Abwägende Vernunft: Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive 9783110896190, 9783110175172

The objective of ethical discussion is the clarification of moral conflicts. To be able to reach responsible decisions,

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German Pages 849 [852] Year 2004

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Teil: Abwägende Vernunft in der antiken und mittelalterlichen Ethik
Moralische Entscheidungen in Homers Ilias
Klugheit als reflektierende Urteilskraft. Aristoteles’ Nikomachische Ethik und Piatons Menon
Eudaimonia und phronēsis. Eine Anmerkung zur Nikomachischen Ethik
Philia in der Nikomachischen Ethik – eine Skizze
Die frühe stoische Theorie des Werts
„Et quatenus de commutatione terrenorum bonorum cum divinis agimus...”. Epikureische Diesseitigkeit und christliche Auferstehung bei Augustinus und Lorenzo Valla
Patristische Annäherung an ,abwägende Vernunft‘. Sittliches Urteil bei Origenes und Augustinus
Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia
Remoto libero arbitrio ab homine actus iustitiae Dei removetur. Zur Anthropologie des Raimundus Lullus
Wille oder Vernunft? Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus
Das natürliche Gesetz (lex naturalis) in der Sicht des Thomas von Aquin und des Nikolaus von Kues
2. Teil: Abwägende Vernunft in der neuzeitlichen und gegenwärtigen Ethikdiskussion
Abwägungen durch Legislative und Judikative in De legibus ac Deo Legislatore von Francisco Suárez
Autonome Vernunft mit moralischer Sehkraft. Die Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem bei Immanuel Kant
Kants Begriff der Menschenwürde
Die Ambivalenz des Gewissens. Zu Hegels Fundierung der Moral in der Sittlichkeit
Reflexionen zum praktischen Hintergrund von Metaphysik. Hindernisse für das Verständnis des Bezugs von Wirklichkeit und Praxis, ens et bonum
Paul Ricceurs Weg zur Frage der Handlung. Die Bezeugung
Abwägende Vernunft im Kontext kausaler Handlungstheorien
Der Wahrheitsbegriff in der Ethik: Versuch einer Klärung
Wilfrid Seilars’ Analyse der moralischen Urteile
Vernunft und Tugend
Gefühle und ethische Tugenden
Was wird gewogen? Uber praktische Vernunft als System
Gerechtigkeit als Abwägungsproblem
Ein dreifacher Vorrang in Bezug auf die Gerechtigkeit
Deontologische Ansprüche und die Grenzen der Abwägung in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls
Franz von Kutschera und das Problem der abwägenden Vernunft
Die sittliche Norm erschließt sich nur dem, der sensibel ist für die Gesamtheit der Wirklichkeit
Abwägende Vernunft als Grundthema der ethischen Bildung
Zum Rollenkonflikt des Personalmanagers in alltäglichen moralisch prekären Situationen
Abgewogene nervenärztliche Handlungsmaximen ? Das Prinzip bonum facere – nil nocere in der psychiatrischen Praxis
Über vermeintlich aussichtslose Fälle. Gedanken zur Sterbepraxis
3. Teil: Abwägende Vernunft im Kontext von Religion
Die Rolle der Überlegung in der existenziellen Entscheidung. Ein philosophischer Blick auf die Wahlregeln des hl. Ignatius von Loyola
Religion und Aufklärung. Oder vom Kanon des Glaubens und vom Kanon der Vernunft
„Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung“. Rationalität im Religionskonzept Ludwig Wittgensteins
Theodizee? Grenzen theologischen Abwägens, Erklärens, Rechtfertigens
Gott und der gegenwärtige König von Frankreich. Über Kennzeichnungen in der Theologie
Nicht-dualistisches Denken und seine Konsequenzen für die Ethik im Advaita Vedänta und im christlichen Gottesbegriff
Zur Handlungstheorie des Mahayana-Buddhismus Ostasiens
Spielräume ethischer Entscheidungsfindung in der Sicht zeitgenössischer Islamisten
Was heißt „Einheit der Kirche“ und was dient ihr?
Zeugnisse fremder Erfahrung und die Unvertretbarkeit der eigenen Lebensgeschichte – Versuch, einen neutestamentlichen Text mit den Augen des Philosophen zu lesen
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
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Abwägende Vernunft: Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive
 9783110896190, 9783110175172

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Abwägende Vernunft

Abwägende Vernunft Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive

Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Christian Schröer

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017517-7

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Selignow, Berlin Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Friedo Ricken zum siebzigsten Geburtstag

Vorwort Die veränderten Handlungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft und das Aufbrechen neuer moralischer Konflikte haben das Anforderungsprofil an eine Theorie der Moral deutlich verändert. Der Ruf nach ethischer Orientierung und nach konkreten Lösungen hat die Diskussion zu den Problemen der konkreten Praxis zurückkehren und ein breites Spektrum von Bereichsethiken entstehen lassen. Während die vorangehende akademische Diskussion nicht selten in der Gefahr stand, den Kontakt zur konkreten Lebenswelt zu verlieren, glaubte man nun zunächst umgekehrt, auf eine Rückbindung an die Tradition und auf allgemeine Prinzipienreflexionen verzichten zu können. U m die entstandene Kluft zwischen abstrakten Grundlegungsfragen und konkreten Anwendungsdebatten zu überbrücken, bedarf es eines umfassenden Theorieansatzes, der gleichermaßen den Rückgriff auf bleibende Einsichten der klassischen und modernen Grundsatzdiskussionen als auch eine sachgemäße Klärung aktueller Konfliktsituationen erlaubt. D a es der Ethik als praktischer Wissenschaft letztlich nicht um bloße Theorie, sondern um das konkrete Handeln geht, ist das Ziel aller ethischen Analysen immer das Treffen richtiger Entscheidungen. Richtige Entscheidungen aber beruhen darauf, dass die jeweils zur Wahl stehenden Handlungsalternativen auf überzeugende Weise gegeneinander abgewogen werden. Damit kommt dem Akt der Abwägung zentrale Bedeutung zu. Unter dem Begriff der „abwägenden Vernunft" hat Friedo Ricken wichtige Grundlinien für ein solches Ethikverständnis vorgezeichnet. Diese Impulse aufzugreifen und den Ansatz einer Ethik der abwägenden Vernunft unter historischen und systematischen Aspekten weiter auszuleuchten, ist das Anliegen des vorliegenden Bandes. Das Problem der moralischen Abwägung wird seit der Antike in Werken der Dichtung und der philosophischen Reflexion thematisiert. Es stellt sich für den epischen Helden, den kalkulierenden Epikuräer und den stoischen Weisen ebenso wie für den Gelehrten des Mittelalters und den aufgeklärten Bürger der Neuzeit. Während sich die klassische Ethik dabei weithin am einzelnen Menschen als Handlungsträ-

VIII

Vorwort

ger orientierte, treten mit dem Wandel zur modernen freiheitlichen Gesellschaft zunehmend kollektive Akteure wie Vereinigungen, Körperschaften und Wirtschaftsunternehmen auf, die heute mehr denn je das gesellschaftliche Leben bestimmen. Sofern eine Institution ihre Handlungsfähigkeit durch die Einrichtung entsprechender ,Organe' nachweist, gilt sie als juristische Person, ist Träger von Rechten und Pflichten und verfügt vielfach über weitreichende Entscheidungsmöglichkeiten. Zwar sind es nach wie vor natürliche Personen, die in den Organen solcher Institutionen handeln, doch tun sie dies unter den spezifischen Bedingungen betrieblicher Ziele, interner Zuständigkeiten und standardisierter Entscheidungswege. So stellt sich bereits im Blick auf das Subjekt der Abwägung die Frage nach den anthropologischen und handlungstheoretischen Grundlagen einer Theorie der moralischen Urteilsfindung, die auch den veränderten Bedingungen der modernen Lebenswelt Rechnung trägt. Mit der Frage nach dem Objekt der Abwägung öffnet sich ein weites Spektrum verschiedenster Themenbereiche. Verantwortliche Entscheidungen erfordern eine Gewichtung der Güter, die von den Handlungsalternativen jeweils betroffen sind. Der Blick fällt dabei zunächst auf Probleme der Verwirklichung oder Verteilung singulärer Güter, mithin auf Konflikte bezüglich konkreter Gegenstände, Ressourcen oder Leistungen. Um aber zu allgemein vertretbaren Gewichtungen zu gelangen, sind vielfach allgemeinere Abwägungen zwischen Klassen von Gütern nötig, wenn etwa im Konfliktfall naturale Grundgüter gegen höhere Kulturgüter oder soziale Güter abgewogen oder Dilemmata zwischen außermoralischen und moralischen Güter entschieden werden müssen. Da das Handeln in modernen Gesellschaften immer auch ein Handeln im Rahmen von Rechtsordnungen ist, sind ferner Konflikte zwischen Rechten an Gütern (z.B. Gebrauchs- gegen Eigentumsrechte), Klassen von Rechten (ζ. B. Schutzrechte gegen Anspruchsrechte) oder auch zwischen Rechtsprinzipien (ζ. B. Rechtssicherheit gegen Gerechtigkeit) zu bewältigen. Alles Abwägen hängt aber wiederum von Voraussetzungen ab, unter denen eine rationale Entscheidungsfindung überhaupt erst möglich erscheint, insbesondere von der Wahl des ethischen Ansatzes selbst. Soll schließlich eine solche Wahl nicht willkürlich erfolgen, bedarf es auch hierfür noch einmal einer Abwägung, die letztlich nur aus einer rational vertretbaren Stellungnahme zum Ganzen menschlicher Praxis heraus erfolgen kann. Dieser letzte Horizont der Abwägungsproblematik verweist auf die existentielle und religiöse Dimension einer Ethik der abwägenden Ver-

Vorwort

IX

nunft und damit auf den Diskussionskontext der Religionsphilosophie, der theologischen Ethik und des interreligiösen Dialogs. Verschiedenartige Konflikte erfordern verschiedenartige Formen der Abwägung. Ein Konflikt zwischen basalen Grundgütern wird andere Überlegungen erfordern als eine Abwägung zwischen Erfolg und Moralität, zwischen Grund- und Sonderrechten oder zwischen einer religiösen und einer nicht-religiösen Lebensform. Entsprechend sind denn auch unterschiedlichste Abwägungsmodelle in Gestalt von utilitaristischen Nutzenkalkülen, Rechtsfindungsverfahren oder Prozessen der Lebenswahl entwickelt worden. Eine Ethik der abwägenden Vernunft wird ein besonderes Interesse daran haben, sich der jeweiligen Leistung dieser Abwägungsformen und der je eigenen Dimensionen der moralischen Konflikte klar zu werden, die es dabei jeweils zu bewältigen gilt. Je gravierender die Interessenskonflikte und je fundamentaler die betroffenen Güter sind, desto grundlegender werden auch die Überlegungen ausfallen müssen, die zu einer angemessenen Entscheidung führen können. Damit stellt sich die Frage nach den Kriterien der Abwägung. Entscheidungsleitend sind zunächst alle sachlichen Gesichtspunkte im Sinne von empirischen, funktionalen oder institutionellen Umständen, die bei der Beurteilung der Handlungsalternativen zu berücksichtigen sind. Die normative Gewichtung erfolgt unter Gesichtspunkten von moralischen Zielen oder Restriktionen, die sich etwa aus der aristotelischen Frage nach einem erfüllten Leben (Glück), aus Kants Prinzip der Autonomie und Menschenwürde oder aus der normativen Pragmatik des praktischen Vernunftgebrauchs selbst heraus ergeben und generelle Ansprüche geltend machen. Da aber jede Handlungsalternative immer auch die konkreten Voraussetzungen des Strebens nach Glück, des Freiheits- und des Vernunftgebrauchs betrifft, diese Voraussetzungen jedoch auch untereinander in vielfacher Beziehung zueinander stehen, ist im konkreten Fall immer auch nach den realen Bedingungsverhältnissen zu fragen, um zu einer sachlich wie moralisch überzeugenden Abwägung zu gelangen. Allerdings bleibt auch nach einer erfolgten Gewichtung aller relevanten Sachverhalte noch die Anwendung auf die jeweils aktuelle Einzelsituation zu leisten. Da es keinen Algorithmus für die Subsumtion eines konkreten Falls unter eine allgemeine Regel gibt, bedarf es hierzu eines Aktes der praktischen Urteilskraft. So bleibt die letzte Entscheidung zur Tat noch einmal der unvertretbaren Gewissensentscheidung des Einzelnen aufgegeben.

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Vorwort

Im vorliegenden Band haben sich Kollegen, Weggefährten und Schüler zusammengefunden, um anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Friedo Ricken ausgewählte Aspekte einer Ethik der abwägenden Vernunft aus der Sicht ihres jeweiligen Arbeitsgebietes zu diskutieren. Die Beiträge des ersten Teils suchen die Thematik der Abwägung in den klassischen Quellen der Ethik von der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters auf. Ein erster thematischer Bogen spannt sich von der moralischen Entscheidung im epischen Werk Homers über die sittliche Klugheit bei Piaton und Aristoteles bis hin zur Güterlehre der frühen Stoa und der epikureischen Schule. Eine zweite Gruppe von Beiträgen wendet sich den Quellen der patristischen und scholastischen Tradition zu und fragt nach den tragenden Konzeptionen ethischer Orientierung in den Werken des Origenes, Augustinus und Eustratios sowie des Thomas von Aquin, Raimundus Lullus, Johannes Duns Scotus und Nikolaus von Kues. Der zweite Hauptteil widmet sich den systematischen Grundlagen einer Ethik der Abwägung und konfrontiert den Ansatz schließlich mit ausgewählten Beispielen aus der Praxis. Die Beiträge folgen zunächst der neuzeitlichen Diskussion und beleuchten Abwägungen im Rechtsdenken bei Suärez, die moralische Urteilskraft und das Prinzip der Menschenwürde bei Kant, die Konzeption konkreter Sittlichkeit bei Hegel, den transzendentalen Horizont praktischer Vernunft bei Marechal und Ricoeur's Zugang zum Begriff der Handlung. Eine Reihe von systematischen Studien befasst sich mit den handlungstheoretischen und anthropologischen Grundfragen der Entscheidungsfindung und fragt kritisch nach dem Status kausaler Handlungstheorien, nach den Grundstrukturen des moralischen Urteilens selbst und nach dem Zusammenhang von Vernunft, Gefühl und Tugend. Eine dritte Folge von Artikeln wendet sich sodann der sozialen Praxis zu und erörtert den normativen Anspruch der Gerechtigkeit. Ein letzter Themenkreis mahnt schließlich zur Sensibilität für die Wirklichkeit und thematisiert das Problem der Abwägung in den Bereichen der sittlichen Erziehung, des Personalmanagements und der ärztlichen Praxis. Die im dritten und letzten Hauptteil des Bandes versammelten Studien beleuchten das Thema der Abwägung im Kontext von Religionsphilosophie und Religionswissenschaft. Thematisiert werden zunächst die Struktur einer rational verantworteten Lebenswahl bei Ignatius von Loyola, der Konflikt von rationaler und religiöser Maßstäblichkeit im Blick auf Kant und Rousseau sowie die Rationalität des Religiösen bei Wittgenstein. Ein Artikel zur Theodizeefrage beschäftigt sich mit dem

Vorwort

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wichtigsten Einwand gegen die Annahme einer theistischen Form der Religion, ein Artikel zum anselmschen Gottesbeweis mit einem der prominentesten Argumente für eine solche Wahl. Zwei weitere Artikel führen dem Leser die ethischen und handlungstheoretischen Perspektiven fernöstlicher Religionen vor Augen. Die beiden Beiträge zu Abwägungsspielräumen in der Sicht zeitgenössischer Islamisten und zum Ringen um die Einheit der christlichen Kirche vermitteln ein eindrückliches Bild von Entscheidungsfindungsprozessen, die unter den Vorgaben einer kanonischen Tradition zu bewältigen sind. Am Ende steht der Verweis auf die Zeugnisse fremder Erfahrung, in denen sich der Anspruch religiöser Maßgeblichkeit vermittelt, die aber dennoch die Unvertretbarkeit der je eigenen religiösen Entscheidung letztlich nicht aufheben. Der Dank der Herausgeber gilt zuallererst allen Autorinnen und Autoren, die sich in Anerkennung der philosophischen Arbeiten Friedo Rickens zur antiken Philosophie, zur allgemeinen Ethik, zur sprachanalytischen Philosophie und zur Religionsphilosophie auf eine Auseinandersetzung mit der Thematik der abwägenden Vernunft eingelassen haben. Zu danken ist der Leitung der Münchener Hochschule für Philosophie - Philosophische Fakultät SJ, an der der Jubilar über nahezu drei Jahrzehnte lehrte, für die herzliche Unterstützung der Initiative zu diesem Band und für die unablässige Hilfsbereitschaft bei der Planung und Durchführung des Projektes. Zu großem Dank verpflichtet sind wir dem Verband der Diözesen Deutschlands, dem Erzbistum München und Freising, den Erzbistümern Freiburg, Hamburg und Bamberg sowie den Bistümern Hildesheim, Limburg und Osnabrück, die durch großzügige Druckkostenzuschüsse das Erscheinen des Bandes in der vorliegenden Form ermöglichten. Unser Dank gebührt zudem der Augustin-Bea-Stiftung für die geleistete Unterstützung. Gedankt sei nicht zuletzt allen, die an der Bewältigung der redaktionellen Aufgaben mit Rat und Tat beteiligt waren, und dem Verlag de Gruyter für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm. Die Herausgeber

Inhalt I. Teil: Abwägende Vernunft in der antiken und mittelalterlichen Ethik David Gill (Boston): Moralische Entscheidungen in Homers Ilias

3

Klaus Jacobi (Freiburg): Klugheit als reflektierende Urteilskraft. Aristoteles' Nikomachische Ethik und Piatons Menon

17

Ursula Wolf (Mannheim): Eudaimonia und phronesis. Eine Anmerkung zur Nikomachischen Ethik

39

Nathalie von Siemens (Berlin): Philia in der Nikomachischen Ethik - eine Skizze

44

Katja Vogt (New York): Die frühe stoische Theorie des Werts

61

Michael Erler (Würzburg): „ Et quatenus de commutatione terrenorum bonorum cum divinis agimus...Epikureische Diesseitigkeit und christliche Auferstehung bei Augustinus und Lorenzo Valla

78

Hermann-Josef Sieben (Frankfurt am Main): Patristische Annäherung an ,abwägende Vernunft'. Sittliches Urteil bei Origenes und Augustinus

91

DominicJ. O'Meara (Fribourg/Schweiz): Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia

110

XIV

Inhalt

Richard Heinzmann (München): Remoto libero arbitrio ab homine actus iustitiae Dei removetur. Zur Anthropologie des Raimundus Lullus

117

Ludger Honnef eider (Bonn): Wille oder Vernunft? Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus

135

Klaus Kremer (Trier): Das natürliche Gesetz (lex naturalis) in der Sicht des Thomas von Aquin und des Nikolaus von Kues

157

II. Teil: Abwägende Vernunft in der neuzeitlichen und gegenwärtigen Ethikdiskussion Norbert Brieskorn (MünchenJ.Abwägungen durch Legislative und Judikative in De legibus ac Deo Legislatore von Francisco Suärez 181 Andreas Trampota (München): Autonome Vernunft mit moralischer Sehkraft. Die Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem bei Immanuel K a n t . . . 203 Oliver Sensen (Cambridge): Kants Begriff der Menschenwürde

220

Josef Schmidt (München): Die Ambivalenz des Gewissens. Zu Hegels Fundierung der Moral in der Sittlichkeit 237 Otto Muck (InnsbruckJ.Reflexionen zum praktischen Hintergrund von Metaphysik. Hindernisse für das Verständnis des Bezugs von Wirklichkeit und Praxis, ens et bonum 259 Fran ςο is Marty (ParisJ.Paul Ricoeurs Weg zur Frage der Handlung. Die Bezeugung

277

Inhalt Edmund Runggaldier

XV

(Innsbruck):

Abwägende Vernunft im Kontext kausaler Handlungstheorien .. 287 Lorenz B. Puntel (München): Der Wahrheitsbegriff in der Ethik: Versuch einer Klärung

299

Jozef Bremer (Krakau): Wilfrid Sellars' Analyse der moralischen Urteile

329

Ludwig Siep (Münster): Vernunft und Tugend

344

Josef Schuster (Frankfurt am Main): Gefühle und ethische Tugenden

361

Anselm Winfried Müller (Trier): Was wird gewogen? Uber praktische Vernunft als System

381

Christian Schröer (Bamberg): Gerechtigkeit als Abwägungsproblem

402

Vicente Dur an Casas (Bogota): Ein dreifacher Vorrang in Bezug auf die Gerechtigkeit

426

Franz-Josef Bormann (Freiburg im Breisgau): Deontologische Ansprüche und die Grenzen der Abwägung in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls 450 Hans-Ludwig

Ollig (Frankfurt am Main):

Franz von Kutschera und das Problem der abwägenden Vernunft 471 Philipp Schmitz (Rom): Die sittliche Norm erschließt sich nur dem, der sensibel ist für die Gesamtheit der Wirklichkeit 486 Max Klopfer (München): Abwägende Vernunft als Grundthema der ethischen Bildung 501

XVI

Inhalt

Erich Schäfer (Frankfurt am Main): Zum Rollenkonflikt des Personalmanagers in alltäglichen moralisch prekären Situationen 514 Ulrich Niemann (Frankfurt am Main): Abgewogene nervenärztliche Handlungsmaximen? Das Prinzip bonum facere - nil nocere in der psychiatrischen Praxis 532 Wilhelm Vossenkuhl (München): Uber vermeintlich aussichtslose Fälle. Gedanken zur Sterbepraxis

550

III. Teil: Abwägende Vernunft im Kontext von Religion Gerd Haeffner (München): Die Rolle der Überlegung in der existenziellen Entscheidung. Ein philosophischer Blick auf die Wahlregeln des hl. Ignatius von Loyola 563 Maximilian Forschner (Erlangen): Religion und Aufklärung. Oder vom Kanon des Glaubens und vom Kanon der Vernunft 581 Andreas Koritensky (München): „Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung". Rationalität im Religionskonzept Ludwig Wittgensteins

604

Reiner Wimmer (Tübingen): Theodizee? Grenzen theologischen Abwägens, Erklärens, Rechtfertigens 621 Geo Siegwart (Greifswald): Gott und der gegenwärtige König von Frankreich. Uber Kennzeichnungen in der Theologie

637

Inhalt

XVII

Michael von Brück (München): Nicht-dualistisches Denken und seine Konsequenzen für die Ethik im Advaita Vedänta und im christlichen Gottesbegriff 659 Johannes Laube

(München):

Zur Handlungstheorie des Mahayana-Buddhismus Ostasiens — Rotraud Wielandt

692

(Bamberg):

Spielräume ethischer Entscheidungsfindung in der Sicht zeitgenössischer Islamisten Peter Neuner (München): Was heißt „Einheit der Kirche" und was dient ihr?

715 738

Richard Schaeffler (MünchenJ.Zeugnisse fremder Erfahrung und die Unvertretbarkeit der eigenen Lebensgeschichte - Versuch, einen neutestamentlichen Text mit den Augen des Philosophen zu lesen 762 Literaturverzeichnis

779

Namenverzeichnis

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1. Teil: Abwägende Vernunft in der antiken und mittelalterlichen Ethik

Moralische Entscheidungen in Homers Ilias DAVID G I L L Inwiefern1 lässt sich von den homerischen Helden behaupten, dass sie „moralisch verantwortliche Entscheidungen" treffen? Mehr als jedes andere Werk der frühen griechischen Literatur ist die Ilias strukturell an solchen Entscheidungen ausgerichtet, und nur wenige Zeugnisse vor Sokrates gehen im Hinblick auf die Interessen unseres Projekts über die Ilias hinaus. Ich beabsichtige daher, drei der aussagekräftigsten Passagen des Werkes unter Berücksichtigung der folgenden Fragestellungen zu untersuchen: Welche Güter sind involviert? Nach welchen Kriterien werden diese Güter jeweils abgewogen? Und welche Modelle der praktischen Rationalität kommen zur Anwendung? Meine grundlegende Folgerung wird sein, dass die homerischen Helden - in den ihnen eigenen Kategorien - erkennbar „moralische" Entscheidungen treffen, die erkennbar von „Verantwortlichkeit" zeugen. Des Weiteren zeigt sich, dass einige der Kategorien, die in späterer Zeit bei den Philosophen zutage treten, bereits im Epos antizipiert werden. Ob Letzteres im gewichtigen Einfluss der homerischen Epen auf die gesamte griechische Literatur der späteren Zeit begründet liegt oder auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass alle Griechen gewisse kulturelle Voraussetzungen teilten, muss offen bleiben. Beide Fälle zeigen, wie wir sehen werden, eine gewisse Tendenz, sich gegenseitig zu erhellen. Meinen Untersuchungen liegt folgende Textauswahl zugrunde: 1. die Entscheidung des Odysseus im 11. Buch der Ilias, standzuhalten und den Kampf gegen eine gewaltige Ubermacht aufzunehmen, 2. die Beweggründe Hektors im 22. Buch der Ilias, Achilles die Stirn zu bieten und damit dem beinahe sicheren Tod entgegenzusehen, und 3. der 1 Die Übersetzung des in englischer Sprache verfassten Beitrags wurde von Eike Schmidt (Bamberg) angefertigt und von Katja Vogt (New York) durchgesehen. Sämtliche Textbeispiele sind nach der deutschen Ubersetzung von Wolfgang Schadewaldt, 1975, Frankfurt: Insel Verlag, zitiert. Die eigenen Ubersetzungen des Verfassers ins Englische sind in den Fussnoten beigefügt.

4

David Gill

Dialog zwischen Achilleus und seinen Gefährten im 9. Buch der Ilias, der Achilleus schließlich dazu bewegt, trotz seines Zorns gegen Agamemnon nicht von Troja abzufahren, sondern zu warten, bis Hektor und die Troer an seinen Schiffen stehen. 2

1. Odysseus in Horn. Ii. 11, 401-413 Die Standardformel, mit der die Ilias den Prozess der Entscheidungsfindung beschreibt, findet sich im Selbstgespräch des Odysseus, das in den Entschluss mündet, standzuhalten und unter Lebensgefahr um seiner Ehre willen zu kämpfen. Allein gelassen war Odysseus, der speerberühmte, und keiner der Argeier harrte aus bei ihm, denn die F u r c h t hatte alle ergriffen. U n d aufgebracht sprach er zu seinem großherzigen Mute ( t h y m ö s ) : „ O mir, ich! Was wird mit mir? Ein großes Übel ( k a k ö n ) , wenn ich fliehe vor der Menge, in Furcht! D o c h schauriger ( r h i g i o n ) , wenn man mich fängt, allein; und die anderen Danaer scheuchte Kronion [sc. der Kronossohn]. Aber was redet ( d i a l e g o m a i ) mein M u t ( t h y m ö s ) mir da für Dinge? 2 Transliterierte griechische Begriffe sind kursiv gedruckt. Zum Ansatz im Allgemeinen sowie zu einer detaillierten Diskussion der einzelnen Texte vgl. Christopher Gill, 1996, Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy: The Self in Dialogue, Oxford, besonders die ersten beiden Kapitel, die mit „Making up Your Mind" respektive „Being a Hero" überschrieben sind. C. Gill legt m. E. überzeugend dar, dass die von Descartes und Kant beeinflussten Ansätze früherer Gelehrter-vor allem die Bruno Snells (1960, The Discovery of the Mind, New York) und Arthur Adkins' (1960, Merit and Responsibility: A Study of Greek Values, Oxford, und 1970, From the Many to the One: A Study of Personality and Views of Human Nature in the Context of Ancient Greek Society, Values, and Beliefs, Ithaca, NY) - der Erkenntnis echter „Moralität" im frühen griechischen Denken bisweilen hinderlich waren. Einen besseren Leitfaden findet er in den Arbeiten von Alysdair Maclntyre ( 2 1984, After Virtue: Α Study in Moral Theology, Notre Dame, IN) und Bernard Williams (1993, Shame and Necessity, Berkeley, CA), deren Ansatz die vorhandenen Zeugnisse anhand tugendethischer Erkenntnisse und der Vorstellung von der sozialen Verankerung moralischer Werte analysiert. C. Gill zeigt ebenfalls auf, inwiefern sich die für den Prozess der Entscheidungsfindung relevanten Zeugnisse bei Homer und thematisch verwandtes philosophisches Gedankengut der späteren Zeit gegenseitig erhellen. Wichtig sind auch die Ausführungen von Julia Annas (1993, The Morality of Happiness, Oxford) über selbst- und fremdgesteuerte Handlungsmotivationen im frühen ethischen Denken der Griechen. Zu guter Letzt bin ich Herrn Franz-Josef Bormann zu Dank verpflichtet, einerseits für sein freundliches Angebot, in diesem Band zu Ehren eines alten Freundes aus Sankt Georgener Tagen einen Beitrag leisten zu können, und andererseits für seine behutsamen Vorschläge, die zur Verbesserung früherer Entwürfe dieser Arbeit beigetragen haben.

Moralische Entscheidungen in H o m e r s Ilias

5

W e i ß ich d o c h , dass n u r Schlechte ( k a k o i ) aus d e m K a m p f e w e i c h e n . "Wer a b e r E r s t e r ist ( a r i s t e ü ö ) i n d e r S c h l a c h t , f ü r d e n ist es d u r c h a u s N o t , standzuhalten mit K r a f t , ob er getroffen w i r d oder einen anderen trifft." W ä h r e n d er dies e r w o g i m Sinn u n d in d e m M u t e ( t h y m o s ) , indessen k a m e n heran die R e i h e n d e r Troer, d e r schildtragenden, u m s t e l l t e n ihn rings u n d n a h m e n ihr eigenes U n h e i l in die Mitte.3

Odysseus hält also stand und bietet den Angreifern die Stirn, gleich einem „wilden Eber", der von Jägern und Meute umzingelt ist (//. 11, 414-20). Der Held ist ganz auf sich allein gestellt und sieht sich mit seinem möglichen Tod im Kampf gegen eine gewaltige Ubermacht konfrontiert (hervorgehoben durch die Worte „und keiner der Argeier harrte aus bei ihm, denn die Furcht hatte alle ergriffen" und die Wiederholung desselben Gedankens wenige Verse später: „und die anderen Danaer scheuchte der Kronossohn"). Er ist erregt und wägt seine Handlungsmöglichkeiten im Zwiegespräch mit seinem thymos ab. Die erste Möglichkeit, aus Angst die Flucht zu ergreifen, sieht er als schändlich (kakon) an nur Feiglinge {kakoi) würden so handeln. Die andere Möglichkeit, den heranstürmenden Troern allein die Stirn zu bieten und dabei sein Leben zu riskieren, birgt größeren Schrecken ( r h i g i o n ) ; doch nachdem er beide Möglichkeiten genannt hat, steht ihm die Entscheidung klar vor Augen: .Aber warum mich darüber mit meinem thymos bereden?' Diese Frage markiert den Moment der Entscheidung. Die Begründung folgt: Denn ich muss/soll (hier wird im Homerischen Griechisch kein Unterschied gemacht) wie ein tapferer Mann, nicht wie ein Feigling handeln, [auch wenn es mich das Leben kostet]. Die einander gegenüberstehenden „Güter" sind demnach (a) durch Flucht das eigene Leben zu retten und (b) ehrenvoll zu handeln, d. h. unerschrocken selbst gegen eine gewaltige Ubermacht zu kämpfen und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. Für Odysseus gibt es unter den gegebenen Umständen kein Zögern. Das Kriterium für die Entscheidung, 3 „Spear-famed O d y s s e u s w a s left alone, and none of the Argives remained beside him, since fear gripped them all. A n d , troubled, he spoke to his great-hearted spirit (thumos): , O h m y ! W h a t is to become of me? It is a great evil (kakori) if I flee in fear of their numbers. But it is m o r e frightening still (rigion) if I am caught alone. (The Son of K r o n o s has scared the other Danaans away.) But w h y does m y spirit (thumos) discuss (dialegomai) these things w i t h me? For I k n o w that cowards (kakoi) w i t h d r a w f r o m w a r ; but one w h o will be bravest (aristos) in battle must always make a strong stand, w h e t h e r he is struck o r himself strikes another.' W h i l e he was turning these things over in his mind and spirit (thumos), the ranks of the armored Trojans advanced against him." (Ubersetzung des Verfassers).

6

David Gill

die er trifft, ist das heroische Ideal, sich im Kampf „auszuzeichnen" (aristeuö), und dies ist der übliche Hergang - eine Art Regelfall-Abwägung, die unmittelbar in das Verlangen mündet, die betreffende Regel zu befolgen. Nach dem homerischen Modell der praktischen Rationalität sind Entscheidungen „das Ergebnis einer inneren Zwiesprache, die eine Bejahung oder Zustimmung einschließt, [ein Modell, das] von Piaton an das übliche ist." 4 . Die Handlungsweise ergibt sich folgerichtig aus der rationalen Überlegung und dem Schluss, dass dies erstrebenswert ist. Es ist demnach unnötig, eine Wendung wie „daher entscheide ich..." hinzuzufügen. Die Motivation ist bereits hinreichend erklärt.5 Die vorliegende Textpassage weist auf Piatons dreigeteilte Seele voraus, indem sie beschreibt, wie sich Odysseus mit seinem thymos über seine (irrationale) Angst bespricht (dialegomai). Nachdem er dadurch, dass seine Rationalität über seinen thymos siegt, zu einer Entscheidung gelangt ist, schließt sich auch der irrationale Teil seiner Persönlichkeit an, und er präsentiert sich gleich einem „wilden Eber". Ganz ähnlich heißt es auch bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: „Dann darf auch die Entscheidung iprohairesis) bestimmt werden als ein überlegtes Erstreben von etwas, das in unserer Macht steht, denn nachdem wir etwas hin und her überlegt haben [und es als gute Handungsweise beurteilt haben], treffen wir eine Wahl und streben dann entsprechend der (vorhergegangenen) Überlegung." „So ist auch die Willenswahl (prohairesis) ein überlegtes Begehren von etwas, was in unserer Macht steht. Denn insofern wir uns vorher aufgrund der Überlegung (ek toü bouleiisasthai) ein Urteil gebildet haben [dass man die betreffende Handlungsweise als gut erkannt hat], begehren wir mit [rationaler] Überlegung (kata bouleusin)."6 Zwar erwähnt Odysseus „Ehre" als Motiv nicht expresses verbis, doch ist dieses Konzept sicherlich in der Vorstellung des aristeüein enthalten. Von Seiten der Kommentatoren ist immer wieder hinterfragt worden, ob es sich dabei um ein „gutes" Motiv handelt bzw. ob dem nicht so ist, da es offenkundig von der Meinung anderer abhängig ist. Ergreift er die Flucht, so ist er in den Augen seiner Gefährten und sei4 C.Gill, 1996, S.47. 5 Vgl. C.Gill, 1996, S. 50 f. 6 EN 1113 a 10-12; vgl. auch Aristoteles, EN 1139 b4-5: „Daher ist das Fällen einer Entscheidung entweder ein strebendes Denken (orektikos noüs) oder denkendes Streben (örexis dianoetike), und in solchem Sinne Ursprung (arche) des Handelns ist der Mensch." (Ubersetzungen nach Dirlmeier: Aristoteles 2001, Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam, Anm. d. U.).

Moralische Entscheidungen in Homers Ilias

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ner Feinde entehrt. Ist dies tatsächlich der vollständige Gehalt der „Kultur der Schande" und ihres „heroischen Kodex"? Will sagen: Richtet sich Odysseus lediglich nach einer ihm von der Gesellschaft auferlegten Norm und handelt nicht als „autonomer" moralischer Handlungsträger ? Gewiss steht mehr dahinter: Die Bedeutung von „Ehre" - die Handlungen, zu denen Menschen sich im Namen der Ehre verpflichtet fühlen, sowie die jeweiligen Beweggründe - wird in den folgenden Texten schärfere Konturen gewinnen. Odysseus ist jedenfalls bereit, dafür zu sterben. In diesem Zusammenhang sei an Aristoteles EN 1115 a 30-6 und 1117 b8-17 erinnert; auch hier wird durch Tapferkeit im Krieg erworbene Ehre, obwohl sie von anderen abhängt, nur aufgrund „schöner" - d. h. an sich guter - Handlungen zugestanden.7 Ganz ähnlich äußert sich Aristoteles auch an anderer Stelle (EN 1115 b 12-14) über mutiges Handeln um des „Guten" (ίό kalon) willen, d. h. einfach deshalb, weil es edel ist, so zu handeln. Und es ist nicht weit entfernt von Kants Handeln „aus Pflicht" im Gegensatz zum Handeln „aus Neigung" nur ohne die „Autonomie" und den ausdrücklichen Anspruch auf universale Geltung.8

2. Hektor in Horn. I i 22, 98-130 Die Schilderung des von dem trojanischen Helden gefassten Entschlusses, Achilleus die Stirn zu bieten statt sich in den sicheren Schutz der Stadtmauern zu begeben, bedient sich im Grunde derselben formelhaften Sprache und desselben Modells der praktischen Rationalität. Die 7 T. Irwin, 2 1999, Aristotle: Nicbomachean Ethics, Indianapolis/Cambridge, S. 334. 8 In Horn. II. 17, 87-105 sieht sich Menelaos mit einer ähnlichen Situation konfrontiert; auch er wägt in derselben formelhaften Art und Weise seine Handlungsmöglichkeiten ab und kommt zu dem Schluss, dass seine Ehre es nicht erfordert, sich in der Person Hektors einem Gegner zu stellen, den er unmöglich besiegen kann. Seine Gefährten teilen diese Ansicht. Nemo tenetur ad impossibile (ebenso in Horn. IL 7,103-119). In Horn. IL 21,552-570 ist der Trojaner Agenor mit einer gefährlichen Situation konfrontiert; auch er wägt ab und entschließt sich zum Kampf, jedoch einzig aus dem Grund, weil er keine Möglichkeit zur Flucht sieht. Aus heroischer Sicht trifft er somit eine schlechte Entscheidung. Auch die Schilderung von Agamemnons Entscheidung bei Aischylos (Ag. 192-230) weist bei deutlich kunstvollerer Ausgestaltung dieselbe Struktur wie die homerische Formel auf (Gill, D., 1984, Two Decisions: Iliad 11, 401-22 and Agamemnon 192-230, in: Studies Presented to Sterling Dow, Durham, NC, S. 125-134, 128-134).

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Stelle verrät uns zudem mehr über die heroischen Vorstellungen von Ehre. Die Entscheidung selbst erfolgt, deutlicher als im Falle des Odysseus, auf der Grundlage eines verinnerlichten Schamgefühls (aidös); sie wird im Kontext der dem Helden auferlegten Beschränkungen getroffen, die durch die tragischen Umstände des Krieges, in den er ohne eigenes Verschulden geraten ist, geschaffen wurden. Während Achilleus heranrückt, wartet Hektor ,wie eine zusammengerollte Schlange': Und aufgebracht sprach er zu seinem großherzigen Mute ( t h y m o s ) : „O mir, ich! Wenn ich in Tore und Mauern tauche, wird Polydamas mich als erster mit Schimpf beladen, er, der mich mahnte, die Troer zur Stadt zu führen in dieser verderblichen Nacht, als sich erhob der göttliche Achilleus. Aber ich bin nicht gefolgt - freilich, es wäre viel besser (kerdion) gewesen! Jetzt aber, da ich das Volk verdarb durch meine Vermessenheit, schäme ich mich ( a i d e o m a i ) vor den Troern und schleppgewandeten Troerfrauen, dass nicht ein anderer einst sage, ein schlechterer (kaköteros) als ich: ,Hektor vertraute auf seine Gewalt und richtete das Volk zugrunde!' So werden sie sprechen. Doch dann wäre mir viel besser (kerdion), entweder Mann gegen Mann den Achilleus zu töten und wiederzukehren, oder von ihm mit gutem Ruhm ( e y k l e i ö s ) vor der Stadt bezwungen zu werden. Wenn ich nun aber den Schild, den gebuckelten, zu Boden legte und den schweren Helm, und den Speer an die Mauer lehnte und selbst ginge und Achilleus, dem untadeligen, entgegen käme und ihm verspräche, die Helena und mit ihr die Güter allesamt, so viele Alexandras in den hohlen Schiffen nach Troja hat mitgeführt - das war der Anfang des Streites! den Atriden zu geben, sie mitzuführen, und überdies den Achaiern noch anderes zuzuteilen, soviel diese Stadt enthält; [...]. Aber was redet ( d i a l e g o m a i ) mein Mut ( t h y m o s ) mir da für Dinge? Nicht, dass ich ihn schutzflehend angehe, er aber erbarm sich nicht meiner und scheut mich nicht (aideomai) und tötet mich, den Entblößten, nur so, wie ein Weib, weil ich aus den Waffen tauchte. [...]. Besser ( b e l t e r o n ) vielmehr, im Streit aufeinanderzustoßen auf das Schnellste! Sehen wir denn, wem von beiden der Olympier wird Ruhm verleihen!"9 9 „Troubled, he spoke to his great-hearted spirit (thumos): , O h m y ! If I go inside the gates and the walls, Polydamas will be the first to reproach me. It was he w h o urged me to lead the Trojans into the city on that terrible night when Achilles rose up. I did not listen to him. It would have been much better (kerdion: more profitable) if I had. N o w that I have lost m y men through my o w n folly, I am ashamed (aidös) to face the Trojans men and the women with their trailing robes, lest some lesser man (more ka-

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Achilleus rückt heran, doch statt ihm die Stirn zu bieten, gerät Hektor in Furcht und ergreift die Flucht, ,gleich einer ängstlichen Taube', die von einem Falken verfolgt wird {Ii. 22,131-144). Er ist außerstande, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen: Zu groß ist seine Furcht, und auch er wird mit einem treffenden Bild aus dem Tierreich belegt. Hektor wägt drei mögliche Handlungsweisen ab: (1) sich hinter die Stadtmauern zurückzuziehen und - zumindest für den Augenblick sein Leben zu retten, (2) gegen Achilleus zu kämpfen und dabei entweder zu siegen oder ein ehrenvolles Ende zu finden, oder (3) den Versuch, eine Ubereinkunft auszuhandeln. Die erste Möglichkeit weist er zurück, denn er schämt sich einer früheren Fehleinschätzung wegen und erträgt es nicht, vor die Troer zu treten - und das seiner Auffassung nach zu Recht. Sein Schamgefühl (aidös) beruht auf der Tatsache, dass er sich selbst die Schuld dafür gibt, den Rat des Polydamas (IL 12, 211-229) nicht befolgt und damit den Tod vieler Trojaner verursacht zu haben. Man wird ihn zu Recht kritisieren: „Er hat die Reaktionsweisen verinnerlicht, die für ein moralisch ausgezeichnetes Leben bei Homer zentral sind." 10 Er gesteht sich selbst ein, bei der Erfüllung seiner Pflicht versagt zu haben und daher „Inhaber" der Schuld zu sein. Daraus schließt er, dass er sich selbst „moralisch" nicht zu schützen vermag. Er unterscheidet nicht zwischen einem Irrtum und einer Verfehlung. Die homerischen Helden müssen die Verantwortung für beides auf sich nehmen. Es geht also nicht bloß um die Frage, „wie andere darüber denken werden". Hektor trifft - ebenso wie Odysseus - letztlich die Entscheidung, ehrenhaft zu kämpfen, und nimmt damit das Risiko in Kauf, getötet zu werden. Unterdessen zieht er allerdings eine dritte Möglichkeit in Betracht, nämlich mit Achilleus zu verhandeln. Diese Option verwirft er jedoch als nicht durchführbar. Weshalb also führt Homer diese Wendung ein? Eine Wirkung ist nach meinem Dafürhalten jedenfalls die kos) than I might say: .Hektor trusted in his might and lost his men.' That is what they will say. A n d then it would be better (kerdion) f o r me either to meet Achilles, kill him, and then return, or to die gloriously (eiikleiös) at his hands before the city. But if I lay down my shield and go [...] and approach Achilles and promise to give back Helen and all the possessions which Alexander brought to Troy and which were the cause of all the strife [...]. But w h y does my spirit (thumos) discuss (dialegomai) these things with me? If I go to meet him, he will not pity or respect me (aidös). He will kill me [...]. Better (belteron) to get on with the fight as soon as possible. We shall see which of us the Olympian will let boast of victory.'" (Ubers, d. Vf.). 10 C . G i l l , 1996, S.83.

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Anreicherung der „moralischen Struktur" sowohl der Passage als auch des Helden. Die Erwähnung von Helena und Paris erinnert den Leser daran, dass Hektor ohne eigenes Verschulden in diese schwierige Situation geraten ist und dass es für ihn in Anbetracht seiner Werte keinen wirklichen Ausweg gibt. Gleichwohl akzeptiert er die Konsequenzen seines geradezu tragischen Unglücks. Es steht ihm frei abzuwägen, jedoch nur im Rahmen eines Kontexts, den er selbst nicht geschaffen hat und innerhalb dessen seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Sein Akzeptieren ist Teil dessen, was Hektor ausmacht.11

3. Erwägung und Entscheidung des Achilleus im 9. Buch der Ilias Die von Achilleus getroffenen Entscheidungen stehen im Mittelpunkt der Erzählung und weisen einen komplexeren Charakter auf als die der anderen Helden. Er trifft fünf zentrale Entscheidungen: (1) Agamemnon nicht zu töten, sondern ihn dadurch abzustrafen, dass er selbst aus dem Kriegsgeschehen ausscheidet (1. Buch); (2) nicht abzufahren, sondern vor Troja zu bleiben (9. Buch); (3) seine Rüstung dem Patroklos zu leihen (16. Buch); (4) nach dem Tod des Patroklos gegen Hektor zu kämpfen und daraufhin selbst dem Tod ins Auge zu sehen (18. Buch); und schließlich (5) Hektors Leichnam dessen trauerndem Vater zu übergeben (24. Buch). Die langwierige Diskussion und die allmähliche Änderung von Achilleus' Haltung im 9. Buch stellen das vollständigste Beispiel einer Abwägung in der Ilias dar. In diesem Fall ist der Prozess der Abwägung nicht als innerer Dialog, sondern als Unterhaltung mit seinen Gefährten gestaltet. Infolge der Abwesenheit ihres Vorkämpfers befindet sich das griechische Heer in einer überaus misslichen Lage. Agamemnon gesteht seinen Fehler ein und schickt Gesandte zu Achilleus, die ihn mit der Aussicht auf reiche Geschenke zur Rückkehr in den Kampf bewegen sollen. Die ausgedehnte Unterhaltung zwischen Achilleus und dreien seiner Gefährten nimmt weite Teile des 9. Buchs in Anspruch. In diesem Gespräch werden die Gründe abgewogen, die für oder gegen ein 11 Im sechsten Buch der Ilias versucht Hektors Frau Andromache diesen zu überreden, statt den Kampf den Schutz der Stadtmauern zu suchen. In seiner Entgegnung (II. 6 , 4 4 1 - 4 4 9 ) greift er auf Argumente zurück, die denen in der soeben diskutierten Passage ganz ähnlich sind.

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erneutes Eingreifen ins Kampfgeschehen sprechen. Dabei kommen die meisten Güter heroischer Ethik ins Spiel. Zu guter Letzt lässt sich Achilleus - wenn auch nur bedingungsweise - überreden, seinen ursprünglichen Entschluss, Troja zu verlassen und in seine Heimat Phthia zurückzukehren, umzustoßen. Als erster spricht Odysseus (Ii. 9,225-306). Er appelliert an Achilleus' Sorge um seine griechischen Mitstreiter, die ohne seine Hilfe verloren sind (Ii. 9,225-251); darüber hinaus ruft er ihm den Rat seines Vaters Peleus ins Gedächtnis, übermäßigen Zorn zu meiden und sich so mehr Ehre zu erwerben (Ii. 9,252-259); er führt ihm das Angebot Agamemnons vor Augen, ihn großzügig für die erlittene Kränkung zu entschädigen (IL 9,259-299) und heißt ihn schließlich, sich seiner griechischen Mitstreiter zu erbarmen, die ihn „wie einen Gott" ehren werden, falls er ihnen zu helfen bereit ist (Ii.9, 300-306). Demnach liegen folgende Beweggründe vor: Loyalität gegenüber den Gefährten, Achtung vor dem Vater, die sich in Ehre auszahlen wird, materielle Güter in unvorstellbar großer Zahl (jedoch keine persönliche Entschuldigung von Seiten Agamemnons), und Mitleid mit seinen Kameraden - was ihm ebenfalls Ehre einbringen wird. Einerseits appelliert Odysseus an Tugenden wie Loyalität, pietas und Mitleid gegenüber seinen Gefährten; gleichwohl versäumt er nicht festzustellen, dass Achilleus von diesen Tugenden auch persönlich profitieren wird, indem er für sich Lohn wie Reichtum, Ruhm und Ehre erwirbt. Es ist nötig, die Tugend der Hilfsbereitschaft als für beide Seiten förderlich zu erweisen - sowohl für den, der hilft, (also für mich) als auch für den, dem geholfen wird (also für den anderen). Dieser Grundsatz bleibt auch in der weiteren Tradition erhalten.12 Noch ignoriert Achilleus den an sein Mitleid und seine Loyalität gerichteten Appell (Ii. 9,307-429). Stattdessen richtet er seinen Blick auf das Angebot einer reichen Entlohnung, jedoch nur um diese zurückzuweisen. Kein noch so großer Reichtum, so sagt er, könne die von Agamemnon erlittene Kränkung aufwiegen. Warum sollte er kämpfen, wo doch der Mutige und der Feigling denselben Lohn davontragen? Lieber also ein langes und friedliches Leben ohne Ruhm und Ehre als 12 Vgl. etwa die Reden bei Thukydides: Dort gilt oft dasjenige Argument, welches sowohl gerecht als auch zweckdienlich ist, als das gewichtigste. Auch die von Sokrates in Piatons Kriton vorgebrachten Argumente, mit denen er gegen den Wunsch nach Vergeltung für erlittenes Unrecht angeht, gehen letztlich auf diese Überlegung - d. h. Was ist g u t / » r mich? - zurück (D. Gill, 1991, Socrates and Jesus on Non-Retaliation and Love of Enemies, in: Horizons, 18, S. 246-262, 247-250).

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ein Leben im Kampf unter diesen Bedingungen. Achilleus kündigt an, am nächsten Tag in seine Heimat abzufahren. Er reagiert nicht auf diese Appelle, die ihn zur Loyalität und Solidarität gegenüber seinen Kameraden und zur Achtung der Ratschläge seines Vaters aufrufen, da sein Zorn noch zu groß ist und die Kränkung noch zu tief sitzt. Die Interpreten sind über das, was hier tatsächlich geschieht, geteilter Meinung. Hat Achilleus den heroischen Kodex gänzlich verworfen? Strebt er nach einer neuen, höheren, individuelleren und verinnerlichten Ethik? 13 Oder hat er nunmehr anstelle von Agamemnon sich selbst ins Unrecht gesetzt? 14 Beide Deutungen erscheinen mir nicht überzeugend. Der Argumentation Christopher Gills zufolge - und dem würde ich mich anschließen - hat Agamemnon die Spielregeln des gegenseitigen Respekts derart gründlich verletzt, dass keine Möglichkeit mehr besteht, das Verhältnis zwischen ihm und Achilleus wiederherzustellen. 15 Im herkömmlichen heroischen Kontext von gegenseitigem Wohlwollen und Gerechtigkeit macht es Sinn, sein Leben im Rahmen einer gemeinsamen Unternehmung zu riskieren. Dabei handelt es sich um eine von der Vernunft getragene Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg. Doch Agamemnon hat dieses Verhältnis unwiederbringlich zerstört; somit hat der besagte Kontext aufgehört zu existieren. So gesehen erfolgt die Argumentation des Achilleus immer noch im Rahmen des auf Gegenseitigkeit beruhenden heroischen Kodex, und sein Zorn auf Agamemnon ist weiterhin gerechtfertigt. Doch wie verhält es sich mit der Loyalität seinen Freunden und Kameraden gegenüber? Als nächster ergreift Phoinix, ein alter Freund der Familie und Mentor des Achilleus, das Wort (Ii. 9,432-605). Er beruft sich zunächst auf ihr persönliches Verhältnis, d. h. auf Loyalität und Familie (Ii. 9,434-495), dann auf die Vorstellung, dass die Götter denjenigen vergeben, die zu ihnen beten, und diejenigen Menschen bestrafen, die nicht bereit sind, einander in derselben Weise zu vergeben (Ii. 9,496-514); er weist auch auf die Angemessenheit der von Agamemnon angebotenen Geschenke hin (Ii. 9,515-519) sowie auf den Umstand, dass gerade seine engsten Freunde unter den Griechen diese Bitten an ihn herantragen, also auf Freundschaft und Loyalität (Ii. 9,520-523), 13 Vgl. C . Whitman, 1958, Homer and the Heroic Tradition, Cambridge, M A , S. 193, und A. Parry, 1956, The Language of Achilles, in: Transactions of the American Philological Association, 87, S. 1-7, 5 - 6 . 14 Vgl. Hugh Lloyd-Jones, 1971, The Justice of Zeus, Berkeley, C A , S. 18-27, und Μ. I. Finley, 2 1977, The World of Odysseus, London, S. 136f. 15 C . G i l l , 1996, S. 1 2 4 - 1 5 3 .

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und schlussendlich in aller Ausführlichkeit auf den Präzedenzfall des Meleagros, der aus Zorn dem Kampf fernblieb und schließlich weder Lohn noch Ehre erntete, weil er sich zu spät besonnen hatte. Beides hätte ihm zuteil werden können, wäre er früher in den Kampf zurückgekehrt (Ii. 9,524-605). Diesmal beachtet Achilleus die Frage nach den Geschenken nicht, sondern greift stattdessen das Thema Freundschaft auf; daraus wird klar, dass Phoinix in diesem Punkt zu ihm durchgedrungen ist (Ii. 9,607-619): V e r s t ö r e m i r n i c h t d e n M u t (thymös)

mit Wehklagen und Betrübnis,

d e m A t r i d e n , d e m H e r o s , G u n s t e r w e i s e n d . N i c h t sollst d u i h m F r e u n d (philos) Schön

(kalon)

(612-61516)

sein! D a s s d u n i c h t m i r v e r h a s s t w i r s t , d e r i c h d i r F r e u n d bin. ist es dir, m i t m i r d e n z u k r ä n k e n ,

der mich

kränkt!

Diese letzte Aussage entspricht der Forderung des heroischen Kodex: Leiste deinen (und meinen) Freunden Hilfe und füge deinen (und meinen) Feinden Schaden zu! (Diese Definition von Gerechtigkeit legt Piaton im ersten Buch der Politeia noch dem Polemarchos in den Mund.) Ein enger Freund und Mentor scheint diesen Grundsatz zu verletzen, und dieser Umstand verwirrt Achilleus. Beleg dafür ist, dass er seine Haltung von der ausschließlichen Beschäftigung mit Agamemnon und dem Entschluss, am nächsten Tag die Heimreise anzutreten, zu folgender Aussage hin ändert (Ii. 9,617-619): „Du aber bleibe hier, und lege dich nieder auf weichem Lager. Doch mit dem erscheinenden Frühlicht wollen wir bedenken, ob wir heimkehren in unser Land oder bleiben." 1 7 Dieser Appell an Freundschaft und Loyalität verfehlt seine Wirkung auf Achilleus nicht. Der letzte Sprecher ist der forsche und ungehobelte Aias, der sich im Hinblick auf sein kriegerisches Können lediglich Achilleus geschlagen geben muss (Ii. 9,624-642); anders als Odysseus und Phoinix, die beide .älter und weiser' sind, spricht er zu ihm als Gleichgestellter. Zunächst gibt er vor, Achilleus zu ignorieren - gleich als ob dieser nicht länger der Gemeinschaft der Krieger angehörte - und redet Odysseus an: Bei diesem Mann ist alle Hoffnung verloren, sagt er. Wir wollen ihn 16 „ D o not confuse my spirit (thumos) with all this sorrow for Agamemnon's sake. You must not be his friend (philos). If you are, you will make yourself an enemy to me who am your friend. The noble thing (kalon) for you to do is to join me in hurting anyone who hurts me." (Ubers, d. Vf.). 17 „You [Phoenix] stay here for the night and at dawn we shall decide whether to return home or to stay here." (Übers, d. Vf.).

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aufgeben und ihn allein lassen. „Er kehrt sich nicht an die Freundschaft der Gefährten, mit der wir ihn ehrten bei den Schiffen ausnehmend vor anderen. Der Erbarmungslose!" (Ii. 9,630-632).18 Daraufhin wendet sich Aias Achilleus zu und führt als Beispiel an, dass schon mancher das Blutgeld für den Mord an einem Bruder oder Sohn angenommen hat und seinen Zorn fahren ließ. Der Fall des Achilleus, fährt er fort, wiegt weniger schwer und die angebotene Entschädigung ist deutlich höher (Ii. 9,632-639). Schließlich kommt er auf das Thema der (Gastfreundschaft zurück (Ii. 9,640-642): „Und scheue (aideomai) das Haus! Denn unter dein Dach sind wir gekommen aus der Menge der Danaer, und wir meinten, weit vor den anderen dir die nächsten zu sein und liebsten von den Achaiern allen."19 Achilleus ist von den Worten und dem Auftreten des Aias gerührt. Er gesteht zwar ein, dass sein Gefährte Recht hat (Ii. 9,644 f.), doch kann er seinen Zorn darüber, dass Agamemnon ihn wie „irgendeinen ehrlosen Zugewanderten" (Ii. 9,648) kränkte, immer noch nicht fahren lassen. Dennoch ändert er seine Haltung ein weiteres Mal: Er will nun vor Troja bleiben, jedoch nicht in den Kampf eingreifen, bis Hektor und die Troer an seinen Schiffen stehen (Ii. 9,649-655). D. h. er sieht die Vernunft in Aias' Worten durchaus ein, doch erlauben ihm seine Emotionen, dessen Anliegen nur bis zu einem bestimmten Punkt zu entsprechen. Er wird seiner Pflicht genügen, sich seinen eigenen Truppen gegenüber loyal zu zeigen, nicht aber im Hinblick auf das gesamte Heer. Dies wird als ein Fall dessen angesehen, was Aristoteles später akrasia nannte: fehlgeleitete, irrationale Emotionen, die mit richtigem und vernünftigem Denken in Konflikt stehen und schließlich die Oberhand gewinnen. Ich gehe mit Christopher Gill20 darin konform, dass es überzeugender ist, diesen Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen berechtigten Ansprüchen sowohl der Rationalität als auch der Emotionalität anzusehen. Es geht um die Frage, „welche auf Uberzeugungen beruhenden Emotionen und Wünsche [gerechter Zorn gegen Agamemnon oder die Liebe zu seinen Freunden] als vernünftig (d. h. getragen von besseren Gründen) anzusehen sind."21 Ebenso wie die 18 „He does not care about the friendship of his companions, who have honored him with it above all others by the ships. H e has no pity." (Übers, d. Vf.). 19 „Show respect {aidös) for your own house. Here we are under your roof [...] we who, more than any of the other Achaeans, long to be your dearest friends." (Ubers, d. Vf.). 20 C . G i l l 1996, S. 190-204. 21 C . G i l l 1996, S. 204.

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orge bei Aristoteles ist auch Achilleus' Zorn gerechtfertigt; für seinen gegenwärtigen Gemütszustand lassen sich triftige Gründe anführen. In Rhet. 1378 b 29-34 zitiert Aristoteles diesen Textabschnitt sogar als Beispiel für berechtigten Zorn wider die hybris. Der ethische Konflikt besteht zwischen dem „rationalen" Zorn über die durch Agamemnon erfahrene Kränkung und den gleichfalls „rationalen" Forderungen, die Loyalität und Freundschaft an ihn stellen. Die Unfähigkeit des Achilleus, diesen Konflikt zu lösen, führt zu dem schlussendlich fatalen Kompromiss - vor Troja zu bleiben, aber so lange nicht ins Kampfgeschehen einzugreifen, bis Hektor zu seinen Schiffen gelangt.

4. Einige Schlüsse Im Falle des Odysseus (1.) ist der Held mit der Entscheidung konfrontiert, entweder zu kämpfen (und dabei zwar möglicherweise das Leben zu verlieren - dafür aber Ruhm und Ehre zu erwerben) oder sich zurückzuziehen (und dabei mit Sicherheit in den Augen derer in Ungnade zu fallen, deren Meinung er am meisten schätzt - Freund und Feind gleichermaßen). Die alternativen „Güter" treten ihm in Form eines inneren Dialogs mit seinem thymös vor Augen. Er wägt diese „Güter" ab und entscheidet sich für eines von ihnen. Daraufhin gibt er seine Gründe, sein Entscheidungskriterium an. Odysseus hat sich offenkundig für eine Lebenseinstellung entschieden, deren Inhalt es ist, stets wie die Tapfersten der Tapferen zu handeln (aristeuein). Daher gilt für ihn die Regel, niemals vor einer Gefahr im Kampf zu fliehen. Diese Regel ist auf den vorliegenden Fall anwendbar; denn dies erfordert seine Ehre. Er muss daher notwendigerweise kämpfen. Nachdem er zu dieser Entscheidung gelangt ist, fügt sich auch seine emotionale Seite. Das Streben (nach der fraglichen Handlung) folgt unmittelbar auf die Abwägung ohne die explizite Erwähnung eines Zwischenglieds wie „daher entscheide ich". Hektors Lage (2.) stellt sich moralisch deutlich komplexer dar, doch auch er folgt demselben Modell der praktischen Rationalität, d. h. es findet ein innerer Dialog über mögliche Handlungsweisen statt, auf den die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten sowie die Begründung der jeweiligen Entscheidung folgen. Auch in diesem Fall ist das Motiv einmal mehr „Schande", doch deutlicher als bei Odysseus handelt es sich um ein „verinnerlichtes Schamgefühl", das mehr einer „Schuld" gleicht. Hektor „besitzt" den Fehltritt/Irrtum, der so vielen

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Trojanern das Leben kostete, und erträgt es folglich nicht, seinen Landsleuten unter die Augen zu treten, wenn er jetzt danach trachtet, seine eigene Haut zu retten. Dafür werden sie ihm - seiner Meinung zu Recht - Verachtung entgegenbringen. Die dritte Möglichkeit, die ihn der Dichter abwägen und schließlich verwerfen lässt - nämlich das Kriegsende durch Verhandlungen herbeizuführen - , spielt auf die Tatsache an, dass Hektors Entscheidungsfreiheit von äußeren Umständen eingeschränkt wird, an denen er gänzlich unschuldig ist. Gleichwohl fühlt er sich gehalten, unter den gegebenen Rahmenbedingungen seiner Verantwortung als wichtigster Verteidiger seines Vaterlands gerecht zu werden. Im ersten Buch der Ilias entschließt sich Achilleus (3.), von einer Tötung Agamemnons abzusehen; stattdessen will er dem Kampf fernbleiben und von Zeus Ehre erlangen. Er hat also um seiner persönlichen Ehre willen die Rache an Agamemnon der Verpflichtung, seine Gefährten im Krieg zu unterstützen, vorgezogen, und dies hat vielen Griechen das Leben gekostet. Mag sein Zorn auch gerechtfertigt sein, so ist er ihnen gleichwohl zur Hilfe verpflichtet. In der Unterhaltung mit seinen Freunden (9. Buch) wägt er diese beiden Verhaltensweisen gegeneinander ab; im Verlauf des Gesprächs bewegen ihn die Pflichten der Loyalität allmählich dazu, einen Kompromiss zu schließen; er will zwar bleiben, allerdings so lange nicht ins Kampfgeschehen eingreifen, bis die Gefahr auch seine Schiffe erreicht hat. Dieses Modell eines allmählichen Umdenkens im Rahmen eines moralischen Konflikts gleicht einer Waagschale, die einseitig mit immer mehr Argumenten beladen wird, bis diese Seite schließlich den Ausschlag gibt. Ein weiterer Kompromiss (16. Buch), den Achilleus auf Bitten seines engsten Freundes Patroklos (im Namen aller Griechen) eingeht, führt zum Tod des Patroklos und der nunmehr unvermeidlichen Entscheidung, Rache zu nehmen und somit letztlich ebenfalls den Tod zu finden. Ebenso wie Hektor „besitzt" Achilleus diese Verfehlung, diesen Irrtum und akzeptiert die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Konstruktion eines derart komplexen moralischen Dilemmas mitsamt den tragischen Konsequenzen, die sich aus der Unfähigkeit des Helden, dieses Dilemma aufzulösen, ergeben, ist als geniale Leistung Homers anzusehen.

Klugheit als reflektierende Urteilskraft. Aristoteles' Nikomachische Ethik und Piatons Menon K L A U S JACOBI 1.

„Kannst du mir sagen, Sokrates, ob man Tüchtigkeit und Tugend lehren kann? Oder kann man sie nicht lehren, sondern nur einüben? Oder kann man sie weder üben noch erlernen, sondern die Menschen erhalten sie nur von der Natur oder auf eine noch andere Weise?"1

Mit dieser Frage, die Menon an Sokrates stellt, beginnt Piatons Dialog Menon. Der Beginn ist, verglichen mit anderen platonischen Dialogen, unvermittelt. Es wird keine Szene vorbereitet, und Menon wird nicht vorgestellt. Erst allmählich im Verlauf des Dialogs wird einiges über ihn mitgeteilt. Er kommt aus Thessalien,2 und er beruft sich auf Gorgias als Lehrer.3 So, wie er seine Frage stellt, kann man sich vorstellen, dass er Meinungen von Personen, die er für kompetent hält, sammelt. Wie werden Menschen zu tüchtigen, tugendhaften 4 Menschen? Die Alternativen sind vorgegeben; Menon setzt bei seiner Frage voraus, dass der Gefragte sich für eine von ihnen entscheidet. Piatons Sokrates aber denkt nicht daran, auf dieses Angebot einzugehen. Ironisch gibt er zurück, in Thessalien sei wohl, vielleicht durch den Einfluss des Gorgias, die Weisheit eingekehrt, dass man meine, auf 1 Piaton, Menon, 70 a 1 - 4 . Übersetzung v o n R. Merkelbach (1988, Piatons Menon, hrsg., übers, u. nach Inh. erkl. v o n R. Merkelbach, F r a n k f u r t a. M.). Ich übernehme im Folgenden meistens diese Ubersetzung. W e n n ich jedoch gelegentlich v o n ihr abweiche, zeige ich dies nicht eigens an. 2 Piaton, Menon, 70 a 5 - b 5. 3 Piaton, Menon, 70 b 2 - 3 ; 71 c 5 . 4 „ .Tüchtigkeit' und .Tugend' (und .Erfolg'), im Griechischen ein W o r t . W o immer im Folgenden .Tugend' übersetzt ist, denke man .Tüchtigkeit' hinzu. W i r fassen .Tugend' auf als Vermeidung v o n Sünde, der Grieche v o r Piaton als eine Fähigkeit, die z u m Erfolg f ü h r t " (R. Merkelbach, 1988, A n m . 1, S. 14).

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eine solche Frage geradewegs antworten zu können. In Athen, in der Umgebung des Sokrates jedoch werde dem Menon von jedem Gefragten mit Lachen entgegnet werden: „Verehrter Gast, anscheinend meinst du, ich sei eine Art Übermensch, so dass ich wüsste, ob Tüchtigkeit und Tugend lehrbar ist oder auf welche Weise man sie erhält; aber bei mir fehlt es so weit daran, zu wissen, ob die Tugend lehrbar ist oder nicht, dass ich nicht einmal ein Wissen darüber habe, was denn die Tugend überhaupt ist." 5

Und Sokrates macht diese Entgegnung zu seiner eigenen: „Aber wie könnte ich über etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist, wissen, von welcher Art es ist und welche Eigenschaften es hat?" 6

Dem Menon kommt Sokrates' Rückfrage trivial vor.7 Er muss aber erfahren, dass Sokrates mit der Frage ,Was ist X ? ' eine Definition fordert. Diese zu geben ist Menon nicht imstande. Nach langen erfolglosen Versuchen greift Menon die Weise, wie Sokrates das Gespräch geführt hat, an.8 Er nimmt seine Zuflucht zu der These, das, was Sokrates verlange, sei grundsätzlich nicht erfüllbar: „Aber Sokrates, auf welche Weise willst du denn etwas suchen, von dem du überhaupt nicht weißt, was es ist?" 9 Die Untersuchung scheint gescheitert. Das Gespräch ist am toten Punkt. Menons Frage, wie die Menschen zur Tugend gelangen, setzt das Wissen, was das denn ist, das erworben werden soll, voraus. Dem Sokrates wird vorgeworfen, dass er zwar imstande sei, Definitionsversuche zu kritisieren, dass aber sein Definitionsverlangen pragmatisch widersprüchlich sei. U m die Untersuchung fortsetzen zu können, muss Sokrates eine Theorie des Untersuchens von Was-ist-X-Fragen erarbeiten. Er tut dies durch den Mythos von der Wiedererinnerung und durch die Demonstration der Untersuchung einer geometrischen Frage mit einem Jungen, der von Geometrie nichts weiß. U m dem „streitsüchtigen Satz" 1 0 des Menon zu begegnen, wird an einer allgemeinen Theorie des Vorwissens gearbeitet.

5 Piaton, Menon, 71 a3-7. 6 Piaton, Menon, 71 b 3 - 4 . 7 Piaton, Menon, 71 b 9 - e 1. 8 Piaton, Menon, 79 e 7 - 8 0 b 7. 9 Piaton, Menon, 80 d 5 - 6 . 10 Piaton, Menon, 80 e2.

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2. „Die Tüchtigkeit 11 ist also zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes (dianoetische) und Vorzüge des Charakters {ethische).12 Die ersteren nun gewinnen Ursprung und Wachstum vorwiegend durch Lehre, weshalb sie Erfahrung und Zeit brauchen, die letzteren sind das Ergebnis von Gewöhnung. Daher auch der Name (ethisch, von ethos), der sich mit einer leichten Variante von dem Begriff der Gewöhnung {ethos) herleitet. Somit ist auch klar, daß keiner der Charaktervorzüge uns von Natur zuteil wird. 13 Denn kein Naturding lässt sich in seiner Art umgewöhnen." 1 4 O h n e U m s t ä n d e e n t s c h e i d e t A r i s t o t e l e s die F r a g e , die , M e n o n ' d e m . S o k r a t e s ' 1 5 gestellt hatte. E r t u t dies, i n d e m er u n t e r s c h e i d e t . D i e T h e s e v o n d e r L e h r b a r k e i t d e r T u g e n d gilt für die T ü c h t i g k e i t e n des V e r s t a n des. D i e T h e s e , dass T u g e n d n u r eingeübt w e r d e n kann, b e g e g n e t bei A r i s t o t e l e s in F o r m d e r T h e s e , T u g e n d entstehe d u r c h G e w ö h n u n g ; diese T h e s e gilt für die sittlichen T ü c h t i g k e i t e n . D i e A l t e r n a t i v e , die T ü c h t i g k e i t entstehe v o n N a t u r , w i r d für die sittlichen T ü c h t i g k e i t e n ausgeschlossen. D i e B e g r ü n d u n g ist, dass m i t der A u s k u n f t , e n t s t e h t v o n N a t u r ' die g e r a d e g e g e b e n e A n t w o r t . e n t s t e h t d u r c h G e w ö h n u n g ' unverträglich wäre.

11 Dirlmeier, 101999 (Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers, u. komm. v. Fr. Dirlmeier; Aristoteles, Werke in deutscher Ubersetzung, begründet von E. Grumach, hrsg. v. H. Flashar, Bd. 6; Berlin) übersetzt so das griechische Wort ,arete', das Merkelbach in der Übersetzung des „Menon" durch .Tüchtigkeit und Tugend' übersetzt hat. Andere Ubersetzer wählen .Tugend'. In der von J. O. Urmson revidierten englischen Ubersetzung von W.D. Ross steht .excellence' (1984, The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation, ed by J. Barnes, Vol. Two, Princeton University Press, p. 1742). 12 Wo Dirlmeier ( 10 1999) .Vorzüge' schreibt, steht im Griechischen kein neues Wort; die Unterscheidung ist auf das Wort ,arete' zurückbezogen. E. Rolfes übersetzt .Verstandestugend' und .sittliche Tugend' (Aristoteles, 1972, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von E. Rolfes hrsg. v. G. Bien, Bd. 5, Hamburg: Meiner). 13 Ich folge hier der Übersetzung von Rolfes. Dirlmeier legt durch das interpretierende „von Natur eingeboren ist" nahe, dass Aristoteles zwischen Sein von Natur und Werden durch Gewöhnung unterscheidet. Dies aber ist nicht der Fall. 14 Aristoteles, Nikomachische Ethik (EN), II 1, 1103 a 14-20. 15 Ich setze die Namen in Anführungszeichen, um gegenwärtig zu halten, dass von den Dialogfiguren die Rede ist.

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3. Aristoteles kennt den Dialog Menon. In den Zweiten Analytiken erwähnt er Menons eristisch gestelltes Problem,16 in den Ersten Analytiken das Argument von der Wiedererinnerung, mit dem Sokrates das gestellte Problem lösen will,17 beide Male mit ausdrücklicher Bezugnahme auf den Menon. Demnach kann man annehmen, dass er sich auch mit der zitierten Passage in der Nikomachischen Ethik auf den Menon seines Lehrers Piaton bezieht. Diese Annahme ist allerdings keineswegs zwingend. Die Frage, die Piaton, den ,Menon' stellen lässt, ist nicht so ausgefallen, dass man sich das erneute Vorkommen derselben Frage bei Aristoteles durch direkte Bezugnahme erklären müsste.18 Die Konstruktion der genannten Alternativen ergibt sich leicht, wenn man sich eine zweifache Unterscheidung vorstellt: Tüchtigkeit erhalten die Menschen entweder durch Einwirken anderer Menschen oder nicht durch Einwirken anderer Menschen (sondern von der Natur oder auf eine noch andere Weise); wenn sie sie durch Einwirken anderer Menschen erhalten, dann kann dieses Einwirken entweder durch belehrendes Reden geschehen oder durch Handeln, etwa so, dass der Zögling durch Belohnung und Strafe eingeübt wird. Aristoteles hat zudem bereits im I. Buch und dort jedenfalls ohne Bezugnahme auf den Menon eine ähnliche Frage mit ähnlichen Unterscheidungen wie im zitierten Text vom Beginn des II. Buches erörtert. Er will zeigen, dass die eigene Auffassung, die er zuvor vorgetragen hat, mit den traditionell herrschenden Ansichten gut übereinstimmt.19 In diesem Kontext erwähnt er „die Frage20, ob man glücklich werden kann durch Lernen oder Gewöhnung oder sonst wie durch Übung oder ob 16 Aristoteles, Anal. Post., I 1, 71 a29. 17 Aristoteles, Anal. Pr., II 21, 67 a21. 18 Vgl. J. Klein, 1965, A Commentary on Plato's Meno (The Univ. of N o r t h Carolina Press), p. 39 mit η. 18: „The same kind of question, couched in similar terms, but usually restricted to a specific virtue, justice or prudence, for example, and, on the other hand, applied to all kinds of skills, seems to be a recurrent topic in Plato's time (Cf. Isocrates, Contra Soph. 1 4 - 1 8 , 21; D e permut. 1 8 6 - 9 2 , 2 7 4 - 7 5 ; Alcidamas, De Soph. 3 - 4 . (We also finde the theme in Democritus, Diels-Kranz, 7th ed., frs. 35, 56, 183, 242, and in Critias, Diels-Kranz, 7th ed., fr. 9.) The Platonic dialogues themselves raise this question persistently, notably in connection with Protagoras (cf. especially Protag. 323 d 6 - 7 ) ; see also, in particular, Phaedr. 269 d 4 - 6 and Meno 85 b—d; furthermore, Xenophon, Memorab. Ill, 9,1-3, and finally Aristotle, Nie. Eth. I, 9, 1099 b9—11; II, 1, 1103 a 2 3 - 2 6 ; X , 9, 1179 b 2 0 - 3 1 , and Polit. VII, 13, 1332 a 3 8 - 4 0 [...])." 19 Aristoteles, E N , I 8, 1098 b 9 - 1 2 . 20 Wörtlicher übersetzt: die Ausweglosigkeit (Aporie).

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uns das Glück zuteil wird durch eine Gabe der Gottheit oder etwa gar durch Zufall."21 Aristoteles entscheidet in diesem Kontext die Alternative zwischen „Lernen oder Üben" 22 nicht; es kommt ihm darauf an, die Wichtigkeit des eigenen Handelns für das eigene Glück hervorzuheben und darzulegen, dass Glück jedenfalls kein Zufallsgeschenk ist. Die Frage, ob, in welchem Maß und wie man auf Menschen einwirken kann und vielleicht muss, um sie zu tüchtigen Menschen zu machen, ist keine Frage von primär theoretischem, sondern eine von primär praktischem Interesse.23 Zur Zeit von Piaton und Aristoteles lag diese Frage in besonderer Weise in der Luft. Die aristokratische Auffassung, dass von Natur durch Geburt vorbestimmt ist, wer zu den besseren Leuten gehört, galt nicht mehr. Das Faktum, dass es unter den Kindern der so genannten Besten nicht selten auch schwache, dumme und bösartige gibt, war schon immer bekannt; jetzt wurde es als Argument gebraucht. Konnte aber die elterliche Erziehung dafür sorgen, dass die Heranwachsenden tüchtig und erfolgreich würden? Es traten Lehrer auf, die versprachen, junge Leute gegen gute Bezahlung in ihre Schule zu nehmen: die Sophisten. Sie wollten durch Reden erziehen. Manche hielten sie für Wohltäter, andere für Betrüger. Sokrates wurde manchmal zu ihnen gerechnet. Gegen nichts setzte er sich so entschieden zur Wehr wie gegen diese Verwechslung. Erzog aber nicht auch er, wie es die Sophisten tun wollten, durch Reden, wenn auch seine Reden anders waren als die der Sophisten? Es ist nicht verwunderlich, dass dieselbe Frage bei Piaton und Aristoteles an hervorgehobener Stelle auftaucht. Es ist demgemäß, so weit ich weiß, auch noch nie untersucht worden, ob Aristoteles die Frage aus dem Menon aufnimmt und ob er damit vielleicht eine besondere Absicht verbindet. Diese Untersuchung nun soll im Folgenden durchgeführt werden. Dass Aristoteles sich zu Beginn des II. Buches der Nikomachischen Ethik auf den Menon bezieht, wird als Hypothese vorausgesetzt. Es soll geprüft werden, was sich aus dieser Hypothese, wenn sie wahr ist, ergibt. Die genannte Hypothese muss sogleich mit einer weiteren verbunden werden: Wenn Aristoteles sich auf den Menon bezieht und wenn er damit besondere Absichten verfolgt, dann muss er selbst voraussetzen, 21 Aristoteles, EN, 1 10, 1099 b 9—11. 22 Aristoteles, EN, I 10, 1099 b 15-16; ich folge der Übersetzung von Rolfes statt Dirlmeiers „Lernen und Üben". 23 Vgl. hierzu und zum Folgenden: E. Seymer Thompson (ed.), 1901, The Meno of Plato. Ed. with Introd., Notes, and Excurses, London, Introd., §11, p. XXVIII.

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dass seine Hörer oder Leser - mindestens ein ihm wichtiger Teil von diesen - die Bezugnahme erkennt. Nicht nur dem Aristoteles, sondern auch ihnen muss der Menon bekannt sein. Sie müssen bemerken, dass Aristoteles eine Frage beantwortet, von der .Sokrates' gesagt hatte, er könne sie nicht beantworten, jedenfalls nicht ohne gründliche Vorarbeit.

4. Aristoteles beantwortet die ,Menon'-Frage durch Unterscheidung. ,Sokrates' müsste ihn fragen, worauf die Unterscheidung beruht. Welche generische Definition von Tüchtigkeit wird durch die Unterscheidung ,dianoetisch - ethisch' spezifiziert? Wie wird die Unterscheidung selbst gewonnen? Dass die Tüchtigkeit zweifach ist, hat Aristoteles in dem Kapitel dargelegt, das dem, mit dessen Anfang wir uns befassen, vorausgeht. Menschliche Tüchtigkeit, so führt er aus, sei nicht die Tüchtigkeit des Leibes, sondern die der Seele.24 Weil dies so ist, muss in der Vorlesung über Ethik auch etwas über Psychologie gesagt werden. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass sich die psychologischen Darlegungen nicht zu einem Exkurs verselbständigen; gesagt werden soll genau so viel, wie für die eigentlich thematische Problemstellung nötig ist.25 Aristoteles bezieht sich nicht auf seine eigene Abhandlung Über die Seele, sondern auf die „exoterischen Schriften"26. Man kann seine Ausführungen als Strukturierung von Wissensgut, das seinen Hörern oder Lesern vertraut ist, verstehen. Zur menschlichen Seele gehört einerseits Unvernünftiges, andererseits Vernunft Habendes.27 Aristoteles macht darauf aufmerksam, dass sich hinter dieser einfachen Unterscheidung immense theoretische Probleme auftun, ob nämlich „diese beiden voneinander geschieden sind wie die Teile des Körpers oder Teilbares überhaupt oder ob dies eine rein definitorische Zweiheit ist, während sie von Natur untrennbar sind, wie etwa beim Kreisbogen konvex und konkav".28 Er schiebt aber diese Probleme sogleich beiseite; für den gegenwärtigen Zweck sind solche Fragen unerheblich.29 24 Aristoteles, EN, I 13, 25 Aristoteles, EN, I 13, 26 Aristoteles, EN, 113, S. 274-275. 27 Aristoteles, EN, 113,

1102 a l 6 - 1 7 . 1102 a23-26. 1102 a 26-27; vgl. hierzu Dirlmeiers Kommentar, 9,3, 1102 a 27-28.

28 Aristoteles, EN, I 13, 1102 a 28-31.

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Beide Seiten der Unterteilung werden nochmals unterschieden. Zum Irrationalen gehört einerseits ein Vermögen, das Ursache von Ernährung und Wachstum ist. Es gibt zwar auch von diesem Vermögen eine Tüchtigkeit, doch gehört ihre Untersuchung nicht in die Ethik. Sie ist keine spezifisch menschliche Tüchtigkeit. 30 Andererseits gibt es noch „eine andere Natur der Seele, irrational auch sie, doch irgendwie teilhabend am Rationalen". 31 Was Aristoteles meint, zeigt er an den Figuren des Beherrschten und des Unbeherrschten. Es gibt Triebkräfte, die nicht selbst vernunfthaft sind, die aber vernunfthafter Regelung zugänglich sind. Sie können in die der Vernunft entgegengesetzte Richtung treiben. Beim Beherrschten aber gehorchen die Triebe der Vernunft; beim Besonnenen und beim Tapferen sind sie sogar ganz in Harmonie mit der Vernunft. 32 Auch das Rationale, so fährt Aristoteles fort, ist zweifach. Es gibt das „eigentlich und in sich Vernünftige". Und es gibt das Vermögen, auf Vernunftzuspruch zu hören, „so wie ein Kind auf den Vater hört". 33 Franz Dirlmeier will in seinem Kommentar zur Stelle zeigen, dass der Seelenteil, der irrational, aber doch an Vernunft teilhabend ist, „ganz aus Piaton stammt". Er referiert aus dem IV. Buch der Politeia: „Rep. 440 a 8 - 4 4 1 b 1: Die Begierden suchen den Menschen entgegen seinem ,logismos' zu bezwingen. In diesem Fall wird der ,thymos' zum Bundesgenossen des logos. Wenn der logos die Entscheidung trifft, daß der thymos ihm nicht zuwiderhandeln dürfe, so tut er dies auch nicht, er ist dem logos ,Helfer' (441 a2 = Tim. 70 d6); er verteidigt den logos wie bei einem Bürgerkrieg, 440 e5. Und zwar kämpft er so lange, bis ihn der logos zurückruft, so wie ein Hirte seinen Hund (440 d2). Hier vermissen wir nur das arist. Bild vom Hinhören und den Terminus gehorchen."34

Von Hinhören und Gehorchen aber spricht Piaton, wie Dirlmeier nachweist, in ähnlichem Zusammenhang an anderen Stellen.35 In Verlegenheit zeigt Dirlmeier sich angesichts der Zweiteilung des rationalen Seelenteils: 29 30 31 32 33 34 35

Aristoteles, EN, 113, 1102 a31-32. Vgl. Aristoteles, EN, I 13,1102 a32 - b 12; 1102 b28-30. Aristoteles, EN, I 13, 1102 b 13-14. Vgl. Aristoteles, EN, I 13, 1102 b 13-28; 1102 b 3 0 - 1 1 0 3 a 1. Aristoteles, EN, 113, 1103 a 1-3. Dirlmeier, 101999, S. 293. Ebd. mit Verweis auf Piaton, Rp. IX, 586 c 7 - 5 8 7 a l , ferner 571 c 4 u n d 572 a6, und Tim. 70 a f.

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Die Verlegenheit schwindet, wenn wir annehmen, dass Aristoteles zwar platonische Überlegungen nutzt, dass er aber dabei durchaus seine eigenen Überlegungen zur Geltung bringen will. Es ist richtig, dass er mit dem Terminus ,epithymetikon' wie mit der Beschreibung an Piaton anknüpft. 37 Doch es lohnt sich, auf die Unterschiede zu achten nicht betont hervorgehoben, damit sich die Auseinandersetzung mit dem Lehrer nicht dem Redezweck zuwider vordränge, aber doch unüberhörbar für einen Hörer, der von Piatons Lehre geprägt ist: Piaton legt großen Wert darauf, dass die Seele dreigeteilt ist. Den thymos, der, Verbündeter der Vernunft, 38 die Begierden zu beherrschen hat, erwähnt Aristoteles nicht. Aristoteles handelt, nachdem das vegetative Vermögen ausgeklammert ist, von menschlichem Begehren und von der Weise, wie dies vernunfthaft geregelt werden kann. Bei Piaton ist es der thymos, der der Vernunft gehorcht. Die Metapher, mit der das Gehorchen beschrieben wird, ist die von Hirt und Hund. Bei Aristoteles geht es um Beherrschung des Begehrens. Die Metapher, mit der Aristoteles das beschreibt, ist die des Zuhörens und Folgeleistens, wie man dem Rat des Vaters und der Freunde folgt. 39 Der Argumentationskontext, in dem Piaton in der Politeia von den Seelenteilen handelt, ist die Frage nach der Gerechtigkeit. Ausführungen über die Ordnung der Polis und solche über die Ordnung der Seele spiegeln sich gegenseitig. Gerechtigkeit besteht darin, dass jeder das Seine tut, die Stände in der Polis wie die Teile der Seele. Es geht um gedeihliches Zusammenwirken von Begehren, Thymos und Vernunft. Das Begehren ist das, was geordnet werden muss, die Vernunft das, was die gute Ordnung kennt, der Thymos das, was die vernünftigen Anordnungen durchsetzt. - Aristoteles will ethische und dianoetische Tüchtigkei36 Ebd. Das, was Dirlmeier hier in Anführungszeichen setzt, ist kein Zitat, sondern eine Paraphrase, die durch Zuspitzung zeigen soll, was verwirrend ist. 37 epithymetikon: Aristoteles, EN, 113,1102 b 30; Piaton, Rp. IV, 440 e 10; vgl. 440 a 6; bl. 38 Piaton, Rp. IV, 440 b3-4. 39 Aristoteles, EN, 113, 1102 b 31-32.

