Folgen. In: Erzählte Vernunft. Festschrift Wilhelm Schmidt-Biggemann. Hg. von Günter Frank, Anja Hallacker und Sebastian Lalla. Berlin: Akademie, 2006, S. 329–340. Kritik der moralischen Urteilskraft. Jan Philipp Reemtsmas Lessing-Essay. In: Merkur 61 (2007), S. 1156–1161. Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos). In: Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks. Hg. von Paul Michael Lützeler und Christine Maillard. Straßburg: Univ. Marc Bloch, 2008 (Recherches germaniques. Hors Série N° 5), S. 37–52. Trost, Buße, Erbauung. Die ›Frömmigkeitskrise‹ im frühen 17. Jahrhundert und die geistliche Lyrik Simon Dachs. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer, 2008 (Frühe Neuzeit 126), S. 349–362. Hochland-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Moderne und Antimoderne. Renouveau Catholique und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Freiburg: Rombach, 2008, S. 67–100. Außenseiter. Hans Mayer liest Lessing. In: Die Anfänge der DDR-Literatur. Hg. von Sven Hanuschek und Christine Haug. München: text + kritik 2008 (treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 4), S. 292–304. Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente in literarischen Texten der Frühen Neuzeit (Grimmelshausen). In: Fiktion und Fiktionalität
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in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Ursula Peters und Rainer Warning. München: Fink, 2009, S. 243–266. Helmut Krausser und der historische Roman. In: Sex – Tod – Genie. Beiträge zum Werk von Helmut Krausser. Hg. von Claude D. Conter und Oliver Jahraus. Göttingen: Wallstein, 2009 (Poiesis. Standpunkte der Gegenwartsliteratur 4), S. 181–195 [erweiterte und überarbeitete Fassung von 3.23.]. »Ungrund«. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Peter Strohschneider. Berlin, New York: de Gruyter, 2009 (DFG-Symposion 2006), S. 89–123. Einleitung. In: Felix Hausdorff: Gesammelte Werke. Band VIII: Literarisches Werk. Hg. von Friedrich Vollhardt und Udo Roth. Berlin, Heidelberg: Springer 2010, S. 1–36. Klug handeln? Zum Verhältnis von Amtsethik, Natur- und Widerstandsrecht im »Æmilius Paulus Papinianus« (1659) von Andreas Gryphius. In: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marco Gisi. Heidelberg: Winter, 2010, S. 237–256. Julius Wilhelm Zincgrefs »Vermanung zur Dapfferkeit« und die Popularisierung der Elegie durch Johann Michael Moscherosch. In: Julius Wilhelm Zincgref und der Heidelberger Späthumanismus. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur, 2010 (Mannheimer historische Schriften 5), S. 405–422. Essayismus und Mathematik um 1900. Die Schriften von Paul Mongré (d.i. Felix Hausdorff) im Kontext. In: Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur. Hg. von Andrea Albrecht, Gesa von Essen und Werner Frick. Berlin, Boston: de Gruyter, 2011 (linguae & litterae. Publikationsreihe des FRIAS 11), S. 308–326. Formvorgabe und Variation. Liebesklage und Landschaftstopik in der Lyrik der Frühen Neuzeit. In: Festschrift Wilhelm Kühlmann. Hg. von Ralf Georg Bogner und Christian von Zimmermann. Berlin, New York: de Gruyter, 2011, S. 147–159. ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von G. E. Lessings Erziehungslehre. In: Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 104–125.
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76. »Pythagorische Lehrsätze«. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Friedrich Vollhardt und Wilhelm Kühlmann. Berlin, New York: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2012 (Frühe Neuzeit 173), S. 363–383. 77. Der wilde Weltweise. Die Rezeption des »Philosophus autodidactus« von Ibn Tufail in der Frühen Neuzeit. In: Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Hg. von Jörg Robert und Friederike Felicitas Günther. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012, S. 179–198. 78. Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon«. [Nachwort zu:] Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam, 2012 (RUB 18865), S. 437–467. 79. Gefährliches Wissen und die Grenzen der Toleranz. Antitrinitarismus in der Gelehrtenkultur des 17. Jahrhunderts. In: Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Pietsch und Barbara Stollberg-Rilinger. Gütersloh: Güterloher Verlagsbuchhandlung, 2013 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), S. 222–238. 80. Hugo Ball, Nietzsche und die Epoche der Reformation. In: Hugo-Ball-Almanach N. F. 4 (2013), S. 109–122. 81. Anton von Klein, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller. Hoftheater und Drama am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution. Hg. von Wilhelm Kreutz, Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Regensburg: Schnell + Steiner, 2013, S. 669–682. 82. Das Problem der Quantität und die Neuordnung des Wissens in der Ausbildung des Juristen. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hg. von Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller und Wulf Oesterreicher. Berlin, Boston: de Gruyter, 2013 (Pluralisierung & Autorität 40), S. 427–448 [in Form und Wortlaut teilweise identisch mit 3.57a]. 83. Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann. In: »Unordentliche Collectanea«. Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon« zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Hg. von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2013 (Frühe Neuzeit 181), S. 175–200.