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ten voneinander unterscheiden. Die ethischen Tüchtigkeiten werden in den folgenden Büchern das Hauptthema sein. Menschliches Leben gelingt, wenn es gemäß ethischen Tüchtigkeiten gelebt wird; dass es vernunftgemäß sein muss, ist jedenfalls nicht der Leitgedanke der Überlegungen des Aristoteles. Die dianoetischen Tüchtigkeiten werden in Buch VI der Nikomachischen Ethik das Thema. Nachdem zwischen dianoetischen und ethischen Tüchtigkeiten unterschieden worden ist, wird dort untersucht, welche dianoetischen Tüchtigkeit für gelingendes menschliches Leben relevant ist und wie ethische und dianoetische Tüchtigkeit miteinander verbunden sein sollen. Es ist gut einsehbar, warum Aristoteles das Begehrungsvermögen zweifach beschreibt, einmal ausgehend vom Irrationalen, dann ausgehend vom Rationalen. Tiere wie Menschen begehren nach Nahrung, nach Schutz, nach Sexualität und Nachwuchszeugung. Piaton lehrt, dass menschliches Begehren gewissermaßen von außen geordnet und geregelt werden muss. Aristoteles' Auffassung ist, dass das Begehren beim Menschen selbst vernunfthaft ist. Wer dem Rat des Vaters oder der Freunde folgt, der versteht, was geraten wird; Beratender und Beratener sind von gleicher Art. Der Beherrschte, von dem Aristoteles spricht, wird nicht beherrscht, sondern er beherrscht sich. Wenn ethische Tüchtigkeiten ausgebildet sind, wenn jemand z.B. besonnen oder tapfer ist, dann sind für einen bestimmten Bereich Begehren und Vernunft ganz in Harmonie. Handlungsentschlüsse, die aus einer solchen Haltung heraus getroffen werden, können Entschlüsse „begehrenden Denkens" oder Entschlüsse „denkenden Begehrens" genannt werden; 40 beide Ausgangspunkte für die Benennung sind gleichmöglich und gleichwertig. In der psychologischen Skizze, die Aristoteles in 113 vorlegt, ist der aus Piaton belegbare Ausgangspunkt beim Irrationalen bestimmend für die Gedankenführung. Für Aristoteles ist innerhalb der Ethik die andere Beschreibung, die die mögliche Rationalität des Begehrens hervorhebt, wichtiger. Schon in I 6 hatte er, als er die eigentümlich menschliche Tätigkeit als die eines Vernunft Habenden bestimmte, 41 unterschieden: Das Vernunft Habende „aber ist anzusehen teils als Gehorsam übend gegenüber dem Rationalen, teils als das rationale Element besitzend und geistige Akte vollziehend". 42

40 Aristoteles, EN, VI 2, 1139 b 4 - 5 . 41 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 3 - 4 ; vgl. 1097 b 2 4 - 2 5 . 42 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 4 - 5 .

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5. Eine generische Definition von Tüchtigkeit, die durch die Unterscheidung .dianoetisch - ethisch' spezifiziert würde, gibt Aristoteles auch in dem Kapitel nicht, in dem das Konzept .Tüchtigkeit' in die Untersuchung eingeführt wird. Zu Beginn von 113 nimmt Aristoteles eine Bestimmung auf, die er in I 6 erarbeitet hat: „Das Glück ist ein Tätigsein der Seele gemäß vollendeter Tüchtigkeit." 43 Wir wollen die Hauptschritte verfolgen, in denen diese Bestimmung erarbeitet wird. In I 6 knüpft Aristoteles mit der Frage, was das eigentümliche Werk des Menschen sei, wiederum an Piaton, hier an den Schlussteil von Politeia I, an.44 Ein Zeichen dafür, dass er auch mit dieser Anknüpfung sogleich seine eigene Akzentsetzung verbindet, ist die Erweiterung der Rede vom „menschlichen Werk" durch den Zusatz „und die menschliche Praxis".45 Die menschliche Lebenspraxis ist ein Leben „von etwas, das Vernunft hat". 46 Vernunft haben, so setzt Aristoteles auch an dieser Stelle fort, ist zweifach, „das eine wie der Vernunft gehorchen, das andere wie Vernunft habend und denkend."47 Aus dieser Unterscheidung gewinnt Aristoteles die Bestimmung, die Grundlage für das Folgende ist: „Das Werk des Menschen ist Tätigsein der Seele gemäß Vernunft oder nicht ohne Vernunft".48 Nun gilt für jede Tätigkeit, dass man sie mehr oder weniger gut tun kann. Aristoteles betont, dass es dasselbe Werk ist, das getan (ohne nähere Qualifikation, wie es getan wird) oder das von einem Tüchtigen49 43 Aristoteles, EN, I 13, 1102 a 5 - 6 . 44 Aristoteles, EN, I 6, 1097 b 2 4 - 2 5 . Vgl. Dirlmeier, 10 1999, S. 277-278. Dirlmeier nimmt (S. 278) auch diese Anknüpfung als Anlass, seine gegen Werner Jaegers Entwicklungsthese gerichtete Interpretationsthese, Aristoteles sei „Platoniker am Anfang und am Ende", zu bekräftigen. 45 Aristoteles, EN, I 6, 1097 b26. 46 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 3 - 4 . 47 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 4 - 5 . Dirlmeier (S.279) führt in seinem Versuch, Aristoteles als Platoniker zu erweisen, Passagen aus dem Timaios an und interpretiert Aristoteles auf Übereinstimmung mit diesen Passagen hin. Wir, die wir beim Vergleichen auf die Unterschiede achten wollen, halten fest, dass Aristoteles zwar von .Gehorchen' spricht, dass er es aber - anders als Piaton - vermeidet, das Vernunft Haben im engeren Sinn als das zu charakterisieren, was anzuordnen hat. 48 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 7-8. 49 Aristoteles verwendet das Wort ,spoudaios'. Ein von ,arete' abgeleitetes Adjektiv gibt es im Griechischen nicht.

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getan wird. 50 U m etwas beständig gut zu tun, bedarf der Tätige einer seinem Tun entsprechenden Tüchtigkeit. Aristoteles sammelt die Hauptpunkte seiner Überlegungen und schließt mit einer Bestimmung, die die zuvor gegebene in charakteristischer Weise variiert: „Ist das nun richtig und setzen wir als Werk des Menschen ein bestimmtes Leben, dieses aber als mit Vernunft verbundenes Tätigsein der Seele und entsprechende Handlungen, als Werk des tüchtigen Menschen dieses gut und schön getan, und wird ein jegliches gut vollendet, wenn es gemäß der entsprechenden Tüchtigkeit getan wird, dann wird das menschliche Gute Tätigsein der Seele gemäß Tüchtigkeit sein. U n d wenn es mehrere Tätigkeiten gibt, wird es das Tätigsein sein, das der besten und vollendetsten Tüchtigkeit gemäß ist." 5 1

Bemerkenswert an dieser Passage ist, wie die Bewertungsausdrücke im Satz stehen. Der einfache Bewertungsausdruck ,gut' steht nicht an Objektstelle, sondern adverbial. Dasselbe würde für sein Gegenteil, nämlich ,schlecht', gelten. .Gemäß Tüchtigkeit' - oder auch, wie später deutlich werden wird,,gemäß Schlechtigkeit' - steht in genau derselben Weise adverbial. Der gute Mensch ist demnach nicht der, der Gutes tut, sondern der, der sein Leben auf gute Weise lebt, das ist der, der gemäß der seinem Handeln entsprechenden Tüchtigkeit tut, was er tut. Entsprechendes gilt für den schlechten Menschen. Er tut, was er tut, auf schlechte Weise, und dies habituell, also gemäß der jeweils relevanten Schlechtigkeit. Der Superlativ ,am besten' steht nicht adjektivisch bei ,Tätigsein'. Nicht eine Art von Tätigsein also wird als die beste hervorgehoben. Wenn man überhaupt einen Höchstrang ausmachen will, dann muss man die Handlungseinstellungen ins Auge fassen, also eine Tüchtigkeit hervorheben. Wie dies geschehen soll, ist - zumindest an dieser Stelle - nicht abzusehen, da keine Definition von Tüchtigkeit und kein Kriterium der Bestheit vorgeschlagen wird.

6. ,Menon' meint, es sei nicht schwer, die Frage des ,Sokrates', was Tugend sei, zu beantworten. Er nennt es „die Tugend des Mannes, fähig zu sein, als Politiker die Geschäfte der Stadt zu führen"; „die Tugend 50 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a8-9. 51 Aristoteles, EN, I 6, 1098 a 12-18.

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der Frau" sieht er darin, „dass sie ihr Haus gut verwalten muss", und er spricht weiter in ähnlicher Weise von der Tugend des Kindes, und zwar unterschieden nach Jungen und Mädchen, und von der Tugend eines älteren Mannes, unterschieden nach Tugend des Freien und Tugend des Sklaven. „Je nach der einzelnen Handlung", so schließt er, „und je nach dem Lebensalter in Hinsicht auf das, was einer tun soll, bestimmt sich für jeden von uns die Tugend; und ebenso [...] auch ihr Gegenteil, die Schlechtigkeit." 52 Mit dieser Art zu antworten, zieht .Menon' sich den Spott des ,Sokrates' zu. Er habe, so hält .Sokrates' dem ,Menon' vor, einen ganzen Schwärm von Tugenden gefunden. 53 Die Frage aber sei, inwiefern all diese dasselbe, nämlich Tugend, sind. 54 Auf diese Frageweise, die auf die Ousia 55 , das Eidos 56 zielt, ist ,Menon' nicht vorbereitet. .Sokrates' erläutert sie an verschiedenen Beispielen. .Menon' folgt diesen Erläuterungen. Als jedoch .Sokrates' das Fazit ziehen will und eine Erörterung über das fordert, was dasselbe bei der Tugend von Kind und Altem, Frau und Mann ist, 57 zögert ,Menon': „Irgendwie meine ich, Sokrates, dass dies jenen anderen Fällen nicht mehr ähnlich ist." 58 .Sokrates' nennt im folgenden Gesprächsabschnitt Gerechtigkeit und Selbstdisziplin 59 als Tugenden, die alle, Frauen und Männer, Alte und Junge brauchen, wenn sie gut sein wollen. 60 .Menon' fügt später weitere Tugenden hinzu: Tapferkeit, Weisheit, Großzügigkeit. 61 Aber wiederum stellt sich die Frage, was das in allen Tugenden Selbe ist, aufgrund dessen sie alle ,Tugend' genannt werden. Diese Frage kann ,Menon' nicht beantworten. 62

52 53 54 55 56 57 58 59

Piaton, Menon, 71 e 1 - 7 2 a5. Piaton, Menon, 72 a 6-8. Piaton, Menon, 72 c2-3; 72 c6 - d 1. Piaton, Menon, 72 b 1. Piaton, Menon, 72 c 7. Piaton, Menon, 73 a 1-3. Piaton, Menon, 73 a4-5. So übersetzt Merkelbach das Wort ,söphrosyne', das sonst meist mit .Besonnenheit' übersetzt wird. 60 Piaton, Menon, 73 a 7 - c3. 61 Piaton, Menon, 74 a 3 - 4 . 62 Piaton, Menon, 74 a 11 - b 1.

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7. Wenn man den Text der Nikomacbiscben Ethik mit der Voraussetzung liest, dass Aristoteles den Menon gut kennt, dass auch nicht wenige seiner Hörer durch die Lektüre des Menon geprägt sind und dass dies wiederum dem Aristoteles klar ist, dann fällt auf, dass Aristoteles das Wort .Tüchtigkeit' überwiegend und lange Zeit ausschließlich im Plural verwendet. Er spricht von je einem Tätigsein entsprechenden Tüchtigkeiten, er unterscheidet zwischen dianoetischen und ethischen Tüchtigkeiten und er handelt ausführlich davon, wie ethische Tüchtigkeiten entstehen,63 ehe er es für nötig hält zu sagen, was ethische Tüchtigkeit (Tugend) denn nun ist,64 und er kehrt nach dieser Betrachtung im Allgemeinen sogleich wieder zu Betrachtungen im Einzelnen zurück.65 Aristoteles' Vorgehen steht der ersten Antwort, die .Menon' gegeben hatte, nah. Aristoteles, so nehmen wir versuchsweise an, will zeigen, dass der Spott und Tadel des .Sokrates' nicht berechtigt sind. Des .Sokrates' Fragen hält er nicht für vordringlich. Man kann weiter gehen, und wir müssen, wenn wir ernsthaft mit unserer Hypothese arbeiten wollen, so weit wie möglich mit ihr gehen. Piaton zeichnet,Menon' sarkastisch. Er will sicherlich erreichen, dass die Leser sich von .Menon' distanzieren und mit .Sokrates' identifizieren. .Menon' folgt dem .Sokrates' in dessen Beispiel-Argumentationen, mit denen dieser seine Was-ist-X-Frage nahe bringen will. Er verweigert aber jedes Mal zu folgen, wenn .Sokrates' von einem Beispiel für das Definieren auf die Frage nach der Definition der Tugend übergehen will. Aristoteles will, so wollen wir annehmen, zeigen, dass es nicht Begriffsstutzigkeit sein muss, die zu solcher Verweigerung führt; es gibt für ihn gute Gründe, .Sokrates' auf seinem Weg nicht zu folgen. Mit dem ersten Beispiel, mit dem .Sokrates' dem .Menon' die Frage nach dem Wesen von etwas erläutern will, knüpft er an seine vorausgehende Spottrede an: Einen ganzen Bienenschwarm von Tugenden habe .Menon' ihm gebracht. „Aber, Menon, u m beim Bild von den Bienenschwärmen zu bleiben: Wenn ich dich gefragt hätte, was wohl das Wesen der Biene ist, und du mir gesagt 63 Aristoteles, EN, II 1-3, 1103 a l l - 1 1 0 5 b 18. 64 Aristoteles, EN, II 4-6, 1105 b 19-1107 a27. 65 Aristoteles, EN, II 7, 1107 a28-29 und das Folgende.

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hättest, daß es viele und ganz verschiedenartige gibt, was würdest du mir wohl antworten, wenn ich dich weiter fragte: ,Aber meinst du, daß sie viele und verschiedenartige und voneinander verschiedenen sind insofern, als sie Bienen sind? Oder ist es nicht vielmehr so, daß sie in dieser Hinsicht nicht voneinander verschieden sind?'." 66

Nach einigen Erläuterungen, durch die die Frageweise eingeübt werden soll, wird ,Menonc aufgefordert, die Anwendung für die Frage nach dem Wesen der Tugend zu machen. Er zögert: „Ich glaube schon zu verstehen; aber das, wonach du fragst, kann ich noch nicht so fest greifen, wie ich wohl möchte". 67 ,Sokrates' geht zu einer Beispielreihe über, in der abstrakte Begriffe wie ,Gesundheit' untersucht werden; auch .Tüchtigkeit' ist ja ein solcher abstrakter Begriff.68 Aber ,Menon' verweigert, den Ubergang zu machen. Er vermutet, dass die Fälle nicht gleichartig sind.69 Etwas später wählt .Sokrates' einen abstrakten Begriff aus dem Bereich der Mathematik, um die Frage nach dem Wesen der Tüchtigkeit einzuüben70. Ausführlich wird der Begriff der Figur {schema) erörtert. 71 Beim Versuch, in ähnlicher Weise auch den Begriff der Tugend zu bestimmen, scheitert ,Menon'. Aristoteles nun scheint die Frageweise des ,Sokrates' abzulehnen, wenn er gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik schreibt: „Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie denjenigen Grad von Bestimmtheit erreicht, den der Gegenstand gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, genau so wenig wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion. Bei den Erscheinungsformen des Edlen und Gerechten [...] gibt es so viele Unterschiede und Schwankungen, dass die Ansicht aufkommen konnte, sie beruhten nur auf Konvention, nicht auf Natur. Ahnliches Schwanken herrscht aber auch bei den Lebensgütern. [...] Man muss sich also damit bescheiden, bei einem solchen Thema und bei solchen Prämissen die Wahrheit nur grob und umrisshaft anzudeuten. [...] Darin zeigt sich der Gebildete, dass man in den einzelnen Gebieten je den Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur des Gegenstandes zulässt". 72 66 Piaton, Menon,

72 a 8 - b 5.

67 Piaton, Menon,

72 d 2 - 3 .

68 Vgl. Piaton, Menon, 69 Piaton, Menon,

72 d 4 - e 9 .

73 a 4 - 5 .

70 Piaton, Menon,

75 a 8 - 9 : „... damit du dich übst für die Antwort über die Tugend".

71 Piaton, Menon,

73 e 3 - 6 ; 74 b 4 - 7 6 a 7 .

72 Aristoteles, EN, I 1, 1094 b 11-25; vgl. I 7, 1098 a 2 6 - 2 9 ; II 2, 1103 b 2 6 - 3 1 ; 1103 b34-1104 all.

Klugheit als reflektierende Urteilskraft

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Als Aristoteles, nachdem er erörtert hat, wie man in irgendeinem Gebiet tüchtig wird, die Frage, was (ethische) Tüchtigkeit ist, aufnimmt, 73 gibt er keine Definition im Sinn des .Sokrates'. Die Bestimmung, die er gibt, enthält Unscharfen, und Aristoteles hat, bevor er die zusammenfassende Bestimmung gibt, ausführlich begründet, dass dies so sein muss. 74 „Die Tugend ist eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in Bezug auf uns ist, jener Mitte, die durch die Vernunft (logos) festgelegt wird, und zwar so, wie ein kluger Mensch (phronimos) sie festlegen würde. Sie ist Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Ubermaß und Mangel charakterisiert sind". 7 5

Jede Angabe, die hier als Antwort auf die Frage, wie beschaffen die Natur der ethischen Tüchtigkeit ist,76 gemacht wird, ist eine Anweisung, situationsentsprechend zu konkretisieren. Die Mitte in Bezug auf uns liegt nicht fest. Sie liegt zwischen zu viel und zu wenig. Was jeweils zu viel und zu wenig ist, kann nicht im Allgemeinen angegeben werden. Für die situative Bestimmung gibt es keine begriffliche Anweisung. Statt ihrer wird ein lebendiges Vorbild vor Augen gestellt: der kluge Mensch.

8. Die Untersuchung, die ,Sokrates' mit einem ungeschulten Jungen über ein geometrisches Problem führt, ist eine Lehruntersuchung. .Sokrates' begleitet sie mit Hinweisen an ,Menon', aus denen dieser die Methode erkennen soll, wie jemand vor ein Problem geführt wird und wie er die Problemlösung finden kann. 77 Als aber .Sokrates' die Unterweisung fruchtbar werden lassen will und zur Frage, was Tugend ist, zurückkehrt,78 zeigt sich, dass .Menon' nichts gelernt hat. Als wäre nichts gewesen, kehrt .Menon' zu seiner eigenen Frage, wie Tugend Menschen 73 Aristoteles, EN, II 4, 1105 b 19. 74 Vgl. Aristoteles, EN, II 5, 1106 a24 - b35. 75 Aristoteles, EN, II 6, 1106 b 3 6 - 1 1 0 7 a3; für eine genauere Erörterung verweise ich auf: K. Jacobi, 1981, Aristoteles über den rechten Umgang mit Gefühlen, in: I. Craemer-Ruegenberg (Hrsg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge, Freiburg/ München, S. 21-52, hier 41-52. 76 Vgl. Aristoteles, EN, II 5, 1106 a25-26. 77 Piaton, Menon, 82 e4-13; 84 a3 - d 2 ; 85 b 8 - 8 6 c3. 78 Piaton, Menon, 86 c 4 - 6 .

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zuteil wird, zurück. 79 Geistreich erfindet Piaton eine Gesprächswendung, in der .Sokrates' dem ,Menon' scheinbar nachgibt.80 Er prüft, ob die Tugend lehrbar ist, indem er eine Voraussetzung prüft:81 „Wenn [...] die Tugend eine Art Wissen ist, dann ist sie lehrbar". 82 Auf einem Umweg hat .Sokrates' den ,Menon' dahin gebracht, nach der Gattung zu fragen, zu der Tugend gehört. ,Sokrates' hat also an seiner Definitionsfrage festgehalten. In der folgenden Untersuchung zeigt .Sokrates' weniger begriffliche Schärfe als man dies erwarten möchte. Mehrere Wissens- und Erkenntnisbegriffe treten nebeneinander auf, ohne dass sie voneinander unterschieden würden. Vielleicht ist das eine Nachlässigkeit, vielleicht auch eine sinnreiche Erfindung Piatons, mit der er zeigen will, dass eine verdeckte Definitionsuntersuchung anders verläuft als eine, auf die beide Gesprächspartner sich verständigt haben. Wie dem auch sei - die Wörter .Wissen' (episteme)^, .Einsicht' (pbronesis)84 .Weisheit' (50phia)K und .Verstand' (nous) S6 wechseln; im Kontext findet sich auch das Wort .Kunst' (techne) s 7 . Mit all diesen Wörtern sind unterschiedliche Konnotationen verbunden; sie sind also nicht im strengen Sinn synonym. Aber .Sokrates' müht sich nicht, sie deutlich voneinander zu scheiden. Die Hypothese .Wenn Tugend Wissen ist' wird nicht von den Hypothesen .Wenn Tugend Einsicht ist', ....Weisheit ist' oder ....Verstand ist' getrennt.

9. Diese Unterscheidungsarbeit unternimmt dagegen Aristoteles im VI. Buch der Nikomachischen Ethik. Es geht darum, genau zu bestimmen, wie Verstand {nous) und Denken (dianoia) einerseits und ethische Tu79 Piaton, Menon, 86 c 7 - d2. 80 Piaton, Menon, 86 d 3 - 8 . 81 Piaton, Menon, 86 e 1-4. 82 Piaton, Menon, 87 c 5 - 6 ; vgl. 87 c 7 - d 1. 83 Piaton, Menon, 87 b 7; c5; c l 2 ; d5-7; 88 b2; 89 c3; d 2 - 6 ; 96 e2; 97 b6; c 4 - 6 ; d2; 98 a 6 - 8 ; b2; c 1; c3; d 1; 99 a2-7; b3; b8; b 11. 84 Piaton, Menon, 88 b4; c2; c5; c 7 - 8 ; d2; d6; e6; 89 a 1; a3; 97 blO; c l ; 98 d 10-12;

e7-8.

85 Piaton, Menon, 91 a3; 93 e7; 99 b5. 86 Piaton, Menon, 88 b 5 - 8 ; 99 c8; e6. 87 Piaton, Menon, 90 d2; 99 c8; e2.

Klugheit als reflektierende Urteilskraft

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gend andererseits zusammenkommen müssen, damit Entscheidungen und Lebensführung gut werden. Nachdem über die ethischen Tüchtigkeiten gehandelt worden ist, muss jetzt geklärt werden, welche von den dianoetischen Tüchtigkeiten für das Handeln relevant sind.88 Arten von Tätigsein und die entsprechenden Vermögen werden nach den Formalobjekten unterschieden, d.i. nach den Hinsichten, unter denen der Tätige sich auf etwas richtet. Die relevante Unterscheidung für Erkenntnistätigkeiten ist die zwischen Betrachtung des Unveränderlich-Seienden und Beratschlagung über das Veränderlich-Seiende. Aristoteles benennt die Vermögen als Vermögen zu Wissenschaft (epistemonikon) und zu Überlegung (logistikon). 89 Nun diskutiert Aristoteles nicht nur diese beiden Arten des Erkennens mit der Frage nach den ihnen entsprechenden Tüchtigkeiten. Mit einem betonten Neueinsatz90 setzt er fest91, dass fünf dianoetische Tüchtigkeiten untersucht werden sollen: Kunst (techne), Wissenschaft (iepisteme), Klugheit (phronesis), Weisheit (sophia) und Verstand (Einsicht, nous). Diese Festsetzung wird nicht begründet. Dies ist besonders deswegen verwunderlich, weil Aristoteles gelegentlich im Ausschlussverfahren argumentiert, d. i. in einem Verfahren, welches Vollständigkeit der Liste voraussetzt.92 In einer Bemerkung in den Zweiten Analytiken nennt Aristoteles dieselben Wissensweisen, dazu noch Denken (Verstand, dianoia). Auch dort wird nicht angegeben, wie die Liste gewonnen ist; stattdessen wird für genauere Darlegungen auf die naturwissenschaftliche Psychologie und die Ethik verwiesen.93 88 Aristoteles, EN, VI 2, 1138 b 3 5 - 1 1 3 9 a3; vgl. 1 1 3 9 a 3 3 - 3 5 . 89 Vgl. Aristoteles, EN, VI 2, 1139 a 3-15. Dirlmeier übersetzt stark interpretierend: „spekulativ" und „abwägend reflektierend". Ich stimme der Interpretation zu, ziehe es aber - zumindest an dieser Stelle noch - vor, neutraler zu übersetzen. Rolfes bliebe am liebsten bei den griechischen Termini; er setzt Interpretationsvorschläge in Klammern: „Der eine Teil heiße nun der „epistemonische" (scientifische oder wissende), der andere der „logistische" (ratiocinierende oder folgernde)" (1139 a 11-12). 90 Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 14. 91 Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 15. 92 Vgl. Aristoteles, EN, VI 6 , 1 1 4 0 b 3 1 —1141 a8: Wir erkennen Prinzipien für wissenschaftliches Wissen weder durch Wissenschaft, noch durch Kunst, noch durch Klugheit, noch durch Weisheit, also bleibt nur: durch Einsicht {nous). 93 Aristoteles, Anal. Post., I 33, 89 b 7 - 9 . Thomas von Aquin referiert in seinem Kommentar zu dieser Stelle aristotelische Unterscheidungen und gewinnt aus ihnen die Gesamtliste: Er unterscheidet: rectitudo cognitionis (1) circa necesssaria: (1.1) circa conclusiones: scientia, (1.2) circa principia: intellectus, (1.3) circa causas altissimas,

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Die Erkenntnisbegriffe, die Aristoteles erörtern will, sind genau die, die wir im Schlussteil von Piatons Menon finden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier erneut eine versteckte kritische Bezugnahme vorliegt. Die Fragestellung allerdings ist deutlich anders als in der Hypothese des ,Sokrates'. Es geht nicht darum, zu prüfen, ob die Tugend irgendeine Art von Erkenntnis oder Wissen ist, sondern darum, herauszufinden, wie sich Ethisches und Dianoetisches miteinander verbinden müssen, damit Menschen auf gute Weise entscheiden und handeln. Gleich der erste Satz der Begriffsklärung von Wissenschaft, mit der Aristoteles seine Erörterung über dianoetische Fähigkeiten beginnt, liest sich wie mit kritischen Unterton gesprochen: „Was wissenschaftliche Erkenntnis (Wissenschaft, episteme) ist, ergibt sich, wenn es gilt, sich exakt auszudrücken (akribologiesthai) und sich nicht durch Ähnlichkeiten leiten zu lassen, aus folgendem." 94 Aristoteles formuliert dann die Grundunterscheidung, die schon erwähnt wurde, zwischen dem, was sich nicht anders verhalten kann, und dem, was sich anders verhalten kann. Wissenschaftliches Erkennen richtet sich auf das Notwendige, Ewige. Es ist beweisendes Erkennen. 95 Dass es lehrbar und lernbar ist,96 könnte man erneut als eine Bemerkung verstehen, mit der Aristoteles sich auf den Menon bezieht. Das, was sich auch anders verhalten kann, ist entweder Gegenstand des Hervorbringens (poiesis) oder Gegenstand des Handelns (praxis).97 Dem erstgenannten Bereich ist die Kunst (techne) als Tüchtigkeit zugeordnet.98 Aristoteles setzt seine Erörterungen nicht so fort, dass er der Kunst als der zum Hervorbringen befähigenden Tüchtigkeit sogleich die Klugheit als zum Handeln befähigende Tüchtigkeit gegenüberstellt. Sein nächstes Thema ist die Klugheit, aber er meidet bei ihrer Untersuquae sunt causae divinae: sapientia; (2) circa contingentia: (2.1) circa agibilia, idest actus qui sunt in operante: prudentia, (2.2) circa factibilia: ars (In Post. Anal., L.I, l.XLIV, Ed. Marietii n.405). Diese Begründung beruht ganz auf den Begriffsklärungen und -präzisierungen, die Aristoteles durchgeführt hat; sie erklärt nicht den Ausgangspunkt der aristotelischen Unterscheidungsarbeit, nämlich die „Festsetzung" in der Ethik. 94 Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 18-19. 95 Vgl. Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 18-36. 96 Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 25-26. 97 Aristoteles, EN, VI 4, 1140 a 1-6. 98 Vgl. Aristoteles, EN, VI 4, 1140 a 6-23.

Klugheit als reflektierende Urteilskraft

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chung in auffallender Weise zu schnelles Vorgehen. „Über die Klugheit", so beginnt er, „können wir so etwas erfassen, dass wir betrachten, welche Menschen wir klug nennen." 99 Das ist eine direkte Anknüpfung an die Tugenddefinition im II. Buch der Nikomachischen Ethik.™ Der kluge Mensch, so fährt Aristoteles jetzt fort, weiß wohl zu überlegen, was das für ihn Gute und Zuträgliche ist, und zwar so, dass er nicht im Hinblick auf Teilgüter erwägt, sondern im Hinblick darauf, wie er auf gute Weise leben solle, und so, dass er das gute Ziel nicht setzt, sondern realisieren will.101 Erst nach diesen und einigen weiteren Erörterungen, die der Abgrenzung von Wissenschaft und Kunst dienen,102 folgt die Bestimmung der Klugheit als „Habitus vernünftigen Handelns in Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind".103 Wissenschaft ist als Haltung beweisenden Wissens bestimmt worden. 104 Das Vermögen, durch das wir die Prinzipien für wissenschaftliches Wissen erkennen, ist die Einsicht (der Verstand, nous).105 Wenn Einsicht so bestimmt wird, ist sie für das Handeln ebenso irrelevant wie die Wissenschaft vom Unveränderlichen, welcher die Einsicht ihre Prinzipien liefert. Die Weisheit (sophia) fasst Aristoteles als vollkommenste Wissenschaft. 106 Sie ist aber - anders als die Wissenschaft - nicht nur ein Wissen, das auf Prinzipien beruht; der Weise sieht die Prinzipien auch ein. Deshalb bestimmt Aristoteles die Weisheit als Einsicht und Wissenschaft zugleich.107 Anders als die Klugheit bezieht sich die Weisheit nicht auf das dem Menschen Zuträgliche108 und nicht auf das Einzelne 109 . Weisheit und Klugheit sind Tüchtigkeiten verschiedener Seelenteile.110 Von allen dianoetischen Fähigkeiten, die Piaton im Menon benannt und die Aristoteles erörtert hat, bezieht sich einzig die Klugheit auf das Gute, das Menschen durch Handeln erwirken können.111 Und die 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

Aristoteles, EN, VI 5, 1140 a24-25. S.o. S.31 mit Anm.75. Vgl. Aristoteles, EN, VI 5, 1140 a25-30. Aristoteles, EN, VI 5, 1140 a31 - b4. Aristoteles, EN, VI 5, 1140 b 5 - 6 ; vgl. 1140 b20-21. Aristoteles, EN, VI 3, 1139 b 31-32. Vgl. Aristoteles, EN, VI 6, 1140 b 3 1 - U 4 1 a8. Aristoteles, EN, VI 7, 1141 a 16-17. Aristoteles, EN, VI 7, 1141 a 18-20; b 2 - 3 . Vgl. Aristoteles, EN, VI 7-8, 1141 b 3-14; VI 13, 1143 b 18-20.

109 Vgl. Aristoteles, EN, VI 7, 1141 a 2 2 - b 2 ; V I 8 , 1141 b 14-23. 110 Vgl. Aristoteles, EN, VI 13, 1144 a 1-3. 111 Vgl. Aristoteles, EN, VI 8, 1141 b8-14; VI 9, 1142 a23-30.

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Klugheit bezieht sich in einem spezifischen Sinn einzig auf das, was der Mensch auf eine für sein Leben gute Weise erwirkt. Aristoteles bindet die Klugheit an die ethischen Tugenden; er unterscheidet von ihr eine ethisch nicht gebundene praktische Intelligenz, die er ,deinotes' nennt.112 Nur diejenige praktische Intelligenz, die mit ethischer Tüchtigkeit verbunden ist, soll .Klugheit ( p h r o n e s i s ) ' heißen. Die Tugend macht, dass die Ziele eines Menschen richtig sind. Die Klugheit sorgt dafür, dass der sie besitzende Mensch sich im Hinblick auf die richtigen Ziele - und nur auf sie - in der konkreten Situation zu dem entscheidet, was einer für das jeweilige Handlungsfeld relevanten Tugend entspricht.113

10. In der Gegenüberstellung zu Piatons Menon treten wichtige aristotelische Thesen über praktische Philosophie klar hervor: - Praktische Philosophie ist keine Disziplin, die mit Definitionen und Beweisen arbeitet. Sie ist - wenn man Wissenschaft als Wissen vom Notwendigen, das nicht anders sein kann, auffasst, wie dies Aristoteles und Piaton übereinstimmend tun - keine Wissenschaft. Der praktische Philosoph verfährt reflektierend. Er reflektiert auf gemeinschaftlich geteilte Praxis und auf die Auffassungen, die Menschen vom Gelingen und Misslingen ihres Handelns haben. Die Absicht ist, diese Auffassungen zu klären. Dabei bleiben Korrekturen nicht aus. Aber anders als Piatons .Sokrates' zielt Aristoteles nicht darauf, die geläufigen Auffassungen zu erschüttern, um nach dem Zusammenbruch der Meinungen und dem Eingeständnis von Nichtwissen das Handlungswissen neu aufzubauen. Aristoteles geht davon aus, dass die Menschen mit ihren Auffassungen über Lebensführung immer etwas Richtiges treffen. Im Durchsprechen werden sich die Auffassungen klären. - Sittliche Tüchtigkeiten entstehen durch Gewöhnung. Man lernt sie von Vorbildern. Es handelt sich um Lebensformen, in die der Aufwachsende hineinwächst. Jedoch muss man unterscheiden. Man kann 112 Vgl. Aristoteles, EN, VI 1 3 , 1 1 4 4 a23-28. Dirlmeier übersetzt mit „intellektuelle Gewandtheit", Rolfes mit „Geschicklichkeit". In beiden Ubersetzungen bleibt die Wertung ausgespart, die im griechischen Wort mitschwingt. Die Gewandtheit, von der hier die Rede ist, ist etwas Furchtbares. 113 Vgl. Aristoteles, EN, VI 1 3 , 1 1 4 4 a6-23; a28-37; b 12-17; 1144 b 3 0 - 1 1 4 5 a6.

Klugheit als reflektierende Urteilskraft

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sich angewöhnt haben, gerecht oder tapfer oder freigiebig usw. zu handeln, ohne sich dies eigens zum Ziel zu setzen. Im eigentlichen Sinn sittlich gut ist nur der, der aus sittlicher Tüchtigkeit handeln will, aus Gerechtigkeit, Tapferkeit, Freigiebigkeit usw. also, und der sich fragt, wie er im gegebenen Augenblick unter gegebenen Umständen die relevanten sittlichen Tüchtigkeiten am besten realisieren kann. 114 - Sittliche Tüchtigkeit ist keine Erkenntnis, und sittliches Handeln ist kein bloßes Umsetzen von Erkenntnis. Insbesondere ist sittliche Tüchtigkeit keine Erkenntnis in Art einer Wissenschaft, und sie beruht auch nicht auf einer solchen Erkenntnis. Aber das Tätigsein der Seele gemäß sittlicher Tüchtigkeit wird als mit Vernunft verbunden bestimmt. - Die für gutes Entscheiden und gutes Leben relevante intellektuelle Haltung ist die Klugheit. Klugheit ist die Fähigkeit, situationsbezogen zu urteilen, was jeweils zu viel und was zu wenig wäre und worin die Mitte in Bezug auf uns hier und jetzt und diesen Anderen gegenüber besteht. Deshalb sind sittliche Tüchtigkeit und Klugheit aneinander gebunden. „Es ist nicht möglich, im eigentlichen Sinn gut zu sein ohne Klugheit, und auch nicht, klug zu sein ohne sittliche Tüchtigkeit." 1 1 5 Klugheit ist reflektierende Urteilskraft. Der kluge Mensch will ein guter, d. i. je nach den Umständen tapferer, freigiebiger, maßvoller, großherziger Mensch sein. Mit diesem Ziel im Rücken blickt er auf die Handlungssituation und fragt, wie es realisiert werden kann und soll. Man kann sich fragen, ob die sittlichen Tüchtigkeiten, wie Aristoteles sie sieht, nicht so stark aus dem Ethos der Polis entwickelt sind, dass sie in anderen Zeiten und für andere Gesellschaftsformen nicht gelten. Die erste Antwort auf eine solche Frage besteht wohl in dem Hinweis, dass Aristoteles aus den inhaltlichen Tugenden eine Struktur herausanalysiert, die der auf uns bezogenen Mitte nämlich, die nicht mehr an die einzelnen Inhalte gebunden, sondern ihnen gegenüber formal ist. Platoniker werden mit dieser Replik nicht zufrieden sein und die Problemstellung verschärfen. Sie hoffen, dass der Blick auf unveränderliche universale Ideen gerichtet und dass daraus Handlungsorientierung gewonnen werden kann. D e r Aristoteliker teilt diese Hoffnung nicht. E r ist skeptisch gegenüber dem Philosophenkönig, der zu wissen beansprucht, was gut ist, und dann Tugendwächter einsetzt. Die für Praxis relevante Urteilskraft, so sagt der Aristoteliker, ist nicht bestim114 Vgl. Aristoteles, EN, VI 13, 1144 b 1-17. 115 Aristoteles, EN, VI 13, 1144 b31-32.

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mende, sondern reflektierende Urteilskraft. Der Platoniker hält entgegen, dass die Skepsis gegenüber ewigen Wahrheiten und der Idee des Guten zu Relativismus führt. Dieser Befürchtung muss durch die Tat begegnet werden. Wo immer Menschenbilder und Tugendkanons gegeneinander gestellt werden und unvereinbar scheinen, muss über das, was innerhalb eines Systems fraglos galt, nachgedacht werden. Andere Standpunkte müssen anerkannt werden. Die Hoffnung ist, dass genügend Gemeinsamkeit darüber, was es heißt, auf gute Weise zu leben, gefunden werden kann, so dass das, was gemeinsam betrifft, gemeinsam entschieden werden kann. Für unterschiedliche Handlungsfelder bleibt in einer aristotelischen Konzeption immer genügend eigener Raum, auch mit unterschiedlichen inhaltlichen Zielvorstellungen.

Eudaimonia und phronesis. Eine Anmerkung zur Nikomachischen Ethik URSULA WOLF

Angesichts der großen Zahl der Beiträge beschränke ich mich im Folgenden darauf, zwei schwierige Fragen anzureißen. Erstens: Die 1968 durch Hardie aufgeworfene Frage, ob die aristotelische Konzeption der eudaimonia inklusiv oder dominant zu lesen ist, bestimmt noch heute die Debatte. Ist diese Alternative aber wirklich erhellend, oder verdeckt sie gerade wichtige Zusammenhänge? Zweitens: Diese Frage hängt genau genommen ab von der Frage, wie Aristoteles die Rolle der praktischen Überlegung bzw. der phronesis versteht, mit der wir die zur eudaimonia gehörenden Einzelhandlungen auffinden. Diephronesis ergänzt zunächst das menschliche Gutsein im Sinn der ethischen arete, ist also ein Bestandteil der zweiten Form der eudaimonia, die in der Praktizierung des ethisch guten Lebens besteht (EN VI 5). Sie hat aber gleichzeitig die Aufgabe, die Bedingungen der ersten Form der eudaimonia, des theoretischen Lebens, sicherzustellen. Wie aber kann ein und dasselbe intellektuelle Vermögen für diese beiden sehr verschiedenen Aufgaben geeignet sein? An dieser Stelle liegt folgende Verbindung der beiden genannten Problemkreise nahe: Ob der Begriff der eudaimonia inklusiv oder dominant zu lesen ist, mündet in die Frage, ob das gute menschliche Leben eine geordnete Ganzheit aus ethischem und theoretischem Leben darstellt oder ob die theoretische Tätigkeit an der Spitze einer Hierarchie von Zielen steht und das ethische Leben ihr untergeordnet ist. Meine These ist, dass diese Frage schief ist und in die Irre führt. Zunächst sind ethisches und theoretisches Leben zwei Formen der eudaimonia, die für verschiedene Menschengruppen gedacht sind. Für diejenigen Personen, die sich für das politische Leben eignen, stellt sich dann die weitere Frage, welche Handlung im konkreten Fall die möglichst angemessene Realisierung der von der Situation evozierten ethischen arete ist. Weder die Konzeption der eudaimonia noch die Uber-

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legung hat hier etwas mit Inklusion oder Dominanz zu tun. Die Frage ist vielmehr, in welcher Handlung sich die eudaimonia konkret am besten ausgestaltet oder artikuliert. Denn der Hinweis, dass das gute menschliche Leben im Ausüben der ethischen arete liegt, enthält keine konkreten Aussagen darüber, was in jeweiligen Situationen zu tun ist. Er ist allgemein und vage. Das Auffinden der jeweils besten Handlung kann daher nicht (im Sinn einer dominanten Interpretation) im Auffinden von Mitteln zur menschlichen eudaimonia bestehen (obwohl die aristotelische Begrifflichkeit dieses Missverständnis nahe legen mag). Es kann auch nicht (im Sinn einer inklusiven Interpretation) in der Integration konkreter Bestandteile der eudaimonia liegen, da die konkret richtigen Entscheidungen bzw. Handlungen in ihrem Inhalt nicht vorgegeben sind. Beide im Bereich der tecbne wichtigen Formen der Überlegung, die Mittel-Zweck-Überlegung ebenso wie die Teil-GanzesÜberlegung, können nicht die Aufgabe der ethischen Überlegung erfüllen. Was die phronesis herausfinden muss, ist vielmehr, in welcher konkreten Handlung in der vorgegebenen Situation die Betätigung der relevanten arete sich artikuliert, beispielsweise in welcher Handlung hier und jetzt sich unsere vage Leitvorstellung von Gerechtigkeit konkretisiert. Innerhalb der ethischen Lebensform also ist die Aufgabe Aer phronesis die konkrete Artikulation ethischer Vorstellungen, und die Frage einer dominanten oder inklusiven Interpretation spielt hierbei keine Rolle. Aber stellt sie sich nicht klarerweise dort, wo sie auch ursprünglich vermutet wurde, wenn es um das Verhältnis der ersten und der zweiten Form der eudaimonia geht? Doch hier muss man zwei Fragen unterscheiden. Zunächst: Für wen und wie stellt sich diese Frage? Sodann: Wie kann die gerade erläuterte sehr spezifische praktische Überlegung, die artikulierend das ethische Leben begleitet, mit ihren Mitteln eine solche Frage beantworten? Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Formen der eudaimonia stellt sich für zwei Personengruppen und somit aus zwei sehr verschiedenen Perspektiven. Sie stellt sich erstens für denjenigen, der nicht das ethisch-politische, sondern das theoretische Leben als das gute Leben wählt. Denn er kann als Mensch mit materialen Bedürfnissen und Affekten nicht nur dieses göttliche Leben leben, sondern sein Leben wird Anteil auch am gewöhnlichen menschlichen Leben haben müssen. Dann entsteht die Frage, wie diese Bestandteile des Lebens zu ordnen sind. Die Frage stellt sich zweitens im Sinn von VI 13 für diejenigen, die als Politiker die Aufgabe haben, die Bedingungen sicherzustellen, unter

Eudaimonia und phronesis

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denen das Leben der Theorie für Personen, die die entsprechenden Fähigkeiten und Neigungen haben, möglichst ungestört möglich ist. U m mit dem zweiten Fall zu beginnen, so könnte es jetzt scheinen, dass die zweite, die ethische Lebensform stark abgewertet, als Mittel für das gute Leben anderer Menschen angesehen wird. Das braucht jedoch nicht der Fall zu sein. Die politische Betätigung ist in einem Fall in der Tat ein Mittel eher im Sinn der techne, dann nämlich, wenn sie unter Bedingungen des Kriegs oder Bürgerkriegs stattfindet. Dann aber fehlen die Voraussetzungen für beide Formen des guten Lebens, denn auch das ethisch gute Leben selbst liegt für Aristoteles erst dort vor, wo unter geordneten Verhältnissen die eudaimonia in Tätigkeiten der ethischen arete realisiert wird. Wo diese Verhältnisse bestehen und durch gutes politisches Handeln bestehen bleiben, kann dieses Handeln aber aus der Perspektive der Politiker durchaus Selbstzweck bleiben. Dass diese Bedingungen dann gleichzeitig auch dazu geeignet sind, das Leben der Theorie demjenigen zu ermöglichen, der entsprechende Fähigkeiten und Neigungen hat, bedeutet nicht, dass die Politiker ihr Leben der eudaimonia der Philosophen unterordnen müssten. Diese Frage der Rangordnung zwischen den beiden Formen der eudaimonia entsteht erst dort, wo diese Formen aus der Perspektive ein und desselben Lebens gesehen werden, aus der Perspektive eines Individuums, das philosophische Ambitionen hat. Wenn überhaupt, dann ist also hier der Kontext gegeben, in dem sich die Frage nach einer dominanten oder inklusiven Vorstellung von der eudaimonia stellt und wo entsprechend die praktische Überlegung in der konkreten Lebensführung die eine oder andere Struktur hätte. Im Gegensatz zum ethischen Leben, das inhaltlich vage und vielfältig ist, hat ja das theoretische Leben einen festen angebbaren Inhalt. Wer das theoretische Leben als sein höchstes Ziel sieht und alle anderen Aspekte des Lebens diesem unterordnet, der wird daher, so kann man annehmen, techne-artige praktische Überlegungen in der Form anstellen, dass er jede Handlung, die nicht selbst im Philosophieren besteht, daraufhin befragt, ob sie das beste Mittel zu seinem höchsten Ziel ist. Wer das gute Leben in einer Ganzheit aus theoretischer und ethischer Tätigkeit (und vielleicht noch anderem) sieht, wird statt dessen Teil-Ganzes-Überlegungen anstellen, um festzustellen, welche Handlung zur Herstellung des gewünschten geordneten Lebensganzen führt. Wir hätten dann also zwei konkurrierende Modelle, mit denen sich das philosophische Leben fassen ließe, und wir hätten neben derjenigen phronesis, die nach der Konkretisierung der ethischen arete sucht und methodisch nichts mit der techne-

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Überlegung gemeinsam hat, eine techne-artige ethische Überlegung, die nach Mittel- oder Teilhandlungen zu einem übergeordneten oder umfassenden Lebensziel fragt. Doch bei genauerem Hinsehen ist auch diese Überlegung nicht techne-artig, und sobald wir ihre Beschaffenheit klären, löst sich zugleich die Unterscheidung zwischen inklusiver und dominanter Interpretation der eudaimonia auf. Nehmen wir an, eine Person sieht im theoretischen Leben ihr höchstes Ziel, dem sie alles andere unterordnet. Doch dieses Ziel hat ja nicht die Form eines punktuellen Objekts, sondern besteht darin, in einem in seiner zeitlichen Erstreckung offenen Lebensverlauf möglichst viel Zeit in der philosophischen Tätigkeit zu verbringen. Sehen wir jetzt von gewöhnlichen iec/we-Überlegungen ab, wie sie zu jeder Lebensvorstellung gehören, also etwa Fragen der Sicherung der materiellen Lebensbedingungen, dann besteht diese Überlegung darin zu entscheiden, welche und wieviele Zeiten des Lebens man der theoretischen Tätigkeit widmen will. Da der künftige Lebensverlauf zu keinem Entscheidungszeitpunkt bekannt ist, muss man immer von neuem abwägen, was hier am meisten im Sinn eines Lebens ist, das insgesamt die theoretische Tätigkeit am höchsten bewertet. Ahnlich im Falle des inklusiven Modells: Auch diejenige Person, die die eudaimonia in einer ausgewogenen Mischung theoretischer und ethischer Tätigkeit sieht, verfügt nicht über ein geschlossenes Konzept, nach dessen Teilen sie nun fragen kann, sondern sie ist mit Handlungsentscheidungen innerhalb eines zeitlichen Lebens konfrontiert, dessen Verlauf sie nicht kennt, und muss jeweils fragen, welche konkrete Entscheidung zu welchem Zeitpunkt am ehesten im Sinn ihrer Gewichtung der verschiedenen Bereiche des Guten ist. Die Überlegungsstruktur ist damit für diejenigen, die das theoretische Leben über alles setzen, und für diejenigen, die ein gemischtes Leben anstreben, völlig dieselbe. Was als Unterschied zwischen dominantem und inklusivem Verständnis der eudaimonia erscheint, reduziert sich auf den Unterschied in der Gewichtung von Lebensbestandteilen, während in beiden Fällen die Überlegung darauf bezogen ist zu entscheiden, was zu einem Zeitpunkt die angemessenste Handlung im Sinn des gewünschten Lebensganzen ist (oder in der Weise des griechischen Denkens formuliert, welches der kairos für eine Handlung ist). Es bleibt das Problem, dass wir es genau genommen mit zwei Arten der praktischen Überlegung zu tun haben. Die eine besteht in der Artikulation eines ethischen Werts, der in einer Handlung aufgrund einer ethischen arete realisiert wird, also in der Frage, worin, wenn man ge-

Eudaimonia u n d phronesis

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recht handeln will, hier und jetzt die gerechte Handlung besteht. Das ist diejenige Aufgabe, die Aristoteles detailliert für diephronesis ausarbeitet, wo er sie als Ergänzung der ethischen arete einführt, als diejenige intellektuelle arete, die deren Konkretion ausarbeitet. Die zuletzt erläuterte Überlegung lässt sich hierunter nicht subsumieren. Sie hat zwar strukturelle Ähnlichkeiten, insofern auch sie die Frage nach der angemessenen konkreten Handlung stellt, sie ist jedoch umfassender, insofern sie alle Lebensbereiche und nicht nur das ethische Handeln betrifft. Sie hat mit der Gewichtung der verschiedenen Lebensbereiche und der zeitlichen Gestaltung des Lebens zu tun. Sofern Aristoteles denphronimos in E N VI 5 als denjenigen charakterisiert, der mit Bezug auf sein gutes Leben insgesamt wohlberaten ist, könnte man den Begriff der phronesis in diesem Sinn verstehen. Doch wird bei Aristoteles die Erforderlichkeit dieses umfassenden Begriffs der praktischen Uberlegung nicht explizit gesehen.

Philia in der Nikomachischen Ethik - eine Skizze N A T H A L I E VON SIEMENS

Fragen der Abwägung stellen sich im Bereich der Handlung, der praxis. Während die Betrachtung, die theoria sich auf den Bereich der Wirklichkeit richtet, der vom Betrachter unabhängig ist, ist der Bereich der praxis dadurch bestimmt, dass der Handelnde verändernd eingreifen kann.1 Da der Handelnde diese Möglichkeit hat, muss er überlegen, ob und wenn ja in welcher Weise er Einfluss nimmt. Für eine moralisch gute Entscheidung muss dasselbe von der Vernunft bejaht und vom Strebevermögen begehrt werden (EN 1139 a22-26). Dazu muss nicht nur die Vernunft die Tugend der phronesis, sondern das Strebevermögen die ethischen Tugenden ausgebildet haben. Eine dieser Tugenden, auf die der Handlungswillige für eine gute Überlegung und eine richtige Entscheidung angewiesen ist, ist die Freundschaft, die philia. Wenn Aristoteles feststellt, dass die Klugheit nicht ohne die ethischen Tugenden bestehen kann (EN 1144 a36-b 1), schließt das die Freundschaft ein. Die Freundschaft ist für Aristoteles eine Haltung, die dem Handlungswilligen eine kluge Abwägung in bestimmten Handlungssituationen ermöglicht. Es stellt sich nun die Frage, in welchen Entscheidungssituationen aus der Freundschaft heraus eine klügere Abwägung geleistet werden kann als ohne sie. Ist diephilia allein relevant in Entscheidungssituationen, die ausschließlich den Freund betreffen, oder kann sie auch einen Beitrag für Abwägungen leisten, die nicht ausschließlich den Freund berühren? Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass sich der Beitrag der philia nicht auf Abwägungen beschränkt, die das Verhalten in einer freundschaftlichen Zweierbeziehung betreffen. Die philia ermöglicht dem phronimos auch in anderen Entscheidungssituationen eine bessere Abwägung. Um dies zu zeigen, werden nach einer 1 Auch die poiesis richtet sich auf einen Bereich, in dem der Mensch selbst Veränderungen hervorrufen kann. Die poiesis hat aber im Gegensatz zur praxis ihr Ziel nicht in sich selbst, sondern in etwas von ihr Verschiedenem, nämlich dem hergestellten Gegenstand. Vgl. z.B. EN 1139 a35-b4 und Met. 1025 b22, 25.

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Skizze der philia als Haltung und ihrer Bedeutung innerhalb einer Zweierbeziehung zwei Entscheidungssituationen betrachtet, in denen der phronimos nicht nur abzuwägen hat, wie er sich dem einen Freund gegenüber zu verhalten hat, sondern sein Verhalten diesem Freund gegenüber das Verhalten anderen Personen gegenüber tangiert. Da die Gerechtigkeit die Tugend ist, die eine kluge Abwägung in bezug auf das Verhalten gegen den anderen als anderen ermöglicht (EN 1129 b 25-27), wird die Frage nach dem möglichen Beitrag der philia als Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Freundschaft formuliert. Es wird zu fragen sein, ob Gerechtigkeitsabwägungen in Entscheidungssituationen modifiziert werden, in denen eine Freundschaft involviert ist. Dabei wird sich zeigen, dass Abwägungen aus der richtigen Haltung dem anderen als anderen gegenüber in bestimmten Entscheidungssituationen nicht ausreichen. Die Freundschaft als richtige Haltung gegen den anderen als Besonderen leistet einen Beitrag auch für Abwägungen, die nicht allein den Besonderen tangieren. Ditphilia ist die richtige Haltung in bezug auf den Affekt der Liebe, der philesis (EN 1157 b28-32). Der Affekt der Liebe tritt nicht ohne Grund auf, er wird ausgelöst durch das phileton, das Geliebte oder Liebenswerte, das in das Gute, Angenehme und Nützliche unterschieden wird (EN 1155 b 17-19). Das Strebevermögen antwortet auf dieses dreifach ephileton in einem bestimmten Gegenüber mit dem Affekt der philesis, es begehrt das Gute, Angenehme oder Nützliche. Was nun die richtige Haltung in bezug auf diesen Affekt ist, erklärt Aristoteles durch einen Vergleich (EN 1155 b 27-31). Denn der Affekt der philesis wird nicht nur durch die guten Eigenschaften von Personen ausgelöst, sondern auch durch diejenigen von Sachen. Wenn eine Sache geliebt wird, will ihr Liebhaber sie haben, genießen und gebrauchen. In bezug auf einephilesis einer Sache gegenüber ist dieses Begehren richtig. Einer Person gegenüber zeigte das bloße Habenwollen, Genießenwollen und Gebrauchenwollen aber die falsche Haltung. Denn im Gegensatz zu einer Sache ist eine Person ein strebendes Wesen, sie hat ein eigenes Gut, zu dem sie sich verhalten kann. Eine Sache hat kein eigenes Gut, nach dessen Beförderung sie strebt. Deshalb kann man einer Sache auch nichts Gutes wünschen. Wenn der Weinliebhaber dem Wein Gutes wünschen wollte, hieße das höchstens, dass er ihn erhalten, besonders gut lagern wollte, um ihn später genauso oder noch mehr genießen zu können. Das GutesWünschen, die houlesis agathou (EN 1155 b29) dem Wein gegenüber bleibt nicht beim Wein, sondern führt über ihn zu seinem Liebhaber zurück. Der Liebhaber einer Sache kann nur sich selbst Gutes wünschen.

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In Bezug auf die philesis einer Sache gegenüber ist dies auch richtig ( E N 1155 b29). Wenn es sich aber um eine philesis einer Person gegenüber handelt, ist boulesis agathou nicht nur möglich, sondern gefordert. Der Liebhaber einer Person darf sie nicht unabhängig von ihrem Gut oder gar auf Kosten ihres Wohles begehren. Aristoteles fügt die wichtige Bestimmung hinzu, dass dem Freund um seiner selbst willen Gutes zu wünschen sei, und nennt dies „Wohlwollen um seiner selbst willen", etinoia heneka ekeinou ( E N 1155 b 31-34). Die richtige Haltung in bezug auf den Affekt der philesis einer Person gegenüber bestimmt Aristoteles dadurch, „dass man einander wohl will (eunoein) und Gutes wünscht (boulesthai tagatha), ohne dass einem dies verborgen bleibt, und zwar aus einem der genannten Gründe" ( E N 1156 a4-5). Da die genannten Gründe drei sind, das phileton in das Gute, das Angenehme und das Nützliche unterschieden worden ist, ergeben sich nach dieser Definition der philia drei Formen der Freundschaft. Denn der Liebende wünscht dem Geliebten aus dem Grund Gutes, für den er ihn liebt ( E N 1156 a 9-10). 2 Damit Personen aber nicht nur habituell in Freundschaft ver-

2 Es ist dem Aristoteles vorgeworfen worden, dass diese Definition der philia einen zumindest partiell egoistischen Freundschaftsbegriff vorstelle. Es müsse schon in Frage gestellt werden, ob es überhaupt möglich sei, jemandem um seiner selbst willen Gutes zu wünschen, wenn es dem Liebenden doch um sein eigenes phileton gehe. Auch in der Freundschaft wegen des Guten könne eine egoistische Motivation vermutet werden. Es sei aber gewiss unmöglich, eine Person aufgrund ihrer Nützlichkeit oder der durch sie erreichbaren Lust zu lieben und ihr gleichzeitig um ihrer selbst willen Gutes zu wünschen. An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, dass dieser Vorwurf entkräftet werden kann durch die Unterscheidung von vier Perspektiven, unter denen Aristoteles die Freundschaft betrachtet. Aristoteles unterscheidet den Grund des Liebens, die Identität des Freundes, das Ziel der Freundschaft und das Objekt des Wohlwollens. Ist der Grund des Liebens das Gute, liebt der Freund sein Gegenüber aufgrund seiner guten Charaktereigenschaften, die das ausmachen, was der Geliebte an sich ist. Das Ziel der Freundschaft ist dann die Person des Geliebten selbst, das ihm gewünschte Gut ist entsprechend dem phileton ein umfassendes, das dem Geliebten auch als Person zugute kommt. Liegt der Grund des Liebens dagegen im Angenehmen oder Nützlichen, wird der Freund nicht an sich geliebt, sondern für akzidentelle und relationale Eigenschaften. Das Ziel der Freundschaft ist dann nicht die Person des Geliebten, sondern des Liebhabers. Trotzdem ist auch diese Freundschaft keine egoistische. Wie sich aus dem Weinbeispiel ergibt, wird dem Geliebten auch hier ein Gut gewünscht, und zwar nicht irgendeines, sondern eines, das sein Wohl befördert. Entsprechend Atmphileton ist es ein eingeschränktes, nämlich das Angenehme oder Nützliche. Vgl. Martha C. Nussbaum, 1987, The Fragility of Goodness, Cambridge, S. 355, Anm. und Friedo Ricken, 2000, „Ist die Freundschaft eine Tugend? Die Einheit des Freundschaftshegriffs der Nikomachischen Ethik" in: Theologie und Philosophie 75, S. 483-485. Beide unterscheiden allerdings nur drei Perspektiven, wobei Nussbaum unter dem Objekt der

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b u n d e n , s o n d e r n a u c h aktuell F r e u n d e sind, m ü s s e n sie ihre H a l t u n g b e tätigen. W o h l w o l l e n o d e r boulesis agathou

allein m a c h e n n o c h keine ak-

tuelle F r e u n d s c h a f t aus, sie m ü s s e n im E r w e i s e n v o n W o h l t a t e n realisiert w e r d e n . W i e jede T u g e n d m u s s a u c h die F r e u n d s c h a f t betätigt w e r d e n ( E N 1 1 5 7 b 5 - 1 0 ) . D i e Realisierung des W o h l w o l l e n s in W o h l t a t e n ist n u n d e r H a n d l u n g s k o n t e x t , in d e m diephilia

dem Handlungswilligen

eine kluge A b w ä g u n g e r m ö g l i c h t . A r i s t o t e l e s zeigt, dass die philia

in-

s o f e r n die richtige H a l t u n g in b e z u g auf d e n A f f e k t derphilesis ist, als d e r F r e u n d in allem, w a s er tut, d e n W u n s c h hat, das G u t des G e l i e b t e n n i c h t nur zu achten, sondern auch zu befördern. Reine Nützlichkeitserwäg u n g e n sind bei V o r h a n d e n s e i n des A f f e k t s der philesis

sogar dann un-

zulässig, w e n n sie eine S c h ä d i g u n g des a n d e r e n ausschließen. A u c h in einer N u t z e n f r e u n d s c h a f t m u s s das, was d e m F r e u n d g e g e n ü b e r getan w i r d , dessen G u t n i c h t n u r n i c h t s c h ä d i g e n , s o n d e r n b e f ö r d e r n . I n n e r halb einer F r e u n d s c h a f t sind also gewisse H a n d l u n g s a l t e r n a t i v e n , die z w i s c h e n F r e m d e n d u r c h a u s zulässig sind, v e r s c h l o s s e n . E i n einfaches Beispiel: Z w e i N a c h b a r n pflegen ihre G ä r t e n . K e n n e n sie e i n a n d e r nicht, h a b e n sie n u r S o r g e z u tragen, dass ihr jeweiliges V o r g e h e n bei d e r G a r -

Freundschaft die geliebte Person versteht. Mit der Egoismusdebatte ist zudem ein Vorwurf der Inkonsistenz der Definition der philia in EN 1156 a 3-5 verknüpft. Denn die Nutzen- und die Lustfreundschaft könnten die Bestimmung über die eunoia heneka ekeinou nicht einholen. Es sei zudem nicht einsichtig, warum Aristoteles die Freundschaft als „eunoein allelois kai houlesthai tagatha", als Wohlwollen und Gutes-Wünschen definiert. Die Konsistenz dieser Definition kann gerettet werden, wenn dieses zunächst uneinsichtig erscheinende „kai" partiell explikativ verstanden wird. Durch das kai hebt Aristoteles ein Moment des Wohlwollens hervor, nämlich die Tatsache, dass dem Freund etwas gewünscht werden muss, das auch für ihn ein Gut ist. Jede Beziehung von Personen, die dieser Minimalforderung genügt, kann als Freundschaft bezeichnet werden. Den vollen Begriff der eunoia, in dem die Person des Geliebten auch das Ziel des Wohlwollens darstellt, kann aber nur die Charakterfreundschaft einholen. Vgl. hierzu Friedo Ricken, 2000, S.485. Der Egoismus- und der Inkonsistenzverdacht haben Anlass zu ausgedehnter Diskussion gegeben: z.B. R. A. Gauthier/J.Y. Jolif, 21970, L'Ethique ä Nicomaque, Louvain, S.215; W.W. Fortenbaugh, 1975, Aristotle's Analysis of Friendship: Function and Analogy, Resemblance and Focal Meaning, in: Phronesis 20, S. 51-62; J. M. Cooper, 1977, Aristotle on the Forms of Friendship, in: Review of Metaphysics 30, S. 619-648; Julia Annas, 1977, Plato and Aristotle on Friendship and Altruism, in: Mind 86, S. 532-554; A. D. M. Walker, 1979, Aristotle's account of Friendship in the Nicomachean Ethics, in: Phronesis 24, S. 180-196; C. H. Kahn, 1981, Aristotle and Altruism, in: Mind 90, S. 20-40; A.W. Price, 1989, Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford, S. 137-157; R. Kraut, 1989, Aristotle on the Human Good, Princeton; Peter Hadreas, 1995, Eunoia: Aristotle on the Beginning of Friendship, in: Ancient Philosophy 15, S. 393-402; Michael Pakaluk, 1998, Aristotle, Nicomachean Ethics Books VIII and IX, Oxford, S. 61-63.

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tenarbeit die des anderen bzw. den Zustand seiner Pflanzen nicht negativ beeinflusst. Es gilt, nichts zu pflanzen, was das Wuchern von Unkraut beschleunigt. Darüber hinaus ist auch aktiv dafür Sorge zu tragen, dass das eigene Unkraut nicht auf den Garten des anderen übergreift. Insofern muss auch dem unbekannten Nachbarn genützt werden. Dies ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Der Gerechte achtet das „fremde Gut" ( E N 1130 a 3) und verzichtet deshalb nicht nur auf Schädigung des anderen, sondern nützt ihm ( E N 1130 a4-5). Sind die Nachbarn befreundet, reicht dies aber nicht aus. Sieht der eine den anderen Unkraut jäten, würde der Freund dem Nachbarn beim Jäten zur Hand gehen. Denn er teilt das Interesse des Freundes am Garten, der vielleicht dessen ganzer Stolz ist. Aus der Haltung der philia heraus lässt sich aber nicht nur generell durch die Notwendigkeit der Beförderung des Gutes des Freundes das Eröffnen bzw. Verschließen von Handlungsalternativen ablesen. Aus der Freundschaft lassen sich weitere Fragen beantworten, die in die Überlegung einfließen müssen, wie das Gut des Freundes zu befördern ist. Die erste Frage, die dabei beantwortet werden muss, betrifft den Gegenstand der Wohltat. Hier ist es die Unterscheidung der Formen der Freundschaft, die die Entscheidung bestimmt. Das Objekt des Wohlwollens entspricht nämlich demphileton, dem Grund, der den Affekt der philesis ausgelöst hatte ( E N 1156 a9ff.). In einer Nutzenfreundschaft verschafft der Liebhaber dem Freund Vorteile, in einer Lustfreundschaft bereitet er ihm Spaß. In der Charakterfreundschaft betätigt der Liebhaber sein Wohlwollen durch ein umfassendes Gut. Er wünscht dem Freund Leben und Dasein ( E N 1166 a4ff.) und realisiert dieses Wohlwollen auch in entsprechenden Wohltaten. Mit einer einseitigen Gabe ist aber die Betätigung der Freundschaft noch nicht geleistet. Aristoteles betont die Wechselseitigkeit der Freundschaft. Für eine philia genügt nicht das Vorhandensein der philesis beim Liebhaber, es bedarf der antiphilesis, der Gegenliebe bei seinem Geliebten ( E N 1155 a28). Auch dieser muss die richtige Haltung in bezug auf seinen Affekt haben und seine Freundschaft durch das Erweisen von Wohltaten betätigen. Es ergibt sich also eine Wechselseitigkeit der Wohltat. Ein Zweifaches ist in bezug auf diese Wechselseitigkeit hervorzuheben. Zum einen kann es nicht bei einem einmaligen gegenseitigen Wohltun bleiben. Ein einmaliges Wohltun mag ein Akt der Freigebigkeit sein, es macht aber noch keine aktuelle Freundschaft aus. Zum anderen besteht die Wechselseitigkeit des Erweisens von Wohltaten darin, dass das Gute, das der eine dem anderen erweist, in Relation zu dem Guten steht, das er zuvor von ihm erhalten hatte. Der Empfänger eines

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Gutes muss dieses dem Wohltäter seinerseits durch eine Wohltat vergelten. Für Aristoteles stellt dies eine Forderung der Gerechtigkeit dar (z.B. EN 1167 a 14-15). Die Betätigung der Freundschaft im kontinuierlichen, wechselseitigen Erweisen von Wohltaten geschieht also in einem Austausch von Gütern. Damit wird deutlich, warum für Aristoteles Freundschaft in Gemeinschaft besteht (EN 1171 b32-33). Denn Gemeinschaft ist immer da, wo Austausch ist (EN 1133 b 17-18). Wie jede Gemeinschaft ist auch die Freundschaft auf die Bereitschaft zu einem gerechten Austausch angewiesen. Aristoteles beschreibt diesen gerechten Austausch zwischen Freunden in den Begriffen der Wiedervergeltung (antipeponthos, EN 1132 b 21), einer Form der Gerechtigkeit als Teil der Tugend. Die Wiedervergeltung regelt neben Fragen des Strafrechtes (EN 1132 b28-31) die Bestimmung gerechter Preise (EN 1133 a5ff). Aristoteles betrachtet die elementare Tauschhandelsbeziehung zwischen Baumeister Α und Schuster Β und ihre jeweiligen Produkte, die sie austauschen wollen (EN 1133 a 7-8). Für eine gerechte Wiedervergeltung müssen diese vier Terme, zwei Personen und ihre jeweiligen Produkte bzw. der monetäre Stellvertreter des einen in das richtige Verhältnis gebracht werden. So wie sich der Baumeister Α zum Schuster Β verhält, muss sich der Schuh D bzw. der ihm entsprechende Geldbetrag zum Haus C verhalten (EN 1133a 7-8). Durch diese Proportion werden unterschiedliche Personen und unterschiedliche Produkte vergleichbar, so dass es zu einem Austausch zwischen ihnen kommen kann. Ohne dieses dikaion der Wiedervergeltung, das den Güteraustausch gerecht macht und dadurch aufrecht erhält, kann keine Gemeinschaft Bestand haben. Auch das wechselseitige Erweisen von Wohltaten in der Freundschaft fußt auf dem dikaion der Wiedervergeltung.3 Aristoteles stellt fest, „dass es die Freundschaft mit denselben Dingen und Personen zu tun hat wie das dikaion" (EN 1159 b 25-26). Wie in der Wiedervergeltung in einer elementaren Tauschgemeinschaft ist für die Bestimmung einer angemessenen Gegengabe in der Freundschaft nicht nur auf die ausgetauschten Gegenstände, sondern auch auf Unterschiede zwischen den Personen zu achten. Aristoteles unterscheidet Freundschaften zwischen Gleichen und Ungleichen (z.B. EN 1162 b2-4). 4 Dabei betont 3 Auch Pakaluk stellt fest, „that friendships involve reciprocity and some kind of equal exchange." Allerdings versteht er den gelungenen Austausch in einer Freundschaft nicht als gerechte Wiedervergeltung, sondern bemerkt nur „rough analogies" zu allen Formen der Gerechtigkeit als Teil der Tugend. Vgl. M. Pakaluk, 1998, S. 133-135. 4 Gleichheit herrscht ζ. B. zwischen Brüdern oder anderen Gleichaltrigen, die miteinander aufgewachsen sind. Auch in einer Freundschaft zwischen Männern ähnlicher

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Aristoteles, dass alle drei Formen der Freundschaft zwischen Gleichen und Ungleichen bestehen können, „[...] denn es können ebenso wohl gleich Gute miteinander Freund werden wie der Bessere mit dem Schlechteren und ebenso gleich und ungleich A n genehme, und bei auf den N u t z e n berechneten Freundschaften solche, die einander gleichen, und solche, die einander ungleichen N u t z e n gewähren." ( E N 1162 a 3 6 - b 2 )

Deshalb müssen sowohl in Charakterfreundschaften als auch in Lustoder Nutzenfreundschaften „die Gleichen nach Gleichheit im Lieben und in allem es einander gleich tun, die Ungleichen aber nach Verhältnis das Ubermaß auf der anderen Seite wettmachen" ( E N 1162 b 2 - 4 ) . 5 In einer Freundschaft zwischen Gleichen ist also eine Gegengabe angemessen, die der Gabe in Größe und Qualität entspricht. In einer Freundschaft zwischen Ungleichen muss die Gegengabe dagegen die Gabe in einer noch näher zu bestimmenden Weise übertreffen, um einen Ausgleich herzustellen. Zunächst sollen aber Freundschaften zwischen Gleichen betrachtet werden. Es ist bereits festgestellt worden, dass die Form der Freundschaft, also das jeweiligephileton, den Gegenstand der Wohltat bestimmt. Die Gegengabe ist nur dann angemessen, wenn auch sie dem Grund der Liebe entspricht ( E N 1162 a34-b4). Die Form der Freundschaft modifiziert aber noch in einer anderen Weise, was als anHerkunft und Begabung oder vergleichbarer politischer Stellung besteht Gleichheit. Ungleichheit findet sich dagegen in Freundschaften zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Alteren und Jüngeren oder zwischen Personen von unterschiedlichem sozialen Status. 5 Aus der Bestimmung, dass Gleiche einander Gleiches mit Gleichem vergelten müssen, könnte abgeleitet werden, dass zwischen Gleichen eben nicht das dikaion der Wiedervergeltung gilt, sondern das dikaion des Ausgleichs, das Unterschiede zwischen den beteiligten Personen vernachlässigt (EN 1131 b25ff.). Gegen diese Vermutung muss eingewendet werden, dass die Gleichheit der Gegengabe sich eben nicht aus einer Vernachlässigung eines möglichen Unterschieds zwischen den Personen ergibt, sondern gerade aus der Untersuchung, ob eine Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Personen besteht. Erst wenn das Verhältnis zwischen den Personen als eines der Gleichheit erkannt ist, resultiert die Bestimmung der Gegengabe als einer der Leistung gleichen. Zum anderen betrifft das dikaion des Ausgleichs einen bereits entstandenen Schaden. Das dikaion der Wiedervergeltung dient dagegen dazu, die Angemessenheit einer Gegengabe zu bestimmen, bevor sie geleistet wird. Um den Austausch von Wohltaten zwischen Freunden zu erhalten, bedarf es nicht der Beseitigung von bereits entstandenem Unrecht, sondern primär der Bestimmung einer gerechten Gegengabe, bevor eine Enttäuschung über eine als unangemessen wahrgenommene Vergeltung entstehen kann. Es scheint plausibel, dass eine Freundschaft, in der jede Gegengabe als unangemessen zu bewerten ist, brechen muss, auch wenn beide Seiten jedes Mal bereit sind, die Ungerechtigkeit zu beheben und Wiedergutmachung zu leisten.

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gemessene Gegengabe angenommen werden kann. Aristoteles zeigt anhand möglicher Konflikte, was innerhalb der jeweiligen Form der Freundschaft als gerechte Wiedervergeltung gefordert ist. Charakterfreundschaften sind normalerweise frei von Zwistigkeiten (EN 1162 b 6-8). Denn hier wünschen beide Seiten nichts mehr, als dem anderen Gutes zu tun ( E N 1162 b 9—11). Dabei ist die Gleichheit der Größe der Gegengabe weniger entscheidend als die Gleichheit ihrer Qualität. „Der aber mehr leistet, als er empfängt, wird doch dem Freunde keinen Vorwurf machen, wenn er selbst erlangt, was er begehrt; denn beide Teile streben nach dem Guten." ( E N 1162 b 11-13)

Hierzu ist anzumerken, dass die Bedeutungslosigkeit der Größe der Gegengabe nur für die Perspektive des Gebers gilt. Der Empfänger der Gabe wird sich für seine Gegengabe bemühen, der Größe des Empfangenen darüber hinaus Rechnung zu tragen. Denn in der Charakterfreundschaft gilt die prohairesis des Gebers als Maßstab (EN 1163 a 21-22). O b der Empfänger etwas Gutes erhält und wie groß dieses Gut ist, wird nicht durch seine eigenen Bedürfnisse bestimmt, sondern durch die Gesinnung des Gebers. Die Lustfreundschaft ist der Charakterfreundschaft in der prinzipiellen Resistenz gegen Unzufriedenheit aufgrund der Ungerechtigkeit einer Wiedervergeltung ähnlich. Denn wenn zwei Freunde miteinander Umgang pflegen, weil sie einander angenehm finden, erhalten sie beide zugleich, was der Grund ihrer Freundschaft war und was sie vom anderen erstrebten, nämlich eine Lust ( E N 1162 b 13-14). Quantitative Fragen in bezug auf die Vergeltung einer Gabe sind verhältnismäßig unbedeutend. Während aber in der Charakterfreundschaft die prohairesis des Gebers als Maßstab gilt und damit Qualität und Quantität der Gegengabe bestimmt, muss in der Lustfreundschaft die Lust des Empfängers als bestimmender Faktor gelten. Denn ob der Empfänger eine Lust erhält und wie viel Lust er gewinnt, liegt nicht an der Gesinnung und der Entscheidung des Gebers, sondern an den Neigungen und der Konstitution des Empfängers. Anders stellt sich die Nutzenfreundschaft dar, hier kommt es häufig zu Klagen. Denn da der Nutzen den Grund der Freundschaft liefert, begehrt jeder mehr und meint gleichzeitig, weniger zu erhalten, als ihm angemessen gewesen wäre ( E N 1162 b 16-19). Zwischen Nutzenfreunden kann nach Aristoteles der Wohltäter nie soviel leisten, als die Forderungen des Empfängers gehen ( E N 1162 b 19-21). Uber diese grundsätzliche Tendenz zur Habgier hinaus ist die Nutzenfreundschaft in einer weiteren Weise problematisch. Aristoteles unterscheidet die legale von der ethischen Nutzenfreundschaft ( E N 1162 b23).

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Nathalie von Siemens „Die legale Freundschaft ist die auf ausdrückliche Bedingungen hin eingegangene, teils die ganz gemeine, w o Leistung und Gegenleistung Zug u m Zug erfolgt, teils die von vornehmerer F o r m , w o die Gegenleistung später erfolgen soll, doch so, dass Leistung und Gegenleistung vertraglich bestimmt werden." ( E N 1162 b 2 5 - 2 8 )

In der legalen Nutzenfreundschaft sind also sowohl die Bedingungen als auch die Verpflichtungen bekannt und von beiden Seiten angenommen und vertraglich festgelegt. Zu einem Streit über die Größe oder die Qualität von Leistung und Gegenleistung kann es hier also nicht kommen. „Die ethische Nutzenfreundschaft wird dagegen nicht unter ausdrückliche Bedingungen gestellt, vielmehr gibt sich in ihr jede Leistung, sei es eine Schenkung oder sonst was, als eine Bekundung der Freundschaft; man rechnet aber darauf, gleich viel oder noch mehr zu empfangen, weil man tatsächlich nicht geschenkt, sondern nur geliehen hat, und erfolgt nun die Gegenleistung nicht in eben der Weise wie die Leistung, so k o m m t es zu Klagen." ( E N 1162 b 3 1 - 3 4 )

In der ethischen Nutzenfreundschaft gibt es vor der Gabe keine Abstimmung und vertragliche Sicherung, was als angemessene Gegengabe zu gelten hat und gefordert ist. Anders als in der Charakter- oder der Lustfreundschaft besteht in der ethischen Nutzenfreundschaft deshalb ein hohes Konfliktpotential über die Größe der Gegengabe. Der richtige Maßstab für die angemessene Gegengabe ist der Nutzen des Empfängers ( E N 1163 a 17-21). Was ist die Freundschaft angesichts dieser Anweisungen für die Abwägung einer Gegengabe anderes als eine gelungene, also gerechte und auch von beiden Seiten als gerecht empfundene Wiedervergeltung? Das einzige, was sich für die Bestimmung der Gegengabe direkt aus der Freundschaft und nicht aus dem dikaion ablesen lässt, scheint auf den ersten Blick der Gegenstand der Wohltat zu sein, der dem phileton und damit der jeweiligen Form der Freundschaft zu entsprechen hat. Trotzdem gibt es drei wichtige Unterschiede zur gerechten Wiedervergeltung in einer elementaren Tauschhandelsbeziehung wie der zwischen Schuster und Baumeister. Es ist bereits sichtbar geworden, dass in der Charakterfreundschaft die Größe der Gegengabe aus der Perspektive des Wohltäters bedeutungslos ist. Auch in der Lustfreundschaft sind quantitative Fragen verhältnismäßig unerheblich. In einer elementaren Tauschhandelsbeziehung, die das Uberleben der Beteiligten sichern muss, ist dies undenkbar. Keinem Verkäufer kann die Höhe der Zahlung des Käufers gleichgültig sein. Ebenso kann in einer solchen Tauschhandelsbeziehung die probairesis des Gebers niemals den Maß-

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stab für eine angemessene Gegengabe liefern. Bietet der Bäcker in noch so freundlicher Gesinnung ein verschimmeltes Brot zum Kauf an, kann der Käufer sein Angebot nur ablehnen. Aber nicht nur die Charakteroder die Lustfreundschaft unterscheiden sich von der elementaren Tauschhandelsbeziehung. Auch die Nutzenfreundschaft lässt sich nicht auf eine gelungene Wiedervergeltung reduzieren, obwohl sie ein fast ausschließlich rechtliches Verhältnis darstellt ( E N 1162 b28-29). Aristoteles fügt der Bestimmung der angemessenen Gegengabe über den Nutzen des Empfängers eine wichtige Bemerkung an. „Die Hilfe ist also so groß geworden wie der N u t z e n des Empfängers, und so hat er dem Geber so viel zu vergelten, als er Hilfe erfahren hat, oder auch mehr, da dies schöner (kallion) ist." ( E N 1163 a 1 7 - 2 1 )

In einer elementaren Tauschhandelsbeziehung mutet der Gedanke, mehr zu leisten als zu empfangen, unpassend an. Die Nutzenfreundschaft hat dagegen Raum für eine solche Aufforderung. Dass die Nutzenfreundschaft qua Freundschaft eine bloße Wiedervergeltung übertrifft, zeigt sich vor allem auch an der Möglichkeit des Gebers, dem Empfänger Aufschub bei der Gegenleistung zu gewähren ( E N 1162 b29). In der elementaren Tauschhandelsbeziehung zwischen einander möglicherweise gänzlich Unbekannten ist ein solcher Aufschub problematisch, da der Geber nie sicher sein kann, ob und wann er seine Gegenleistung erhält. In der Nutzenfreundschaft herrscht dagegen zwischen den Partnern Vertrauen. Denn eine Nutzenfreundschaft besteht nicht in einem einmaligen Austausch, sondern in einer kontinuierlichen Folge von wechselseitigen Wohltaten. Uber diese Wiederholung von gelungenen Wiedervergeltungen können die Freunde eine Gewissheit entwickeln, dass der Empfänger willens ist, die angemessene Gegenleistung zu erbringen. Gelingt es ihm tatsächlich nicht, obwohl er sein Möglichstes dafür getan hat, wird sich der Geber auch in einer Nutzenfreundschaft mit der unter Umständen defizitären Gegengabe begnügen ( E N 1163 a 6-7). Die Bereitschaft, auf die angemessene Gegengabe zu verzichten und sich mit dem Möglichen zu begnügen, wenn der Empfänger glaubhaft versichert, nicht mehr leisten zu können, ist einer elementaren Tauschhandelsbeziehung fremd. Der zweite Unterschied zwischen Freundschaft und bloßer gerechter Wiedervergeltung wird in der Freundschaft zwischen Ungleichen sichtbar. Auch hier stellt sich die Frage nach der angemessenen Gegengabe. Wie in der Freundschaft zwischen Gleichen muss auch zwischen Ungleichen der Gegenstand der Gegenleistung dem der Gabe, also dem jeweiligen phileton entsprechen. Trotzdem unterscheidet sich die Wie-

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dervergeltung in einer Freundschaft zwischen Ungleichen in einem wichtigen Punkt von der zwischen Gleichen. Aristoteles geht davon aus, dass der unterlegene Empfänger einer Wohltat dem überlegenen Geber gar keine gleiche Gegengabe leisten kann. Aufgrund der Ungleichheit der beteiligten Personen ist eine in Größe und Qualität gleiche Gegenleistung ausgeschlossen. Kinder können ihren Eltern bspw. das Geschenk ihres Lebens und Daseins niemals zurückgeben. Trotzdem ist es auch zwischen Ungleichen möglich, eine angemessene Gegengabe zu leisten. Wer aufgrund der Überlegenheit des Wohltäters mehr erhält, sei es mehr Vorteil, mehr Lust oder mehr Förderung in seiner Tugendhaftigkeit, muss dieses Mehr in seiner Gegengabe durch ein Mehr an Ehre ausgleichen (EN 1163 b 1—3). Wenn der Empfänger der Überlegenheit des Gebers durch ein Mehr an Ehre gerecht wird, hat er eine angemessene Gegenleistung erbracht. Auch hier wird aber der Überlegene nicht das Geschuldete verlangen, sondern sich mit dem zufrieden geben, was der Unterlegene an Ehrung leisten kann. „Denn die Freundschaft fordert nur das Mögliche, nicht das gemäß der Würdigkeit (axia)" (EN 1163 b 15). In einer elementaren Tauschhandelsbeziehung ist es undenkbar, dass Defizite einer Gegenleistung durch ein Mehr an Ehre ausgeglichen werden. Hier ist es allein die Größe und die Qualität des monetär zu bewertenden Gegenstandes, die die Angemessenheit der Gegenleistung bestimmen. Ein nicht monetär zu bewertendes Gut wie die Ehre kann in einer elementaren Tauschhandelsbeziehung keine Komponente der Gegengabe darstellen. Warum ist aber in der Freundschaft ein Übertreffen der Gabe durch die Gegengabe, ein Aufschub oder ein Verzicht der Gegenleistung und ein Ausgleich zwischen Ungleichen durch ein Mehr an Ehre möglich? Warum können diese Möglichkeiten in die Überlegung einfließen, wie sich dem Freund gegenüber zu verhalten sei? Die Antwort liegt in dem dritten Unterschied der Freundschaft zu einer bloßen gerechten Wiedervergeltung. Im Gegensatz zu einer elementaren Tauschhandelsbeziehung besteht die Freundschaft nämlich in einem affektiven Verhältnis. Freunde lieben einander, und weil sie einander lieben, erweisen sie sich wechselseitig Wohltaten. Der Austausch in Freundschaften beginnt also mit dem Wunsch des Gebers, dem anderen etwas Gutes zu tun. In elementaren Tauschhandelsbeziehungen ist es dagegen unerheblich, ob die Partner einander zugetan sind. Sie werden ausschließlich zur Befriedigung von Bedürfnissen eingegangen, der Austausch von Gütern beginnt mit dem Bedürfnis des Empfängers. Die Wiedervergeltung muss angemessen geleistet werden, sonst kommt es zu ei-

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nem Rechtsstreit. Ein solcher Rechtsstreit ist nicht mal in der legalen Nutzenfreundschaft angemessen ( E N 1162 b 29-30). „Man meint, dass diejenigen, die auf Treu und Glauben Verbindungen eingehen, sich lieben müssen" ( E N 1162 b 30-31). Im Griechischen steht hier „stergein", das affektive Verhältnis wird also auch in der Nutzenfreundschaft als so stark gesehen, dass ein Streit vor Gericht mit der Androhung von Sanktionen unangemessen scheint. Eine Verfehlung des dikaion der Wiedervergeltung kann in der Freundschaft nicht durch einen gerichtlich verfügten Ausgleich wiedergutgemacht werden. Während in elementaren Tauschhandelsbeziehungen ein solcher gerechter Ausgleich das Problem behebt ( E N 1131 b25ff.), bleibt in Freundschaften eine Verletzung im Affektiven. Der Freund, dem sein Gegenüber dauerhaft eine gerechte Vergeltung verweigert, wird nicht nur in bezug auf seine Gegengabe, sondern auch in seiner Liebe betrogen. Dabei darf das affektive Moment im wechselseitigen Austausch von Gabe und Gegengabe nicht als bloße Begleiterscheinung missverstanden werden. Gerecht und damit stabil ist der Austausch zwischen Freunden nur dann, wenn auch im Affektiven eine angemessene Wiedervergeltung geleistet wird. In der elementaren Tauschhandelsbeziehung ist es für die Angemessenheit der Gegengabe unerheblich, ob sie mit oder ohne Zuneigung geleistet wird. Uber die Einhaltung eines Mindestmaßes an Höflichkeit hinaus, gibt es hier keine gerechtfertigte Forderung nach einer affektiven Antwort. Da es sich nicht um ein affektives Verhältnis handelt, ließe sich auch kein Kriterium bestimmen, aus dem sich ergäbe, welche affektive Reaktion angemessen wäre. Für die Freundschaft betont Aristoteles dagegen die Notwendigkeit einer solchen Angemessenheit der affektiven Antwort. Der Austausch von Wohltaten zwischen Freunden reduziert sich nicht auf Güter oder Leistungen, sondern schließt das Affektive ein. Auch darin muss eine Wechselseitigkeit zwischen den Freunden bestehen. Zuneigung und Liebe können insofern ebenfalls als Gabe verstanden werden, und wer beides gibt, muss auch beides erhalten. Gleiche müssen es sich dabei wie in allem anderen auch im Lieben gleichtun, Ungleiche den Unterschied in der Würdigkeit der Personen durch die Verhältnismäßigkeit des Liebens wettmachen ( E N 1162 b 2 - 4 ) . Aristoteles fordert in der Freundschaft also Gerechtigkeit auch im Affektiven. Wenn hier nicht nach Gleichheit bzw. nach Verhältnis das Lieben beantwortet wird, entspricht die affektive Wiedervergeltung nicht dem dikaion. Ein dauerhaftes Ungleichgewicht im affektiven Austausch unterhöhlt wie jede unangemessene Wiedervergeltung die Stabilität der Freundschaft. Wer

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im Gegenzug für seine Zuneigung nicht genügend widergeliebt wird, kann die Freundschaft nicht aufrechterhalten. Affektive Unausgewogenheit ist eine Verfehlung des dikaion der Wiedervergeltung, die als schmerzhaft und auf Dauer als unerträglich empfunden wird. Die Betonung des affektiven Verhältnisses zwischen Freunden zeigt erneut die Bedeutung des dikaion der Wiedervergeltung als Fundament der Freundschaft. Da in einer gelingenden Freundschaft das dikaion nicht nur im Austausch von Wohltaten, sondern auch im Affektiven eingehalten wird, kann Aristoteles behaupten, zwischen Freunden werde das höchste dikaion angetroffen (EN 1155 a28). Damit wird auch deutlich, warum Ungerechtigkeit zwischen Freunden schwerer wiegt als zwischen Fremden (EN 1160 a2-7). Gleichzeitig wird sichtbar, inwiefern die Freundschaft eine bloße gerechte Wiedervergeltung übertrifft. Die Freundschaft ist kein einfacher gelungener Güteraustausch, sondern ein Austausch von Wohltaten, die ein Wohltun im Affektiven einschließen. Dabei erfährt das, was als gerechte Leistung und Gegenleistung gelten kann, in der Freundschaft als affektivem Verhältnis eine Modifikation. Aus der Gerechtigkeit allein lässt sich die kluge Abwägung des richtigen Verhaltens dem Freund gegenüber nicht leisten. Die bis hier betrachteten Entscheidungssituationen betrafen Personen in einer Zweierbeziehung unter Absehung von anderen Freundschaften oder nicht-freundschaftlichen Beziehungen. Der Mensch lebt aber nicht in solchen ausschließlichen Zweierbeziehungen, sondern in einem Geflecht von persönlichen Beziehungen und in einer Vielzahl von Gemeinschaften. Nicht alle dieser Beziehungen oder Gemeinschaften sind freundschaftliche. In allen stellt sich aber die Frage nach dem richtigen Verhalten dem oder den anderen gegenüber. Dabei kann das Verhalten dem einen das Verhalten dem anderen gegenüber tangieren. Hat die philia hier etwas für die Frage der Abwägung der Verhaltensweisen gegeneinander beizutragen? Wenn dies bejaht werden kann, ist gezeigt, dass dit philia nicht nur die Überlegung des richtigen Wohltuns innerhalb der freundschaftlichen Beziehung ermöglicht. Diephilia ist dann neben der Gerechtigkeit eine eigenständige Voraussetzung für die kluge Handlungsüberlegung überhaupt und muss in die Abwägung des richtigen Verhaltens allen, also auch nicht-befreundeten Personen gegenüber einbezogen werden. Um zu prüfen, ob die philia in dieser Weise Voraussetzung für die kluge Handlungsüberlegung ist, sollen zwei Konfliktsituationen betrachtet werden, in denen die philia Relevanz entwickeln kann. Konflikte können sowohl zwischen den Interessen von zwei Freunden (A) als auch zwischen den Interessen eines

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Freundes und eines Fremden (B) entstehen. 6 Konfliktsituationen des ersten Typs unterscheiden sich in den Konflikt zwischen zwei gleichzeitig bestehenden Wünschen nach Wohltat ( A l ) bzw. zwischen zwei gleichzeitig bestehenden Verpflichtungen zur Gegengabe (A2) und in den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Wohltat dem einen Freund gegenüber und der Verpflichtung zur Gegengabe dem anderen Freund gegenüber (A3). Konfliktsituationen des zweiten Typs können in den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Wohltat einem Freund und der Verpflichtung zu einer Wiedervergeltung dem Nicht-Befreundeten gegenüber ( B l ) und den Konflikt zwischen der Verpflichtung zur Gegengabe dem Freund und der Verpflichtung zur Wiedervergeltung dem Nicht-Befreundeten gegenüber (B2) unterschieden werden. Diese fünf Konfliktmöglichkeiten können alle so geartet sein, dass die Realisierung der einen Wohltat bzw. Verpflichtung die der anderen ausschließt. Der phronimos muss also abwägen, für welche er sich entscheidet. Die erste Verhaltensweise in bezug auf diese Konfliktmöglichkeiten besteht in ihrer Vermeidung durch eine Begrenzung der Anzahl der Freunde. Bevor eine neue Freundschaft eingegangen werden kann, muss geprüft werden, ob es möglich ist, dem neuen Freund in Wohltaten und Gegenleistungen gerecht zu werden, ohne die Betätigung von bestehenden Freundschaften in Frage zu stellen. Freunde verbringen Zeit miteinander. Freunden ist es das Liebste, zusammenzuleben ( E N 1171 b32) und all das gemeinsam zu tun, was ihnen am meisten am Herzen liegt ( E N 1172 a 1-8). Freunde tauschen sich im Gespräch aus ( E N 1170 b 10-12), teilen Uberzeugungen und Meinungen. Sie erleben die Freude und das Leid des anderen mit ( E N 1166 a7-8). Je höher die Form der Freundschaft, desto enger und gefüllter ist dieses Zusammenleben, desto mehr werden freudvolle und leidvolle Erfahrungen geteilt. In der Charakterfreundschaft ist der Geliebte ein alios autos, ein anderes Selbst ( E N 1166 a 32). Charakterfreunde stimmen nicht nur in ihren Charakteren überein, sondern erleben die Freude und das Leid des anderen als ihr eigenes. Auch die gemeinsamen Betätigungen und das Miterleben von

6 Damit soll nicht unterstellt werden, dass dies die einzigen denkbaren Konfliktsituationen sind. Bei den ausgewählten Situationen handelt sich um Beispiele, die die Eigenständigkeit der Freundschaft insofern illustrieren können, als in beiden sowohl Forderungen der Gerechtigkeit als auch der Freundschaft bestehen. Damit ist nichts über Situationen gesagt, die keinen Freund direkt tangieren. Ob eine Person, die Freundschaften pflegt, sich in beliebigen Entscheidungssituationen anders verhält als eine Person, die die Haltung der philia in bezug auf keinen anderen ausgebildet hat, muss hier offen bleiben.

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Emotionen gehören zu den Wohltaten und Verpflichtungen in einer Freundschaft. Im Zusammenleben mit vielen Freunden muss es hier schon aus Zeitmangel notwendigerweise zu Reibungen kommen. Für Aristoteles gibt es deshalb keine Frage, dass die Anzahl von Freundschaften aller Formen zu begrenzen ist. Nutzenfreundschaften müssen auf das Notwendigste beschränkt werden ( E N 1170 b 26-27), wenige Lustfreunde genügen, um dem Leben Reiz zu verleihen ( E N 1170 b 28-29). Auch Charakterfreundschaften sollen nur so eingegangen werden, dass ein Zusammenleben möglich ist ( E N 1171 a 1-3). Ein wichtiges Kriterium ergibt sich daraus, dass Charakterfreunde Freude und Leid teilen. Je größer die Zahl der Freunde, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Liebhaber gleichzeitig gegensätzliche und einander ausschließende Empfindungen teilen muss ( E N 1171 a6-8). Die richtige Haltung in bezug auf eine philesis kann auch darin bestehen, keine neue Freundschaft einzugehen, wenn dem neuen Freund nicht entsprochen werden kann oder dies bestehende Freundschaften gefährden würde. Es wäre gegen die Forderung nach gerechtem Austausch im Affektiven, wenn dem neuen Freund eine falsche Hoffnung gemacht und dem alten Freund Aufmerksamkeit entzogen würde. Die Begrenzung der Anzahl von Freunden kann zwar die Entstehung von Interessenkonflikten einschränken, aber nicht ausschließen. Aristoteles ist sich bewusst, dass alle fünf Konfliktsituationen auftreten können und dass ihre Lösung problematisch ist. „Eine Aporie enthalten auch die folgenden Fragen, ob man seinem Vater alles gewähren und ihm in allem folgen müsse, oder ob man in Krankheitsfällen dem Arzt folgen und bei der Wahl eines Feldherren einem kriegstüchtigen Mann seine Stimme geben solle; ebenso, ob man einem befreundeten Mann mehr Dienste erweisen müsse als einem tugendhaften und tüchtigen, und ob man Liebe und Gunst eher einem Wohltäter wiedererweisen als einem lieben Gefährten zuvor erweisen müsse, wenn beides zusammen nicht möglich ist." ( E N 1164 b22-27)

U m diesen schwierigen Abwägungsfragen zu begegnen, greift Aristoteles zunächst auf das dikaion der Wiedervergeltung zurück. „Soviel steht indessen außer Zweifel, dass man nicht einem alles gewähren soll, und ebenso, dass meistens die Pflicht, empfangene Wohltaten zu vergelten, der Pflicht, Gefährten gefällig zu sein, vorangeht, weil die Wohltat einem Darlehen verglichen werden kann, auf das der Gläubiger ein größeres Recht hat als der Gefährte." ( E N 1164 b 30-33)

In Konflikten des Typs A l darf keine Einseitigkeit im Erweisen von Wohltaten bestehen, in Konflikten des Typs A2 muss gefragt werden, wo die größere Verpflichtung besteht. Bei Fragen der Typen A3 und

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B1 steht die Realisierung des dikaion der Wiedervergeltung durch die geschuldete Gegengabe über der Betätigung der Freundschaft durch neuerliche Wohltaten. Heißt das aber, dass das eigentlich Freundschaftliche, nämlich das Wohltun aufgrund von Liebe, hinter das von der Gerechtigkeit geforderte zurücktreten muss? Ist die Freundschaft ein Luxus, den sich nur derjenige leisten kann, der alle anderen Verpflichtungen und Forderungen der Gerechtigkeit abgearbeitet hat? Dass dies nicht bzw. nicht immer zutrifft, zeigt Aristoteles anhand eines Konfliktfalls des Typs B2. „Es fragt sich ζ. B.: muss einer, der aus Räuberhänden losgekauft worden ist, seinen Befreier, wer er auch sei, wieder loskaufen und ihm selbst, wenn er nicht gefangen ist, aber das Lösegeld wiederhaben will, es zurückzahlen, oder muss er zuerst seinen gefangenen Vater loskaufen? Man sollte doch meinen, da sei man noch eher verpflichtet, den Vater loszukaufen als sich selbst." ( E N 1164 b 3 4 - 1 1 6 5 a 2 )

Woraus resultiert diese größere Verpflichtung? Zum einen muss das O b j e k t des Wohlwollens betrachtet werden. In der Freundschaft, vor allem der Charakterfreundschaft kann dieses O b j e k t von einer so bedeutenden G r ö ß e und Qualität sein, dass der Empfänger immer in der Schuld des Wohltäters bleibt und die Verpflichtung zur Gegenleistung ihm gegenüber immer größer ist als gegen andere. Im vorliegenden Fall hat der Sohn vom Vater das größte denkbare Gut erhalten, nämlich sein Leben. Zudem hat der Vater sein Dasein gefördert, ihn nicht nur großgezogen, sondern ihm seine Erziehung ermöglicht. Zum anderen handelt es sich bei der Freundschaft wie gezeigt um ein affektives Verhältnis, in dem auch im Affektiven eine gerechte Wiedervergeltung geleistet werden muss. Aus dem Affektiven erwächst in der Freundschaft eine eigene Verpflichtung. N u n geht mit einer Entscheidung gegen die Rettung des Vaters auch eine Entscheidung gegen die ihm geschuldete affektive Gegenleistung einher. Die Notwendigkeit der Einhaltung des dikaion der Wiedervergeltung auch im Affektiven liefert ein eigenes Argument in der Abwägung zwischen den Verpflichtungen gegen den Vater und gegen den Retter. In der Abwägung zwischen zwei gleichzeitig bestehenden Verpflichtungen kann die Freundschaft für die Entscheidung ausschlaggebend sein. D e r Freund entscheidet sich gegen die bloße Wiedervergeltung des Kreditgeschäftes mit seinem Retter und für die aufgrund der affektiven Gegenleistung größere Verpflichtung gegen seinen Vater. Aber Aristoteles geht noch einen Schritt weiter. Ceteris paribus ist zwar immer zunächst die Schuld zu begleichen. „Wenn aber in einer Gabe (dosis) das Schöne (kalon) oder die Notwendigkeit über-

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wiegt, so muss man zugunsten dieser Momente von der Regel abweichen" (EN 1165 a 3-4). Aristoteles schreibt hier dosis, die Möglichkeit der Abweichung besteht also nicht nur in der Abwägung zwischen gleichzeitig zu leistenden Verpflichtungen (A2, B2), sondern auch in der Abwägung von Wohltaten (Al) und Wohltaten gegen Verpflichtungen (A3, Bl). Vor einer solchen Abweichung sind zwei Kriterien zu bedenken. Zum einen muss der Charakter des Gegenübers beachtet werden. So muss einer lasterhaften Person, die einer tugendhaften einen Kredit gewährt hatte, umgekehrt nicht wiedergeborgt werden. Der schlechte Charakter des Geldgebers entbindet den Empfänger von der Verpflichtung, ihn umgekehrt ebenfalls unterstützen zu müssen (EN 1165 a 5-10). Zum anderen ist auf das Bestehen von Freundschaften zu sehen. „Den Verwandten, Zunftgenossen, Mitbürgern und allen übrigen muss man stets das ihnen eigene zu erweisen suchen und dabei das ihnen gemäß ihrer Vertrautheit und Tugend oder gemäß ihrem Nutzen Zukommende mitbedenken (synkrinein)." ( E N 1165 a30-33)

Die Betrachtung von Konfliktfällen zeigt erneut die Bedeutung des dikaion in Entscheidungssituationen, in denen eine Freundschaft involviert ist. Die ethischen Tugenden können für Aristoteles nicht getrennt auftreten (EN 1144 b 32-34). Gerechtigkeit ist nicht ohne Maßhaltung zu denken, Freundschaft nicht ohne Gerechtigkeit. Der Ungerechte wird niemals ein guter Freund sein. Gleichzeitig muss in die Abwägung des angemessenen Verhaltens innerhalb des Geflechtes aus freundschaftlichen und nicht-freundschaftlichen Beziehungen die philia als eigener Bestandteil der Überlegung einfließen. Aus der Freundschaft ergeben sich Kriterien, ohne die hier eine kluge Abwägung nicht geleistet werden kann. Auch wenn das dikaion das Fundament des richtigen Verhaltens in diesem Geflecht an Beziehungen bleibt, können Situationen auftreten, in denen der phronimos ohne Berücksichtigung der Freundschaft nicht die richtige Entscheidung fällt. In Entscheidungssituationen, in denen eine Freundschaft tangiert wird, kann das vom dikaion Geforderte eine Modifikation erfahren. Wie es überhaupt unmöglich ist, ohne die ethischen Tugenden in Fragen der praxis ein kluges Urteil zu fällen (EN 1144 a34-bl), kann die phronesis auch nicht ohne die Freundschaft gedacht werden. Die philia ist eine eigenständige Voraussetzung der Handlungsüberlegung des phronimos.

Die frühe stoische Theorie des Werts KATJA VOGT

Als gut gilt den Stoikern allein Tugend, als schlecht deren Gegenteil. Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Reichtum und Armut sind weder gut noch schlecht, sondern indifferent (adiaforon). Unter den indifferenten Dingen haben einige Wert (axia) und sind deshalb vorzuziehen, andere haben Unwert (apaxia) und sind deshalb zurückzuweisen. 1 Ohne die Theorie des Werts wäre unverständlich, wie der Weise zwischen konkreten Handlungsoptionen abwägt. Entscheidungen, die auf nichts anderes bezugnehmen als darauf, dass die Tugend gut und ihr Gegenteil schlecht ist, erscheinen kaum möglich. Wären die Dinge, die mit der Lebensführung zu tun haben (quae ad vitam degendam pertinerent) völlig unterschiedslos, so ließe sich keine Aufgabe für die Weisheit finden: es müsste nicht ausgewählt werden (Cicero, De fin. 3.50; SVF 1.365; LS 581). Insofern die Dinge der Lebensführung sich jedoch in ihrem Wert unterscheiden, gibt es eine spezifische Leistung und Aufgabe der Weisheit - das Aus- und Abwählen von Dingen mit mehr oder weniger Wert bzw. Unwert. Obwohl die Unterscheidung zwischen Gut und Wert im Zentrum der stoischen Ethik steht, haben bislang wenige Interpreten hervorgehoben, wie schwierig sich die Handlungsüberlegung des Weisen rekon1 Der Ausdruck .Unwert' ist ohne Frage nicht elegant, hat jedoch den Vorteil, den Gegensatz zwischen axia und apaxia genau zu erfassen. Die deutschen Ubersetzungen, die dieser und den folgenden Paraphrasen der stoischen Theorie zugrundeliegen, sind in vielen Fällen in Auseinandersetzung mit Karlheinz Hülsers Übersetzungen in der deutschen Ausgabe der Fragmentsammlung von Long und Sedley sowie Malte Hossenf eiders Ubersetzungen in Hossenfelder, 1996, Antike Glückslehren, Stuttgart: Kröner, entstanden. A.A. Long, David N. Sedley, 2 1992, The Hellenistic Philosophers. Vol. 1 Translations of the principal sources, with a philosophical commentary. Vol. 2 Greek and Latin texts with notes and bibliography, Cambridge: Cambridge University Press (abgekürzt: LS). A.A. Long und D . N . Sedley, 2000, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler.

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struieren lässt. In einem jüngst erschienenen Aufsatz macht Rachel Barney zurecht darauf aufmerksam, dass die Quellen in dieser Frage ein außerordentlich komplexes Bild entwerfen.2 Wie Barney hervorhebt, sprechen die Quellen dafür, dass der abwägende stoische Weise in jeder Handlungsentscheidung zwischen indifferenten Dingen, die mehr oder weniger Wert bzw. Unwert haben, wählt.3 Gleichzeitig machen eine Vielzahl von Texten deutlich, dass es dem Weisen letztlich allein um das Gute geht. Dass alle Handlungsentscheidungen als Fälle des Aus- und Abwählens von Indifferentem zu verstehen sind, kann daher nicht gleichbedeutend mit der These sein, in der Überlegung spiele der Bezug auf das Gute keine Rolle. In Ciceros berühmter Erläuterung der oikeiösis wird deutlich, dass der Tugendhafte das Gute als wichtigsten Bezugspunkt seines Lebens und Handelns sieht: Er erkennt Ubereinstimmung (homologia) als das letztlich einzig Erstrebenswerte, und diese Einsicht prägt seine Handlungsüberlegung im ganzen (Cicero, De fin. 3.21-22). Gegen die Auffassung, für die Handlungsüberlegung des Weisen sei der Bezug auf das Wertvolle hinreichend, spricht weiter, dass die Stoiker das Gute als Gegenstand der Wahl bezeichnen: Während das Wertvolle Gegenstand des Auswählens (ekloge) ist, ist richtigerweise nur das Gute Gegenstand der Wahl (hairesis).4 Wertvolles, so Cicero, ist der stoischen Theorie zufolge auszuwählen (seligendum), Gutes dagegen zu erstreben (expetendum) (De fin. 3.22).5 Beide Unterscheidungen machen deutlich, dass der tugendhafte Akteur sich in praktisch relevanter Weise auf das Gute bezieht. Die Interpretation muss damit die Frage beantworten, inwiefern das Handeln des Weisen einerseits auf das Aus- und Abwählen von indifferenten Dingen beschränkt, und andererseits grundlegend durch das Erstreben des Guten geprägt ist. Diese Frage ist, insofern sie über den Begriff des Guten in mehrere zentrale Bereiche der stoischen Philosophie (die Konzeption der Vernunft, der Natur, der Tugend etc.) führt, sehr umfassend.6 Im Folgenden werde ich mich weitgehend auf einen Aspekt der Thematik beschränken - auf die Frage, wie sich der 2 Rachel Barney, 2003, A Puzzle in Stoic Ethics, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy Vol. 24, S. 303-340. Zu der schwierigen Quellenlage in dieser Frage vgl. Brad Inwood, 1999, Rules and Reasoning in Stoic Ethics, in: Katerina Ierodiakonou (Hrsg.), Topics in Stoic Philosophy, Oxford: Clarendon Press, S. 95-127, 112. 3 Barney, 2003, S. 314. 4 Stobaeus 2.75.1-6, 2.78,7-12, 2.79.1-4 und 15-17. 5 Epiktet erklärt, die Seele habe ein natürliches Verlangen (orexis) nach dem Guten (Dissen. 3.3.2-4).

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Weise in der Handlungsüberlegung auf Wertvolles bezieht, und ob in der Abwägung Gutes und Wertvolles konkurrierende Gesichtspunkte der Überlegung abgeben oder nicht. Die Handlungsüberlegung, so meine These, ist insofern auf Dinge von Wert oder Unwert beschränkt, als (1)'mjeder Abwägung zwischen Handlungsoptionen, in denen Indifferentes aus- oder abgewählt wird, entschieden wird, so dass (2) Handlungsoptionen, in denen Indifferentes aus- und abgewählt wird, nicht gegen solche abgewogen werden, in denen Gutes gewählt würde. Ich werde zu zeigen versuchen, dass das Erstreben des Guten nicht als ein direktes Anstreben verstanden werden darf, welches dem Auswählen des Wertvollen entgegenstehen könnte. Vielmehr ist das Gute in der Weise Gegenstand des Erstrebens, dass es - einmal erkannt - einen grundlegenden Perspektivwechsel bezogen darauf herstellt, warum es gilt, Wertvolles auszuwählen.

1. Entscheidungen gegen Wertvolles Mit dieser Interpretation der stoischen Theorie von Wert und Gut wende ich mich v. a. gegen folgende Sicht: Der Weise wählt normalerweise das Wertvolle; sobald jedoch ,die Tugend auf dem Spiel steht', verzichtet er auf Gesundheit, Leben oder Ansehen. Dieser Deutung zufolge erscheint die stoische Unterscheidung zwischen Gut und Wert als Unterscheidung zwischen moralischen und außermoralischen Gütern. Die stoische Theorie hätte mindestens Ähnlichkeit mit der heute teilweise vertretenen Auffassung, moralische Gründe (verstanden als Gründe, die auf moralische Güter bezugnehmen) hätten eine Art prinzipieller Priorität gegenüber außermoralischen Gründen. Immer dann, wenn das Gute einen relevanten Gesichtspunkt der Überlegung abgibt, so diese Lesart, wird sich der Weise im Sinne des Guten entscheiden. In allen anderen Fällen wägt er den relativen Wert von Gesundheit, Reichtum usw. ab. 7 Diese Sicht der stoischen Ethik ist in offensichtlicher Weise anachronistisch, was in der Diskussion keineswegs übersehen wird. 8 Gleich6 Vgl. Michael Frede, 1999, On the Stoic Conception of the Good, in: Katerina Ierodiakonou (Hrsg.), Topics in Stoic Philosophy, Oxford: Clarendon Press, S. 71-94. 7 Die so gefasste Sichtweise ist eine Schematisierung - als solche kann sie keinem einzelnen Interpreten zugeschrieben werden. Trotzdem sei betont, dass sie viele Darstellungen der stoischen Ethik prägt. 8 Vgl. Barney, 2003, S. 331.

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wohl scheint es, dass nicht genug betont werden kann, wie anachronistisch sie ist: Nicht erst dann, wenn die moderne Unterscheidung zwischen moralischen und außermoralischen Gütern mit Gegensätzen wie etwa dem von Pflicht und Neigung in Verbindung gebracht wird, lesen wir die stoische Theorie anachronistisch; bereits die Begriffe der Moral oder Sittlichkeit führen Kategorien ein, die in derfrühen stoischen Ethik keinen theoretischen Ort haben. Ohne Frage erschweren die Quellen den Versuch, diesen Aspekt im Blick zu behalten. Oft bleiben dem Interpreten - in Ermangelung direkter Zitate von Zenon, Kleanthes oder Chrysipp - nur die Darstellungen bei Cicero und Seneca. Beide Autoren bieten zweifellos viele Details, die für die Rekonstruktion der frühen Theorie wesentlich sind; gleichzeitig geht es Cicero und Seneca oft nicht darum, die frühe Theorie klar abgegrenzt von späteren Argumenten darzustellen. So wirft bereits Ciceros Verwendung des lateinischen honestum schwierige Fragen auf: Während es an einigen Stellen scheint, als sei das honestum das Tugendhafte im Sinne der frühen Stoiker (vgl. ζ. B. De fin. 3.21), scheint die stoische Figur Cato denselben Begriff im Sinne von .rechtschaffen' zu verwenden (3.27). Die Ubersetzung derartiger Stellen durch Ausdrücke wie .rechtschaffen' oder .sittlich gut' verführt zu der weiteren Annahme, in der stoischen Theorie sei generell neben dem Begriff der Tugend auch ein Begriff des Sittlichen, .Noblen' oder Moralischen im Spiel. Diese Annahme wird - was die Rekonstruktion der frühen Theorie erschwert - bereits für die mittlere Stoa durch die Quellen bestätigt. In De officiis 1.9 berichtet Cicero, dass Panaitios zufolge in der Handlungsüberlegung drei Fragen zu bedenken seien, deren erste lautet, ob eine mögliche Handlung ehrenhaft sei oder nicht. Eine solche Kategorie des .Sittlichen' oder .Ehrenhaften' lässt sich für die frühe Theorie, soweit sie bezeugt ist, nicht aufzeigen; im Gegenteil, es ist nicht klar, welchen theoretischen Ort diese Kategorie einnehmen könnte. Die Interpretation, derzufolge sich Gut und Wert ähnlich wie moralische und außermoralische Güter zueinander verhalten, orientiert sich an Beispielfällen, in denen der Weise etwa zwischen seinem Vorteil und .dem Ehrenhaften' wählen muss. In Situationen dieser Art müsste Wertvolles gegen Gutes bzw. .Ehrenhaftes' abgewogen werden. .Das Ehrenhafte' könnte innerhalb der frühen Theorie nur als Verfasstheit der Seele eines Akteurs ins Spiel kommen, und müsste letztlich als dessen Tugend verstanden werden. Die Tugend jedoch kann nicht mit der richtigen Auswahl zwischen Dingen von Wert und Unwert konkurrieren, da sie gewissermaßen darin besteht, dass in diesem Bereich richtig gewählt wird. Diese Überlegung stellt die Interpretation vor eine

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schwierige Frage. Angenommen, die hellenistische Ethikdiskussion wird zumindest teilweise so geführt, dass Theorien daran gemessen werden, wie sie Entscheidungen in Ausnahmesituationen erläutern können: Welche Situationen betrachten die frühen Stoiker selbst als Testfälle für ihre Theorie? Wenn wir die Quellen zur stoischen Ethik daraufhin untersuchen, welche, Ausnahmeentscheidungen' - d.h. Entscheidungen, in denen der Weise sich gegen etwas Wertvolles entscheidet - als exemplarisch genannt werden, so ergibt sich folgendes Bild: (1) Ariston, ein Schüler und Kritiker von Zenon, entwirft eine Situation, in der Gesunde einem Tyrannen dienen und dabei umkommen müssen, während Kranke vom Dienst verschont bleiben. In dieser Lage würde der Weise sich gegen die Gesundheit entscheiden, was aus Aristons kritischer Sicht gegen die .klassisch' stoische These spricht, Gesundheit sei etwas Vorzuziehendes (SE, Μ 11.64-7; SVF 1.361; LS 58F). 9 (2) Die stoische Figur Cato in Ciceros Definibus erklärt, für den Weisen sei es dann angemessen, am Leben zu bleiben, wenn sich in diesem vorwiegend Naturgemäßes finde; wenn dagegen ein Überwiegen des Naturwidrigen eintrete oder voraussehbar sei, sei es angemessen für ihn, sich das Leben zu nehmen (3.60-1; SVF 3.763; LS 66G). (3) In De officiis 3.89-90 führt Cicero den berühmten Fall des Schiffbruchs an: Wenn ein Weiser bei einem Schiffbruch sehe, dass ein Dummkopf eine Planke erwischt hat, wird er sie ihm dann entreißen? Die stoische Antwort auf diese Frage lautet Nein. Stellen wir uns nun vor, dass nur eine Planke da ist, aber zwei weise Schiffbrüchige reißen dann beide die Planke an sich, oder verzichten beide ? Die stoische Antwort lautet, derjenige verzichte, der sehe, dass zu leben für den anderen um seinetwegen und um der Gemeinschaft wegen wichtiger ist. (4) In den folgenden Abschnitten von De officiis referiert Cicero mehrere Fallanalysen, in denen Versprechen oder Eide eine Rolle spielen. Die stoische Position, die sich hier entnehmen lässt, besagt u.a., dass Zusagen, sich unsinnig zu benehmen, erst gar nicht gegeben werden sollten (3.93), dass Versprechen gebrochen werden müssen, wenn sie schreckliche Untaten fordern (3.95), und dass Eide zu halten sind, auch wenn dies gegen den eigenen Vorteil steht (3.107-8). Fälle im Sinne von (1) stellen für die These, in der Abwägung des Weisen könnten Gesichtspunkte des Guten und Wertvollen nicht in Konkurrenz treten, kein Problem dar: Der Weise bezieht sich in der 9 Aus Aristons Sicht kann zwischen Indifferentem wie Gesundheit und Leben allein aufgrund der Umstände gewählt werden (SE, Μ 1 1 . 6 4 - 7 ; SVF 1.361; LS 58F).

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Abwägung auf Gesundheit und Leben, zwei wertvolle Dinge. Auch Fall (2) ist in dieser Hinsicht unproblematisch: Der Weise bezieht sich in der Entscheidung über sein eigenes Leben allein auf Wertvolles. Jede vernünftige Entscheidung, so der Text, müsse sich an den naturgemäßen Dingen bemessen, da diese der Stoff für die Weisheit seien. Wie genau die frühe stoische Theorie in der Frage des Selbstmords zu interpretieren ist, kann hier nicht diskutiert werden.10 Deutlich ist jedoch, dass die zitierte Passage nicht als Beleg für die Auffassung herangezogen werden kann, in der Abwägung des Weisen könnten Gutes und Wertvolles einander gegenüberstehen. Da (1) - anders als (2) - nicht auf weiterführende Fragen verweist, werde ich im Folgenden wesentlich ausgehend von diesem Fall erläutern, wie der Weise zwischen verschiedenen Handlungsoptionen abwägt. Für Fälle vom Typ (3) oder (4) haben wir meines Wissens keine frühere Quelle als den Text bei Cicero, der auf das 6. Buch von Hekaton zurückgeht (so Cicero in 3.89). Hekaton ist ein Schüler des Panaitios und Gefährte des Poseidonios; er ist damit klar nicht der frühesten Generation von Stoikern zuzurechnen. Fälle im Sinne von (4) scheinen von der frühen Diskussion einigermaßen weit entfernt: Sie setzen voraus, dass Versprechen und Eide zu halten sind, und führen in eine Art Kasuistik bezogen auf diese Regeln. Wenngleich es bereits in der frühen Stoa eine Debatte darüber gibt, wie sinnvoll praecepta, d. h. Handlungsregeln, sind (vgl. Seneca, Ep. 94.2, 31, 50-1; LS 661), ist klar, dass derartige Anweisungen nicht an die Stelle der richtigen Handlungsüberlegung des Weisen treten sollen. Beispiele vom Typ (3) werfen die schwierigsten Fragen auf: Wenngleich die Zeugnisse zur frühen Theorie keine Konfliktfälle nennen, in denen das für den Akteur Wertvolle gegen das für andere Wertvolle (ζ. B. das eigene Leben gegen das Leben des anderen Schiffsbrüchigen) steht, scheint es, dass die Theorie derartige Fälle erfassen müsste. Eine Theorie, die allein Handlungssituationen berücksichtigt, in denen das eigene Leben, Vermögen, Ansehen etc. auf dem Spiel stehen, wäre in unplausibler Weise begrenzt. Wie sich fremdes und eigenes Wertvolles der stoischen Theorie zufolge zueinander verhalten, ist eine außerordentlich schwierige Frage, die ich hier nicht aufnehmen kann.11 Entscheidend für eine Interpretation der Be10 Vgl. zu dieser Frage J. M. Cooper, 1999, Greek Philosophers on Euthanasia and Suicide, in: J. M. Cooper, Reason and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, Princeton, N . J . : Princeton University Press, S.515—541. 11 Naheliegend erscheint der Gedanke, die Antwort hierzu müsse in der Theorie liegen, derzufolge man diejenigen, die zunächst ferner sind, zunehmend wie Nahe be-

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griffe des Guten und Wertvollen ist jedoch zunächst, dass diese Situationen keinen Bezug auf das Gute einführen, in dem dieses mit Wertvollem konkurrieren würde. Beispiele, die auf eigenes und fremdes Wertvolles bezugnehmen, müssen nicht als Fälle interpretiert werden, in denen der Wert des Lebens mit dem Gut, ,das Ehrenhafte/Sittliche zu tun', konkurrieren würde; vielmehr scheint es, dass der Weise sich durchweg auf Wertvolles bezieht - allerdings auf teilweise für ihn Wertvolles, teilweise für andere Wertvolles.

2. Gut, Nutzen und Indifferentes Die Stoiker unterscheiden zwischen Gutem, Schlechtem, und dem, was weder gut noch schlecht ist. Gut sind die Tugenden - Klugheit, Gerechtigkeit, Mut, Besonnenheit etc. - schlecht deren Gegenteile. Weder gut noch schlecht ist das, was weder nutzt noch schadet: Leben, Gesundheit, Schönheit, Stärke, Wohlstand, Ansehen, edle Geburt, sowie ihre Gegensätze Tod, Krankheit, Schmerz, Hässlichkeit, Schwäche, Armut, schlechtes Ansehen, niedrige Geburt etc. ( D L 7.101-2; LS 58A). 12 Als Gut bestimmen die Stoiker den Nutzen sowie das vom Nutzen nicht Verschiedene: Tugend und tugendhafte Handlung nutzen, der tugendhafte Mann und sein Freund sind vom Nutzen nicht verschieden: Der Tugendhafte ist insofern nicht identisch mit der Tugend, als er diese besitzt, aber er ist zugleich nicht völlig von ihr verschieden - er zählt damit als ,vom Nutzen nicht verschieden' (SE, Μ 11.22-6, teilweise SVF 3.75; LS 60G). Die These, allein die Tugend sei gut, erweist sich damit als summarische Vereinfachung: Erstens sind insofern mehrere Dinge gut, als die Stoiker - obwohl meist nur von der Tugend die Rede ist - die Tugenden für unterscheidbar halten und damit mehrere Tugenden kennen. Dieser Aspekt wird dadurch zusätzlich kompliziert, dass neben der Unterscheidung zwischen den .klassischen' Tugenden eine weitere Einteilung besteht, die dieser gegenüber grundlegender ist: Die Stoiker verstehen die physikalische, die ethische und die logische Tugend als die trachten solle (vgl. Stobaeus 4 . 6 7 1 , 7 - 6 7 3 , 1 1 ) . Wie genau dies aussehen könnte, ist jedoch außerordentlich schwierig. Vgl. zu dieser Frage Frede, 1999, insb. S . 9 1 - 9 3 . 12 In dieser Liste wird Lust nicht genannt, Schmerz dagegen wohl. Zu der Frage, ob Lust zu den vorzuziehenden Adiafora gehört, vgl. Katja Vogt, 2004, Die stoische Theorie der Emotionen, in: Barbara Guckes (Hrsg.), Zur Ethik der älteren Stoa, G ö t tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 6 9 - 9 3 .

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.allgemeinsten Tugenden' (Aetius 1 ,prooem. 2; SVF 2.34; LS 26A). Als gut gilt damit weiter jeder Bereich philosophischen Wissens. Zweitens unterscheiden die Stoiker zwischen dem Gut, das selbst Nutzen ist, und solchen Gütern, die vom Nutzen nicht verschieden sind, d. h. zwischen Tugendhaftem und Tugend. Drittens ist vom Weisen und seinem Freund die Rede: Die Aussagen, der Tugendhafte sei ein Gut, und, der Freund sei ein Gut, beziehen sich - da nur der Tugendhafte Freunde hat (DL 7.124; SVF 3.631; LS 67P) - auf dieselben Personen, heben jedoch unterschiedliche Aspekte hervor: Der Tugendhafte ist ein Gut, insofern er im Besitz der Tugend ist, und, insofern er Freund anderer Tugendhafter ist. Uberliefert ist zudem eine Unterscheidung zwischen Prozessgütern, z.B. der Freude, und Zustandsgütern, z.B. wohlgeordneter Muße; die Tugenden bilden eine Unterklasse der Zustandsgüter - sie werden als Haltungsgüter bezeichnet. Als Beispiele werden auch Haltungen des Expertentums sowie verfestigte .Lebensinhalte' (etwa die Liebe zur Geometrie) genannt (Stobaeus 2.73,1-13; LS 60J). Diese weitere Differenzierung zeigt, dass letztlich jeder Zustand oder Prozess der richtig verfassten Seele als ein Gut zählt.13 Gesundheit, Krankheit und ähnliche Dinge gelten den Stoikern zunächst insofern als indifferent, als sie weder zum Glück noch zum Unglück beitragen (SE, Μ 11. 59; SVF 3.122 und DL 7.104; SVF 3.119; LS 58B). Bei Diogenes Laertius heißt es zudem, diese Dinge seien weder gut noch schlecht, insofern sie weder nutzen noch schaden (7.103; LS 58A). Die im Text folgenden Erläuterungen lauten (1), dass Dinge wie Gesundheit oder Reichtum nicht nutzen, insofern sie nicht mehr nutzen als schaden und (2), dass die Stoiker das nicht als gut bezeichnen, was man sowohl gut als auch schlecht verwenden könne, was auf Gesundheit und

Reichtum zutreffe. Für sich genommen wirft (2) schwerwiegende Probleme für das Verständnis der Theorie auf: Wäre Wertvolles allein deshalb nicht gut, weil es gut und schlecht verwendet werden kann, so würde es zwar nicht - wie Gutes - immer nutzen, bezogen auf eine einzelne Situation wäre es jedoch, wenn es richtig verwendet wird, gut und würde insofern nutzen. Fügt man die Überlegung hinzu, dass der Weise nichts schlecht gebrauchen wird, so verschwimmt - bezogen auf ihn - die Unterscheidung zwischen Gutem und Wertvollem: Im Rahmen des guten Gebrauchs könnte der Weise Gutes und Wertvolles auf einer Skala, der 13 Bei Stobaeus sind eine Reihe von weiteren Differenzierungen überliefert: Stobaeus 2.71,15 (SVF 3.106, 109; LS 60M), 2.77,6 (SVF 3.113), 2,68,4 (SVF 3,103), 2.70, 21 (SVF 3,104; LS 60L), 2.58,5-15 (teilweise SVF 3.95, LS 60K).

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des Nutzens, bemessen. (1) erfasst hingegen die Unterscheidung, insofern sie auch mit Bezug auf das richtige Handeln des Weisen grundlegend ist: Dass Gesundheit oder Reichtum nicht nutzen, liegt im Sinne von (1) daran, dass sie nicht mehr (ou mallon) nutzen als schaden. Nutzen zu bringen sei das eigentümliche Charakteristikum des Guten, so wie .wärmen' eigentümlich für das Heiße sei. Entsprechend wird der Weise ζ. B. Gesundheit nicht deshalb auswählen, weil sie in der gegebenen Situation und unter richtiger Verwendung nutzt - die erste Aussage bei Diogenes, derzufolge indifferente Dinge weder nutzen noch schaden, bleibt als grundlegende Erläuterung des Indifferenten bestehen. Insofern Nutzen allein dem Guten zukommt, können die indifferenten und die guten Dinge nicht an einem gemeinsamen Maßstab des Nutzens bemessen werden. Dass Gutes und Indifferentes nicht nach einer Skala bemessen werden kann, erläutern die Stoiker ausgehend von der Frage, wie wir den Begriff des Guten bilden (Cicero, De Finibus 3.33-4; SVF 3.72; LS 60D): Begriffe werden ihnen zufolge aufgrund von Erfahrung, durch Zusammensetzung, aufgrund von Ähnlichkeit oder durch einen Analogieschluss gebildet. Der Begriff des Guten entstehe in der letztgenannten Weise - der Verstand ,klettere' ausgehend von den naturgemäßen Dingen durch einen Analogieschluss hinauf zum Begriff des Guten. Ähnlich wie Honig nicht durch den Vergleich mit anderen Dingen, sondern aufgrund seines eigenen spezifischen Geschmacks als süß wahrgenommen werde, so werde dieses Gute nicht durch Vergleich mit den wertvollen Dingen als wertvoller und damit gut erfasst. Ganz gleich, wieviel Wert zu dem Wert einer wertvollen Sache addiert werde, so werde sie immer nur wertvoll, nicht gut sein. Der spezifische Wert (d. h.: das Gut-sein) der Tugend sei damit ein der Art nach anderer Wert.14

3. Vorzuziehendes, Naturgemäßes, Wertvolles Die Theorie des Indifferenten wird im Zusammenhang mit dem Begriff des Naturgemäßen und damit im Kontext der stoischen Telos-Formel eines Lebens in Ubereinstimmung bzw. Lebens in Übereinstimmung 14 Ähnlich ist der Vergleich überliefert, der König sei nicht Teil derjenigen, die den Rang der Bevorzugten haben, sondern den Bevorzugten werde - ihm nachgeordnet ihr Rang gegeben (Stobaeus 2 . 8 4 , 1 8 - 8 5 , 1 1 ; SVF 3.128; LS 58E). Ähnlich könnten Dinge, die wertvoll sind, unterschiedlich hoch eingeschätzt werden, das Gute selbst sei jedoch nicht Teil dieses Vergleichs.

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mit der Natur genauer erläutert15: Von den indifferenten Dingen sind einige in Ubereinstimmung mit der Natur, andere sind der Natur entgegengesetzt, und wieder andere sind weder das Eine noch das Andere. In Übereinstimmung mit der Natur sind Dinge wie Gesundheit und Stärke; ihr entgegen stehen Krankheit und Schwäche; weder in Ubereinstimmung mit der Natur noch ihr entgegenstehend sind solche Zustände von Seele und Körper, in denen die Seele für falsche Vorstellungen und der Körper für Verletzungen empfänglich ist (Stobaeus 2.79,18-80,13; teilweise LS 58C). Die Dinge, die in Ubereinstimmung mit der Natur sind, sind zu nehmen (lepta), die ihr entgegenstehen, sind nicht zu nehmen (alepta) (Stobaeus 82,20-1; LS 58C). Was in Übereinstimmung mit der Natur ist, hat Wert (ζ. B. Gesundheit, Leben, Reichtum), was ihr entgegensteht, hat Unwert (Stobaeus 2.83,10-84,2; SVF 3.124; LS 58D). Unter den Dingen, die Wert haben, haben einige viel Wert und andere wenig, ebenso haben von denen, die Unwert haben, einige viel Unwert, andere wenig. Was viel Wert hat, ist vorzuziehen (proegmena), was viel Unwert hat, zurückzuweisen ( a p o p r o e g m e n a ) . Das Vorzuziehende ist das, was wir ausgehend von einem ,Grund für das Vorziehen' (proegoumenon logon) wählen (Stobaeus 2.83,10-85,11; SVF 3.124 und 128; LS 58 D und F). Fasst man diese Erklärungen mit den oben angeführten Bestimmungen des Indifferenten zusammen, so ergeben sich folgende Gleichsetzungen: Das vorzuziehende Indifferente ist zugleich das Wertvolle und das Naturgemäße. 16 Inwiefern die indifferenten Dinge naturgemäß sind, wird am deutlichsten im Zusammenhang der Theorie der ersten Antriebe und der oikeiösis (,Aneignung'). Die Stoiker nehmen an, dass Lebewesen mit einem ersten Antrieb (horme) ausgestattet sind, der sich auf die Selbster15 Die kürzere Formel stammt von Zenon, die längere von Chrysipp. Obwohl zu bezweifeln ist, ob die überlieferte Erklärung, die längere Formel sei eine Erläuterung der kürzeren, nicht eine nachträgliche Konstruktion ist, scheint Folgendes deutlich: In Zenon's Erläuterungen der Ethik spielt die Natur und das Naturgemäße dieselbe Rolle wie bei Chrysipp; wir können daher davon ausgehen, dass beide Formeln im Kern dasselbe zum Ausdruck bringen sollen. Beide Gesichtspunkte betont Gisela Striker, 1991, Following Nature: A Study in Stoic Ethics, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, Vol. 9, S. 1-73,4-5. Die Stoiker Diogenes, Archedem und Antipater bieten Versionen der Formel, die den Bezug auf das Naturgemäße deutlicher erläutern. Die verschiedenen Formeln sind zusammengefasst bei Stobaeus 2,75,11 (SVF 1.179, 1.552, 3.12; teilweise LS 63B). 16 Barney (2003, S. 333 f.) wirft die Frage auf, ob diese Gleichsetzungen überzeugend sind. Sie schlägt vor, den Begriff des Naturgemäßen als den umfassenderen Begriff zu verstehen, was uns die Möglichkeit gäbe, nicht nur das Vorzuziehende, sondern auch ζ. B. Handlungen der Gerechtigkeit als naturgemäß zu verstehen.

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haltung richtet. Die eigene Konstitution und das Bewusstsein von dieser wird von Anfang an als das Eigene (pröton oikeion) empfunden. Indem die Natur das Lebewesen konstituiert, macht sie es sich selbst zueigen. Aus diesem Grund weist ein Lebewesen das zurück, was ihm schadet, und nimmt an, was ihm ,eignet' (ta oikeia) (DL 7.85; SVF 3.178; LS 57A). Die ersten, natürlichen Antriebe richten sich damit auf den Erhalt des natürlichen Zustands eines Lebewesens mit allen Körperteilen und Organen, sowie auf das, was dem Erhalt dieser Verfassung dient, und hierzu gehören Erfassen und Erkenntnis (Cicero, De fin. 3.17-18). Ausgehend von dieser Theorie der ersten Antriebe gilt den Stoikern zweierlei als schätzenswert (aestimabile, d. h.: wertvoll im Sinne der axia): das, was selbst .naturgemäß' (secundum naturam) ist, und das, was Naturgemäßes bewirkt; insofern beides axia hat, ist es wert, gewählt zu werden (Cicero, De fin. 3.20, LS 59D). Wie aber ist, wenn wir diesen Zusammenhang zwischen den Begriffen des Vorzuziehenden, Wertvollen und Naturgemäßen annehmen, Aristons Beispielfall zu verstehen, in dem der Weise auf Gesundheit verzichtet, um am Leben zu bleiben (SE, Μ 11.64-7; SVF 1.361; LS 58F)? Wenn der Weise sich mit Bezug auf Wertvolles nicht auf eine Skala des Nutzens bezieht (s. o.), so scheinen zwei weitere Optionen zu verbleiben: (i) Gesundheit hat normalerweise Wert, weil sie naturgemäß ist. Im Ausnahmefall jedoch, verliert sie ihren Wert und hat Unwert. Sie ist nicht mehr vorzuziehen, sondern zurückzuweisen. Nach dieser Interpretation wäre Gesundheit - wenngleich durchweg naturgemäß - abhängig von der jeweiligen Situation von Wert oder Unwert sowie vorzuziehen oder zurückzuweisen, (ii) Gesundheit hat Wert und gehört zu den vorzuziehenden Dingen. In einer Ausnahmesituation jedoch ist Gesundheit - wenngleich sie weiterhin zu den wertvollen, weil naturgemäßen Dingen gehört - nicht auszuwählen-, sie zeigt sich in der Abwägung, verglichen mit anderen Gesichtspunkten, als nachrangig. Dieser Interpretation zufolge ist Gesundheit in jeder Situation wertvoll und naturgemäß und vorzuziehen; situationsabhängig zeigt sie sich als auszuwählen oder abzuwählen. Die stoische Theorie kann nur im Sinne von (ii) interpretiert werden: In den Fragmenten ist nirgends davon die Rede, in Ausnahmensituationen würde das Wertvolle .umschlagen' und nun Unwert haben. Wenn sich der Weise in einer Ausnahmesituation richtigerweise gegen die Gesundheit entscheidet, tut er dies nicht, weil Gesundheit durch die extreme Situation ihren Wert verlieren würde, sondern vielmehr deshalb, weil in der gegebenen Situation etwas auf dem Spiel steht, das mehr Wert hat.

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In Aristons Beispiel wäre es das Leben, das mehr Wert hat als die Gesundheit. Der Weise kann zwischen verschiedenen wertvollen Dingen auswählen, insofern er erkennt, was von Natur aus wieviel Wert hat.

4. Das der Natur angemessene Handeln Vorzuziehende indifferente Dinge zeigen sich damit als wertvoll, weil oder insofern sie naturgemäß sind. Sich in seiner naturgemäßen Verfassung zu erhalten gilt den Stoikern als angemessen (kathekon) (Cicero, De fin. 3.20, LS 59D). Eine Handlung im Sinne der kathekonta ist definiert als Tätigsein, das an die Einrichtung der Natur angepasst ist (DL 7.108). Entsprechend gelten die Tätigkeiten, die das Naturgemäße nehmen und dessen Gegenteil zurückweisen, als kathekonta. Ein Tätigsein im Sinne der kathekonta gibt es auch bei Tieren: auch diese zeigen Aktivitäten, die aus ihrer Natur folgen (akolouthös te heautön fusei; Stobeaus 2.85,13; SVF 3.494; LS 59B). 17 Insofern die kathekonta Tätigkeiten sind, die aus der gesamten Natur eines Lebewesens folgen, ihr entsprechen und sie erhalten, spreche ich von ihnen als angemessene Tätigkeiten. 18 Einige Handlungsweisen sind unabhängig von den Umständen angemessen (ζ. B. sich um seine Gesundheit zu kümmern), andere abhängig von den Umständen (z.B. Opfern von Eigentum) (DL 7.109). Wer die indifferenten, vorzuziehenden Dinge auswählt, die zugleich das Naturgemäße oder das diesem Zuträgliche sind, handelt angemessen. Was genau jedoch wird ausgedrückt, wenn eine Handlungsweise als kathekon bzw. angemessen bezeichnet wird? Cicero spricht von den kathekonta als Pflichten bzw. officia. Die Stoiker unterscheiden jedoch das Handeln im Sinne der kathekonta von dem eigentlich richtigen Handeln, dem Handeln im Sinne der katorthömata. Wenn das 17 Dem Bericht bei Diogenes Laertius zufolge nehmen die Stoiker an, Aktivität im Sinne der kathekonta gebe es nicht nur auch bei Tieren, sondern ebenso bei Pflanzen (DL 7.107; teilweise SVF 3.493; LS 59C). 18 Long und Sedley übersetzen proper function, was Hülser durch „zukommende Funktionen" wiedergibt. Für diese Ubersetzung spricht, dass sie den Kern des Gedankens gut erfasst: Die kathekonta sind solche Aktivitäten, die ein Lebewesen ausführt, das sein eigenes .gutes Funktionieren' erhält. An vielen Stellen ist die an Long und Sedley anschließende Ubersetzung trotzdem schwierig: Innerhalb einzelner Sätze wird oft kaum deutlich, was hier jeweils mit dem Ausdruck .zukommende Funktion' gemeint sein soll. Dieser scheint mir daher - zumindest im Deutschen letztlich eher für die Erläuterung der Theorie als für die eigentliche Übersetzung der Quellen geeignet.

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Angemessene nicht das Richtige ist, so scheint es aus moderner Sicht, dass das Angemessene nicht das sein kann, was zu tun geboten ist. Die Handlung, die der Einrichtung der Natur gemäß und damit kathekon ist, ist bestimmt als das, „was im Leben folgerichtig ist", und für das sich, „wenn es getan ist, eine plausible Rechtfertigung geben lässt" (Stobeaus 2.85,13; SVF 3.494; LS 59B). Als angemessen gelten Handlungen, die die Vernunft uns zu tun gebietet, wie etwa das Ehren der Eltern, der Brüder und des Landes, oder das Zusammensein mit Freunden; den angemessenen Handlungen sind die entgegengesetzt, die die Vernunft uns nicht zu tun gebietet, wie etwa die Eltern zu vernachlässigen; Tätigkeiten, die weder angemessen noch diesem entgegengesetzt sind, sind solche, die die Vernunft weder gebietet noch verbietet, wie etwa einen Zweig aufzuheben (DL 7.108-9; SVF 3.495 und 496; LS 59E). In De Finibus 5.20 heißt es, den Stoikern zufolge sei es „geboten, allein erstrebenswert und einzig gut, alles zu tun, um zu erreichen, was naturgemäß sei, sogar wenn man es nicht erreiche". Chrysipp beschreibt das Leben des Tugendhaften als Leben der angemessenen Handlungen: „Derjenige, der zum höchsten Punkt fortschreitet, führt alle angemessenen Handlungen ohne Ausnahme aus und unterlässt keine." (Stobaeus 5.906,18-907,5; SVF 3.510; LS 591). Die Quellen lassen demnach keinen Zweifel daran, dass das Angemessene geboten bzw. von der Vernunft geboten ist. An welcher Stelle der Theorie jedoch kommt dann das eigentlich richtige Handeln ins Spiel? Warum ist nicht das Handeln, das von der Vernunft geboten ist, bereits das richtige Handeln? Sextus berichtet, den Stoikern zufolge seien alle Handlungen allen gemeinsam, würden sich jedoch darin unterscheiden, ob sie aus sachverständiger oder unsachverständiger Einstellung geschehen. Der Tugendhafte ehrt seine Eltern aufgrund von Klugheit und handelt damit richtig; er tut etwas, was auch andere tun, was jedoch ohne die Tugend der Klugheit als Handlungsgrundlage nur angemessen, nicht richtig, wäre (M 11.200-1; teilweise SVF 3.516; teilweise LS 59G). 19 Diesem Beispiel zufolge liegt der U n terschied zwischen tugendhaftem und angemessenem Handeln in der 19 Cicero gibt ein Beispiel, das aufgrund des Handlungstyps ,eine Leihgabe zurückgeben' (etwas, was Cicero ohne Frage als pflichtgemäß betrachtet, was sich jedoch nicht direkt auf die früh-stoischen Listen von Indifferentem beziehen lässt) schwierig ist: Wer eine Leihgabe auf gerechte Weise zurückgibt, handelt im Sinne der vollkommenen angemessenen Handlung, und damit richtig; wer dagegen die Leihgabe zurückgibt, handelt nur angemessen - seine Handlung ist nicht gut, aber auch nicht schlecht (Cicero, De fin. 3.59; LS 59F).

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Verfasstheit der Seele des Akteurs: Der Tugendhafte führt dieselben Tätigkeiten aus wie der Dummkopf, aber er handelt aus der Verfassung der Tugend heraus, und damit richtig. Das Handeln im Sinne der kathekonta ist selbst nicht richtig, ist aber trotzdem das, was - konsistent und mit der Haltung des Weisen durchgeführt - das richtige Handeln und die Tugend herstellt. Das richtige Handeln besteht damit zugleich aus angemessenen Handlungen und unterscheidet sich vom angemessenen Handeln: Die Handlungen werden vollkommen ausgeführt, d. h. alle für sie relevanten Urteile werden ausgehend von einer gefestigten Haltung der Erkenntnis und Tugend gefällt. Wie genau jedoch verweist der relevante Unterschied - ob etwas vollkommen ausgeführt wird oder nicht - auf die Rolle des Guten in der Handlungsüberlegung?

5. Der Bezug auf das Gute Diejenige Übereinstimmung, die entsteht, wenn ein Akteur zunehmend konsistent das verfolgt, was naturgemäß und vorzuziehend indifferent ist, ist das eigentliche Gut des Menschen - sie ist das an sich schätzensund erstrebenswerte (Cicero De fin. 3.20-21; LS 59D). Sobald ein Akteur erkannt hat, dass das Gute in genau dieser Geordnetheit und Harmonie besteht, bezieht er sich - mehr als auf alles andere - auf diese (3.22). Die Einsicht darin, dass das eigentlich Gute die Konsistenz oder Übereinstimmung sei, muss mit dem Umschlag von Torheit zu Weisheit, von Schlechtigkeit zu Tugend, von Nichtwissen zu Erkenntnis koinzidieren20: Nur wer insgesamt über Erkenntnis verfügt, kann auch erkennen, was eigentlich gut ist. Dieser Umschlag verändert gewissermaßen die gesamte Person - all ihre Urteile, alle Prozesse und Haltungen ihrer Seele. Wie genau aber schlägt er sich in der Handlungsüberlegung nieder? Was ändert sich am Bezug auf Wertvolles, wenn eine Person in dem grundsätzlich anderen Zustand der Tugend ist, und erkannt hat, was eigentlich gut ist? Der Weise stimmt nur solchen Vorstellungen zu, die sich selbst durch ihre Präzision als erfassend (kataleptike) und damit zugleich wahr ausweisen21; seine Zustimmung (sunkatathesis) ist durchweg fest und 20 Zu der These, dass es keinen Übergang von Schlechtigkeit zu Tugend gibt vgl. D L 7.127 (LS 611). 21 Zur erfassenden Vorstellung vgl. u. a.: D L 7.46 (SVF 2.53; LS 4 0 C ; F D S 33), SE, Μ 7.251 (SVF 2.65; LS 4 0 E ; F D S 333).

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unverrückbar (Stobaeus 2.111,18-112,8: teilweise SVF 3.548; LS 41G). Weiter stimmt der Weise den erfassenden Vorstellungen so zu, dass die neuerworbene Annahme sich als ein fester Bestandteil in jenes komplexe Gebilde einfügt, das Erkenntnis als Haltung der Seele ist.22 Insofern der Weise auch in praktischen Kontexten allein erfassenden Vorstellungen zustimmt, handelt er immer richtig. Wer nicht weise ist, handelt letztlich immer falsch: Als ,Minderwertiger' kann er nie so zustimmen, dass er Erkenntnis erwirbt (Stobaeus 2.99,3-8; LS 59N), und genau deshalb kann keine seiner Handlungen den Status des Richtigen haben. Handlungen werden der stoischen Theorie zufolge durch die Zustimmung zu solchen Vorstellungen ausgelöst, die einen zum Handeln auffordernden Charakter haben (Stobaeus 2.86,17-87,6; teilweise SVF 3.169; LS 53Q). So könnte z . B . die Handlung, einen Mantel anzuziehen, durch die Zustimmung zu der Vorstellung, jetzt werde man den Mantel anziehen 23 , ausgelöst werden. Normalerweise gehen in derartige Handlungen mehrere Zustimmungen ein: (i) Zustimmungen zu Vorstellungen, denen wertende Aussagen entsprechen (ζ. B. die Zustimmung zu der Vorstellung, Gesundheit sei wertvoll), (ii) Zustimmungen zu Vorstellungen, die etwas über die gegebene Situation aussagen (z.B. die Vorstellung, der die Aussage „Es regnet" korreliert), (iii) Zustimmungen zu Vorstellungen, die empirische Zusammenhänge (mögliche oder regelmäßige Folgen etc.) zum Ausdruck bringen (ζ. B. „Wer im Regen nass wird, kann sich erkälten"), (iv) Erst abschließend erfolgt dann diejenige Zustimmung, die den Antrieb und damit die Handlung direkt auslöst (ζ. B. „Ich werden den Mantel anziehen" oder „Ich werde den Mantel anziehen, um mich nicht zu erkälten"). Urteile im Sinne von (i), (ii) oder (iii) sind normalerweise mit weiteren, ζ. T. bereits in der Vergangenheit gefällten Urteilen verknüpft. 22 Zur Bestimmung der Erkenntnis vgl. u. a. SE, Μ 7.151-7 (LS 41C). 23 Die Frage, wie genau die Aussage bzw. das lekton zu konstruieren ist, das der zur Handlung auffordernden Vorstellung entspricht, ist schwierig. Brad Inwood schlägt vor, das lekton, dem zugestimmt werde, sei präskriptiv; sein Beispiel lautet ,1t is fitting for me to eat this cake' (1985, Ethics and human action in early Stoicism, Oxford: Clarendon Press; New York: Oxford University Press, S.45ff., insb. 55-56 und 60-66). Grundsätzlich scheinen sich zwei Optionen zu bieten: (i) Entweder wir gehen von einer Aussage aus, die einen Ausdruck wie ,es ist angemessen für mich' oder ,ich sollte' enthält (ein Beispiel in diesem Sinne gibt Seneca, Ep. 113,18; SVF 3.169), (ii) oder von einer Aussage im Futur, die zum Ausdruck bringt, was der Handelnde jetzt tun wird (,ich werde jetzt...'). Da jede präskriptive Formulierung mit einem Ausdruck wie ,ich sollte' oder ,es ist angemessen für mich' arbeitet, die innerhalb der stoischen Begrifflichkeit des Richtigen und Angemessenen zu verorten wäre, werde ich mich an dieser Stelle - bewusst provisorisch - an Formulierungen im Sinne von (ii) halten.

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In der Handlungsüberlegung werden damit Annahmen verschiedenster Art relevant - im Extremfall wäre es möglich, dass sehr vieles von dem, was ein Akteur annimmt, im Hintergrund einer Entscheidung steht. Damit ist deutlich, dass jede Handlung, die durch die handlungsauslösende Zustimmung entsteht, auf das Netz von Annahmen zurückverweist, das wir uns in der Seele von Akteuren vorstellen müssen. Dieses Netz ist - in einer vagen Beschreibungsweise - beim Dummkopf lose geknüpft: Seine Annahmen haben den Status von Meinungen; sie sind nicht so miteinander verbunden, dass eine einzelne Zustimmung zu einer erfassenden Vorstellung Teil eines festgefügten Körpers von Wissen und damit unverrückbar würde. Hieraus erklärt sich, warum auch dann, wenn Weiser und Dummkopf allen unter (i) bis (iv) als Beispielen genannten Vorstellungen zustimmen würden, und jeweils alle Vorstellungen erfassend wären, der Dummkopf nicht wie der Weise handeln würde. Die handlungsauslösende Zustimmung ist nicht fest und unverrückbar, und damit kann sein Handeln nicht richtig sein. Im Anschluss an diese handlungs- und erkenntnistheoretische Rekonstruktion des richtigen Handelns lässt sich mindestens Folgendes sagen: Derjenige innere Zustand, den der Weise erreicht hat, kann als festes Gefüge von Erkenntnis beschrieben werden; damit dieses besteht, müssen seine Annahmen in ihrer Gesamtheit ein System bilden, das durch seine Konsistenz über eine intrinsische Stabilität verfügt. 24 Der Weise kann, so er Weiser geworden ist und den beschriebenen Zustand erreicht hat, nicht mehr hinter diese erreichte Konsistenz zurückfallen. Obwohl die bei Cicero angesprochene homologia mehrere Aspekte hat, scheint es, dass diese auf Erkenntnis bezogene Konsistenz einen wichtigen Gesichtspunkt dessen abgibt, was der Weise als gut erkennt. 25 Gleichzeitig ist es genau diese Konsistenz, die sein Auswählen und Handeln prägt: Zum ersten Mal, so Cicero {De finibus 3.20), beginnt das, was wahrhaft gut ist, .anwesend zu sein' (inesse) und verstanden zu werden, wenn die Auswahl im Sinne der kathekonta zunächst 24 Erkenntnis wird vierfach bestimmt: Erstens als festes und durch Raisonnement nicht verrückbares Erfassen, zweitens als System solcher epistemai, das im tugendhaften Mann existiert, drittens als ein System von Expertenwissen, das - wie die Tugenden über eine intrinsische Stabilität verfügt, sowie viertens als ein durch Raisonnement nicht zu erschütternder Habitus in der Aufnahme von Vorstellungen (Stobaeus 2 . 7 3 , 1 6 - 7 4 , 3 ; teilweise SVF 3.112; F D S 385). 25 Vgl. Frede, 1999, S. 8 2 - 8 3 . Zu der hier nur in Andeutung diskutierten Frage, was genau Cicero als das Gute ausweist und was genau der Weise erstrebt, vgl. auch S. 8 4 - 8 6 .

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zu einer dauerhaften Haltung, und dann zu einer konsequenten Übereinstimmung mit der Natur geworden ist. Die Konsistenz des konsequent naturgemäßen Auswählens ist gewissermaßen eine andere Beschreibung der Konsistenz, die in der Seele dessen besteht, der über Erkenntnis verfügt - sie ist letztlich die praktisch gewendete Konsistenz des Urteilens. Somit erscheinen mindestens Erkenntnis und Tugend verstanden als Verfasstheiten der Seele - als gut. Die oben erläuterten Grundbestimmungen des Guten verwiesen in ähnlicher Weise darauf, dass der Begriff des Guten einen komplexen Bereich von Haltungen und Aktivitäten der richtig verfassten Seele erfasst; alle Bereiche des Wissens, die tugendhafte Handlung sowie alle seelischen Prozesse und Zustände des Weisen erschienen als gut. Wie auch der Verweis auf tugendhafte Handlungen in der Bestimmung des Guten zeigt, muss die zu erstrebende Ubereinstimmung nicht allein als ein innerer Zustand verstanden werden: Die Handlungen, in denen Naturgemäßes ausgewählt wird, sind in einem relevanten Sinn in Übereinstimmung mit der Natur, und somit scheint es, dass der Weise Übereinstimmung in einem mehrfachen Sinn als das Gute erkennt. Sein Erstreben des Guten jedoch verbleibt auf einer anderen Ebene als das Auswählen des Wertvollen: Die Übereinstimmung ist nichts, das in irgendeiner anderen Weise erstrebt werden könnte als durch das richtige Aus- und Abwählen von Indifferentem. Das Gute wird an keiner Stelle Wertvollem vorgezogen, der richtig Handelnde gibt nicht Wertvolles für Gutes auf. Die Einsicht in das Gute zeigt vielmehr, weshalb es darum geht, mit Bezug auf Wertvolles nicht um dessen Erhalt, sondern um richtige Urteile über Wert und Unwert bemüht zu sein.26 Sie erklärt, dass alles daran hängt, weiterhin nicht nur angemessen, sondern vollkommen angemessen - und d. h. als richtig Urteilender - zu handeln. Der Bezug auf das Gute prägt damit die Einstellung, in der der Weise zwischen Wertvollem abwägt, grundlegend: Ohne dass der Weise an irgendeiner Stelle das Gute auswählt, erstrebt er es in jedem Aspekt seines Überlegens und Entscheidens.

26 Vgl. hierzu die berühmten Bilder des Bogenschützen und des Würfelnden (Cicero, De fin. 3.22 und 3.54-55).

„Et quatenus de commutatione terrenorum bonorum cum divinis agimus... Epikureische Diesseitigkeit und christliche Auferstehung bei Augustinus und Lorenzo Valla MICHAEL ERLER 1. Lustkalkül und Todesproblematik Entgegen mancher antiker, aber auch moderner Vorurteile ist Vernunft (φρόνησις) eine zentrale Komponente epikureischer Philosophie und insbesondere epikureischer Ethik. Diese sah es als ihre Aufgabe an, Furcht vor Gott, Furcht vor dem Tod und allgemein Furcht vor einer Welt zu beseitigen, die oft den Menschen irritiert und seinen Seelenfrieden stört. 1 Merkmal dieser Vernunft ist ihr abwägender und gewichtender Charakter. Epikur rät, bei jeder Handlung und jeder Entscheidung zu bedenken, was lustvoll und zuträglich und was abträglich ist. Denn Lust ist zwar generell erstrebenswert, nicht aber jede Lust in jeder Situation zu wählen. „Denn nicht eine ununterbrochene Folge von Trinkgelagen und Festessen [...] schafft das lustvolle Leben, sondern nüchternes Denken (νήφων λογισμός), das die Gründe für jedes Wählen und Meiden erforscht." 2

Lustkalkül und Nutzenabwägung sind somit wichtige Merkmale epikureischen Denkens, dessen Ziel es ist, Unsicherheit und Furcht zu beseitigen und zu individuellem Glück und zu positiven Erfahrungen des Diesseits zu verhelfen. Nicht Klage über die Widrigkeiten des Lebens, sondern Lebensbejahung gehört zu Epikurs Grundhaltung. „Der Weise [...] lehnt weder das Leben ab, noch fürchtet er das Nichtleben. Denn 1 Epicur. ep. Men. 132. 2 Epicur. ep. Men. 132. Vgl. Men. 131; 133. Z u m Lustkalkül vgl. M. Erler, 1996, bes. S. 55-57.

Epikureische Diesseitigkeit und christliche Auferstehung

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weder ist ihm das Leben zuwider, noch meint er, das Nichtleben sei ein Übel". 3 In diesem Zusammenhang kommt der Einschätzung des Todes zentrale Bedeutung zu. Denn die Meinung, der Tod sei ein Übel, verhindert im Diesseits höchste Lust und Seelenruhe,4 ist Ursache für die meisten Übel im Leben und macht das Leben auf Erden „zur Hölle". 5 Doch ist nach fester Überzeugung Epikurs der Tod kein Übel für die Menschen. „Denn alles Gute und Schlechte beruht auf der Wahrnehmung. Der Tod aber ist Verlust der Wahrnehmung". 6 Deshalb geht der Tod uns nichts an. Diese Erkenntnis hat Auswirkung auf die Lebenshaltung des Menschen „Denn im Leben gibt es nichts Furchtbares für den, der in rechter Weise begriffen hat, daß es im Nichtleben nichts Furchtbares gibt." Er wird nämlich nicht mehr fragen, „was nach dem Tod geschieht, und erschreckende Berichte über das Jenseits für sinnlos und irrelevant für das eigene Leben halten". 7 Die richtige Einstellung zum Tod legt also den Grund für eine richtige Einstellung zum Leben im Diesseits. Mit seiner Auffassung vom Tod als absolutem Ende entscheidet sich Epikur für eine jener Alternativen, die Sokrates in Piatons Apologie formuliert hat und die seither in der Antike den philosophischen Diskurs über diese Frage bestimmen. Der Tod bedeutet demnach „entweder so etwas wie Nichtsein und als Toter keinerlei Empfindungen von etwas zu haben, oder er ist, wie man sagt, eine Art Veränderung und zwar eine Übersiedlung für die Seele von hier an einen anderen Ort". 8 Piatons Sokrates deutet in der Apologie an und begründet im Phaidon, dass er der letzteren Alternative zuneigt und im Tod eine Durchgangsstation sieht, weil die Seele unsterblich ist. Freilich folgt daraus nicht, dass der Tod kein Übel ist. Dies entscheidet sich erst mit der Perspektive, welche die Seele nach dem Tod hat. Soll der Tod nicht nur als Durchgangsstation, sondern als ein Gut erwiesen werden, gilt es nachzuweisen, dass ein Wechsel vom Diesseits ins Jenseits erstrebenswert, zumindest aber nicht nachteilig erscheint. Sokrates rechnet in der Apologie damit, im Jenseits auf so bedeutende Verstorbene wie Hesiod 3 Epicur. ep.Men. 126. Vgl. K D X X . 4 Zur Todesproblematik allgemein vgl. M. Baltes, 1988; zu Epikur vgl. M. Erler, 1994, bes. S. 159. 5 Lucr. 3, 1022. 6 Epicur, ep. Men. 124. 7 Epicur, ep. Men. 126. 8 Piaton, Apologie

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und Homer zu treffen: „Denn, was mich betrifft, so will ich gerne öfter sterben, wenn das wahr ist". 9 Doch ist dies im Grunde eine bloße Wunschvorstellung, die seine positive Haltung gegenüber dem Tod begründen soll. Unerfreuliche Perspektiven, die Menschen ängstigen und die Epikur mit seiner These, dass der Tod uns nichts angeht, vermeiden will, sind damit keineswegs ausgeschlossen. Vor seinem Richterpublikum verengt Sokrates die Möglichkeiten auf zwei Alternativen mit jeweils positiven Aspekten.10 Entscheidend ist für viele jedoch der Nachweis einer positiven Perspektive nach dem Tod, die den Tod seinen Schrecken verlieren lässt. Dieses Problem hat Epikur nicht, da nach seiner Auffassung die Bestimmung des Todes als eines absoluten Endes positive Auswirkungen auf die Haltung im Leben hat, und deshalb der Tod ein Gut ist. Im ps.-platonischen Axiochos soll Sokrates den todkranken Axiochos trösten und zu einer positiven Haltung verhelfen. Dies gelingt ihm nicht durch epikureische Argumente - sie bleiben nach Axiochos' Ansicht an der Oberfläche. Aber auch bloße Hinweise auf Argumente für die Unsterblichkeit der Seele reichen nicht hin. Als ein Argument, das ,die Seele erreicht'11 wirkt jedoch Sokrates' Versprechen, dass Axiochos auch im Jenseits seinen Lieblingsbeschäftigungen werde nachgehen können: Astronomie, Philosophie, Naturbetrachtung, und dass er reine Lust genießen werde. Freilich bleibt dies wie Sokrates' Hoffung, er werde seinerseits auch weiterhin Menschen testen, ein Argument ohne Beweiskraft. Gleichwohl hat Sokrates' Verengung des Problems auf das Dilemma, Tod sei Ende oder Durchgangsstation und deshalb in beiden Fällen ein bonumu, wohl zum Erfolg letztlich der sokratisch-platonischen Option geführt, während sich die von Epikur präferierte Alternative vielfältiger Polemik ausgesetzt sah. Cicero kann seiner Position in den Büchern I und II der Schrift Definibus nichts abgewinnen.13 Platoniker lehnen sie unter Hinweis auf die Unsterblichkeit der Seele ab. Christen polemisieren gegen sie.14 Jedoch gibt es - auch im platonisch-christlichen Kontext - vereinzelte Stellungnahmen, die sich der suggestiven Kraft des epikureischen 9 Piaton, Apologie 41 a. Vgl. E. Heitsch, 2002, S. 164-171. 10 £ . de Strycker, 1994, S.226. 11 (Ps.-)Platon, Axiochos 369e: τά δέ παθήματα σοφισμάτων οϋκ άνέχεται, μόνοις δέ άρκεΐται τοις δυναμένοις καθικέσθαι της ψυχής, vgl. Μ. Erler, 2003. 12 Seneca, epist. 65, 24: Mors quis est? aut finis aut bonum. 13 G. Gawlick/W. Görler, 1994, S. 1101. 14 W. Schmid, 1962, bes. S. 774 ff.

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Argumentes nicht verschließen wollen und die der positiven Perspektive der epikureischen Position für das diesseitige Leben mehr abgewinnen können als der Unsicherheit der alternativen Jenseitsvision. Gelegentlich kommt es sogar zu Versuchen, die epikureische mit der platonischen Position verbinden zu wollen. Auf zwei derartige Versuche im christlichen Bereich möchte ich hinweisen, von denen der eine bei Augustinus - ein Gedankenspiel bleibt, ein zweiter - bei Lorenzo Valla - zu einer originellen These in christlichem Kontext führt, die man geradezu als .Antwort' auf Augustinus lesen kann. Beide Beispiele sind bezeichnend und wichtig für eine je unterschiedliche Epikurrezeption in verschiedenen Epochen.

2. Augustinus' jGedankenspiel' In den Confessiones schildert Augustinus, wie er in einer bestimmten Phase seiner geistigen Vita die epikureische gegen die platonische Position gegenüber dem Tod abwog und dabei durchaus von der suggestiven Kraft der epikureischen Argumente eingenommen war. Gleichwohl sieht er durchaus, dass allein die Furcht vor dem jenseitigen Gottesgericht ihn von Wollust und ihren Verlockungen zurückhält (3, 26). Obgleich er selbst im Rückblick in dieser Situation für eine geistige Entwicklung einen „Tiefpunkt" sieht,15 sind seine Ausführungen von Interesse. In Buch VI der Confessiones setzt sich Augustinus nämlich mit verschiedenen Positionen paganer Lehren auseinander. Dabei geht es vor allem um Fragen der Theologie und der Ethik. 16 Dies geschieht im Rahmen einer Diskussion mit Nebridius und Alypius über Ziele ethischen Verhaltens. Der Ausdruck ,de finibus', der in diesem Zusammenhang fällt (6, 26), soll offenbar an Ciceros ethische Schrift gleichen Titels Über das höchste Gut und das schlimmste Übel·7 erinnern. Als besonderes Problem stellt sich für Augustinus die Furcht vor dem Tod und die Frage heraus, wie man mit ihr umgehen soll. Augustinus konsultiert hier verschiedene Lehrmeinungen. Insbesondere die Position der Epikureer findet sein Interesse. Dabei fällt auf, dass Epikurs Lehre von ihm - anders als von Cicero - keineswegs schlechthin verworfen wird. 15 So Th. Fuhrer, 2000, hier: S. 232. 16 Th. Fuhrer, 1998. 17 G . Gawlick/W. Görler, 1994, S. 1039.

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Vielmehr scheint Augustinus in seiner Haltung schwankend zu sein. Denn einerseits will er offenbar auf weltliche Annehmlichkeiten nicht verzichten - ganz so wie es ζ. B. Axiochos im gleichnamigen Dialog geht - und fühlt sich deshalb - anders als Axiochos - von Epikurs hedonistischer Position angezogen. Denn er erkennt der voluptas eine durchaus wichtige Rolle im Leben des Menschen zu, versteht sie freilich in einem eher fleischlichen Sinne.18 Andererseits fühlt er sich der platonischen Position einer unsterblichen Seele und der Vorstellung einer Aufrechnung von Schuld und Verdienst nach dem Tod verpflichtet: Positionen, die Epikur ablehnen muss. Allein seine nicht näher begründete Uberzeugung, dass die Seele unsterblich ist, hält Augustinus davon ab, sich Epikur ganz zuzuwenden. Ansonsten hätte er Epikur die Siegespalme gegeben (6, 26). „Im Gespräch mit meinen Freunden Alypius und Nebridius erklärte ich, in der Frage nach dem höchsten Gut und dem größten Übel müßte ich im Geiste dem Epikur die Palme reichen, wenn nicht ich für meinen Teil an das Weiterleben der Seele nach dem Tode und das Fortwirken von Verdienst und Mißverdienst glaubte, woran ja Epikur nicht glauben wollte". 1 9

Augustinus findet also Epikurs Lustlehre, verstanden im Sinne einer körperlichen Lustmaximierung, attraktiv, scheint sie doch seinen bisherigen Lebenswandel zu rechtfertigen. Er wendet damit ein oft gegen Epikur gerichtetes Argument - seine Lehre diene allein der Rechtfertigung genussvollen Lebens im Diesseits20 - ins Positive und verwendet es in seinem Sinne. Andererseits ist er bereit, auf Grund seiner Uberzeugung von der Unsterblichkeit der Seele Furcht vor Strafe im Jenseits für sein Luststreben im Diesseits in Kauf zu nehmen. Die Furcht vor diesen Unannehmlichkeiten nach dem Tod bewahrt ihn nach eigenen Worten letztlich vor den Irrungen fleischlicher Wollust. Platonische Jenseitigkeit wird also gegen Epikurs Diesseitigkeit gewichtet und erhält - wenn auch widerwillig - den Vorzug. Doch ist die Versuchung durch Epikurs Lehre so groß, dass Augustinus zumindest hypothetisch mit der Möglichkeit spielt, beide Positionen, Unsterblichkeit der Seele und Epikurs diesseitige Lustlehre, könnten verbunden werden. Das 18 Vgl. M. Erler, 2001. 19 Augustinus, confessiones 6, 26: „Et disputabam cum amicis meis Alypio et Nebridio de finibus bonorum et malorum Epicurum accepturum fuisse palmam in animo meo, nisi ego credidissem post mortem restare animae vitam et tractus meritorum, quod Epicurus credere noluit." Z u m Text vgl. H. Tränkle, 1999, S . 2 1 4 A n m . 2 5 . 20 Auch für Augustinus wird Epikur zum luxuriosus, in Ps. 73, 25.

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wäre Glück, so Augustinus, wenn man gleichzeitig unsterblich sein und dauerhaften Genuss des Körpers haben könnte. Dann wäre dem Tod der Schrecken genommen und dauerhaftes Glück auch im Diesseits gewährleistet. „ S o w a r f i c h d e n n die F r a g e auf: W e n n w i r nie z u s t e r b e n b r a u c h t e n u n d i m m e r n u r in S i n n e s f r e u d e n l e b t e n , o h n e alle F u r c h t , dies je z u v e r l i e r e n , w a r u m s o l l t e n w i r d a n n n i c h t g l ü c k l i c h sein o d e r n o c h a n d e r e s u n s w ü n schen?"21

Augustinus versucht also, die Unsterblichkeit der Seele zu bewahren und gleichwohl eine Trübung des diesseitigen Lebens durch Furcht vor dem Jenseits zu meiden. Voraussetzung hierfür wäre, so Augustinus, ein dauerhafter Genuss des Körpers (perpetua corporis voluptas) im Diesseits wie im Jenseits, Ergebnis wäre dann ungetrübter Genuss im Diesseits.22 Doch - so konstatiert Augustinus - muss dies mit Blick auf die Sterblichkeit des Körpers und die Unsterblichkeit der Seele ein bloßes Gedankenspiel bleiben. Zwar geht es Augustinus bei seiner Hypothese hauptsächlich um eine Rechtfertigung seines lustbetonten Lebenswandels. Doch ist seine Überlegung auch als Hypothese von Interesse. Denn wie für Axiochos, Sokrates oder andere vor ihm verliert der Tod für Augustinus seinen Schrecken nicht allein wegen der Unsterblichkeit der Seele. Auch Augustinus sucht eine positive Perspektive, und die besteht für ihn - wenigstens hypothetisch - in einer Fortschreibung des als positiv verstandenen Zustandes im Diesseits. Gewiss, im Rückblick des bekehrten Augustinus wird dieser Wunsch des im VI. Buch noch suchenden und lustorientierten Augustinus als Irrtum angesehen, die Diesseitigkeit mit Blick auf Gottes Jenseitigkeit abgewertet und der Tod deshalb als positiv empfunden. Doch bietet Augustinus mit seinem Gedankenspiel ein Modell einer Verbindung von epikureischen und platonischen Elementen, das später in einer mehr und mehr dem Diesseits zugewandten, gleichwohl aber christlichen Epoche aufgegriffen, zu einem Beweis umgestaltet und zur Rechtfertigung von Lebensbejahung und Diesseitsbegeisterung dieser Epoche herangezogen worden ist.

21 Augustinus, confessiones 6, 26: „Et quaerebam, si essemus inmortales et in perpetua corporis voluptate sine ullo amissionis terrore viveremus, cur non essemus beati aut quid aliud quaereremus." 22 Th. Fuhrer, 2000, S. 239.

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3. Lorenzo Vallas christlich-epikureische Perspektive Was für Augustinus Hypothese bleibt und mit seinem Bekenntnis zum Christentum nicht mehr vereinbar ist, wird bei einem der wichtigsten Philosophen und Philologen der christlichen Renaissance, Lorenzo Valla, zum ernstzunehmenden Modell einer Verbindung epikureischer und christlicher Vorstellungen, das die positive Sicht des Diesseits rechtfertigen, gleichzeitig aber die platonisch-christliche Vorstellung vom Tod als Durchgangsstation bewahren will23. In seinem mehrfach überarbeiteten ethischen Hauptwerk mit dem Titel De vero falsoque bono, yom wahren und falschen Guten'2*, das man auch die „Programmschrift des neuzeitlichen Hedonismus" genannt hat25, stellt sich Valla formal in die Tradition des Ciceronianischen Dialogs.26 Denn er lässt nach der Art Ciceros epikureische, stoische und christliche Positionen im Gespräch gegeneinander antreten. Der Titel Vom wahren und falschen Guten mag zudem an Ciceros Werk De finibus erinnern. In der Tat geht es in Vallas Werk ebenfalls um unterschiedliche Vorstellungen vom Guten in unterschiedlichen paganen Schulen, vor allem in der Stoa und im Kepos. Aber auch Laktanz und Augustinus 27 sind Vallas Vorbilder. Mit seinem Werk intendiert Valla offenbar eine Auseinandersetzung mit antiker Ethik. „Uber die Religion zu sprechen liegt nicht in meiner Absicht, denn über diese haben neben anderen besonders Lactantius und Augustinus genau und übergenug gehandelt."28 Valla geht es also um eine kritische Würdigung von Zielvorgaben ethischen Verhaltens, die er von verschiedenen Personen vertreten lässt. Den Part des Epikureers hat in der letzten Fassung des Werkes der Dichter Maffeo Vegio inne, Verfasser eines 13. Buches der Aeneis Ver23 M. de Panizza Lorch, 1985. 24 M. de Panizza Lorch, 1970. Zum Titel und Fassungen dort S. XI und XVff. Deutsch: Lorenzo Valla, 2004, Vom wahren und falschen Guten. Einleitung von Michael Erler. Übersetzung und Anmerkungen von Otto und Eva Schönberger, Würzburg. 25 H.J.Krämer, 1980, S. 313. 26 G.M.Müller, 2002. 27 Valla, de vero falsoque bono 3, 25, 14, p. 132, 40-42 Lorch: „Simulque illi quorum opera lectitamus cum quibus quotidie loquimur, quibus multum debemus, ut Ambrosius, Hieronymus, Augustinus." 28 Valla, de vero falsoque bono 1 proöm. 1, p. 1,9-13 Lorch: „Et de religione quidem dicere in animo non est et de qua satis abundeque cum alii tum praecipue Lactantius et Augustinus tractaverunt, quorum alter, ut qui prior fuit, falsas religiones confutasse, alter veram confirmasse praeclarius videtur."

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gils. Einen stoischen Part übernimmt Catone Sacco, in Pavia zwischen 1394 und 1397 geboren und dort Professor des öffentlichen Rechtes. Die christliche Position vertritt Antonio da Rho (Antonius Raudensis), geboren am Ausgang des 14. Jahrhunderts, Franziskaner und Lehrer der Eloquenz in Mailand. Schauplatz der Unterredung ist Pavia.29 Nach einer Einleitung wird in einer ersten Rede im ersten Buch des Werkes die stoische Position vorgetragen, wonach das Ziel allen moralischen Handelns in der Tugend liegt. In einer zweiten Rede, die den Rest des ersten und das gesamte zweite Buch einnimmt, wird die stoische Auffassung von einem epikureischen Standpunkt aus widerlegt und von epikureischer Warte die Lust als Triebfeder und Ziel allen Handelns verteidigt. Eine dritte Rede von Antonio da Rho im dritten Buch misst die stoische und die epikureische These am christlichen Standpunkt, verwirft die erste und relativiert oder besser: überhöht die epikureische Position, indem sie sie dem christlichen Standpunkt annähert. Es ist diese christliche Rede, die uns interessieren soll. Denn in ihr verteidigt Antonio da Rho seine christliche Position, lässt aber Konvergenzen christlicher zu epikureischen Ansichten erkennen.30 Dabei ist ihm wichtig, dass er das Gute nicht wie die Stoiker in den Tugenden selbst, sondern in der Lust sieht. Wie die Epikureer betrachtet er die Tugenden also als Mittel zum Zweck; wie diese erkennt er im Zweck die Lust, wobei Antonio freilich zwischen einer irdischen und einer himmlischen Lust unterscheidet. Antonio erkennt in der Lust die Liebe Gottes (caritas), das wichtigste Motiv menschlichen Handelns und den Antrieb, nach dem Jenseits zu streben. Epikureer stehen also den Christen insofern nahe, als sie Tugend um zukünftigen Glückes willen suchen31, so die überraschende ,conclusio' des Antonio. Allerdings sehen Christen im obersten Gut nicht irdisches, sondern himmlisches, wahrhaft dauerhaftes Glück. Die Erwartung dieses himmlischen Glückes ermöglicht den Menschen, auf Erden zu einer positiven Lebenseinstellung zu finden. 32 Den Stoikern hingegen macht Antonio einen verfehlten Tugendbegriff zum Vorwurf, insofern sie Tugend um ihrer selbst willen erstreben. Dadurch sei die Verbindung mit Gott aufgehoben. Aus dieser Argumentation folgt, dass die rigide Tugendethik der Stoa völlig abzulehnen ist. Trotz unterschiedlicher Auffassung vom ir29 Vgl. G.M. Müller, 2002, S. 165 ff. 30 Vgl. P.O. Kristeller, 1964, S.31ff.