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84. Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon«. Zu den Anfängen der Ästhetik in Deutschland. In: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo / Aesthetics 38 (2013), S. 15–24 [ergänzte Vortragsfassung von 3.78]. 85. a. Der Musteraufklärer. G. E. Lessing in der Wissenschaft und Publizistik um 1900. In: ›Aufklärung‹ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. Hg. von Georg Neugebauer, Paolo Panizzo und Christoph Schmitt-Maaß. Paderborn: Fink, 2014 (Laboratorium Aufklärung 26), S. 83–102. b. [Gekürzte, mit Ausführungen zu Thomas Mann ergänzte Version:] Geist und Buchstabe. Erkundungen im Kontext von Thomas Manns LessingAneignung. In: ›Schöpferische Restauration‹. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne. Hg. von Barbara Beßlich und Dieter Martin. Würzburg: Ergon, 2014 (Klassische Moderne 21), S. 193–206. c. [Gekürzte Vortragsfassung:] Vermächtnis der Aufklärung? Lessing-Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien 45/46 (2014), S. 12–25. 86. Biographisches Verfahren und kulturwissenschaftliche Erkenntnis. Das Hölderlin-Porträt Wilhelm Diltheys. In: Hölderlin in der Moderne. Hg. von Friedrich Vollhardt. Berlin: Erich Schmidt, 2014, S. 42–60. 87. Endzeiten. Jenseitsvorstellungen im 17. Jahrhundert. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Hg. von Jan Standke, unter Mitwirkung von Holger Dainat. Heidelberg: Winter, 2014, S. 467–479. 88. Ausblicke ins Jenseits. Imaginationen der Hölle und ihre Revisionen in der Literatur der Frühen Neuzeit. In: Hieronymus Boschs Erbe. Hg. von Tobias Pfeifer-Helke. Berlin: Deutscher Kunstverlag 2015 (Katalog der Ausstellung im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, 19. März bis 15. Juni 2015), S. 29–39 [erweiterte und durch Illustrationen ergänzte Fassung von 3.87]. 89. Text und Kontext oder: gibt es Neuigkeiten zum Gültigkeitskriterium von Interpretationen? In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 65 (2015), S. 31–42. 90. Gotthold Ephraim Lessing und die Toleranzdebatten der Frühen Neuzeit. In: Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Hg. von Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2015 (Frühe Neuzeit 198), S. 381–415. 91. Lessings Kritik. In: Zeitsprünge 19 (2015), S. 293–311. 92. Das gelehrte Wissen und der literarische Markt. Vermittlungsstrategien im Medium der ›Moralischen Wochenschriften‹. In: Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Hg. von Frank Grunert und Anette
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Syndikus. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015, S. 377–390 [erweiterte Fassung von 3.59]. 93. Die Ringparabel in G. E. Lessings »Nathan der Weise«. Aktualität − Historizität − Kontiguität. In: Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Hg. von Achim Aurnhammer, Giulia Cantarutti und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston: de Gruyter/Edition Niemeyer, 2016 (Frühe Neuzeit 200). (Druck in Vorbereitung.)
4 Miszellen 1.
Das theologiekritische Spätwerk Lessings: Hinweise zu neueren Forschungen [Review Essay]. In: German Quarterly 64 (1991), S. 220–224. 2. Diskussionsbericht. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart: Metzler, 1994 (Berichtsbände XV), S. 329–334. 3. Die Entdeckung der ›Empfindsamkeit‹ in der germanistischen Aufklärungsforschung nach 1960. In: Transactions of the Ninth International Congress of the Enlightenment Münster 23.–29. July 1995. Oxford: Voltaire Foundation, 1996 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 348), S. 1536– 1539. 4. Exemplarische Wege des Theorie-Transfers in Westeuropa. In: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1996 [recte: 1995], S. 283–286. 5. Nationale Konstellationen der Theorie-Rezeption in außereuropäischen Kulturbereichen. In: Ebd., S. 441–443. 6. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meincke. Amsterdam: Rodopi, 1998 (Chloe 24.1), S. 589–592. 7. [Mit Ute von Bloh:] Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Prolegomena. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46 (1999), S. 479–485. 8. Wozu noch Geisteswissenschaften? Ein Diskussionsbeitrag. In: Die Welt (Feuilleton). 20. April 2001, S. 34 [www.welt.de/go/geist]. 9. Wissen in Literatur. Zur Einführung in den Band. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer, 2002, S. 1–8.
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10. [Mit Peter Strohschneider:] Interpretation. Einleitung in den Thementeil. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49:2 (2002), S. 1–5. 11. Einleitung zu: Aufklärung, Klassik, Romantik. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«. Hg. von Peter Wiesinger. Bern, Berlin: Lang, 2002 (Jahrbuch für internationale Germanistik Reihe A 58), S. 141–144. 12. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899). In: KulturPoetik 3:2 (2003), S. 279–285. 13. Christoph Matthäus Pfaff. Bedeutung und Wirkung der polemischen Theologie in der Jahrhundertmitte. In: Les Lumières et leur combat. La critique de la religion et des Églises à l’époque des Lumières. Hg. von Jean Mondot. Berlin: Wissenschafts-Verlag, 2004, S. 29–38. 14. [Mit Ute von Bloh:] ›Schlechte Literatur‹ – was ist das? Vorbemerkungen der Herausgeber. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51:3: Schlechte Literatur. Bielefeld: Aisthesis, 2004, S. 236–241. 15. Von der Normerkenntnis zur Normvermittlung. Zur Popularisierung der Anthropologie von Christian Thomasius. In: Il diritto naturale della socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo. Hg. von Vanda Fiorillo und Friedrich Vollhardt. Torino: Giappichelli, 2004, S. 173– 183. 16. Einleitung. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York: de Gruyter, 2005 (Historia Hermeneutica. Series Studia 1), S. 9–14. 17. Vorwort. In: Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. IX– XI. 18. Vorwort [Zur Druckgeschichte]. In: Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Band XIX: Cautelae circa praecognita jurisprudentiae. Hg. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim: Olms, 2006, S. I–III. 19. [Mit Frank Grunert und Anette Syndikus:] Neuordnungen des Wissens. Formen und Funktionen der Historia literaria in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte (Projekt des Sonderforschungsbereichs 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit«). In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29:1 (2006), S. 67–69. 20. [Mit Frank Grunert und Anette Syndikus:] Ein Leitfaden durch das Labyrinth. Zur Funktion der Gelehrsamkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit. In:
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Mitteilungen des SFB »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit« 2/2006, S. 35–42. Die Theosophie Jacob Böhmes und die orthodoxe Kritik. In: Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. Festschrift für Theodor Mahlmann zum 75. Geburtstag. Hg. von Wilfried Härle und Barbara Mahlmann-Bauer. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2009 (Marburger Theologische Schriften 99), S. 167–178. Wahrheit suchen, skeptisch bleiben. Zu Hugh Barr Nisbets Lessing-Biographie. In: Merkur 63 (2009), S. 254–260. Normvermittlung bei Christian Thomasius. In: Musikalische Norm um 1700. Hg. von Rainer Bayreuther. Berlin, New York: de Gruyter, 2010 (Frühe Neuzeit 149), S. 203–214. Naturrecht und Moralistik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Literatur und Moral. Hg. von Volker Kapp und Dorothea Scholl. Berlin: Duncker & Humblot, 2011 (Schriften zur Literaturwissenschaft 34), S. 267–276. Aufklärerische Religionskritik und historische Reflexion im Werk G. E. Lessings. In: The Fate of Reason. Contemporary Understanding of Enlightenment. Hg. von Hans Feger. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013, S. 85–93. Lessings Toleranzparabel. In: Tolerant mit Lessing. Ein Lesebuch zur Ringparabel. Hg. von Christoph Bultmann und Birka Siwczyk. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2013, S. 29–38. Einleitung. In: Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Hg. von Friedrich Vollhardt. Berlin: Akademie, 2014 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit 2), S. 7–16. Hölderlin in der Moderne. Zur Einführung. In: Hölderlin in der Moderne. Hg. von Friedrich Vollhardt. Berlin: Erich Schmidt, 2014, S. 7–12. Gedankenstrich. Wo stößt die von Neugier getriebene Forschung an ihre Grenzen? In: Das Lexikon der offenen Fragen. Hg. von Jürgen Kaube und Jörn Laakmann. Stuttgart: Metzler, 2015, S. 84f. [Mit Elisabeth Décultot:] Einleitung. In: Jahrbuch Aufklärung 27 (2015). Thema: Winckelmann, S. 5–7.
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5 Handbuchartikel 1. 2. 3.
4. 5. 6.
7. 8. 9. 10. 11.
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13. 14. 15.
Hermann Broch. In: Metzler Autoren-Lexikon. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart: Metzler, 1986, S. 83–85. (2. Aufl. 1994). Gotthold Ephraim Lessing. In: ebd., S. 416–420. (2. Aufl. 1994). Friedrich Heinrich Jacobi. In: Deutsche Dichter Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. von Gunter E. Grimm u. F. R. Max. Stuttgart: Reclam, 1988 (RUB 8613), S. 387–396. Friedrich Heinrich Jacobi. In: Metzler Philosophen-Lexikon. Hg. von Bernd Lutz u. a. Stuttgart: Metzler, 1989, S. 388–390. (2. Aufl. 1995; 3. Aufl. 2003.) Bernard de Mandeville. In: ebd., S. 496f. (2. Aufl. 1995; 3. Aufl. 2003.) a. Moses Mendelssohn. In: ebd., S. 536–538. (2. Aufl. 1995; 3. Aufl. 2003.) b. [Erweitert in:] Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Ein Lexikon. Hg. von Manfred Asendorf und Rolf von Bockel. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1997, S. 422–424. A. A. Cooper, Earl of Shaftesbury. In: Metzler Philosophen-Lexikon, S. 727f. (2. Aufl. 1995; 3. Aufl. 2003.) [Art.] Autonomie. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders. München: Beck, 1995, S. 52f. [Art.] Geselligkeit. In: Lexikon der Aufklärung. Hg. von Werner Schneiders. München: Beck, 1995, S. 152–154. [Art.] Autonomie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin: de Gruyter, 1997, S. 173–176. Friedrich Heinrich Jacobi. 1743–1819. In: Reclams Romanlexikon. Hg. von Frank Rainer Max und Christine Ruhrberg. Band 1: Deutschsprachige Versund Prosadichtung vom Mittelalter bis zur Klassik. Stuttgart: Reclam, 1998, S. 317–320. a. [Art.] Originalität. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin: de Gruyter, 2000, S. 768–771. b. [Gekürzt unter dem Titel:] Originalität – eine Begriffsbestimmung. In: Die Berliner Schloßdebatte – Pro und Contra. Hg. von Wilhelm von Boddien und Helmut Engel. Berlin: BerlinVerlag, 2000, S. 15–17. [Mit Wilhelm Kühlmann:] [Art.] Sturm und Drang. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 32, Lieferung 2/3. Berlin: de Gruyter, 2000, S. 284–290. [Mit Wilhelm Kühlmann:] [Art.] Sturm und Drang. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin: de Gruyter, 2003, S. 541–544. [Mit Ulrich Ruh:] [Art.] Säkularisierung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin: de Gruyter, 2003, S. 342–344.
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16. [Art.] Felix Hausdorff. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Band 5. Berlin: de Gruyter, 2009, S. 86–88. 17. [Art.] Lubinus, Eilhardus (1565–1621). In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520−1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Band 4. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Anselm Steiger und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015, Sp. 210–219.