31 Valla, de vero falsoque bono 3, 9, 2 p. 110, 5 ff. Lorch. 32 C. Zintzen, 2000b, S. 41 f.

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dischen, bzw. himmlischen Glück deuten sich also Konvergenzen mit Epikur an. Doch bleiben maßgebliche Divergenzen: Dazu gehört, dass der christliche Glaube verbietet, ein Leben nach dem Tode zu leugnen, um wie Epikur daraus einen Genuss des Diesseits zu gewinnen. Gleichwohl scheint Epikurs Lehre dem Christen Antonio in mancher Hinsicht erwägenswert, wobei der christlichen Religion natürlich absoluter Vorrang zukommt. Jedenfalls erlaubt ihm die Konvergenz mit epikureischen Vorstellungen, trotz christlicher Jenseitsorientierung die Schönheit der diesseitigen Welt zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist natürlich allein das himmlische Leben wirklich zu preisen, weil die geistige Lust intensiver ist als die irdische. Bemerkenswert ist nun, dass Antonio für die Hinwendung zum Diesseits ein Argument findet, das ganz in Richtung dessen geht, was Augustinus nur spielerisch erwogen hatte. Dieses Argument findet sich in einem Exkurs, in dem es um das Eintauschen göttlicher Güter gegen irdische und konkret um die Frage geht, ob man für den Verzicht auf irdische Güter im Jenseits vollen Ersatz erhält. Anlass ist die Beobachtung, dass sich die meisten Menschen nur ungern von ihren irdischen Freuden weglocken lassen, die ihnen die größten scheinen, und meinen, „körperliche Lust werde nach dem leiblichen Tod niemals wiederkehren", die deshalb kein Maß haben und sich verhalten wie solche, „die sich vor dem Aufbruch durch die Wüste den Bauch noch einmal ordentlich vollschlagen." 33 Die Überlegung kulminiert in einer Vermutung, die in die Richtung von Augustinus' Wunschvorstellung geht: „Schenkt uns nun der Himmel die gleichen Güter wie auf Erden mit ewiger Dauer, wären Erwartung und Geduld weniger schmerzlich." 34 Drohender Verlust irdischer Güter, insbesondere der Lust, so scheint es, lässt den Tod als ein Übel und das Jenseits besonders für jene als wenig attraktiv erscheinen, die im Diesseits hohe Amter inne hatten und Ehren genossen. Sie werden sich „wohl mit diesem gewöhnlichen und allgemeinen Anteil (sc. im Himmel) nicht zufrieden geben" 35 . Es geht also um das .Eintauschen' göttlicher Güter gegen irdische, um eine Güterabwägung des Verstandes. 36 33 3 , 2 4 , 1 , p. 125,18 Lorch: „Quo fit ut non modo non parcant deliciis sed eo magis indulgeant, more illorum qui per deserta loca ita facturi prius quam proficiscantur se cibariis onerant." 34 Valla, de vero falsoque bono 3, 24, 2, p. 125, 24-26 Lorch. 35 Valla, de vero falsoque bono 3, 24, 3, p. 125, 27f. Lorch. 36 Valla, de vero falsoque bono 3 , 2 4 , 1 , p. 125, 11 f. Lorch: „De commutatione terrenorum bonorum cum divinis agimus."

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Man erkennt den Wunsch, nach dem Tode weiterzuleben wie bisher: einen Wunsch, den schon Sokrates äußerte, der Axiochos beschäftigte und der Augustinus dazu brachte, Glück in einer Perpetuierung irdischer Lust zu suchen, also Epikurs Lustlehre mit der Unsterblichkeitsthese Piatons zu verbinden. Doch scheiterte dies für ihn an der Unvereinbarkeit von epikureischem Materialismus und platonischer Psychologie. Antonio — er spricht wohl für Valla37 - weist nach, dass im Kontext des christlichen Glaubensdogmas die Bedenken auszuräumen sind, dass hier möglich ist, was sich im Rahmen paganer Philosophie verbietet. Hier wird konkrete Möglichkeit, was bei Augustinus Gedankenspiel war und Wunsch bleiben musste, nämlich die Hypothese einer Verbindung leiblicher Genüsse - eine perpetua corporis voluptas - mit der Unsterblichkeit des Menschen. Zunächst weist Antonio darauf hin, dass der Lohn im Jenseits der Investition im Diesseits entspricht. „Je mehr wir Gott aufopfern, desto größer wird der Gewinn an Seligkeit sein." 38 Man würde erwarten, dass Antonio darauf hinweist, geistige Genüsse seien höher zu veranschlagen als leibliche, um Piaton gleichsam gegen Epikur auszuspielen und den Tod als wünschenswert zu erweisen. Doch Antonio reagiert auf überraschende Weise. Denn er verspricht auch für das Jenseits leibliche Genüsse, sogar in einem höheren Maße als im Diesseits. U m dies zu beweisen, greift Antonio nun nicht auf einen Mythos zurück, wie dies in der Antike in diesem Fall häufig geschah. Er beruft sich vielmehr auf christliche Lehre, auf das Grunddogma der Auferstehung des Leibes und interpretiert dieses im Sinn des epikureischen Nützlichkeitsdenkens und Lustkalküls: „Die leiblichen Sinnesgenüsse aber werden wir wie jetzt auch dort besitzen oder - sollten welche fehlen - an ihrer Stelle viel bessere bekommen. Was nämlich" - so Antonios Begründung „sollte die Auferstehung der Leiber bewirken, wenn wir dadurch nicht mehr gewönnen, als wir ohne Körper hätten? Die Seele wird ja aus eigener Kraft fähig sein zu wirken und Ehre zu gewinnen. Werden also darüber hinaus die leiblichen Augen nichts Leibliches sehen, werden die übrigen Sinne keine Tätigkeit haben? [...] Also erhalten wir nach dem Rückgewinn unserer Körper die unterbrochenen Genüsse, aber reiner und, wie ich sagte, mit hohem Zins zurück." 3 9 37 Zur Frage nach Vallas eigener Position zuletzt G . M . Müller, 2002, S.213ff. 38 Valla, de vero falsoque

bono 3 , 2 4 , 4, p. 125, 37ff. Lorch.

39 Valla, de vero falsoque bono 3,24, 5, p. 126, 5 ff. Lorch: „ Q u e autem ad corporis sensus attinent aut his quibus m o d o fruimur fruemur aut si qua cessabunt in eorum lo-

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Auch wenn sich nach christlicher Vorstellung die leibliche Auferstehung nicht sofort nach dem Tod, sondern zeitversetzt vollzieht („Zuerst nämlich kommen die Freuden der Seele; die des Körpers sind für die jüngste Zeit aufbewahrt." 40 ), bleibt doch die positive Perspektive gültig. Christliches Dogma erlaubt, als Gewissheit anzunehmen, was Augustinus nur als Möglichkeit erwogen, aber verworfen hatte. Grundlage ist jenes Zweckdenken, das nach Antonio Epikur und Christen gemeinsam ist: Alles hier ist nur Mittel, um Glück zu erreichen. Was hier diesen Zweck erfüllt, muss dies - so das Argument auch im Jenseits tun können. Die Perpetuierung leiblicher und geistiger Genüsse kann damit über den Tod hinaus garantiert, der Tod damit als Durchgangsstation und als ein Gut erwiesen und die Freude am Diesseits durch Hinweis auf das Jenseits gerechtfertigt werden. Was Augustinus erstrebte, aber wegen des Gegensatzes epikureischer Leiblichkeit zur platonischen Geistigkeit nicht erlangte, das ist im Christentum gegeben. Denn für den Christen Antonio ist allein die Seele unsterblich und geistige Lust im Jenseits erstrebenswert. Vor allem aber ermöglicht die Auferstehung des Leibes eben jene yperpetua corporis voluptas', die nach Augustinus' Wunsch und Gedankenspiel in den Confessiones völliges Glück garantiert. Mit Blick auf die verheißene Auferstehung wird nämlich körperliche Lust im Diesseits zu einem Hinweis darauf, dass es solche auch im Jenseits geben wird. Damit aber ist jene positive Perspektive gegeben, welche Furcht vor dem Tod im Sinne Epikurs, aber auch des Augustinus verhindern hilft. Lebensbejahung und Lust am Diesseits werden zum Verweis auf entsprechende Freuden im Jenseits und sind von daher gerechtfertigt. Anders als bei Augustinus handelt es sich nicht um eine Hypothese, sondern um eine Glaubenswahrheit, weil sie auf einem christlichen Grunddogma beruht. Deshalb soll der Christ nicht der traurigen Tugendhaftigkeit der Stoiker folgen, sondern wie Epikureer das Leben im Diesseits genießen. Der Christ tut das freilich nicht, weil er davon ausgeht, dass nach dem Tod alles vorbei ist und der Tod deshalb nichts bedeutet, sondern weil der Tod infolge der Unsterblichkeit der Seele und Auferstecum multo melioribus donabimur. Q u i d enim sibi vellet restitutio corporum, si nihil plus habituri sumus quam sine illis haberemus? Per se enim anima et ad res gerendas erit et ad ornatum sufficiens. Preterea an oculi corporei nihil corporeum videbunt, ceterique sensus suum officium perdent? Q u i s hoc mentis compos crediderit? Ergo resumptis corporibus intermissa gaudia sed tarnen sanctiora et ut dixi cum multo fenore reddentur, [...]". Vgl. C . Zintzen, 2000a, S.264f. 40 Valla, de vero falsoque bono 3, 24, 6, p. 126, 14 Lorch.

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hung des Leibes zur Durchgangsstation hin zu weiteren und höheren leiblichen Genüssen im Reich Gottes wird. Die Quintessenz des Beweises besteht also darin, dass auch der christliche Auferstehungsglaube, nicht nur Epikurs Materialismus, die erstrebte epikureische Lebenshaltung möglich macht. Antonio gelingt, woran Augustinus scheitert: Er verbindet epikureische Diesseitsbejahung mit platonischer Jenseitssehnsucht. Nicht allein der Epikureer, der an die Sterblichkeit der Seele, sondern auch der Christ, der an die Unvergänglichkeit von Seele und Leib glaubt, kann auch das Diesseits auf eine Weise genießen, wie es Epikur anstrebt. Christliche Vorstellung vom Tod und vom Jenseits - das impliziert Antonios' These - führt zu einer positiven Diesseitsorientierung, die für die christliche Renaissance typisch ist und an Epikurs Haltung erinnert. „Was die Natur schuf und bildete, kann gar nicht anders als heilig und löblich sein, wie etwa der Himmel, der über uns kreist, Tag und Nacht mit Lichtern geschmückt und eingerichtet mit großer Zweckmäßigkeit, Schönheit und Nützlichkeit. [...] Man wird nichts finden, das nicht, [...] mit höchster Zweckmäßigkeit, Schönheit und Nützlichkeit vollendet, eingerichtet und geschmückt ist. Dafür kann allein schon der Bau unseres Körpers als Beweis dienen, wie ja auch Laktanz, ein scharfer, wortgewandter Geist, in seinem Buch Uber das Werk Gottes mit wunderbarer Klarheit darlegte." 41

Dieser Lobpreis des Diesseits, den Lorenzo Valla dem Vertreter der epikureischen Lehre, Maffeo Vegio, im ersten Buch von ,Vom wahren und falschen Gut' in den Mund legt, die bezeichnend ist für Valla selbst, aber auch für eine in der Renaissance verbreitete Grundhaltung spricht, findet seine Grundlage in einem epikureischen Christentum. Mit einer epikureisch gefärbten, auf Lustkalkül und abwägendem Denken aufbauenden christlichen Ethik versucht Valla jener langanhaltenden Polemik die Schärfe zu nehmen, mit der seit der Patristik Christen die Lehre Epikurs überzogen und die sich von der Spätantike über das Mittelalter bis in die frühe Renaissance zieht: Leugnung der Providenz, Sterblichkeit der Seele, Lust als Ziel allen Handelns. 42 Diese epikureischen Grundüberzeugungen scheinen in der Tat unüberbrückbare Hindernisse für eine Annäherung zwischen Christen und Epikureern zu sein. Gleichwohl gibt es in der Renaissance den Versuch, beides zu verbinden. 43 Zu diesen Versuchen gehört auch die Schrift Lorenzo Val41 Valla, de vero falsoque bono 1, 10, 1, p. 14, 11-21 L o r c h . 42 J . F e r g u s o n / J . P. Hershbell, 1990, hier: S.2316. M . Erler, 1994, S. 188-194. 43 D . C . Allen, 1971; G . D i N a p o l i , 1971; weitere Literatur bei M . Erler, 1994, bes. S. 190 ff.

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las. Epikur ist für ihn nicht - wie noch für Augustinus - eine feindliche Versuchung, die man abwehren muss oder der man zumindest nicht erliegen darf, sondern eine pagane Anregung, deren man sich zu eigenen Zwecken bedienen kann. Auf diese Weise findet Valla in einer langen Kontroverse über die Einschätzung von Tod und ihrer Auswirkung auf das Leben zu einem originellen Kompromiss, dem sich später noch Erasmus nicht verschließen kann: „Wenn derjenige Epikureer ist, der lustvoll lebt, dann ist um so mehr Epikureer, wer heilig und fromm lebt." 44 Trotz unüberbrückbarer Gegensätze zum Christentum werden epikureische Vorstellungen also als Vorstufe und Vorbereitung auf christliche Verkündigung akzeptiert. Als Vertreter einer Lehre, die dem Diesseits verhaftet ist, die gleichwohl aber auch auf höhere Wahrheiten verweisen kann, findet Epikur, dargestellt in heiterer Gelassenheit und im Kreis von Schülern aller Lebensalter, seinen Platz in jener Versammlung antiker Weisheit, die Raffael in den Stanzen des Vatikan in der ,Schule von Athen' verewigt hat.45 Epikur an den Wänden des Vatikan: Raffael stellt mit ihm auf unnachahmliche Weise eine ,palintonos harmonia' von Diesseitigkeit und Jenseitsorientierung bildlich dar, der Valla in seiner Schrift Vom wahren und falschen Guten nicht zuletzt als .Antwort' auf Augustinus' Wunsch beredten Ausdruck verleiht.

44 W. Welzig, 1967, 591: „nulli sunt magis Epicurei quam Christiani pie viventes", dazu C . Zintzen, 2000a, S.265. 45 M. Erler, 2000.

Patristische Annäherung an , abwägende Vernunft'. Sittliches Urteil bei Origenes und Augustinus H E R M A N N - J O S E F SIEBEN

Der als Vermittler antiken Kulturerbes bekannte Staatsmann und Schriftsteller Magnus Aurelius Cassiodorus Senator (ca. 485-580) verfasste neben seinen staatsmännischen Werken auch geistlich-theologische Schriften, darunter ein stark von Augustinus und Claudianus Mamertius abhängiges kleines Werk De animaDas De virtutibus eius (seil, animae) moralibus überschriebene 7. Kapitel stellt im ersten, allgemeineren Teil zunächst im Anschluss an Cicero 2 die bekannten vier Kardinaltugenden vor, ergänzt dann dieses virtutum quadripertitum decus durch eine Trias, nämlich die als „ergänzende Teile" gekennzeichneten contemplatio, iudicialis (pars?), und memoria. Das zweite Element dieser harmonia tricordis wird so definiert: Secunda, iudicialis quae discretionem boni malique rationabili aestimatione pertractat3. Während Cassiodor mit der Nennung von iustitia, prudentia, fortitudo und temperantia die Tugenden inhaltlich bestimmt, bezeichnet die im Anschluss genannte Trias offensichtlich die .Seelenkräfte', die die genannten Tugenden realisieren. 4 Es ist erstens das „Schauen", d. h. die Wahrnehmung dieser Tugenden, zweitens das „Urteil", mittels dessen wir zwischen dem sittlich Guten und Bösen entscheiden, und drittens das „Gedächtnis", in dem wir die wahrgenommenen Tugenden und die getroffenen Entscheidungen festhalten. 1 2 3 4

CChr. SL 96, 534-575. De inventione 2, 160-165. CChr. SL 96, 549, 18-20. A. Crocco (1972, Ii,Liber de anima' 152) deutet die genannte Trias als mit tellettiva". M. Di Marco (1985, Scelta siodoro, in: SM SR 51, S. 93-117) geht

di Cassiodoro, in: SapDom 25, S. 133-168, hier den drei Tugenden verbundene „sfera (vita) ine utilizzazione delle fonti nel de anima di Casauf unsere Stelle nicht ein.

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Die genannte Trias der .Seelenkräfte' wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Zum Beispiel: Was ist näherhin mit der pars iudicialis gemeint? Das Entscheiden im Unterschied zum Erkennen (contemplatio) und zum Gedächtnis {memoria)} Haben wir es vielleicht mit der bekannten augustinischen Trias der Seelenkräfte zu tun? In diesem Fall wäre die pars iudicialis mit der in den Triaden des genannten Kirchenvaters sonst üblichen voluntas in Verbindung zu bringen. Schließlich: Ersetzt die Triade, sei sie nun augustinischen Ursprungs oder nicht, die bekannten drei platonischen Seelenteile5, die dem Kirchenvater aus Hippo natürlich nicht unbekannt sind?6 Wir können im vorliegenden Zusammenhang die angedeuteten Fragen nicht weiter verfolgen und halten aus dem angeführten Kapitel des Cassiodor lediglich fest, dass das sittliche Urteil (discretio boni malique) zu Ende der patristischen Zeit in einer expressis verbis dieser Problematik gewidmeten Passage der rationabilis aestimatio, d. h. der „vernünftigen Abwägung" zugeschrieben wird. Die Frage stellt sich, ob Cassiodor mit dieser Auskunft über den eindeutig kognitiven Charakter sittlicher Erkenntnis lediglich eine persönliche Meinung oder die Auffassung der Tradition wiedergibt, auf die er sich sonst in seinem geistlich-theologischen Werk stützt. Wir stellen die genannte Frage an zwei herausragende Vertreter der patristischen Tradition, einerseits an Origenes, andererseits an Augustinus.

1. Origenes hatte keinen Anlass, ausdrücklich über die Rolle der Vernunft in der sittlichen Erkenntnis zu reflektieren, aber er beschäftigte sich wiederholt und intensiv mit einer Problematik, in der es für ihn unumgänglich war, auf die genannte Frage einzugehen. Wir meinen das Problem der Willensfreiheit.7 Die Freiheit des menschlichen Willens war 5 Vgl. Rufinus, De benedict, patr. 2,9: Tripertitam esse animae virtutem multis sapientibus visum est, id est, tres esse species motus eius, per iram, per cupiditatem, per rationem nec alios ut puto animae motus exceptis his poterit inveniri; vgl. auch Johannes Cassianus, Coli. 24,15. 6 Vgl. Civ. 14,19. 7 Vgl. hierzu B. D. Jackson, 1966, Sources of Origen's doctrine of Freedom, CH 35, 13-23; Μ. Simonetti, 1968, Introduzione, in: I principi di Origene, Turin, S. 77-84 und 364, Anm. 1; H. Holz, 1970, Über den Begriff des Willens und der Freiheit bei Origenes, in: NZSTh 12, S. 63-84; R. Calonne, 1988, Le libre arbitre selon le traite desprincipes d'Origene, in: BLE 89, S. 243-262; E. Schockenhoff, 1990, Zum Fest der

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für sein theologisches System von absolut grundlegender und zentraler Bedeutung. Ihre Bestreitung sowohl durch die Gnosis als auch durch den antiken Fatalismus zwang ihn wiederholt zu entschiedenen Stellungnahmen. Unter den verschiedenen Stellen seines Werkes 8 , an denen der Alexandriner sich mit der Willensfreiheit befasst, ist für unsere Fragestellung am aufschlussreichsten ein Passus aus dem 3. Buch von De Principiis9, also seiner Darlegung der Grundlehren des christlichen Glaubens. Die hier von Origenes gebotene Behandlung der menschlichen Willensfreiheit stellt die umfassendste Darlegung zu diesem Thema dar, die aus der christlichen Antike überliefert ist. Nach einer kurzen Einführung in das Thema (1) bietet Origenes hier zunächst eine philosophische Erörterung der Frage (2-5), dann setzt er sich mit den Aussagen der Hl. Schrift zur menschlichen Entscheidungsfreiheit auseinander, zunächst mit einer Serie von Schriftstellen pro (6-7), dann mit einer Reihe von Stellen contra Willensfreiheit (8-24). Die für uns relevanten Aussagen befinden sich in der philosophischen Erörterung der Frage, also in den Kapiteln 2-5. Origenes setzt in seiner philosophischen Erörterung bei der Bewegung der Dinge ein 10 und unterscheidet zunächst zwei Arten von Dingen, solche, die wie Holz und Steine von außen bewegt werden, und solche, die wie Tiere und Pflanzen die Ursache ihrer Bewegung „in sich selbst" (έν έαυτοις) haben. „Von dem, was in sich selbst die Ursache der Bewegung hat, sagt man teils, dass es ,aus sich' (έξ εαυτών), teils, dass es ,νοη sich' (άφ' έαυτών) bewegt werde; ,aus sich' das Unbeseelte, ,νοη sich' das Beseelte. Das Beseelte wird ,νοη sich' bewegt, indem in ihm eine Vorstellung (φαντασία) entsteht, die einen Antrieb (όρμή) hervorruft." 1 1 Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes, Mainz, S. 105-108; H. S. Benjamins, 1994, Eingeordnete Freiheit. Freiheit und Vorsehung hei Origenes, Leiden usw.; Th. Kobusch, 1995, Origenes, der Initiator der christlichen Philosophie, in: W. Geerlings/H. König (Hrsg.), Origenes. Vir ecclesiasticus. Symposion zu Ehren von Herrn Prof. Dr. H.-J. Vogt, Bonn, S. 27-44, hier 35-42. 8 De princ. III 1,1-24; Genesiskommentar 1-11, 14-21; Contra Celsum II 20; Römerbriefkommentar 1-4; De Oratione VI 1-5. Außer dem letztgenannten sind die Texte auch in die Philokalie übernommen (c. 21.23.25). Benjamins, 1994, S. 50-121 bietet eine eigene Ubersetzung mit ausführlichem Kommentar. 9 De princ. III 1,1-24; Ausg. H. Görgemanns/H. Karpp, 1976, Darmstadt, S. 462-560. Wir übernehmen die deutsche Ubersetzung der Texte aus der genannten Ausgabe. 10 Zum folgenden vgl. außer Benjamins, 1994, S. 6 4 - 6 8 auch Simonetti, 1968, S. 364-370; H. Crouzel/M. Simonetti, in: SC 269, S. 15-21; Calonne, 1988, S. 245-249. 11 De princ. III 1,2; Görgemanns/Karpp, 1976, S. 465.

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Als Beispiel für die Bewegung eines beseelten Lebewesens nennt Origenes die in der Spinne entstandene Vorstellung vom Weben und der darauf folgende Antrieb zum Weben, „wobei die Vorstellungskraft des Tieres dieses in planmäßig geordneter Weise dazu treibt, ohne dass man eine andere Kraft neben der Vorstellungskraft des Tieres annehmen müsste." 1 2 Unter den Lebewesen sind wiederum zwei Arten zu unterscheiden, solche, die Vernunft (λόγος)13 haben, und solche, die keine Vernunft haben. Für erstere gilt, dass sie „zur Vorstellungskraft hinzu noch Vernunft (haben), welche die Vorstellungen beurteilt (κρίνειν) und die einen verwirft (άποδοκιμάζειν), die andern annimmt (παραδέχεσθαι), auf dass das Lebewesen aufgrund von letzteren gelenkt werde". Von der genannten Vernunft heißt es weiter: „Im Wesen der Vernunft liegen nun die Voraussetzungen (άφορμαί) 14 für die Erkenntnis des (sittlich) Schönen und Hässlichen. Wenn wir diesen folgen und das Schöne und Hässliche erkennen, wählen wir das Schöne und meiden das Hässliche. Deshalb verdienen wir L o b , wenn wir uns dem Tun des Schönen hingeben, und Tadel, wenn wir das Gegenteil tun." 1 5

Origenes präzisiert im folgenden genau den Punkt, auf den es ihm beim Aufweis der Entscheidungsfreiheit des Menschen im Zusammenhang ankommt. Die äußeren Dinge, die im Vernunftwesen diese oder jene Vorstellung hervorrufen, stehen nicht in seiner Macht, heißt es weiter. 12 Ebd. 13 Zu den christologischen Implikationen solcher Aussagen über die Vernunft äußert sich Origenes u. a. Deprinc. I 3,6; Görgemanns/Karpp, 1976, S. 172,11: [...] manifestum est et patet quomodo ex participatione verbi vel rationis homines .peccatum habere' dicuntur: videlicet ex quo intellectus atque scientiae capaces effecti, cum iam eis boni vel mali discretionem ratio intrinsecus inserta suggesserit; et cum scire iam coeperint quid sit malum, si faciunt illud, ,peccato' efficiuntur obnoxii. Et hoc est quod dixit quia .excusationem non habent homines pro peccato suo', ex quo eis divinus sermo vel ratio ostendere coeperit in corde discretionem boni ac mali, ut per hanc debeant refugere et cavere quod malum est, et quia „seiend bonum et non facienti" inquit „peccatum est illi". - Vgl. auch Simonetti, 1968, S.367, Anm. 16: „Per valutare esattemanete il significato di questa usuale definizione scolastica in Origene, se deve tener presente che per lui logos ha sempre valore pregnante, indicando non solo la raggione umana ma anche il logos divino di cui l'uomo, appunto perche dotato di ragione, partieipa". 14 Oder wie Benjamins, 1994, S. 63 treffender übersetzt: „In der Natur der Vernunft sind nun Ansätze vorhanden, das Gute und Schlechte zu schauen. Wenn wir das Gute und Schlechte gesehen haben und - diesen Ansätzen folgend - das Gute wählen und das Schlechte meiden, sind wir lobenswert usw." 15 De princ. III 1,3; Görgemanns/Karpp, 1976, S.467.

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„Aber die Entscheidung (κρΐναι), das Ereignis so oder anders zu verarbeiten (χρήσασθαι), ist einzig und allein Sache der Vernunft in uns; und diese aktiviert uns auf G r u n d der (in ihr liegenden) Voraussetzungen (άφορμαί) entweder zu jenen Antrieben (όρμή), die uns zum Schönen und Angemessenen veranlassen, oder sie führt uns fehl auf den entgegengesetzten Weg."16

Auf den Einwand, das äußere Ereignis könne von der Art sein, dass das mit Vernunft ausgestattete Wesen ihm nicht widerstehen könne, antwortet Origenes mit dem Hinweis auf die diese Behauptung dementierende Selbsterfahrung: Wer Derartiges behauptet, der „soll auf seine eigenen Affekte (πάθος) und Regungen (κίνημα) achtgeben, ob nicht sein Leitvermögen (ήγεμονικόν) Wohlgefallen, Zustimmung und Neigung (εΰδόκησις, συγκατάθεσις, ροπή) 17 zu dieser bestimmten (Handlung) entwickelt aus bestimmten Beweggründen". Der lateinische Ubersetzer unseres Passus, Rufinus, fügt an dieser Stelle noch einen aufschlussreichen Vergleich ein, indem er den in der vernünftigen Seele stattfindenden Entscheidungsvorgang mit einer Gerichtsentscheidung vergleicht, in der die Vernunft als Richter fungiert. 18 Welche konkreten äußeren Einflüsse Origenes hier im Auge hat, an denen Freiheitserfahrungen gemacht werden können, zeigt das im folgenden genannte Beispiel der sexuellen Versuchung.19 Hier lehrt die Erfahrung, so Origenes, dass die Vernunft selber zustimmt bzw. nicht zustimmt, je nachdem wie sie sich entscheidet. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die Fähigkeit der Vernunft, nicht zuzustimmen, vom Wissen und der Bildung des Men16 De princ. III 1,3; Görgemanns/Karpp, 1976, S.469. 17 Nach Simonetti, 1968, S. 368 Anm. 22 sind die drei auf die Stoa zurückgehenden Termini nicht synonym. Sie beschreiben in ihrer Aufeinanderfolge den Erkenntnis- und Willensprozeß von der Einschätzung des äußeren Eindrucks bis zur Zustimmung und zur Hinneigung; vgl. dagegen Crouzel/Simonetti, S. 20, wo sie als „expressions quasi identiques" bezeichnet werden. 18 De Princ. III 1,4; Görgemanns/Karpp, 1976, S.470, Z. 15-18: [...] ita ut etiam verisimilibus quibusdam causis intra cordis nostri tribunalia velut iudici residenti ex utraque parte adhiberi videatur assertio, ut causis prius expositis gerundi sententia de rationis iudicio proferatur. 19 De princ. III 1,4; Görgemanns/Karpp, 1976, S.469: „Denn, um ein Beispiel zu nennen, wenn jemand sich entschlossen hat, enthaltsam zu leben und geschlechtlichen Verkehr zu meiden, so ist nicht die Frau, die er sieht und die ihn anreizt, gegen seinen Vorsatz zu handeln, die zureichende Ursache (αυτοτελής αιτία) dafür, den Vorsatz außer Kraft zu setzen; denn er handelt auf jeden Fall (deshalb) zuchtlos, weil er Wohlgefallen fand an dem Kitzel und der Glätte der Lust, da er nicht willens war, dagegen Widerstand zu leisten und seinen Entschluss durchzuhalten."

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sehen mitbedingt ist.20 Origenes schließt seine Analyse mit der Bemerkung ab: „ D i e v e r n ü n f t i g e Ü b e r l e g u n g z e i g t also, dass die ä u ß e r e n U m s t ä n d e n i c h t in u n s e r e r M a c h t ( ο υ κ έ φ ' η μ ώ ν ) sind, d a s s es a b e r u n s e r e e i g e n e L e i s t u n g ( έ ρ γ ο ν ) ist, sie s o o d e r a n d e r s z u g e b r a u c h e n , w o b e i w i r die V e r n u n f t h e r a n z i e h e n , d a m i t sie e n t s c h e i d e u n d p r ü f e , w i e m a n b e s t i m m t e n ä u ß e r e n (Umständen) zu begegnen hat."21

Für unsere Frage nach der Rolle der Vernunft im sittlichen Urteil ergibt sich damit: erstens, bei den vernunftbegabten Lebewesen ruft die Vorstellung nicht automatisch einen Antrieb hervor, sondern dieser entsteht erst, nachdem die Vernunft derselben zugestimmt hat. Die Vernunft entscheidet darüber, ob sie eine Vorstellung annimmt oder ablehnt. In diesem Sinne ist die Vernunft die Ursache der Bewegung. Zweitens, es liegt in der Natur der Vernunft, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Vernunft ist auf diese Unterscheidung hin angelegt. Indem sich der Mensch mit seiner Vernunft für Gut oder Böse entscheidet, weiß er, dass er sittlich handelt. Drittens, es ist näherhin Aufgabe der Vernunft, sich gegen äußere Einflüsse und Einwirkungen in Richtung auf das Gute hin durchzusetzen; in diesem Sinn werden äußere Einflüsse im Widerspruch zur Vernunft erfahren. Viertens, weil die Entscheidung für das Gute von der Stärke und dem Umfang der Vernunft mitbedingt ist, kommt der Bildung und der Wissensaneignung eine entscheidende Rolle in der sittlichen Ertüchtigung des Menschen zu. Wie stark Origenes in seiner Analyse der Entscheidungsfreiheit von philosophischen Quellen abhängt, hat zuletzt H. S. Benjamins gezeigt. 22 So dürfte ζ. B. der oben erwähnten Einteilung der Dinge in vier Kategorien die stoische Lehre von den πνεϋμα-Strömungen zugrundeliegen. Das πνεϋμα bringt den unbelebten Dingen Kohärenz (έξις), den Pflanzen Wachstumsfähigkeit (φύσις), den Tieren Seele (ψυχή) und den Menschen die Vernunftseele (λογική ψυχή) 23 . Wenn Origenes - worauf wir weiter oben nicht eingegangen sind - auf die Unschärfe der Ab20 Ebd. „Ein anderer handelt umgekehrt, wenn dasselbe ihm begegnet, weil er mehr Wissen aufgenommen und geübt hat: der Kitzel und der Reiz treten zwar auf, aber die Vernunft, da sie besser gefestigt ist, genährt durch die Übung und gesichert im Guten durch das Wissen - oder wenigstens in die Nähe der Sicherheit gelangt erwehrt sich der Reizungen und baut die Begierde wieder ab." 21 Deprinc.

III 1,5; Görgemanns/Karpp, 1976, S.475.

22 Vgl. vorher schon H . Koch, 1932, Pronoia und Paideusis. Studien über Origenes sein Verhältnis zum Piatonismus, Berlin/Leipzig, S. 2 8 4 - 2 8 5 . 23 Nähere Quellenangaben bei Benjamins, 1994, S. 6 8 - 6 9 .

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grenzung zwischen den genannten Kategorien hinweist, also ζ. B. darauf, dass es zwischen Tieren und Vernunftwesen einen gleitenden Ubergang gibt, so ist das wohl auch auf die entsprechende stoische Anschauung zurückzuführen. Die Verknüpfung, die Origenes nun vornimmt zwischen εξις, φύσις, ψυχή und λογική ψυχή auf der einen und den vier Bewegungsarten ,von außen', ,aus sich', ,von sich' und ,durch sich' auf der andern Seite, scheint hingegen origenisches Eigentum zu sein, nach Benjamins jedenfalls ist sie bei anderen Autoren nicht bezeugt.24 Die Unterscheidung einer Bewegung von außen und einer solchen von innen geht indes auf Plato zurück.25 Wie selbständig Origenes unter den philosophischen Quellen auswählt, zeigt im übrigen auch die Tatsache, dass seine Analyse der Verfügungsmacht der Vernunft offensichtlich von der anti-stoischen Argumentation des Peripatetikers Alexander von Aphrodisias beeinflusst ist.26 Origenes' Ausführungen über die richtige Verwendung der Vorstellungen durch die Vernunft stehen wiederum in großer Nähe zu Äußerungen des Stoikers Epiktet: „Wie es sich ziemte, legten die G ö t t e r nur das Mächtigste und Wichtigste von allem in unsere Macht, den richtigen Gebrauch der Vorstellungen (χρησις ο ρ θ ή ταϊς φαντασίαις), alles andere ist nicht in unserer Macht." 2 7

Eindeutig stoischen Ursprungs ist auch der von Origenes in unserem Zusammenhang verwendete, aber vom Ubersetzer Rufinus in seiner technischen Bedeutung überhaupt nicht erkannte und mit causa vel necessitas wiedergegebene Begriff der αυτοτελής αιτία28, der zureichenden Ursache'29: Die oben erwähnte, den Asketen versuchende Frau, ist keine ,zureichende Ursache', dass derselbe gegen seinen Vorsatz handelt. αυτοτελής αιτία ist vielmehr die falsche Entscheidung der Vernunft. Kommen, wie angedeutet, in Origenes' Analyse der Entscheidungsfreiheit auch aristotelische Elemente vor, so ist doch das zugrundeliegende philosophische Grundkonzept eher der Stoa verpflichtet. 24 Benjamins, 1994, S. 70. 25 Phaedr. 245 e: „Denn jeder Körper, dem das Bewegtwerden von außen zuteil wird, ist unbeseelt; der, aber, dem es von innen aus sich selbst zuteil wird, ist beseelt, wie denn dieses die Natur der Seele ist." 26 Einzelbelege bei Benjamins, 1994, S. 34. 27 Diss. I 1,7. Weitere Belege bei Benjamins, 1994, S. 71. 28 Deprinc. III 1,4; Görgemanns/Karpp, 1976, S.470, Z.3. 29 Vgl. SVF II, 120.346.997 und den betreffenden Kommentar von J.M. Rist, 1975, The

Greek and Latin Texts of the Discussion on Free Will in de Principiis, Book III, in: Origeniana. Primier colloque international des etudes origeniennes, in: Quaderni VetChr

12, S. 97-111, hier 105-107.

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Damit stellt sich freilich ein Problem, auf das Th. Böhm hingewiesen hat: Was Origenes mit diesem Kapitel eigentlich beweisen will, ist die Möglichkeit eines Handelns wider besseres Wissen 30 , denn ein solches Handeln ist in der Gestalt der Sünde in der Bibel eindeutig bezeugt. Gerade solches Handeln wider besseres Wissen kennt die Stoa aber nicht, sondern nur ein Handeln wider den rechten Gebrauch der Vernunft. 31 Den Darlegungen des Origenes über die Willensfreiheit und damit über die Rolle der Vernunft im sittlichen Urteil des Menschen liegt also eine philosophische Konzeption zugrunde, die wenig geeignet ist, das eigentlich von dem Alexandriner Gemeinte zum Ausdruck zu bringen. Die biblische Botschaft von der Sünde ist „konzeptionell kaum mit dem stoischen Modell vereinbar" 32 . Ist das bei Augustinus anders, dem zweiten Kirchenvater, den wir nach seiner Auffassung über die Rolle der Vernunft im sittlichen Urteil befragen wollen?

2. Augustinus hat sich genau so wenig wie Origenes unmittelbar und ausdrücklich mit der Frage nach der Rolle der Vernunft im sittlichen Urteil befasst. 33 Aber er kommt ebenso wie der Alexandriner im Zusammen 30 Th. Spitzley (1992, Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, Berlin) geht in dem der Antike gewidmeten Teil seines Buches auf die christlichen Autoren leider nicht ein. 31 Th. B ö h m , 1999, Die Entscheidungsfreiheit in den Werken des Origenes und des Gregor von Nyssa. Zur Bedeutung von άκρασία in der Beurteilung der Entscheidungsfreiheit, in: Origeniana septima. Origenes in den Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts, in: BEThL 137, S . 4 5 9 - 4 6 8 , hier 463: „Nach Auffassung der Stoiker sind [...] alle όρμαί Zustimmungen, d. h. der Impuls zur Handlung wird nicht als Trieb aufgefaßt, der selbständig neben der Vernunft bestehen würde, sondern die Vernunft selbst in der Weise ihres Verhaltens. Ein Handeln wider besseres Wissen [...] ist somit ausgeschlossen". Quellenbelege und Literatur zum Unterschied zwischen Handeln wider besseres Wissen bzw. Handeln wider den rechten Gebrauch von Vernunft vgl. ebd. S. 463. Anm. 29. 32 Böhm, 1999, S. 463. 33 Zum Einstieg in Augustins Ethik vgl. G.W. Schlabach u.a., 1999, Ethics, in: A . D . Fitzgerald (Hrsg.), Augustine through the Ages. An encyclopedia, Grand Rapids/ Cambridge, S. 3 2 0 - 3 3 0 . Einen instruktiven Überblick über derzeit diskutierte Fragestellungen zur Ethik Augustins bietet der Sammelband W. S. Babcock (Hrsg.), 1991, The Ethics of St. Augustine, Atlanta. F. S. Carney (1991, The Structure of Augustine's Ethic, ebd. S. 11-37) analysiert Augustins Ethik im Lichte moderner Ethikentwürfe und stellt dabei einen fortschreitenden Anteil der Deontologie fest. Immer

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hang anderer Fragestellungen auf das genannte Thema zu sprechen. Unter den zahlreichen einschlägigen Stellen bietet sich als besonders aufschlussreich für unsere Analyse das einleitende Kapitel seines Liber de gratia novi testamentiM aus dem Jahre 412 an. Formal stellt die Schrift eine Antwort auf eine Reihe exegetischer Fragen dar, die ein nicht sicher zu identifizierender Honoratus an Augustinus gestellt hatte. Eigentliches Thema ist jedoch, wohl durch den Fall Roms 410 ausgelöst, die Frage, welchen .Gewinn' das Neue Testament bzw. das Christentum dem Gläubigen eigentlich bringt. Die Antwort Augustins lautet: jedenfalls keine irdischen Güter, sondern Gemeinschaft mit Gott durch Teilhabe an Jesus Christus. Zu Beginn des Traktates, den man zurecht als einen Mikrokosmus von Augustins theologischem Denken bezeichnet hat35, bietet Augustinus eine prinzipielle Darlegung über christliches Ethos und greift damit ein Thema auf, das ihn auch schon in seinen Dialogen von Cassiciacum, in De doctrina christiana I und II und in De natura boni beschäftigt hatte. Augustinus beginnt seine Darlegungen über das christliche Ethos mit der Unterscheidung eines zweifachen Lebens der Christen. Da ist auf der einen Seite das irdische Leben mit den für es charakteristischen Erfahrungen, Freuden, Leiden und Lüsten. Es bietet zeitliches Glück. Mit diesem irdischen Leben zu beginnen, ist dem Menschen durch seine Geburt auferlegt; sich darauf zu beschränken, ist Sache einer Willensentscheidung.36 Bis zum Erwachen der Vernunft suchen die Menschen jedenfalls die negativen Erfahrungen dieses irdischen Lebens nach Möglichkeit zu meiden, die positiven dagegen sich zu eigen zu machen. Zu mehr sind Kinder nicht fähig.37 noch hilfreich ist J. Mausbach, 1909, Die Ethik des heiligen Augustinus, Bd. 1: Die sittliche Ordnung und ihre Grundlagen, Freiburg. Zu Augustins Ethik im Rahmen der antiken Tradition vgl. A. Dihle, 1966, Ethik, in: RAC 6, S. 6 4 6 - 7 9 6 , hier 7 8 3 - 7 9 1 ; ders., 1985, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen, S. 138-163. 34 Überliefert als Brief 140 ( C S E L 44, 155-234). 35 G. Bonner, 1991, The Significance A u g ( L ) 41, S. 5 3 1 - 5 5 9 , hier 531.

of Augustine's

,De gratia novi testamenti',

36 Zur Willensfreiheit bei Augustinus vgl. u.a. H . Barth, 1935, Die scheidung im Denken Augustins, Basel; J. Wetzel, 1992, Augustine Virtue, Cambridge, S. 2 1 9 - 2 3 5 ; N.W. Den Bok, 1994, Freedom of matic and Biographical Sounding of Augustine's Thougths on Aug(L)U, S. 2 3 7 - 2 7 0 .

Freiheit and the the mil. Human

in:

der EntLimits of A SysteWill, in:

37 Ep. 140,2,3; C S E L 4 4 , 1 5 6 , 2 4 : est quaedam uita hominis carnalibus sensibus implicata, gaudiis carnalibus dedita, carnalem fugitans offensionem uoluptatemque consectans. huius uitae felicitas temporalis est, ab hac uita incipere necessitatis est, in ea

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Außer diesem irdischen Leben aber gibt es noch ein „anderes Leben". Der Mensch kann sich nach Erwachen seiner Vernunft kraft seines freien Willens, mit der Hilfe Gottes, für dieses „andere Leben" entscheiden. Es gewährt geistige Freuden und inneres und ewiges Glück.38 Voraussetzung für eine solche freie Entscheidung ist, so Augustinus weiter, die „vernünftige Seele" im Menschen. Sie sieht sich angesichts des „anderen Lebens" näherhin vor eine Option oder Alternative gestellt: „Doch es ist von Wichtigkeit, wohin sie (d. i. die vernünftige Seele) den Gebrauch eben dieser Vernunft kraft ihres Willens 39 eher richtet, ob zu den Gütern der äußeren und niederen oder zu den Gütern der inneren und höheren Natur, das heißt, ob dazu, dass sie den Leib und die Zeit genießt, oder dazu, dass sie die Gottheit und die Ewigkeit genießt."40

Wir sehen hier zunächst ab vom Gegenstand der Wahl der „vernünftigen Seele", weil sich Augustinus dazu weiter unten noch deutlicher auslässt, und halten den für uns entscheidenden Punkt fest, dass bei der Beschreibung des sittlichen Urteils nicht mehr nur von der Vernunft die Rede ist, sondern dass als neuer Faktor ganz ausdrücklich die voluntas, der Wille, eingeführt wird. Von ihm heißt es, dass er den „Gebrauch der Vernunft" in diese oder jene Richtung, nach oben und innen oder nach außen und unten lenkt. Wie ist diese Aussage zu verstehen? So, dass schlechthin vorgängig zur Erkenntnis der Wille entscheidet, in welcher Richtung das sittlich Gute liegt und der usus rationis erst im Nachhinein, nach der blinden Option des Willens, einsetzt? Das wäre krasser Irrationalismus, der in flagrantem Widerspruch stünde zu sonstigen Aussagen Augustins im Bereich der Ethik. persistere voluntatis, in hac quippe ex utero matris infans funditur, huius o f f e n s i o nes, quantum potest, refugit, huius appetit uoluptates, nihil amplius ualet. 38 Ebd. 157,4: sed posteaquam uenerit in aetatem, qua in eo rationis usus euigilet, p o terit adiuta diuinitus uoluntate eligere alteram uitam, cuius in mente gaudium est, cuius interna atque aeterna felicitas. 39 Edierter Text: rationis usum [...] voluntate auf der Basis der Mehrzahl der HS; f r ü here Editoren: rationis usu [...] voluntatem. Für die Version des Editors spricht auch das 3 Zeilen vorausgehende voluntate. In den beiden Textformen spiegelt sich eine diametral verschiedene K o n z e p t i o n des Verhältnisses v o n voluntas zu ratio. Ist es der Wille, der den Gebrauch der V e r n u n f t bestimmt oder die Vernunft, die den W i l len lenkt? 40 Ebd. 157,7: inest quippe homini anima rationalis, sed interest, eiusdem rationis usum q u o n a m potius uoluntate conuertat, u t r u m ad bona exterioris et inferioris an ad bona interioris superiorisque naturae, id est, u t r u m ut f r u a t u r c o r p o r e et tempore, an ut f r u a t u r diuinitate atque aeternitate.

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Der Sinn des Passus ist vielmehr: Es ist nicht mehr die Vernunft - wie noch bei Origenes - , die die Zustimmung zu dem als sittlich richtig Erkannten gibt, sondern eine andere Seelenkraft, eben der Wille, die voluntas41. Die Bedeutung des Willens im sittlichen Urteil hatte Augustinus schon vorher dadurch angedeutet, dass er das Verharren im bloß irdischen Leben als Sache einer Willensentscheidung bezeichnet hatte.42 Im folgenden wendet sich Augustinus dann dem Gegenstand oder den Gegenständen der sittlichen Entscheidung des Menschen zu und damit auch der Klärung der Frage, wodurch denn die Entscheidung zu einer sittlich richtigen, zu einer guten bzw. zu einer schlechten Entscheidung wird. Zunächst erfolgt jedoch noch eine Präzision über den „Ort", von dem aus der Mensch entscheidet, auf die wir weiter unten zurückzukommen haben werden: „Denn sie (d. i. die vernünftige Seele) ist gleichsam in eine Mitte hineingestellt, indem sie unter sich die körperliche Schöpfung, über sich den Schöpfer ihrer selbst und des Körpers hat." 43 Sich dem Gegenstand der sittlichen Entscheidung zuwenden, heißt im vorliegenden Zusammenhang vor allem fragen: Was wird aus den Gütern des irdischen Lebens, nachdem die erwachende Vernunft das „andere Leben" entdeckt hat? Hören sie auf, Güter zu sein? Darf der Christ jetzt überhaupt noch auf irdisches Glück aus sein? Und wenn ja, unter welcher Bedingung? Augustins Antwort lautet: „Es kann also die vernünftige Seele auch das zeitliche und körperliche Glück gut gebrauchen, wenn sie sich dem Geschöpf nicht hingibt unter Vernachlässigung des Schöpfers, sondern vielmehr dieses Glück selber dem Schöpfer dienen lässt, der es ja auch in der überströmenden Freigebigkeit seiner Güte gegeben hat. Denn wie alles, was G o t t geschaffen hat, gut ist, v o m vernünftigen Geschöpf selbst bis z u m niedersten Körper, so handelt auch in diesen (Dingen) die vernünftige Seele gut, wenn sie die 41 Zur Wahrnehmung des eigenen Willens und zum Zusammenhang dieser Wahrnehmung mit der Entfaltung der Trinitätslehre vgl. Conf. XIII 11,12: Dico autem haec tria: esse, nosse, velle. sum enim et scio et volo: sum sciens et volens et scio esse me et velle et volo esse et scire. In his igitur tribus quam sit inseparabilis vita et una vita et una mens et una essentia, quam denique inseparabilis distinctio et tarnen distinctio, videat qui potest. - Nähere Interpretation bei O. Du Roy, 1966, L'intelligence de la foi en la trinite selon saint Augustin. Genese de sa theologie trinitaire jusqu'en 391, Paris, S. 432-435. 42 Vgl. Anm.38. 43 Ebd. 157,12: in quadam quippe medietate posita est infra se habens corporalem creaturam supra se autem sui et corporis creatorem.

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Hermann-Josef Sieben O r d n u n g einhält und durch Unterscheiden, Wählen und Abschätzen das Körperliche d e m Geistigen, das N i e d e r e d e m Höheren, das Zeitliche d e m Ewigen unterordnet." 4 4

U m mit dem am Schluss des Passus genannten „Unterscheiden, Wählen und A b s c h ä t z e n " zu beginnen: Im Lichte des Vorausgehenden, nämlich der Einführung des Willens in das sittliche Urteil, dürfte hier gemeint sein, dass sich beide Seelenkräfte, ratio und voluntas, an der Trias des Unterscheidens, Wählens und Abschätzen beteiligen. D i e Vernunft unterscheidet, wählt und schätzt ab, was dann jedoch im Lichte dieser Erkenntnis, dieses Unterscheidens, Wählens und A b schätzens konkret vorgezogen wird, was den .Zuschlag' erhält, ist dann Sache des Willens. Wodurch wird nun die Entscheidung des Willens zu einer sittlich richtigen? Augustinus antwortet: dadurch, dass sie sich an die O r d nung hält, dadurch dass sie sich an der von der Vernunft erkannten Seinsordnung orientiert und die im Sein verankerte Hierarchie der G ü ter berücksichtigt. 4 5 D e r G ü t e r k o s m o s , auf den sich das „Unterscheiden, Wählen und A b s c h ä t z e n " von Vernunft und Willen bezieht, ist dabei im striktesten Sinn hierarchisch, will sagen: es gibt da nicht nur höhere und niedere Güter, materielle und geistige, sondern ein höchstes G u t an der Spitze, den Schöpfer des gesamten K o s m o s von Gütern, Gott. N u r diejenige Entscheidung ist sittlich richtig, in der der Wille sich nicht von diesem höchsten G u t ab- und einem niederen G u t zuwendet, in der sich die vernünftige Seele „nicht dem Geschöpf unter Vernachlässigung des Schöpfers" hingibt. Unter der Voraussetzung, dass solche H i n w e n d u n g z u m G e s c h ö p f nicht unter A b w e n d u n g von G o t t stattfindet, entscheidet der Wille sittlich richtig, auch wenn er sich für niedere, zeitliche, materielle Güter entscheidet, deren jeweiligen Wert die Vernunft im Rahmen des G e s a m t k o s m o s „unterscheidend, wählend und abschätzend" erkennt. 44 Ebd. 157,14: potest igitur anima rationalis etiam temporali et corporali felicitate bene uti, si non se dederit creaturae Creatore neglecto, sed eam potius felicitatem fecerit seruire creatori, qui et ipsam suae bonitatis abundantissima largitate donauit. sicut enim bona sunt omnia, quae creauit deus, ab ipsa rationali creatura usque ad infimum corpus, ita bene in his agit anima rationalis, si ordinem seruet et distinguendo, eligendo, pendendo subdat minora maioribus, corporalia spiritalibus, inferiora superioribus, temporalia sempiternis [...]. 45 Gegenstand des „Wählens, Unterscheidens, Abschätzens" sind neben den einzelnen Gütern des Seinskosmos die verschiedenen Tugenden (lumina virtutum) und Vernunftwahrheiten (regulae), wie sie z.B. lib. arb. II 10,28 aufgezählt werden.

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A u g u s t i n u s beschließt seine D a r l e g u n g ü b e r das christliche E t h o s m i t d e m H i n w e i s auf die F o l g e n einer sittlich falschen E n t s c h e i d u n g für d e n M e n s c h e n selber: I n d e m er sich d e n niederen D i n g e n z u w e n det, w i r d er selber niedriger u n d geringer. I m ü b r i g e n ist G o t t in der L a g e , selber d e n M i s s b r a u c h seiner g u t e n S c h ö p f u n g gut z u g e b r a u chen und z u m Guten zu wenden.46 F a s s e n w i r das E r g e b n i s u n s e r e r A n a l y s e z u s a m m e n : E r s t e n s , sittliche E r k e n n t n i s ist S a c h e der V e r n u n f t ( r a t i o ) . 4 7 E r s t w e n n die V e r nunft i m M e n s c h e n e r w a c h t ist, ist die E n t s c h e i d u n g für das „ a n d e r e L e b e n " , für ein sittliches L e b e n , ü b e r h a u p t m ö g l i c h . In d i e s e m Sinne h a t die sittliche E n t s c h e i d u n g eindeutig k o g n i t i v e n C h a r a k t e r . 4 8 Z w e i -

46 Ebd. 157,22: (Fortsetzung des vorausgegangenen Zitates): ne superiorum neglectu et appetitu inferiorum, quoniam hinc fit ipsa deterior, et se et corpus suum mittat in peius, sed potius ordinata caritate se et corpus suum conuertat in melius, cum enim sint omnes substantiae naturaliter bonae, ordo in eis laudatus honoratur, peruersitas culpata damnatur. nec efficit anima peruerse utens creaturis, ut ordinationem effugiat creatoris, quoniam, si ilia male utitur bonis, ille bene utitur etiam malis ac per hoc illa peruerse bonis utendo fit mala, ille ordinate etiam malis utendo permanet bonus, qui enim iniuste se ordinat in peccatis, iuste ordinatur in poenis. 47 Zum Begriff der ratio bei Augustinus vgl. G. O'Daly, 1987, Augustine's Philosophy of Mind, London, S. 187f. - Fragt man, ob Augustinus schon zwischen spekulativer und praktischer Vernunft unterscheidet, etwa in der Art des Aristoteles, der dies mithilfe des Begriffs der Phronesis versucht, so ist mit nein zu antworten. Mit B. Grünewald (2001, Menschenrechte, praktische Vernunft und allgemeiner Wille, in: G. Paul, Th. Göller, H. Lenk, G. Rappe (Hrsg.), Humanität, Interkulturalität und Menschenrecht, Frankfurt a. M., S. 277-318) ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Bischof von Hippo mit der,Erfindung' des philosophischen Willensbegriffs die entscheidende Voraussetzung für diese für die Ethik grundlegende Unterscheidung geliefert hat: „Der Willensbegriff des Augustinus mit seiner durch allgemeine Entscheidungskriterien vermittelten Reflexivität stellt eine erste Voraussetzung für das Verständnis einer autonomen praktischen Vernunft bereit" (S. 290), vgl. ebd. S. 279-290 den Aufweis, „wie sich der Begriff der im moralischen Sinne praktischen Vernunft aus einer moral- und rechtsphilosophischen Bearbeitung des Willensbegriffs entwickelt". 48 Genau dies lehrt Augustinus auch in seinem übrigen Werk. Die an die Adresse der Manichäer gerichtete Aufforderung Ratione igitur quaeramus quemadmodum sit homini uiuendum (mor: I 3,4) ist zwar kontextbedingt, entspricht jedoch auch Augustins grundsätzlicher Auffassung vom kognitiven Charakter sittlicher Erkenntnis. Im gleichen Werk spricht Augustinus von einer vana continentia, nisi ad aliquem rectissimum finem certa ratione referatur (mor. II 13,28). In einem anderen Zusammenhang fordert er die Manichäer auf: ratione igitur mihi persuadete quomodo uescentem carnes coinquinent, si sine ulla offensione, sine ulla infirma opinione, sine ulla lihidine sumuntur? (mor. II 14,35). Grundsätzlich gilt: nam omne factum, si recte factum non est,peccatum est; nec recte factum esse ullo modo potest, quodnon a recta ratione proficiscitur. porro recta ratio est ipsa uirtus (util. cred. 12,27), bzw.: nam ne-

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tens, die eigentlich sittliche E n t s c h e i d u n g v o l l z i e h t j e d o c h n i c h t die V e r n u n f t , s o n d e r n d e r Wille des M e n s c h e n . E r lenkt den „ G e b r a u c h d e r V e r n u n f t " in die eine o d e r a n d e r e R i c h t u n g , z u d e n h ö h e r e n o d e r n i e d e r e n G ü t e r n , z u m r e c h t e n G e b r a u c h der niedrigeren G ü t e r . M i t der E i n f ü h r u n g des Willens in das sittliche U r t e i l legt A u g u s t i n u s eine T h e o r i e vor, die d e m P h ä n o m e n u n d der E r f a h r u n g eines . H a n d e l n s w i d e r besseres W i s s e n ' w i r k l i c h g e r e c h t w i r d . 4 9 D e r v o n uns a n a l y sierte P a s s u s bestätigt massiv die v o n der F o r s c h u n g s c h o n seit g e r a u m e r Z e i t v e r t r e t e n e T h e s e , dass A u g u s t i n u s die sittliche E n t s c h e i d u n g n i c h t m e h r einseitig der V e r n u n f t , s o n d e r n d e m Willen z u g e o r d n e t u n d d a m i t die E t h i k auf eine völlig n e u e G r u n d l a g e gestellt hat. 5 0 G e n a u diese (gegebenenfalls falsche) E n t s c h e i d u n g des Willens m a c h t ü b rigens das W e s e n der S ü n d e aus. 5 1

que prudentia neque fortitudine neque temperantia male quis utitur; etiam in his enim omnibus, sicut in ipsa quam tu commemorasti iustitia, recta ratio uiget, sine qua uirtutes esse non possunt (lib. arb. II 18,50). In der Nähe des oben analysierten Textes steht civ. 22,24: ipse (ά. h. Gott) itaque animae humanae mentem dedit, ubi ratio et intellegentia in infante sopita est quodam modo, quasi nulla sit, excitanda scilicet atque exserenda aetatis accessu, qua sit scientiae capax atque doctrinae et habilis perceptioni ueritatis et amoris boni; qua capacitate bauriat sapientiam uirtutibusque sit praedita, quibus prudenter, fortiter, temperanter et iuste aduersus errores et cetera ingenerata uitia dimicet eaque nullius rei desiderio nisi boni illius summi atque inmutabilis uincat. 49 Den umgekehrten Weg geht im Urteil Spitzleys Sokrates: „Doch anstatt dieses alltägliche Phänomen zu akzeptieren und anschließend eine damit vereinbare Theorie von Wissen und Handeln zu konstruieren, wählt Sokrates genau den umgekehrten Weg: Er orientiert sich an seinen festen Ansichten über den Einfluß von Wissen und versucht dann, Handeln wider besseres Wissen so zu beschreiben, dass es mit diesen Ansichten vereinbar ist" (S. 60). 50 Vgl. Dihle, 1966, S. 786: „Die Entscheidungsfreiheit des Menschen, für Augustinus ebenso wie für alle philosophische Ethik eine fundamentale Voraussetzung für jede bewertbare Sittlichkeit, wird nun aus ihrer einseitigen Bindung an den Intellekt gelöst und dem Willen zugeordnet [...], womit die uralte Gewissenserfahrung des Fehlens wider besseres Wissen eine neue psychologische Begründung erhält. Gegen die herkömmliche intellektualistische Interpretation des Begriffes liberum arbitrium hat sich Augustinus selbst durch den nicht selten von ihm hinzugefügten Zusatz voluntatis zu schützen versucht". - Wichtige Ergänzungen zu Dihles These, dass erst Augustinus über einen vollständigen Willensbegriff verfügt, bietet Chr. Horn, 1996, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, in: ZPhF 50, S. 113-132. Vgl. auch Grünewald, 2001, S. 284-290. 51 In der Sünde wendet sich der Wille von Gott ab und dem seinsmäßig Niedrigeren zu: aperi ergo iam cordis oculos et intuere, sipotes, bonum aliquod esse qualemlibet substantiam, et ideo malum esse defectum substantiae, quia bonum est esse substantiam; nec tarnen omnem defectum esse culpabilem, sed solum uoluntarium, quo anima ra-

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Drittens, Gegenstand der erkennenden Vernunft 52 und des entscheidenden Willens ist die Seinsordnung, ist die Gott und Welt und Mensch umfassende Hierarchie der Güter. Das von der Vernunft vorgenommene „Unterscheiden, Wählen und Abschätzen" bezieht sich auf die objektiven Gegebenheiten des Kosmos der verschiedenen G ü ter. Sittlich richtig wird die Entscheidung dadurch, dass die von der Vernunft erkannte Ordnung der Dinge vom Willen sanktioniert, gutgeheißen, nachvollzogen wird. Dazu gehört in allererster Linie, dass der Wille bei seiner Wahl dem Schöpfer nicht irgendein Geschöpf vorzieht, weil er sich damit nicht an der objektiven Seinsordnung orientieren würde. Zurecht stellt Joseph Mausbach 53 in diesem Zusammenhang fest, dass die Abstufung der Werte nur insofern die Grundlage der sittlichen Ordnung sein kann, „[...] als sie über das Endliche bis zu G o t t hinauf verfolgt wird. D i e Unterschiede der G e s c h ö p f e sind (nämlich) so relativ und zahllos, dass sie die Einheit und Absolutheit der Verpflichtung auf das Sittliche niemals erklären können. N i c h t das H ö h e r e und Bessere an sich, sondern das H ö c h s t e und Beste, die .Gottheit und Ewigkeit', gibt der sittlichen O r d n u n g ihre unvergleichliche Weihe." 5 4 tionalis ad ea, quae infra illam sunt condita, conditore suo deserto declinat adfectum; hoc est enim, quod peccatum uocatur (c. See. 15). 52 Augustinus bezeichnet von seinem Frühwerk an das im sittlichen Urteil Tätigwerden der Vernunft gern mit dem Verbum aestimare; vgl. mus. VI 9,23: an tibi unum atque idem uidetur delectari sensu, et aestimare ratione? Vgl. auch lib. arb. III 5,17 in Anm. 54. 53 Mausbach, 1909, 98. 54 Auch für diesen Aspekt des sittlichen Urteils, seine Orientierung an der Seinsordnung und Seinshierarchie, bietet Augustins Werk zahlreiche Belege. Vgl. zur „vernünftigen" Güterabwägung: quidf ille qui iuste uiuit, possetne ita uiuere nisi uideret quae inferiora quibus potioribus subdat et quae paria sibimet copulet et quae propria suis quibusque distribuat? {lib. arb. II 10,29) bzw.: ratio aestimat luce ueritatis, ut recto iudicio subdat minora maioribus; usus autem consuetudine commoditatis plerumque inclinatur, ut eapluris aestimet quae ueritas minora esse conuincit. cum enim corpora caelestia corporibus terrestribus magna differentia ratio praeponat, quis tarnen carnalium hominum non mallet uelplura deesse in caelo sidera quam unam arbusculam in agro suo aut uaccam in armento (lib. arb. III 5), bzw.: neque enim diuinorum librorum tantummodo auetoritas esse deum praedicat, sed omnis quae nos circumstat, ad quam nos etiam pertinemus, uniuersa ipsa rerum natura proclamat habere se praestantissimum conditorem qui nobis mentem rationemque naturalem dedit qua uiuentia non uiuentibus, sensu praedita non sentientibus, intellegentia non intellegentibus, immortalia mortalibus, impotentibus potentia, iniustis iusta, speciosa deformibus, bona malis, incorruptibilia corruptibilibus, immutabilia mutabilibus, inuisibilia uisibilibus, incorporalia corporalibus, beata miserispraeferenda uideamus (trin. 15,4). Die Güter-Hierarchie ist auch ein beliebtes Predigtthema, vgl. zusammen mit dem Hinweis auf die

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Viertens, zum Erkennen und Wollen des „anderen Lebens" bedarf die vernünftige Seele der göttlichen Hilfe (adiuta divinitus). Unser Text stammt aus einer Zeit, in der Augustinus schon im vollen Besitz seiner Gnadenlehre ist. Er weiß darum, dass durch die Sünde die Erkenntnis des Guten getrübt und vor allem der Wille zerrissen und kraftlos ist und nur durch Gottes Gnade aus seiner Zerrissenheit herausgeführt wird. 55 Der Mensch bedarf göttlicher Hilfe und Gnade sowohl dazu, das Richtige zu erkennen, als auch dazu, es effektiv zu wollen. Origenes analysiert die menschliche Willensfreiheit unter Zuhilfenahme philosophischer, vor allem stoischer Begrifflichkeit. Unter verschiedenen Rücksichten lässt sich der Einfluss philosophischer Anschauungen auch auf Augustins Auffassung über das sittliche Urteil des Menschen feststellen. Da ist zunächst der deutlich kognitive, um nicht zu sagen rationalistische Charakter von Augustins Ethik. 56 Augustin teilt ihn praktisch mit der gesamten antiken philosophischen ethischen Tradition. 57 Aber auch in der Einführung des Willens in das sittliche Urteil scheint Augustinus unter dem Einfluss einer philosophischen Schule zu stehen. Auf welchem genaueren Weg diese Anschauungen zu Augustinus gelangten, ist freilich in der Forschung umstritten. 58 So kann man ζ. B. fragen, ob er schon zu seiner Mailänder Zeit von dem Neumittlere Stellung des Menschen: en. Ps. 145,5: Sic enim factum est,fratres mei, accepit homo corpus tamquam infamulatum, deum autem dominum habens, servum corpus, habens supra se conditorem, infra se quodsub illo conditum est, in medio quodam loco rationalis anima constituta legem accepit, haerere superiori, regere inferiorem. Regere non potest inferiorem, nisi regatur a meliore. Trahitur ab inferiore, deseruit ergo meliorem. Non potest regere quod regebat, quia regi noluit a quo regebatur. Vgl. auch s. 21,3-4. Zur Güter-Hierarchie als solcher vgl. C. Mayer, 1996, Creatio, creator, creatura VIII.l, in: AugLex 2, 56-116, hier 100-103. 55 Vgl. hierzu Buch VIII der conf. und die Kommentierung durch Horn, 1996, S. 126129. 56 Mit sehr guten Gründen hat zuletzt Ch. Horn (1999, Augustinus über Tugend, Moralität und das höchste Gut, in: Th. Fuhrer/M. Erler (Hrsg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, Stuttgart, S. 173-190) den Versuch zurückgewiesen, Augustins Tugendbegriff von der rationalistisch-intellektualistischen Tugendkonzeption der antiken paganen Philosophie abzusetzen. Vgl. ebd 185: „Natürlich klingt im augustinischen Liebesbegriff auch die neutestamentliche Betonung von Gottes- und Nächstenliebe an. Der begrifflichen Bestimmung nach ist die Konzeption aber rationalistisch [...] Sie (d. h. die Tugenden) ergeben sich aus einem Fachwissen, welches kognitiv vermittelbar, wenn auch ohne göttliche Hilfe nicht auf die Realität anwendbar ist." - Die gleiche Tendenz hat auch Carney, 1991, S.28-30. 57 Vgl. Dihle, 1966, S. 649: „Rechtes Handeln hängt ausschließlich oder doch primär (hierin differieren die Schulen) von der rechten Einsicht ab." 58 Vgl. Dihle, 1966, S. 787.

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platoniker Manlius Theodorus, der immerhin Schriften moralischen Inhalts verfasste, beeinflusst war.59 Oder war hier der christliche Neupiatoniker Marius Victorinus der Vermittler?60 Während die einen Forscher die Neuartigkeit des augustinischen Willensbegriffs stark betonen, haben andere die Tendenz, ebensolche Betonung des Willens schon bei Porphyrius zu sehen, den Augustinus freilich gut kannte. Aber zu fragen ist, ob die Entscheidungsfreiheit, die sich in einer richtigen oder verkehrten Willensrichtung kundtut, bei Porphyrius wirklich so unabhängig von der Erkenntnis ist, wie das bei Augustinus der Fall ist. Was speziell die in unserem Text behauptete Mittelstellung des Menschen zwischen höheren und niederen Gütern (anima in quadam medietate posita) angeht, so ist sie nach W. Theiler61 „im groben" neuplatonisch. Die von Plotin62 und anderen Neuplatonikern affirmierte Mittelstellung der Weltseele wird von Augustinus nur im Frühwerk diskutiert63 und später fallen gelassen. Für den späteren Augustinus ist es die Menschenseele, die diese mittlere Stelle zwischen den höheren und niederen Gütern einnimmt. Eine ethisch richtige Entscheidung hat das Wissen um diese Mittelstellung des Menschen und ihre Bejahung durch den Willen zur Voraussetzung.

3. Vergleichen wir abschließend kurz Augustinus mit Origenes64 in der uns hier interessierenden Frage! Was haben die beiden Vertreter der patristischen Tradition gemeinsam, wie unterscheiden sie sich? Gemeinsam ist zunächst beiden Autoren, dass sie die Erkenntnis des sittlich Richtigen eindeutig der ratio, der Vernunft zuweisen. Das sittliche Ur59 Zu dessen Einfluss auf Augustinus vgl. P. Courcelle, 1948, Les lettres grecques en Occident. De Macrobe a Cassiodore, Paris, S. 122-128. 60 Vgl. vor allem E. Benz, 1932, Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart. - Skeptisch zur Abhängigkeit Augustins von Victorinus äußert sich P. Hadot, 1962, L'image de la trinite dans l'äme chez Victorinus et chez saint Augustin, in: TU 81, S. 4 0 9 - 4 4 2 (deutsch in: 1976, Römische Philosophie, W d F 193, Darmstadt, S. 298-340), bes. 432 u. 440. 61 Vgl. W. Theiler, 1970, Die Seele als Mitte bei Augustin und Origenes, in: Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin, S. 5 5 4 - 5 6 3 , hier 554. 62 Vgl. En. IV 3,6,21. 63 imm. an. 15,24; vgl. retr. I 5,3. 64 Allgemein zum Verhältnis Augustins zu Origenes vgl. J.W. Trigg, 1999, Origen, in: Augustine through the Ages. An Encyclopedia, Grand Rapids/Cambridge, S.603-605.

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teil hat einen eindeutig kognitiven Charakter. Was sittlich richtig ist, erkennt die Vernunft. In diesem Sinne spricht Origenes vom „Urteilen" der Vernunft. Bis in Formulierungen hinein - „Unterscheiden, Wählen und Abschätzen" - ist vor allem bei Augustinus eine Nähe zum ethischen Konzept einer „abwägenden Vernunft" festzustellen. Gemeinsam ist beiden Autoren auch, dass die Richtigkeit des sittlichen Urteils von der Ausrichtung, von der Orientierung auf ein Ziel abhängt. Bei Origenes ist es die je höhere Geistigkeit des Menschen, der Aufstieg der Seele zur rein pneumatischen Existenzweise, bei Augustinus dagegen der Genuss des höchsten Gutes. Gemeinsam ist ihnen drittens, dass sie den Weg zu diesem Ziel u. a. in der Beherrschung der (niederen) Affekte durch die Vernunft sehen. Für beide, Origenes und Augustinus, ist der Mensch damit in einen Kampf zwischen niederen Leidenschaften und höheren Gütern der Vernunft gestellt. Die Vernunft ist in diesem Sinn zur Herrschaft über die Affekte berufen. 65 Neben diesen Gemeinsamkeiten beider Autoren, die sicher noch um weitere Züge vermehrt werden könnten, stehen deutliche Unterschiede. Da ist an erster Stelle die von Augustinus ins sittliche Urteil hineingenommene Rolle des Willens zu nennen. Wenn bei Origenes noch von einer gewissen Inkompatibilität seines philosophischen Rüstzeugs mit der biblischen Botschaft von der Möglichkeit des Handelns wider besseres Wissen die Rede sein musste, eben weil ein echter Willensbegriff noch fehlte 66 , so wird genau dieser Willensbegriff von Augustinus in die Analyse des sittlichen Urteils eingeführt. Es ist der Wille, der den „Gebrauch der Vernunft" bestimmt. Der Wille wählt, der Wille entscheidet, was aus dem wird, was die Vernunft zu sehen bekommt. Mit den Worten von A. Dihle: „ N a c h den platonisch-peripatetischen und stoischen Entwürfen hat das volitionale Element seinen Platz v o r und nach dem Erkenntnisakt: der Mensch wendet sein Erkenntnisvermögen auf ein Objekt an, bevor die ei65 Vgl. Augustinus, du. 14, 9: quocirca ilia, quae άπάθεια graece dicitur (quae si latine posset inpassibilitas diceretur), si ita intellegenda est (in animo quippe, non in corpore accipitur), ut sine his affectionibus uiuatur, quae contra rationem accidunt mentemque perturbant, bona plane et maxime optanda est, sed nec ipsa huius est uitae. 66 Vgl. Dihle, 1966, S. 125: „Der Wille des Menschen kommt aus seinem Verstand, ohne sich von diesem zu trennen (Von den Prinzipien 12,6) [...] Die freie Entscheidung des Menschen, die sein Intellekt zu treffen hat, kann durch Irrtum, Sinnlichkeit, Emotion oder böse Dämonen beeinflußt werden [...]. Es gibt keinen Willen als solchen, auf den sich die menschliche Freiheit bezieht. Vollkommene Freiheit ist mit ungehinderter intellektueller Tätigkeit identisch, zu der letztlich alle Geistwesen bestimmt sind."

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g e n t l i c h e E r k e n n t n i s s i c h v o l l z i e h t , u n d ein I m p u l s z u m H a n d e l n k a n n a u s der Erkenntnis des O b j e k t s u n d seiner B e d e u t u n g i m moralischen L e b e n e n t s p r i n g e n . A u s d e r S i c h t A u g u s t i n s g e h ö r t d e r Wille in d e n E r k e n n t n i s a k t h i n e i n u n d ist k e i n e s w e g s a u f v o r b e r e i t e n d e o d e r r e s u l t i e r e n d e E r s c h e i nungen beschränkt."67 Ein nicht unwichtiger Unterschied zwischen Origenes u n d

Augusti-

nus besteht, zweitens, darin, dass der G e g e n s t a n d , auf d e n sich

die

„ a b w ä g e n d e V e r n u n f t " b e z i e h t , ein a n d e r e r ist. W a r e n es bei O r i g e n e s , z u m i n d e s t in d e m a n g e f ü h r t e n Beispiel, auf d e r einen Seite materielle G ü t e r w i e s e x u e l l e L u s t , auf d e r a n d e r e n g e i s t i g e , s o ist es b e i A u g u s t i n u s d e r g e s a m t e K o s m o s d e r S e i e n d e n , i n n e r h a l b d e s s e n z u w ä h l e n ist. Z u w ä h l e n ist nicht m e h r w i e bei O r i g e n e s z w i s c h e n M a t e r i e l l e m u n d G e i s t i g e m , s o n d e r n z w i s c h e n je H ö h e r e n , seinsmäßig

Wertvollerem

u n d w e n i g e r W e r t v o l l e m . A n di e Stelle d e s L e i b - S e e l e - D u a l i s m u s 6 8 ist ein u m f a s s e n d e r , hierarchisch a u f g e b a u t e r G ü t e r k o s m o s getreten, innerhalb d e s s e n die V e r n u n f t das je richtige G u t a u s z u s u c h e n hat.

67 Dihle, 1966, S. 141. 68 Vgl. auch Dihle, 1966, S. 786: „Mit der Einführung eines distinkten Willensbegriffs in die Ethik ist ferner die ganze Frage nach dem Wesen menschlichen Fehlens und Sündigens aus ihrer Beziehung zum Dualismus Körper-Seele bzw. Trieb-Logos befreit, in der sie bei den Piatonikern ebenso wie bei den Gnostikern (Manichäern) verhaftet blieb. Auch in die christlich rezipierte Affektlehre trägt Augustinus den neuen Willensbegriff hinein (civ. 14,6). Zwar erkennt auch Augustinus in der Bändigung der Triebe, in der Befreiung von der Sinnlichkeit durch Einsicht und Askese eine sittliche Aufgabe, hierin längst geläufigen Vorstellungen huldigend. Aber die eigentliche, weil soteriologisch allein bedeutsame Wurzel alles sittlichen Übels liegt für ihn nunmehr in einer Verkehrung des menschlichen Willens, also einer Seinsweise seines edelsten Wesensteils."

Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia DOMINIC J . O ' M E A R A

Zusätzlich zu einigen Kommentaren zu Aristoteles' Nikomachische Ethik (= EN) aus der Antike (Aspasios' Kommentar zu EN VIII und ein anonymer Kommentar zu EN II-V), haben Eustratios von Nikaia und Michael von Ephesos, in Konstantinopel um 1117-1120, weitere Kommentare verfasst, Eustratios einen Kommentar zu EN I und VI, Michael einen Kommentar zu EN V, IX und X. Das ganze (mit einem späteren Kommentar zu EN VII) wurde dann, etwas mehr als ein Jahrhundert später, von Robert Grosseteste ins Lateinische übersetzt und ist, als corpus ethicum, zu einem Grundbuch der Ethik im lateinischen Mittelalter geworden.1 Die Zusammenarbeit von Eustratios und Michael bei der Erklärung der aristotelischen Philosophie hat auch weitere Kommentare zu anderen Teilen des aristotelischen Werkes ergeben und wurde, sehr wahrscheinlich, durch Anna Komnene veranlasst. Zurückgezogen vom Leben des kaiserlichen Hofes, pflegte die Prinzessin ihre philosophische Ausbildung weiter und setzte sich für die Erklärung der philosophischen Erbschaft aus der Antike ein.2 Als gelehrte Mitglieder des Kreises um die Prinzessin, bemühten sich Eustratios und Michael, bestimmte Schriften des Aristoteles zu kommentieren, vermutlich weil es für diese Schriften keine befriedigende Erklärung bei den antiken Kommentatoren gab. Allerdings ist aus dem Vorwort des Kommentars von Eustratios zu EN VI, einer unbenannten Prinzessin gewidmet (wahrscheinlich Anna Komnene), zu entnehmen, dass es im Kommentar nicht nur um Gelehrsamkeit geht, sondern auch um die ethische Ausbildung der Leserschaft, ganz im Sinne der Zielsetzung der aristotelischen Ethik.3 1 S. Mercken, 1973. 2 S. Browning, 1962. 3 Ich zitiere den Kommentar von Eustratios nach der Ausgabe von Heylbut (Seitennummer und Zeile, ohne weitere Angaben).

Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia

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Zur Zeit seiner Arbeit am Kommentar zu E N I und VI, hatte sich auch Eustratios zurückgezogen, notgedrungen nach einer gescheiterten Karriere als Theologe und Bischof.4 Die Beschäftigung mit Aristoteles durfte wohl für Eustratios eine neue Verbindung mit seinen Studienjahren bedeuten, als er Philosophie bei Johannes Italos (um 1025-1082) studierte. Italos war der Schüler und, als Professor für Philosophie in Konstantinopel, der Nachfolger von Michael Psellos (1018-1078), dem die byzantinische Philosophie so viel zu verdanken hat, der so viel aus der Antike gelten ließ und sich selber so verwandt mit den neuplatonischen Philosophen der Spätantike, besonders Proklos, fühlte. 5 Diese (theologisch) gefährliche Annäherung zur heidnischen Philosophie hat schließlich zur Verurteilung seines Nachfolgers, Johannes Italos, in 1082 geführt. Eustratios konnte sich vom Los seines Lehrers fernhalten und weiter eine Karriere in der Kirche verfolgen. Nachdem seine Karriere 1117 aufgrund theologischer Streitigkeiten zu Ende ging, fand er sich wieder, bei der Lektüre der aristotelischen Ethik, in einer philosophischen Landschaft, die, wie er sie interpretierte, sehr durch die neuplatonische Philosophie geprägt war.6 Daher die Fragestellung, die in diesem Beitrag aufgeworfen werden soll: Wie versteht Eustratios den aristotelischen Begriff der praktischen Weisheit (phronesis) im Rahmen einer Weltanschauung, die der neuplatonischen Philosophie entspricht? Zuerst (1.) wird diese neuplatonisch geprägte Weltanschauung bei Eustratios kurz skizziert und dann, im zweiten Teil des Beitrags (2.), wird der Begriff der praktischen Weisheit bei Aristoteles, wie er durch Eustratios erklärt wird, dargestellt, um seine Beziehung zur obengenannten Weltanschauung zu untersuchen. Ich begrenze mich auf den Kommentar des Eustratios zu E N VI und kann nur, im begrenzten Rahmen dieses Beitrags, die Fragestellung einführen und eine mögliche Antwort provisorisch vorschlagen.

4 Zum Leben und Werk von Eustratios s. Cacouros, 2000; Lohr, 2001. 5 S. O'Meara, 1998; Duffy, 2002. 6 Allgemein zum neuplatonischen Ton des Kommentars von Eustratios zu EN, s. Mercken, 1973; Steel, 2002. Psellos hatte die EN in seiner kleinen philosophischen Encyclopädie De omnifaria doctrina (75-80) exzerpiert und auch den Kommentar von Aspasios benutzt (Philosopbica minora II, S. 17,7-15).

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1. Das Leben des Menschen spielt sich, in Eustratios' Kommentar zu EN VI, in einer Wirklichkeit ab, die für den Piatonismus kennzeichnend ist, einer Wirklichkeit, die sich auf zwei Ebenen verteilt, die des immateriellen, unveränderlichen, intelligiblen Seins, und die des körperlichen, stets sich verändernden, sichtbaren Werdens (267, 1-9). In dieser Hinsicht zitiert Eustratios zweimal (293,15-24; 385,5-7) eine wichtige Stelle bei Piaton (Timaios 27d-28 a), in der diese Zweiteilung der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Die Struktur der Wirklichkeit lässt sich weiter als Stufung differenzieren, die von Gott als Schöpfer, über den Geist (nous) und die Seele, zur körperlichen Welt hinabreicht. Der Mensch, als Zusammensetzung von Seele und Körper, verbindet die Welt des körperlichen Werdens mit dem transzendenten immateriellen Sein. Genauer gesagt: die dreiteilige Seele des Menschen (Vernunft, Mut, Begehrendes) verbindet den Menschen auf der einen Seite mit dem Geist und mit Gott und auf der anderen Seite mit der Körperlichkeit.7 Die Dreiteilung der menschlichen Seele, ebenfalls ein wichtiger Lehrsatz des Piatonismus, wird sehr oft von Eustratios bei der Deutung von EN in Anspruch genommen8 und auch weiter differenziert: die Vernunft, als rational denkender Teil der Seele, unterscheidet sich gemäß der Zweiteilung der Gegenstände ihres Denkens (ewiges Sein, körperliches Werden) in theoretische und praktische Vernunft.9 Die theoretische Vernunft ist auf das transzendente unkörperliche Sein bezogen, besitzt von Natur aus Erkenntnisprinzipien, die als Nachhalle (άπηχήματα) oder Spuren der absoluten nicht-diskursiven Erkenntnis des Geistes entstehen und die Teilnahme der Vernunft an der Erkenntnis des Geistes ermöglichen.10 Die praktische Vernunft hingegen bezieht sich auf die Dinge des körperlichen, stets sich verändernden Werdens. Sie vermittelt Ordnung, Maß und Wert, indem sie die irrationa7 259,3-260,10; 311,4-7; 389,10-17; 402,25-30. 8 Oben Fussnote 7. Die Anwendung der platonischen Dreiteilung der Seele in der aristotelischen Ethik findet sich schon im (pseudo-)aristotelischen Werk De virtutibus et vitiis, Kap. 1. 9 Eustratios versteht somit die aristotelische Unterscheidung zwischen notwendigen Sachverhalten und kontigenten Angelegenheiten, Grund der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (EN, 1139 a 3 - 8 ) , im Rahmen der (platonischen) Unterscheidung zwischen Sein und Werden. Eine vergleichbare Seelenteilung findet sich schon im spätantiken Neuplatonismus (s. ζ. B. Schibli, 2 0 0 2 , 9 1 - 9 2 ) . 10 3 0 3 , 1 9 - 2 6 ; 3 1 5 , 3 3 - 3 7 ; 3 1 7 , 1 9 - 2 8 ; s. 3 2 0 , 2 1 - 3 6 ; 3 7 7 , 3 9 - 3 7 8 , 4 ; vgl. 4 7 , 4 - 1 1 .

Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia

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len Teile der Seele, Mut und Begehrendes, beherrscht. Sie gibt ihnen Maß (das Maß zwischen Exzess und Defizienz) und ordnet dadurch den Körper, weil die irrationalen Teile der Seele zwischen Vernunft und Körper vermitteln. Dies hat Gott, durch seine Güte, bewirkt (276,22-38). Die Verbesserung, durch vernunftmäßige Ordnung, des Niedrigeren durch das Höhere, wie sie im Verhältnis zwischen Seele und Körper erfolgt, entspricht bei Eustratios einem allgemeinen Wirklichkeitsprinzip: in der Stufenfolge der Wirklichkeit wird jede Stufe verbessert und zu ihrer Vollkommenheit gebracht durch die ihr unmittelbar obergeordnete Stufe; in dieser Verbindung zum Höheren findet sie ihr eigenes Ziel (275,12-34; 317,28-318,3). Für diese Selbstvervollkomnung durch Rückbezug auf das Höhere gebraucht Eustratios das Wort έπιστροφή, 11 eine Bestätigung, dass Eustratios in der Tat die Wirklichkeit einschließlich der menschlichen Natur aufgrund der neuplatonischen Metaphysik versteht, wie sie bei Plotin oder bei Proklos zu lesen ist, eine Metaphysik, die alles aus einem göttlichen Ursprung durch eine vermittelnde Hierarchie entstehen lässt (proodos) und wieder zurück zum göttlichen Ursprung führt (epistrophe).12 Das menschlich Gute, Endziel des menschlichen Strebens, das beste Leben (eudaimonia), kann entsprechend als Angleichung an Gott bezeichnet werden, wie so oft schon im spätantiken Neuplatonismus. 13 Das menschlich Gute, als Vervollkommnung der menschlichen Natur, bedeutet, einerseits, dass die theoretische Vernunft durch Teilnahme am Geist die Vollkommenheit des Erkennens erreicht, und, andererseits, dass die praktische Vernunft die irrationalen Teile der Seele ordnet. Die Vervollkommnung der theoretischen Vernunft bildet die höchste Stufe des guten Lebens (388,19-20). Die praktische Vernunft ist aber auch an diesem Leben beteiligt (388,33-389,2): sie bringt durch die .politischen Tugenden' 14 das, was man als politisches Glück' be11 288,18-20: ή μέν ούσία κατά τήν έκ τοϋ ποιητικού αιτίου θεωρείται πρόοδον, ή δέ τελειότης κατά τήν πρός εκείνο έπιστροφήν; der Satz scheint von Psellos zu stammen: ή μέν ούσία κατά τήν άπ' αύτοϋ πρόοδον [...] ή δέ τελειότης κατά τήν πρός αύτόν έπιστροφήν, De omn. doct. 73,5-7. 12 Vgl. 40,4-16; 45,11-36. Für Proklos s. Beierwaltes, 1979. 13 275,16-18; 287,32-37; 288,22-29; vgl. 4,32-38; 6,19-25; O'Meara, 2003, S. 36-39. 14 336,34. Die .politischen Tugenden' sind die Tugenden der dreiteiligen Seele, die eine Beherrschung des Mutes und der Begierden durch die Vernunft bedeuten. Diese Tugenden, wie sie in Piatons Staat IV beschrieben werden, bilden im Neuplatonismus die erste Stufe einer Tugendhierarchie (s. O'Meara, 2003, S. 4 0 - 4 9 und Eustratios 109,19-110,4).

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zeichnen kann15, und ermöglicht den Zugang zum höchsten Glück der theoretischen Vernunft16 insofern, als sie die Leidenschaften (pathe) der irrationalen Teile der Seele meistert, Leidenschaften, die, unkontrolliert, den Zugang zur Erkenntnis verhindern können.17 Durch die Beherrschung der Leidenschaften bewirkt die praktische Vernunft den Zustand der Affektlosigkeit (apatheia) n und macht damit den Weg zur theoretischen Erkenntnis frei (vgl. 59,20-34).

2. Wie verhält sich nun die praktische Vernunft zur theoretischen Vernunft? Inwiefern ist die Tugend der praktischen Vernunft, praktische Weisheit (phronesis), mit der Tugend der theoretischen Vernunft, der theoretischen Weisheit (sophia) verbunden? Diese Frage darf wohl aufgeworfen werden, da einerseits, im spätantiken Neuplatonismus, die phronesis von der sophia inspiriert und geleitet wird,19 andererseits aber Aristoteles offensichtlich die Absicht in E N VI hegt, die phronesis von der sophia abzukoppeln, und ihr eine kognitive Selbständigkeit und Eigenart zuschreibt. Wie versteht also Eustratios die aristotelische Unterscheidung zwischen phronesis und sophia, wenn er die aristotelische Ethik in einem neuplatonisch geprägten Zusammenhang liest? Die phronesis unterscheidet sich von der sophia gemäß der Gegenstandsbereiche, auf die sie sich beziehen, also gemäß der Zweiteilung der Wirklichkeit: veränderliches körperliches Werden {phronesis), ewiges intelligibles Sein {sophia). Die phronesis entsteht und wird benötigt durch die Beziehung zwischen der rationalen Seele und dem Körper. Abgetrennt vom Körper braucht die Seele die phronesis nicht mehr, so wie auch Gott sie nicht braucht.20 Im Rahmen der Körperbezogenheit richtet sich diephronesis auf das, was uns zukommt, oder auf das, was in unserer Macht liegt.21 Was uns zukommt ist die Beherrschung der irra15 Den Ausdruck findet man in 257,14 und schon im Neuplatonismus (s. O'Meara, 2003, S. 90). Das Gute des Individuums ist nicht ohne das Gute des Haushaltes und des Staates zu denken (342,15-32; 349,14-35; s. EN, 1142 a 8-10). 16 S .EN, 1145 a 8 - 9 . 17 271,28-30; 312,11; für den Neuplatonismus, s. Schibli, 2002, S. 87. 18 334,3-7; vgl. 4,31; 7,28; 34,26-28. 19 S. Plotin, Enn. I, 3, 6, 12-14, und, für den spätantiken Neuplatonismus, O'Meara, 2003, S. 90-91. 20 279,20-25; 282,6-14; 284,1-13; 286,6-10. 21 τά έφ' ήμιν: 327,2-11; 331,10-29; 367,21-35; 378,9-10.

Praktische Weisheit bei Eustratios von Nikaia

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tionalen Teile der Seele durch die sittlichen Tugenden sowie die Handlungen (praxeis), die dadurch entstehen. Der praktische Weise (derphronimos) berät bestens über das, was für ihn im allgemeinen gut und vorteilhaft für ein gutes Leben ist (303,31-36). Weil die phronesis praxisbezogen ist und sich um einzelne Handlungen und die Einzelheiten der Welt des Werdens bemüht, 22 unterscheidet sie sich von der sophia, der Erkenntnis von universell notwendigen Wahrheiten, die von der theoretischen Vernunft erreicht wird. Wenn die phronesis sich so durch ihre Praxisbezogenheit, durch das Denken des Einzelfalls, kennzeichnet, schließt dies nicht aus, dass sie auch allgemeine Prinzipien in Anspruch nimmt (s. EN, 1141 b 14-15). Eustratios unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen einer .legislativen' (νομοθετική) und einer .richterlichen' (δικαστική) phronesis.23 Die .legislative' phronesis entwirft und verordnet allgemeine Richtlinien oder Normen (καθόλου κανόνες), während die .richterliche' phronesis die Anwendung und Anpassung 24 dieser Normen in der Praxis, im Einzelfall, zu verwirklichen hat. 25 Wenn weiter die phronesis sich auf jeder Stufe der praktischen Wissenschaft zeigt, in der Politik (bezüglich der polis), der Haushaltswissenschaft (oder Ökonomik) und in der Ethik (bezüglich des Individuums), 26 dann sind, wie es Normen der legislativen phronesis auf der Ebene der Politik gibt, z.B. die geltenden Gesetze (τους κείμενους νόμους: 337,31-32), auch Normen in der Ökonomik und in der Ethik (κανόνας ηθικούς: 334,23) zu erwarten, die in die Praxis gemäß der Umstände umzusetzen sind. Wie kommt nun die praktische Vernunft zur Erkenntnis dieser N o r men? Sind sie etwa mit den Erkenntnisprinzipien vergleichbar, die wie Spuren einer höheren Erkenntnis in der Seele zu entdecken sind?27 Sind sie in irgendeiner Weise von der sophia abhängig oder inspiriert? 28 Statt solche Vermutungen zu bestätigen, unterstreicht Eustatios im Gegenteil 22 S.EN, 1141 b 16. 23 337,10-29; 334.21-32; 338,34-339,3; vgl. 3,16-20. Diese Unterscheidung liest man nicht in aller Deutlichkeit bei Aristoteles (s. EN, 1141 b 24-28); sie stammt eher von der entsprechenden Zweiteilung der praktischen Philosophie im spätantiken N e u platonismus, ausgehend von Piaton Gorgias 464 b (s. O'Meara, 2003, S. 56-58). 24 S. EN, 1137 a31ff. 25 Solche Richtlinien (oder Normen) findet man bei Plotin (ζ. Β. Enn. V, 3, 3, 8-9; 4, 15-18) und im spätantiken Neuplatonismus (s. Schibli, 2002, S. 89). Bei Aristoteles (EN, 1113 a31-33) ist der tugendhafte Mensch die N o r m . 26 340,22-341,21; s. 336,27-337,2. 27 S. oben S. 112. 28 S. oben, Fussnote 19.

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die Unabhängigkeit der phronesis gegenüber der sophia: die phronesis entwickelt sich dank einer vielseitigen Erfahrung der Welt.29 Eine lange Erfahrung menschlicher Angelegenheiten verleiht dem praktischen Weisen ein greifendes und kritisches Auge' (δμμα... στοχαστικόν των πραγμάτων και διοριστικόν: 379,10-11). 30 Damit bekräftigt Eustratios die aristotelische Trennung der phronesis von der sophia, ihre kognitive Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Aber wie kann eine phronesis dieser Art in einem neuplatonischen Weltbild ihren Platz finden? Eustratios erwähnt die Möglichkeit eines praktischen Wissens, das sich nach einem transzendenten Muster richtet und es nachahmt. Er spricht nämlich von .politischen Männern', die, ganz wie die Philosophen-Könige bei Piaton (Staat 500 e), das Göttliche als Paradigma in Anspruch nehmen, dieses Muster in ihrer Politik nachahmen {mimesis), .damit sie, mit dem Guten verwaltend und regierend, sich selbst, alle Haushalte und Staaten retten und zum Schöpfer zurückbringen' (308,19-27). Gleichwohl behauptet Eustratios, Aristoteles folgend, die Unabhängigkeit und Erfahrungsgebundenheit der phronesis. Ist Aristoteles schließlich nicht in diesem Punkt in Einklang mit einem neuplatonischen Weltbild zu bringen? Wie kohärent kann Eustratios' Deutung sein? Eine Lösung dieser Schwierigkeit wäre zu suchen, meine ich, im körperlichen Zustand des Menschen, der die phronesis nötig macht. Das Auge der Seele, die mit dem Körper gebunden ist, ist getrübt (θολούμεvov). Es fehlt der Seele eine genaue Erkenntnis des Guten, sie ist unwissend. Dieser Zustand des Unwissens, der Verwirrung (πλάνη), der Unsicherheit, der dauernden Fehlbarkeit macht diephronesis unentbehrlich (279,20-26; 282,9-11). Da also, wo dem Mensch eine genaue Erkenntnis des Guten fehlt, wie sie in der sophia erreicht wird, da ist er auf eine andere Weisheitsform angewiesen, die der phronesis, die er durch eine lange Lebenserfahrung (seiner eigenen und der von anderen, s. 379,17-19) entwickeln kann. Man darf auch vermuten: so wie die Sinneswahrnehmung einen Anstoß zur Wiederbelebung der angeborenen Erkenntnisprinzipien in der Seele liefern kann (320,29-33), so kann die Erfahrung der Welt der menschlichen Angelegenheiten zu Normen führen, Normen der Ordnung und Harmonie, die nicht nur empirisch erfahrbar sind, sondern auch paradigmatisch im göttlichen Muster existieren.31 29 378,18-379,41 (πολυπειρία, ein beliebtes Wort bei Eustratios); vgl. EN, 1141 b 18, 1142 a 15-16. 30 S. EN, 1141 b 13-14, 1143 b 13-14 (Metapher des Auges). 31 Für Korrekturen bin ich Alexandrine Schniewind verpflichtet.

Remoto libero arbitrio ab homine actus iustitiae Dei removetur.1 Zur Anthropologie des Raimundus Lullus R I C H A R D HEINZMANN

1. Vorbemerkung Der für diesen Beitrag zur Verfügung stehende Raum zwingt zu Konzentration und Beschränkung auf das Thema im engen Sinne. Deshalb muss ausdrücklich gesagt werden, wovon nicht gehandelt werden kann, obwohl es zum besseren Verständnis der Problemstellung bei Raimundus Lullus (ca. 1232-1316) und zu einer gerechten Würdigung seiner Einsichten wesentlich beitragen würde. Da ist zunächst die philosophie- und theologiegeschichtliche Entwicklung zu nennen, in der unser Autor steht und aus der heraus er verstanden werden muss. Nur wenige Anhaltspunkte und Stichworte seien genannt, darüber hinaus muss auf die Sekundärliteratur verwiesen werden.2 Der Horizont der Problemstellung und der Lösungs1 Raimundus Lullus, 1982, Liber De praedestinatione et libero arbitrio, hrsg. v. Louis Sala-Molins, in: Raimundi Lulli Opera Latina, hrsg. v. F. Stegmüller (im folgenden: ROL), Bd. 10 (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Turnhout: Brepols (im folgenden: CCCM), Bd. 36), S. 361-411, 374.24. 2 Stephan Ernst, 1996, Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozess ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre, Münster: Aschendorff (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F., 46); Richard Heinzmann, 1999, Ratio und voluntas im Vollzug des liberum arbitrium. Zum Stand der Diskussion am Beginn des 13. Jahrhunderts, in: Hans-Günther Gruber/Benedikta Hintersberger (Hrsg.), Das Wagnis der Freiheit. Theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch (FS J. Gründel), Würzburg: Echter, S. 31-41; Theodor W. Köhler, 2000, Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert, Leiden-BostonKöln: Brill (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 71); Odon Lottin, 1942, Psychologie et Morale aux XIIe et XIIIe siecles Bd. 1: Probleme de Psychologie, Louvain: Gembloux; Otto Hermann Pesch, 1972, Art. Freiheit III, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel-Stuttgart: Schwabe, S. 1083-1088;

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Richard H e i n z m a n n

möglichkeiten ist im Wesentlichen von Augustinus abgesteckt. Die philosophische und theologische Auseinandersetzung mit seinen Vorgaben ist für die Folgezeit richtungweisend. Im Zentrum stehen die Themen: Gottes Allwirksamkeit und die Eigenwirksamkeit des Menschen; Gnade und Freiheit; Erbsünde und persönliche Sünde; Prädestination bzw. Reprobation und Gerechtigkeit Gottes. In der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Wille berufen sich die Voluntaristen auf Augustinus; dieser Linie schließen sich später die Franziskaner an. Die intellektualistische Richtung greift auf Boethius zurück. Im Ganzen dieser Entwicklung kommt Peter Abaelard hohe Bedeutung zu. Durch die Aristotelesrezeption im 12. und 13. Jahrhundert erhält das gesamte geistige Leben und damit auch die Frage nach der Freiheit und dem Heil der Menschen neue Impulse. Auf die Einordnung der Antwort des Raimundus Lullus auf die hier nur angedeutete Problemgeschichte muss verzichtet werden. Ebenso ist es unmöglich, auf die Biographie und die damit aufs engste verflochtene wissenschaftliche Methode des Raimundus Lullus näher einzugehen. Sein Leben und sein Werk sind von dem einen Gedanken geleitet, die Sarazenen zum Christentum zu bekehren sowie Muslime und Juden zu einem Dialog mit dem Christentum zu führen. Dieser missionarische Impuls bestimmt Lulls Leben und Denken. Seine Muttersprache ist Katalanisch, viele Werke lässt er später ins Lateinische übersetzen, schreibt aber selbst auch auf Lateinisch. Dass er Latein nur mangelhaft beherrschte, kann man nicht nur in stilistischer Hinsicht leicht erkennen. In der Uberzeugung, dass man im Gespräch zwischen den Religionen nicht Glauben gegen Glauben setzen kann, sondern um eine rational argumentative Vermittlung bemüht sein muss, lernt er für die Verwirklichung dieses Dialogs Arabisch. Da die Wahrheit des Christentums für ihn außer Frage steht, er aber um das Heil der Nichtchristen aufs Höchste besorgt ist, kommt er zu der persönlichen Uberzeugung, der christliche Glaube könne und müsse rational vermittelt werden. Das führt ihn zu der These, dass die Glaubenssätze einschließlich Trinität und Inkarnation von der Vernunft durchdrungen werden können. Zu diesem Zweck entwickelt er die formalen methodischen Voraussetzungen seiner Logica nova, die Artes und die Kombinatorik sowie die Regeln des Fragens, wonach viele seiner Werke gegliedert sind. G e o r g Wieland, 1998, A r t . Willensfreiheit, chen: Lexma Verlag, S. 2 0 8 - 2 1 0 .

in: Lexikon

des Mittelalters

Bd. 9, M ü n -

Zur Anthropologie des Raimundus Lullus

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In dem Bemühen, selbst die Trinität denkend und rational zu vermitteln, kommt es zu einer grundlegenden philosophischen Innovation bei Raimundus Lullus; er versteht Sein dynamisch: Sein, Tätigsein und Bezogensein sind identisch. Auch in diesen Fragen muss für eine weitere Auseinandersetzung auf die Sekundärliteratur verwiesen werden. 3

2. Homo est ens homificans 2.1 Die Intentionen als Prädisposition menschlicher Selbstverwirklichung Für die philosophisch-theologische Gesamtkonzeption des Raimundus Lullus ist sein dynamisches Seinsverständnis charakteristisch und grundlegend. Von diesem Vorverständnis ist naturgemäß alles, was unter den Seinsbegriff fällt, betroffen. Das Wesen eines Seienden erschöpft sich demnach nicht im Dasein. Sein und Wirken greifen vielmehr ineinander. Alles, was ist, trägt die Prinzipien seines Wirkens und seiner Verwirklichung in sich: „Existentia est ens, a quo agentia defluxa est, quia existentia per agentiam seipsam nobilitat".4 Dieses Seinsverständnis geht auf die Korrelativenlehre zurück, wonach Seiendes grundsätzlich triadisch strukturiert ist.5 3 Walter W. Artus, 1981-1983, Man's Cosmic Ties within the Thought of Ramon Lull, in: Estudios Lulianos, 25, S. 25-46; Walter Andreas Euler, 1990, Unitas et Pax. Religionsvergleich hei Raimundus Lullus und Nikolaus von Kues, Würzburg: Echter; Hösle, Vittorio, 1985, Einführung, in: Raimundus Lullus, Logica Nova, hrsg. v. Charles Lohr, S . I X - L X X X V I , Hamburg: Meiner; Theodor W. Köhler, 1995, Aufbrüche im Fragen des Menschen nach sich selbst als Menschen. Die Definitionsantwort des Raimund Lull und ihre systematische Bedeutung, in: Salzburger Jahrbuch der Philosophie, 40, S. 79-96; Köhler, 2000, S. 73-89,239-245; Erhard Wolfram Platzeck, 1962-1964, Raimund Lull. Sein Leben - seine Werke. Die Grundlagen seines Denkens (Prinzipienlehre), 2 Bde., Düsseldorf: Schwann; Robert Pring-Mill, 2001, Der Mikrokosmos Ramon Lulls. Eine Einführung in das mittelalterliche Weltbild (Clavis Pansophiae, 9), Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog; Helmut Riedlinger, 1991, Art. Lullus, Raymundus (Ramon Lull), in: TRE Bd.21, S.500-506, Berlin: de Gruyter. 4 Raimundus Lullus, 1985, Logica nova, hrsg. v. Charles Lohr, IV 50, S. 174; vgl. hierzu Hösle, 1985, Einführung, S.XLIX. 5 Raimundus Lullus, 1978, Lib er correlativorum innatorum, hrsg. v. Helmut Riedlinger (= ROL Bd.6; CCCM Bd.33), S. 128-129: „[...] et correlativa innata sint principia innata primitiva, vera et necessaria in omnibus substantiis [...] Sunt autem huiusmodi

Richard Heinzmann

120

Z u n ä c h s t e n t w i c k e l t e L u l l u s diesen G e d a n k e n i m K o n t e x t seiner Trinitätsspekulation, in w e l c h e r der U r s p r u n g seiner P h i l o s o p h i e u n d T h e o l o g i e z u sehen ist. I m N a c h d e n k e n ü b e r G o t t entfaltet er seine T h e o r i e v o n d e n g ö t t l i c h e n W ü r d e n - dignitates tribute, P r o p r i e t ä t e n , rationes

necessariae

- ; er n e n n t sie a u c h A t -

oder absolute Prinzipien. Die-

se N a m e n G o t t e s - i m S p ä t w e r k sind es neun: bonitas, ratio,potestas,

intellectus,

sapientia,

voluntas,

magnitudo,

du-

virtus u n d gloria - v e r s t e h t

L u l l u s als W e s e n s b e z e i c h n u n g e n u n d W i r k a t t r i b u t e , die m i t G o t t identisch sind. U n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t des W i r k e n s sind u n t r e n n b a r drei S t r u k t u r m o m e n t e d a m i t v e r b u n d e n , die s o g e n a n n t e n correlativa:

das

w i r k e n d e P r i n z i p , das Ziel u n d - als V e r m i t t l u n g - das W i r k e n selbst, d u r c h w e l c h e s das P r i n z i p tätig ist u n d das Ziel e r r e i c h t w i r d . 6 D i e s e dignitates u n d ihre f o r m a l e S t r u k t u r des W i r k e n s w e r d e n d u r c h d e r e n Spuren, die sich in d e r W e l t e n t d e c k e n lassen, e r k a n n t . D i e S c h ö p f u n g t r ä g t die Signatur des S c h ö p f e r s : „Quid

est creatum,

est signum

creatoris".7

D i e t r i a d i s c h s t r u k t u r i e r t e k o n t i n g e n t e W i r k l i c h k e i t h a t ihre B e g r ü n d u n g in d e r Identität u n d T r a n s z e n d e n z G o t t e s . In der k o n k r e t e n W i r k l i c h k e i t fällt die I d e n t i t ä t auseinander u n d die absolute T r a n s z e n d e n z spiegelt sich in d e n t r a n s z e n d e n t a l e n B e s t i m m u n g e n des Seins.

principia: (1) Bonitas, (2) magnitudo, (3) duratio, (4) potestas, (5) intellectus, (6) voluntas, (7) virtus, (8) Veritas, (9) gloria. Quorum definitiones hae sunt; et unicuique principio propriam adaptabimus. Quoniam definitiones sunt signa signatorum, et sine ipsis intellectus non potest habere notitiam de entibus realibus, idcirco ipsas assignare erit perutile in hoc libro, ut ea, quae sunt principia primitiva, vera et necessaria cum ipsis definitionibus cognoscamus. Ignota enim definitione ignoratur eius subiectum. Definitur autem bonitas et unumquodque principiorum sic: (1) Bonitas est ens, ratione cuius bonum agit bonum. (2) Magnitudo est ens, ratione cuius bonitas, duratio et potestas et cetera principia sunt magna. (3) Duratio sive aeternitas est ens, ratione cuius bonitas et cetera principia durant. (4) Potestas est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo et cetera principia possunt existere et agere. (5) Intellectus est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo et cetera principia sunt intelligibilia. (6) Voluntas est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo et cetera principia sunt desiderabilia et amabilia. (7) Virtus est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo etc. sunt virtuosa. (8) Veritas est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo, potestas et cetera principia sunt vera. (9) Gloria est delectatio, in qua bonitas, magnitudo et cetera principia quiescunt"; vgl. hierzu Helmut Riedlinger, 1995, Art. R. Lullus, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 7, S. 490-493, 492. 6 Raimundus Lullus, 1986, Ars generalis ultima, hrsg. v. Aloisius Madre (= ROL Bd. 14; CCCM Bd. 75), IX, S. 198-216. Die triadische Struktur erläutert Lullus häufig am Beispiel der bonitas; Ars generalis ultima III, S. 23,70: „Bonitas est ens, cui proprie competit bonificare. Et est ens, quod proprie habet in se et innate bonificantem, bonificatum et bonificare." 7 Raimundus Lullus, 1985, Ars compendiosa Dei, hrsg. v. Manuel Bauzä Ochogavia (:=ROL Bd. 13; CCCM Bd. 39), S.290.

Z u r A n t h r o p o l o g i e des R a i m u n d u s Lullus

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Damit gilt ganz allgemein, dass mit dem Sein die innere triadische Struktur notwendig verbunden ist. Das hat Konsequenzen für das Verständnis des Menschen. Auch er ist nicht einfach da. Die traditionelle Definition,animal rationale mortale ' benennt nur genus und differentia specif ica und bleibt deshalb hinter dem Menschsein zurück, weil die Selbstverwirklichung als entscheidender Wesenszug nicht angesprochen ist. Mit einem geradezu provozierenden Neologismus unterstreicht Lullus, ausgehend von seiner Korrelativentheorie, diesen Sachverhalt: „Homo est ens homificans".8 Der Mensch ist ein Seiendes, das den Menschen macht; er ist ein Wesen, das sich als Mensch selbst verwirklichen muss. Dass diese Definition gegen die Regeln des Definierens verstößt - der zu definierende Begriff darf in der Definition nicht vorkommen - , wusste Raimundus Lullus natürlich auch. Ihm ging es aber darum, gegen ein statisches, den Menschen festlegendes Verständnis die Dimension der Verwirklichung ins Bewusstsein zu heben. Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist die Reflexion des Menschen auf sein eigenes Wesen. Um sein Menschsein realisieren zu können, muss er wissen, was der Mensch ist; andernfalls steht er in der Gefahr, sein eigenes Sein und damit sich selbst zu verfehlen.9 Im Nachdenken über sich erlangt der Mensch das explizite Wissen, das ihn dazu befähigt, sein eigenes Sein zu realisieren. An erster Stelle steht die Einsicht, sich selbst und den Nächsten zu lieben. Dann folgt das Wissen darum, dass der Mensch Gott, der als Mensch wirklich Mensch ist, lieben und erkennen soll. Daraus resultiert schließlich das Wissen, dass 8 Logica nova 1.6, S. 2 8 ; Ars generalis ultima I X . 2 ( „ D e h o m i n e , p e r regulas deducto"), S. 2 3 5 - 2 3 9 , 2 3 7 ; Liber correlativorum innatorum, S. 1 4 7 : „ H o m o est c o m p o s i t u s ex rationali anima et c o r p o r e h u m a n o . Idcirco correlativa animae sunt spiritualia, et illa c o r p o r i s sunt corporalia. C o r r e l a t i v a bonitatis animae sunt b o n i f i c a t i v u m , b o n i f i c a bile et bonificare; et correlativa magnitudinis animae sunt magnificativum, m a g n i f i cabile et magnificare; et sie de aliis. Bonificativus, magnificativus, et sie de aliis, c o m p o n u n t u n a m f o r m a m ; et bonificabile et magnificabile u n a m materiam; et b o n i f i c a r e et magnificare, et sie de aliis, u n a m n a t u r a m c o n n e x i v a m . Et quia anima est, u t D e u s sit intellectus, amatus, et recolitus, ipsa anima, quae est una per essentiam, habet tres potentias, scilicet intellectum, v o l u n t a t e m et m e m o r i a m , ut c u m intellectu intelligat D e u m , et c u m v o l u n t a t e diligat, et c u m m e m o r i a recolat. Q u a e l i b e t potentia habet sua correlativa distineta, sicut intellectus intellectivum, intelligibile et intelligere et v o l u n t a s v o l i t i v u m , volibile et velle, et m e m o r i a recolitivum, recolibile et recolere. Intellectivus v e r o et intelligibile et intelligere sunt u n u s intellectus; et sie de aliis." 9 Ars generalis ultima I X . 2 , S. 2 3 6 : „ h o m i n e m esse, et ignorare, quid est h o m o , est negligere h o m i n i s esse. Et ideo, u t sciamus, quid est h o m o , et de ipso m a g n a m notitiam habeamus, d e f i n i m u s ipsum p e r triginta definitiones [...]."

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der Mensch erkennen und lieben muss, was ihm als Menschen angemessen ist, und dass er das Gegenteil davon meiden soll. 10 Mit dieser Wesensanalyse sind Ziele vorgegeben, deren Verwirklichung in gegenseitiger Zuordnung für das Gelingen menschlicher Existenz in einem qualifizierten Sinne unabdingbar ist. Mit seiner Lehre von den Intentionen hat Raimundus Lullus ein Kriterium entwickelt, das in formaler Hinsicht als Orientierung und Entscheidungshilfe dient.11 Folgende Definition legt er diesem Gedanken zugrunde: „Intentio est operatio intellectus et voluntatis, quae se movet ad dandum complementum desideratae et intellectae rei; et intentio est actus naturalis appetitus, qui requirit perfectionem quae illi naturaliter convenit" .u Rein formal bedeutet intentio also die Ausrichtung auf ein Ziel, das durch die Tätigkeit von Intellekt und Wille erreicht wird. Sie ist ein Akt eines natürlichen Strebevermögens, dessen Verwirklichung dem strebenden Subjekt ebenfalls natürlicherweise zukommt. Durch die Unterscheidung zwischen intentio prima und intentio secunda wird diese Theorie zu einem strukturierenden Handlungsprinzip. Grundsätzlich kann alles, was ist, Strebeziel sein. Gleichwohl ist Beliebigkeit ausgeschlossen. Die Rangfolge wird im Einzelfall von dem konkreten Ziel her, das ursprünglich angestrebt wird, vorgegeben. So wird die erste Intention zum Prinzip der zweiten. Der intentio prima kommt deshalb übergeordnete Bedeutung und höherer Wert zu. Ein Beispiel von Raimundus Lullus soll das verdeutlichen: Wenn man ein Buch erwirbt, ist der dadurch ermöglichte Wissensgewinn per intentionem primam, der Besitz des Buches per secundam intentionem. Als Disposition steht die 10 Raimundus Lullus, 2000, Liber De homine, hrsg. v. Fernando Dominguez Reboiras (= ROL Bd. 21; CCCM Bd. 112), S. 152-301, vgl. S. 152: „Cum sit decens, quod homo sciat, quid est homo, postquam est homo, idcirco investigare et ostendere volumus: Q u i d est homo? Quoniam in hoc, quod homo seit, quid est homo, seit homo semet ipsum, et in sciendo semet ipsum, seit amare semet ipsum et alium. Iterum, seiet et cognoscere Deum, qui est homo, in quantum est homo; et ilia, quae ad hominem spectant, seiet cognoscere et amare, et ilia, quae sunt contra hominem, vitare"; vgl. auch ders., 1740, Liber Contemplationis in Deum, in: Raymundus Lullus, Opera, Mainz 1721-1742, Nachdruck Frankfurt 1965 (im folgenden: MOG), Bd. 9, cap. 45 („Quomodo Deus ordinaverit duas intentiones in homine"), S. 96-101, 99: „[...] quando homo se movet per primum motum, moveat se ad amandum tria, scilicet Te, seipsum et suum proximum." 11 Raimundus Lullus, 1737, Liber de prima et secunda intentione (= MOG Bd. 6), S. 537-560; vgl. auch Liber Contemplationis, S. 96-103; Lullus greift damit einen Gedanken auf, der sich bis auf Aristoteles zurückverfolgen lässt. 12 Liber de prima et secunda intentione, cap. I, S. 538.1.

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zweite Intention in einem instrumentalen Verhältnis zur ersten. Die Priorität liegt natürlich im Einzelfall nicht im voraus fest; sie ergibt sich vielmehr aus der Funktion in einem größeren Bezugsgefüge. Der höhere Wert muss immer intentio prima sein. Im Bereich der kontingenten Wirklichkeit muss die Verhältnisbestimmung immer neu bedacht und beurteilt werden. Die ordinata intentio ist für alles Denken, Reden und Tun das Kriterium für sachgerechtes Verhalten. Die Umkehrung der Intentionen „contra suas substantiates ordinationes"13 ist das Kennzeichen falschen Verhaltens bzw. - bei sittlicher Relevanz - der Sünde. Diese durch die Intentionen strukturierte Teleologie gilt nicht nur für die Schöpfung, sondern auch für Gott selbst.14 Als das supremum bonum ist Gott in einer ewigen, unbegrenzten und mit seinem Wesen identischen intentio auf sich selbst zurückbezogen. Eine zweite Intention ist unter diesem Aspekt ausgeschlossen. Theologisch gesehen ist die intentio prima von allem, was ist - Sein dynamisch und analog verstanden, das heißt Gottes ebenso wie der Schöpfung - , Gott selbst. Im untergeistigen Bereich ist das in der Intentionalität sich zeigende Schöpfungsziel durch die Gesetze der Natur festgelegt. Die geistbegabte Natur zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass sie sich aufgrund des liberum arbitrium frei für das Ziel, um dessentwillen sie geschaffen wurde, entscheiden muss. Das schließt natürlich ein, dass sie sich auch dagegen entscheiden kann. 15 Für den Menschen ist Gott das Ziel, in ihm findet er seine Vollendung. Die Liebe zu Gott muss deshalb ohne jeden Vorbehalt intentio prima des Menschen sein; die Furcht vor Gott darf nur an zweiter Stelle stehen.16 Alle innerweltlichen Ziele müssen unter diesem Anspruch gesehen und dementsprechend geordnet werden. Dieses umgreifende Verständnis der Wirklichkeit, in dem Schöpfer und Geschöpf durch intentionale Relationen verbunden sind, erfährt seine letzte innere Geschlossenheit durch sein Verständnis der Inkarnation. Die Menschwerdung gehört zur Schöpfung im Sinne der intentio prima, sie ist notwendig mit der Schöpfung verbunden. Die durch den Sündenfall erforderlich gewordene recreatio ist nicht der ursprüngliche Grund für die Menschwerdung, sondern nur intentio secunda.u 13 14 15 16 17

Ebd. cap. I, S. 539.14. Ebd. cap. II, S. 539-540. Ebd. cap. III, S. 541. Ebd. cap. II, S. 539. Ebd. cap. IV, S. 541; Raimundus Lullus, 1722, Liber de quinque sapientibus (= MOG Bd. 2), S. 125-174 Quinta ratio secundae Partis, S. 145: „[...] finis, propter quem est

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Mit diesen Überlegungen hat Raimundus Lullus das Bezugsfeld abgesteckt, in dem der Einzelne sich selbst zum Menschen machen - homificare — muss. Der Mensch kann aber auch scheitern. Damit kommt das Phänomen der Negativität und der Sünde in den Blick; davon wird später zu handeln sein.

2.2 Die Seele und ihre Potenzen Es ist in diesem Zusammenhang weder möglich noch erforderlich, die einzelnen Potenzen der Seele ausführlich und differenziert darzustellen, wie das Lullus in seinen verschiedenen Abhandlungen tut. 18 Der augustinische Ternar der Grundkräfte der Seele intellectus, voluntas, memoria wirft zunächst die Frage auf, wie sich diese Potenzen zueinander und zur Seele selbst verhalten. Mit Nachdruck arbeitet Lullus heraus, dass diese drei Kräfte in keinem Fall eine einzige Natur sein können, da sie sonst ihre je eigenen unterschiedlichen Funktionen nicht ausüben könnten. Verstand, Wille und Gedächtnis müssen deshalb ihrem Wesen nach - per essentiam - unterschieden sein. 19 In dieser U n terschiedenheit haben sie für die Geistseele konstitutive Bedeutung: „[...] quia voluntas, intellectus et memoria suntpotentiae, ex quibus anima rationalis est et cum quibus habet suum existere et agere."20 incarnatio, est, ut Deus sit homo; et ista est prima et principalior intentio, quare Deus est incarnatus; et secunda intentio est, ut homo sit Deus: ista secunda intentio autem est prima habito respectu ad redemptionem humani generis; quae redemptio est per secundam intentionem." 18 Als wichtigste Quellen wurden folgende Werke herangezogen: Raimundus Lullus, 1995, Uber de intellectu, hrsg. v. Jordi Gaya Estelrich (= ROL Bd. 20; CCCM Bd. 113), S. 187-235; ders., 1995, De memoria, ebd. S.292-333; ders., 1981, De ascensu et descensu intellectus, hrsg. v. Aloisius Madre (= ROL Bd. 9; CCCM Bd. 35), S. 3-199; ders., 1995, Liber de voluntate, hrsg. v. Jordi Gayä Esterlich (= ROL Bd. 20; CCCM Bd. 113), S. 246-282; ders., 1989, De declaratione conscientiae, hrsg. v. Michela Pereira und Theodor Pindl-Büchl (= ROL Bd. 17; CCCM Bd. 79), S. 57-61; De praedestinatione et libero arbitrio. 19 Raimundus Lullus, De ascensu, De sexta distinctione quae est de homine, S. 88-107, S. 96.5: „Dum sie intellectus considerat, quaerit: Utrum istae tres potentiae animae differant per essentiam? Et tunc descendit ad concreta, quae sunt in ipsis essentiis, sicut in intellectu naturaliter consistunt intellectivum, intelligibile et intelligere; et in voluntate volens, volitum et velle; et in memoria memorans, memoratum et memorari. Et quia ista concreta differunt specie, cognoscit intellectus, quod praedictae potentiae different per essentiam." 20 De voluntate, S. 282.

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Sein und Wirken der Geistseele verdanken sich also ihren Potenzen. Der Intellekt hat einen Existenzmodus im Willen, der Wille im Intellekt; zusammen mit dem Gedächtnis sind sie die Seele.21 Auf sich reflektierend - reflectit se supra se22 - erfasst der Intellekt die mit ihm selbst identischen Prinzipien, die von Natur aus wahr und auf Wahrheit ausgerichtet sind, aus denen heraus er ohne äußere Ursache in der Wesenserkenntnis und im schlussfolgernden Denken tätig wird.23 Erkennend bildet der Intellekt Begriffe, speichert sie im Gedächtnis und macht sie dadurch für den Willen abrufbar und wählbar „ad amandum vel odiendum" .24 Die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge sind das Ziel der Tätigkeit des Intellekts. Wenn der Mensch diese beiden ihm vorgegebenen Ziele, die Gotteserkenntnis sowie die Selbstund Welterkenntnis, in der richtigen Weise verbindet, befindet er sich auf dem richtigen Wege zu seiner Selbstverwirklichung. Gibt er jedoch der Welterkenntnis den Vorzug, dann gerät er auf die schiefe Bahn; der Intellekt wird pervertiert und verdunkelt sich.25 Im Vollzug seiner ihm eigenen Funktionen stößt der Intellekt gleichzeitig auf den Willen: „Voluntas estprincipium universale, quod habet naturalem inclinationem ad amandum amabilia et ad odiendum odibilia."26 Der entscheidende Aspekt in dieser Definition ist die Tatsache, dass der Wille aufgrund seiner Natur zum Guten tendiert und das Böse verwirft. Alles, was ist, ist wegen seiner Positivität grundsätzlich gut und deshalb erstrebbar.27 Durch den Willen kann der Intellekt, der diesem die Objekte vorlegt, sich frei dazu entscheiden, das wahrhaft Gute zu lieben und anzustreben und das wirklich Schlechte zu hassen und zu meiden. Der Wil21 De voluntate, S. 254. 22 De ascensu, S. 90. 23 De intellectu, S. 195. 24 De praedestinatione et libera arbitrio, S. 371. 25 De intellectu, S. 196: „ Q u i e s intellectus est intelligere D e u m et quae ad hoc pertinent; est alius finis, in q u o quiescit sub primo fine, intelligendo se et ea, quae ad hoc pertinent. U n d e quando intellectus componit istos duos fines cum bonitate, magnitudine etc., tunc est in recta linea et in recta quiete. Sed quando transmutat fines, hoc est, quando finem superiorem ponit infimum et inferiorem sursum, tunc linea est obliqua, et intellectus est tenebrosus et perversus, et est in labore." 26 Raimundus Lullus, 1737, Ars Amativa (= MOG Bd. 6), S. 7-154, Tertia distinctio de Definitionibm, S. 44.1. 27 De voluntate, S. 226: „Voluntas est ens, ratione cuius bonitas, magnitudo etc. sunt desiderabilia."

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le ist das Vermögen, durch das der Mensch liebt oder hasst, das heißt gut oder schlecht handelt.28 In diesem Verständnis zeigt sich eine Strukturparallelität zwischen Intellekt und Wille, beide sind ihrem je eigenen Vermögen gemäß auf das dem Menschen angemessene Ziel ausgerichtet: der Intellekt auf die absolute Wahrheit, der Wille auf das höchste Gut. 29 Das Ziel, in dem der Wille als das allgemeine Prinzip des Strebens seine Ruhe findet, ist also Gott. Diese letzte Vollendung - und dieser Gedanke ist für Raimundus Lullus von eminenter Bedeutung - kann der Mensch nur in Freiheit erreichen: „[...] ad quem finem non potest pervenire sine amare libere." Im Nachdenken über den Grund seines Daseins kommt der Mensch zweifelsfrei zu dieser Einsicht und bindet dadurch sein Wollen an dieses Ziel.31 Wenn der Wille jedoch gegen diese Erkenntnis handelt, das Hassenswerte liebt und das Liebenswerte hasst, dann weicht er, in Analogie zum Intellekt, vom geraden Weg ab und pervertiert sich selbst. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Intellekt und Wille sieht Raimundus Lullus die Funktion des Gewissens angesiedelt, das er als einen Habitus des Intellekts versteht: „Conscientia est habitus ipsius intellectus, cum quo ipse reprimit inordinatos voluntatis appetitus, adiuvante iustititia et aliis virtutibus."32 28 De intellectu, S. 195: „Quid est intellectus in alio? Et respondendum est, quod intell e c t s in voluntate est illud, per quod voluntas potest eligere ad diligendum verum bonum et odiendum verum malum." 29 Ars Amativa, Secunda Distinctio de Regulis, Reg. XV, S. 35.3: „[...] nam sicut in voluntate stat naturalis inclinatio ad odiendum ea, per quae deviatur a naturali quiete, quae est finis, ita in intellectu stat naturalis inclinatio ad intelligendum ea, per quae deviatur a quiete." 30 De praedestinatione et libero arbitrio, S. 384.105: „Finis est id, in quo principium quiescit. Finis voluntatis hominis est, habere amatum supremum, scilicet Deum; ad quem finem non posset pervenire sine amare libere. Habet ergo voluntas amare libere, ut in obiecto libere requiescat." 31 Ars amativa, Secunda Distinctio de Regulis, Reg. XVIII, S. 38.4: „Quando homo considerat finalem intentionem, propter quam est creatus, et propter quam est id, quod est, et est coniunctus ex talibus principiis, et non ex aliis, ligat suam voluntatem ad finem, propter quem est creatus, quia esse cuiuslibet suorum principiorum habet naturalem instinctum ad illum finem, propter quem est creatum, hoc est, ad cognoscendum et amandum et honorandum Deum, et illi serviendum cum bonitate, magnitudine, duratione etc.; ab hoc ligamine voluntas non potest se defendere, quando homo considerat finem cum bonitate, magnitutine, duratione etc." 32 De declaratione conscientiae; vgl. auch Ars generalis ultima, 10,97; Ars amativa, Secunda Distinctio de Regulis, Reg. XV, S. 34-35; Liber contemplationis, Dist. XXX,

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In dieser Sicht ist die Funktion des Gewissens mehr im psychologisch-emotionalen Bereich angesiedelt. Das Gewissen gibt Impulse, bereitwillig und gern das Gute zu tun, und es löst Furcht aus, um schlechte Taten zu verhindern. Es disponiert zum Guten und es empfindet Schmerz über die Sünde. Wenn der Mensch bei einer anstehenden Entscheidung keine Gewissheit erlangen kann, wenn der Intellekt zweifelt, was er tun soll, dann muss er die Situation neu überdenken, und wenn er allein zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen kann, muss er den Rat erfahrener Männer einholen, um so den Zweifel in Gewissheit zu überführen. Aufgrund solcher Gewissheit hat der Wille dann die Freiheit, mit Billigung des Gewissens die erkannten Ziele zu verfolgen. Wenn jedoch eine Situation nicht geklärt werden kann - pendente adhuc perplexitate - und der Intellekt keinen Ausweg findet, dann muss der Wille darauf aus sein, mithilfe des Intellekts sich auf ein übergeordnetes gutes Ziel auszurichten. In diesem Fall darf sich der Intellekt durch seinen Zweifel nicht binden, damit der Zweifel nicht ein grundsätzlich gutes Streben verhindert. Denn alles stammt von Gott, der die Dinge auf sich hin als ihr letztes Ziel geschaffen hat. Würde sich daraufhin jemand Gewissensbisse machen - faceret sibi conscientiam - , dann könnte es geschehen, dass ihn bald ein anderer Gewissensspruch - alia conscientia noch schwerer belastet, weil er Gott, dem letzten Ziel, das diesem Zustehende nicht zukommen ließ. Eine weitere Konfliktsituation stellt sich so dar. Der Intellekt zweifelt, ist jedoch der Meinung, von zwei Möglichkeiten sei die eine besser als die andere. Er wagt aber keine Entscheidung und hindert durch seinen Zweifel den Willen, die bessere Möglichkeit anzustreben. Zurecht erhebt sich dagegen das Gewissen, weil der Wille die bessere Variante, für die sich das Gewissen ursprünglich entschieden hatte, nicht realisierte. Der Gewissensspruch, der nach reiflicher Überlegung für das höhere bonum spricht, wird dem Anspruch des perfekten Gewissens in höherem Maße gerecht. Wenn aber jemand sich bei seiner ersten Wahl geirrt und nicht den besseren Teil gewählt hat, dann darf er deshalb dieses Ziel, für das er sich entschieden hat, nicht aufgeben. Er kann davon ausgehen, dass Gott ihn bei dieser ersten Entscheidung geführt hat, und er die andere Möglichkeit vielleicht gar nicht hätte realisieren können. Sollte sich jedoch zeigen, dass diese Wahl mit Gewissheit falsch war cap. 207, S. 518.1: „[...] conscientiam per quam habeat causam et rationem et dispositionem pavendi et timendi facere mala opera et libenter faciendi bona opera."

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und deshalb in die Todsünde führt, dann muss er davon ablassen und die andere Möglichkeit aufgreifen. Demzufolge unterscheidet Raimundus Lullus tres gradus conscientiae, vielleicht könnte man von drei unterschiedlichen Befindlichkeiten des Gewissens sprechen. Der erste gradus ist wegen der Eindeutigkeit der anstehenden Entscheidung vollkommen. Der zweite ist weniger vollkommen; er ist dann gegeben, wenn das Gewissen vor der Wahl von zwei Möglichkeiten steht, die gleichwertig sind. Noch unvollkommener ist der dritte Grad; er ist dann gegeben, wenn das Gewissen mehr zu der einen Möglichkeit neigt, der Wille aber trotzdem die andere wählt.33 Das Auffallende und Bemerkenswerte an der Gewissenslehre des Raimundus Lullus ist die Tatsache, dass Begriffe wie Gesetz oder Gehorsam gegenüber einem Gebot Gottes keine Rolle spielen. Die Reflexion geht ausschließlich dahin, zu fragen und zu erkennen, was objektiv gesehen das im Hinblick auf die konkrete Situation unter dem Anspruch der finalen Bestimmung des Menschen das Beste ist. In dieses Ineinander und Miteinander von intellectus und voluntas fügt sich schließlich die memoria bruchlos ein. Das Gedächtnis hat die Aufgabe, die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse zu bewahren und zu speichern, um sie in Freiheit dem Intellekt und dem Willen zur Verfügung zu stellen.34 So schließt sich der Kreis der Seelenpotenzen. Zugleich erhebt sich die Frage nach der Freiheit. Hat jede der drei Potenzen ihre je eigene Freiheit oder haben sie eine Freiheit gemeinsam? Raimundus Lullus kommt bei diesen Überlegungen zu dem Ergebnis, „quod libertas istarum potentiarum est una in communi"^5 Diese gemeinsame Freiheit verhält sich jedoch zu den einzelnen Kräften auf zweifache Weise: occasionative und causative. Intellekt und Gedächtnis legen dem Willen die Objekte vor und bieten ihm damit in einer konkreten Situation die Möglichkeit, eine positive Entscheidung zu treffen und so in freier Ursächlichkeit das Gute zu tun.36 33 De conscientia, S. 60f.: „Declaravimus ergo tres gradus conscientiae: Primum scilicet gradum, qui est perfectus; secundum gradum, qui est minus perfectus, quando scilicet conscientia dubitat, quid potissime sit eligendum de duobus, ita quod aequaliter fertur ad utrumque; tertium etiam gradum, adhuc minus perfectum quam praedictum secundum, quando scilicet ipsa conscientia magis inclinatur ad unam partem quam ad aliam, nec tarnen eligit illam partem." 34 De ascensu, S. 105; vgl. De 35 Ebd. 36 De ascensu, S. 105 f.

memoria.

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Damit ist das Problem des Bösen bzw. der Sünde angesprochen, denn der Wille muss sich nicht unbedingt positiv entscheiden.

2.3 Heil oder Verdammung als Verdienst Die Antwort auf das bedrängende Problem des Bösen entfaltet Raimundus Lullus im Kontext der Seinsfrage. Mit großem Nachdruck betont er, dass das malum nicht unter das Sein fällt und deshalb in keiner Weise auf Gott zurückgeführt werden kann: „Non est ergo peccatum de aliqua re, quam Deus creaverit, hoc est de essentia et natura creaturae."i? Die Sünde ist nichts, da sie dem Sein entgegen steht. Sie ist eine privatio, die aufgrund der Freiheit des Willens gewählt und angestrebt werden kann. 38 Die Möglichkeitsbedingung für diese dem Wesen und Schöpfungsziel des Menschen widersprechende Entscheidung liegt in seinem Geschaffensein. Weil er geschaffen ist, kann er sich zum Sein und damit zum Guten wenden; weil er jedoch aus Nichts geschaffen ist - de nihilo est productus - hat er de facto eine Neigung zum Nichtsein und damit zur Sünde.39 Die heilsgeschichtliche Situation, in der sich der Mensch vorfindet, ist dadurch gekennzeichnet, dass er frei zwischen Gut und Böse entscheiden kann und entscheiden muss, und dass es dabei für ihn selbst ums Ganze geht, um ewiges Heil oder ewige Verdammung: „Quando libera voluntas hominis se inclinat ad faciendum bonum, homo meretur gloriam, et quando se inclinat ad faciendum malum, homo meretur poenam."A0 Mit seiner Willensfreiheit entscheidet der Mensch endgültig über sein ewiges Geschick. 37 De homine, 38 De voluntate,

S.221f. S.265.

39 De ascensu, S. 90.8.f.: „Iterum quaerit intellectus: Quare sunt in homine avaritiare, luxuriare, superbire, etc.? Et tunc descendit intellectus ad libertatem hominis. Ratione cuius potest homo ad placitum bonum eligere sive malum. Bonum, quia Deus est obiectabilis libere ab homine ratione divinae bonitatis, magnitudinis, etc.; etiam ut homo possit acquirere meritum gloriae sempiternae; malum, eo quia homo de nihilo est productus. Ratione cuius nihili habet inclinationem ad peccatum, quod est nihil"; De praedestinatione et libero arbitrio, S. 383: „Et ideo voluntas hominis habet liberum arbitrium diversimode. Unum est causatum a divina iustitita. Aliud est a voluntate humana, eo quia est de nihilo creata, propter quod habet naturaliter inclinationem ad volendum malum." 40 Liber contemplationis,

S. 461 f.

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Diese Formulierungen sind missverständlich. Auf den ersten Blick erwecken sie den Eindruck, der Mensch könne aus eigener Kraft und Entscheidung sein letztes Ziel erreichen, das heißt die homificatio zur letzten Vollendung führen. In Wirklichkeit stellt sich dieser Prozess differenzierter dar. Mit seiner Freiheit entscheidet der Mensch zwar über die Grundrichtung seines Weges, doch kommt ihm Gott auf diesem Weg gewissermaßen entgegen, um ihn zum Ziel zu führen. Der Mensch erlöst sich nicht selbst; aber er entscheidet frei darüber, ob er erlöst werden will oder nicht. Raimundus Lullus spricht in diesem Zusammenhang von der Tugend - virtus bzw. virtus moralis. Die Freiheit, die Gott dem Menschen verlieh, und die virtus, die er ihm anbietet, greifen ineinander. Ob er der Tugend bzw. Gnade teilhaftig wird, hängt vom Willen des Menschen ab: „Illam virtutem creavit Deus, disposuit et praeparavit homini, cui dedit libertatem, quod ipsam habere posset, si ipsam habere vellet."4i Die Tugend ist der Weg zum Paradies und zum Frieden. In der Ablehnung der Tugend liegt der Sachverhalt der Sünde: „[...] peccatum non est aliud, nisi habitus privativus virtutis per liberam voluntatem electus et amatus."42 Mit diesen Überlegungen beantwortet Raimundus Lullus die Frage nach der Möglichkeit des Menschen zu sündigen: Der Sünder ist selbst für die Sünde und damit für den ewigen Tod verantwortlich; die Sünde ist das Werk des Menschen: „Est ergo peccatum de operatione hominis, quifacit contra esse hoc quod non deberet esse."43

41 De homine, S. 222; ebd. 231: „Virtus est via paradisi et pacis. Una virtus est, quae se extendit in quattuor branchas morales, quae sunt: Iustitia, prudentia, fortitudo et temperantia. Et ex istis quattuor branchis plures rami virtutum oriuntur, sicut est humilitas, castitas, abstinentia, patientia, constantia; et sie de similibus. Iustitia est illa virtus, ratione cuius reddunt homines unieuique, quod suum est. Prudentia est illa virtus, ratione cuius homines discreti eligunt illa, quae bona sunt, et dimittunt illa, quae mala sunt; et qui diligunt plus maiora bona, quam minora, et timent plus maiora mala, quam minora. Fortitudo est virtus, cum qua homines contra vitia existunt, et quae homines fortificat ad acquirendum et agendum virtutes. Temperantia est illa virtus, per quam homines sunt magis sani, quam per aliquam aliam virtutem, et per quam saepius vineunt appetitus illicitos. Sunt et aliae virtutes, quae appellantur virtutes theologicae et datae sunt per Deum, quae sunt: Fides, spes et Caritas"; vgl. auch Raimundus Lullus, 1987, Liber de virtutibus et vitiis sive ars maior praedicationes, hrsg. v. Fernando Dominguez Reboiras und Abraham Soria Lores (= ROL Bd. 15; CCCM Bd. 76), S. 103-432. 42 De homine, S. 222. 43 Ebd.

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2.4 Liberum arbitrium und Prädestination Intellekt, Wille und Gedächtnis sind, wie gezeigt wurde, keine eigenständigen Entitäten, sie konstituieren vielmehr als Potenzen die Seele des Menschen in ihrer Einheit. Analog verhält es sich mit der Freiheit. Die Freiheitsfunktionen der einzelnen Seelenkräfte sind modi der einen Freiheit des Menschen, des liberum arbitrium. In seiner Definition bringt Raimundus Lullus diesen Sachverhalt unmissverständlich zum

Ausdruck: „Liberum arbitrium est habitus cum quo homo libere agit recollendo, diligendo et intelligendo."44 Die eine Freiheit des Menschen hat also drei Tätigkeitsfelder, die ihrerseits als Wurzelgrund - in quibus radicatur - auf ihr Einheitsprinzip zurückwirken. Der Mensch handelt frei, weil er durch das Gedächtnis alles erwägen und noch einmal überdenken kann, weil der Intellekt in seinem Erkennen frei ist und weil der Wille die Freiheit hat, zu wollen oder nicht zu wollen. In diesem Verständnis gehört das liberum arbitrium untrennbar zum Menschen. Es ist eine von G o t t geschaffene, dem Menschen eingeborene Qualität, ohne die er auf das Niveau des Tieres herabsinken würde. 45 Die Überlegungen über die Freiheit - und diesem Sachverhalt kommt bei Raimundus Lullus zentrale Bedeutung zu - stehen immer im Kontext der Frage, wie der Mensch Verdienste erwerben und dadurch sein ewiges Heil erlangen kann. Aus diesem Ansatz erhebt sich mit innerer Konsequenz das Problem, ob Willensfreiheit und Prädestination, das heißt Vorherbestimmung durch Gott, kompatibel seien:

„Utrum liberum arbitrium et praedestinatio possint in eodem subiecto simul esse?"46 Beim ersten Hinsehen ist man geneigt, in dieser Fragestellung eine unvereinbare Alternative zu sehen, deren Härte zugestanden werden muss, wenn man nicht in sophistische Gedankenspielereien ausweichen will. Man denke nur an den späten Augustinus, welcher jedoch, wie zu zeigen sein wird, Prädestination und Reprobation in einem anderen Sinne versteht als Raimundus Lullus, wenn er durch die Prädestination die Freiheit ausdrücklich ausschließt bzw. sie auf die Freiheit zu sündigen reduziert. Bei Lullus nimmt die Problemstellung jedoch eine unvermutete Wende. Was sich zunächst als Aporie darstellt, wird von ihm in einen notwendigen inneren Kausalzusammenhang gebracht: „In Deo boni44 De praedestinatione et libera arbitno, S. 392. 45 Ebd. S. 393.154; 383. 46 De ascensu, S. 106.

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tas, Veritas et praedestinatio non differunt. Et quia bonitas et Veritas causant liberum arbitrium aequaliter, ergo et praedestinatio aequaliter causat liberum arbitrium."*7 Die Prädestination ist also Grund und Ursache des freien Willens. Wie bereits angedeutet, ist damit der Terminus Prädestination nicht in traditionellem Sinne verwendet. Üblicherweise bedeutet Prädestination den ausdrücklichen Ausschluss der Freiheit und der Möglichkeit, für eine entsprechende Lebensführung belohnt oder bestraft zu werden. Nach diesem Verständnis ist der Mensch sine praevisis meritis gerettet oder verdammt. Die Argumentation des Raimundus Lullus ist schlüssig. Alle Attribute - dignitates - Gottes sind mit Gott selbst identisch und können deshalb auf keinen Fall in Widerspruch zueinander stehen. Gerechtigkeit und Weisheit (diese ist identisch mit dem Vorherwissen und der Prädestination) gehören zu diesen Eigenschaften. Durch das liberum arbitrium hat der Mensch die Möglichkeit, Verdienste zu erwerben, da er nicht aus Determination gut oder schlecht handelt. An diesem Punkt setzt die Gerechtigkeit Gottes an. Sie kann nur realisiert werden, wenn es Freiheit gibt, durch die der Mensch verdienstlich handeln kann: „Meritum est subiectum, in quo iustitia Dei potest agere meritando."48 Würden also die Weisheit Gottes - sapientia sive praedestinatio - die Freiheit des Menschen, das liberum arbitrium, binden, dann wäre dem gerechten Handeln Gottes das Fundament entzogen. 49 Die Gerechtigkeit Gottes richtet also über die Taten der Menschen, ohne dabei durch das Vorherwissen Gottes behindert zu werden, denn die Weisheit kennt die Handlungen, bevor sie vollzogen werden. Dieses Vorherwissen ist ein Wissen mit Gerechtigkeit, cum iusto scire. Das Vorherwissen wäre ungerecht, wenn die Prädestination den Vollzug der Gerechtigkeit behinderte: „Et ideo intellectus intelligit, quod in Deo scire iustum et iudicare iustum convertuntur."50 Damit hat Raimundus Lullus überzeugend dargelegt, dass dann, wenn man das liberum arbitrium eliminiert, der Gerechtigkeit Gottes 47 De praedestinatione

et libero arbitrio, S. 373.13.

48 Ebd. S. 382. 49 De praedestinatione et libero arbitrio, S. 384: „Si voluntas hominis esset ligata et a merito disparata per divinam praedestinationem, divina iustitia non haberet subiectum, in quo possit influere suum actum meritando voluntati humanae, nec voluntas iustitiae regratiaretur, nec misericordiam quaereret; quod est impossibile." 50 De ascensu, S. 107; De praedestinatione et libero arbitrio, S. 383: „Sapientia praecedit sciendo, et iustitiam subsequitur iudicando"; vgl. auch S. 375.33.

Zur Anthropologie des Raimundus Lullus

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die Möglichkeit entzogen wird, realisiert zu werden, das heißt zu urteilen. So schließt sich der Gedankengang. Der Mensch ist von Gott geschaffen und das Ziel des Menschen ist Gott. Der Mensch ist also dazu prädestiniert, dieses Ziel zu erreichen. Die Möglichkeitsbedingung dafür ist die freie Entscheidung, denn Gott kann nur frei geliebt werden. Deshalb ist die Prädestination die Ursache der Freiheit des Menschen.

3. Die Gerechtigkeit Gottes und das Heil der Nichtchristen: eine Aporie Unter Voraussetzung seiner Prinzipien sind die von Raimundus Lullus in streng logischer Argumentation erzielten Ergebnisse einsichtig und überzeugend. Er entwirft eine Anthropologie, die vom Ansatz her durch ihre Dynamik ausgezeichnet ist. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Freiheit. Aufgrund des liberum arbitrium kann der Mensch entscheiden, ob er die Gnade annehmen will oder nicht. Dabei muss sich diese Entscheidung unter Einbeziehung der drei Seelenpotenzen streng an der Wirklichkeit orientieren und auf Gott als das endgültige Ziel des Menschen ausgerichtet sein. Aus diesem Gedankengang müsste man schlussfolgern können, dass Menschen, die der Uberzeugung sind, ihr eigener nichtchristlicher Glaube sei wahr, und die aus diesem Glauben heraus verantwortlich und in bester Absicht handeln, von Gott gerettet werden. Die damit verbundene Problematik wird von Raimundus Lullus nur nebenbei angesprochen. Was das Heil der Ungläubigen betrifft, ist seine Position jedoch eindeutig; sie kann in keinem Fall anders interpretiert werden: Häretiker und Nichtchristen haben keine Heilschance.51 Und darin liegt ein Bruch in seinem Denken. Gegen die innere Logik, auf die er in seinem ganzen Werk so großen Wert legt, und die für sein ganzes Denken charakteristisch ist, setzt er die augustinische Erbsündentheorie, das peccatum originale und die These, außerhalb der Kirche gäbe es kein Heil. Er tut sich selbst sichtlich schwer damit. Er stellt fest, dass die Nichtgläubigen aufgrund ihres falschen Glaubens - ratione suae falsae credentiae - verdammt werden. Als schwachen Trost fügt er je51 Liber contemplationis, S. 169.15: „[...] dat infidelibus infinitas poenas ratione suae falsae credentiae." Zum peccatum originale vgl. ebd. S. 133 f.

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doch seine Überzeugung an, Gott werde den Häretikern und Ungläubigen, wenn sie guter Absicht sind, die Höllenstrafen wenigstens erleichtern.52 Hier zeigt sich die Differenz zwischen dem christlichen Personalismus, der sich an der Wirklichkeit orientiert, und einer insbesondere unter augustinisch-neuplatonischem Einfluss zur Lehre gewordenen objektivierten Glaubenstradition. 53 In seinem Verständnis des Menschen, der sich in der homificatio selbst auf sein Ziel hin realisieren muss, wird von Raimundus Lullus die Entscheidung zum Glauben mit Nachdruck als Akt menschlicher Freiheit herausgearbeitet. Mit der Berufung auf das peccatum originale ist diese personale Sicht verlassen. Von der Sünde Adams, verstanden als Erbsünde, ist die humana natura, der vorpersonale Bereich, betroffen. Danach haben alle Menschen in Adam gesündigt, weil sie einzelne Exemplare der sündigen Art Mensch sind. Durch dieses zutiefst unchristliche Theologumenon von der Erbsünde, das Raimundus Lullus ohne weiter darüber zu reflektieren übernimmt, gerät die Verhältnisbestimmung zwischen der Freiheit des Menschen und der Gerechtigkeit Gottes in eine nicht aufhebbare Aporie. Gleichwohl kann man unter theologiegeschichtlichem Aspekt Raimundus Lullus mit seiner Verankerung der Freiheit des Menschen in der Gerechtigkeit Gottes als einen Beitrag zur Uberwindung der Lehre von einer doppelten Prädestination im negativen Sinne und als einen Schritt in die Richtung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit der in der Gewissensfreiheit gründenden Erklärung über die Religionsfreiheit verstehen.

52 Liber contemplationis, S. 169.17: Iustitia Dei „quae haereticis et infidelibus dat remunerationem, quando habent bonam intentionem opinando suam fidem esse veram, et opera, quae faciunt, Tibi placere; quoniam propter bonam intentionem, quam habent erga Te, eis allevias infernales poenas [...]." Seine Sorge um das Heil der Nichtchristen bringt Raimundus Lullus in folgendem Text zum Ausdruck: ebd. S. 135.23: „[...] rogo Te, ut velis habere multos nuntios, qui portent per omnes terras notitias de ista purificatione et restauratione, quae est facta hominibus ratione tuae incarnationis." 53 Vgl. hierzu Richard Heinzmann, 2002, Metaphysik und Heilsgeschichte. Zur nach der Identität des Christentums, in: Münchener Theologische Zeitschrift, S. 290-307,296-300.

Frage 53,

Wille oder Vernunft? Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus LUDGER HONNEFELDER

Was begründet die moralische Verbindlichkeit unserer konkreten handlungsleitenden Urteile oder Normen? Sind sie das Resultat bloßer, kontingenter Setzung in Form einer nicht mehr weiter aufklärbaren Willensentscheidung der normgebenden Instanz - also nur ,gut, weil geboten' - oder sind sie ,geboten, weil gut', also trotz der Kontingenz ihres Ursprungs in ihrem Gültigkeitsanspruch einsehbar und im Fall des Normenkonflikts mit Gründen abwägbar? Nach welcher praktischen Rationalität aber hat im zweiten Fall eine solche Prüfung und Abwägung zu erfolgen? Die Bedeutung dieser - schon in Piatons Eutyphro erörterten 1 - Frage für eine auf konkrete Handlungsleitung abzielende Ethik ist bekannt. Innerhalb der mittelalterlichen Aneignung und Transformation der von Aristoteles konzipierten Disziplin der Ethik wurde sie vornehmlich am Leitfaden der (auf die stoische Tradition zurückgreifenden) Lehre vom natürlichen Gesetz (lex naturalis), seiner Verbindlichkeit und seiner Tragweite geführt. 2 In der philosophiehistorischen Forschung war der Blick auf die in dieser Debatte entwickelten Lösungen lange Zeit durch unzutreffende Vorannahmen verstellt. Thomas von Aquin galt als Vertreter einer Lehre, die die Ethik unmittelbar in der Metaphysik fundiert sieht, Johannes Duns Scotus als Vertreter einer rein voluntaristischen Begründung der Ethik. Der genauere Blick auf die Texte führte für Thomas inzwischen zu einer grundlegend anderen Einschätzung, die zugleich den Beitrag des thomanischen Ansatzes für die moderne Debatte erken1 Vgl. Plato, Eutyphro lOd; vgl. dazu L. Honnefelder, 1995, Ethik und Theologie. Thesen zu ihrer Verhältnisbestimmung, in: Th. S. Hoffmann/S. Majetschak (Hrsg.), Denken der Individualität. FS J. Simon, Berlin, 297-308. 2 Vgl. den Überblick bei F. Ricken, Art. Naturrecht I, in: TRE Bd. 24, S. 132-153; zu den offenen Fragen in Bezug auf die Lehre des Scotus vgl. ebd. S. 145f.

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nen ließ. 3 Umso mehr interessiert, was der Blick auf die Texte für den Lösungsansatz ergibt, den Johannes Duns Scotus entwickelt hat und zu welcher Einschätzung die Forschung in diesem Fall gekommen ist, folgt doch der scotische Ansatz einer Linie, die sich - unter nicht minder intensiver Auseinandersetzung mit Aristoteles - von der des Thomas in maßgeblichen Annahmen unterscheidet. Um seine Lehre zum natürlichen Gesetz und ihre Bedeutung für die Frage der Rechtfertigung konkreter ethischer Normen verstehen und die kontroverse Einschätzung durch die Interpreten würdigen zu können, ist es erforderlich, zunächst einen Blick auf den von Scotus neu formulierten Begriff des Willens, seine ihm eigene Rationalität und sein Zusammenwirken mit der Vernunft zu werfen (1.-3.), bevor dann die scotische Lehre vom natürlichen Gesetz skizziert (4.-5.) und deren Bedeutung für die Frage der Findung und Rechtfertigung konkreter sittlicher Normen dargestellt werden kann (6.).

1. Der Wille (voluntas) und nicht die Vernunft (intellectus), so lautet die für den scotischen Ansatz maßgebliche These, ist das eigentlich rationale Vermögen. Im Ergebnis folgt diese These der hohen Wertschätzung des Willens in der augustinisch-franziskanischen Tradition, der sich Scotus besonders verpflichtet weiß; doch gewonnen und begründet wird sie ganz und gar im Kontext der aristotelischen Vermögenspsychologie. Denn wenn man mit Aristoteles unter einem rationalen Vermögen - so arbeitet Scotus in Met. IX q. 15 heraus - das Vermögen versteht, das zu Gegensätzlichem fähig ist, dann ist der Wille und nicht die Vernunft als das genuin rationale Vermögen zu betrachten. 4 Bezieht man nämlich die Fähigkeit zum Gegensätzlichen nicht auf das Objekt des Vermögens, sondern auf seine Wirkweise (modus eliciendt), dann kommt es allein dem Willen zu, sich zugleich (simul) auf Gegensätzliches zu beziehen, sei dies in der Weise der Freiheit bei der Bestimmung des Wollens ( l i b e r t a s specificationis), also der Freiheit etwas zu wollen (velle) oder nicht zu 3 Vgl. die zu einer neuen Sicht f ü h r e n d e Untersuchung v o n W. Kluxen, 1 9 6 4 , phische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz ( 2 1 9 8 0 Hamburg).

Philoso-

4 Vgl. Met. I X q. 15, Opera Philos. IV, 6 7 7 - 6 9 9 . - Vgl. dazu ausführlicher H. Möhle, 1995, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung (BGPhThMA, NF.44), Münster, S. 1 5 8 - 1 7 3 .

Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus

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wollen {nolle), oder in der Freiheit bei der Ausübung des Wollens {libertas exercitii), nämlich der Freiheit (in dieser oder jener Weise) zu wollen (velle) oder aber sich des Wollens zu enthalten (non ν eile). Das Vermögen der Vernunft dagegen besitzt eine solche Fähigkeit nicht, da sie - sofern sie sich in einem konkreten Fall betätigt - mit Notwendigkeit dasjenige erkennt, was sich zu erkennen gibt, so wie das Auge, sofern es sich öffnet, notwendigerweise dasjenige sieht, was zu sehen ist. Ein anderes Objekt kann von der Vernunft nur in einem weiteren folgenden Akt, aber nicht zugleich erkannt werden. Folgt man der Unterscheidung zwischen einem Vermögen, das von Natur aus in seinem Tätigwerden auf jeweils Eines festgelegt ist und nennt dies naturhaft (naturalis), und einem Vermögen, das seiner Natur nach die Fähigkeit besitzt, sich gleichzeitig auf die beiden Glieder eines Gegensatzes (und zwar in dem genannten doppelten Sinn) zu beziehen, und nennt dies frei (über), dann ist die Vernunft ein naturhaftes Vermögen und allein der Wille ein freies.5 Begründet wird dieses erstaunliche Resultat mit der von jedermann zu machenden Erfahrung, dass es Kontingenz gibt. Versteht man nämlich Kontingenz (contingentia) als Gegensatz zur Notwendigkeit, nämlich als die Möglichkeit, dass etwas zu dem Zeitpunkt, in dem es eintritt, auch nicht oder anders hätte eintreten können, 6 dann muss dies will man nicht einen unendlichen Regress in Kauf nehmen - letztlich durch etwas verursacht worden sein, das die Fähigkeit besitzt, zum gleichen Zeitpunkt Gegensätzliches (in dem oben genannten doppelten Sinn) verursachen zu können, also einen Willen. Am offenkundigsten wird dies an den Willensakten selbst. Denn wenn wir einräumen, dass der Wille etwas in dieser kontingenten Weise will („voluntas contingenter producit") und Kontingentes nicht aus Notwendigem hervorgehen kann, dann muss der Wille die genannte Fähigkeit besitzen, sich aus sich selbst zu Gegensätzlichem bestimmen zu können. Auf die Frage, warum der Wille will, kann also keine andere Antwort gegeben werden als die, dass der Wille eben dieses Vermögen ursprünglicher, aus nichts anderem ableitbarer Selbstbestimmung ist. Da die Vernunft nicht in der Lage ist, sich selbst zu bestimmen, sondern ihrer Natur nach vom erkannten Gegenstand bestimmt wird, kann sie auch nichts nach außen

5 Vgl. Met. I X q. 15 nn.2-22, Opera Philos. IV 677-681. 6 Vgl. Ord. I d. 2 p. 1 q. 1-2, ed. Vat. II 178; vgl. dazu ausführlicher L. Honnefelder, 1995, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung von Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Scotus - Suarez - Wolff - Kant Peirce), Hamburg, S. 56-108.

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Ludger Honnefelder

hin bewirken. Allein der sich selbst bestimmende Wille ist das aktive und praktische, d.h. unsere Handlungen leitende Vermögen.7 Sich selbst zu bestimmen, so setzt Scotus seine Analyse in Met. IX q. 15 fort, setzt seitens des Willens eine ihm aus sich eigene Unbestimmtheit (indeterminatio ex se) voraus, und zwar nicht nur hinsichtlich der libertas specificationis, sondern auch hinsichtlich der libertas exercitii, also der Freiheit zu wollen oder nicht zu wollen. Eine solche Unbestimmtheit kann aber nicht - wie im Fall der Unbestimmtheit der Materie - als Unbestimmtheit des Mangels (indeterminatio insufficientiae) verstanden werden; denn eine solche Unbestimmtheit kann immer nur durch etwas anderes, nicht aber durch sich selbst in eine Bestimmtheit übergeführt werden. Die für den Willen anzunehmende Unbestimmtheit muss also, um sich selbst in Bestimmtheit überführen zu können, als eine Unbestimmtheit unbegrenzter Aktualität (indeterminatio ex illimitatione actualitatis) verstanden werden.8

2. Diese Bestimmung des Willens bei der Leitung unseres Handelns scheint aber nicht nur auf einen gewissen Vorrang des Willens vor der Vernunft, sondern auf eine allein ausschlaggebende Rolle des Willens im Sinn jenes extremen Voluntarismus hinaus zu laufen, wie er vor allem von der älteren Scotusforschung, vereinzelt aber auch in der gegenwärtigen Forschung, Scotus zugeschrieben wird.9 Denn wenn der Wille 7 Vgl. Met. I X q. 15 n n . 2 4 - 3 0 , Opera Philos. 6 8 1 - 6 8 3 ; vgl. dazu ausführlicher L. H o n nefelder, 1991, Die Kritik des Johannes Duns Scotus am kosmologischen Nezessitarismus der Araber: Ansätze zu einem neuen Freiheitsbegriff, in: J. Fried (Hrsg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und "Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen, S. 2 4 9 - 2 6 3 . 8 Vgl. Met. I X q. 15 nn. 31-35, Opera Philos. IV 683 f.; vgl. auch Lect. I d. 39 q. 1-5 nn. 3 9 - 4 0 , ed. Vat. X V I I 491 f. 9 Zur Forschungsgeschichte vgl. L. Honnefelder, 1996, Metaphysik und Ethik bei Johannes Duns Scotus: Forschungsergebnisse und -perspektiven. Eine Einführung, in: L. Honnefelder/R. W o o d / M . Dreyer (Hrsg.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics, Leiden, S. 1-33, 2 4 - 3 0 (Lit.). - Zur volutaristischen Interpretation der scotischen Lehre innerhalb der neueren Diskussion vgl. Th. Williams, 1998 a, The Unmitigated Scotus, in: Arch. Gesch.Philos. 80, S. 1 6 2 - 1 8 1 ; ders., 1998 b, The Libertarian Foundations of Scotus's Moral Philosophy, in: Thomist 62, S. 1 9 3 - 2 1 5 ; dazu kritisch: R. Cross, 1999, Duns Scotus, N e w Y o r k / O x f o r d , S. 9 0 - 9 5 , 188-192; M . E . Ingham, 2001, Letting Scotus Speak Himself, in: Med.Philos.Theol. 10, S. 1 7 3 - 2 1 6 .

Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus

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das Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung ist und es auf die Frage, warum der Wille in der Weise will, in der er will, keine andere Antwort gibt als die, dass der Wille eben Wille ist und in dieser Weise will, weil er so will 10 , dann scheint die Konsequenz unvermeidlich, dass kontingente Normen nur deshalb Gültigkeit besitzen, weil der N o r m geber sie so gewollt hat, wie er sie gewollt hat. Eben diese Konsequenz scheint Scotus selbst zu ziehen, wenn er in Ord. III d. 19 n. 7 feststellt, „dass alles von Gott Verschiedene nur deshalb gut ist, weil es von Gott so gewollt ist, nicht aber umgekehrt (aliud a deo ideo est bonurn quia a deo volition et non econverso)" Das richtige Verständnis dieser Feststellung ergibt sich jedoch erst, wenn man der von Scotus verfolgten formalen Betrachtung der Natur folgt, wie sie dem Willen als Willen eigen ist: Soll nämlich die Weise, in der der Wille das Gute will, weder naturnotwendig noch zufällig, sondern allein in der Weise erfolgen, die dem Willen als einem rationalen Vermögen der Seele seiner Natur nach eigen ist, nämlich in der Weise, sich aus sich selbst - und damit frei - zu Gegensätzlichem entscheiden zu können, dann muss die höchste Form der Freiheit in Form der Selbstbestimmung darin bestehen, sich durch nichts anderes bestimmen zu lassen als durch das Gute als solches. In diesem Sinn greift Scotus die von Anselm von Canterbury im Anschluss an Augustinus getroffene Unterscheidung auf, die dem menschlichen Willen eine doppelte Neigung zuordnet: Zum einen neigt der Wille zu dem Guten, das in der Vervollkommnung der Natur des Handelnden liegt, was mit Anselm als „Hinneigung zum Angenehmen" ( a f f e c t i o commodi) beschrieben werden kann; zum anderen aber neigt er zu dem, was in sich und unabhängig von der mit der Natur des Handelnden verbundenen Neigungen gut ist, was als „Hinneigung zum Gerechten" ( a f f e c t i o iustitiae) beschrieben werden kann. 12 Insofern die Neigung zur Selbstvervollkommnung zur Natur des Menschen gehört, stellt die Realisierung der affectio commodi ein natürliches Wollen dar; in einem Text aus Rep. II d. 6 q.2 n.9 wird sie eine generische Vervollkommnung des Menschen genannt. 13 Der für sich betrachteten Natur des Willens als Wille (voluntas unde voluntas) entspricht jedoch die Wirkweise der affectio iusti-

10 Vgl. Ord. I d.8 p.2 q.un. n.299, ed. Vat. IV 94. 11 Ord. III d. 19 q. 1 n.7, ed. Viv. XIV 718f. 12 Vgl. Ord. II d. 6 q. 2, in: Α. B. Wolter (Hrsg.), 1986, Duns Scotus on mil and Morality, Washington D . C . , S. 462-476. 13 Vgl. Rep. II d.6 q.2 n.9, ed. Viv. XXII 621.

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tiae, d. h. der freien Bindung an das in sich Gute. 14 Sie ist die dem Willen „angeborene Freiheit" (libertas innata),x5 so dass Scotus von der Liebe (iCaritas) sagen kann, sie sei diejenige Tugend, „die den Willen vervollkommnet, sofern ihm die affectio iustitiae eigen ist". 16 Dies bedeutet nicht, dass das natürliche Wollen des eigenen Gelingens in Form der affectio commodi für den Menschen nicht ein Wollen des Guten darstellt. Doch besteht das eigentliche Wollen, nämlich dasjenige, das der Natur des Menschen als eines rationalen und sich frei bestimmenden Wesens entspricht, in der affectio iustitiae, also im Wollen des intrinsisch Guten, so dass es der Einordnung der affectio commodi durch die affectio iustitiae als moderatrix bedarf. 17 Ist es aber gerade die dem Willen als einem rationalen Vermögen eigene Fähigkeit der Selbstbestimmung, die den Willen dazu führt, sich selbst zu dem in sich Guten zu bestimmen, dann muss die affectio iustitiae im Sinn dieser Selbstbestimmung zu dem in sich Guten ihrerseits als Selbstvervollkommnung des Willens und die höchste Gestalt der affectio iustitiae in Form der Liebe als die dem Menschen gemäße Weise der Glückseligkeit gedacht werden. Ihre Realisierung erfährt die Freiheit der Selbstbestimmung dabei nicht bereits in der Wahl zwischen velle und nolle. Denn es widerspricht nach Scotus dem natürlichen Wollen des Willens anzunehmen, die eigene Vervollkommnung könne vom Willen nicht gewollt sein, d. h. Gegenstand des nolle sein. Wohl aber kann sich der Wille auch des Wollens der eigenen Vervollkommnung enthalten. Es ist die libertas exercitii als eine sich gleichermaßen auf velle wie nolle erstreckende Freiheit zweiter Stufe, die die eigentliche Freiheit des Willens begründet. Denn durch sie kann der Wille wollen, dass er etwas will (vult se velle illud) oder nicht;18 er kann sich selbst am Maß des eigentlichen Wollens, nämlich an der Regel der Gerechtigkeit (regula iustitiae) ausrichten19 und wird so gleichsam für sich selbst zur Regel. So kann vom Willen gesagt werden, dass er frei ist, weil er ein Vermögen ist, das sich in einem actus reflexus zu sich selbst zu verhalten vermag; 20 es ist dieses 14 Vgl. Ord. II d . 6 q . 2 , in: Wolter, 1986, S. 466 ff. 15 Ebd. 468. 16 Ord. III d. 27, in: Wolter, 1986, S.426. 17 Ord. II d. 6 q. 2, in: Wolter, 1986, S. 462-476; 468. 18 Vgl. Ord. IV d. 49 qq. 9-10 nn. 5-10, ed. Viv. X X I 332f. 19 Vgl. Ord. II d.6 q.2, in: Wolter, 1986, S . 4 7 0 - 4 7 6 ; vgl. auch Quodl. q. 18 n.4, ed. Alluntis 635. 20 Vgl. Ord. I d. 47 n.9, ed. Vat. VI 384; vgl. dazu auch Möhle, 1995, S. 206-212.

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reflexive Selbstverhältnis des Willens, das die moralische Verantwortlichkeit des Menschen begründet.

3. Wie aber kann sich der Wille als rationales Vermögen auf das Gute als solches beziehen? Wenn es zutrifft, dass es die Natur des Willens als Wille ist, sich aus sich selbst zum Guten zu bestimmen, dann ist es für Scotus unvermeidlich, dass der Wille der Vernunft bedarf, die ihm dieses Gute zeigt. Für die Bestimmung der praktischen Rationalität kommt es folglich darauf an, in welcher Weise Wille und Vernunft zusammenwirken. Ausführlich wird dieses Zusammenwirken von Scotus in seiner ersten Oxforder Kommentierung der Sentenzen in Lect. II d. 252x untersucht, und zwar in einer Weise, deren entscheidende Pointe auch dann als die maßgebliche Position des Scotus festgehalten werden kann und muss, wenn man in der Behandlung des Themas in der Nachschrift der Pariser Sentenzenkommentierung eine zu späterer Zeit vorgenommene Veränderung der Akzentsetzung am Werk sieht.22 In Lect. II d. 25 grenzt Scotus seine Lösung gegen zwei Extreme ab, nämlich gegen die von Thomas von Aquin, Gottfried von Fontaines und anderen vertretene Position, die dem erkannten Gegenstand bzw. seiner Erkenntnis durch die Vernunft die maßgebliche Rolle zuweist, und gegen die Position Heinrichs von Gent, der allein im Willen die Wirkursache der Willenshandlung sieht und den erkannten Gegenstand nur als eine causa ,sine qua non' in Rechnung stellt.23 Es ist nach Scotus gerade die dem Willen eigene Rationalität, die es erfordert, dass jedem Willensakt ein Erkenntnisakt voraufgeht und dieser Akt mehr ist als eine causa sine qua non. Der extreme Voluntarismus, den Heinrich vertritt und den die Interpreten so oft Scotus zugewiesen haben, muss deshalb nach Scotus abgewiesen werden zugunsten eines Zusammenwirkens von Wille und Vernunft im Sinn zweier je für sich 21 Vgl. Lect. II d . 2 5 q.un. nn. 1-99, ed. Vat. X I X , 2 2 9 - 2 6 3 . 22 Zur wechselvollen und das Bild des scotischen Voluntarismus signifikant bestimmenden Interpretation der Texte vgl. Honnefelder, 1996, S. 25; Möhle, 1995, S. 1 7 4 - 1 7 8 , sowie neuerlich St. Dumont, 2001, Did Duns Scotus Change His Mind on the Will?, in: J. Aertsen u. a. (Hrsg.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte (Mise. Med. 28), Berlin, S. 7 1 9 - 7 9 4 . 23 Vgl. Lect. II d. 25 q. un. nn. 2 2 - 6 8 , ed. Vat. X I X 2 3 4 - 2 5 2 .

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wirkender, aber in der Hervorbringung des Aktes „zusammenlaufender" Teilursachen - ein Modell, wie es Scotus auch für das Zusammenwirken des Intellekts mit dem in der Species repräsentierten Gegenstand annimmt.24 Eine solche konkurrierende Teilursächlichkeit macht kein Einwirken des einen Vermögens auf das andere erforderlich, sondern belässt j eder der Teilursachen die ihr eigene Wirkweise. So bestimmt sich der Wille aus sich selbst zu dem Akt, der sich auf das Gute bezieht, das der Intellekt ihm zeigt. Da seine Freiheit in der doppelten Form der libertas specificationis und der libertas exercitii erhalten bleibt, und es nicht der (nach außen nichts bewegende) Akt des Intellekts, sondern der Akt des Willens ist, der die Handlung verursacht, ist der Wille im Zusammenspiel durchaus - wie Scotus feststellt - die causa principalior.25 Die Vernunft wird also nicht wie bei Aristoteles - und ihm folgend Thomas von Aquin - dadurch praktisch, dass sie das naturhaft vorgegebene Streben und sein Ziel auf die konkrete Handlung hin bestimmt und so das Handeln in Gang setzt. Vielmehr ist es der Wille, der sich entscheidet, das von der Vernunft gezeigte Gute zu wollen oder sich des Wollens zu enthalten. An die Stelle des natürlichen Strebens tritt das freie Wollen eines als rationales Vermögen gedachten Willens, an die Stelle des als gut vorausgesetzten Strebensziels das von der Vernunft dem Willen gezeigte und als gut beurteilte Objekt. Deutlicher noch wird dies in der Weise, in der Scotus die Kriterien herausarbeitet, die einer dem Wollenden zurechenbaren Willenshand24 Vgl. Lect. II d. 25 q. un nn. 69-99, ed. Vat. X I X 253-263; vgl. dazu Möhle, 1995, S. 174-212. 25 Vgl. Lea. II d. 25 q. un. n. 73, ed. Vat. X I X 254. - Entgegen der in der Editio Vaticana vertretenen Auffassung (Ed. Vat. X I X , Prolegomena), der gemäß die in Lea. II d. 25 q. un. sich findende Auffassung die definitive Lehre des Scotus ist, geht Dumont (2001) davon aus, dass Scotus in der Nachschrift der später anzusetzenden Pariser Sentenzenkommentierung (Rep. Par. II d. 25 q. un., in: Ed. Viv.XXIII 117-129) in Verteidigung der in Paris vom Ordensgeneral Gonsalvus Hispanus besonders betonten franziskanischen Tradition nicht - wie in der Oxforder Kommentierung - dem vom Intellekt erkannten Objekt die Rolle einer Teilursache zumisst, sondern nur die einer dem Akt des Willens voraufgehenden Wirkung. Da Scotus bereits in der Oxforder Kommentierung betont, dass es ausschließlich der Wille als Wille ist, dem die besondere Kausalität für sein Handeln zukommt (weshalb er ihn auch als das agens principale bzw. die causa principalior der Willenshandlung bezeichnet), und in der Pariser Kommentierung an der Notwendigkeit der dem Willen voraufgehenden Erkenntnis des Objekts festhält, lässt die Pariser Behandlung des Themas - wenn man der Interpretation der Uberlieferung von Dumont folgt - zwar eine veränderte Akzentuierung der Thematik erkennen, nicht aber - wie etwa W. Hoeres (1962, Der Wille als reine Vollkommenheit nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, München) noch meinte - einen Wechsel der Grundposition.

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lung den Charakter des zu Wollenden, d. h. der moralischen Gutheit verleiht. Nach dem Gesagten leuchtet ein, dass - wie Scotus in Ord. II d. 7 ausführt - nur eine solche Willenshandlung moralisch gut genannt werden kann, die mit dem voraufgehenden Urteil der Vernunft übereinstimmt, in der dem Willen das moralisch Gute gezeigt wird.26 Unterscheidet man nun mit Scotus zwischen einer moralischen Gutheit gemäß der Gattung, gemäß den Umständen und gemäß dem Verdienst (bonitas ex genere - bonitas ex circumstantiis - bonitas ex acceptatione divina in ordine ad praemium), dann kann im Urteil der Vernunft nur eine Willenshandlung (volitio) generisch gut sein, deren Gegenstand (obiectum) von der richtig urteilenden Vernunft (recta ratio) als angemessen (conveniens) beurteilt und dem Willen vorgeschrieben (dictamen) wird.27 Doch erst der Bezug der Willenshandlung auf die angemessenen Umstände gibt ihr die spezifische moralische Gutheit. Da zu diesen Umständen auch Ziel und Absicht (intentio) gehören, verleiht erst der Bezug auf die Umstände der Erkenntnis ihren praktischen Charakter. Die dritte Weise der moralischen Gutheit kommt einer Willenshandlung dadurch zu, dass sie nicht nur im spezifischen Sinn moralisch gut ist, sondern auch aus einem expliziten Akt der Liebe zu Gott stammt und deshalb von Gott als verdienstlich betrachtet wird. Ein solcher Akt steht freilich nicht in der natürlichen Macht des Menschen, sondern wird von Gott gnadenhaft, d. h. ungeschuldet geschenkt. Die moralische Gutheit einer Handlung ist also nach dem Gesagten nicht eine absolute Qualität, sondern wie die aus Größe, Figur und Farbe sich ergebende Schönheit (pulchritudo) eine Verbindung (aggregatio) aller relevanten Aspekte wie Vermögen, Gegenstand, Ziel, Zeit, Ort und Modus28 oder - wie es an anderer Stelle heißt - „die Gesamtheit (integritas) von all dem, von dem die rechte Vernunft des Handelnden urteilt, dass es der Handlung selbst und dem Handelnden selbst in seiner Handlung zukommen muss"29. Dabei genügt es nicht, dass das Objekt und die Umstände der Handlung angemessen sind, ihre Angemessenheit muss auch als Gegenstand eines entsprechenden Urteils erfasst sein.30 Dezidiert stellt Scotus fest: 26 Vgl. Ord. II d.7, in: Wolter, 1986, S. 218-224. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Ord. I d. 17 p. 1 q. 1-2 nn. 62-67, ed. Vat.V 163-169. 29 Quodl. q. 18 n. 3, ed. Alluntis 632: Bonitas moralis actus est integritas eorum omnium, quae recta ratio operantis iudicat debere ipsi actui convenire vel ipsi agenti in suo actu convenire. 30 Vgl. Ord. II d. 7 η. 11, in: Wolter, 1986, S. 220.