6 Rezensionen (in Auswahl) 1.
Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933 [dt. Ausg. 1983]. In: IASL 10 (1985), S. 299–304. 2. Wissenschaft und Alltagswissen. Zwei Neuerscheinungen zur Anthropologie (G. Böhme, W. Pannenberg). In: Merkur 39 (1985), S. 1100–1105. 3. Das Verblassen der Charaktere. Gert Mattenklotts »Physiognomische Essais«. In: Merkur 40 (1986), S. 606–609. 4. Der unterbrochene Diskurs. Manfred Franks Reflexionen zum Begriff der Individualität. In: Merkur 41 (1987), S. 246–249. 5. »Mythen rationaler Perfektion«. Rolf Grimmingers ästhetische Untersuchungen zur Dialektik der Aufklärung. In: Merkur 41 (1987), S. 518–522. 6. Hermann Broch. Literature, Philosophy, Politics. The Yale Broch Symposium 1986. Hg. von S. D. Dowden [1988]; Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie [1985]. In: Arbitrium 7 (1989), S. 363–368. 7. Friedhelm Solms. Disciplina Aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. In: Das achtzehnte Jahrhundert 16:1 (1992), S. 70–74. 8. Gegen alle Teufelei. Balthasar Bekker: Die bezauberte Welt (1693). In: Wissenschaftlicher Literaturanzeiger 37 (1998), S. 46f. 9. Michael Stausberg: Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Wissenschaftlicher Literaturanzeiger 39 (2000), S. 36f.
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7 Radiobeiträge 1.
Im Kabinett der Königin – Der historische Roman. In: radio wissen. Bayerischer Rundfunk, Hörfunk 2. Sendung am 20. September 2005, 9:00 Uhr bis 9:20 Uhr [danach mehrfach gesendet]. 2. »Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen ...« Georg Christoph Lichtenberg. In: radioWissen. Bayerischer Rundfunk, Hörfunk 2. Sendung am 29. September 2009, 9:05 Uhr bis 9:30 Uhr. 3. Manierenpapst und Radikalaufklärer. Freiherr Adolph von Knigge. In: radio Wissen. Bayerischer Rundfunk, Hörfunk 2. Sendung am 16. Oktober 2012, 9:05 Uhr bis 9:30 Uhr. 4. Schiller und das Spiel. In: radio Wissen. Bayerischer Rundfunk, Hörfunk 2. Sendung am Dienstag, 21.04.2015, 9:05 Uhr bis 10:00 Uhr.
Personenregister
Achenwall, Gottfried 493f., 508 Adami, Tobias 103, 117, 132 Adorno, Theodor W. 581 Aesop 539 Aichinger, Ilse 602–7, 612 Alba, Fernando Álvarez de Toledo y Pimentel, 3. Herzog von 421f., 433, 455 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 159, 243 Alighieri, Dante 197, 555, 583, 585–87 Allen, John 323f. Amalia Sophia Maria Therese von PfalzSulzbach 175 Amir Kushrau 213 Andersch, Alfred 589 Andreae, Johann Valentin 68, 101–08, 111– 19, 121–24, 126, 130–34, 138, 144, 146 Angela von Foligno 140 Fra Angelico (Giovanni da Fiesole) 548 Angelus Silesius Siehe Scheffler, Johannes Anquetil, Louis-Pierre 439, 442, 450, 458 Archimedes von Syrakus 163 Archytas von Tarent 157 Arendt, Hannah 578 D’Argens, Jean-Baptiste de Boyer, Marquis 527 Aristoteles 3f., 163, 168, 205, 227, 235, 268, 399, 461 Armeno, Cristoforo 212f. Arndt, Johann 78, 101, 103f., 113f., 119, 121, 124, 131f., 141 Ascoli, Max 578 Auerbach, Felix 569 August d. J., Herzog von BraunschweigLüneburg-Wolfenbüttel 66, 101, 132, 202 August Wilhelm, Fürst von BraunschweigWolfenbüttel 200 Augustenburg, Friedrich Christian von 420, 430 Augustinus von Hippo 128, 139, 153, 509
Augustus, Kaiser (Imperium Romanum) 584, 586 Bacon, Francis 158, 169, 221, 224, 286 Bailly, Jean-Sylvain 236 Balde, Jakob 87, 95 Baldinucci, Filippo 321 Bandello, Matteo 85f., 94f. Barber, Elinor 207, 210 Baron, Richard 345 Batteux, Charles 235, 248f. Baudrillard, Jean 4 Bellarmino, Roberto 127, 129, 142 Belleforest, François de 94f. Benjamin, Walter 199 Bentley, Richard 210 Bernart de Ventadorn 608 Bernegger, Matthias 132 Bernhard von Clairvaux 140, 179 Bertuch, Friedrich Justin 428 Besold, Christoph 101–13, 116–31, 133–46 Betke, Joachim 78 Beulwitz, Caroline von Siehe Wolzogen, Caroline von Bèze, Théodore de 443, 448 Bidenbach, Wilhelm 132 Bierbaum, Otto Julius 563 Hl. Birgitta von Schweden 140 Bisselius, Johannes 86–100 Bobrowski, Johannes 597 Boccaccio, Giovanni 57, 59 Boccalini, Traiano 102 Bodin, Jean 109, 448, 520 Boerhaave, Herman 374 Boethius 124, 173ff., 185ff., 190 Böhm, Hans 64 Böhme, Jakob 78ff., 133 Boileau, Nicolas 247 Bois-Reymond, Emil du 557 Boisteau, Pierre 95 Bölsche, Wilhelm 558, 561, 563f.
638 | Personenregister
Bonaparte, Napoleon 480 Bonaventura Siehe Klingemann, August Borges, Jorge Luis 201, 583 Borromeo, Carlo 140 Boyle, Robert 270ff. Brecht, Arnold 578 Breckling, Friedrich 78 Breler, Melchior 124 Broch, Hermann 5, 573–77, 579–88 Brodin, Pierre 578 Brodsky, Joseph 583 Bronzino (Agnolo di Cosimo) 208 Browne, Thomas 173, 189 Bruns, Heinrich 566 Büchner, Georg 499 Büchner, Ludwig 557, 559 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de 236, 323, 325 Bünau, Rudolf von 117 Burnet, Gilbert 260 Byron, George Gordon, 6. Baron 523, 555 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 525 Calvin, Johannes 153 Campanella, Tommaso 103, 117–19, 132, 141 Campe, Johann Heinrich 473, 479f. Camus, Jean-Pierre 94 Cantor, Georg 569 Capilupi, Camillo 439, 447 Cappello, Bianca 208 Don Carlos, Infant von Spanien 458 Carolus, Johannes 73 Las Casas, Bartholomäus de 141 Cassini, Jean-Dominique 236 Cassirer, Ernst 243, 246, 577 Cassius, Georg Andreas 296, 299f. Castellio, Sebastian 290 Cato der Ältere 541 Caylus, Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de 328, 330–34 Celan, Paul 606f. Chénier, André 233ff., 248, 251 Christian August, Pfalzgraf und Herzog von Pfalz-Sulzbach 175, 188 Christian d. J., Herzog von BraunschweigLüneburg-Wolfenbüttel 131
Christian IV., König von Dänemark und Norwegen 131 Chute, Thomas 209ff. Cicero 154, 234, 248, 493, 498 Clagett, Nicholas d. J. 350 Clarendon, Edward Hyde, 1. Earl of 209 Cocteau, Jean 588 Cohen, Gustave 578 Cohen, Robert 583 Coligny, Gaspard de 415ff., 430, 437, 440, 444ff., 455ff. Collins, Anthony 345 Comenius, Johann Amos 116, 130, 133, 278 Condillac, Étienne Bonnot de 243, 248, 525 Cotta, Johann Friedrich 13 Croll, Oswald 71 Crusius, Siegfried Lebrecht 420f. Czepko und Reigersfeld, Daniel von 79 Dacheröden, Caroline von Siehe Humboldt, Caroline von Dedekind, Richard 569 Dehmel, Paula 564f. Dehmel, Richard 562ff., 567 Demokrit 235 Dennert, Eberhard 560f. Derschau, Christoph Friedrich von 358 Descartes, René 162, 169, 237, 242, 290 Desmoulins, Camille 529 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 524ff., 528, 530ff. Diderot, Denis 527 Dohm, Christian Wilhelm von 465 Domin, Hilde 597 Dominikus 140 Dorn, Gerhard 69, 73, 76f. Doyle, Arthur Conan 228 Duncombe, William 277 Meister Eckhart 65, 67, 127 Eich, Günter 589–613 Eichhorn, Johann Gottlieb 202 Eleonora Magdalena Theresia von PfalzNeuburg 178 Ellissen, Adolf 523–32 Engel, Johann Jakob 465 Engels, Friedrich 524
Personenregister | 639
Epikur 76, 154, 156, 161, 235 Erasmus von Rotterdam 154, 195, 197 Ernst I. der Fromme, Herzog von SachsenGotha-Altenburg 116 Eudoxos von Knidos 157 Euklid von Alexandria 163 Eusebius von Caesarea 139 Eyselin, Bartholomäus 136 Fabri de Peiresc, Nicolas 328 Fabricius, Johann Ludwig 278 Fechner, Gustav Theodor 562 Fechter, Paul 567 Fénelon, François 153 Ferdinand II., Kaiser (HRR) 106f., 131 Feuchtwanger, Lion 576, 585 Feuerbach, Ludwig 524, 556 Fichte, Johann Gottlieb 10, 15, 18, 20, 23, 27, 29, 39, 42 Flacius, Matthias 136, 138 Fleck, Ludwik 246 Förster, Ernst 523 Forster, Georg 475 Forster, Therese Siehe Huber, Therese Francesco I. de’ Medici, Großherzog der Toskana 208 Francke, August Hermann 116 Franckenberg, Abraham von 78ff., 84 Franz I., König von Frankreich 416, 439 Franz II., König von Frankreich 419, 442, 462 Franz von Assisi 140 Frey, Johann Ludwig 260 Friedländer, David 465 Friedrich II., König von Preußen 527 Friedrich III. der Weise, Kurfürst von Sachsen 195 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 130 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 466 Fürst, Joseph 472f., 482 Gabler, Johann Philipp 202 Galenos von Pergamon 163 Galilei, Galileo 162, 235, 237 Gallimard, Gaston 583 Garborg, Arne 564 Gassendi, Pierre 157 Gatterer, Johann Christoph 394