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Ludger Honnefelder „Jedes Urteil muss v o n etwas Sicherem ausgehen. Das erste Urteil über die Angemessenheit (der Willenshandlung) kann daher nicht eine von einem anderen Intellekt beurteilte Angemessenheit voraussetzen, da sie dann nicht ein Erstes wäre. Vielmehr wird ein Sicheres vorausgesetzt, das nicht auf dem Urteil eines anderen Intellekts beruht, und das ist die N a t u r des Handelnden (natura agentis), das Vermögen, gemäß dem er handelt, (potentia secundum quam agit) und die washeitliche Bestimmung des Aktes (ratio quiditativa actus)."31

Eine Handlung ist also moralisch gut, nicht weil sie die menschliche Natur und das ihr eigene natürliche Streben vervollkommnet, sondern weil sie das Kriterium der Übereinstimmung (convenientia; conformitas) erfüllt, nämlich dem Menschen als einem freiwollenden und sich als solches durch Vernunft bestimmenden Wesen entspricht, und aus einem Urteil hervorgeht, das die Ubereinstimmung der Handlung gemäß dem Objekt und den Umständen mit dem Guten beurteilt, das der Wille in Form der affectio iustitiae will. Soll nämlich diese Freiheit der Selbstbestimmung realisiert werden, darf sich der Wille nicht an das natürliche Streben und seine Ziele halten, sondern allein an die dem Wollen und Erkennen voraufgehende Objektivität des Wollensgegenstandes und der -umstände. Freilich stellt die Handlung, deren Aktnatur dem Kriterium der convenientia entspricht und als solche erkannt und gewollt wird, in obliquo auch eine Erfüllung der Natur des Akteurs dar.32

4. Was aus der skizzierten scotischen Lehre vom Willen, seinem Zusammenwirken mit dem Intellekt und der moralischen Gutheit der vom Willen initiierten Handlungen für das Problem der Begründung konkreter Handlungsnormen folgt, lässt sich aus der scotischen Lehre vom natürlichen Gesetz (lex naturalis) entnehmen, die zwar eine strenge Systematik aufweist, freilich nur in Umrissen von Scotus behandelt worden ist, und dies vor allem im Zusammenhang der durch das Alte 31 Quodl. q. 18 n. 5, ed. Alluntis 636: Omne iudicium incipit ab aliquo certo. Primum iudicium de convenientia non potest praesupponere aliquam convenientiam dictatam ab alio intellectu, quia tunc non esset primum. Praesupponitur igitur aliquod certum et non ab alio intellectu iudicatum, et huiusmodi est natura agentis et potentia secundum quam agit et ratio quiditativa actus. 32 Vgl. Ord. III d. 17, in: Wolter, 1986, S. 182.

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Testament aufgeworfenen Frage, wieso Gott - wie etwa bei dem Befehl zur Tötung Isaaks - von gültigen Normen dispensieren konnte. Geht man nämlich davon aus, dass das Wollen in seiner höchsten Form Liebe zu einem Gegenstand um seiner selbst willen ist, dann muss nach Scotus gemäß dem Prinzip, dass das zuhöchst Gute auch zuhöchst geliebt werden muss (optimum esse summum diligendum)33, ein Gebot vorweg zu allen anderen gelten, dass nämlich der Gegenstand, der zuhöchst liebenswert, weil ohne Grenzen gut ist, auch entsprechend zu lieben ist: Si est Deus, est amandus ut Dens solus.34 Prohibitiv gesagt: Gotteshass ist in sich böse. Da dieses Gebot eine „praktische Wahrheit" ist, die aus den Begriffen selbst hervorgeht, gehört sie nach Scotus zum natürlichen Recht bzw. natürlichen Gesetz, wobei Scotus unter dem natürlichen Gesetz diejenigen praktischen Wahrheiten versteht, die von jedermann unmittelbar als verbindlich erkannt werden.35 Es ist also gerade der Ausgang vom Wollen als einer freien Selbstbestimmung, der Scotus dazu führt, das natürliche Gesetz nicht - wie Bonaventura und Heinrich von Gent - als Inhalt eines Habitus des Willensvermögens zu verstehen, sondern in ihm - in Parallelität zum ersten Prinzip der theoretischen Vernunft - ein oberstes selbstevidentes Prinzip der praktischen Erkenntnis zu erblicken, das in Form der synderesis als habitueller Besitz der Vernunft und nicht dem Willen zuzuordnen ist.36 Mehr noch: Da das Wollen seine moralische Verbindlichkeit aus der Ubereinstimmung mit der recta ratio gewinnt und deren rectitudo aus der Übereinstimmung mit dem Gegenstand und den Umständen stammt, sofern sie als solche unabhängig von allen naturalen Strebenszielen vorgegeben sind, muss das handlungsleitende Wissen in dem Maß verbindlich sein, in dem es ein „praktisches Wissen" (scientia practica) im strengen Sinn von scientia ist, d. h. insofern es unmittelbar oder mittelbar evident ist.37 Als eine Selbstbestimmung, deren Freiheit sich in der affectio iustitiae, d. h. der strikten Selbstbindung an den Gegenstand manifestiert, 33 Ord. III d . 2 7 , in: Wolter, 1986, S.424. 34 Scotus, Ord. III d . 3 7 q.un., in: Wolter, 1986, S. 2 6 8 - 2 8 6 , 2 7 6 , 2 7 8 ; vgl. dazu L. H o n nefelder, 1990, Naturrecht und Geschichte. Historisch-systematische Überlegungen zum mittelalterlichen Naturrechtsdenken, in: M. Heimbach-Steins (Hrsg.), Naturrecht im ethischen Diskurs, Münster, S. 1-27, 1 6 - 2 3 ; neuerlich H . Möhle, 2003, Scotus's Theory of Natural Law, in: Th. Williams (ed.), The Cambridge Companion to Duns Scotus, Cambridge, S. 3 1 2 - 3 3 1 . 35 Vgl. Ord. IV d . 4 6 , q. 1, in: Wolter, 1986, S . 2 3 8 - 2 5 4 , 240. 36 Vgl. Ord. II d . 3 9 , in: Wolter, 1986, S. 1 9 6 - 2 0 4 . 37 Zur Lehre von der scientia practica vgl. ausführlicher Möhle, 1995, S. 13-157.

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kann nun das Wollen nur auf einen einzigen Gegenstand notwendig bezogen sein, nämlich auf das eine unendlich Seiende als das unendlich Gute; allen endlichen Gegenständen gegenüber besteht eine solche strikte Notwendigkeit nicht. 38 Dies gilt zuvorderst für Gott selbst. Denn Scotus geht davon aus, dass der in seiner Wirkweise der Freiheit beschriebene Wille als eine reine Vollkommenheit ( p e r f e c t i o simpliciter) aufzufassen ist und als solche Gott zukommen muss. Deshalb muss von einem frei wollenden und zugleich unendlichen Wesen angenommen werden, dass es frei und zugleich notwendig nur seine eigene unbegrenzte Wesenheit liebt, alles andere {ad extra) dagegen frei und kontingent. 39 Freilich läuft dieses kontingente Wollen ad extra nicht auf Willkür hinaus. Deutlich wird dies bereits auf der Ebene der Schöpfung. Denn dem kontingenten Wollen geht in Gott ein notwendiges Erkennen des in sich Möglichen voraus, so dass für dasjenige, was er in kontingenter Weise will und erschafft, angenommen werden muss, dass es seiner inneren Möglichkeit nach notwendig ist, seiner aktuellen Existenz nach dagegen kontingent. 40 Denn für das von Gott erkannte Mögliche nimmt Scotus an, dass es sein esse intelligibile zwar seinem Ursprung nach durch den göttlichen Verstand (principiative per intellectum divinum) als gleichsam erstes äußeres Prinzip ( p r i m u m extrinsecum principium) besitzt, sein Möglichsein dagegen formal aus sich ( f o r m a l i t e r ex se)41, so dass Scotus auf die Frage, warum etwas möglich und existenzfähig ist, nur antworten kann, „weil dieses dieses ist und jenes jenes und dies für jedweden erkennenden Verstand" {quia hoc est hoc et illud illud, et hoc quocumque intellectu concipiente).42 Dass Gott jedoch im Blick auf das von ihm erkannte Mögliche dieses in die aktuelle Existenz zu überführende Mögliche will und nicht anderes, hat seinen Grund allein darin, dass er es will, wobei eine Grenze dieses Wollens nur im Nichtwiderspruchssatz liegt. Denn auch Gott kann, wenn er die Möglichkeit Α gewählt hat, nicht gleichzeitig eine andere, damit nicht kompatible Möglichkeit Β wählen.43 Hat sich aber der Wille einmal kontingent zu der Wahl bestimmter Verbindungen von in sich Möglichem und Wollbarem ent38 Vgl. Ord. III d.37 q.un., in: Wolter, 1986, S. 268-286. 39 Vgl. Ord. I d.45 q.un. nn.4-5, ed. Vat. VI 372; Ord. I d.2 p.2 q. 1-4 n.352, ed. Vat. II 335. Vgl. dazu und zum Folgenden Honnefelder, 1995, S. 82-100. 40 Vgl. Ord. I d. 3 p . 2 q.un. nn. 310-326, ed. Vat. III 188-197; Ord. I d. 36 q.un. nn. 13-66, ed. Vat. VI 276-298. 41 Vgl. Ord. I d. 43 q. un. nn. 6-7, ed. Vat. VI 354. 42 Vgl. Ord. I d. 36 q. un. n. 60, ed. Vat VI 296. 43 Vgl. dazu ausführlicher Honnefelder, 1995, S. 74-100.

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schlossen, sind andere Verbindungen nicht mehr möglich, nicht weil sie als solche nicht möglich sind, sondern weil sie mit dem einmal gewählten Ensemble nicht verträglich sind. 44 Deshalb kann Scotus dem (in der Verurteilung von 1277 inkriminierten) Nezessitarismus der griechisch-arabischen philosophi widersprechen und - wie bereits erwähnt - feststellen, dass „alles von Gott Verschiedene nur deshalb gut ist, weil es von Gott so gewollt ist, nicht aber gilt umgekehrt, dass es von Gott gebilligt wird, weil es gut ist". 45 Doch wie sein Kommentator Lychetus vermerkt, 46 gilt dies für das kontingent erschaffene Ensemble hinsichtlich seiner aktuellen Existenz, nicht hinsichtlich seiner inneren Möglichkeit. Dem entspricht die Lehre des Scotus bezüglich der Äußerung eines Willens gemäß seinem absoluten Vermögen {de potentia absoluta) und gemäß seinem geordneten Vermögen {depotentia ordinata). Seinem absoluten Vermögen nach bezieht sich Gottes Wille auf alles Mögliche und hat seine Grenze allein im Nichtwiderspruchsprinzip; seinem geordneten Vermögen nach will er eine bestimmte Ordnung, die zum Gesetz wird, weil er sie will. Doch will er in der beschriebenen kontingenten Weise stets eine allgemeine Ordnung {ordo universalis), so dass der Befehl zur Tötung Isaaks nicht als Dispensierung von einer einzelnen Vorschrift innerhalb der gegebenen Ordnung (die die Tötung Unschuldiger verbietet) verstanden werden kann (da dies widersprüchlich wäre), sondern nur als die de potentia absoluta mögliche Verfügung einer anderen Ordnung, in der die befohlene Handlung ohne Widerspruch rechtens wäre. 47 Dabei ist zu beachten, dass der Begriff des ordinate agere eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen meint es ein Wollen und Handeln in Form einer so und nicht anders verfügten ordinatio. Zum andern meint es ein geordnetes Handeln bezüglich des Zusammenhangs der Elemente, die zu dieser ordinatio gehören. Denn unmissverständlich stellt Scotus fest, dass Gott ein „rationabilissime volens" 48 ist und stimmt Augustins Diktum zu, dass Gott, was immer er hervorgebracht hat, mit „recta ratio" hervorgebracht hat. 49 Gottes Wille will die Sekundärob44 Vgl. Lect. I d. 39 q. 1-5 n.72, ed. Vat. XVII 503 f.; vgl. dazu Honnefelder, 1995, S.98. 45 Vgl. A n m . l l . 46 Vgl. den Kommentar des Lychetus zu Ord. III d. 19 n. 7, ed. Viv. XIV 720; vgl. dazu Möhle, 1995, S.316. 47 Vgl. Ord. I d.44 q.un. nn. 1-14, ed. Vat. VI 363-369. 48 Vgl. Ord. III d. 32 q. un. n. 6, ed. Viv. X V 433. 49 Vgl. Rep. I A I V d.44 q.2, in: J. Söder, 1999, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von denfutura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster (BGPhThMA, NF. 49), S. 270; vgl. auch Anm. 47.

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jekte seines Wollens nicht naturhaft-notwendig, sondern frei-kontingent; doch weil dies in einem Akt der Selbstbestimmung geschieht, ist die Willenshandlung Gottes „von jener ersten Gerechtigkeit bestimmt, insofern er mit dem Willen übereinstimmt, dem er angemessen ist, so als wäre die handlungsleitende Rechtheit die erste Gerechtigkeit selbst."50 Deshalb kann das von Gott bewirkte Zusammenstimmen der Geschöpfe gerecht genannt werden, insofern die geschaffene Natur (so wie sie von Gott geschaffen ist) dieses Zusammenstimmen fordert. 51

5. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, wie Scotus Naturrecht, Dekalog und positives Recht versteht. Als scientia practica im oben dargelegten strengen Sinn verstanden umfasst die lex naturalis nur das erste durch sich einleuchtende Prinzip der praktischen Vernunft „Deus est diligendus" und die daraus logisch ableitbaren, also analytisch wahren Schlussfolgerungen wie die in den ersten beiden Geboten des Dekalogs ausgesprochenen Verbote.52 Ob das dritte Gebot des Dekalogs zum Naturrecht in diesem strikten Sinn gehört, ist nach Scotus zweifelhaft, da aus dem Prinzip der Gottesliebe semper et pro semper nur das Verbot des Gotteshasses, nicht aber eine positive Pflicht der Verehrung, erst recht nicht für bestimmte Zeiten, abgeleitet werden kann, Verpflichtungen aber immer einen bestimmten Inhalt haben müssen.53 Die übrigen Gebote des Dekalogs fallen nicht unter die durch sich bekannten Prinzipien und ihre deduzierbaren Implikate. Sie gehören aber in einem weiteren Sinn zur lex naturalis, weil „sie etwas praktisch Wahres sind, das von allen unmittelbar als ein solches erkannt wird, das mit den Prinzipien und Schlussfolgerungen des Naturgesetzes zusammenstimmt" (quod verum practicum consonum principiis et conclusionihus legis naturae in tantum quod statium notum est omnibus illud convenire tali legi).54 Alles andere fällt unter die positiven göttlichen oder menschlichen Gesetze. 50 Ord. IV d.46, in: Wolter, 1986, S.248; vgl. auch Ord. III d.32 q.un. n.6, ed. Viv. XV 432 ff. 51 Vgl. Ord. IV d.46, in: Wolter, 1986, S.248. 52 Vgl. ebd., in: Wolter, 1986, S. 238 ff. 53 Vgl. Ord. III d.37 q.un., in: Wolter, 1986, S.276ff. 54 Ord. IV d. 17 q.un., in: Wolter, 1986, S.262.

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Wie der Ausdruck „consonum" zeigt, besitzen die Gebote des erweiterten Naturrechts ihre Geltung, sofern sie mit dem ersten praktischen Prinzip des strikten Naturrechts übereinstimmen. Doch ist diese Geltung nicht streng notwendig; denn das, was sie gebieten, enthält keine für die Gutheit des letzten Zieles im strengen Sinn notwendig erforderliche Gutheit, und das, was sie verbieten, keine vom letzten Ziel notwendig abhaltende Bosheit.55 Der Versuch, sie als solche zu erweisen, würde der Kontingenz des göttlichen Wollens in Bezug auf die zum letzten Ziel führenden Mittel widersprechen. Doch sind die Gebote des erweiterten Naturrechts auch nicht bloß positive Setzungen. Denn positive Gebote sind allein deshalb gut, weil sie von Gott geboten sind, die Gebote des Dekalogs, und zwar auch die der zweiten Tafel, sind dagegen - wie die zitierten Texte deutlich werden lassen - von Gott geboten, weil sie in sich mit dem ersten Prinzip in hohem Maß zusammenstimmen (valde consonant).56 So kann Scotus einerseits auf die Frage nach dem Geltungsgrund dieser Gebote auf den Willen Gottes in Form der potentia ordinata verweisen,57 zugleich aber feststellen, dass die Gebote des erweiterten Naturrechts im Prinzip unabhängig vom jeweiligen Status von allen Menschen ohne Zuhilfenahme von Offenbarung erkannt werden können. Dementsprechend heißt es in Rep. II d. 22 q. 1, dass „alle schuldhaften Taten, die formal unter die zehn Gebote fallen, nicht nur deshalb böse sind, weil sie verboten sind, sondern dass sie verboten sind, weil sie böse sind; denn das, was ihnen widerspricht, ist dem Naturrecht nach böse, und (schon) durch seine natürliche Vernunft kann der Mensch erkennen, dass jedes der (zehn) Gebote zu halten ist." 58 Nur der faktischen intellektuellen oder moralischen Schwäche und der stärkeren Motivationskraft wegen bedarf es einer Offenbarung des Gesetzes.59 Was der Mensch auch ohne Offenbarung in der Weise der „Konsonanz" zu erfassen vermag, ist die der kontingenten ordinatio von Gottes Schöpfung innewohnende Vernünftigkeit. 55 Vgl. Anm.52. 56 Vgl. Ord. IV d. 17 q.un., in: Wolter, 1986, S.262; Ord. III d.37 q.un., in: Wolter, 1986, S. 278, 280. 57 Vgl. Ord. III d.37 q.un., in: Wolter, 1986, S.284. 58 Rep. II d. 22 q. 1 n. 3, ed. Viv, X X I I I 1 0 4 : Omnia peccata, quae sunt circa decern praecepta formaliter non tantum sunt mala, quia prohibita, sed quia mala, ideo prohibita, quia ex lege naturae oppositum cuiuslibet fuit malum, et per naturalem rationem potest homo videre, quod quodlibet praeceptum ex illis est tenendum; vi. auch Ord. IV d. 17 q.un., in: Wolter, 1986, S.262, 264. 59 Vgl. Ord. III d.37 q.un., in: Wolter, 1986, S.286.

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Was Scotus mit der „Konsonanz" näherhin meint, verdeutlicht er am Beispiel der Struktur, die der als positives Recht etablierten Eigentumsordnung eigen ist: Aus dem Gebot des positiven Rechts, Rechtsfrieden in einem Gemeinwesen herzustellen, folgt nämlich nicht notwendig eine bestimmte Eigentumsordnung. Jede solche Ordnung, sei es die des Privateigentums, sei es die der Gütergemeinschaft, lässt sich mit diesem Gebot vereinbaren, ohne freilich aus ihm deduziert werden zu können. Sofern aber Gütergemeinschaft angesichts der gegenwärtigen Verfassung der Menschen den Frieden mehr gefährden kann als das Privateigentum, kann von der rechtlichen Verfügung, die Privateigentum vorsieht, gesagt werden, dass sie mit dem übergeordneten Gebot mehr in consonantia steht als die Gütergemeinschaft vorsehende Rechtsordnung. 60 Wenn aber schon das positive Recht auf Stufen der Konsonanz verweist, muss dies auch in Bezug auf das Naturrecht im erweiterten Sinn gelten. Insgesamt kommt dem positiven Recht aber nicht derjenige Geltungsgrund zu, der dem erweiterten Naturrecht aufgrund der Konsonanz mit dem ersten Prinzip der praktischen Vernunft eigen ist. Seine positive Setzung hat ihre Grenze allein darin, dass es nicht gegen das Naturrecht verstößt. „Ein menschliches Gesetz oder ein Gesetzgeber wären ungerecht, wenn sie etwas vorschrieben, das gegen das (natürliche) Gesetz verstößt." 61 Oder wie es an anderer Stelle heißt: „Was aufgrund des natürlichen Gesetzes gilt, wird nicht durch ein anderes Gesetz aufgehoben, das nur aufgrund positiven Gesetzes gilt" (quod est de lege naturae non tollitur propter aliud quod est tantum de lege positiva).62

6. Die neue Gründung der moralischen Verbindlichkeit im Willen, so lassen die bisherigen Überlegungen deutlich werden, verbindet sich bei Scotus mit einer spezifischen Form der ethischen Rationalität. Ohne Zweifel liegt Scotus an einem Verständnis des Willens, das den in der aristotelischen Grundlegung der Ethik noch vorhandenen Naturalismus und Nezessitarismus zu vermeiden und eine der christlichen Heilsgeschichte entsprechende und die augustinisch-franziskanische Tradition aufnehmende Deutung von Kontingenz, Freiheit und Ver60 Vgl. ebd., S. 280. 61 Vgl. Ord. IV d. 33 q. 3 n. 7, ed. Viv. X I X 388. 62 Vgl. Ord. IV d. 36 q. 1, in: Wolter, 1986, S. 526.

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antwortlichkeit zu entwickeln erlaubt. Doch ist damit nur das theologische Motiv genannt, die neue Grundlegung selbst muss streng rational erfolgen. Denn moralische Verbindlichkeit kann nur dann als ein unbedingtes Gesetz gedacht werden, wenn sie weder in einem natürlichen Wollen und seiner immanenten Notwendigkeit noch in einer bloßen göttlichen Willenssetzung und ihrer Kontingenz gründet. In beiden Fällen läge der Geltungsgrund für die moralische Gutheit der Willenshandlung in einem außerhalb ihrer selbst liegenden, nicht aber in der Willenshandlung selbst. Versteht man den Willen als Willen, d. h. als das, als was er sich in seinen Vollzügen zeigt, nämlich als das Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung, das einer Ursache zukommen muss, die am Anfang einer zu kontingenten Wirkungen führenden Ursächlichkeit steht, dann ist er eine „Vollkommenheit", nämlich ein Vermögen, das transkategorial sowohl dem unendlich Seienden, nämlich Gott, als auch dem endlichen Seienden, nämlich dem Menschen, zukommen kann und auch muss.63 Folgt man dabei dem Prinzip, dass einer solchen Eigentümlichkeit - für sich betrachtet (secundum rationem absolutam) - keine Bestimmung zukommen kann, die ihr im Modus der Unendlichkeit nicht zukommen kann,64 dann muss die im Wollen selbst gelegene Verbindlichkeit gleichermaßen für den Menschen wie für Gott gelten. Eben dies wird von Scotus im Gedanken des natürlichen Gesetzes im strikten Sinn ausgesprochen, wenn es besagt, dass Gott sein unendliches Wesen nicht anders als zugleich frei und notwendig wollen bzw. lieben kann und dass dies für den Menschen heißt, dass er Gott als das unendlich Seiende und Gute unbedingt lieben muss. Fragt man nach der inneren Verbindlichkeit dieses obersten Prinzips, dann kann ihr Grund weder in einem natürlichen Wollen des Menschen noch in einer kontingenten Verfügung Gottes liegen. Denn Gott ist selbst diesem Prinzip unterworfen. 65 Es kann also nur im Willen selbst liegen, und zwar in dem Wollen des Willens, das der Regel der Gerechtigkeit folgt. Diese Regel hat der menschliche Wille durch den höheren Willen (Gottes) empfangen, sofern er nämlich als ein Wille geschaffen ist, der sich als Wille, d. h. durch den Besitz der Regel der Gerechtigkeit, selbst zur Regel wird, insofern es sich an nichts anderes bindet als den angemes63 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher Möhle, 1995, S. 380-414. 64 Ord. I d. 10 n. 34: quod non competit alicui - sive quod repugnat alicui - secundum rationem absolutam, nec sibi repugnat si est infinitum. 65 Vgl.Anm.47.

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senen Gegenstand des Wollens. 66 Ein Wille, der mit sich selbst übereinstimmen will (consonat sibi), muss daher das in sich unendlich Gute notwendig wollen. 67 Mit Recht kann man daher den Geltungsgrund für das oberste Prinzip des strikten Naturrechts in der Selbstverpflichtung des Willens auf sein eigentliches Wollen sehen, d. h. im Wollen der dem Willen in Form der affectio iustitiae angeborenen Freiheit zum Guten. 68 Damit ist aber ein entscheidender Wechsel in der Grundlegung der Moral vollzogen: An die Stelle des - wie bei Aristoteles und auch Thomas von Aquin - durch Natur vorgegebenen eigentlichen Wollens tritt das als Selbstverhältnis des Willens verstandene eigentliche Wollen, die Selbstbestimmung des Willens betrifft nicht - wie bei Thomas - nur Mittel und Teilziele - sondern wird - in Durchbrechung des aristotelischen Bewegungssatzes (quod movetur ab alio movetur)69 - von Scotus als eine ursprüngliche wirkursächliche Selbstbestimmung des Willens selbst verstanden, und schließlich bestimmen nicht mehr die Strebensziele die moralische Gutheit, sondern der Gegenstand der Willenshandlung in seiner den Willenshandlungen voraufgehenden Gegenständlichkeit. Diese Grundlegung führt nun aber keineswegs - wie so oft für Scotus angenommen - zu einem krassen Voluntarismus und einem dementsprechenden Defizit an rationaler Rechtfertigbarkeit konkreter Handlungsnormen. Nichts macht dies so deutlich wie die Auslegung des strikten Naturrechts als eines Prinzips, das auch Gott unbedingt und notwendig bindet. Es bringt nicht nur den angedeuteten aus dem Willen selbst stammenden und sich auf jedwedes Wollen beziehenden unbedingten Verbindlichkeitsanspruch zum Ausdruck, sondern auch die formale Grundstruktur, die allererst Rationalität begründet, nämlich das Prinzip des Nichtwiderspruchs und dies vorweg zu jeder göttlichen Setzung, artikuliert also einen Offenbarung und Theologie gegenüber autonomen Anspruch. 70 66 Vgl. Ord. II d . 6 q.2, in: Wolter, 1986, S.470. 67 Vgl. ebd. 4 7 2 - 4 7 6 ; vgl. auch J. Boler, 1993, Transcendending the Natural: Duns Scotus on the Two Affections of the Will, in: American Catholic Philosophical Quarterly L X V I I , 109-126, 124ff. 68 So Möhle, 1995, S. 3 8 0 - 3 9 8 , 3 8 6 f . - In Bezug auf die Stellung des Gedankens der Bejahung der Freiheit durch Freiheit in der modernen Ethik vgl. F. Ricken, 3 1998, Allgemeine Ethik, Stuttgart, S. 176ff. 6 9 Vgl. R. Effler, 1962, John alio movetur', Louvain.

Duns Scotus and the Principle ,Omne

quod movetur

70 Zu der daraus resultierenden Eigenständigkeit der Ethik als scientia practica Möhle, 1995, S. 4 1 4 - 4 4 6 .

ab vgl.

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Wenngleich aus dem diesen Anspruch formulierenden Prinzip nur wenig abgeleitet werden kann, bestimmt es doch in Geltungsanspruch und formaler Grundstruktur den gesamten Bereich der moralischen Normen, nämlich den Bereich des Naturrechts im erweiterten Sinn ebenso wie die positiven Gebote bzw. Verbote. Denn es unterwirft sie dem Kriterium der consonantia in einem doppelten Sinn: Im Fall der positiven Weisungen stellt die consonantia ein negatives Kriterium der Verbindlichkeit dar, insofern keine positive Weisung Geltung beanspruchen kann, die dem Naturrecht im strikten wie im weiten Sinn widerspricht, an deren Stelle aber ohne Widerspruch auch eine andere Weisung stehen könnte.71 Für das Naturrecht im erweiterten Sinn fordert consonantia mehr: Denn die Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs dürfen nicht nur dem natürlichen Gesetz im strikten Sinn nicht widersprechen, sondern stellen in ihrer Gesamtheit auch eine Ordnung dar, die zwar von Gott als diese Ordnung kontingent gewollt ist, die aber als solche eine interne Geordnetheit aufweist, dass sie - wie Scotus betont - einmal gewollt selbst von Gott nicht ohne Widerspruch in Form einer Dispens durchbrochen, sondern nur durch eine andere Ordnung ersetzt werden kann.72 Das aber bedeutet, dass consonantia nicht nur Nichtwiderspruch zum obersten Prinzip fordert, sondern darüber hinaus eine innere Ordnung anzeigt, die zwar nicht aus dem obersten Prinzip abgeleitet werden kann, dennoch aber - wie auch andere mögliche Ordnungen - als declaratio und explicatio des obersten Prinzip verstanden werden müssen.73 Wenn diese consonantia das Naturrecht im erweiterten Sinn bestimmt, dann ist der kontingente Ursprung des Naturrechts im erweiterten Sinn kein Argument gegen seine innere Vernünftigkeit und eine darauf basierende Rechtfertigbarkeit. Denn weder erfordert der kontingente Ursprung den skizzierten sachlichen Zusammenhängen nach die Annahme, dass die Normen des Naturrechts allein durch Offenbarungsglauben oder intuitive Erkenntnis vermittelt sind,74 noch geben die scotischen Texte selbst Anlass zu einer solchen Annahme, ist doch 71 Vgl. Anm. 61 und 62 sowie Rep. IV d. 17 q. un. n. 4, ed. Viv. X X I V 275f. 72 Vgl. Anm. 47. 73 Ord. III d. 37, in: Wolter, 1986, S. 280: Et ita forte in omnibus iuribus positivis, quod licet aliquod sit unum principium quod est fundamentum in condendo omnes illas leges positivas, sed declarant illud principium sive explicant quantum ad particulas, quae explicationes valde consonant primo principio universali. - Möhle spricht von einer vertikalen und einer horizontalen Konsonanz (1995, 357f.). 74 So Williams, 1998 a, S. 180 f.

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an keiner Stelle von einer solchen exklusiven Funktion der beiden genannten Vermittlungsformen die Rede.75 Im Gegenteil, bei den von Scotus diskutierten Beispielen konkreter Normzusammenhänge wie der Eigentumsordnung, dem Ehegebot, der Lüge, der Sklaverei oder der Friedensordnung zeigt sich ein Bild,76 das dem skizzierten Bild der consonantia entspricht: Prüfung und Rechtfertigung der Verbindlichkeit konkreter Normen lässt sich als ein Durchlaufen des Zusammenhangs von ordo universalis und ordo particularis, von Prinzip und konkreter Norm verstehen. Dies entspricht dem Verständnis der Ethik als einer scientia practica in Form einer Verbindung des Wissens, das in dem durch sich selbst bekannten obersten Prinzip virtuell enthalten ist und aus ihm deduktiv entfaltet werden kann, und jenem unmittelbar auf das konkrete Handeln bezogenen dictamen rectae rationis, in dem die moralische Gutheit der betreffenden Handlung im Blick auf die Momente beurteilt wird, die für die moralische Gutheit der zugrunde liegenden Willenshandlung maßgeblich sind: nämlich der Gegenstand der Willenshandlung und die relevanten Umstände, darunter das Ziel. Scotus bezeichnet dieses Urteil auch mit dem aristotelischen Terminus der Klugheit (prudentia), wobei Klugheit als Tugend, d. h. als habitus, von ihm als Resultat dieses (ebenfalls mit dem Terminus der Klugheit belegten) voraufgehenden Urteils verstanden wird.77 Charakteristisch ist auch beim Thema der Klugheit, wie Scotus die traditionelle, von Thomas von Aquin vertretene Auffassung vom Verhältnis der Klugheit zu den anderen ethischen Tugenden umkehrt: Die Klugheit ist nicht verwiesen an die das rechte Streben bestimmenden ethischen Tugenden, sondern geht als dictamen rectae rationis aller Ausbildung von Tugenden sachlich vorauf; das Streben muss sich durch dieses dictamen bestimmen lassen, nicht umgekehrt.78 Wie die Beispiele zeigen, hat dieses handlungsleitende dictamen in Bezug auf Handlungen, die nicht unmittelbar durch das Naturrecht normiert sind, Ähnlichkeit mit einer praktischen Überlegung im Sinn 75 Vgl. Ingham, 2001, S. 2 1 1 - 2 1 5 . 76 Vgl. ausführlicher, C . Ribas Cezar, 2004, Das natürliche Gesetz und das praktische Urteil nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Kevelaer.

konkrete

77 Vgl. Ord. III d. 36, in: Wolter, 1986, S. 400; Ord. I d. 17 p. q. 1-2 nn. 9 3 - 9 4 , ed. Vat.V 1 8 4 - 1 8 6 ; vgl. dazu und zum Folgenden Möhle, 1995, S. 2 1 5 - 2 4 5 . 78 Vgl. Ord. III d . 3 6 , in: Wolter, 1986, S. 4 0 6 - 4 1 0 ; vgl. dazu L. Honnefelder, 2004, Ansätze zu einer Theorie der praktischen Wahrheit hei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: J. Szaif/M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), 2004, Was ist das für den Menschen Gute? Menschliche Natur und Güterlehre, B e r l i n / N e w York, S. 2 4 6 - 2 6 2 .

Ethische Rationalität bei Johannes Duns Scotus

155

eines reflexiven Überlegungsgleichgewichts, wie es von J. Rawls beschrieben wird79: Ausgehend von der faktisch geltenden konkreten Norm lässt sich dessen Geltungsgrund in Form eines übergeordneten Prinzips erschließen. Umgekehrt lässt sich die konkrete Norm in ihrer Verbindlichkeit an diesem übergeordneten Prinzip und an ihrer Stellung im Gefüge der von den übergeordneten Prinzipien bestimmten konkreten Normen prüfen. Auf diese Weise wird die praktische Rationalität sichtbar, kraft derer wir moralische Normen unterhalb der Schwelle der obersten Prinzipien als vernünftig und verpflichtend betrachten80 und deren Gültigkeit sich weder einfacher Ableitung noch bloßer Setzung verdankt und für die dennoch „praktische Wahrheit" in Anspruch genommen werden kann81, sofern sie einen objektiven und unter den Umständen der gegebenen Ordnung - unbeliebigen Anspruch zum Ausdruck bringt. Diese praktische Rationalität ist in sich so strukturiert, dass sie die Möglichkeit der Abwägung durchaus einschließt. Denn ist die konkrete Norm durch das Verhältnis zum Prinzip und die Stellung innerhalb des Normgefüges als verbindlich ausgewiesen und ist die moralische Gutheit der konkreten Willenshandlung Resultat eines Urteils, das die Gesamtheit der Faktoren (Gegenstand, Umstände, Natur des Handelnden) unter dem Gesichtspunkt der convenientia bewertet,82 dann kann - wie aus den von Scotus diskutierten Beispielen hervorgeht - ein Wechsel der Umstände auf der Ebene der konkreten Handlungsleitung auch alternative Normen bzw. die Wahl der Alternative legitimieren. So kann die Abwägung dahin gehen, in einer gegebenen Situation unter mehreren Zielen das wichtigste zu wählen,83 oder im Licht des höheren 79 Vgl. J. Rawls, 1971, A Theory of Justice, Cambridge (Mass.), S.20f., 46-50, 597f.; vgl. auch H. Möhle, 1999, Das Verhältnis praktischer Wahrheit und kontingenter Wirklichkeit bei Johannes Duns Scotus, in: G. Beestemöller/H. G. Justenhoven (Hrsg.), Friedensethik im Spätmittelalter: Theologie im Ringen um gottgegebene Ordnung, Stuttgart, S. 47-61. 80 Rep. IV d. 17 n.4, ed. Viv. X X I V 275: Alia autem sunt extra ista, quae sic demonstrative concluduntur ex eis, quae multum sunt consona illis principiis practicis, quia ab omnibus sunt visa multum rationabilia, et bona, et ab omnibus iuste servanda, licet non possent ex eis demonstrari, sicut priora, et quatenus consona talibus principiis, dicuntur de lege naturae, licet non simpliciter, quia non simpliciter sequuntur ex eis, sed de iure positivo. 81 Zu dem von Scotus formulierten Anspruch „praktischer Wahrheit" vgl. Honnefelder, 2004. 82 Vgl. Anm.26. 83 Vgl. etwa Ord. IV d. 33 q. 1 a. 2, in: Wolter, 1986, S. 292.

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Ludger Honnefelder

Prinzips das kleinere von mehreren Übeln zu wählen.84 Mit der Rationalität strikter ethischer Verbindlichkeit, so lässt sich daraus folgern, verbindet Scotus eine Rationalität, die den strikten Anspruch eines obersten formalen Prinzips mit dem Gefüge von Prinzipien mittlerer Reichweite und daraus sich ergebenden konkreten Normen vermittelt und Normwandel und Abwägung angesichts veränderter Umstände zulässt. Durch die Freiheit seines Willens ist der Mensch unter einen Anspruch gestellt, der ihm eine Verantwortung nicht nur vor Normen auferlegt, sondern auch eine solche für Normen. „Mag auch der Mensch aufgrund seiner Geschaffenheit in allem durch Gott gebunden sein, was er zu tun vermag, so fordert dennoch Gott nicht nur etwas von ihm, sondern überlässt ihn seiner Freiheit. Er fordert von ihm nur, die Weisungen des Dekalogs zu halten". 8 5

84 Vgl. etwa Ord. IV d. 33 q. 3, in: Wolter, 1986, S. 302; Ord. IV d. 29, in: Wolter ebd., S. 174ff.; vgl. dazu Wolter ebd., S. 69-72 sowie Cezar, 2003. 85 Ord. IV d.26 n. 10, ed. Viv. X I X 161.

Das natürliche Gesetz (lex naturalis) in der Sicht des Thomas von Aquin und des Nikolaus von Kues KLAUS KREMER

Nikolaus von Kues kannte nicht wenig vom Aquinaten. 1 Er beruft sich auch des öfteren auf ihn.2 Obwohl er den Satz: nihil est in ratione, quod prius nonfuit in sensu, in seiner Schrift De mente nicht auch auf die Vernunft (inteliectus) ausgeweitet sehen möchte, 3 stoßen wir doch öfter auf die Formulierung: nihil est in intellectu, quod prius non fuit in sensu.4 Sehr wahrscheinlich ist Nikolaus hierbei vom Aquinaten beeinflusst, dessen Schrift De veritate5 er kannte und benutzte. 6 Dennoch geht Cusanus eigene Wege. Möchte der Aquinate ζ. B. den Begriff des creare ausschließlich Gott vorbehalten, 7 so erblickt Cusanus in dem creare ein Gott und dem Menschen gemeinsames Proprium. „Der Mensch [...] hat die Vernunft, die im Erschaffen (in creando) eine Ähnlichkeit der göttlichen Vernunft ist."8 Erklärt Thomas seinerseits, „dass die von Gott [ausgehende] Hervorbringung (productio) des universalen Seins weder eine Bewegung (motus) noch eine Veränderung (mutatio) sei,"9 so fordert Cusanus andererseits geradezu den motus für den göttlichen Schöpfungsakt: Aus dem Vater als dem reinen Intellekt und seinem 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Haubst, 1965 a, S. 193-212, u. 1965 b, S. 15-26. Ebd. De mente 2: N. 64, Z. 8 - N. 65, Ζ. 16. Vgl. Kremer, 2000, S. 101-138, hier 112f. De verit. 2,3, arg. 19 u. ad 19um. Nach Schüßler 1992, S. 79, Anm. 128, ist dies die bisher frühest aufgefundene Stelle für diese Formel. Vgl. auch S. Th. I, 84,7c. Vgl. Haubst, 1965 b, S.27, 35, 38. Vgl. ζ. B. CG II, 21: Nulla substantia praeter Deum potest aliquid creare. Vgl. auch Veithoven, 1977, S. 95-98. De beryl.: Ν. 7, Ζ. 6 f. Vgl. Kremer, 2002, S. 9 f. mit vielen Belegen. In Phys. N. 974 u. Parallelen.

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Klaus Kremer

Wort geht „der Geist bzw. Wille hervor, der bewegt, damit die Kreatur entstehe." 10 Auch in der Frage der lex naturalis geht Cusanus, wie zu zeigen sein wird, einen anderen Weg als Thomas. Zunächst aber zur Lehre des Aquinaten.

1. Die lex naturalis nach Thomas von Aquin 1.1 Ältere und jüngste Thomasforschung Ich kann mich hier relativ kurz fassen, da in den letzten 90 Jahren insgesamt doch recht beachtliche Arbeiten hierzu vorgelegt worden sind. Ich nenne die Autoren der wichtigsten: Antonin - D. Sertillanges,11 Odon Lottin, 12 Michael Wittmann, 13 Felix Flückiger, 14 Wolfgang Kluxen, 15 Ulrich Kühn, 16 Johannes Hirschberger, 17 Otto Hermann Pesch, 18 Rainer Specht, 19 Ludger Honnefelder, 20 Georg Wieland21 und zuletzt, wenn auch eingegrenzt auf den Ausnahmefall des Isaak-Opfers, Isabelle Mandrella. 22 Natürlich vertreten diese Autoren keine stromlinienförmige Meinung in der Interpretation der lex naturalis, insbesondere nicht, was die von Kluxen herausgearbeitete nichtmetaphysische Interpretation der lex naturalis und deren Einbettung in den 10 Sermo C C L X X X I I : Ν. 1, Ζ. 11-14. Ebenfalls Sermo C C X C I I I : CT IV/3, N. 3. - Da die Textkonstituierung samt Nummern- u. Zeilenzählung aller Predigten bereits abgeschlossen ist, zitiere ich auch die noch nicht edierten, aber in h vorgesehen Predigten nach der h-Ausgabe. Die Edition soll 2004 abgeschlossen werden. Alle Predigten werden sodann nach der kritischen Zählung von Haubst zitiert (s. Bibliographie: Haubst 1991). - Ich danke dem Cusanus-Institut für die Überlassung der noch nicht gedruckten Predigten. 11 Sertillanges, 1916. 12 Lottin, 1931. 13 Wittmann, 1933. 14 Flückiger, 1954. 15 Kluxen, 1980; ders., 2000a; 2000b; ders., 2001. 16 Kühn, 1964/65. 17 Hirschberger, 1969. 18 Pesch, 1977. 19 Specht, 1977; ders., 1984. 20 Honnefelder, 1990; ders., 1994; ders., 2000. 21 Wieland, 1990. 22 Mandrella, 2002. Hier auch weitere Literaturangaben in der Bibliographie (S. 3 0 7 318), ferner bei Pesch, 1977 u.a.

Das natürliche Gesetz (lex

naturalis)

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theologischen Kontext anbelangt.23 Verteidigt etwa Hirschberger in seiner Abhandlung von 1969 die entsprechenden Ausführungen Wittmanns (318-368) zur lex aeterno,- und lex naturalis-Lehre als „unter dem Zeichen Augustins" stehend („Von ,aristotelisch-stoischem Naturrecht' kann keine Rede sein."), 24 allerdings mit einer „scheinbare(n) Ausnahme" durch Aristoteles, 25 so ist Peschs Kritik 26 und Kluxens Einwand grundsätzlicher. Letzterer stimmt darin zu, dass Wittmann die stetige Bezogenheit der Glückseligkeit bei Thomas auf die ,„ratio' speculativa oder practica - " deutlich gemacht habe. Diese sei stets intellektualistisch verstanden, im Gegensatz zu Aristoteles. 27 Er kritisiert jedoch an Wittmann wie auch an Sertillanges deren Uberzeugung, „es handle sich bei allem, was Thomas mit rationaler Begründung vorträgt, ohne weiteres um Philosophie. Beide glauben sich ,naiv' dazu berechtigt, einen Text wie die Summa theologiae als philosophischen lesen zu dürfen, wenn sie die eigentlichen Theologumena und die spezifisch theologischen Argumente weglassen." 28 Dem gegenüber betone die jüngste Forschung mit Recht, dass über einen als theologisch sich ausweisenden Systemaufbau des thomistischen Denkens hinaus „auch jede Aussage, die im theologischen Kontext angetroffen wird, notwendig auch und gar zuerst einen theologischen Sinn hat, den man nicht einfach außer acht lassen darf. Es ist die entscheidende Schwäche der älteren Thomas-Interpretation, dass sie diesen Sachverhalt nicht methodisch berücksichtigt." 29 23 Kluxen, 1980, S. X V I I I - X X I V ; 1-21; 71-107; 2 3 0 - 2 4 1 . Ders., 2 0 0 0 b , S.98, 106f. sowie 2001, S. 2 7 - 2 9 , 31, 32, 44, 49; ferner Pesch, 1977, S . 5 7 1 f „ 572f., 5 7 6 - 5 7 8 , 628. S. 578 bemerkt er jedoch: „Wenn dann tatsächlich doch bei Thomas ein Weg von der metaphysischen Wirklichkeit des Menschen zur Ethik führt, so ist es ein theologischer - w e i l die metaphysische Betrachtung des Menschen bei Thomas eben zugleich eine theologische ist." Ähnlich Kluxen, 2001, S.30f., 32, 34. 24 Hirschberger, 1969, S. 54 f. S. 66 schreibt er: „Es bleibt bei der Deutung Wittmanns, auch nachdem wir nunmehr den aristotelischen Einschub breit genug gewürdigt haben." S. 70 f. muss Hirschberger dennoch ein gewisses Schwanken bei Wittmann registrieren, das jedoch mehr im Ausdruck als in der Sache liege. 25 Ebd. S. 55, Anm. 8 u. S. 6 1 - 6 6 . 26 Pesch, 1977, S. 542, 558, 558 Anm. 1, 573. 27 Kluxen, 1980, S. 152 Anm. 36 u. S.231. F ü r Wittmann, 1933, S.42f., 46, 318. 28 Kluxen, 1980, S. X X V I . 29 Ebd. S. X X V I f . Im Anschluss an Kluxen äußert sich ebenfalls so Pesch, 1977, S.628: „Wer bei Thomas die Lehre vom Naturgesetz von ihrer theologischen Quelle trennt, kann einerseits ihren systematischen und didaktischen O r t im Ganzen der IIa Pars und der Lehre vom Gesetz nicht mehr verstehen und gelangt andererseits, abgesehen von formalen obersten Sätzen, nur äußerst unsicher zu inhaltlichen Leitsätzen des

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Klaus Kremer

Auch das Verhältnis von Naturrecht (ius naturae bzw. naturale) und lex naturalis wird nicht ganz einheitlich von den Autoren beurteilt. So unterscheidet Hirschberger in der lex naturalis bei Thomas einen weiteren und engeren Sinn; im ersten Fall sei „die gesamte sittliche Ordnung (Ethik)", im letzteren Fall „das Naturrecht als das Gesamt der Grundrechte des Menschen (ius naturale)" intendiert. „Beides wird je in seiner Eigenart gesehen und entwickelt, meistens aber gehen die zwei Gesichtspunkte ineinander über. Entscheidend ist dabei hier wie dort die Reduktion auf die lex aeterna." 30 Flückiger scheint in seinen Darlegungen keinen Unterschied zwischen lex naturalis und ius naturale zu machen.31 Pesch fragt nach der Verbindung des „Naturgesetzes) mit der alten und neuen, historischen und konkret-politischen Frage nach dem NaturrecÄi." 32 Er macht zwei wichtige Unterschiede zwischen beiden Begriffen namhaft: Einmal haben wir das Naturrecht im Sinne des Römischen Rechts, das allen Lebewesen, nicht nur dem Menschen, zukommt. 33 Diese Definition lasse Thomas durchaus als Bestimmung des Naturrechts gelten.34 Das Naturgesetz {lex naturalis) Handelns, die außerdem hinsichtlich des Grundes ihrer Verbindlichkeit gar nicht durchschaut werden." S.629 Anm. 13 bezieht er sich ausdrücklich auf Kluxen, 21980. 30 Hirschberger, 1969, S. 54. Pesch, 1977, S. 625 unterscheidet dies ebenfalls, differenziert aber anders und wohl zutreffend: Innerhalb des weiteren Naturgesetzbegriffes (schließt die übernatürliche Gottesliebe ein) gibt es ein inhaltliches Gefälle, wenn auch von Thomas bloß angedeutet: „Bestimmte Weisungen des Naturgesetzes sind der Vernunft ohne die im Glauben empfangene Offenbarung des göttlichen Gesetzes einleuchtend, andere nicht." Die ersteren sind die Gebote der zweiten Tafel, sie „bilden ein Naturgesetz im engeren Sinne," d. h. jene durch die Vernunft als solche erkennbaren Gebote. „Die anderen Gebote, die nur und erst der Glaube kennt, stehen diesem Naturgesetz gegenüber, werden ihm hinzugefügt. Das Ganze aber, mit seinem Gefälle, ist der eine Wille Gottes, der von Ewigkeit her als ewiges Gesetz den Weg des Menschen leitet." Naturgesetz im weiteren Sinne „bedeutet [...] den Inbegriff jener Gebote, die den Menschen zu seinem ewigen, .übernatürlichen' Ziel hinlenken, gleichgültig, wieviel der Mensch davon allein aus der Kraft seiner Vernunft erkennt. Das göttliche Gesetz unterscheidet sich vom Naturgesetz im engeren Sinne auf Grund der Promulgationsweise und auf Grund des Inhaltes, der sich dann mit dem Naturgesetz teilweise deckt, teilweise darüber hinausgeht. Vom Naturgesetz im weiteren, bei Thomas beherrschenden Sinne unterscheidet sich das göttliche Gesetz nur auf Grund der Promulgationsweise." 31 Flückiger, 1954, S.453f., 458,460,470f„ 472f„ 474. S.452 schreibt er aber: „Aus der lex naturalis fließt das ius naturale." Ähnlich Wittmann, 1933, S.356, unter Berufung auf S. Th. I—II, 95,4: „die Begriffe Naturgesetz und Naturrecht fallen regelmäßig zusammen." 32 Pesch, 1977, S. 568. Dort in der Anm. 1 Verweis auf Literatur dazu. 33 Ius naturale est quod natura docuit omnia animalia, zitiert nach Pesch, ebd. S. 568. 34 Berufung auf S. Th. II-II, 57,3 u.: in Eth. V,10: lectio 12, Ν. 1019 (Spiazzi).

Das natürliche Gesetz (lex

naturalis)

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aber sei nicht Sache vorpersonaler Strebungen und Anlagen, sondern Sache der Vernunft, gelte daher nur für den Menschen.35 Das Naturrecht beschränke sich zweitens beim Menschen auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse, die in dem Grundsatz von „Jedem das Seine" und der Goldenen Regel ausgesprochen sind. Hätten Patristik und Frühscholastik das Naturrecht auch mit dem Inhalt des Naturgesetzes gleichgesetzt, so erfasse die lex naturalis bei Thomas „nicht nur Forderungen in bezug auf den Mitmenschen, sondern ebenso Forderungen in bezug auf sich selbst und in bezug auf Gott." 36 Einigkeit herrscht unter den Autoren, dass die lex naturalis, in den einschlägigen Abhandlungen oft als Naturgesetz wiedergegeben, trotz des verführerischen Namens kein Natur-, sondern ein Vernunftgesetz ist. Hirschberger, aber nicht nur er, hat dem eine längere Passage in seiner Abhandlung gewidmet.37 „Das Naturrecht ist dictamen rectae rationis," heißt es in lakonischer Kürze bei Flückiger,38 wobei man dennoch sagen muss, dass bei Thomas „Vernunft und Natur zusammengedacht werden."39 Einig sind sich die Autoren auch darin, dass die praktische Vernunft das Gute nicht erzeugt, hervorbringt, schafft (Kluxen, 2000c, S. 99, u. 2001, S. 39).

1.2 Merkmale der lex naturalis bei Thomas von Aquin Thomas von Aquin erblickt in der lex naturalis „nichts anderes als die Teilhabe am ewigen Gesetz in der vernunfthaften Natur."40 Vorausgehend zu dieser Bestimmung legt Thomas dar, dass alles der göttlichen Vorsehung unterliege. Daraus ergebe sich, dass alles ebenfalls irgendwie am ewigen Gesetz teilhabe, auf eine vortrefflichere Weise jedoch der Mensch. Die im Psalm 4,7 aufgeworfene Frage, wer uns den Weg 35 Pesch, 1977, S. 568. 36 Ebd. 569. Für Naturrecht

vgl. den kompakten Artikel von Ricken, 1994, S. 132-153.

37 Hirschberger, 1969, S. 63-73. 38 Flückiger, 1954, S.471. Für Pesch, 1977, s. S.552, 570. Belege bei Thomas: S. Th. I, 79,13 ad lum; 19,5 ad 2um; I—II, 90, 1 u. ad 2um; 91, 1 c.; 94, lc.; 4 ad 3um; 99, 4c.; 100, 7 ad lum. 39 Kluxen, 2001, S. 49. 40 S. Th. I—II, 9 1 , 2 c. Nach dem frühen Thomas lautet die Bestimmung: lex naturalis nihil aliud est quam conceptio homini indita, qua dirigitur ad convenienter agendum in actionibus propriis, in IV Sent. 33,1 ad lum. Für Kluxen, 2001, S.27, Anm. 34, ist in der Summa theologiae „die systematisch voll ausgearbeitete und wirkungsgeschichtlich als maßgeblich anzusehende Fassung" der lex naturalis-Lehre zu erblicken.

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zum Guten zeige, beantworte der Psalmist mit den Worten: „Aufgestrahlt (signatum) ist über uns das Licht Deines Antlitzes, Herr" (4,7). Das bedeutet gemäß der Erläuterung des Thomas soviel wie: „Als o b der Psalmist sagen wolle, dass das Licht unserer natürlichen Vernunft, durch welches wir unterscheiden, was gut und was böse ist und was z u m natürlichen Gesetz gehört, nicht anderes ist als eine Einprägung (impressio) des göttlichen Lichtes in uns." 41

Uber die historischen Hintergründe dieser thomanischen lex naturalisBestimmung ist von den oben genannten und anderen Autoren genügend geschrieben worden, ebenso über die Ausdeutung dieses auf die lex aeterno, zurückgehenden apriorischen Faktors in unserem Erkenntnisgang des sittlich Guten. Wenn Honnefelder in der Partizipation unseres Geistes an der lex aeterna nur Ans factum der Vernunft sieht,42 so scheint mir das eine Unterinterpretation dieser thomanischen Aussage zu sein. An eingeborene Ideen dürfte Thomas kaum denken, wohl aber an eingeborene Erkenntnisprinzipien, wie seine weiteren Ausführungen zur lex naturalis deutlich machen.43 In dem von mir vorgenommenen Untersuchungsskopos kann ich auch für die folgenden mit der lex naturalis gegebenen Problemzusammenhänge auf die genannten Autoren verweisen: für die Entfaltung der lex naturalis mit ihrer Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft: bonum est faciendum, malum vitandum über die obersten und allgemeinsten präskriptiven Sätze bis hin zu den konkreten Handlungsregeln, 44 für die Frage nach Wandel- und Unwandelbarkeit und damit nach der Geschichtlichkeit der lex naturalis,45 für das Verhältnis von lex aeterna lex naturalis - lex humana und lex divina,46 für die Verbindung von lex 41 S. Th. I—II, 91, 2 c. 42 Honnefelder, 1990, S. 11: „Die Teilhabe am ewigen Gesetz [...] besteht nach Thomas in nichts anderem als im Besitz der Vernunftnatur." 43 Vgl. Pesch, 1977, S. 553, 570; Wittmann, 1933, S. 328-331, 332-335,333 Anm. 72,335 Anm. 82, 337, 359, 365, 367, 368. 44 Vgl. ζ. B. Kluxen, 2001, S. 39-46; Wittmann, 1933, S. 358; Flückiger, 1954, S. 455-461; Pesch, 1977, S.574f.; Honnefelder, 1990, S.14; Specht, 1984, S.573. 45 Vgl. hierzu Wittmann, 1933, S. 347-352; Flückiger, 1954, S.470; Hirschberger, 1969, S. 56-66, 73; Pesch, 1977, S. 582-585; 600-612; Honnefelder, 1990, S. 12-16; Kluxen, 2000b, S. 100-102, 103, 105f., 107f.; ders., 2001, S.43f., 49; Mandrella 2002, S. 15, Anm. 5; Specht, 1984, S. 573: „Thomas spricht nicht von geschichtlichen Veränderungen der Natur und des Menschen, wohl aber von geschichtlichen Veränderungen der menschlichen Erkenntnis von Natur und Naturrecht." Als Belege führt er an: Th. I-II, 57, 2c.; 94, 5 ad lum. 46 Wittmann, 1933, S. 323-368; Flückiger, 1954, S. 459-461; Pesch, 1977, S. 540-545, 555f., 619-626; Honnefelder, 1990, S. 10; Kluxen, 2000b, S. 106.

Das natürliche Gesetz (lex naturalis)

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naturalis und ihrer Promulgation, 47 für das Zueinander von lex naturalis, synderesis und conscientia4S u. a. m. Es geht hier vielmehr um das Problem, ob bei Thomas der lex naturalis noch etwas hinzugefügt werden kann, ja hinzugefügt werden muss.

1.3 Kann (muss) der lex naturalis noch etwas hinzugefügt (superaddt) werden? In S. Th. I—II, 91,4 ad lum erklärt Thomas: Durch das natürliche Gesetz {lex naturalis) findet im Verhältnis zur Fähigkeit der menschlichen Natur die Teilhabe an dem ewigen Gesetz statt. Der Mensch muss aber auf eine höhere Weise auf sein letztes, übernatürliches Ziel hingelenkt werden. „Und deshalb wird das auf göttliche Weise gegebene Gesetz hinzugefügt (superadditur), durch welches das ewige Gesetz auf eine höhere Weise partizipiert wird." Ahnliche Erklärungen mit dem superadditum bzw. synonymen Begriffen finden sich in I—II, 94,5 c.; ad lum; 100,1c.49 Pesch unterscheidet in diesem Problemzusammenhang zwei Textreihen bei Thomas: Die erste Textreihe bestimmt das Verhältnis von göttlichem Gesetz (=geschichtlich-positives göttliches Gesetz) und lex naturalis so, „dass das göttliche Gesetz eine Hinzufügung zum natürlichen Gesetz" ist.50 In einer zweiten Textreihe hingegen werden lex divina und lex naturalis miteinander identifiziert.51 „Das göttliche Gesetz hat seine besondere Funktion darin, das natürliche Gesetz bekannt zu machen, es eindeutiger zu formulieren, damit man es sicherer erkennen und befolgen kann." 52 Drei Gründe nennt Thomas für diese rein klärende, inhaltlich nicht überschreitende Funktion der lex divina: Eine Konkretisierung der lex naturalis durch die lex humana bleibt ungenügend, da das menschliche Gesetz zudem unsicher ist bei der Ubersetzung der allgemeinen Grundsätze der lex naturalis in die konkrete Situation.53 Sodann ist der menschliche Geist infolge seiner Verdunkelung durch die Sünde auf das göttli47 48 49 50

Wittmann, 1933, S.339-361; Pesch, 1977, S.551, 552f., 573, 582; Specht, 1984, S.573. Pesch, 1977,S.574;Specht, 1984,S.573;Honnefelder, 1990,S. 12;Kluxen,2001,S.36. Vgl. auch weitere Belege in der folgenden Anmerkung 50. Pesch, 1977, S.620. Belege hierfür: S. Th. I-II, 91,4c.; ad lum; ad 2um; 94,4 ad lum; 94, 5c.; 99, 2 ad lum. 51 Pesch, 1977, S.620. Belege: S. Th. I-II, 91, 3c.; 100, 11c. 52 Pesch, 1977, S.620. 53 Ebd. S. 620f. (mit Belegen); vgl. auch Wittmann, 1933, S. 360f.

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che Gesetz angewiesen.54 Neben „der strukturellen Insuffizienz des menschlichen Gesetzes und der Folgen der Sünde für die praktische Vernunft" macht Thomas namhaft, dass bei allem Zugeständnis der Deckungsgleichheit von natürlichem und göttlichem Gesetz sich dennoch ein „Unterschied hinsichtlich der Weise ihrer Erkenntnis" ergibt. 55 Es handelt sich um vier von Pesch untersuchte Textstellen bei Thomas. 56 Zur Debatte steht, ob neben den Regeln für den zwischenmenschlichen Bereich (Gebote 4-10 des Dekalogs) auch die Gebote der ersten Tafel zur lex naturalis gehören und damitperse notum sind. Thomas antwortet zwar mit Ja, schränkt aber ihr „aus sich selbst bekannt" auf die durch den Glauben erleuchtete Vernunft ein. Pesch muss eingestehen, dass Thomas sich dazu an keiner einzigen Stelle „thematisch und mit der gebotenen Ausdrücklichkeit und Klarheit, sondern nur beiläufig" 57 äußere. Das Ergebnis von Peschs gründlicher Untersuchung dieser vier Textstellen lautet: „Es gibt also einen Bestandteil des Naturgesetzes, der nicht erst infolge der Sünde, sondern grundsätzlich die Kraft einer nicht durch die Offenbarung Gottes belehrten Vernunft übersteigt." 58 Pesch versucht einen Lösungsversuch hinsichtlich dieser thomanischen Unschärfe: Für den frühen Thomas des Sentenzenkommentars fallen lex naturalis und Dekalog zusammen; „nur die spezielle schriftliche Form und die Strafsanktionen unterscheiden das Naturgesetz vom Dekalog (3 d. 37: 1,3)." 59 In der S C G falle das ganze Problem deshalb aus, „weil v o m göttlichen Gesetz immer nur mit Einschluss der übernatürlichen Bestimmung des Menschen geredet wird: [...] und das [einzige Ziel] ist die ewige Gottesgemeinschaft [...]. Wenn T h o m a s in der STh in dieser Sache auf prinzipiell neue Gedanken gekommen wäre, dann hätte er diese zusammenhängend darlegen müssen. D a er das nicht tat, ist zu schließen, dass er seine frühere Auffassung nicht korrigieren wollte und also prinzipiell noch seiner früheren Meinung ist. Das bedeutet: D e r weitere Naturgesetzbegriff, der das G e b o t der (übernatürlichen) Gottesliebe nicht zur , H i n z u fügung', z u m Gegenüber hat, sondern als .Prinzip' einschließt, ist der ei54 Pesch, 1977, S.621 (mit Belegen). 55 Ebd. 621. 56 Ebd. 622-626: gemeint sind folgende Stellen: S. Th. I-II, 100, lc. (2. Teil); 100, 3 ad lum; 100, 4 ad lum; 104, 1, ad 3um. 57 Pesch, 1977, S.622. Zu dem per se notum vgl. auch Kluxen, 2001, S.36f. 58 Ebd. 624; ebd.: „Der grundsätzlich nur dem Glauben zugängliche Teil des göttlichen Gesetzes wird also von Thomas einmal zum Naturgesetz gerechnet, das andere Mal als Hinzufügung von ihm abgehoben. Der Begriff des Naturgesetzes bei Thomas ist terminologisch schwankend." Pesch verweist dafür auch auf Kühn, 1964/65, S. 160f. 59 Pesch, S. 624.

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gentliche und primäre Begriff von Naturgesetz im Kopf des hl. Thomas und bleibt beherrschend." 60

Peschs Untersuchungen zeigen nun aber doch, dass Thomas eine Hinzufügung zur lex naturalis durch die lex divina kennt, mag er auch keine zwei Wirklichkeitsbereiche, einen „natürlichen" und einen „übernatürlichen", unterscheiden.61 So sehen es offenbar auch Kluxen und Honnefelder, wenn sie von einer Hinzufügung (superadditum) zur lex naturalis durch die lex divina oder durch leges humanae sprechen.62 Das Sabbatgebot spielt hierbei, wenn überhaupt, eine absolute Nebenrolle.

2. Die lex naturalis in der Deutung des Nikolaus von Kues 2.1 Außere Unterschiede Im Unterschied etwa zum zweiten Teil der Summa Theologiae des Aquinaten hat Cusanus keine einzige ethische bzw. moralphilosophische Abhandlung geschrieben. Man muss seine sporadisch gemachten Äußerungen zur Ethik bzw. Moralphilosophie relativ mühsam in seinen Schriften zusammensuchen, und hier erweisen sich weniger seine philosophisch-theologischen Werke als vielmehr seine profunden Predigten (Sermones) als ertragreiche Fundgrube. Hier finden sich auch eine ganze Reihe von präzisen Ausführungen zur lex naturalis. Natürlich besaß er in seiner Bibliothek ζ. B. die Nikomachische Ethik des Aristoteles, und zwar gleich in drei lateinischen Übersetzungen ( C o d e x Cusanus 179,181 u. 182).63 Er lobt dieses Werk in einer seiner Spätschriften: „Wenn auch jener Philosoph in der Ersten oder GeistPhilosophie Schwächen zeigte, so schrieb er dennoch in der rationalen 60 Ebd. S. 624 f. Auf den Text S. Th. I—II, 98, 5 ad 3um, der nach Pesch in keine der beiden Textreihen passt, geht er auf S. 625 f. ein. 61 Vgl. auch ebd. S. 626-632, bes. 627 u. 631. 62 Kluxen, 2001, S.44 u. Anm.63; S.28: Die Vernunft „ist [...] berechtigt, aber auch darauf angewiesen, sich auf solche Erkenntnis zu beziehen, die vor der Offenbarung gegeben ist, da deren Prinzipien auch solche für die Verständlichkeit der Offenbarung selbst sind." - Hervorh. v. mir. Ferner ders., 2000b, S. 106f. Honnefelder, 1990, S. 14. 63 Eine (unvollständige) Auflistung der ethischen Schriften des Cusanus in seiner Bibliothek unter Rückgriff auf J. Marx, 1905, bietet Senger, 1970, S.9f.

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und Moralphilosophie vieles, das höchst lobenswert ist." 64 Im Codex Cusanus 69 besaß er von der Summa Theologiae die Pars Ia—IIae. Seit 2000 liegt nunmehr in dem von mir konzipierten und betreuten Band „Sein und Sollen. Die Ethik des Nikolaus von Kues" 65 der erste umfassenderere Versuch vor, die moralphilosophischen Überlegungen bzw. Ansätze des Cusanus in seinen Schriften aufzuzeigen.66 In Frage kommen bei Cusanus vor allem folgende Sermones: IX (1431), 67 L X V LXVIII (1446), L X X I I (1446?), C X X I V (1452), C X X X V I I I (1453), C L X I X (1454), C L X X I X (1455), C L X X X I X (1455), C C X (1455), C C X X X I I I (1456), CCLIV (1456), C C L X X I I (1457), C C L X X I I I (1457) und C C X C I I (1459). Sodann fällt auf, dass der Begriff der lex aeterna bei Cusanus keine besondere Rolle spielt. Er begegnet nicht häufig.68 Als synonym ver64 De non aliud: S.47, 2.10-12. 65 Kremer, 2000, S. V I I - I X u. S. 9-259. Vgl. auch Senger, 1970, u. Sakamoto, 1967 u. 1978 sowie Bodewig, 1978. 66 Es handelt sich um insgesamt sieben Aufsätze. Vgl. auch Kremer, 2001. 67 Die Zählung erfolgt nach dem kritischen Verzeichnis von Haubst, 1991, S. XLVIILXI (s. Bibliographie). Am aufschlussreichsten, weil besonders ausführlich, sind die Sermones IX, C L X X X I X u. C C L X X I I . 68 Insgesamt in elf Sermones (und nur in den Sermones) taucht er auf. (Ich bedanke mich freundlich für diese Recherche in der im Cusanus-Institut vorhandenen Cusanus-Datenbank bei Frau Dr. I. Mandrella.) Diese elf Sermones verteilen sich auf die Zeit von 1431 (?) bis 1459, umfassen also fast die gesamte Predigttätigkeit des NvK. Das Ergebnis eines Vergleiches dieser Stellen untereinander ist das folgende: 1. In Sermo VII: h XVI, N. 2, Z. 10, erscheint der Begriff lediglich als Zitat aus Augustus Contra Faustum (PL 42,418), in Sermo CXLVIII: h XVIII, N. 7, Z. 5f. als Übernahme aus Thomas' S. Th. I—II, 90,1 c.; 91, 2 ad 3um; 93,3c. 2. Nach Sermo LIV: h XVII, N.21, Z. 14, verstößt gegen die lex aeterna, wer dem in uns uns führenden cognoscens spiritus (vgl. De mente 4: h 2V, N. 78, Z. 2-5) nicht folgt; ähnlich Sermo CXLVIII, N. 6, Z. 5 f. Damit zusammenhängend wird in Sermo CXII (106): h XVII, N.6, Z. 12f., festgestellt, dass, wer gegen das Gewissen verstößt, gegen die lex aeterna verstößt. 3. Gemäß Sermo CCXLVI (243): h X I X , N. 10, Z. 1-7, sind die Engel als Boten oder Vollstrecker des Gesetzes Gottes Vollbringer (gerulus) der lex aeterna (Z. 17f.). Vgl. zu diesem Gedanken auch Sermo CIV (98): h XVII, N. 8, Z. lOf. u. De ludo II: h IX, N. 78, Z. 1-5. 4. Nach Sermo C C X C I I (289): V 2 , fol. 285 rb , ist die lex Dei sen naturae, unter die ζ. Β. die Goldene Regel fällt, durch „die Väter der Beschneidung" nicht aufgelöst, sondern vielmehr bestätigt worden, wie dies auch mit der Beschneidung durch Mose geschah. „Jenem Gesetz Gottes, das die lex aeterna ist, präjudiziert die lex sabbati nicht. Niemand darf darüber unwillig sein, dass man jenem Gesetz (Gottes) gehorcht. Aber Christus hat gemäß dem Auftrag dessen gehandelt, der Ihn gesandt hat. Er erfüllte nämlich das ewige Gesetz dadurch, dass er den ganzen Menschen an einem Sabbat geheilt hat". Ob man die ausgesprochene Identität der lex Dei mit der lex

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wendet Cusanus sodann die Begriffe lex naturalis, lex naturae rationalis, lex spiritus rationalis, lex Dei ( l x ) und auch, aber nicht immer lex naturae. Letzterer Begriff erscheint bei ihm, wie wir sehen werden, in einem äquivoken Sinn. Eine genaue Untersuchung des Verhältnisses von lex naturalis und ius naturale bei Cusanus steht noch aus. In De concordantia catholica (1433) dominieren die Begriffe ius divinum, ius naturale und ius humanuni, die in anderen Schriften und den Predigten fast ganz in den Hintergrund treten.69

2.2 Lex naturae im Sinne eines physischen Naturgesetzes Neben der gleich zu besprechenden dominierenden Auffassung von lex naturae (= lex naturalis etc.) kennt Cusanus einen Begriff von lex naturae, der ein physisches Naturgesetz meint. Im Zusammenhang mit der wunderbaren Schwangerschaft der hochbetagten Frauen Sara und Elisabeth sowie Marias wunderbarer Empfängnis kommt er mehrmals darauf zu sprechen. Die Empfängnis der hochbetagten Frauen erfolgte supra communem cursum naturae70 und war daher ein Gnadenwerk Gottes. 71 „Gott, der alles geschaffen hat und durch seine Gesetze alles lenkt, ändert die allgemeinen Gesetze nur im Hinblick auf eine große aeterna auch auf die lex naturae ausdehnen kann, weil es anfangs hieß: Lex Dei seu naturae, möchte ich offen lassen. 5. Am bedeutsamsten für die weiter unten zu entwickelnde Konzeption sind die Ausführungen über die lex aeterna, insofern sie mit der Weisheit Gottes, d. h. dem verbum Dei gleichgesetzt wird und diese sapientia eine Ähnlichkeit von sich in uns gesetzt hat (posuit). So heißt es in Sermo LVI: h XVII, N . 2, Z. 1-6: „Das Wort Gottes hat eine Ähnlichkeit seiner in uns gesetzt, da es Logos und Ratio ist. Es wollte in unserem vernünftigen Geist leuchten, in welchen es das Verlangen nach Wahrheit, das Verlangen nach Leben und dem ewigen Gesetz gelegt hat, durch welches (Gesetz) er in die Wahrheit und das Leben eintreten kann." Gemäß Sermo LXXI (62): h XVII, N . 3, Z. 16f., „ist die lex aeterna in ihrem Abbild in uns". In Sermo LXXXII (77): h XVII, N . 11, Z.3-7, wird dann zunächst Christus mit der ewigen Weisheit identifiziert und zugleich erklärt: „Die Gebote der Vernunft sind Gebote des ewigen Gesetzes, welches die Weisheit des Vaters ist" (Z. 5-7). Ähnliches in Sermo CXXIV: h XVIII, N . 8, Z. 5-9 u. Sermo CCXII: h XIX, N . 22, Z. 24-27. 69 Kremer, 2000, S. 122 f. 70 Sermo LXV: N . 5, Z. 3 f.; N . 8, Z. 1.5. 18 f.; Sermo LXVI: N . 3, Z. 5: supra usum naturae; Sermo LXVII: N . 2, Z. 14; N . 3, Z. 38; N . 4, Z. 39f.; N . 5, Z. 3f.23; N . 6, Z. 22; N . 8 , Z.23. 33f.: has tres supernaturales nativitates; N . 9 , Z.31; Sermo LXVIII: N . 2 , Z. 4-7: lex naturae usualis. 71 Sermo LXV: N . 8 , Ζ. 1 f. 11.23. 25; N . 9 , Z. 5 f.; N . 10, Z. 2 f. 11; N . 11, Z.4f.; N . 12, Z. lf.; Sermo LXVII: N . 3 , Z. 17.19. 33 f. 37; N . 8, Z. 17f.34 et passim.

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und sehr nützliche Sache."72 Das öffentliche und allgemeine bonum der Menschen muss daher auf dem Spiel stehen.73 Statt lex naturae74 kann Cusanus daher auch von der lex communis sprechen.75 Im Sermo LXVII erfolgt ein kleineres Expose über den Begriff der Epikie.76 Diese ist gemäß den griechischen Moralphilosophen77 eine sorgsam abwägende (dispensatoria) und das Gesetz auslegende Tugend {virtus); das Prinzip der Gnade (dementia) ist untrennbar mit ihr verbunden, so dass die höchste Autorität nicht mehr durch ihr allgemeines Gesetz gebunden ist, weil sie im Hinblick auf das bonum publicum, trotz des entgegenstehenden Naturgesetzes, Fürsorge zu treffen hat. Bei den genannten drei Frauen endete die Heilsökonomie Gottes ja bei jeweils einer Geburt. All das setzt natürlich die Kraft Gottes und im Falle der drei Geburten deren Ankündigung vor der Empfängnis durch einen im Dienste Gottes stehenden Engel voraus, ebenso den Glauben der Frauen.78 „Daher kann das Gesetz der Natur, welches das für unmöglich erklärt, was angekündigt wird, durch den Glauben besiegt werden."79 Von einer Teilhabe dieser so verstandenen lex naturae am ewigen Gesetz Gottes, vergleichbar der Teilhabe aller Dinge am ewigen Gesetz bei Thomas,80 ist bei Cusanus keine Rede.

72 Sermo LXV: N. 9, Z. 1-3; Sermo LXVII, N. 2, Z. 12. 17 f. 73 Sermo LXV: N. 9, Z. 5 f.; Sermo LXVII: N. 5, Z. 3-5; dieses bonum commune wird näher ausgeführt für Sara N . 9 , Z . 5 - 1 1 . 14; für Elisabeth und Maria N . l l , Z. 1 5 N. 16, Z. 33. 74 Sermo LXV: N. 15, Ζ. 1. Im Falle zu erbringender Fruchtbarkeit beinhaltet die lex naturae zweierlei: die leibliche Vereinigung von Mann und Frau und dies im entsprechenden, d. h. im zeugungs- und gebärfähigen Alter: Z. 1-6; Ν. 1, Z. 4 f.: lex naturae, quam creavit (sei. Deus) naturae; Sermo LXVII: N. 3, Z. 4-7. 8-16: War bei Sara wie Elisabeth die Zeit der Fruchtbarkeit vorbei, so fehlte bei Maria die leibliche Vereinigung mit einem Mann: N . 3, Z. 4 0 - 4 4 ; N. 5, Z. 7; N. 6, Z. 29, N. 9, Z. 4 et passim. Vgl. auch De conc. catb. 111,7: N. 348, Z. 10. 75 Sermo LXV: N. 10, Z. 6; Sermo LXVII: N.2, Z. 5 f.: ordinariam dedisse naturae legem; Z.ll. 76 Pars prima: De epikia, qua Deus in nativitate Joannis Baptistae aliorumque usus est, et de bono publico, quod dispensationis supra legem naturae causa fuit: N.2, Z. 8-16 u. N . 4 , Z. 1-40. 77 Vgl. Aristoteles, EN V, 14: 1137 b21-1138 a3. Dazu Thomas, in Eth. V,16; p. 196, N. 1078 (Spiazzi). 78 Sermo LXVII: N. 2, Z. 9.17; N. 3, Ζ. 17.41; N. 4, Ζ. 1; N. 8, Z. 34; N. 9, Z. 3. Vgl. Auch Sermo LXV: N. 15, Z. 7; Sermo LXVII: N. 2, Z. 6. 79 Sermo LXVII: N. 5, Z. 12-14. 80 S. Th. I-II, 91c.; vgl. Kluxen, 2001, S.33.

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2.3 Lex naturae (= lex naturalis etc.) im ethischen Sinn In der Predigt C L X X X I X , gehalten am 5. Juni (Fronleichnam) 1455 zu Bruneck, vergleicht Cusanus Abraham als Mittler zwischen Gott und seinem ganzen Haus mit Mose als Mittler zwischen Gott und dem Volk Israel sowie mit Christus als dem Mittler zwischen Gott und allen Menschen.81 In dem zwischen Gott und Israel mittels Mose geschlossenen Bund enthalten die zehn auf den Tafeln niedergeschriebenen Gebote mit Ausnahme des Sabbatgebotes nur das, „was schon von Natur aus galt (quodfuit naturale). Denn die Vernunft hat alle diese Gebote aus sich (de se)."S2 Da aber die lex naturae vernachlässigt und durch Missbrauch aufgehoben (per abusum abolita) worden war, und zwar infolge des Nachgebens der Menschen gegenüber dem fleischlichen Begehren, wurde sie durch die Gesetzestafeln erneuert und in einen ausdrücklichen Bund überführt. 83 Abraham wurde von Gott aufgefordert, vor Ihm zu wandeln und vollkommen zu sein (Gen 17.1). „In diesen wenigen Worten sind alle leges naturae eingefaltet (complicantur). D e n n vor G o t t seinen Weg zu gehen und darin v o l l k o m m e n zu sein, das enthält alles. Wer nämlich vor G o t t seinen Weg geht und vollkommen ist, wird durch die Vernunft (ratio)u geführt und weicht nicht von ihr ab. Ein solcher weiß, dass der eine G o t t , der sich als allmächtig bezeichnet hat, zu glauben und zu verehren ist, und dass man d e m anderen nicht antun darf, was man an sich selbst nicht geschehen lassen will. D a s wurde Abraham und seiner N a c h k o m m e n s c h a f t aufgrund des Bundes auferlegt. E s war eine Sache des Naturgesetzes (legis naturae)."85

Mose erhielt nichts anderes als genau das, wenn auch explizit auf den Tafeln niedergeschrieben. Lediglich der Sabbat wurde gewissermaßen als Sakrament des Bundes hinzugefügt, wie ja auch die angeordnete Beschneidung Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham war.86 Wie nun die Gesetzestafeln des Mose die lex naturae nicht vernichtest 82 83 84

N . 15, Z. 1-26; s. auch Sermo C L X X I X : N . 10, Ζ. 11-45. Sermo C L X X X I X : N . 16, Z . 6 - 9 . Ebd. Z. 9-14. Lex naturae auch im Sermo C X X X V I I I : N . 5, Ζ. 1 f. Grundsätzlich unterscheidet Cusanus ratio (= Verstand) als das diskursive Vermögen vom intellectus (= Vernunft), dessen Proprium das videre ist, nicht mehr das discurrere. Aber es gibt nicht wenige Stellen in seinem Werk, die einen lockereren Gebrauch von ratio im Sinne von Vernunft nahelegen. So auch in der angegebenen Stelle.

85 Sermo C L X X X I X : N . 16, Z. 17-25. 86 Ebd. N . 16, Z. 31-39; vgl. auch N . 15, Z. 12-14.

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ten, sondern sie lediglich erneuerten und in einen ausdrücklichen Bund überführten, so hebt auch der Mittler zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus, die lex naturae nicht auf. Dadurch, dass er der Mittler des Neuen Testamentes geworden ist, „wollte Gott, dass alle nicht niedergeschriebenen und auf den Gesetzestafeln erneuerten .Verträge' der Natur ( o m n i a pacta naturae non scripta) in einer geistigen Vernunft ( s p i r i t u a l i intelligentia) aufgenommen würden. Eben diese Vernunft ist lebendigmachender Geist und das Wort Gottes, das die Seele mit ewigem Leben nährt." 87 Sakrament dieses Neuen Bundes ist die Eucharistie. 88 Der Bund des Neuen Testamentes besteht zwischen der Seele und dem Wort Gottes. So auch schon der Bund zwischen Gott einerseits sowie Abraham und seiner Nachkommenschaft andererseits. Aber dieser blieb noch im Verborgenen. 89 „Denn in der Bewegung der sinnenhaften Natur und in der Verheißung der Glückseligkeit in zeitlichen Dingen wurde die Bewegung über die Natur hinaus (supra naturam) und die Verheißung der ewigen Glückseligkeit bzw. der das Zeitliche [überschreitenden Glückseligkeit] versteckt und bedeckt. So wie in der vergänglichen Schrift der Tafeln der Geist der unvergänglichen Vernunft des Wortes Gottes versteckt wurde, den niemand ohne jenen Meister, in welchem das Wort Gottes ist, aus sich erforschen kann." 90 In der Predigt vom 13. März 1457 vertieft Cusanus seine eben dargelegte Position. Er wirft die Frage auf, ob Adam nicht auf den Weg der wahren Gerechtigkeit gestellt war. 91 Doch, antwortet Cusanus: „Denn einfach dadurch, dass er geschaffen worden ist und einen vernunfthaften Geist ( r a t i o n a l e m spiritum) erlangte, hat er in diesem Geist selbst die lex naturalis, nämlich den Weg der Gerechtigkeit, gefunden. Dieses Gesetz besteht darin, dass der erkannte Gott verehrt werde. Jenes Gesetz zeigt nämlich, dass die guten Sitten sich von den bösen unterscheiden und die guten zu wählen sind, d. h. dem anderen nicht das anzutun, was man selbst nicht erleiden will. 92 Es ist zudem leicht begreifbar; hat man es einmal eingesehen, so weiß jemand, dass er es seinen Famiiiaren kundzutun hat. Und 87 88 89 90

Ebd. N. 17, Z . 4 - 9 . Ebd. Z.lOf. Ebd. Z. 16-19. Ebd. Z. 19-26. Ähnlich der 3stufige Gedankengang in Sermo CLXXIX: N. 10, Ζ. 11-45; motus animae rationalis, scilicet naturae, legis scriptae et gratiae (Ζ. 11-13). 91 Sermo CCLXXII: N. 22, Ζ. 1 f. 92 Die Goldene Regel erscheint sehr oft bei Cusanus: vgl. Kremer, 2000, S. 115, Anm. 91. Uber den apriorischen Charakter dieser Regel s. ebd. S. 139f. die Diskussion Hinske/Kremer.

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dieses Gesetz der vernunfthaften Natur (lex naturae rationalis) ist der Weg der Gerechtigkeit, und so (ita) das Wort Gottes bzw. Christus, der lehrt, dass Er der Weg sei. Er ist nämlich der Weg des Friedens und der Gerechtigkeit."93

Will Cusanus mit diesen Worten die lex naturalis einfach mit Christus identifizieren? Er fährt fort: „Dem vernunfthaften Geist ist dieses Gesetz eingeschrieben, es ist ein Bild des Wortes Gottes (imago verbi Dei), so wie ein auf die Tafel geschriebenes Gesetz den Begriff oder das Wort des Gesetzgebers nachahmt (imitaturVon einer glatten Identifikation der lex naturalis mit Christus kann also keine Rede sein. Cusanus schildert dann,95 wie der durch das Wort Gottes vertriebene Teufel auf dieses neidisch wurde, damit es nicht über die vernunfthafte menschliche Kreatur die Herrschaft erlange. Dieser neidete dem Menschen auch das Heil. Deshalb versuchte er, den ersten Menschen, in dem sich die Quelle der menschlichen Fortpflanzung befand, unter sein Joch zu bringen und durch dessen Unterwerfung auch all seine Nachkommen sich zu unterwerfen. Auf diese Weise sollte der Mensch von der Betrachtung jenes Naturgesetzes (lex naturae) abgewendet und zu einer Beachtung der Dinge dieser Welt aufgewiegelt werden. Wörtlich heißt es dann: „Und so verführte er den Menschen solange, [...] bis er jene Lehre bzw. das Wort Gottes bzw. jenes natürliche Gesetz (ipsam doctrinam seu verbum Deisive legem illam naturalem) aus seinem Gedächtnis zum Verschwinden gebracht hatte (,abstulit)."96

Die Masse der Menschen ist daher in Adam verdorben und das Begehren des Menschen angesteckt (infectum). 97 Sogleich setzt der göttliche Heilsplan ein. „Da die göttliche Liebe (pietas) dieses unterdrückte (abolitam) natürliche Gesetz, nämlich den Weg der Gerechtigkeit, durch das geschriebene Gesetz erneuern wollte, damit es nicht wiederum durch die Sorglosigkeit der Sündigenden versage, hat sie zur Unterstützung jenes natürlichen Gesetzes das durch Mose niedergeschriebene Gesetz veröffentlicht." 98 93 Sermo CCLXXII: N . 2 2 , Z. 3-13. - Hervorh. v. mir! 94 Ebd. Z. 13-16. - Hervorh. v. mir! Vgl. oben Anm.68: Punkt 5: Danach ist die mit der sapientia Patris identische lex aeterna in ihrem Abbild in uns. 95 Ebd. Z. 16-28. 96 Ebd. N . 23, Z. 1-4. 97 Ebd. Z. 6 f. 98 Ebd. N . 24, Z. 1-5.

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Jedoch der Teufel erhielt erneut Gelegenheit, so dass auch jenes geschriebene Gesetz übertreten und sogar zum Anlass wurde, noch mehr zu sündigen." „Daher", schreibt Cusanus, „blieb letztlich nur übrig, dass das, Gesetz des Geistes' [Rom 8,2] bzw. das Wort Gottes kam. Dieses sollte in seiner menschlichen N a t u r den Menschen von der Herrschaft des Feindes der Wahrheit befreien. Denn solange dies nicht geschah, wurde der Mensch unter seinem [des Teufels] Sagen gehalten, und er hat es nicht vermocht, sich selbst aus dessen Knechtschaft zu befreien und zum Weg der Gerechtigkeit zurückzukehren. U n d so kam dieses W o r t Gottes selbst (ipsum verbum Dei), welches nämlich das Gesetz der Natur (legem naturae) in dem vernunfthaften Geist spricht, und nahm die menschliche N a t u r an, in der es den Fürst dieser Welt besiegte. Denn der Menschensohn ist nicht aus der [fleischlichen] Fortpflanzung Adams hervorgegangen." 1 0 0

Als singular (singulare) wird anschließend hervorgehoben, dass „Christus, in dem oder [vielmehr] der dieses Wort Gottes ist, nämlich das Gesetz des Lebens bzw. der Natur oder das Gesetz des vernunfthaften Geistes (lex spiritus rationalis),"101 ohne jeden Makel bzw. ohne Sünde in nicht mehr steigerungsfähiger Vollkommenheit in Ähnlichkeit mit den anderen sündhaften Menschen erschien.102 Im Grundriss liegen diese Gedanken schon im frühen Sermo IX von 1431 vor. Der Status der lex naturalis bzw. naturae, hier auch des ius naturale,103 ist dadurch gekennzeichnet, dass „allen" in ihm „Versammelten der Strahl des wahren Lebens nur in der Sonne der Gerechtigkeit [= Christus] und im Mond, am Firmament Marias,"104 zuteil wurde. Zur Zeit der lex naturae, verdeutlicht als Zeit vor der Sintflut, 99 Ebd. Z. 6-13. 100 Ebd. N . 2 5 . Z . 1-11. 101 Ebd. N.26, Z. 1-3. Für Christus haben wir daher in diesem Kontext folgende Begriffe: Verbum Dei - incorruptibilis intelligentiae spiritus verbi Dei - lex spiritus (Rom 8,2) - spiritualis intelligentia - spiritus veritatis - spiritus vivificans - lex spiritus rationalis - ipsa doctrina - lex naturalis - lex naturae: Sermo C L X X X I X : N. 17, Z. 4.7. 8f.24.; Sermo C C L X X I I : N.22, Z. 10f.; N.23, Z.4; N.25, Z.2; N.26, Z.2f.; Sermo C C X : N. 16, Z.3. Klar ist jedenfalls, dass die dem menschlichen Geist eingeprägte lex naturalis nur eine imago der mit Christus gleichgesetzten lex naturalis ist: Sermo C C L X X I I : N.22, Z. 13-16. 102 Sermo C C L X X I I : N.26, Z. 3-6. 103 Sermo IX: N . 5 , Z.2. 18; N . 6 , Z. 14; N . 7 , Z.8; N.37, Z.7f. 12; vgl. auch Sermo VII: N. 15, Z.2. Vgl. oben S. 167. 104 Näheres zu diesem Ausdruck im Sermo IX bei Kremer, 2000, S. 128f., u. Kremer, 2001, S.261. - Christus als Sonne der Gerechtigkeit auch im Sermo C L X X I X : N . 7 , Z.26; N. 10, Z. 1-3.