Gaulle, Charles de 578 Gentillet, Innocent 161ff., 165 George, Stefan 482, 537–54, 573f., 582 Gerhard, Johann 113f., 132, 141 Gernler, Theodor 260 Gerson, Jean 194 Giraud, Albert Siehe Kayenbergh, Albert Giraudoux, Jean 588 Goethe, Johann Wolfgang von 319, 357, 359f., 363, 369, 381–91, 418, 468, 470, 526f., 540, 555ff., 561 Göschen, Georg Joachim 421, 425f., 432 Gotter, Friedrich Wilhelm 372, 381 Gottsched, Johann Christoph 261, 277 Goulart, Simon 94, 448 Gracián, Baltasar 308 Gregorius, Immanuel Friedrich 277 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von 90 Grotius, Hugo 489, 493, 530 Grünbein, Durs 357 Guerra, Giuseppe 330 Guise, Franz von Lothringen, Herzog von 440f., 444, 461 Guise, Heinrich I. von Lothringen, Herzog von 416, 448, 450, 455, 459, 461f. Guise, Karl von Lothringen (Kardinal) 447, 452, 454, 458, 462 Gundolf, Friedrich 573 Gustav II. Adolf, König von Schweden 105, 131, 133, 135, 140, 425, 427 Haeckel, Ernst 559, 562 Hafenreffer, Matthias 104 Haller, Albrecht von 360, 370, 374–76, 377 Hardt, Hermann von der 203 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph von 557 Harsdörffer, Georg Philipp 94ff., 99, 177 Hart, Heinrich 561, 565 Hart, Julius 561, 563, 565 Hartleben, Otto Erich 563, 565, 567 Hausdorff, Felix 566–71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9–46, 410f., 418 Heine, Heinrich 525, 532 Heinrich II., König von Frankreich 428, 439f., 442
640 | Personenregister
Heinrich III., König von Frankreich 449 Heinrich IV., König von Frankreich 416f., 428, 430, 432, 437, 439, 442, 449f., 456 Heinsius, Daniel 268, 270 Helmont, Franciscus Mercurius van 173, 175ff., 181, 185ff. Helmont, Jan Baptist van 173 Helvétius, Claude Adrien 524, 526, 529ff. Helwig, Johann 174, 177, 184f. Heraklit 35 Herbert of Cherbury, Edward Herbert, 1. Baron 340 Herder, Johann Gottfried 360, 370, 375–81, 394, 397ff., 418, 428, 435, 437, 440, 526 Herodot 156 Herz, Henriette 467ff., 482f. Herz, Marcus 465ff. Hesiod 2 Hess, Tobias 102f. Heumann, Christoph August 259, 295–300, 303, 305–11 Heyden, Jakob von der 66f., 69, 72 Heyne, Christian Gottlob 202, 320 Heyne, Therese Siehe Huber, Therese Hieronymus 139, 153 Hille, Peter 563f. Hobbes, Thomas 153, 159f., 169, 508, 514 D’Holbach, Paul-Henri Thiry, Baron 358f., 361–63, 370, 373, 381, 383f., 527 Hölderlin, Friedrich 18, 21, 403 Holz, Arno 563f. Homer 236f., 267, 584 Horaz 247, 277, 396 Horkheimer, Max 581 Hotman, François 448 Huber, Ferdinand 421 Huber, Therese (geb. Heyne, verh. Forster) 472, 475 Humboldt, Alexander von 466f., 469, 473, 476f. Humboldt, Caroline von (geb. Dacheröden) 472, 474ff., 478ff. Humboldt, Wilhelm von 465ff. Hus, Jan 200 Hutten, Ulrich von 195 Huxley, Thomas Henry 220, 222f. Hyde, Anne 209, 229
Irenäus von Lyon 139 Jacobi, Friedrich Heinrich 10f., 15, 20f., 23, 27ff., 36, 39, 42f. Jiménez de Cisneros, Francisco 142 Joachim von Fiore 121, 414 Johannes von Salisbury 153 Johnson, Alvin 577 Josephus, Flavius 113 Joyce, James 201, 577, 583, 588 Jung, Johann Friedrich d. Ä. 68–77, 83 Jung-Stilling, Johann Heinrich 91 Justi, Carl 320 Kahler, Antoinette von 581, 583 Kahler, Erich 573–75, 577–84, 587 Kant, Immanuel 4, 10, 15, 18, 39, 42, 395, 397, 403f., 417, 433, 435, 437, 452ff., 465f., 483, 486, 492, 496, 508, 514, 522, 569 Karl IX., König von Frankreich 429, 439, 444, 447, 449f., 454, 456ff., 460 Karl VIII., König von Frankreich 439 Kasack, Hermann 601 Katharina von Siena 140 Kaufringer, Heinrich 49–59 Kayenbergh, Albert 566 Kepler, Johannes 235, 237 Khunrath, Heinrich 68 Kircher, Athanasius 91, 328 Klages, Ludwig 565 Kleinwechter, Valentin 78 Kleist, Heinrich von 485–522 Klingemann, August 21 Knorr von Rosenroth, Christian 173, 177ff., 185ff. Kohn, Robert 582 Körner, Christian Gottfried 411, 427, 432 Krämer, Gisela 605 Kronberger, Maximilian 537–38, 543–46, 550, 553 Krüger, Johann Gottlob 323f., 326 Kundera, Milan 583 Kunth, Gottlob Johann Christian 465f., 469 Laktanz 153 Lamennais, Félicité de 528f.
Personenregister | 641
Languet, Hubert 448 LaRoche, Carl von 473ff., 478 LaRoche, Sophie von 473 Laßwitz, Kurd 571 Latouche, Henri de 233 Laube, Heinrich 532 Lavater, Johann Caspar 479 Lederer, Emil 578 Lederer, Trude 581 Leibniz, Gottfried Wilhelm 162, 175, 186, 569 Lemos, Benjamin de 465 Lengefeld, Caroline von Siehe Wolzogen, Caroline von Lengefeld, Charlotte, von Siehe Schiller, Charlotte Leopold I., Kaiser (HRR) 178 Lessing, Gotthold Ephraim 4ff., 85, 277, 318, 335–37, 339–42, 407, 413ff., 417f., 461, 526 Leuchsenring, Johann Ludwig 375 Levin, Rahel Siehe Varnhagen, Rahel Leyser, Polykarp Siehe Lyser, Polykarp Lichtenberg, Georg Christoph 608 Lichtenthaler, Abraham 173 Locke, John 508 Loerke, Oskar 593, 610 Loewy, Alice 581 Lotze, Rudolf Hermann 562 Louis XVI. Siehe Ludwig XVI., König von Frankreich Lowe, Adolph 578 Loyola, Iñigo López de 140 Ludwig XII., König von Frankreich 439 Ludwig XVI., König von Frankreich 416 Lukian von Samosata 329 Lull, Ramón 69 Luther, Martin 113, 136, 140f., 143, 145, 153, 192, 195, 199, 360, 362, 364f., 368, 376ff., 380, 509, 511 Lyser, Polykarp 132 Macaulay, Thomas 216 Machiavelli, Niccolò 153, 160f., 164f., 169, 315 Madihn, Ludwig Gottfried 494ff., 498, 502, 506, 508, 511 Maffei, Paolo Alessandro 328
Mailly, Louis de 213 Malebranche, Nicolas 153, 290f. Mandelstam, Ossip 584 Mann, Horace 207f., 210, 216 Mann, Thomas 573, 576, 582 Mantis, Dr. Siehe Harleß, Adolf Gottlieb Christoph von Margarete von Valois, Königin von Frankreich 429 Maria Hedwig Augusta von Pfalz-Sulzbach 175 Maritain, Jacques 578 Marlowe, Christopher 448 Marmontel, Jean-François 248f. Marx, Karl 524, 533 Mater, Erich 598 Maucke, Johann Michael 421, 428 Maximilian I., Herzog von Bayern 130, 135 Maximilian I., Kaiser (HRR) 195 Maximin Siehe Kronberger, Maximilian Medici, Katharina von 416f., 419, 425, 430, 437, 439, 442ff., 449f., 452, 454ff., 462 Melanchthon, Philipp 195, 509 Mendelssohn, Brendel Siehe Schlegel, Dorothea Friederike Mendelssohn, Henriette 472f. Mendelssohn, Moses 337, 417, 465, 467ff. Merck, Johann Heinrich 375 Merian, Matthäus 93 Merton, Robert K. 207, 210 Mery, Jean 324 Mettrie, Julien Offray de La 374 Michelet, Karl Ludwig 11ff. Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, Graf von 529 Mohammed 144 Moleschott, Jakob 556f. Moller, Martin 114, 141 Mongré, Paul Siehe Hausdorff, Felix Monier, Pierre 321 Montaigne, Michel de 127 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 524ff., 528ff. Montfaucon, Bernard de 318 Montmorency, Anne, 1. Herzog von 443 More, Henry 185f., 189 Mörike, Eduard 593
642 | Personenregister
Morus, Thomas 87 Muir, Edwin 574 Muir, Willa 574 Munch, Edvard 564 Münch, Johann Siegmund 297 Mylius, Christlob 277 Naogeorg, Thomas 68 Neri, Filippo 140 Newton, Isaac 235, 237f., 243, 323 Nicolai, Friedrich 417 Nider, Johannes 194 Nikolaus von Flüe 140 Nikolaus von Kues 127 Norbert von Xanten 140 Norden, Ruth 581 O’Neill, Eugene 588 Ostervald, Jean-Frédéric 254, 292 Ostwald, Wilhelm 569 Ovid 2, 113, 584f. Paciaudi, Paolo Maria 333 Pappos von Alexandria 163 Parma, Margarethe, Herzogin von 422, 424 Pascal, Blaise 43, 170 Paul, Jean 21 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 416f., 421, 430, 438, 451, 454ff., 459ff. Pausanias 327, 329 Pavese, Cesare 588 Peirce, Charles Sanders 206, 223ff., 228ff. Perez, Antonio 126 Permeier, Johannes 78 Perrault, Charles 249, 251 Petersen, Georg Wilhelm 375 Petrarca, Francesco 197 Philipp II., König von Spanien 421f., 448, 455f., 458 Piccolomini, Enea Silvio 253 Platon 4, 113, 157, 182, 235, 268, 401 Plinius d. Ä. (Gaius Plinius Secundus) 329 Polignac, Melchior de 153 Pope, Alexander 337 Porta, Giambattista della 173, 189 Preining, Jörg 62–65, 68, 82 Prudentius 179
Przybyszewski, Felix Stanisław 563f. Pufendorf, Samuel von 5, 489, 494, 496, 502, 505, 508, 514f., 530 Queneau, Raymond 583 Ramus, Petrus 447 Rathenau, Walter 558 Réaumur, René-Antoine Ferchault de 324 Reimarus, Hermann Samuel 341, 414 Reinhold, Karl Leonhard 404 Reinke, Johann 560f. Reuchlin, Johannes 195f. Reventlow, Fanny zu 565 Richardson, Jonathan 321 Richelieu, Armand Jean du Plessis, Herzog von 427, 449 Richter, Johann Paul Friedrich Siehe Paul, Jean Rohr, Julius Bernhard von 305, 314 Rosset, François de 93 Rottmann, Carl 523 Rousseau, Jean-Jacques 468, 470, 486, 508, 514f., 527f. Rückert, Friedrich 540 Rudolf August, Herzog von BraunschweigLüneburg-Wolfenbüttel 191f., 194f., 197, 199, 202 Ruge, Arnold 524 Ruysbroek, Jan van 65, 126, 136 Ryhiner, Peter 256, 259f., 267 Sachs, Nelly 606 Sadoleto, Jacopo 321 Salignac de La Mothe-Fénelon, François de Siehe Fénelon, François Salmasius, Claudius (Claude Saumaise) 268, 270 Salminger, Sigmund 64 Sandrart, Joachim von 328 Saurin, Bernard-Joseph 526, 530 Sauter, Lilly von 597 Savonarola, Girolamo 103, 125 Schadow, Johann Gottfried 467 Scheerbart, Paul 563 Scheffler, Johannes 72, 79