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ergoss sich der lebendigmachende Strahl nur ganz von ferne (remotissime).105 Auf diese Zeit der lex naturalis folgt die Zeit des geschriebenen Gesetzes und der Prophezeiungen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Propheten den eben genannten Strahl des wahren Lebens sehen und offenbar machen; er wird jetzt zwar näher gesehen, jedoch eher in der Weise von Ahnen (sentiebant). 106 Schließlich „hat dieser Strahl sich selbst in der Zeit der Gnade [ganz] nahe (propinque) auf der Erde geoffenbart, als er ,mit den Menschen verkehrte'" (Bar 3,38). D.h.: In der Zeit der lex naturalis empfangen die Menschen zwar auch den Strahl des wahren Lebens von der Sonne der Gerechtigkeit, aber bloß vom fernen Firmament, in der Zeit der Gnade dagegen von der Sonne der Gerechtigkeit auf Erden.107 Diese drei Erscheinungsweisen des radius divinus finden sich auch im Sermo C L X I X , ausgeführt anhand von vier Erkenntnisgraden, wobei der vierte, hier hinzugefügte, die Erkenntnis der Wahrheit in der ewigen Heimat bedeutet.108

2.4 Ergebnis a) Neben dem bereits in Punkt 1 genannten Unterschied zeigt sich nun: Cusanus versteht unter der lex naturalis (= lex naturae etc.)109 ein dem Menschen aufgrund seiner Schöpfung durch Gott geschenktes Datum. Gott hat der vernunfthaften Seele „das Licht seines Antlitzes gegeben." 110 Die lex naturalis ist dem vernunfthaften Geist eingeschrieben, sie ist ein Bild des Wortes Gottes, nicht anders, als wie ein auf die Tafel 105 Sermo IX: N . 6 , Z. 17; N . 3 7 , Z.22-25; N . 3 8 , Z. lOf. Vgl. Sermo LXV: N. 17, Z. 15f.: Viele Propheten sind aus dem Samen Abrahams hervorgegangen, die von ferne (a remotis) auf jenen für die Zukunft verheißenen Samen hinwiesen. Ferner Sermo X I X : N . 6 , Z. 1-12, bes. Z. 11: et ita a longe aliquid sentiebant. - Haubst, 1952, S. 15-41. 106 Sermo IX: N. 6, Ζ. 19f.; N. 7, Ζ. 17f.; N. 8, Z. 5 f.; N. 37, Ζ. 18-25. 30-34; N. 38, Z. 1-4. 107 Ahnlich die drei Stadien im Sermo C C X : N. 15, Ζ. 1 - N. 16, Z. 22; ferner Sermo C C L X V I I : N. 3, Ζ. 1 - N. 5, Z. 12. 108 Sermo C L X I X : N. 3, Ζ. 11-26. 109 Vgl. oben S. 166f. die Zusammenstellung der synonymen Ausdrücke. Ähnlich in Anm. 101 die Zusammenstellung der Begriffe, mit denen Christus in diesem Zusammenhang gleichgesetzt wird. 110 Sermo C C X : N. 15, Z. 11 f. unter Anspielung auf Psalm 4,7. Die Inanspruchnahme dieses Psalms findet sich in Sermo LVIII: h XVII, N. 9, Z. 7; Sermo C C L X : h X I X , N. 26, Z. 2f.; Sermo C C L X X I I : h X I X , N. 6, Z. 3-10; De ven. sap. 15: h XIII, N. 42, Z.4f; Comp. 10: h X I / 3 , N. 33, Z. 12-19.

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geschriebenes Gesetz den Begriff oder das Wort des Gesetzgebers nachahmt. Die Vernunft hat alle zur lex naturalis gehörenden Gebote aus sich (de se), d. h. aufgrund ihrer Vernunftnatur. Dieses Gesetz kann man zwar unterdrücken, aus dem Gedächtnis verlieren und vergessen, aber die gebrauchten lateinischen Worte abolita und abstulit meinen gerade nicht ein radikales Ausrotten oder Auslöschen der lex naturalis in unserem Geist. Denn sonst hätten weder die Tafeln des Mose noch Christus dieses natürliche Gesetz erneuern (renovare) können. Auf diese zweifache renovatio ein und desselben Gesetzes legt Cusanus allergrößten Wert. Das wird auch nochmals dadurch deutlich, dass die lex naturalis durch die Gesetzestafeln des Mose keine Umgestaltung oder Hinzufügung, mit Ausnahme des schon genannten Sabbatgebotes, sondern lediglich eine Unterstützung (adiutorium) erhielt. Und es ist Christus bzw. das Wort Gottes bzw. die geistige Vernunft (spiritualis intelligentia) bzw. „das Gesetz des Geistes" (Rom 8,2) bzw. der spiritus veritatis,in der dieses natürliche Gesetz in dem vernunfthaften Geist des Menschen spricht. „Durch die Ankunft des Mittlers hörte das Gesetz der Natur, das in den durch Mose gegebenen Gesetzen ausgefaltet wurde (explicata), nicht auf (non cessavit), wie das Evangelium dartut." 112 Im Sermo CCLXXIII heißt es deshalb: „Dasjenige nämlich, was gegen den vernunfthaften Geist und das ihm als vernunfthaftem Geist eingezeichnete Gesetz der Natur ist (legem naturae ei [...] insignitam), wird Tod oder Satan oder Sünde geheißen."113

Das Bedeutende und von Thomas sich Unterscheidende ist die rein christologische Deutung der lex naturalis durch Cusanus. Er kann ja auch schon die Schöpfung als solche nur vom Verbum incarnatum her verstehen. 114 Wir können und müssen daher drei christologische Pha1 1 1 Sermo C C X : N . 16, Z. 3 1 1 2 Sermo L X X I I : h X V I I , N . 4, Z. 4 - 6 . 1 1 3 N . 9, Z. 1 5 - 1 7 . - H e r v o r h . v. mir. G e m ä ß Sermo C C L I V (251): h X I X , N . 35, Z. 8f., ist die lex naturalis in der conscientia anzusiedeln, die ihrerseits ihren Sitz in der anima hat, ja es heißt: „Im Buch des Gewissens ist die lex naturalis nicht nur eingeschrieben, sondern sie w i r d gewissermaßen dieses" (=Gewissen) (N. 36, Ζ. 1 f.). Weiteres über das Verhältnis v o n lex naturalis u. conscientia habe ich nicht untersucht. 1 1 4 Sermo C L I V : N . 2 1 , Z. 1 2 - 1 9 : Sed quia h o m o n o n potuit attractare D e u m , qui est homini invisibilis, [...] tunc finis creationis est h o m o , qui Filius Dei. Filius enim est Patris Filius sicut v e r b u m intellectus [...]. U n d e nisi Deus talem creasset hominem, cuius intellectus fuisset exaltatus ad unionem verbi Dei, remansisset Deus incognitus. Est igitur p r o p t e r talem omnis creatura, quia ipse finis. - Weitere Belege hierzu im Parallelenapparat zu N. 9, Z. 3 1 - 3 8 derselben Predigt (h, S. 161 f.).

Das natürliche Gesetz (lex naturalis)

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sen, genauer drei christologische Stadien eines und desselben natürlichen Gesetzes unterscheiden: die mit der Schöpfungsordnung dem vernunfthaften Geist eingeschriebene bzw. eingezeichnete lex naturalis als anfänglicher Weg der Gerechtigkeit, aber schon diese anfängliche Gerechtigkeit ist nicht als Abbild einer lex aeterna, sondern als Abbild des Wortes Gottes nur von diesem her zu verstehen; sodann den im Gesetz des Mose gegebenen Weg der Gerechtigkeit, gedacht zur Erneuerung, nicht Auffüllung oder Ergänzung der lex naturalis, daher ebenfalls nur vom Wort Gottes bzw. Christus her zu verstehen; schließlich das Erscheinen des Wortes Gottes selbst in dieser Welt, das sich als der vollkommenste Weg der Gerechtigkeit und als Gesetz des Geistes (lex spiritus) versteht, ohne dass dadurch der schon in der Schöpfungsordnung mitgegebene Weg der Gerechtigkeit in der Form der lex naturalis aufgehoben würde. - Von einer Hinzufügung spricht Cusanus in einem anderen Zusammenhang, nämlich bei der Frage der Erkenntnis Gottes. Im Sermo CCLVIII legt er seinen Zuhörern einen zweifachen Offenbarungsbegriff Gottes dar: einen über jede Vernunft hinaus in Jesus Christus im Licht des Glaubens und der Gnade, und einen zweiten im Licht der Natur {in lumine naturae) aufgrund der Neigung des inneren Menschen. Entsprechend gibt es auch eine doppelte Gotteserkenntnis, eine natürliche und eine über Jesus Christus, wofür meistens die Frage des Philippus an Jesus: Herr, zeige uns den Vater Qoh 14,8), als Grundlage genommen wird. Der Weg im Licht der Natur führt zu positiven Aussagen über Gott, die allerdings nicht so wahr sind wie die negativen, deren Nachteil wiederum darin besteht, dass sie uns nur sagen, was Gott nicht ist. „Deshalb erwies es sich als notwendig, dass die Offenbarung bzw. die Gnade zur Natur hinzugefügt wurde (addi), damit die antlitzhafte Schau [Gottes] erreicht werde." (N. 7, Z. 10-21; N. 11, Z. 1-23). In der frühen Predigt I X von 1431 in Koblenz wird der Strahl des wahren Lebens (= Christus) entfernt von allen als lex naturalis erfahren, von den Propheten wird er schon ziemlich nahe gesehen, bis er sich endlich selbst in der Zeit der Gnade offenbart. Parallel zu den Sermones C L X X X I X und C C L X X I I , wo wir eine implizite Offenbarung Christi in der anerschaffenen lex naturalis und dem geschriebenen Gesetz des Mose bis hin zur expliziten Selbstoffenbarung Christi haben, findet sich daher im Sermo I X die Offenbarung vom göttlichen Strahl des wahren Lebens 1. in der lex naturalis, 2. in den Propheten bis 3. hin zu Christi Selbstoffenbarung in seiner Menschwerdung.

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Die auch Thomas und anderen bekannte Einteilung des Geschichtsverlaufs in die Zeit der Natur, des Alten Gesetzes und der Gnade115 beinhaltet nicht, wie Honnefelder zutreffend hervorhebt, dass die Zeit der Natur durch die Zeit der Offenbarung des Gesetzes einfach zu Ende geht.116 Aber der Dreitakt des Geschichtsverlaufs ist für Cusanus eindeutig christologisch strukturiert. Christus erscheint nicht als Vollendung im Sinne einer Ergänzung und Hinzufügung (superadditus) zur lex naturalis sowie zu Gesetz und Propheten, sondern als deren letztgültige Ausformung und Ausgestaltung. Was die beiden ersteren in ihrem Wesen schon immer waren, nämlich Christus als „das Gesetz des Geistes", wenn auch in verhüllter und somit, cusanisch gesprochen, in eingefalteter Weise (complicatum), das ist Christus in ausgefalteter Weise. Wir haben daher kein Natur- Ubernatur-Schema, sondern das einer stufenweisen Explikation eines und desselben Grundes, der Christus heißt. Es stellt sich damit freilich die Frage, ob die lex naturalis von Cusanus dann nicht doch zu einem reinen Theologumenon erklärt worden ist. Die Antwort muss wohl heißen: Ja. b) An konkreten Inhalten der lex naturalis werden von Cusanus genannt: Verehrung Gottes und Glaube an ihn,117 die Erkenntnis der sittlichen Differenz, 118 die Goldene Regel119 und, mit Ausnahme des Sabbatgebotes, die Gebote der zwei Gesetzestafeln.120 Das Ganze bringt er auf den Punkt des biblischen Wortes: Wandle vor Gott und sei vollkommen (Gen 17.1). Darin sind für ihn alle leges naturae (!) eingefaltet (>complicantur).121 Den Weg der Schlussfolgerungen oder näheren Bestimmung der lex naturalis über die obersten und allgemeinsten Prinzipien bis hin zu konkreten Handlungsregeln kennt Cusanus nicht bzw. greift er nicht auf. Wohl aber betont er mehrfach sehr klar, dass es sich bei der apriorischen Anlage der lex naturalis nicht nur um die nackte Vernunftfähigkeit, sondern zugleich um apriorische Inhalte handelt. So führt er etwa im Sermo C C X X X I I I vom Trinitätssonntag 1456 zu Brixen aus:122 Unser vernunfthafter Geist, geschaffen nach dem Bild Got115 116 117 118 119 120 121 122

5. Th. I—II, 98, 6c.; Pesch, 1977, S.609f. Honnefelder, 1990, S. 10. Sermo C L X X X I X : N. 16, Z. 20-22; Sermo CCLXXII: N.22, Z.5f. Sermo CCLXXII: N. 22, Z. 6f. Sermo C L X X X I X : N. 16, Z.22f. Vgl. oben Anm.92. Sermo C L X X X I X : N. 16, Z. 1-9. 32-35. Ebd. N. 16, Z. 15-17. N. 6, Z. 1-18. Näher ausgeführt bei Kremer, 2000, S. 117-119.

Das natürliche Gesetz (lex naturalis)

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tes, enthält in seinem Königreich den Himmel, in dem alles ist, und dieser wird Gedächtnis (memoria) geheißen. Der zweite Himmel in unserem Geist umfasst das Gebiet der Unterscheidung (discretio) und Auswahl (electio). Deshalb wird er die Kenntnis (notitia) genannt. Der dritte Himmel ist dann der Himmel der Wonnen (deliciae), und der heißt Wille {voluntas).

Es heißt dann wörtlich: 1 2 3

„Die memoria [des Geistes] enthält innerhalb ihrer die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Schönheit und was immer als solches immerwährend und ewig ist, als das Gedächtnis der Ewigkeit. Im zweiten Königreich urteilt unser Geist über das Gerechte, Wahre und Schöne. Und wenn das erste (Königreich) diesem [zweiten] nicht die Wahrheit, die Gerechtigkeit und Schönheit darböte, hätte dieses nicht dasjenige, womit es urteilte, was gerecht, was wahr und was schön ist. Im dritten Königreich genießt unser Geist und freut sich, das Wahre, Gerechte und Schöne gefunden zu haben." Die Maßstäbe des Wahren, Guten, Schönen und ähnlicher Inhalte sind daher apriorischer Natur, weil anerschaffen, und keineswegs, wie C u sanus mit Nachdruck lehrt, erst durch die Erfahrung erworben. 1 2 4

123 Sermo C C X X X I I I : N . 6 , Z. 19-25. Dazu Kremer, 2000, S. 119-121. 124 Sermo C C L X X I I I : N.29, Z. 3-10; De mente 4: N. 78, Z. 2 - 6 . Vgl. Zum Ganzen Kremer, 2000, S. 101-105 u. wie in Anm. 122 u. 123.

2. Teil: Abwägende Vernunft in der neuzeitlichen und gegenwärtigen Ethikdiskussion

Abwägungen durch Legislative und Judikative in De legibus ac Deo Legislatore von Francisco Suärez NORBERT BRIESKORN In einem ersten Schritt konfrontiere ich Grundzüge der zeitgenössischen Rechtsanwendungslehre mit Grundpositionen von Suärez (1.). Im zweiten Schritt sind Abwägungen vorzustellen, welche Gesetzgeber, Gesetzesadressat und Richter im suarezianischen Ansatz vorzunehmen haben (2.); dessen Eigenheit wird ein knapper Schluss skizzieren (3.).

1. Zeitgenössische und suarezianische Rechtsanwendungslehre im Vergleich Die Rechtsanwendungslehre trägt gelegentlich auch den Namen der Rechtsmethodologie und verbindet sich im deutschsprachigen Raum jede Auswahl ist immer auch subjektiv - mit den Namen von Karl Engisch, Franz Bydlinski, Hans-Martin Pawlowski sowie Joachim Vogel.1 Ausdrücklich geht übrigens auf die uns beschäftigenden Fragen Wolfgang Enderlein ein.2 1.1 Diese herrschende Rechtsanwendungslehre ist grundsätzlich antimetaphysisch eingestellt, unternimmt es aber nicht selten, einen exkursartigen Seitenblick auf das Naturrecht zu werfen. Der Exkurs gibt Engführungen und Aporien der Rechtsanwendungslehre zu erkennen, 1 Karl Engisch, 1964 (mittlerweile 9 1997), Einführung in das Juristische Denken, Stuttgart: W. Kohlhammer: Ich zitiere nach der Erstauflage von 1964; Franz Bydlinski, 2 1991 (1982), Juristische Methodenlehre und Rechtshegriff, W i e n / N e w York: Springer Verlag; Hans-Martin Pawlowski, 3 1999 ( 2 1991; 1981), Methodenlehre für Juristen. Uberarbeitete, erweiterte Auflage, Heidelberg: C . F. Müller; Joachim Vogel, 1998,Juristische Methodik, Berlin - N e w York: De Gruyter. 2 Wolfgang Enderlein, 1992, Abwägung Alber.

in Recht und Moral, Freiburg/München: Karl

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ohne den jeweiligen Autor jedoch von seinem positivistischen Grundkurs abbringen zu können. Bereits der Titel des Werkes De legibus ac de Deo legislatore3 zeigt an, was das suarezianische Denken von den modernen Ansätzen trennt. Die Gottesbeziehung des Menschen ist ein von Suärez nicht diskutierter und in Frage gestellter Ausgangs- und Zielpunkt. Sie bedingt wiederum die Gottesbeziehung von Recht und Gesetz, und erst die Metaphysik erlaubt die angemessene Einordnung der Rechtsphilosophie. Selbstverständlich fehlt es auch in seinem Werk nicht an Passagen, welche das Naturgesetz, das Gesetz und das Recht so behandeln, „als ob es Gott nicht gäbe", doch handelt es sich dabei um ein ausschließlich methodisches und kein weltanschauliches Ausklammern. 4 Gerade diese grundsätzliche Anbindung an Gott erlaubt es dann auch, „relative Autonomien" zu erkennen. „ E s steht fest, dass die (im N a t u r r e c h t b e g r ü n d e t e ) G e s e t z g e b u n g s m a c h t w e d e r einen religiösen G l a u b e n n o c h irgendein anderes übernatürliches G e s c h e n k i m H e r r s c h e r b z w . in d e r G e s e t z g e b u n g s i n s t a n z e r f o r d e r t . D e r G r u n d d a f ü r ist, d a s s G l a u b e u n d d i e ü b r i g e n G e s c h e n k e einer h ö h e r e n E b e n e a n g e h ö r e n (als d e r n a t u r r e c h t l i c h e n ) ; s o m i t k a n n sie d a s N a t u r r e c h t nicht z u r A u s ü b u n g d i e s e r G e w a l t e r f o r d e r n . " 5

1.2 Der Rechtsanwendungslehre liegt das Bewusstsein von der Eigenheit, Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit des Rechts zugrunde. Ihr Rechtssystem ist in sich geschlossen, stimmig und widerspruchsfrei gedacht. Nun ist eine solche künstliche Isolierung dem Rechtsdenken zweifellos gut bekommen, indem man ihm höhere Aufmerksamkeit und gründliches Bemühen zugewendet hat, und von ihm nicht mehr so leicht in Richtung Moral oder Moralität ausweichen konnte. Spätestens jedoch dort, wo die Verpflichtung der Rechtssätze zu diskutieren war, musste man auf die Systeme „Politik" und „Staat" überwechseln, wegen der Frage der Belastbarkeit der Adressaten und wegen der Gesetzesexekution. 3 De legibus ac Deo legislatore [abgekürzt in der Folge: DL]; Beispiel für die Zitierweise: II. Buch. 6. Kapitel. Nr. 3 werden so wiedergegeben: DL II.6.3.; falls der Text aus von mir noch nicht übersetzten Büchern genommen ist, füge ich bei „Vives VI, S. 5 b", entnommen Bd. 6 der Vivesausgabe, Seite 5, rechte Spalte; wenn übersetzt, so: Suärez, 2002 und die entsprechende Seite. 4 DL II.6.3, Suärez, 2002, S.425. 5 DL III.10.2; Vives V, S . 2 0 8 b : „Certum sit hanc potestatem neque fidem neque aliud donum supernaturale requirere in principe seu in subiecto in quo existit [...]. Et ratio clara est, quia fides et reliqua dona sunt superioris ordinis: ergo non possunt iure naturae requiri ad hanc potestatem."

Abwägungen durch Legislative und Judikative

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Und Edmund Mezger sprach beispielsweise die Öffnung auf „die Moral" an, wenn er schrieb: „ D a s Recht als , B e s t i m m u n g s n o r m ' ( = Imperativ) ist gar nicht .denkbar' ohne das Recht als .Bewertungsnorm', das Recht als B e w e r t u n g s n o r m ist unbedingte logische Voraussetzung des Rechts als B e s t i m m u n g s n o r m [...]. D e n n wer jemanden zu etwas .bestimmen' will, der muss zuvor wissen, zu was er ihn bestimmen will: er muss jenes E t w a s in bestimmtem positivem Sinne .bewerten'. Logisches Prius des Rechts als B e s t i m m u n g s n o r m ist überall das Recht als Bewertungsnorm, als .objektive L e b e n s o r d n u n g ' " . 6

Wer nun fragt, woher aber diese Wertungen genommen werden oder wonach gewertet wird, erhält von Joachim Vogel die Antwort, „dass normative Richtigkeit oder Gerechtigkeit nicht an Inhalten, sondern nur an (richtigen) Verfahren gemessen werden kann". 7 Den Verfahrensstandards selbst sei die Gerechtigkeit inhärent. Wo streng nach Verfahren vorgegangen werde, um das Gesetz oder das Urteil oder den Verwaltungsakt Zustandekommen zu lassen, könne das Verfahrensergebnis schon deshalb als gerecht anerkannt werden, weil für alle die gleiche Chance bestand, das dem Verfahren abzuverlangende Ergebnis zu erhalten. Suärez geht es gleichfalls nicht um eine Ansammlung irgendwelcher Rechtssätze, sondern um die - idealiter - vollständige, nicht Uberflüssiges enthaltende und nichts Notwendiges entbehrende Einheit der Rechtsordnung. Diesem Erfordernis werden von Natur aus die lex aeterno, und die lex naturalis gerecht, während die von Menschen anzufertigenden und zu erlassenden Gesetzes unter der entsprechenden Sollensforderung stehen, so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu regeln.8 Selbstverständlich befürwortet auch Suärez die Verfahren. Strittig ist jedoch der Stellenwert und Rang der Verfahren zwischen ihm und der Rechtsanwendungslehre. Ein Verfahrensergebnis ist für Suärez nicht deshalb schon gerecht, weil das Verfahren eingehalten wurde, sondern wenn und insoweit das Ergebnis material gerecht ist. Die Verfahrensstandards sind nicht Produzenten gerechter Lösungen, sondern nur wenn und nur insoweit sie das Ergebnis von auf Gerechtigkeit ausgerichteter Überlegung sind. Für Suärez stellt sich gleichfalls die Frage, was denn ein richtiges Verfahren sei. Würde man letztlich darauf ver6 Zitiert von Engisch 1964, S. 27f. (aus: „Die subjektiven Unrechtselemente", in: Gerichtssaal 89, S.240f.). 7 Vogel, 1998, S. 2. 8 DL 1.3; Suärez, 2002, S. 54-79 und S. 674 f.

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weisen, dass die überwiegende Akzeptanz der Betroffenen die Standards legitimiere, so würde Suärez auch hier dagegenhalten, woher man denn wisse, dass die Mehrheit der Stimmen auch das Gerechte treffe. Oder strebe man, so ließe sich weiterfragen, gar nicht eine gerechte, sondern eine durchsetzbare Lösung an? Der immense Wert von Mehrheiten für den Frieden der politischen Gemeinschaft ist für ihn dabei unbestritten. Aber die Mehrheit ist keine notwendige, geschweige denn eine hinreichende Bedingung für das Finden gerechter Lösungen, wie Suärez die mehrheitlich geduldete englische Rechtspolitik unter James I. vor Augen führte. Dabei kennt und bejaht Suärez durchaus das Finden von Lösungen mittels der Mehrheit, so etwa wenn es um die Auslegung von Wortlaut, Absicht des Gesetzgebers und objektivem Zweck des Gesetzes geht.9 Wie soll man feststellen, welches der authentische Wortsinn ist? Einstimmigkeit zu erreichen ist unrealistisch. 10 Es ist die „Elite" der mit dem Recht Beschäftigten zu befragen. Falls alle Juristen darin übereinkommen, dass ein bestimmter Sinn des Gesetzes anzunehmen sei, so ist dieser Sinn zu Grunde zu legen. Bleibt es bei verschiedenen von einander abweichenden Auslegungen, dann hat eine Auswahl, „electio", zwischen den Meinungen stattzufinden. 11 Sagt Suärez etwas über die Kriterien, welche eine solche Electio leiten sollen? Ja! Es muss sich eine gerechte, vernünftige und auf das Gemeinwohl bezogene Lösung ergeben.12 Das Ergebnis darf also weder ungerecht noch absurd sein; daraufhin ist es zu überprüfen. Suärez bestreitet auch keineswegs das Kriterium der inneren Stimmigkeit. Dazu ist jedoch nicht einfach hin der vorhandene Bestand an 9 Dl VI. 1.7; Vives VI, S. 3 b: „Tria igitur capita observanda sunt [...], scilicet verba legis quatenus significativa sunt, mens legislatoris, et ratio [...]." Zur Gewichtung der drei und dem Vorrang der „verba" vor der „ratio": DL. VI.1.19; Vives VI, S. 8a. 10 DL VI.1.18; Vives VI, S. 7ab: „Nam cum textus ille requirat concordiam eligentium, et concordia in rigore significare videatur ut nullus discrepet, nihilominus sufficere censet ut fiat maiori parte consentiente [...]." 11 DL VI.1.6; Vives VI, S. 3a: „nam si in alicuius legis intelligentia omnes interpretes conveniant, faciunt humanam certitudinem [...]; tum quia tanta consensio doctorum indicat communem acceptationem et observantiam legis in illo sensu; tum etiam quia vix potest accidere ut contra communem omnium doctorum interpretationem tarn efficax ratio occurrat, ut in conscientia reddat securam contrariam intelligentiam. At vero ubi variae sunt doctorum interpretationes, iuxta pondus rationum et doctorum auctoritatem iudicandum est; occurrebat hic disputatio de electione opinionum [...]." 12 DL III.12. 12; Vives V, S. 219a-220a: Abwägungen: „per rationem et arbitrium humanuni" und VI. 1.3; Vives VI, S.2b: „et potest esse ad commune bonum necessarium".

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Gesetzen als Maßstab zugrunde zu legen, sondern das materiale Kriterium der Sinnhaftigkeit bzw. Zweckmäßigkeit. Der Vergleich mit anderen Gesetzen desselben Gesetzgebers soll sie zutage fördern: So ist zu prüfen, welche Auslegung der primär auszulegenden Norm andere geltende Gesetze unsinnig werden ließe; gäbe es mehrfach einen solchen Fall von Unsinnigkeit, so kann diese Auslegung auch nicht die des primär zu prüfenden Gesetzes sein. Umgekehrt: diejenige Auslegung, welche auch für die anderen Gesetzen eine sinnvolle Auslegung ergäbe, würde auch die des primär auszulegenden Gesetzes sein dürfen. 13 Falls sich übrigens kein Sinn der Gesetze oder der Norm feststellen lässt und somit das Gesetz einfachhin unklar ist, so erklärt Suärez dieses „Gesetz" für nichtig: Ist nämlich das „Gesetz" von einer solchen fundamentalen und nicht zu beseitigenden Unklarheit gekennzeichnet, so hat es als Nicht-Gesetz zu gelten.14 1.3 Die Rechtsanwendungslehre geht von der pluralen Gesellschaft aus, unterstellt ihre weltanschauliche Vielfältigkeit und empfiehlt daher dem Recht, sich auf die allgemein akzeptierten Prinzipien zu beschränken, Rahmen zu schaffen und Verfahren, jedoch auf inhaltliche Vorgaben zu verzichten. Sie wären eben gar nicht mehr durchsetzbar. Der Gesetzesbegriff des Suärez ist normativ aufgeladen. Ganz im Sinne des Suärez beschrieb Isidor von Sevilla die Anforderungen an das Gesetz so, dass es sittlich gut, gerecht, notwendig und nützlich sein und in vielfachen Abgleichungen mit dem jeweiligen kulturellen Leben der Menschen stehen müsse.15 13 DL VI. 1.18; Vives VI, S. 7 b: „Altera via colligendi mentem legislatoris per comparationem ad alia iura est per concordiam. Ubi enim conveniens sensus legislatoris sumi non potest ex verbis in rigore ac naturali proprietate sumptis, et alia significatio suppetit in qua sensum accomodatum reddunt, multum iuvabit si talis significatio verborum consentanea sit aliis iuribus, in quibus similia verba in illo sensu accipiuntur vel aequiparantur; tunc enim valde probabilis fit talis interpretatio ex mente legislatoris, quia secundum ius loqui praesumitur." 14 DL VI.1.11; Vives VI, S.5a: „Quod si verba legis adeo essent aequivoca ut neque ex antecedentibus, neque ex subsequentibus, nec ex materia aut ratione legis constare posset definitus sensus eius, illa non esset lex, quia non solum non esset clara, verum etiam neque mentem legislatoris satis significaret" und DL VI.1.13; Vives VI, S. 5b: „homines non possunt mentem alterius hominis percipere, nisi ex verbis eius [...] si legislator per verba legis suam mentem non declaret, non constitueretur lex, nec oriretur obligatio [...]." 15 DL 1.9.1; Vives V, S. 38a: Suärez zitiert Isidor. Etymolog. 5. Buch. 3. Kap.: ,Lex erit omne quod ratione constiterit, duntaxat quod religioni congruat, quod disciplinae

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Suärez will die Aufgabe des Gesetzes dabei nicht darauf beschränkt wissen, eine äußere Rahmenordnung errichten zu müssen, um die persönliche Lebensführung und die je subjektiven Lebenspläne allenfalls zu schützen, nicht aber irgendwie zu beeinflussen. Die Adressaten sollen sich vielmehr im Ansatz des Suärez erziehen lassen. Bezeichnender Weise bringt Suärez das Gesetz und das Recht nicht so eng mit dem an der äußeren Erfüllung interessierten Durchsetzungszwang als mit dem auf die innere Einstellung abzielenden Verpflichtungscharakter zusammen: tus, bzw. lex est obligatio.16 Das Gesetz soll zur Tugend führen. Und auch wenn es nicht Sache des Gesetzes sein kann, einen rein inneren Akt anzuordnen,17 so hat es doch die Bedingungen eines tugendhaften Lebens zu schaffen. Die Frage des 13. Kapitels des ersten Buches, ob es eine vom Gesetz zu beabsichtigende Wirkung sei, die Adressaten gut zu machen, wird vorbehaltlos bejaht.18 Wenn zum Beispiel Suärez auf die Strafverhängung zu sprechen kommt, so stehen für ihn - ausgelöst durch das Verbrechen - Magistrat wie Richter unter dem sie innerlich bindenden Befehl, den Täter zu fassen und zu verurteilen; für den Täter seinerseits besteht die sittliche Pflicht, die gerechte Strafe entgegenzunehmen. Muss der zum Tode oder zu einer Leibesstrafe Verurteilte bei seiner eigenen Exekution mit aktiv helfen? Nein, er muss es nicht, sagt Suärez, wegen der Härte der Strafe. Darf der rechtmäßig verurteilte Täter aus dem Gefängnis fliehen? Es hängt von den humanitären Bedingungen der Haft ab, so Suärez. Ein Galeerenhäftling, dem sich die Gelegenheit zur Flucht bietet, dürfe sie wahrnehmen.19

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conveniat, quod saluti proficiat" und aus 5. Buch. 21. Kapitel sowie 2. Buch. 10. Kapitel: „Erit autem lex honesta, iusta, possibilis, secundum naturam, secundum consuetudinem patriae, tempori locoque conveniens." Deutscher Text in: Suärez, 2002, S. 185 mit Korrekturen an Vives-Text. DL 1.14; Suärez, 2002, S.266-279. DL III.13.2; Vives V, S.222b: „Lex mere humana non potest praecipere actum pure internum directe et secundum se." DL 1.13; Suärez, 2002, S.257-265; Vives V, 1.13, S.54a: „Utrum effectus a lege intentus sit facere subditos bonos?". Zur Verpflichtung des Richters, das Gesetz anzuwenden: DL V . l l ; Vives V, S . 4 6 5 b - 4 6 9 a ; zur Verpflichtung des Verurteilten, die Strafe im Gewissen auf sich zu nehmen: DL V.10; Vives V, S . 4 5 9 b - 4 6 4 a ; zum Galeerensträfling: S.464a; Th. Hobbes antwortet im Leviathan (1651) im 14. Kapitel, §8, S. 101 und §29, S. 107. S. 107: „Ein Vertrag, sich nicht mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen, ist immer nichtig [...]; niemand [kann] sein Recht, sich vor Tod, Verletzung und Gefangenschaft zu bewahren, übertragen oder darauf verzichten. Das Vermeiden dieser Gefahren ist nämlich der einzige Zweck jeden Rechtsverzichts [...]."

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Abwägungen durch Legislative und Judikative

2. Abwägungsprozesse bei der Legislative, auf Seiten des Adressaten und der Judikative 2.1 Ist abzuwägen, ob es Gesetze überhaupt geben soll? „Keine politische verfasste Gemeinschaft kann sich im Sein erhalten, wenn sie keine Ordnungsmacht ihr eigen nennt, zu deren Aufgabe es gehören muss, für ihr gemeinsames Wohl zu sorgen und Maßnahmen zu planen. Wie notwendig dies ist, zeigt der natürliche und Erfahrung im politischen Körper." 20 Ein Erfahrungsargument! Menschen müssen diese procuratio men.

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„Es steht nämlich fest, dass es eine solche Macht in den Menschen geben muss, da ja die Menschen auch schon nicht zu Anfangszeiten von Engeln geleitet wurden, und noch weniger unmittelbar von Gott selbst, der durch das allgemeine Gesetz mittels der diesem Zweck angepassten Zweitursachen die Dinge lenkt. Somit ist es notwendig und natürlich, dass Menschen durch Menschen regiert werden." 21 In der Verantwortung der Menschen liegt es auch, die rechte Staatsform zu wählen und sich, was richtig wäre, für die gemischte Staatsform zu entscheiden; aber „diese ganze Abwägung hängt von menschlicher Überlegung und Wahlentscheidung ab." 2 2 D e r Notwendigkeit von Gesetzen widmet Suärez das gesamte dritte Kapitel des ersten Buches seiner Abhandlung. 2 3 Was die Kompetenz zur Gesetzgebung betrifft, so gilt: „Der aus Menschen gebildeten Staatsleitung, welche in ihrem Instanzenzug die oberste Stelle einnimmt, steht die Macht zu, die ihr angemessenen Gesetze zu erlassen, d. h. für die politische Gemeinschaft bzw. von Menschen gemachte, welche kraft Naturrechts rechtskräftig und gerecht gemacht sind, wenn alle übrigen Bedingungen, die für ein Gesetz nötig sind, Beachtung fanden." 24 20 DL III.1.5; Vives V, S. 177b: „nullum corpus potest conservari nisi sit aliquod principium ad quod pertineat procurare et intendere commune bonum eius, ut in corpore naturali constat, et in politico idem docet experientia." 21 DL III.1.5; Vives V, S. 177b: „constat enim talem potestatem in hominibus esse debere, quia homines naturaliter non gubernantur politice per Angelos, neque immediate per deum ipsum, qui lege ordinaria operatur per causas secundas proportionatas: ergo necessarium ac naturale est ut per homines gubernentur." 22 DL III.4.1.; Vives V, S. 184 ab: „pendet ergo tota haec res ex humano consilio et arbitrio." 23 DL 1.3: „Quanta sit necessitas et varietas legum?"; Suärez, 2002, S.54-79. 24 DL III. 1.6; Vives V, S. 177 b. 178 a: „magistratus humanus, si in suo ordine supremus sit, habet potestatem ferendi leges sibi proportionatas, scilicet, civiles seu humanas

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2.2 Ist an den Gesetzgeber als Gesetzgeber ein sittlicher Maßstab zu legen? Der Gesetzgeber muss zuständig zur Gesetzgebung sein und soll sittlich gute Gesetze erlassen; nie darf er direkt zum Schlechten verleiten. Er muss sich vor Augen halten, dass es immer noch das geringere Übel ist, überhaupt das Gemeinwesen zu lenken und es eventuell sogar schlecht zu leiten als überhaupt nicht zu regieren.25 Damit wird aber wegen der naturrechtlichen Ein- und Anbindung keinem blinden Dezisionismus das Wort geredet.26 Im siebten Kapitel des ersten Buches sagt Suärez, dass von dem Gesetzgeber verlangt wird, gute Gesetze zu machen; „gute Gesetze" sind Gesetze, die dem Gemeinwohl dienen, welche die Lasten gerecht verteilen und damit nützlich sind.27 Ist es jedoch nicht unerlässlich, um diese Leistung zu erbringen, selbst tugendhaft zu sein? Suärez, der sehr klar zwischen dem Wünschenswerten und dem Notwendigen unterscheidet, verneint die Frage. Als Gesetzgeber kann er das Ziel - das tugendhafte Leben - bejahen und - abwägend - das richtige Mittel finden, ohne als Mensch sich dem Ziel zu unterwerfen. Wegweiser müssen den Weg nicht gehen.

2.3 Ist der Abwägungsprozess ein rationaler Prozess? Findet aber eine rational-methodische Abwägung überhaupt statt oder schützt man sie nur vor, so dass sie tatsächlich zweitrangiger, lediglich vergewissernder Natur sei? Tatsächlich gab und gibt es die Ansicht, dass in der Wirklichkeit nicht nach rationalen Methoden, sondern intuitiv und instinktiv vorgegangen werde;28 oder dass der Richter zuerst eine Lösung nach seinen Regeln suche, Regeln, welche er für sinnvoll hält, die er selbst aber gar nicht immer rational zu rechtfertigen vermag, um sich dann mit der rationalen Methode abzusichern oder gar hinter ihr zu tarnen.

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quas ex vi iuris naturalis et valide et iuste condere potest, servatis aliis conditionibus ad legem necessariis." DL III.8.8; Vives V, S.210a: „minus enim malum est sie gubernari, quam omnino non gubernari." Zu dezisionistischen Rechtsfindungslehren: Bydllinski, 1992, S. 152 ff. DL 1.7; Suärez, 2002, S. 151-170. Hinweise in Engisch, 1964, S.44 und S.49 (zu H. Isay und der Freirechtsschule).

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Dass der Gesetzgebungsprozess trotz oder wegen aller möglichen irrationalen Einflüsse für Suärez ein rationaler, überlegender, abwägender Prozess zu sein hat, bestätigen zahlreiche Stellen;29 zitiert sei nur noch die folgende: „Aus diesem Grunde hat T h o m a s gesagt, dass das hervorragende Handeln des Königs die Gesetzgebung sei; und dass man deshalb dieselbe Klugheit, welche Aristoteles die gesetzgeberische Klugheit genannt hat, auch als die eigentliche Klugheit des Herrschers bezeichnen kann, d. h. die königlichherrschende." 3 0

Und dies gilt, auch wenn die Gesetzgebungsmacht durch Übertragung erfolgte, aber auch in sich selbst regierenden politischen Gemeinschaften wie Venedig oder Genua. 31 - Zum Königsem ist nicht die Fähigkeit zur Vernunftausübung erforderlich, wohl aber zur Ausübung des Königtums, damit eben auch zur Gesetzgebung. Es kann nämlich ein Kind zu Recht König sein, nur vermag es selbst keine gerechten Gesetze zu erlassen. Und der König bleibt König, selbst „in amentia". 32

2.4 Was ist der Abwägung entzogen? Die weltliche, irdische Gesetzgebung geht auf die Ordnung des Irdischen, zielt nicht auf ein übernatürliches Ziel, nicht auf überirdische Glückseligkeit und auch nicht auf das individuelle Heil der Menschen. 33 Weltliche Ordnung hat ihre Aufgaben und darf nicht mit den Aufgaben der Kirche vermischt oder verwechselt werden. 34 Die 29 Siehe Anmerkungen 12 und 22. 30 DL III.9.2.; Vives V, S. 202 a: „Unde D. Thomas 2.2., q. 50, dixit principalem actum regis esse leges condere, et ideo [...] eandem prudentiam quam Aristoteles 6 Ethicorum, cap. 8, legislativam appellavit, vocasse propriam prudentiam principis, id est, regnativam." 31 DL III.9.6; Vives V, S.203a. 32 DL III.10.4; Vives V, S.209a. 33 DL III.11.5; Vives V, S.212b: „Addo, legem civilem prout est actus huius potestatis, ex se non tendere in supernaturalem finem [...] (potestas civilis) per se non tendit in illum finem ultimum ex vi proriae naturae, vel propriarum actionum, per quas nullo modo versatur circa talem finem, nec circa materiam vel objecta supernaturalis ordinis; et hoc modo dicimus potestatem civilem vel leges ab illa procedentes non respicere felicitatem supernaturalem ut finem ultimum, et in hoc maxime distingui a potestate ecclesiastica." 34 DL III.11.7; Vives V,S.213b: „bonum naturale huius corporis politici non extenditur ultra praesentem vitam, immo nec durat nisi in ilia, ita nec finis hius potestatis aut legis ultra praesentem vitam extenditur."

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Macht, Gesetze zu erlassen, ist nicht größer und nicht kleiner in christlichen und nichtchristlichen Herrschern; Mäßigung, Tapferkeit können im gleichen Maße im Gläubigen wie Ungläubigen gegeben sein. Ketzerbekämpfung fällt also als solche nicht in die Zuständigkeit des Gesetzgebers, der für das irdische Wohl verantwortlich ist, außer jene würden erheblich den irdischen Frieden und die Erhaltung des Volkes stören; was auch heißt, sie verletzen das Zusammenleben der Christen.35 Worum also hat es ihr zu gehen, welches also hat ihr Anliegen zu sein? Ihr Ziel ist die natürliche, d.h. irdische Glückseligkeit und zwar der vollkommenen menschlichen Gemeinschaft wie aller ihrer Mitglieder; sie sollen in Frieden und Gerechtigkeit, mit so viel Gütern, dass sie sich zu erhalten und gut zu überleben vermögen, sowie in sittlicher Bejahung dieser Ziele bestehen können.36 Zugestanden wird, dass die christlichen Gesetzgeber sozusagen als einen heimlichen Zweck die Ausrichtung auf das übernatürliche Heil im Auge haben dürfen.37 Zurück zu weisen sind damit 1) die Position Machivaellis, welche die Gerechtigkeit nicht mehr als Ziel ansieht.38 Um des Friedens willen werde ja allgemein im Verjährungsrecht, im Vertragsrecht, bei Eid und Wucher Unrecht gesetzlich geduldet. Während man darüber streiten kann, ob diese Rechtsinstitute wirklich um des Friedens willen massiv die Gerechtigkeit verletzen, so lehnt doch Suärez die Autonomisierung der Politik, welche Machiavelli einleitet, radikal ab. 35 DL III.12.10; Vives V, 2S. 14ab. 36 DL III. 11.7; Vives V, S . 2 1 3 b : „eius finem esse felicitatem naturalem communitatis humanae perfectae, cuius curam gerit, et singulorum hominum ut sunt membra talis communitatis, ut in ea, scilicet in pace et iustitia vivant, et cum sufficientia bonorum quae ad vitae corporalis conservationem et commoditatem spectant, et cum ea probitate morum quae ad hanc externam pacem et felicitatem reipublicae, et convenientem humanae naturae conservationem necessaria est." 37 DL III.11.0; Vives V, 2 1 4 a : „dico potestatem hanc civilem (etiam prout est in principibus christianis fidei coniuncta) non extendi in materia vel actibus suis ad finem supernaturalem seu spiritualem vitae futurae vel praesentis, licet ipsi legislatores fideles in suis legibus ferendi intueri possint et ex parte debeant supernaturalem finem, et actum ipsum ferendi legem in supernaturalem finem referre." 38 DL III.12.2; Vives V, S . 2 1 5 b : „potestatem laicam et ius civile per se primo intendere statum politicum, eiusque conservationem, et augmentum, ac subinde materiam legum esse illam quae statui politico inservit, et conservationi vel augmento eius." Ein Irrtum, der vielleicht auch darauf beruhen könnte, dass „potestque iuvari hic error ex legibus civilibus, quae interdum sustinent et fovent actus pravos, propter temporalem commoditatem" (ebd.).

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2) die Position des Franciscus Sarmiento in seinem Tractatus de Redditibus ecclesiasticis, der konträr zu Machiavelli nur die Gerechtigkeit als Ziel betrachtet, wonach die Gesetze nur das Prinzip der Gerechtigkeit umzusetzen haben. Doch weshalb und mit welchem Recht schränkt man den Gesetzeszweck auf die Gerechtigkeit ein? 39 Es gilt vielmehr, dass die Gesetze nicht nur das im Sinne der Gerechtigkeit Rechte vorschreiben, sondern auch inhaltliche Regelungen erlassen können, die sich auf andere Tugenden beziehen, und auch sämtliche Laster - nicht nur die Ungerechtigkeit - untersagen dürfen. 40 Weiterhin sei zu berücksichtigen: dass das weltliche Gesetz sittliche Normen konkretisieren müsse; allerdings „cum proportione", 41 was bedeute, dass es dem Gesetzgeber gestattet sei, entweder Sittliches verbindlich vorzuschreiben, sittlich Schlechtes zu verbieten oder es eben auch nicht vorzuschreiben. Dass faktisch auch Unsittliches vorgeschrieben wird, berührt nicht die Rechtsfrage. Was tatsächlich geschieht, ist ohne Bedeutung für das, was normativ zu erfolgen hat. 3) Abwegig ist erst recht die vertretene Ansicht von Politikern bzw. der „politici" - gemeint sein können „les politiques", die in Frankreich um Michel de l'Höpital tätigen Staatsmänner.42 Sie würden den Herrschern die Auskunft geben, dass es ihnen erlaubt und rechtlich zulässig sei, gegen die wahre Religion gerichtete Vorschriften zu erlassen. Irrig ist es, so Suärez, wenn die Politici behaupten würden, es hätte das Gemeinwesen keinen Bestand, falls man in allem und jedem den sittlichen Normen oder dem göttlichen Gesetz folgen würde. Die Erfahrung zeige im Gegenteil, dass durch kein Mittel das Gemeinwesen in besserem Zustand und im irdischen Glück erhalten wird als durch ein Leben im Gehorsam gegenüber dem katholischen Glauben und der christlichen Religion. 43 39 DL III.12.3; Vives V, S.216a. 40 DL III.12.7; Vives V, S. 2 1 7 b - 2 1 8 a : „Leges civiles non solum praecipiunt recta in materia iustitiae, sed etiam in materia aliarum virtutum moralium, et similiter vetare possunt vitia contra omnes virtutes." Man kann damit auch - mit Aristoteles ( E N V. 1), Piaton (Nomoi 1) und Ulpian - vermittelnd sagen, dass es dann um die „iustitia generalis" und nicht um die „iustitia specialis" gehe. 41 DL III.12.4; Vives V, S.216a: „dicendum primo est, leges civiles solum posse versari in materia honesta cum proportione, id est, vel praecipiendo honestum, vel prohibendo quod malum est, vel saltem illud non praecipiendo." 42 Zu den so genannten „Politiques" siehe Brieskorn, 2002, Ribadeneira, in: Brieskorn/ Riedenauer, S. 373-407 (S. 382); und ders., 2000, Skizze des römisch-katholischen Rechtsdenkens Petrus Canisius, in: Berndt, S. 39-75 (S. 46f.). 43 DL III.12.5; Vives V, S . 2 1 6 b - 2 1 7 a .

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Das „cum proportione" greift Suarez wieder auf und stellt klar: Es sei nicht das Gleiche, etwas Ungerechtes vorzuschreiben oder es zu erlauben; ebenso sei auch zu unterscheiden, ob man jemanden nicht bestrafe oder ob man nicht beseitige, was man sittlich falsch gemacht hat. In jedem Fall: Die weltlichen Gesetze dürfen nichts Ungerechtes direkt anordnen; sie dürfen es jedoch zuweilen erlauben und dulden, und zwar dann, wenn nur durch die Duldung größere Übel verhindert werden können. Die Regierung des Gemeinwesens ist zwar nicht sittlich gehalten, alle nur möglichen Gelegenheiten zur Sünde zu verstopfen; dennoch kann es ihr zuweilen erlaubt sein, weiterzugehen und Gesetze zu geben, welche zur Sünde zu führen oder sie ermöglichen zu können scheinen. Diese Mängel kommen aus der Person und entstammen weder unmittelbar dem Amt noch der Macht selbst. Sie verdanken sich kluger Abwägung, wobei, um es noch einmal zu betonen, das weltliche Gesetz, das in kluger, überlegter Weise zustandezukommen hat, nie Schändliches vorschreiben als auch niemals direkt den kleinsten Anlass zur Sünde liefern darf.44 Die Abwägung bewegt sich auf schmälstem Grad und nimmt eine prekäre Unterscheidung von Amt und Amtsinhaber zu Hilfe.

2.5 Sollen die Gesetze zur Tugend erziehen? Dem menschlichen Gesetz kommt es, so Suarez, darauf an, gute Bürger zu heben und zu erzeugen; diese Erziehung könne nicht gelingen, wenn man sich nicht im Vorhinein um gute Menschen bemüht habe. 45 Es ist auch zwischen den drei Verwirklichungen der Tugenden abzuwägen, wie sie sich auf den anderen Menschen, auf sich selbst, den Träger der Tugend und auf Gott auszurichten haben. Abzugleichen ist, was ihnen an Vorrang in diesem Gesetz zuzugestehen ist, wie der Grad ihrer Förderung auszufallen habe und was im Einzelfall verlangt wird, um zu den Tugenden zu führen. In kluger Unterscheidung ist festzu44 DL III. 12.6; Vives V, S. 217b: „considerandum est, quod, licet magistrates civilis non teneatur semper cavere pericula peccatorum, interdum tarnen posse excedere, ferendo leges, quae, licet de peccatis non sint, pericula illorum involvant, vel illis aliquomodo favere vel occasionem praebere videantur [...] ille vero effectus est personae, non officii, et prudentiae, non potestatis, nam lex civilis, si prudenter feratur, non modo non debet praecipere turpe, verum etiam nec morale periculum peccandi dare." 45 DL III. 12.8; Vives V, S.218a: „finis iuris civilis est felicitas vera naturalis politicae civitatis: haec autem optineri non potest sine observantia omnium virtutum moralium [...], leges civiles (intendunt) cives facere bonos viros, quia non possunt aliter facere bonos cives."

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stellen, welchen Gefahren ein Bürger ausgesetzt werden darf und wie viel an Tapferkeit und an Enthaltsamkeit, also Mäßigung, von ihm gefordert werden darf. Immer ist dabei Klugheit gefordert. Es gibt keine Gesetzesarbeit, welche der Klugheit zu entraten vermag; und dass zumal gerade dann nicht, wenn sie sich um die Tugenden sorgt. Klugheit zeigt sich immer an einem anderen Material, es gibt nicht das materialiter kluge Gesetz. Daher bedarf die Klugheit, welche an allen Abwägungen beteiligt ist, nicht eines eigenen Gesetzes. 46 Abzuwägen ist ζ. B. einerseits die Achtung der Freiheit und der hohe Wert, aus eingegangenen Bindungen auch wieder gelöst zu werden, andererseits kann es zu Eintracht und Wohlbefinden in der Gemeinschaft beitragen, wenn selbst noch das einfachste Versprechen geschützt und gestärkt wird; Freude an den Kleidern zu haben und festlich gekleidet zu sein, sind Werte; auf der anderen Seite ist dem Luxus, der ständigen Uberbietung in der Ausstattung Einhalt zu gebieten und die Verarmung der Bürger zu verhindern, woran das Gemeinwesen ein hohes Interesse hat. Das Leben der Bürger ist zu schonen, und trotzdem darf gelegentlich ein Einsatz verlangt werden, welcher mit Tapferkeit zu meistern ist. Es darf Gesetze geben, welche Lehren unterdrücken, die der Religion abträglich sind, trotz des hohen Werts der Meinungsfreiheit. Spannend wird die Abwägung auch dadurch, dass die Tugenden zusammenhängen. Niemandem kann Gerechtigkeit widerfahren, wenn er in unbeherrschter Weise bedrängt wird, es also an der moderatio fehlt. 47 Und andererseits widerfährt jeder Person Gerechtes, wenn sie milde, weise oder auch tapfer behandelt wird. 48 Immer sind das Sparsamkeits- und das Normalitätsprinzip zu beachten, welche dem Erziehungsprogramm - gleichfalls sittliche Grenzen setzen. Nur das Nötige darf in die Gesetze eingehen, schon gar nicht das Wünschenswerte; die Zahl der Gesetze ist auf das Nötige zu begrenzen. Die objektive Rechtsordnung darf auch nur das aufnehmen, was dem größeren Teil der politischen Gesellschaft zu erfüllen und zu leben und zu ertragen sittlich gesehen möglich ist. Das Gesetz darf nicht zu einer Radikalität hin führen, welche die Mehrheit überfordern 46 DL III.12.8; Vives V, S. 218b: „De prudentia vero non videntur dari speciales leges distinctae a legibus de actibus aliarum virtutum moralium, quia prudentia per se non operatur bene vel moraliter sine virtutibus moralibus voluntatis; tarnen, quia aliae virtutes morales non operantur sine prudentia, ideo leges de aliis virtutibus simul sunt de usu prudentiae." 47 DL III.12.9; Vives V, S . 2 1 8 a - 2 1 9 b . 48 DL 111.12; Vives V, S . 2 1 5 a - 2 2 2 b .

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würde. Daher darf und muss das Gesetz auch gar nicht alles und jedes verbieten, beispielsweise nicht die einfache Unzucht, wenn sie kein Ärgernis erregt, und nicht Täuschungen im Handelsverkehr, solange nicht mehr als die Hälfte eines vernünftigen Kaufpreises noch auf den vertretbaren Preis darauf geschlagen wird. 49

2.6 Wie ist das Naturgesetz in menschliches Gesetz umzusetzen? Selbstverständlich geht Suärez von der Notwendigkeit der lex humana aus; und dies zum einen, da die vom Naturgesetz auferlegte und damit mitgeteilte Verpflichtung in die sozial-politische Dimension umzusetzen ist. Die lex humana hat nämlich den naturrechtlichen Verboten zu stehlen, zu töten, die Ehe zu brechen oder Wucher zu treiben Eingang in die nach Stabilität, Berechenbarkeit und Sicherheit verlangende soziale Welt zu verschaffen. Zum zweiten ist das Naturgesetz in allgemeiner Weise formuliert und verlangt nach Ausformung und detailreicherer Ausstattung. „Außer jenen [Grundsätzen bzw. Gesetzen] bedarf jedoch" - drittens - „die menschliche politische Gemeinschaft zahlreicher weiterer Regelungen um ihrer rechten Regierung und Erhaltung willen." 50 Dass das menschliche Gesetz die Materien dieser beider Gesetze zum Inhalt haben muss, ist genauer zu klären. In Betracht kommt erstens die reine Erklärung, die „declaratio" (oder explicatio), sodann zweitens die genauere Bestimmung, die „determinatio". 51 Auch für den dritten Gesetzestyp bildet das Naturgesetz die Schranke, welche der Gestaltung gezogen ist. In den beiden ersten Fällen ist also das menschliche Gesetz vom Naturgesetz abzuleiten. Zweifach kann damit dieses menschliche Gesetz sein: zum einen rein erklärender Natur mit reiner Weitergabe der naturrechtlichen Verpflichtung, etwa dem Diebstahlsverbot etc. Es kommt durch strikte Ableitung aus dem Naturgesetz zustande und enthält das sittlich unerlässlich Gebotene. Der andere Gesetzestyp fügt aus eigener Macht die Verpflichtung zum Gesetzesinhalt dazu; eine 49 DL III.12.11 und 12; Vives V, S.219ab. 50 DL 1.3. 18; S. 74f.: „[...] praeter ilia vero multa alia sunt necessaria in republica humana ad eius rectam gubernationem et conservationem" (in: Vives V, S. 12 b, unter Nr. 19). 51 DL III.12.13; Vives V, S. 219b.

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vollständige Ableitung allein aus den Prinzipien des Naturgesetzes ist hier nicht möglich, und man kann sich nicht mit einsichtigen Gründen noch mit wahrscheinlichen auf es berufen. Solcher Art sind Verbote, bestimmte Waren auszuführen oder nachts Waffen zu tragen. Im ersten Fall sprechen wir auch von Schlussfolgerung, im zweiten von näherer Bestimmung. Sie erfordert die kluge abwägende Vernunft, etwa zur Festsetzung von Steuern und Strafen, oder eben das kluge Urteil. 52 Dies ist, so Suärez, die normal geltende Regel; doch lässt sich mit ihr nicht allein arbeiten. Das menschliche Gesetz muss in Feinabstimmung mit der sozialen Welt detailgerecht umformen; woher nimmt es hierfür die Richtlinien? Es muss gewusst werden, wie sittlich konkretisiert werden kann. Es bedarf also einer anderen, einer zusätzlichen Regel, welche Linien dieser Konkretisierungsarbeit vorgibt. Das Naturgesetz und das göttliche Gesetz können ja so oder so ausgelegt werden, und woran soll sich das menschliche Gesetz orientieren, wenn es um die Festsetzung von Fastenzeiten, Steuern und Strafen geht? Es sind ja nicht nur Randbedingungen zu normieren, sondern zentrale Elemente des Handelns. Und ist nicht das kluge Urteil der Menschen gelegentlich überfordert, so dass es sich für unzuständig erklären müsste?53 Welches sind also die Kriterien solcher Konkretisierungsarbeit? 52 DL 111.21.10; Vives V, S . 2 5 9 b - 2 6 0 a : „omnem legem humanam a lege naturali derivari. Duplex enim esse potest lex humana etiam civilis; una est declarativa tantum obligationis naturalis, ut est lex civilis prohibens furtum vel homicidium vel usuras, et in universum omnis ilia quae praecipit vel prohibet aliquid, quod per necessariam illationem deducitur ex principiis legis naturalis tanquam necessarium ad morum honestatem [...]; alia lex humana est quae addit obligationem specialem, quae ex solis principiis naturalibus deduci non posset, nec evidenter, nec probabiliter, ut est lex prohibens ne arma nocte deferantur vel res tales e regno extrahantur [...]. Una est per modum conclusions ex principiis, quae satis nota est, alia est per modum determinationis, quae lex naturalis solum praecipit aliquid in generali [...]; ex hoc autem principio colligit prudens ratio oportere determinare certam quantitatem tributi, aut poenae; quam determinationem addit legislator humanus prudenti arbitrio [...]." 53 DL III.12.15; Vives V, S. 220a: „Sed licet haec regula ordinarie vera sit, tarnen non omnino satisfacit, quia ilia etiam quae generatim praecepta sunt lege divina vel naturali possunt variis modis magis vel minus perfectis determinari, et lex humana non potest praecipere quamcumque determinationem, ut temperantiam per ieiunium in pane et aqua, vel quid simile; ergo alia regula necessaria est ad discernendum quis modus observari possit ac debeat in hac determinatione legis naturalis aut divinae: et praeterea positivum praeceptum non semper est per modum determinationis alicuius praecepti divini, aut naturalis, solum quoad circumstantias, sed etiam quoad totum actum, quia lex humana non supponit semper naturale vel divinum praeceptum illius actus quem ipsa praecipit, sed ad summum supponit generalia principia, ut delicta esse punienda, pretia rerum debere esse justa, vel similia; lex autem humana, prudenti

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Norbert Brieskorn „Ich halte es für richtig, folgendes dazu zu sagen: keine andere Regel kann zu diesem Zwecke angegeben werden, außer jener, welche aus dem, was zu den Wesenselementen des Gesetzes weiter oben bereits im Allgemeinen zusammengetragen worden sind: nur jener Tugendakt kann Stoff, Materie des menschlichen Gesetzes sein, der z u m guten Z w e c k eines solchen G e setzes sittlich gesehen notwendig ist, z u m Gemeinwohl sehr nützlich, und auch der Gemeinschaft der sowie ihren durchschnittlichen Fähigkeit angemessen ist. Diese Maßstäbe sind für das richtige Gesetz unerlässlich, von ihnen ist daher auch der Maßstab zu nehmen bzw. die Regel für die Gestaltung der menschlichen Welt und des Gesetzes zur O r d n u n g des Gemeinwesens." 5 4

2.7 N o c h einige Abgrenzungen des Abwägungsraumes Die Zwangsgewalt kann nur äußere Gefügigkeit erreichen; die „vis coactiva" reicht nicht so in das Innere des Menschen hinein, dass der ganz bestimmte innere Haltungen einnehmen müsste und würde, und dann auch noch kontrollierbar sein müsste. Eine eigene Abwägung ist verlangt, ob Vorschriften zu vergangenen Akten ergehen sollen oder nicht. 55 Abzuwägen ist auch, ob nur Strafe oder Strafe und zusätzliches Ungültigmachen gewollt ist. 56 In den Bereich der Abwägung fällt auch die zu wählende Form, in welcher die lex humana ergehen muss. 57 Ebenfalls ist abzuwägen, ob und wie viel an Frist bis zum Inkrafttreten vorzuschreiben ist. 58

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arbitrio, determinat genus poenae, vel taxam pretii, etc. Hoc autem modus omnis operatio studiosa in particulari determinatur per rationem et arbitrium humanuni, et tarnen non semper potest talis determinatio fieri per legem humanam, licet honestissime fiat, proprio arbitrio, ut per se constat." DL 111.12.15; Vives V, S.220a b: „Dicendum igitur censeo nullam aliam regulam in hoc assignari posse, praeter earn quae ex conditionibus legis supra in commune positis colligi valeat: nimirum, illum actum virtutis posse esse materiam legis humanae, qui ad bonum finem talis legis moraliter necessarius, et ad commune bonum valde utilis, et communitati hominum eorumque ordinariae facultati accomodatus sit: has enim conditiones diximus esse necessarias ad legem, et ideo ab illis etiam sumenda est mensura, seu regula materiae humanae ac civilis legis." DL III.14.1; Vives V, S.225b. DL III.14.5; Vives V, S.227ab. DL III. 15.1; Vives V, S. 230 a. D L III. 17.1 und 5; Vives V, S. 242 a und S. 243 ab.

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2.8 Abwägungsprozesse auf der Seite der Gesetzesadressaten? Nicht aus Furcht, sondern in der vernünftigen Zustimmung soll man den Herrschern gehorchen. Was die Tugendhaftigkeit der Gesetzgeber betrifft, so warnt Suärez: Würde man den gerechtfertigten Gehorsam davon abhängig machen, ob der Herrscher tugendhaft ist, dann würden sich große Nachteile für das Gemeinwesen ergeben. Es herrschte weder Friede noch der dem Gemeinwesen unerlässliche Gehorsam, vielmehr würde jeder Gesetzesadressat es beanspruchen, den Oberen zu beurteilen und zu begutachten. Es ist Tugendhaftigkeit wünschenswert, nur bringt es massive Nachteile mit sich, wenn man sie kontrollieren würde. 59 Und doch: heißt es nicht, mit dem sittlich schlechten Herrscher zusammenarbeiten, wenn seinen ansonsten sittlich guten Gesetzen gehorcht wird? 60 Man müsse unterscheiden, so Suärez, ob die auferlegten und vorzunehmenden Handlungen niemandem zum Schaden gereichen, in sich sittlich gut sind und die Anordnungen auch in der Zuständigkeit einer jeden öffentlichen Gewalt liegen; seien diese Bedingungen erfüllt, so ist Gehorsam zu erweisen. Wer Steuern zahlen muss, schadet keinem Dritten, und der Zahlende, welcher natürlich eine Einbuße hat, darf ja bis zu einem gewissen Grad auf seinen Nutzen verzichten. 61 Werden jedoch diese abverlangten Handlungen Dritten Schaden zufügen, so ist noch einmal zu unterscheiden, ob man zu ihrem Vollzug die öffentliche Hand benötigt, wie im Fall der Hinrichtung eines zu Recht verurteilten Übeltäters. - Suärez holt weit aus: Die Regel ist, was immer jemand von sich aus, ohne dazu irgendein Gesetz zu benötigen, sittlich tun darf, das darf er auch tun, indem er das Gesetz erfüllt. Denn auch wenn eine solche Handlung erfolgt, nachdem jenes ungerechte Gesetz erlassen worden ist, so fügt dieses doch dem Handeln keinen Umstand hinzu, welcher die Handlung schlecht machen würde. Es handele sich damit auch nicht um echte wechselseitig sich stützende 59 DL III.10.10; Vives V, S. 210b: „[...] multa maiora incommoda contra bonum commune sequi, si potestas civilis pendeat ex privata fide vel bonis moribus ipsius principis, quia nulla esset pax neque obedientia in republica, sed quilibet subditus vellet superiorem suum iudicare, et consequenter Uli obedientiam negare, quod absurdissimum est." 60 DL III.10.9; Vives V, S. 210b: „In contrarium autem esse videtur, quia obedire huiusmodi regi, etiam in his quae alias honesta sunt, videtur esse cooperatio ad malum, et favor iniustitiae seu tyrannidis eius" ? 61 DL III.10.9; Vives V, S.210ab.

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Zusammenarbeit, „cooperatio", sondern um bloßes Gewährenlassen und Erdulden, um „tolerantia", um die Duldung einer Gewalt, welche niemandem einen Schaden zufügt: Allerdings ist eine Einschränkung zu machen bzw. eine Rücksichtnahme anzumelden: es ist jedes Ärgernis zu vermeiden, und es darf dem Tyrannen keine Gelegenheit gegeben werden, in seiner Ungerechtigkeit gestärkter als zuvor fortzufahren. Im Gegenteil, immer ist es geboten, ihm zu widerstehen, soweit dieser Widerstand ohne Nachteil geleistet zu werden vermag.62 Wie aber, wenn es sich beispielsweise um die öffentliche Hinrichtung handelt, um Akte also, welche der öffentlichen Gewalt zu ihrem Vollzug und ihrer Vollständigkeit bedürfen? Unterstellt, dass der Herrscher der Legitimation entbehrt, eine berechtigte Hinrichtung also nicht stattzufinden vermag, so - Suärez führt es nur indirekt aus - muss die Handlung unterbleiben, passiver Widerstand wäre also geboten. Doch ist wiederum zu unterscheiden. Der Tyrann darf zwar rechtlich gesehen die Hinrichtung nicht anbefehlen oder ausführen lassen. Was jedoch das Gemeinwesen angeht, welches dem Herrscher nicht zu widerstehen vermag, so darf es ihn erdulden, sich von ihm lenken lassen und schweigend zustimmen, also wollen dürfen, dass gerecht vorgegangen werde. Denn, wir hören noch einmal diesen Satz, „minus malum est per illum gubernari quam omnino carere iusta coactione et directione": Es ist dann keine Sünde und es darf nicht vorgeworfen werden zu gehorchen, da die Zustimmung des Gemeinwesens den Mangel an rechtmäßiger Gewalt des Tyrannen wett macht. 63

2.9 Abwägungsprozesse bei der Rechtsprechung? Verpflichtet das strafbewehrte Gesetz den Richter, die im Gesetz vorgesehene Strafe aufzuerlegen? Das Strafgesetz richtet sich zum einen an die Gesetzesadressaten und verbietet oder gebietet bestimmtes Han62 DL III.10.9; Vives V, S.210b: „[...] per se malum non est servare leges, vel praecepta a tyranno data, quia illae actiones tales sunt, ut propria voluntate et auctoritate possint honeste fieri sine lege. Quod autem fiant posita illa iniusta lege, non habet circumstantiam quae reddat actum malum. Quia illa re vera non est cooperatio, sed tolerantia quaedam violentiae, quae nulli affert nocumentum: ergo per se non est ibi malitia." Kurz vorher, in Nr. 9, steht: „oportet scandalum vitare et non dare occasionem tyranno, ut in sua iniustitia firmius perseveret [...]." 63 DL III. 10.9; Vives V, S. 210b: „et tum non erit peccatum obedire, [...] quia reipublicae consensus supplet defectum potestatis tyranni."

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dein; zum anderen adressiert es sich an den Richter. 64 Eine Abwägung, ob er verurteilt oder nicht oder ob er nach dem Schuldspruch die Strafe auferlegt oder nicht, steht ihm bei dem Strafgesetz nicht zu, welches die Möglichkeit anderer Lösungen nicht zulässt. Abgeschnitten wird auch der Ausweg, die Strafe zwar aufzuerlegen, ihre Ausführung jedoch zu vereiteln oder ins Unbestimmte aufzuschieben. 6 5 Die Argumentation mit der aequitas, nochmalige Abwägung ermöglichend, kommt dem Richter nicht zur Hilfe. Die Aequitas ist durch den Gesetzgeber in das Gesetz, und d. h. auch in die Strafmaßbestimmung eingegangen. 66 Die Werte der durchsetzbaren Ordnung, der Stabilität und Berechenbarkeit sozialer Vollzüge rangieren zuoberst. Dort, w o allerdings der Richter frei innerhalb eines gesetzlich fixierten Strafmaßes auswählen darf und muss, weist Suärez auf die zwei nicht zu betretenden Verbotszonen, auf zwei Extreme hin: Das eine Extrem ist, dass der Richter keine Strafe verhängen darf, welche das im Gesetz fixierte Strafmaß (in die Höhe) überschreitet, die andere ist, dass er von dieser Bestimmung nicht (massiv nach unten) abweichen soll. 67 Suärez sucht einen Ausgleich zwischen der Selbständigkeit, Selbstverantwortlichkeit des Richter, der auf den Fall und damit auch die Person eingeht, und der Gesetzestreue. Uberschreitet der Richter das vorgesehene Strafmaß - vielleicht beträchtlich, sicherlich nicht in Nuancen! - , dann ist er dem Verurteilten schadensersatzpflichtig. 64 DL V . l l . l ; Vives V, S.465b: „Duo respectus habet lex poenalis, unus est ad subditos, quorum facta prohibet aut praecipit [...]; alius est ad iudicem, de quo dubitatur an imponat illi obligationem." 65 DL V.11.3; Vives V, S. 466ab: „si lex imponat poenam ferendam, obligat iudicem ut illam imponat, et inde etiam sequitur altera obligatio, scilicet, ut post condemnationem illam exequi faciat, ne inutilis et frivola sit condemnatio." 66 DL V.11.3; Vives V, S.466b: „eo ipso quod lex taxat poenam, tenetur iudex ex vi sui muneris ad imponendam illam. Probatur, quia tenetur servare aequitatem in poena imponenda, cum sit iudex iustitiae; haec autem aequitas resultat posita lege: nam ante illam solum erat aequitas naturalis, quam prudenti arbitrio discernere et servare tenetur iudex: posita autem lege, resultat aequitas legalis, quam etiam servare debet, qua est custos et executor legum, et quasi animata lex." 67 DL V. 11.4; Vives V, S. 466 b: „In primo horum est manifestior obligatio, quia non solum iustitia legalis, et obligatio proprii muneris respectu reipublicae, sed etiam ipsa iustitia commutativa respectu rei obligat iudicem ad vitandum illum excessum. Ratio est, quia non potest a reo iuste exigi plus quam debeat, sicut neque a quolibet debitore; posita autem lege taxante talem poenam, qui contra ilia committit, fit reus et debitor talis poenae, et non maioris; ergo quidquid mali ultra illam infertur huiusmodi reo, non est poena, sed iniuria. Unde fit, ut in eo casu teneatur iudex satisfacere, seu restituere reo damnum, vel nocumentum, quod ex illo excessu ipsi evenerit, quia iustitia commutativa obligat ad restitutionem."

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Was aber ist, wenn dem Richter im Gewissen das im Gesetz vorgesehene Strafmaß für die Tat zu gering erscheint? Muss das im klugen Abwägen gefundene und für gerecht gehaltene Urteil nicht Bestand haben? Nein, antwortet Suärez, die Gesetzestreue zählt und verbietet eine solche Eigenmächtigkeit. Und trotzdem zeigt er einen Weg auf, um besonders erschwerende Tatumstände mit einer auch besonders schweren, gleichsam eigenen Strafe, aufzuwiegen: indem der Richter etwa die Schwere der zugefügten Verletzung gleichsam aussondert und gesondert mit Strafe belegt. 68 Dass der Richter damit den gesetzesfreien Raum betritt, ist Suärez bewusst. Er appelliert an das „prudens arbitrium" und die Pflicht, für das Gemeinwohl zu sorgen. Der Richter tut das, was der Gesetzgeber unterließ. Die grundsätzliche Offenheit des Richters dafür, die Strafe abzumildern, findet ihre Grenze dort, wo die Milde sich schädigend für das Gemeinwohl auswirken, wo des Richters Verpflichtung auf das gerechte Gesetz beeinträchtigt und wo der Strafanspruch der politischen Gemeinschaft - von dem der Opfer ist nicht die Rede! - missachtet werden würde. 69 Gerechte Gründe, welche in eine Abwägung einzubeziehen sind, und die, noch einmal sei es gesagt, den gesetzlichen Rahmen nicht nach oben und nicht nach unten sprengen dürfen, sind in nicht erschöpfender Aufzählung folgende: ein Lebensalter, welches die Strafe noch nicht oder nicht mehr erträgt; eine Vermögenslage, welche unverhältnismäßig stark durch eine bestimmte Geldbuße getroffen werden würde, 68 DL V.11.5; Vives V, S. 466b-467a: „Dices lex taxans poenam non excludit prudens iudicis arbitrium, ut, si ratione circumstantiarum viderit reum esse dignum graviori poena, possit illam augere. Q u o d usu etiam observari videtur. Respondeo, imo ad hoc praecipue poni huiusmodi poenas in legibus, ut non maneant arbitrariae, sicut taxantur pretia rerum, ut tollatur arbitraria aestimatio, saltern quoad augmentum pretii. Per hoc autem non tollitur, quominus si delictum habuerit extraordinarias circumstantias, quae illud atrox vel gravissimum reddant, possit iudex prudenti arbitrio illas specialiter punire, quia dignae sunt speciali poena, et hoc non excluditur per legem, quae loquitur de delicto, ut ordinarie committi solet, et non excludit providentiam ad bonum commune [...]." 69 DL V. 11.7; Vives V, S. 467 a: „est contra commune bonum, atque adeo contra legalem iustitiam, quod delicta maneant impunita, aut non satis punita, quia est moralis occasio ut multiplicentur. Secundo, quia iudex ex officio suo, ac proinde ex iustitia, tenetur observare leges iustas, quae ad bonum commune ordinantur; imo et facere et procurare ut serventur: lex autem, quatenus imponit iustam poenam, iusta est, et ad commune bonum necessaria, ergo. Tandem dici potest, respublica acquirere speciale ius in talem personem delinquentem, ut ab illa sumat iustam vindictam: ergo non potest voluntate iudicis illo iure privari."

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aber auch eine letzte verbleibende Unsicherheit, ob der Angeklagte der Täter war, können eine Strafmilderung ebenso rechtfertigen, wie es die Art der Begehung der Tat vermag. 7 0 Der Herrscher selbst also hat das Recht und die Freiheit, zu dispensieren. Er darf sich gegenüber den Angeklagten und den Verurteilten großzügig zeigen, doch hat auch er jeden Einzelfall sorgfältig und klug darauf hin zu prüfen, ob eine genügende und vernünftige Ursache gegeben ist, Milde walten zu lassen. Solche Gründe sind: um sie, die U n tertanen, im guten Willen und Gehorsam zu erhalten; Verschonung des Verurteilten vor Strafvollzug zugunsten der Bitte eines anderen Herrschers, der um die Freilassung dieser Person bat, da er sie aus anderen Gründen dringend benötigt oder wegen früherer Dienste („priora obsequia"). Der Herrscher darf übrigens das Privileg verleihen, nicht gerichtlich aussagen zu müssen. 7 1 Bei Abgabegesetzen ist vor allem auf dreierlei Verhältnis zu achten. Auf das Verhältnis zwischen der Höhe der Steuer und ihrer Ursache bzw. ihres Zwecks, auf das Verhältnis der Höhe zur Leistungsfähigkeit oder Würdigkeit oder Bedürftigkeit der Belasteten, und drittens auf das Verhältnis der Abgabe zu den Sachen, deretwegen sie erhoben wird oder die mit ihr belastet sind. 72 Von Beschränkungen und Besteuerungsverboten und was dem Schuldner unbedingt erhalten bleiben muss, ist in diesem Zusammenhang (Nr. 2) ebenfalls die Rede. 70 DL V . l l . 8 ; Vives V, S . 4 6 7 b : „etiam inferior iudex potest interdum remittere poenam legis [...]· Possunt enim occurrere plures legitimae causae juius remissionis, quibus occurrentibus, iudicibus haec potestas committitur, ut sunt aetas ad tolerandum poenam insufficiens, qualis esse potest senectus et pueritia [...] in poena autem pecuniaria causa remissionis solet esse paupertas. [...]. Multum etiam refert modus probationis; nam, si reus non est omnino convictus, temperanda est poena. Item modus peccandi considerandum, ut si ex passione, etc. [...]." 71 DL V . l l . 10; Vives V , S . 4 6 8 a b . 72 DL V.16.; Vives V, S. 4 8 7 b - 4 8 8 a : . „proportio inter quantitatem totius tributi et causam eius, quae pertinent at aequalitatem rei ad rem; seu justititiae commutativae; proportio tributi ad personas quibus imponitur: iustitia distributiva; non est enim iustum, ut omnes aequaliter solvant, sed iuxta facultatem et conditionem uniuscuiusque; plus enim a divite qua a paupere exigendum est, caeteris paribus; proportio ad res super quas imponitur tributum, quas vocamus materiam tributi. N a m si imponatur super rem immobilem, non debet excedere quantitatem moderatam, consideratis fructibus eius, et laboribus ac expensis quae circa illam fiunt; nam si in hoc tributum sit nimis onerosum, plane erit iniustum. Si autem imponatur super res mobiles, quae venduntur et emuntur, vel arte fiunt, observari debet ne tales sint huiusmodi res, vel tantum et tarn magnum tributum, ut redundet in maius onus pauperum et artificum, aut mercatorum, quam possint sustinere c o m m o d e ad vitam et familiam sustentandam."

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3. Der Gewinn 1) Abgesehen von dem naturrechtlichen Ansatz, welchen die moderne Rechtsanwendungslehre nicht weiterführt, zeigt sich zwischen ihr und dem Werk des Suärez, je konkreter die Überlegungen sind, eine starke Nähe und fast ein Gleichklang zu modernen Abwägungstheorien. 2) Während die moderne Rechtsanwendungslehre sich fast ausschließlich mit dem Richter beschäftigt, erörtert Suärez die Abwägungsprozesse sowohl des Gesetzgebers als auch des normalen Gesetzesadressaten und des Richters. Die sittliche Befragung und Beschäftigung mit dem Gesetzgeber ist intensiv; dessen Rolle und Aufgabe bleibt in der Moderne weitgehend ausgeblendet. Die Gründe dafür? Sie könnten im weltanschaulichen Abschmelzen von Ausrichtungen liegen, welche den Gesetzgeber selbst auch noch einmal binden. Gleichfalls sind bei Suärez die Abwägungen des normalen Gesetzesadressaten nicht wie in der Moderne meist ausgeblendet. 3) Die Abwägung vollzieht sich innerhalb von Extremen. Hier mag man ein ähnliches Vorgehen erblicken, wie Aristoteles es in der Nikomachischen Ethik zur Feststellung der Tugend übt; dieses topische Vorgehen entspricht auch der dem Menschen aufgegebenen und sich suchenden Freiheit. 4) Mit einer sich unaufgeregt gebenden Haltung werden so ewige Normen in eine je einzigartige zeitliche Situation übersetzt, und es wird umgekehrt die historisch einmalig zu gebende Antwort des Gesetzgebers, des Adressaten und des Richters vor eben auch jenem Naturgesetz gerechtfertigt. 5) Da es Suärez um die Tugenden geht, ist die Abhandlung De legibus ac Deo legislatore nicht bloß nur ein Traktat über die Gesetze, sondern auch eine Erziehungsschrift.

Autonome Vernunft mit moralischer Sehkraft. Die Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem bei Immanuel Kant ANDREAS TRAMPOTA Einer1 der wichtigsten moralphilosophischen Aufsätze von Iris Murdoch mit dem Titel Vision and Choice in Morality endet mit der Aussage: „There is perhaps in the end no peace between those who think that morality is complex and various, and those who think it is simple and unitary, or between those who think that other people are usually hard to understand and those who think they are usually easy to understand. All one can do is try to lay one's cards on the table." 2

Murdoch selbst steht in dieser Gegenüberstellung feindlicher Lager auf der Seite derjenigen, die die Komplexität und Vielfalt des Phänomens der Moralität hervorheben. Und wenn sie von denen spricht, deren Moraltheorie nach Einfachheit und Einheitlichkeit strebt, hat sie in erster Linie eine Gruppe von analytischen Philosophen im Sinn, die häufig als Neokantianer bezeichnet werden und zu denen Richard M. Hare und Stuart Hampshire gehören. Der Vergleich ihrer eigenen, von Piaton inspirierten Moralkonzeption mit der der Neokantianer, den Murdoch in dieser Abhandlung vornimmt, mag diese pessimistischen Schlusssätze nahelegen, zumal das Menschenbild, von dem die beiden Konzeptionen sich leiten lassen, sehr verschieden ist. Während die Ethik der Neokantianer eine stark empiristische Prägung hat, betont Murdoch immer wieder, wie wichtig es gerade für den Moralphilosophen ist, bei seinen Reflexionen den Sinn für die geheimnisvolle Rätselhaftigkeit des menschlichen Lebens nicht zu verlieren. Und dennoch, meine ich, kann man diese Aussage nicht unwidersprochen stehen lassen! Denn in diesen Sätzen kommt 1 Für stilistische und philosophische Anmerkungen zu diesem Aufsatz und eine anregende Diskussion seiner Thesen danke ich Maria Schwartz und Oliver Sensen. 2 Murdoch, 1998, S. 98.

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eine Spannung zum Ausdruck, die ein wesentlicher Bestandteil jedes ernsthaften moralischen Lebens ist: die Spannung zwischen dem Streben nach einer gewissen Einfachheit und Einheitlichkeit, auf das - aus Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde - m. E. keine Moraltheorie verzichten kann, und der Komplexität und Vielfalt der .moralischen Landschaft', in der wir uns damit als moralisch Handelnde bewegen. Und deshalb darf - so mein Einwand gegen Murdoch - aus dieser Spannung keine Dichotomie werden, die uns mit einem EntwederOder konfrontiert. Beide Pole dieser Spannung gehören wesentlich zum sittlichen Leben. Das Streben nach Einheitlichkeit und Einfachheit hinsichtlich unserer Moraltheorien ist - innerhalb bestimmter Grenzen - nicht nur legitim, sondern sogar geboten. Schließlich soll die Vernunft im Praktischen zum Handeln führen. Und die ethische Reflexion darf deshalb nicht zu einer Angelegenheit von Connaisseuren werden, die - aus der Perspektive des Betrachters - feinsinnige moralpsychologische Spekulationen über die Tiefen der menschlichen Seele anstellen.3 Unerlässlich ist dieses Streben außerdem auch deshalb, weil es inter subjektive Transparenz ermöglicht und damit Diskurs und Allgemeingültigkeit fördert. Hilary Putnam bringt die Bedeutung dieses Aspekts der moralphilosophischen Reflexion auf den Punkt, wenn er über die Regeln, die das wichtigste Instrument dabei sind, schreibt: „Rules [...] are important because they are the main mechanism we have for challenging (and, if we are successful, shaping) one another's consciences."4 Ebenso legitim und notwendig ist andererseits aber auch der Sinn für die Komplexität des moralischen Lebens, jedenfalls in bestimmten Bereichen, etwa dort, wo das moralische Urteil ein tiefgreifendes Verständnis anderer Menschen voraussetzt. Die Spannung zwischen dem theoretischen Ideal der Einheitlichkeit und Einfachheit und der mitunter schmerzlichen Komplexität moralischer Entscheidungen sollte man also nicht dadurch auflösen, dass man sie zu einer Frage des Bekenntnisses macht, die man damit beantwortet, dass man ,seine Karten auf den Tisch legt'. Eben diese Tendenz zur Spaltung, die aus Spannungspolen des sittlichen Lebens scheinbar unversöhnliche Gegensätze macht, ist aber ein wesentliches Merkmal der jüngsten Geschichte der Moralphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deutlich geworden ist sie vor allem in der Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Uni3 Vgl. O'Neill, 1996, S. 88. 4 Putnam, 1990, S. 195.

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versalisten und den Partikularisten. 5 Und das ist eine Debatte, die unter verschiedenen Namen auch in vielen anderen moralphilosophischen Kontroversen eine einflussreiche Rolle spielt. Ich nenne nur einige Schlagworte, die für sie bezeichnend sind: Gerechtigkeit vs. Tugend, Pflicht vs. Liebe, Ethik vs. Ästhetik, Freiheit (Liberalismus) vs. Gemeinschaft (Kommunitarismus), das Richtige vs. das Gute, Natur vs. Tradition. Onora O'Neill hat in ihrem Buch Towards Justice and Virtue angemerkt, dass auf diese Weise aus moralphilosophischen Theoriestücken, die ursprünglich (in der Antike) gewöhnlich als komplementär 6 galten, rivalisierende Konzeptionen der Ethik wurden. Man könnte also die anfangs zitierte Aussage Murdochs in dem besagten Aufsatz, der zum ersten Mal im Jahr 1956 in einem Band der Proceedings of the Aristotelian Society erschienen ist, auch als prophetische Aussage lesen, die diese Entwicklung der Moralphilosophie antizipiert hat. Ich halte diese Entwicklung für außerordentlich bedauerlich und bin mit Onora O'Neill 7 und anderen8 der Meinung, dass es an der Zeit dafür ist, dass man wieder zusammenfügt, was ursprünglich zusammengehörte, weil es sachlich eng miteinander verbunden ist. Im Folgenden möchte ich versuchen, einen Weg zu skizzieren, wie das am besten gelingen kann. Denn es ist natürlich nicht mit der Behauptung getan, dass das Partikuläre und das Universale in irgendeiner Weise komplementär sind. Vielmehr muss gezeigt werden, dass sich diese These im Blick auf unsere moralische Praxis als plausibel erweist. Und dabei ist die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Murdoch in dem erwähnten Aufsatz folgendermaßen beschreibt: „Ethics and epistemology are always closely connected, and if we want to understand our ethics we have to look at our epistemology." 9 Man würde diese Aussage allerdings missverstehen, wenn man sie so verstünde, als sei die philosophische Ethik einfach ein Zweig der allgemeinen Erkenntnistheorie. Auch wenn bei Murdoch die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in platonischer Manier weniger ausgeprägt ist als ζ. B. bei Aristoteles und Kant, hat sie dabei eine genuin praktische Epistemologie im Sinn. Demnach will sie also sagen: Wenn wir die Ethik verstehen wollen, müssen wir untersuchen, wie wir erkennen, 5 Ein guter Überblick findet sich in: O'Neill, 1996. 6 Vgl. O'Neill, 1996, S. 2. 7 Vgl. O'Neill, 1996. 8 Vgl. z . B . Ricken, 1995. 9 Murdoch, 1998, S. 68.