Personenregister | 643
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 9, 12, 18, 28, 42 Scherffer von Scherffenstein, Wenzel 78 Schiller, Charlotte (geb. Lengefeld) 475, 478f. Schiller, Friedrich 393–412, 415–47, 450–63, 475, 478, 526f. Schimmelmann, Ernst Heinrich Graf von 420 Schirnding, Albert von 612 Schlaf, Johannes 563f. Schlegel, August Wilhelm 12 Schlegel, Dorothea Friederike (geb. Brendel Mendelssohn, verh. Veit) 468f., 472ff., 478 Schlegel, Friedrich 469 Schlegel, Johann Elias 358 Schlözer, August Ludwig 394, 491, 495 Schmidt, Johann Lorenz 339 Scholl, Hans 61 Scholl, Sophie 61 Schopenhauer, Arthur 569 Schuler, Alfred 565 Schupp, Johann Balthasar 90 Schwartz, Wilhelm 78–82, 83f. Schweizer, Johann Heinrich 262 Schwenckfeld von Ossig, Caspar 65, 141 Seebach, Philipp Jakob von 73 Seneca 357 Seuse, Heinrich 65, 67, 127, 136 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 1. Earl of 209, 229 Shakespeare, William 85f., 93, 216, 541 Sixtus Senensis 126 Solly, Edward 211 Sonne, Abraham 586 Sophie Charlotte, Kurfürstin von Brandenburg, Königin in Preußen 175 Sophie, Kurfürstin von Hannover, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg 176 Sophokles 539 Spalding, Georg Ludwig 482 Spalding, Johann Joachim 397 Spangenberg, Wolfhart 68 Spanheim, Ezechiel 328 Speier, Hans 578 Spener, Philipp Jacob 194 Spinoza, Baruch de 153, 160, 242, 360, 380
Spon, Jacob 328 Stark, Karl Bernhard 320 Staudinger, Hans 578 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 538, 547 Steiner, Heinrich 64 Steiner, Rudolf 559 Stieglitz, Johann 476f. Stirner, Max 524 Strabon 329 Strauss, Leo 578 Strindberg, August 564, 570 Stuart, Maria I., Königin von Schottland 419, 462 Sturm, Johannes 278 Sudermann, Daniel 65–68, 82 Sully, Maximilien de Béthune, Herzog von 415f., 428ff., 437f., 458 Sulzer, Johann Georg 377 Swift, Jonathan 344 Tauler, Johannes 65, 67, 124ff., 136, 141 Templin, Prokop von 90 Tertullian 139 Thales von Milet 235, 528 Theodor Eustachius, Pfalzgraf und Herzog von Pfalz-Sulzbach 175 Theresa von Avila 126, 140 Thiersch, Friedrich 523 Thomas von Aquin 108, 140, 145, 301, 493, 498, 509, 518 Thomas von Kempen 66, 92, 96, 127, 136, 141 Thomasius, Christian 292, 295, 301f., 307f., 314, 508 Thou, Jacques-Auguste de 439, 447, 458 Thurneysen, Johann Rudolf 278ff. Tilly, Johann Tserclaes Graf von 131 Tindal, Matthew 338–46 Torricelli, Evangelista 235, 237 Touche, Claude Guimond de La 358 Tracy Siehe Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude Tramezzino, Michele 212 Tscherning, Andreas 78 Tscherning, David 78 Tschesch, Johann Theodor von 79
644 | Personenregister
Türke, Gustav 563 Turrettini, Jean-Alphonse 254, 256 Tutchin, John 346 Tyrtaios 552 Uexküll, Jakob Johann von 377 Uhse, Erdmann 264 Ulhart, Philipp d. Ä. 64 Untermeyer, Jean Starr 576, 581 Urban VII., Papst 107 Valéry, Paul 588 Valla, Lorenzo 154, 197, 200f. Vallin, René 174 Varnhagen von Ense, Karl August 471, 473, 482 Varnhagen, Rahel (geb. Levin) 471 Vasari, Giorgio 208 Veit, Brendel Siehe Schlegel, Dorothea Friederike Veit, Dorothea Siehe Schlegel, Dorothea Friederike Veit, Simon 469 Vergil 235ff., 575ff., 579, 581, 583–87 Vico, Giambattista 153 Viète, François 162 Vogt, Carl 557 Voltaire 85f., 206, 216f., 220, 237f., 242f., 248, 323, 360, 370–73, 380, 524, 526ff. Walch, Christian Wilhelm Franz 196 Wallenstein, Albrecht Graf von 131, 418, 425, 427, 458 Walpole, Horace 205f., 207–12, 215ff., 226, 228ff. Walpole, Robert 207 Wegener, Wilhelm Gabriel 476f. Weigand, Hermann 584, 586 Weigel, Valentin 113
Weise, Christian 264 Weiss, Peter 585, 587 Weiße, Christian Felix 360, 364–70, 374, 418 Welcker, Carl Theodor 526 Wense, Wilhelm von 117, 132 Werenberg, Jacob 124 Werenfels, Peter 255, 279 Werenfels, Samuel 253–93 Wettstein, Johann Rudolf III. 267 Wettstein, Johannes 267 Wick, Johann Jakob 447 Wieland, Christoph Martin 393, 395, 411, 428, 515 Wigand, Otto 524 Wilder, Thornton 588 Wilhelm I. von Oranien, Graf von NassauDillenburg 421f. Wille, Bruno 559ff., 564 Winckelmann, Johann Joachim 317–34 Wolff, Christian 488f., 492, 496, 508, 514, 517, 521, 569 Wolff, Helene 579 Wolff, Kurt 579 Wolfskehl, Karl 565 Wollstonecraft, Mary 480 Woltmann, Karl Ludwig 425 Wolzogen, Caroline von (geb. Lengefeld, verh. Beulwitz) 472, 474f., 478 Wyclif, John 200f. Xavier, Francisco de 140 Ximenes de Cisneros, Francisco Siehe Jiménez de Cisneros, Francisco Zabarella, Giacomo 163 Zeiller, Martin 93 Zeissenmair, Lucas 63 Zenon von Elea 156 Zeuxis 234f., 248