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was das sittlich Gute ist. Was lernen wir aus dieser Untersuchung über die in der zeitgenössischen Philosophie heftig debattierte Frage, wie universal oder partikulär die Vernunft im Praktischen sein soll bzw. darf? Was sagt sie uns darüber, wie sich das Besondere zum Allgemeinen (zu Regel, Prinzip, Gesetz und Idee) verhält? Bei der Beantwortung dieser Frage lasse ich mich vor allem von Kant inspirieren, weil seine Philosophie m. E. gute Ansätze dafür bietet, die erwähnte Dichotomie zu vermeiden und beiden Spannungspolen des sittlichen Lebens gerecht zu werden. Mit meiner Kant-Interpretation ist aber auch eine kritische Absicht verbunden. Denn ich möchte zeigen, dass es Kant mit seiner moralphilosophischen Konzeption, die sich konsequent an der allen Menschen gemeinsamen Vernunftanlage orientiert, vor allem um intersubjektive Transparenz, Diskursivität und Allgemeingültigkeit geht. Dieses Anliegen ist zwar legitim, und in bestimmten Bereichen der Ethik sogar geboten, aber eine gute Moralkonzeption muss m. E. auch die Grenzen dieser Werte berücksichtigen und sollte deshalb auch andere Aspekte der ethischen Lebensform integrieren, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgen. „[...] there are dangers in becoming wedded to just one picture of our moral life [...]" 10 , gibt Hilary Putnam zu bedenken. Und diese Warnung gilt auch für eine Ethik, die sich zu stark an den Werten der Transparenz und der Diskursfähigkeit orientiert. Deshalb plädiere ich ganz am Ende für eine Erweiterung von Kants Moralphilosophie, verlasse damit aber nicht den Rahmen des Kantischen Denkens, sondern schlage eine Brücke von seiner Ethik zu seiner Ästhetik. Seine Konzeption der Ethik, die sich an der Vorstellung der autonomen Vernunft orientiert, wird also nicht aufgegeben, sondern durch eine stärkere Gewichtung des individuellen phänomenalen Bewusstseins, in dessen Strom der menschliche Wille eingebettet ist, epistemologisch erweitert und vertieft. Wie also erkennen wir, was sittlich gut ist, und welche Rolle spielt dabei das Allgemeine und das Besondere? Beginnen wir mit der Kritik der Partikularisten an den Universalisten. Sie richtet sich vor allem gegen den abstrakten Charakter der Handlungsbeschreibungen, den die Universalisten als angemessenen Gehalt universaler Prinzipien identifizieren. Sie meinen, dass durch solche Abstraktionsprozesse die Intelligibilität des Handelns gefährdet werde, und sind skeptisch gegenüber ethischen Reflexionen, die sich am Begriff der Gerechtigkeit und an universalen Menschenrechten orientieren und dadurch versuchen, ge10 Putnam, 1990, S. 198.

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wachsene und gelebte Moralvorstellungen zu transzendieren. Deshalb schlagen sie vor, Handlungen mit Hilfe von sekundären (.dicken') Moralprädikaten11 zu beschreiben, die sich in einer bestimmten (nationalen, kulturellen, religiösen...) Gemeinschaft mit einer spezifischen Tradition und Kultur entwickelt haben und fest darin verwurzelt sind. Abstraktion - so die These der Partikularisten - gefährdet die Intelligibilität des Handelns. 12 Im Unterschied dazu setzt die Moralphilosophie Kants epistemologisch ohne Umschweife auf der Ebene der mittleren Abstraktion bzw. Allgemeinheit an13 und fragt nach dem Richtigen in Form von verallgemeinerbaren Maximen. Sie ist also zumindest in dem Sinne eine Prinzipienethik, dass es in ihr von Anfang an um ein Prinzipien-geleitetes Handeln geht 14 , um ein Handeln, das sich an Regeln der folgenden Art orientiert, die Kant .Maximen' nennt: -

„[...] ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen." (GMS, A A Bd. IV, S. 422, Z. 4 - 6 )

-

„[...] [es vorziehen], lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen [...] Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben [...]" (GMS, A A Bd. IV, S. 423, Z. 2 - 4 , 5 - 6 )

-

„[...] wenn ich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen." (GMS, A A Bd. IV, S. 422, Z. 2 2 - 2 3 )

-

„Ich habe [...] es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern." (KpV, A A Bd. V, S.27, Z. 2 2 - 2 4 )

-

„[...] es kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden [...]" (KpV, A A Bd. V, S. 19, Z. 19-20)

Diese Form von Moralphilosophie, die von Maximen ausgeht, also von subjektiven Handlungsprinzien mit (wie wir im Folgenden sehen werden) einem mittleren Grad an Allgemeinheit, hat allerdings mit dem viel beschworenen Schreckgespenst einer Prinzipienethik nichts gemein. Denn ihr Streben nach einer gewissen Einfachheit und Einheitlichkeit führt nicht zu einer schablonenhaften Uniformität des konkreten Han11 Das sind Moralbegriffe wie ,vulgär', ,taktlos', ,grob', ,grausam', ,impertinent', ,tapfer', etc. 12 Vgl. O'Neill, 1996, S. 6 7 - 6 8 . 13 Vgl. Höffe, 1979, S. 90. 14 Der Titel eines Buches von O'Neill bringt die programmatische Leitidee der Ethik

Kants zum Ausdruck: Acting on principle (O'Neill, 1975).

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delns. Die Maximenethik Kants verfolgt nicht die Absicht, uns mit einem .ethischen Algorithmus'15 oder einem .sittlichen Autopiloten'16 auszustatten, der die abwägende Vernunft überflüssig macht. Ein deutliches Indiz dafür ist bereits die von Kant gebrauchte Formulierung, ,dass man sich etwas zur Maxime macht'.17 Demnach sind Maximen Regeln, die wir uns aus der Erste-Person-Perspektive selbst zu eigen machen und die von uns gegebenenfalls auch modifiziert oder verworfen werden können. Es sind Prinzipien, die - ganz im Sinne der Kantischen Autonomie-Konzeption - nur dann einen autoritativen Einfluss auf unser Leben haben, wenn er ihnen von uns eingeräumt wird: „Rules and principles enter our lives not because they dominate us, but because we dominate them." 18 Der unbedingte Anspruch, von dem die Ethik Kants ausgeht und mit dem die Maximen konfrontiert werden, fordert also keine Einheitlichkeit auf der Ebene der konkreten Handlungen, sondern eine Gleichförmigkeit des Handelns, die dadurch zustande kommt, dass der Handelnde die Bestimmungsgründe seines Wollens vereinheitlicht und damit in die Kontingenz des Ziele-Setzens auf einer höheren Stufe eine gewisse Ordnung und Kontinuität bringt.19 Das ist eine Form von Gleichförmigkeit, die der moralisch Handelnde mittels seiner Maximen selbst schaffen muss, wobei die höchste Stufe im Umgang mit den Maximen, die ihnen moralischen Charakter verleiht, erst erreicht ist, wenn man nicht starrköpfig, sondern kritisch mit ihnen umgeht, und im Interesse der eigenen Freiheit prüft, ob die festgesetzten Maximen dazu geeignet sind, allgemeine Gesetze zu werden. Wenn man die charakteristische Eigenart der Ethik Kants verstehen will, genügt es also nicht, dass man sich mit dem Verallgemeinerungsverfahren befasst, sondern man muss sich zunächst einmal um ein adäquates Verständnis der Maximen bemühen, die der von Kant vorgeschlagene Gegenstand der Verallgemeinerung sind.20 Der erwähnte mittlere Allgemeinheits- bzw. Abstraktionsgrad dieser Prinzipien ist in dieser Hinsicht ganz entscheidend wichtig. Denn es handelt sich dabei um Regeln, für die ihre Stellung zwischen (noch) allgemeineren und konkreteren Regeln kennzeichnend ist. Kant ordnet die Maximen einerseits der Gattung der praktischen Grundsätze zu, „welche eine allgemeine Be15 16 17 18 19 20

Vgl. Nussbaum, 1985, S. 178. Vgl. O'Neill, 1996, S. 78. Vgl. die Beispiele für Maximen oben. O'Neill, 1996, S. 84. Vgl. Höffe, 1979, S. 88. Darauf hat ζ. B. Otfried Höffe hingewiesen: Vgl. Höffe, 1979, S. 86.

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Stimmung des Willens enthalten, die mehrere Regeln unter sich hat" 21 und unterscheidet sie damit von jenen Regeln, die einen unmittelbareren Bezug zum konkreten Handeln unter besonderen Umständen haben. Diese Kategorisierung wird dadurch bestätigt, dass sie ihrer Wortbedeutung nach ,propositiones maximae' sind: oberste und umfassende Sätze innerhalb einer Kette von praktischen Syllogismen, die zur Ableitung anderer Sätze dienen, ohne jedoch selbst - innerhalb dieser Schlusskette - abgeleitet zu sein. 22 Maximen abstrahieren also - so lehrt uns diese,Abgrenzung nach unten' - von dem unmittelbaren Bezug auf die konkreten Umstände, die eine bestimmte Handlungssituation charakterisieren. Der wird gegebenenfalls von spezifischeren Handlungsregeln hergestellt. Andererseits unterscheiden sich Kants Maximen aber auch von noch allgemeineren Sätzen. Dazu findet sich in seinen ohnehin spärlichen Bemerkungen zum Maximenbegriff 23 zwar keine Erläuterung. Aber das geht aus seiner Wahl von Beispielen deutlich hervor. Demnach widerspräche es offenbar dem Anliegen der Maximen, auf eine noch höhere Stufe der Allgemeinheit bzw. Abstraktheit emporzusteigen, so dass aus ihnen ζ. B. Regeln würden, die eine Grundentscheidung für eine bestimmte Lebensform (Genussleben, theoretisches Leben, politisches Leben etc.) zum Ausdruck bringen, weil sie zwar einerseits oberste Grundsätze, andererseits aber auch - so lehrt uns die Abgrenzung ,nach oben' - inhaltlich bestimmende Lebensprinzipien sein wollen. 24 In den Maximen dokumentieren sich also - so das Fazit - die grundlegendsten und allgemeinsten inhaltlichen Bestimmungen des Willens eines Menschen, die für alle spezifischeren Handlungsprinzipien und letztlich auch für das konkrete Handeln maßgeblich sind. Wenn Kant mit seiner ethischen Reflexion auf der Ebene der mittleren Abstraktion ansetzt, dann ist das nicht einfach ein Ausdruck seiner persönlichen Vorliebe für Maximen, sondern eine notwendige Folge seiner praktischen Epistemologie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jedes ethische Urteil eine Synthesis ist: eine Synthesis aus den je neuen, wechselhaften Situationsbedingungen menschlichen Handelns und der relativ unveränderlichen allgemeinen Maxime, die das normative Muster, das für bestimmte Situationstypen bzw. Praxisformen gilt, in Form eines Leitprinzips expliziert, das trotz seiner Allgemeinheit 21 KpV, A A B d . V , § l , S . 1 9 , Z . 7 - 8 . 22 Vgl. dazu die begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Maximenbegriff: Bubner, 1976, S. 196 ff. 23 Außer den Beispielen oben siehe auch: GMS, AA Bd. IV, S. 420-421. 24 Vgl. Höffe, 1979, S. 91.

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material bestimmt ist. Und deshalb gilt, dass wir den normativen Bestimmungsgrund des Handelns als solchen erst zu fassen bekommen, wenn wir uns auf die mittlere Abstraktionsstufe begeben und uns über den Wandel der Situationsbedingungen erheben. Die normative Qualität einer bestimmten Situation wird erst im Licht von etwas Allgemeinem erkannt. Und dieses Allgemeine kommt bei Kant in Maximen zum Ausdruck. Sie repräsentieren das normativ-einheitsstiftende Moment, das verschiedene Situationen ziemlich konstant miteinander verbindet und die Ethik Kants damit sowohl vor dem Relativismus eines radikalen Partikularismus als auch vor dem Dogmatismus eines unflexiblen Universalismus bewahrt.25 Kant meint also, dass es beim moralischen Handeln immer darum geht, allgemeine Maximen mit den Besonderheiten einer bestimmten Situation zu vermitteln. Allgemeines und Besonderes sind in seiner Moralphilosophie komplementär, weil wir den normativen Aspekt des Partikulären nur in den Blick bekommen, wenn wir es im Licht des Allgemeinen verstehen. Weil Kant unmittelbar bei der Reflexion über subjektive Handlungsprinzipien ansetzt, ist es naheliegend, seine Moralphilosophie als Prinzipienethik zu klassifizieren; weil diese Maximen aber einen hohen Grad an Allgemeinheit haben und in ihnen eine unspezifische .Willenshaltung' zum Ausdruck kommt, gibt es eine interessante Analogie zur aristotelischen Tugendethik. So schreibt z.B. Höffe, nachdem er zuvor festgestellt hat, dass man die Maximen nicht mit den Lebensformen (bioi) des Aristoteles und den Existenzmodi Kierkegaards vergleichen kann, weil sie etwas spezifischer ausfallen: „Maximen entsprechen eher dem, was die Tradition Tugend oder Laster nennt: letzte Grundausrichtungen eines Lebens, sofern sie noch auf gewisse Bereiche der Lebenswirklichkeit hin spezifiziert sind; oder sie beziehen sich sogar - inhaltlich noch spezifizierter - auf nähere Aspekte solcher Grundausrichtungen." 2 6

In den Maximen kommen also allgemeine Grundhaltungen des Willens zum Ausdruck, die aber - wie die aristotelischen Tugend- und Lasterbegriffe — bestimmter als die aristotelischen bioi und die Kierkegaardschen Existenzmodi sind, weil sie inhaltlich auf bestimmte Lebensbereiche und Situationstypen bezogen sind: auf den Umgang mit Beleidigungen, Hilfsbedürftigkeit, Vermögen, Unannehmlichkeiten, Naturanlagen, Geldnot, Versprechen etc. Deshalb kann man sagen, dass in 25 Vgl. Höffe, 1979, S. 94. 26 Höffe, 1979, S. 91.

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ihnen - zugespitzt auf die obersten normativen Leitsätze verschiedener Domänen des menschlichen Lebens - zum Ausdruck kommt, wie jemand sein Leben führt bzw. führen will. Und wenn man die Maximen in ihrer Gesamtheit nimmt und ihre Ausprägung und gegebenenfalls auch Modifikation als einen kreativen Prozess versteht, dokumentiert sich in ihnen die .Lebensphilosophie' 27 und der .eigentliche Grundcharakter' 28 eines Menschen. Dieser normative Charakterkern kommt erst zum Vorschein, wenn man von den situativen Bestimmungen seines Handelns und auch von seinen physischen, geistigen und sonstigen Fähigkeiten abstrahiert und die letzten Beweggründe seines Handelns freilegt. Deshalb dürfen die Maximen auch nicht irgendeine wahre Beschreibung eines Handlungssubjekts oder seines Handelns zum Ausdruck bringen. Und man sollte nicht - wie man das oft getan hat, um das Verallgemeinerungsverfahren ad absurdum zu führen - irgendeine nichtssagende oder vage Beschreibung wählen. Vielmehr muss die Maxime gerade diejenige Beschreibung eines Handlungssubjekts und seines Handelns herauszugreifen versuchen, die erklärt, warum der Handelnde so gehandelt hat, wie er es tat. Sie muss die Grundintention explizieren (ζ. B. .gastfreundlich sein'), die seinen spezifischeren Intentionen (z.B. .Kaffee kochen') erklärend zugrunde liegt.29 Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Kants Menschenbild im Unterschied ζ. B. zu dem der Neokantianer bemerkenswert .dunkel' ist, weil es davon ausgeht, dass es dem Menschen verwehrt ist, hinsichtlich der tiefsten Beweggründe seines Handelns Sicherheit zu erlangen: „[...] es ist dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen H e r zens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist." 3 0

Diese Tiefendimension seiner Ethik darf nicht vergessen werden, wenn Kant Maximen (vielleicht gerade deshalb) bewusst als potentielle Gegenstände des öffentlichen Diskurses konzipiert. 31 Wie andere Aspekte des intelligiblen Charakters sind auch die Maximen kein Gegenstand 27 Vgl. Williams, 1968, S. 113. 28 Vgl. Höffe, 1979, S. 95. 2 9 Vgl. O'Neill, 1989, S. 8 4 - 8 9 . 30 MdS, A A Bd. VI, S. 392, Z. 3 0 - 3 4 ; vgl. auch GMS, AA Bd. IV, S. 407. 31 Vgl. Kuehn, 2001, S. 145.

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des Wissens. Was wir wissen können, das sind nur die Erscheinungen des menschlichen Willens. In praktischer Absicht wird die Intelligibilität der Handlungen aber durch die autonome Wahl von Maximen gesichert.32 Dass die ethische Reflexion bei Kant auf der Ebene der mittleren Abstraktion ansetzt, wird außerdem dadurch bestätigt, dass er in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Maximen - wie zuvor bereits angedeutet - auch als das bestimmt, was den eigentlichen Charakter eines Menschen konstituiert, und ihn dem enstprechend als die .Denkungsart' (im Unterschied zur ,Sinnesart') des Menschen beschreibt, die sich ganz an Grundsätzen orientiert: „Einen Charakter [...] schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat." 33

Kant meint also, dass in Maximen nicht nur zum Ausdruck kommt, wer ein Mensch seinem innersten Wesen nach ist bzw. sein will, sondern dass sie auch das sind, was ihn dazu macht: „Die erste Bemühung bei der moralischen Erziehung ist, einen Charakter zu gründen. Der Charakter besteht in der Fertigkeit, nach Maximen zu handeln."34 Auch der personale Kern eines Menschen, sein eigentlicher Charakter, wird also ausgehend von der mittleren Abstraktionsebene konzipiert. .Einen Charakter zu haben' heißt: bestimmte Maximen zu haben und ihnen entschlossen zu folgen. Und man kann nur dann im eigentlichen Sinn vom Charakter eines Menschen sprechen, wenn der Betreffende Maximen hat, an denen er mit einer gewissen Beharrlichkeit festhält.35 Dass die Handlungstheorie Kants auf der Ebene der mittleren Abstraktion ansetzt, ist wohl in erster Linie eine Konsequenz dessen, dass der Autonomiegedanke im Zentrum seiner Ethik steht. Denn das Vermögen der Autonomie im Sinne des selbstbestimmten Handelns geht worauf sein Name hinweist - mit dem Vermögen, nach Prinzipien zu handeln, Hand in Hand. Wer als Vernunftwesen sein Handeln in etwas begründen will, das nicht auf fremden Ursachen beruht, darf sich nicht an Kontingentem und Willkürlichem orientieren, sondern muss in einem erstem Schritt sein Handeln an Regeln ausrichten, die er sich 32 33 34 35

Vgl. O'Neill, 1989, S. 71. A, A A Bd. VII, S. 292, Z. 6-9. P, A A B d . I X , S.481.Z.8-10. Vgl. Kuehn, 2001, S. 145.

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selbst auferlegt, um sich von dem wechselhaften und unbeständigen Einfluss zu lösen, den die Objekte seiner Sinnlichkeit (im Praktischen: Leidenschaften, Triebstrukturen, Wünsche...) und seiner Neigungen auf ihn haben, und damit in einem gewissen, freilich noch begrenzten Umfang Intelligibilität zu schaffen. Im zweiten Schritt muss er sich dann im Interesse seiner eigenen Freiheit für das Prinzip der Sittlichkeit und gegen das Prinzip der Selbstliebe entscheiden und prüfen, ob seine subjektiven Handlungsregeln dazu geeignet sind, allgemeine Gesetze zu werden. Diese Entscheidung fällt auf der mittleren Abstraktionsebene, weil sie die grundsätzlichere Option für ein Prinzipien-geleitetes Leben bereits voraussetzt. Und sie schafft unbegrenzte Intelligibilität, die Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, weil ihre Autorität nicht mehr von Normen und Praxisformen abhängig ist, die an bestimmte Traditionen gebunden sind. Aus metaethischer Sicht bedeutet diese Verbindung zwischen Autonomie und Abstraktion, dass man erst auf der Ebene der mittleren Abstraktion von moralischem Wert sprechen kann, weil er nicht durch die bloße Pflichtgemäßheit des Handelns, sondern erst durch ,das pflichtgemäße Handeln aus Pflicht' konstituiert wird, das eine Entscheidung für das Prinzip der Sittlichkeit einschließt.36 Epistemologisch wirkt sich diese Relation so aus, dass erst auf der Abstraktionsebene der Maximen der normative Bestimmungsgrund der Handlungen erkennbar ist und sie damit hinreichend intelligibel sind, um zum Gegenstand einer moralischen Bewertung zu werden. Denn das Verallgemeinerungsverfahren, das die Maximen auf ihre Konsistenz prüfen soll, setzt eine bestimmte formale Struktur voraus: Nur Handlungen, durch die Prinzipien oder Beschreibungen zum Ausdruck kommen, die - wie die Maximen - syntaktisch hinreichend strukturiert sind, kommen als Kandidaten für einen solchen Test in Frage.37 Unter dem Aspekt der Autonomie des Handelns ist der Ansatz auf der mittleren Abstraktionsebene folgerichtig. Wenn uns aber die Maximen - wie wir festgestellt haben - als allgemeine Willenshaltungen nur das normative Grundmuster des Handelns vorgeben und alles andere der durch die Erfahrung geschärften Urteilskraft überlassen bleibt, auf die Kant bereits in der Grundlegung hinweist38, wird der Urteilskraft als dem „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemei36 Vgl. GMS, AA Bd. IV, S. 399-400, Z. 35-03. 37 Vgl. O'Neill, 1989, S. 83. 38 Vgl. GMS, AA Bd. IV, S. 389, Z. 30.

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nen zu denken"39 damit viel aufgebürdet. Schließlich ist die Situation von Handlungssubjekten - darauf weisen die Partikularisten zurecht hin-primär eine, die eine Form von Urteilskraft erfordert, die vom Besonderen (einem konkreten Fall, einer bestimmten Situation) ausgeht und dazu das Allgemeine finden soll.40 Bevor irgendwelche Prinzipien angewandt werden können, muss zunächst einmal eine Beschreibung und Einschätzung des vorliegenden Falls erfolgen. Und das Problem dieser Form des Urteilens besteht häufig darin, dass eine bestimmte Situation, in der man sich vorfindet und von der man meint, dass sie zum Handeln herausfordert, unter zahlreiche Beschreibungen fällt und verschiedene Prinzipien bzw. Praxisformen exemplifizert, von denen prima vista möglicherweise mehrere moralisch relevant sind. Am Anfang versteht ein potentieller Akteur vielleicht noch nicht einmal, dass die Situation, mit der er konfrontiert ist, überhaupt Handeln verlangt oder erlaubt.41 Kant hat sich zu dieser sittlich-hermeneutischen Aufgabe nur spärlich geäußert. Und das liegt vermutlich daran, dass es in seiner Moralphilosophie vorwiegend um den Nachweis des Pflichtcharakters des ethischen Handelns geht, und darum, dass Sittlichkeit kein empirisches, sondern ein rationales .Phänomen' ist. Aber er gibt dem für diese Form der ethischen Anstrengung relevanten Vermögen in der Kritik der Urteilskraft immerhin einen eigenen Namen und nennt es ,reflexive Urteilskraft'. Außerdem macht er dazu eine ganze Reihe von grundsätzlichen Bemerkungen.42 Auch die reflexive Urteilskraft, sagt er z.B., „bedarf [...] eines Prinzips"43. Damit kann nicht gemeint sein, dass ein gegebener Fall unter eine festgesetzte Reihe von Regeln subsumiert wird. Denn das wäre ein Fall für die .bestimmende Urteilskraft'44. Vielmehr will Kant damit offenbar sagen, dass auch .situative Einschätzungen', bei denen es um die Beschreibung und Bewertung einer gegebenen Situation mittels normativer Begriffe geht, keine Angelegenheit einer völlig Prinzipien-losen .Wahrnehmung' sind45, sondern bestimmten Refle39 KU, AA Bd. V, S. 179, Z. 19-20. 40 Vgl. KU, AA Bd. V, S. 179, Z. 24-26. 41 Vgl. O'Neill, 1989, S. 181 ff. 42 O'Neill hat wichtige Überlegungen zusammengetragen und systematisiert. Vgl. dazu O'Neill, 1989, S. 181 ff. 43 KU, AA Bd. V, S. 180, Z.7. 44 Vgl. KU, Α Α Bd. V, S. 179, Z. 20-24. 45 Einige Partikularisten behaupten das, darunter einige, die sich auf Aristoteles berufen und EN 1142-43 zitieren, wo es heißt, dass das Urteil am Ende bei der Wahrneh-

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xionsstrategien folgen müssen, die für jedes wissenschaftliche Unterfangen, einschließlich ethischer Überlegungen, relevant sind. Das Einzelne muss auch im Falle des reflexiven Urteilens im Licht von Allgemeinem verstanden werden. Und die dafür relevanten Regeln der Urteilskraft sollen in erster Linie dabei helfen, von fragmentarischen Wahrnehmungen der vorgegebenen Situationen und Probleme zu solchen fortzuschreiten, die vollständiger, kohärenter und adäquater sind, indem sie zur Uberwindung der subjektiven Einschränkungen beitragen. Stellvertretend für sie sei die folgende Maxime der Urteilskraft aus der Kritik der Urteilskraft genannt, die dort unter dem Begriff eines sensus communis eingeführt wird und das Anliegen solcher Reflexionsstrategien auf den Punkt bringt: „[...] in seiner Reflexion auf die Vorstellung jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht [...] [nehmen], u m gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben w ü r d e . " 4 6

Es ist ein ganz wesentliches Charakteristikum der Ethik Kants, dass sie die Theorie- bzw. Prinzipien-Abhängigkeit und die Theorie- bzw. 47 Prinzipien-Fähigkeit des Partikulären betont. Dieser Grundüberzeugung entsprechend folgt sie - innerhalb gewisser Grenzen - dem theoretischen Ideal der Einfachheit und Einheitlichkeit und strebt nach Transparenz, Diskursfähigkeit und Allgemeingültigkeit. Und ich halte diese Vorgehensweise für richtig und wichtig. Eine Gesamtkonzeption der Ethik muss aber m. E. auch - wie ich am Anfang bereits gesagt habe - die Grenzen dieser Werte kennen, die ζ. B. deutlich werden, wenn man sich die Probleme bewusst macht, die mit der Anwendung von Prinzipien verbunden sind. Und sie sollte deshalb anerkennen, was Hilary Putnam als Kritik an Kant formuliert hat: „[...] morality, good morality, cannot always be rigorous and transparent."48 Damit ist keine prinzipielle Zurückweisung des Kantischen Modells der Moralphilosophie verbunden. Denn das normative Konstrukt von Maximen, die den menschlichen Willen bestimmen, bleibt davon unberührt. Der weniger transparente und rigorose Bereich des moralischen Denkens betrifft mung liegt, und einige, die auf Wittgenstein verweisen und PU 241-242 als Beleg zitieren. 46 KU, AA Bd. V, S. 293, Z. 32-36. 47 Vgl. O'Neill, 1989, S. 168-169. 48 Putnam, 2004.

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nicht (jedenfalls nicht direkt) den Willen bzw. die Willensbestimmungen, sondern das individuelle phänomenale Bewusstsein, in dessen Strom er eingebettet ist. Und die Qualität dieses Bewusstseins, in dem sich unser sprachlich verfasstes Bild der .moralischen Landschaft' widerspiegelt, in der wir uns bewegen, hat einen großen Einfluss darauf, (1.) wie die Maximen beschaffen sind, mit denen wir unseren Willen bestimmen, und (2.) wie sich diese allgemeinen Willenshaltungen im konkreten Handeln auswirken. Denn Maximen können wir nur entwerfen, nachdem wir uns ein - zumindest vorläufiges - Bild von der .moralischen'49 Qualität der Phänomene in der Welt des Partikulären mit Hilfe eines weiten Spektrums an sekundären Moralbegriffen gemacht haben. Und ihre sinnvolle Anwendung setzt ebenfalls eine solche Beschreibung voraus. Es handelt sich dabei also um eine andere Form von ethischer Normativität, die keine Alternative, sondern eine wichtige Ergänzung zu der Willensbestimmung durch Maximen darstellt. Und diese Form von praktischer Vernunft ist weniger transparent und rigoros, weil sie stärker von der Individualität eines Menschen geprägt ist und was eng damit zusammenhängt - seine passiv-rezeptive (im Unterschied zu seiner aktiv-reflexiven) Seite stärker in das moralische Handeln einbezieht. Es ist m. E. wichtig, diese Dimension der praktischen Vernunft enger mit der allgemeinen Vernunftanlage des Menschen zu verknüpfen, weil durch sie die .moralische' Sehkraft gesteigert oder gemindert wird. Auch sie ist auf Allgemeinbegriffe angewiesen, findet diese aber nicht in Grundsätzen des Willens, sondern in Form von Ideen im konkreten Einzelnen.50 Eine Form von Vernunft, die fest in der Welt des Partikulären verwurzelt ist und im sinnlichen Stoff der Phänomene nach Allgemeinem strebt, findet sich - wie bereits erwähnt - auch in der Philosophie Kants, allerdings nicht im Rahmen seiner Ethik. Kant meint, dass sie dem künstlerischen Genie mit seiner außergewöhnlichen geistigen Begabung vorbehalten ist und beschränkt sie damit auf einen kleinen Bereich der menschlichen Erfahrung.51 Im Zuge seiner Überlegungen darüber, wie wir Werke der Kunst wahrnehmen, führt er in Verbindung mit den ästhetische Ideen, die der Inhalt der Werke eines künstlerischen Genies sind, den Begriff eines .unbestimmten Begriffs' ein. Eine ästhe49 Ich setzte das Wort .moralisch' hier und im Folgenden in Anführungszeichen, wenn es nicht im strengen Kantischen Sinn zu verstehen ist. 50 Vgl. Trampota, 2003, S. 147ff. 51 Vgl. KU, A A Bd. V, § 46.

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tische Idee - so der Hauptgedanke dieser Reflexionen - gibt uns soviel zu denken, dass die Sprache sie nie ganz einholen und einsichtig machen kann: „[...] unter einer ästhetischen Idee [...] verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann." 52 Ahnlich formuliert er noch einmal wenige Seiten weiter: „[...] die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßen Buchstaben, Geist verbindet." 53 D a s Vermögen, das maßgeblich zur Entstehung einer solchen Idee beiträgt, ist die schöpferische Einbildungskraft. Durch sie wird die Vernunft als das Vermögen der Ideen in Bewegung gesetzt: „Wenn [...] einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft unterlegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen lässt, mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann." 54 D i e ästhetischen Ideen streben also nach etwas, was jenseits der Erfahrungsgrenzen liegt. 55 Sie erschöpfen sich nicht in dem, was der Verstand in klaren Begriffen denken kann, sondern haben einen Gegenstand, der nicht durch .bestimmte Begriffe' gedacht, aber durch .unbestimmte Begriffe' evoziert werden kann. U n d diese unbestimmten Begriffe sind keine rein intellektuellen Begriffe, weil sie eines sinnlichen Stoffs bedürfen, der die Vorstellungskraft belebt, damit diese als produktives Erkenntnisvermögen daraus eine .andere (zweite) N a t u r ' schaffen kann. 5 6 Sie sind auf den .freien Schwung der Gemütskräfte' angewie52 53 54 55 56

KU, KU, KU, Vgl. Vgl.

Α Α Bd. V. S.314, Ζ. 1-5. AA Bd. V, S. 316, Z. 19-25. AA Bd.V, S.314—315, Z.37-38. KU, AA Bd.V, S.314, Z.21-22. KU, AA Bd.V, S. 314, Z. 10.

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sen57, auf das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand58. Die Kritik der reinen Vernunft lehrt uns, dass Wahrnehmungen untrennbar mit einem begrifflichen Gehalt verwoben sind; die Kritik der Urteilskraft fügt dem ergänzend hinzu, dass bestimmte Formen der Wahrnehmung, die uns lieb und teuer sind, mit einem begrifflichen Gehalt verwoben sind, der unbestimmt und unbegrenzt ist.59 Zu dieser Kategorie von - im positiven Sinne - .unbestimmten Begriffen', die nicht dazu dienen, eine Diskussion abzuschließen oder eine bestimmte Frage zu beantworten, sondern weiteres Nachdenken bzw. einen weiteren Gebrauch der Vorstellungskraft anzustoßen und damit eine unbegrenzte Zahl an weiteren Fragen aufzuwerfen, gehören - so würde ich mit Iris Murdoch60 und Hilary Putnam61 behaupten - auch viele Moralbegriffe: nämlich die sekundären Moralbegriffe, auf die es ankommt, wenn wir uns ein Bild von der .moralischen Landschaft' machen, in der wir uns bewegen. Murdoch schreibt über diese Begriffe, die in ihrer Funktion als unbestimmte Begriffe ein wichtiger Bestandteil der Sprache der Moral sind: „Moral tasks are characteristically endless not only because .within', as it were, a given concept our efforts are imperfect, but also because as we move and as we look our concepts themselves are changing. [...] We do not simply, through being rational and knowing ordinary language words, .know' the meaning of all necessary moral words. We may have t o learn the meaning; and since we are human historical individuals the movement of understanding is onward into increasing privacy, in the direction of the ideal limit, and not backwards towards a genesis in the ruling of an impersonal public language." 6 2

Kant hat dem faszinierenden Begriff eines unbestimmten Begriffs keinen Platz in seiner Moralphilosophie eingeräumt, und zwar vermutlich deshalb, weil er die ethische Reflexion von den mitunter verworrenen und undurchsichtigen Zuständen des individuellen phänomenalen Bewusstseins fern halten wollte. Er setzt die transzendentale Schwelle für moralischen Wert höher an: auf der Ebene der mittleren Abstraktion bzw. Allgemeinheit, auf der sich die Maximen bewegen. Und dafür gibt es - wie wir gesehen haben - gute epistemologische Gründe. Weil die 57 58 59 60 61 62

Vgl.tft/, A A B d . V , S . 3 1 2 , Z . 3 6 . Vgl. ATt/, A A B d . V , S . 3 1 6 , Z . 2 7 . Vgl. Putnam, 2004. Vgl. Murdoch, 1993, Kap. 11. Vgl. Putnam, 2004. Murdoch, 1998, S. 321-322.

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Maximen aber - sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Anwendung anbelang - von der Qualität des moralischen Vokabulars abhängen, dessen wir uns dabei bedienen, halte ich es für unverzichtbar, dass man die allgemeine Vernunftnatur des Menschen stärker an die produktive Einbildungskraft mit ihrer individuellen Prägung zurückbindet, mittels derer wir unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit steigern und unsere Moralsprache erweitern und vertiefen können. Diese operiert zwar - gemessen am strengen kantischen Maßstab - im Bereich des Vormoralischen, weil die praktische Intelligibilität, die durch sie gewonnen wird, begrenzt ist: Sie ist abhängig von den begrifflichen Ressourcen einer bestimmten Tradition bzw. einer bestimmten Person, und die Ideen (das Allgemeine), nach denen sie strebt, könnte man - einen Vorschlag Murdochs aufgreifend - als .konkrete Universalien' bezeichnen.63 Aber diese vormoralische Quelle der Sittlichkeit hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die sittliche Reflexion im engeren, Kantischen Sinn. „Je feiner und scharfsinniger unser moralisches Vokabular wird, umso besser sind wir in der Lage, überlegte Entscheidungen zu treffen", hat Hilary Putnam in einem Interview gesagt. 64 Etwas modifiziert und auf Kants Maximenethik angewandt heißt das: Je feiner und scharfsinniger unser moralisches Vokabular wird, und je kreativer die Vorstellungskraft, die dazu erforderlich ist, umso hellsichtiger werden wir im Umgang mit unseren Maximen. Und noch einmal anders ausgedrückt, diesmal anthropologisch-epistemologisch gewendet, heißt das: Durch die praktische Vernunft des Menschen, durch seine allgemeine Vernunftanlage, wird sein individuelles phänomenales Bewusstsein mit Forderungen konfrontiert; der Wille ist umgekehrt aber in den Strom eines von Anfang an,moralisch gefärbten' phänomenalen Bewusstseins eingebettet, von dessen Qualität er sowohl im Guten wie im Schlechten beeinflusst wird.

63 Vgl. Murdoch, 1998, S.322. 64 Putnam, 2000.

Kants Begriff der Menschenwürde O L I V E R SENSEN 1. Einleitung Unser heutiges Moralverständnis ist von verschiedenen Traditionen beeinflusst. Ζ. B. steht das Paradigma einer Güterabwägung, das von dem antiken Griechenland inspiriert ist, neben einer in Normen gefassten Sollensethik aus der jüdisch-christlichen Tradition. 1 Eine Art, Rickens eigene Ethikkonzeption 2 zu lesen, ist es, dass sie zwischen verschiedenen Traditionen eine Brücke schlägt. Die oberste Sollensnorm drückt aus, dass man sein Handeln verantworten können muss. Was konkret verantwortet werden kann, muss im Konfliktfall durch eine Güterabwägung ermittelt werden. Die oberste Sollensnorm selbst wiederum wird insbesondere durch die zweite Formulierung von Kants Kategorischem Imperativ (und genauerhin durch Kants Begriff der Menschenwürde) begründet. 3 Der Grund der Menschenwürde ist somit zugleich normativer Grund und Grenze der Güterabwägung. Ziel dieses Beitrages ist es, Kants Begriff der Menschenwürde zu erläutern. Dabei geht es mir nicht um einen Satz für Satz Kommentar 4 , sondern um eine Charakterisierung des zu Grunde liegenden Denkmusters. Im Folgenden werde ich dazu zunächst die These entfalten, dass es auch verschiedene Paradigmen des Menschenwürdebegriffs gibt (Abschnitt 1). Danach ordne ich - entgegen dem Großteil der Kantliteratur den Kantischen Begriff einer bestimmten Tradition zu (Abschnitt 2) und 1 Vgl. F. R i c k e n , 3 1 9 9 8 , Allgemeine

Ethik, Stuttgart: Kohlhammer, S.215f.

2 Siehe F. Ricken, 1993, Ethik der abwägenden Vernunft, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, Heft 4, S. 5 8 7 - 5 9 4 , 6 4 7 - 6 5 4 ; sowie Ricken, 3 1998, Kap. Ε und F. 3 Siehe ders., 3 1998, S. 1 4 5 , 1 2 2 . 4 Für einen gründlichen Kommentar zu Kants Selbstzweckformel siehe Ricken, 1989, Homo noumenon und homo phaenomenon, in: O . Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt: Klostermann, S. 2 3 4 - 2 5 2 . Obwohl meine Lesart von Rickens abweicht, verdanke ich diesem Aufsatz wertvolle Grundeinsichten über Kant.

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verteidige und erläutere diese Zuordnung in den folgenden Abschnitten (3-5). Der letzte Abschnitt (6) schließlich erläutert, wie genau Kants Begriff der Menschenwürde eine Grenze der Güterabwägung darstellt.

2. Drei Paradigmen der Menschenwürde Im Anschluss an die Literatur5 unterscheide ich im Wesentlichen drei Paradigmen der Menschenwürde. Der zeitgenössische Begriff unterscheidet sich von dem traditionellen Begriff, der seit Cicero die Tradition bestimmt hat. Ciceros Verständnis wiederum hat sich aus dem früheren aristokratischen Begriff entwickelt. Heutzutage wird die Menschenwürde vorwiegend als absoluter, innerer Wert des Menschen verstanden, auf Grund dessen der Einzelne Rechte gegenüber Anderen einfordern kann. In der Begründungskette hat das Gute (der Wert des Einzelnen) Vorrang vor dem Richtigen und das Recht des Betroffenen Vorrang vor der Pflicht des Handelnden. Dementsprechend führt der Duden die Würde als „Achtung gebietender Wert, der dem Menschen innewohnt"6 ein. Und die Internationalen Pakte der UNO, die auf die Allgemeine Menschenrechtsdeklaration aufbauen, gründen die Menschenrechte auf diesen vermeintlichen inneren Wert. So erklären sie in ihren Präambeln: „In der Erkenntnis, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten"7. Historisch gesehen ist dieses Verständnis allerdings noch rela5 Dazu vor allem V. Pöschl, 1969, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse, Jahrgang 1989, Bericht 3, Heidelberg: Carl Winter, S. 7-67; aber auch H. Drexler, 1944, Dignitas, in: R. Klein (Hrsg.), 1966, Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 231-254; H. Baker, 1947, The dignity of man. Studies in the persistence of an idea, Cambridge, MA: Harvard University Press; W. Dürig, 1957, Dignitas, in: T. Klauser (Hrsg.), 1957, Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. III, Stuttgart: Hiersemann, S. 1024-1035; R. P. Horstmann, 1980, Menschenwürde, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), 1980, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co., Sp. 1124-1127; H.-G. Gadamer, 1988, Die Menschenwürde auf ihrem Weg von der Antike bis heute, in: Humanistische Bildung, Heft 12,1988, S. 95-107; M. Forschner, 1998, Marktpreis und Würde oder vom Adel der menschlichen Natur, in: H. Kößler (Hrsg.), 1998, Die Würde des Menschen, Erlangen: Univ. Bibliothek, S. 33-59. 6 Duden, 2 1997, Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von G. Drosdowski, Mannheim: Dudenverlag, S. 821. 7 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in: Bundesgesetzblatt 1973 II, S. 1534,1570. Zu der

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tiv jung. Dass Rechte des Einzelnen explizit durch Rückgriff auf seine Würde begründet werden, gelangte erst in politischen Dokumenten des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch. 8 Der traditionelle Begriff der Menschenwürde hingegen arbeitet mit einem anderen Paradigma. Die Würde des Menschen war primär eine Antwort auf die Frage der Philosophischen Anthropologie, was die Stellung des Menschen im Kosmos sei. Nach dem traditionellen Begriff kommt dem Menschen durch gewisse Fähigkeiten (Vernunft, Freiheit) eine Sonderstellung im Universum zu. Diese Sonderstellung begründete keine Rechte, sondern eine Pflicht des Einzelnen gegen sich selber, seine Fähigkeiten in einer gewissen Weise zu nutzen: Da die Vernunft den Menschen über die Tiere erhebt, soll er sich nicht wie ein Tier verhalten, sondern die Vernunft gebrauchen. 9 Die Pflicht des Einzelnen hatte Vorrang und nicht die Rechte Anderer. Der Vorrang der Rechte vor der Pflicht wurde zum ersten Mal im 17. Jahrhundert vertreten. 10 Dem zeitgenössischen und dem traditionellen Begriff der Menschenwürde ist gemein, dass sie unter „Würde" eine hervorgehobene Stellung des Menschen verstehen (im Wert bzw. im Kosmos). Diese Kernbedeutung stammt von dem älteren, aristokratischen Begriff der Würde (,dignitas'), wie er im antiken R o m verwendet wurde. 11 Im antiken R o m war

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Bedeutung der beiden Pakte siehe K. Ibsen u.a., 31990, Völkerrecht. Ein Studienbuch, München: Beck'sche Verlagsbuchhandlung, S. 641-649. Eine Ausnahme ist Schillers Don Carlos, Dritter Akt, Dritte Szene, vgl. dazu Pöschl, 1969, S. 53-55. Vgl. Cicero, De officiis I, 105f: „Immer wenn man sich die Frage stellt, was Pflicht sei, soll man sich gegenwärtig halten, wie hoch der Mensch nach seiner ganzen Natur über dem Vieh und jeglichem Tier steht. Die Tiere haben ja nur Empfinden für sinnliche Lust und geben sich ihr rein triebhaft hin. Der menschliche Geist aber braucht Nahrung in der Schule des Denkens [...]. Daraus erhellt, daß körperliche Lust der Würde des Menschen nicht entspricht [...]. Man braucht nur bereitwillig über die hohe Würde, die den Menschen vor anderen Wesen auszeichnet, nachzudenken, um zu erkennen, wie übel es ihm ansteht, in Üppigkeit zu schwelgen [...]." (Vom pflichtgemäßen Handeln, übersetzt von K. Atzert, München: Goldmann, S.58f) Der Begriff des Rechts als etwas, das man gerechtfertigterweise von Anderen fordern kann, hat seinen Ursprung in der Forschung zum römischen Recht des zwölften Jahrhunderts. Davor bezeichnete,ius' Pflichten, so R. Tuck, 1979, Natural rights theories. Their origin and development, Cambridge: Cambridge University Press, S. 9, 11. Der Vorrang des Rechts wird zuerst von Hobbes vertreten, dazu J . B . Schneewind, 1998, The invention of autonomy. A history of modern moral philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, S. 93; und Μ. A. Glendon, 1999, Foundations of Human Rights: The Unfinished Business, in: The American Journal of Jurisprudence 44, S. 6. Zum aristokratischen Begriff der Würde siehe H. Wegehaupt, 1932, Die Bedeutung und Anwendung von dignitas in den Schriften der republikanischen Zeit, Ohlau:

Kants Begriff der Menschenwürde die dignitas

ein B e g r i f f des p o l i t i s c h e n L e b e n s . Dignitas

Sonderstellung

223 b e z e i c h n e t e die

d e r politisch h e r r s c h e n d e n P e r s o n e n in d e r Gesellschaft.

E s w a r ein a r i s t o k r a t i s c h e r Begriff, der n u r auf w e n i g e z u t r a f . D i e Stellung k o n n t e g e n o m m e n , aber a u c h w i e d e r g e w o n n e n w e r d e n . M a n erw a r b sie d u r c h das politische A m t , w e l c h e s w i e d e r u m d u r c h L e i s t u n g , soziale H e r k u n f t o d e r R e i c h t u m erlangt w u r d e . D i e S o n d e r s t e l l u n g in der Gesellschaft b r a c h t e R e c h t e d e r A n e r k e n n u n g , aber a u c h P f l i c h t e n m i t sich. W i r h a b e n diesen B e g r i f f h e u t e n o c h , w e n n w i r ζ. B . v o n e i n e m »Würdenträger' oder .würdevollem Auftreten' sprechen. D i e f r ü h e s t e Textstelle, in der die W ü r d e auf alle M e n s c h e n a n g e w a n d t w i r d , s t a m m t v o n C i c e r o . E r v e r w e n d e t d e n lateinischen A u s d r u c k dignitas,

u m d e n g r i e c h i s c h e n G e d a n k e n a u s z u d r ü c k e n , dass

d e m M e n s c h e n als s o l c h e m eine S o n d e r s t e l l u n g i m U n i v e r s u m

zu-

k o m m t . J e d e r M e n s c h sei d u r c h die V e r n u n f t ü b e r die T i e r e e r h o b e n u n d solle d e s w e g e n sein L e b e n n a c h der V e r n u n f t b e s t i m m e n {De

offi-

ciis 1 , 1 0 5 - 7 ) . A u c h der W ü r d e b e g r i f f des C h r i s t e n t u m s u n d der R e n a i s sance behielt dasselbe G r u n d m u s t e r . 1 2

Eschenhagen; Drexler, 1944; Pöschl, 1969; sowie Gadamer, 1988. Viele Elemente der römischen Dignitas finden sich auch in der Griechischen Philosophie, ζ. B. in Aristoteles' Analyse des Hochgesinnten (Nikomacbiscbe Ethik, Buch IV, 1123 b-1125a). Allerdings gab es keine direkte Entsprechung des Wortes ,Dignitas' im Griechischen, so Pöschl, 1969, S.9f. 12 Obwohl es auch wichtige Unterschiede zwischen dem Würdebegriff der einzelnen Epochen gibt, so weisen sie doch dieselbe Grundstruktur auf: dem Menschen als solchem kommt durch gewisse Fähigkeiten eine Sonderstellung im Kosmos zu, aus der sich gewisse Pflichten gegen sich selber ergeben. Z.B. beginnt noch heute der Abschnitt im Katechismus der Katholischen Kirche (1993, München: Oldenbourg, § 1691), der vom richtigen Leben handelt, mit einem Zitat von Leo dem Großen (sermo 21, 2-3): „Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde." Auch in der Renaissance findet sich die gleiche Grundstruktur, so ζ. B. bei Pico della Mirandola. In seinem Traktat Über die Würde des Menschen lässt er Gott zu Adam sprechen: „Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. [...] Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt." (Pico della Mirandola, 1486, hrsg. von A. Buck, 1990, Hamburg: Meiner, S. 7) Trotz der Betonung der Freiheit drücken Worte wie ,höher' eine deutliche Empfehlung aus. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Würdebegriffs in Antike, Christentum und Renaissance siehe Pöschl, 1969; R. Bruch, 1981, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradtion, in: W. Gruber/J. Ladriere/N. Leser, 1981, Wissen, Glaube, Politik. Festschrift für Paul Asveld, Graz u.a.: Styria, S. 139-154; P.O. Kristeller, 1979, Renaissance thought and its sources, New York: Columbia University Press; Baker, 1947.

224

Oliver Sensen

Ich möchte drei Hauptunterschiede zwischen dem traditionellen und dem zeitgenössischen Begriff der Würde herausstellen: Erstens, der traditionelle Begriff begründet die Sonderstellung des Menschen im Kosmos durch gewisse Fähigkeiten des Menschen (Vernunft bzw. Freiheit), nicht durch eine ontologisch eigenständige Werteigenschaft. 13 Zweitens, moralisch begründet der traditionelle Würdebegriff nicht Rechte des Einzelnen, sondern Pflichten.14 Drittens thematisiert der traditionelle Würdebegriff im Allgemeinen nicht die Würde Anderer, sondern es geht um die eigene Würde und Pflichten gegen sich selbst. 15 Für eine Konzeption einer universalen Menschenwürde stehen sich also im Wesentlichen zwei Modelle gegenüber. Das traditionelle Modell arbeitet mit einem zweistufigen Würdebegriff. Jedem Menschen kommt durch Vernunft (bzw. Freiheit) eine ursprüngliche Würde zu. Aus dieser Sonderstellung ergibt sich dann die Pflicht, dieser Würde gerecht zu werden und sie zu verwirklichen.16 Dagegen arbeitet das zeitgenössische Modell mit einem einstufigen Würdebegriff. Würde wird als inhärenter Wert verstanden, auf Grund dessen der Einzelne Rechte einklagen kann. 17

13 Die Sonderstellung im K o s m o s kann auch beim traditionellen Würdebegriff als Ausdruck eines Wertes verstanden werden. Allerdings wird dieser Wert nicht - im Sinne der Intuitionisten des 20. Jahrhunderts (ζ. B. Moore und Scheler) - als ontologisch eigenständige Eigenschaft ,gut' angesehen, sondern - im Sinne von Aristoteles' Transzendentalienlehre und Plotins' Stufenlehre - als höhere Sewsstufe. Ontologisch kommt dem Menschen lediglich mehr Sein zu: vgl. Ricken, 1998, Aristotelische Interpretationen zum Traktat ,De passionibus animae' (Summa theologiae I II 22-48) des Thomas von Aquin, in: M. Thurner, 1998, Die Einheit der Person, Stuttgart: Kohlhammer, S. 137-140. 14 Während beim traditionellen Begriff evtl. das Gute vor dem Richtigen kommt, so kommt aber die Pflicht vor dem Recht. 15 So auch Pöschl, 1969, S. 55f. 16 Z u m zweistufigen Würdebegriff vgl. auch R. Bruch, 1981, S. 148 f; sowie Μ. A. Glendon, 1999, S.13f. 17 Kritiker dieser Konzeption sehen die Würde dagegen als etwas, was wir Anderen lediglich zuschreiben, so ζ. B. F. J. Wetz, 1999, Die Würde der Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 175-182.

Kants Begriff der Menschenwürde

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3. Kants Begriff der Menschenwürde F ü r das heutige W ü r d e v e r s t ä n d n i s b e r u f t m a n sich vielfach auf K a n t . 1 8 E r b e z e i c h n e t die W ü r d e als „ a b s o l u t e n i n n e r n W e r t h " ( 1 7 9 7 , M e t a p h y s i k d e r Sitten V I : 4 3 5 1 9 ) , u n d sein K a t e g o r i s c h e r I m p e r a t i v „handle so, d a ß d u die M e n s c h h e i t s o w o h l in deiner P e r s o n , als in d e r P e r s o n eines jeden a n d e r n j e d e r z e i t z u g l e i c h als Z w e c k , niemals b l o ß als M i t t e l b r a u c h s t " ( 1 7 8 5 , G r u n d l e g u n g z u r M e t a p h y s i k der Sitten [ G M S ] IV: 4 2 9 ) scheint a u s z u d r ü c k e n , w a s es heisst, d e n a b s o l u t e n W e r t eines A n d e r e n z u respektieren. U m g e k e h r t v e r w e n d e t a u c h die K a n t l i t e r a t u r v o r w i e g e n d d e n z e i t g e n ö s s i s c h e n W ü r d e b e g r i f f . 2 0 D a g e g e n m ö c h t e ich i m F o l g e n d e n a r g u m e n t i e r e n , dass K a n t s Begriff d e r M e n s c h e n w ü r d e a d ä q u a t e r i m Sinne d e r langen T r a d i t i o n v o r i h m z u v e r s t e h e n ist. Z w a r f ü h r t K a n t die M e n s c h e n w ü r d e i m m e r n u r mal s p o r a d i s c h an, u n d er gibt k a u m eine s y s t e m a t i s c h e B e h a n d l u n g d e r F r a g e , d o c h w e n n m a n die Stellen d u r c h g e h t , w o er explizit v o n „ W ü r d e " spricht, so folgen die Stellen d e m G r u n d m u s t e r des traditionellen W ü r d e m o d e l l s . 2 1 G a n z i m Sinne dieser T r a d i t i o n u n t e r s c h e i d e t K a n t s c h o n in d e n R e f l e x i o n e n der 7 0 ' e r J a h r e z w i s c h e n z w e i B e g r i f f e n der M e n s c h e n w ü r d e : 18 Für den Einfluss Kants auf die Interpretation des deutschen Grundgesetzes vgl. Wetz, 1999, S. 71-93. 19 Im Folgenden MS. Bei Verweisen auf Kants Werke beziehen sich die römischen Ziffern auf den Band und arabische Ziffern auf die Seitenzahl der Akademie Ausgabe von Kants Werken: Kant, 1902 ff, Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: De Gruyter. 20 Vgl. ζ. B. A. Wood: „Kant's moral philosophy is grounded on the dignity of humanity as its sole fundamental value" (1998, Kant on Duties Regarding Nonrational Nature /, in: Aristotelian Society Supplement 72, S. 189), oder Η. Ε. Jones: „It is because of this kind of absolute value that one ought to treat persons as ends-in-themselves and never as mere means" (1971, Kant's principle of personality, Madison u.a.: University of Wisconsin Press, S. 130), aber auch H.J. Paton, 1947, The categorical imperative, London: Hutchinson, S. 171; D. Ross, 1954, Kant's ethical theory, Oxford: Clarendon Press, S. 52-54; P. JE. Hutchings, 1972, Kant on absolute value, London: George Allen & Unwin, S. 287, 290; P. C. Lo, 1987, Treating Persons as Ends, Lanham u.a.: University Press of America, S. 165; G. Löhrer, 1995, Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants, Freiburg/München: Alber, S. 124, 34-36. Obwohl die Literatur mit der starken Wertsprache nicht unbedingt eine ontologisch eigenständige Eigenschaft im Sinn hat, so sieht sie doch häufig einen Wert (das Gute) als Grund der Forderung, Andere (moralisch) zu respektieren. Für eine unschuldigere Lesart siehe Anmerkung 45. 21 Allerdings spricht Kant gelegentlich von der Würde Anderer, so z. B. in MS VI: 462.

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Oliver Sensen „Die w ü r d e der Menschlichen N a t u r liegt blos in der freyheit [...]. A b e r die w ü r d e eines M e n s c h e n (würdigkeit) beruht auf d e m Gebrauch der freyheit, da er sich alles G u t e n w ü r d i g macht." (Reflexion 6856, X I X : 181)

In dieser Reflexion verwendet Kant die gleiche Struktur wie das traditionelle Menschenwürdekonzept. In einem ersten Schritt kommt jedem Menschen als solchem eine Sonderstellung, d. i. eine ursprüngliche Würde, zu. Diese Vorzugsstellung besteht in seiner Freiheit. Aus seiner Freiheit ergibt sich in einem zweiten Schritt (durch den Kategorischen Imperativ) die moralische Verpflichtung, der ursprünglichen Würde gerecht zu werden und sie zu verwirklichen. Denselben Würdebegriff verwendet Kant auch an anderen Stellen, ohne jedoch jemals eine systematische Behandlung zu geben. So bezeichnet er die Freiheit als Unabhängigkeit von äußeren Bestimmungen als „ursprüngliche Würde", die dann in einem zweiten Schritt unter das moralische Gesetz gestellt werden soll.22 Im Einklang mit dem traditionellen Begriff der Menschenwürde versteht Kant Würde als Sonderstellung gegenüber der Natur. So betont er mit dem Wort „Würde" wiederholt den Vorzug, den Freiheit und Moral vor Tieren und den Rest der Natur geben.23 Aus der Freiheit als ursprünglicher Würde ergibt sich die Forderung gegen sich selbst, mit der Freiheit in gewisser Weise umzugehen. Insbesondere betont er mit der Forderung, man solle seine Würde verwirklichen, die Forderung, man solle die Fähigkeit, über die Sinnlichkeit Herr zu werden (,Tugend') und nach Prinzipien zu handeln, erhalten und schätzen.24 Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der Kant die ausführlichste Behandlung der Menschenwürde gibt, verwischt das Bild, da sie erst im Zusammenhang mit einem moralisch guten Willen von der Würde spricht. Genauerhin thematisiert Kant die Würde erst im Zusammenhang mit dem Reich der Zwecke: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde." (IV: 434; Hervorh. O. S.) Das Reich der Zwecke ist „freilich nur ein Ideal" (IV: 433), das nur dann 22 Kant, 1798, Der Streit der Fakultäten, VII: 72 f. 23 Kant betont dabei manchmal die Freiheit als ursprüngliche Würde (so ζ. B. in: Reflexion 7305, XIX: 307; JCants Naturrecht im Winterhalben Jahre' 1784 von G. Feyerabend [KNF im Folgenden], XXVII, Bd. 2.2, S. 1321 f; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [REL im Folgenden] VI: 80; vgl. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? VIII: 41 f), manchmal den Aspekt der durch Moral zu verwirklichenden Form (z.B. in: CMS IV: 438; MS VI: 462; Der Streit der Facultäten VII: 58). 24 REL VI: 183; MS VI: 420, 6: 436; Pädagogik IX: 488-490. Diese Forderungen sind Ausdruck der Moral und durch den Kategorischen Imperativ geboten.

Kants Begriff der Menschenwürde

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zustande käme, falls jeder tatsächlich moralisch gut wäre. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass Kant in der Grundlegung die Würde auf einen moralischen guten Willen basiert, ζ. B. „ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat" (IV: 435); oder Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur" (IV: 436). Die Grundlegung verwendet das Wort „Würde" also vor allem im Zusammenhang mit der realisierten Würde. 25 Würde als absoluter oder unbedingter Wert basiert auf einem (moralisch) guten Willen. Es ist eine zentrale These der Grundlegung, dass unbedingter Wert nur dem (moralisch) guten Willen zukommen kann. Was Kant in anderen Werken als „ursprüngliche Würde" bezeichnet, entspricht in der Grundlegung am ehesten der Wendung „Zweck an sich selbst", obwohl sich beide Bezeichnungen nicht eindeutig decken.26 Bisher habe ich nur belegt, dass Kants Begriff der Menschenwürde die gleiche Oberflächenstruktur aufweist wie der traditionelle Würdebegriff. Aus der Freiheit des Menschen ergibt sich eine Pflicht, mit der Freiheit in gewisser Weise umzugehen. Was ich aber noch nicht belegt habe, ist, dass Kant auch für die Pflicht, andere Menschen zu respektieren, auf den traditionellen Begriff zurückgreift. Dazu muss ich zeigen, dass für Kant das Richtige vor dem Guten kommt und Kants Konzeption der Moral nicht von einer Werteigenschaft des Anderen Ausgang nimmt (Abschnitt 3), dass für Kant die Pflicht des Handelnden Vorrang vor dem Recht des Betroffenen hat (Abschnitt 4) und dass Andere zu respektieren vornehmlich eine Pflicht des Handelnden ist (Abschnitt 5).

4. Würde und absoluter Wert Dass Kants Würdekonzeption oft im Sinne des zeitgenössischen Würdebegriffs als inhärenter Wert aufgefasst wird, liegt ζ. T. an Kants eigenen Formulierungen. Insbesondere eine Stelle in der Metaphysik der Sitten scheint für diesen Begriff zu sprechen: 25 Prauss' These, dass Kant die Würde zunehmend in dem moralisch guten Willen verankert sieht (siehe ders., 1983, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt: Klostermann, S. 139f) möchte ich also dahingehend verändern, dass Kant das Wort „Würde" zunehmend für die realisierte F o r m verwendet. 26 Für eine Klärung der Kantischen Terminologie im Zusammenhang der Selbstzweckformel siehe Ricken, 1989, S. 2 3 6 - 2 4 1 ; sowie Schwartländer, 1968, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart: Kohlhammer, S. 179-183.

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„Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralischpraktischen Venunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher {homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann." (MS VI: 434f)

Isoliert betrachtet lässt diese Stelle eine Lesart zu, nach der einer noumenalen Qualität im Menschen ein absoluter Wert zukommt und nach der man Andere auf Grund dieses Wertes respektieren soll. In der Begründungskette käme das Gute (der Wert) vor dem Richtigen und das Recht des Betroffenen vor der Pflicht des Handelnden. Genau betrachtet lässt die Stelle aber eine ganz andere Lesart zu.27 In diesem Abschnitt werde ich dagegen argumentieren, dass Kants Konzeption, warum wir Andere respektieren sollen, von einer Werteigenschaft der Anderen ihren Ausgang nimmt. Dazu hinterfrage ich zunächst konkrete Argumente, die den Wert des von der Handlung Betroffenen zum Ausgangspunkt der Kantischen Ethik machen wollen. In einem zweiten Schritt argumentiere ich ganz allgemein dagegen, dass Kants Ethik von Werten ausgeht oder das Gute vor dem Richtigen ansetzt. Schließlich skizziere ich eine alternative Lesart von Kants Wendungen wie .absoluter Wert'. Der Haupttrend in der Kantliteratur geht dahin - dem heutigen Begriff der Menschenwürde folgend - , in der Moral einen absoluten Wert des Anderen als Ausgangspunkt zu nehmen. Von der Absolutheit des Wertes („Würde") leiten sich dann die Rechte des Anderen ab. Die Literatur kennt verschiedene Modelle dieses Grundmusters. Ich werde drei herausgreifen und kurz auf systematische bzw. interpretatorische Schwierigkeiten hinweisen. Das gegenwärtig populärste Modell in der Kantliteratur vertritt - in verschiedenen Formen - , dass dem Menschen als Quelle des Wertes ein besonderer Wert zukomme. 28 Das Ar27 Danach ist der Grund, warum Andere respektiert werden sollen, der Zweite Kategorische Imperativ: ,denn das Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft soll nicht blos als Mittel behandelt werden'. Die Begründung kommt von dem Kategorischen Imperativ, und die Forderung des Imperativs ist es auch, die die Würde definiert: ,d. i. er besitzt eine Würde'. 28 Vgl. C . Korsgaard, 1986, Kant's Formula of Humanity, in: dies., 1996, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge: Cambridge University Press, S. 119-124; G. Löhrer, 1995, S. 2 6 9 - 2 9 8 ; A. Wood, 1999, Kant's ethical thought, S. 1 2 4 - 1 3 2 ; D. Sussmann, 2003, The authority of humanity, in: Ethics 113 (2), S. 3 5 0 - 3 6 6 ; vgl. Kant: KNF X X V I I , B d . 2 . 2 , S. 1 3 1 9 - 1 3 2 2 .

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gument geht von der Sicht aus, dass Dinge der Natur nur dann einen Wert haben, wenn sie vom Menschen als Mittel für ihre Zwecke gewählt werden. Der Wert der Dinge ist jederzeit bedingt. Um einen unendlichen Regress auszuschließen, müsse die Kette der Bedingungen im Unbedingten enden. Der Mensch als unbedingte Bedingung des Wertes der Dinge, so schließt das Argument, müsse einen besonderen und absoluten Wert haben. Das Argument ist nicht schlüssig, da nicht jede (unbedingte) Bedingung für eine Eigenschaft dieselbe Eigenschaft in einem höheren Maße besitzen muss. Wenn Dinge der Natur ζ. B. nur dann interessant (schön) sind, wenn sie den Geschmack des Menschen erregen (erfreuen 29 ), so heißt das nicht, dass Menschen absolut interessant (schön) oder interessant (schön) an sich sind. Nicht jede (unbedingte) Bedingung für eine Eigenschaft besitzt diese Eigenschaft in einem höheren Maße. Deswegen kann man auch nicht notwendig schließen, dass ein bedingter Wert der Dinge die Existenz eines absoluten Werts voraussetzt. 30 Statt dessen bräuchte man ein unabhängiges Kriterium, um festzustellen, dass dem Menschen ein absoluter Wert zukommt, wodurch das Argument aber von vornherein überflüssig würde.31 Ein anderes Argument besagt, dass es ein moralisch guter Wille ist, der den Anderen einen absoluten Wert gibt. Wir sollen Andere wegen deren guten Willen respektieren.32 Zwei Schwierigkeiten müssen aus dem Weg geräumt werden. Zum einen kann man nach Kant prinzipiell nicht wissen, ob ein Wille tatsächlich moralisch gut war. Vielleicht, so sagt er, gab es nie einen wirklichen redlichen Freund (vgl. GMS IV: 406-8). Zum anderen soll zumindest nicht jede unmoralische Tat ei29 Vgl. Kant, 1790, Kritik der Urteilskraft, V: 211. 30 Dabei ist es unerheblich, ob der Wert der Dinge als extrinsische oder intrinsische Eigenschaft aufgefasst wird. Wenn der Mensch ζ. B. die Bedingung für die extrinsische Eigenschaft ist, dass ein Ding grün erscheint (da die Farberscheinung nur in Beziehung auf die Wahrnehmungsorgane des Menschen erfolgt), so folgt daraus nicht, dass der Mensch absolut grün oder grün an sich erscheint. Oder wenn die Hand eines Menschen die Bedingung für die intrinsische Eigenschaft eines gefalteten Bogens Papier ist, dass es eine dreieckige Form hat, so folgt daraus nicht, dass der Mensch (bzw. seine Hand) absolut dreieckig oder dreieckig an sich ist. 31 Das gilt auch für eine Variante des Arguments, nach der man von einem verallgemeinerbaren Zweck auf einen guten Willen schließen kann (vgl. Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends, S. 115f; A. Wood, 1999, S. 127-129). Der unbedingte Wert eines guten Willens wird bei Kant nicht durch das angeführte Argument begründet. 32 Vgl. Paton, 1947, S.168f, 177; Ross, 1954, S.51f; Hutchings, 1972, S.295, 301; vgl. Kant, GMS IV: 437.

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nem seiner Würde berauben. Auch ein Lügner darf nicht einfach behandelt werden, als wäre er ein Stein. 33 Diesen Schwierigkeiten kann man begegnen, indem man den Anderen einen möglicherweise guten Willen anrechnet. 34 Allerdings ist dieser absolute Wert nicht der fundamentale Grund für die Achtung, die wir Anderen schuldig sind. Wenn Kant davon spricht, dass wir den moralisch guten Willen Anderer achten sollen, so fügt er hinzu, dass es eigentlich nur das moralische Gesetz ist, dass wir achten, für das uns der Andere ein Beispiel gibt. 35 Kant betont selbst da, wo er vom Wert und der Achtung Anderer spricht, ein Prinzip des Richtigen und die Pflicht des Handelnden. Eher unterschwellig wird drittens die Ansicht vertreten, dass dem Menschen als noumenalem (im Gegensatz zum phänomenalen) Wesen ein absoluter Wert zukommt. Kann nicht eine noumenale Qualität des Menschen als absolute Werteigenschaft verstanden werden? Auch hier sind es Kants eigene Texte, die zu einer solchen Lesart Anlass geben können. 36 Allerdings müsste diese Lesart zwei Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Zum einen wäre eine noumenale Eigenschaft des Menschen nichts, von der man ein theoretisches Wissen haben könnte (vgl. Kant, GMS IV: 451, 458, 462). Zum anderen wäre es ein zusätzlicher Schritt zu zeigen, dass eine noumenale Welt zugleich werthaften Charakter habe. Wäre dieses Fundament stark genug, um darauf eine Ethik zu begründen? 37 Bisher habe ich nur exemplarisch auf Schwierigkeiten von drei Argumenten hingewiesen, die alle vom absoluten Wert des Menschen ausgehen wollen. Aber auch wenn man sich Kants Gebrauch von Termini wie ,das Gute' oder ,absoluter Wert* anschaut, so legt er nahe, dass für Kant das Richtige, der Kategorische Imperativ, vor dem Guten kommt. Das geht z.B. aus der zentralen Behandlung des Guten in Aer Kritik der 33 Vgl. Kant, MS VI: 4 6 3 f; T. Hill, 1992, Dignity and practical reason in Kant's theory, Ithaca: C o r n e l l University Press, S . 5 3 ; W o o d , 1 9 9 9 , S. 1 3 2 - 1 3 9 .

moral

34 Vgl. Kant, GMS IV: 437; MS 6:464; Ricken, 1 9 8 9 , S . 2 4 7 . 3 5 Vgl. GMS IV: 401 A n m e r k u n g ; Kant: Kritik der praktischen Vernunft [KpV im Folgenden] V: 7 6 f , 87; vgl. auch GMS IV: 440: „dieser uns mögliche [moralisch gute] Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung" (Hervorh. O . S.). 36 Vgl. z . B . die zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Stelle aus MS VI: 4 3 4 f . 3 7 Z u r Problematik v o n M e n s c h e n w ü r d e und noumenaler Welt vgl. J. Santeler, 1 9 6 2 , Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant, Innsbruck: Felizian Rauch, S. 6 5 - 7 4 ; Ricken, 1989; sowie O . O'Neill, 1 9 8 9 , Reason and Autonomy in Grundlegung III, in: dies., Constructions of Reason, Cambridge: C a m b r i d g e U n i v e r s i t y Press, S. 5 1 - 6 5 .

Kants Begriff der Menschenwürde

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praktischen Vernunft hervor. Dort warnt Kant ausdrücklich davor, dass ein Vorrang des Guten vor dem Richtigen das Gute zum Instrumentellen verkommen lassen würde: „Wenn der Begriff des G u t e n nicht v o n einem vorhergehenden praktischen G e s e t z e abgeleitet, sondern diesem vielmehr z u m G r u n d e dienen soll, [...] so w ü r d e es überall nichts unmittelbar G u t e s geben, sondern das G u t e nur in den Mitteln zu etwas anderem, nämlich irgend einer Annehmlichkeit, gesucht w e r d e n müssen." (V: 5 8 f )

Auf Kants Gedankengang muss hier nicht weiter eingegangen werden. Was aber deutlich wird, ist, dass Kants Ethik nicht von einem Guten Ausgang nehmen und davon dann den Kategorischen Imperativ ableiten will, sondern, dass in seiner Konzeption das Richtige vor dem Guten kommt. Andernfalls müsste Kants Ethik als im weiteren Sinne konsequentialistisch oder teleologisch klassifiziert werden. 38 Auch wenn man sich die Stellen näher anschaut, wo Kant vom absoluten oder unbedingten Wert des Menschen spricht, ergeben sich Zweifel, dass Kant vom Guten Ausgang nimmt. Kant charakterisiert den absoluten Wert vornehmlich negativ, in Abgrenzung dessen, was er nicht ist.39 So sagt er z.B. in der Grundlegung, die Würde des Menschen sei „über allen Preis erhaben", sie verstatte „kein Äquivalent" (IV: 434), „hat nicht bloß einen relativen Werth" (IV: 435), sondern einen „««bedingten, ««vergleichbaren Werth" (IV: 436; Hervorhebungen O. S.). Was Kant ausdrücken möchte, ist letztendlich eine Verhaltensanweisung, Andere „nicht blos als Mittel zu anderer ihren [...], sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen" 40 . Das aber ist ein Gebot des Kategorischen Imperativs. Kants Wertsprache dient also nicht dazu, dem Menschen eine inhärente Werteigenschaft zuzuschreiben und Prinzipien der Moral davon abzuleiten, sondern ist einem Prinzip des Richtigen untergeordnet, das seinen Begriff des Guten bestimmt. 41 38 So auch W. Wolbert, 1987, Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der Menschenwürde in normativer Ethik und Metaethik, Münster: Aschendorff, S. 80. Das zeitgenössische Würdeverständnis ist teleologisch, da es vom Guten ausgeht, konsequentialistisch, indem es die Richtigkeit einer Handlung von Folgen abhängig macht, und ,agent-relative', indem es Rechte des Einzelnen auf seinen Wert gründet und so eine Maximierung des Wertes ausschließt; zu den Begriffen siehe Ricken, 3 1998, S. 215-219. 39 Vgl. Santeler, 1962, S.61; Schwartländer, 1968, S. 183; Löhrer, 1995, S.36. 40 Kant MS VI: 434f, vgl. GMS IV: 429,437. So auch Santeler, 1962, S. 61; Schwartländer, 1968, S. 183. 41 Zum Vorrang des Richtigen vor dem Guten in Kant siehe auch A. Trampota, 2003, Autonome Vernunft oder moralische Sehkraft? Das epistemische Fundament der

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5. Der Vorrang der Pflicht vor dem Recht Der gegenwärtige Trend, dem Guten in Kants Ethik Vorrang vor dem Richtigen zu geben, stößt also auf erhebliche Schwierigkeiten. Entgegen dem zeitgenössischen Modell der Menschenwürde sollte Kants Ethik auch nicht so gelesen werden, dass der Wert des Menschen sein Recht begründet. Statt dessen hat für Kant ganz im Allgemeinen die Pflicht (des Handelnden) Vorrang vor dem Recht (des Betroffenen). Dass wir Andere respektieren sollen, wird durch den Kategorischen Imperativ geboten. Die Freiheit (d. i. die ursprüngliche Würde) unterwirft uns dem Kategorischen Imperativ, aus dem sich unsere Pflichten ergeben. Diesen Zusammenhang stellt Kant selber deutlich in der Me-

taphysik der Sitten heraus:

„Warum wird aber die Sittenlehre (Moral) gewöhnlich (namentlich vom Cicero) die Lehre von den Pflichten und nicht auch von den Rechten betitelt? da doch die einen sich auf die anderen beziehen. - Der Grund ist dieser: Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann." (VI: 239)

Das bedeutet, dass Kant auch für die Frage, warum wir Andere (moralisch) respektieren sollen, nicht von Recht der Betroffenen, sondern von der Pflicht der Handelnden ausgeht.42 Diese Pflicht wird durch den Kategorischen Imperativ auferlegt. Das Recht des Betroffenen ist nicht ursprünglich, sondern wird von dem Imperativ abgeleitet. Im Folgenden werde ich diese These im Zusammenhang der Selbstzweckformel weiter entfalten.

6. Die Selbstzweckformel Dass man Andere (moralisch) respektieren soll, drückt Kant deutlich mit seinem Zweiten Kategorischem Imperativ, der so genannten Selbstzweckformel, aus: „handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Ethik bei Immanuel 23-27, 58-67.

Kant und Iris Murdoch, Stuttgart: Kohlhammer, S. 106-122,

42 So sollten auch die Stellen in der Metaphysik der Sitten verstanden werden, die betonen, dass Pflicht Selbstzwang bedeute und man sich nicht als Anderen verbunden erkennen könne, ohne sich selbst zu verbinden, siehe MS VI: 379f, 417f.

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Kants Begriff der Menschenwürde

Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (GMS IV: 429). Als Kategorischer Imperativ kann die Selbstzweckformel innerhalb Kants deontologischen Rahmens interpretiert werden. Im Folgenden werde ich kurz eine Lesart der Selbstzweckformel skizzieren, die nicht von einem Wert des Anderen ihren Ausgang nimmt.43 Kant versteht die Selbstzweckformel und andere Formulierungen des Kategorischen Imperativs als Ausdruck derselben Grundformel, dennoch betonten die verschiedenen Formeln unterschiedliche Aspekte. So sagt er, die verschiedenen Formeln seien „im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes", aber es „ist doch eine Verschiedenheit in ihnen" (GMS IV: 436). Im Anschluss bezeichnet er die Verschiedenheit so, dass die Selbstzweckformel die „Materie" beleuchtet, während die Naturgesetzformel die „Form" betont (ebenda). Die Naturgesetzformel lautet: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte" (GMS IV: 421). Sie fordert, dass man die Maxime, das subjektive Prinzip seiner Handlung 44 , verallgemeinern kann. Die Naturgesetz- und die Selbstzweckformel sind für Kant Ausdruck desselben Gesetzes, wobei die Selbstzweckformel angibt, wer in die Verallgemeinerung miteinbezogen werden soll: „Denn daß ich meine Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit als eines Gesetzes für jedes Subject einschränken soll, sagt eben so viel, als: das Subject der Zwecke, d.i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden." (GMS IV: 438)

Wenn man die Maxime auf ihre Verallgemeinerbarkeit (für Andere) hin untersucht, so untersucht man, ob jeder Andere sie auch annehmen könnte. Handelt man nach einer nicht-verallgemeinerbaren Maxime, können einige der Betroffenen nicht in die Maxime (und ihren Zweck) einstimmen. Dementsprechend behandelt man diese Betroffenen als bloßes Mittel. Es ist also eine Forderung, die gebietet, die Maxime zu verallgemeinern und Andere niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen. 43 Z u m Folgenden vgl. O . O'Neill, 1989, Universal dies., Constructions

laws and ends-in-themselves,

in:

of Reason, Cambridge: Cambridge University Press, S. 1 2 6 - 1 4 4 .

44 Vgl. GMS IV: 4 0 0 Anmerkung, 4 2 0 Anmerkung; zu Kants Maximenbegriff siehe auch: J. Timmermann, 2000, Kant's Puzzling of Philosophy 8 (Spring 2000), S. 3 9 - 5 2 .

Ethics of Maxims, in: Harvard

Review

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Der Kategorische Imperativ gebietet, ein anderes freies Wesen „keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich als Zweck zu gebrauchen" (KpV V: 87). Dennoch gibt es auch einen Unterschied zwischen den beiden Formulierungen des Kategorischen Imperativs. Die Naturgesetzformel betont die Form, die eine Maxime annehmen soll (vgl. GMSIV: 436). Eine Verallgemeinerungsforderung hat zwei Aspekte. Sie kann, wie im Falle der Pflichten gegen sich selbst, dazu auffordern, dass die Maxime immer gelten kann, während sie im Falle der Pflichten gegen Andere für alle gelten können soll (vgl. GMS IV: 424). Die Naturgesetzformel drückt diese Forderungen aus, aber sie gibt noch nicht an, wer in die Verallgemeinerung miteinbezogen werden soll. Die Formel lässt also den Bereich, über den verallgemeinert werden soll, unausgedrückt. Es geht nicht um Steine, Bäume oder Hunde, für die die Maxime des Handelnden ein allgemeines Gesetz sein soll, sondern nur um andere vernünftige Wesen mit Freiheit. Die Selbstzweckformel drückt genau das aus. Kant beschreibt es so, dass die Selbstzweckformel die Materie des Gesetzes betont (vgl. GMS IV: 436). Dabei handelt es sich aber nicht um einen Zweck, den es zu bewirken gilt, sondern nur um die einschränkende Bedingung (vgl. GMS IV: 431, 437), d. i. die Wesen, über die wir universalisieren sollen. Die Normativität aber, warum wir sie respektieren sollen, wird durch den Kategorischen Imperativ ausgedrückt und nicht durch den Wert oder das Recht der Anderen. Hingegen drückt auch die zweite Formel eine Pflicht an den Handelnden aus: „handle so" (GMS IV: 429). In der Sprache der Menschenwürde kann man den Grund, warum wir Andere (moralisch) respektieren sollen, folgendermaßen ausdrücken: Durch die Freiheit seiner Vernunft nimmt der Mensch eine Sonderstellung in der Natur ein, d. h. ihm kommt eine ursprüngliche Würde zu. Die Sonderstellung unterwirft den Menschen dem Kategorischen Imperativ, denn ohne Vernunft und Freiheit stellt sich das moralische Problem erst gar nicht. Durch den Imperativ begründet sich für den Handelnden die Pflicht, seine ursprüngliche Würde zu realisieren, indem er einen moralisch guten Willen ausbildet. In den Bereich seiner Pflicht gegen Andere fällt es, dass der Handelnde andere vernünftige Wesen, die durch ihre Freiheit ebenfalls eine Sonderstellung einnehmen (d. i. eine ursprüngliche Würde haben), respektiert. Die Freiheit Anderer ist somit nicht Ausgangspunkt der Pflicht, sondern gibt nur an, ge-

Kants Begriff der Menschenwürde

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genüber wem die Pflicht auferlegt ist.45 Die Freiheit des Anderen ist nicht intrinsisch werthaft. Wenn aber die Freiheit der Anderen nicht intrinsisch werthaft ist, warum sind wir dann nur (direkt 46 ) anderen freien Wesen und nicht auch vernunftlosen Wesen ohne Freiheit gegenüber verpflichtet? Kant vertritt die Auffassung, dass vernunftlose Wesen bzw. Wesen ohne Freiheit 47 uns nicht verbinden können (MS VI: 241). Der Grund ist folgender: Die Frage nach der Moral stellt sich nur für Wesen mit Vernunft und Freiheit. Ohne solche Wesen gäbe es keine Moral. Wenn es also ein moralisches Gesetz geben soll, muss der Handelnde vernünftige Wesen (sich selbst eingeschlossen) als Zweck an sich selbst ansehen und dementsprechend behandeln. 48

7. Menschenwürde und Güterabwägung Um Kants Begriff der Menschenwürde zu verstehen, so habe ich argumentiert, bedarf es nur der Freiheit und des Kategorischen Imperativs. Der Imperativ fordert vom Handelnden, moralisch gut zu sein und so seiner ursprünglichen Würde (der Sonderstellung durch Freiheit) gerecht zu werden und sie zu verwirklichen. Der Imperativ fordert zudem, andere freie Wesen (moralisch) zu respektieren. Die Forderung, dass man seine Würde verwirklichen und Andere achten soll, wird durch ein Prinzip des Richtigen, den Kategorischen Imperativ, begründet. Das Richtige hat Vorrang vor dem Guten. Es ist durch diesen Vorrang, dass einer Güterabwägung Grenzen gesetzt sind. Der normative Grund, dass 45 Auch nach der hier vorgeschlagenen Lesart kann man also sagen, dass man andere Menschen wegen ihrer Würde respektieren soll. „Wegen" bezieht sich dann allerdings nicht auf den normativen Grund, sondern nur auf den Bereich der Pflicht, und „Würde" kennzeichnet keine Werteigenschaft, sondern bezieht sich auf die ursprüngliche Würde, d. i. die Freiheit. Wem Freiheit zukommt, soll in die Verallgemeinerung einbezogen werden. 46 Nach Kant sind wir indirekt auch Tieren gegenüber verpflichtet, vgl. Kant, Moralphilosophie Collins, aus dem Wintersemester 1784/5, XXVII, Bd. 1, S. 458-460; dazu O'Neill, 1998, Kant on Duties Regarding Nonrational Nature II, in: Aristotelian Society, Supplement (72), S. 221-228. 47 Für Kant ist die Vernunft nur die notwendige, Freiheit aber die hinreichende Bedingung für die ursprüngliche Würde, vgl. KNF XXVII, Bd. 2.2, S. 1321 f. 48 Vgl. O'Neill, 1998, S.218f; und Kant GMS IV: 428f, 431: ohne freie Wesen gäbe es kein oberstes moralisches Gesetz; der Mensch ist der subjektive Grund dieses Gesetzes.

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die Menschenwürde unantastbar und nicht abwägbar ist, wird in Kants Konzeption also streng genommen durch den Kategorischen Imperativ und nicht durch die Menschenwürde selbst bezeichnet. Der zeitgenössische Würdebegriff hingegen entzieht den Menschen der Güterabwägung, indem er die Würde des Menschen als einen höheren „Werttyp" 4 9 auffasst. Demnach gehört die Würde als Wert des Menschen einer anderen Wertkategorie als der Wert der Dinge an. Dadurch kann der Wert des Menschen nicht gegen Dinge (z.B. Geld) aufgerechnet werden. Dieses Modell schließt aber noch nicht aus, dass Menschenleben untereinander abgewogen werden könnten. Falls dem Menschen ein höherer Werttyp zukommt, warum soll man dann nicht den Wert unparteilich maximieren, indem man ein Leben für die Rettung fünfer opfert? 5 0 U m auch den Einzelnen der Güterabwägung zu entziehen, muss der höhere Werttyp dem Einzelnen noch unveräußerliche Rechte zugestehen, um eine Maximierung in Bezug auf Menschenleben auszuschließen. Das unterstreicht noch einmal den teleologischen Charakter des zeitgenössischen Würdebegriffs. Kant hingegen argumentiert deontologisch. Dass jeder Einzelne der Abwägung entzogen ist und „niemals bloß als Mittel" ( G M S IV: 429) gebraucht werden soll, ist nicht das Ergebnis eines Vergleichs zweier Werttypen, sondern wird bei Kant durch ein Prinzip des Richtigen, den Kategorischen Imperativ, ausgedrückt. Der Imperativ richtet sich an den Handelnden und gibt den Rahmen dessen vor, was dem Handelnden erlaubt ist. So bezeichnet Kant die Selbstzweckformel als die „oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen" ( G M S IV: 430f). Was dem Prinzip nicht widerstreitet, ist erlaubt, was mit ihm in Konflikt steht, ist unerlaubt (vgl. auch G M S IV: 439). Der Kategorische Imperativ steckt somit den Rahmen ab, innerhalb dessen das Gute abgewogen werden kann. Es ist der Vorrang des Richtigen vor dem Guten, wodurch der Mensch einer Güterabwägung entzogen ist. 51

49 Löhrer, 1995, S. 40f. 50 Diese Position vertritt z . B . D. Cummiskey, 1996, Kantian Consequentialism, ford: Oxford University Press, S. 140-153.

Ox-

51 Rickens Konzeption behält die gleiche Struktur, doch wertet er gegenüber Kant die Griechische Tradition der Güterabwägung auf, indem er dem Richtigen das Gute und der Pflicht des Handelnden das Gut (und Recht) des Betroffenen an die Seite stellt; zum Unterschied siehe Ricken, 3 1998, S. 215-219, Kap. Ε und F.

Die Ambivalenz des Gewissens. Zu Hegels Fundierung der Moral in der Sittlichkeit JOSEF SCHMIDT

1. Subjektive Rechtfertigung und objektiver Maßstab - das Problem „ E s ist ein g r o ß e r E i g e n s i n n , d e r E i g e n s i n n , d e r d e m M e n s c h e n

Ehre

m a c h t , n i c h t s in d e r G e s i n n u n g a n e r k e n n e n z u w o l l e n , w a s n i c h t d u r c h d e n G e d a n k e n g e r e c h t f e r t i g t ist, - u n d d i e s e r E i g e n s i n n ist d a s C h a r a k t e r i s t i sche der neueren Zeit." ( P R 27)1

Aus diesen Worten Hegels, die sich in der „Vorrede" zu seiner „Philosophie des Rechts" finden, spricht einerseits das neuzeitliche Pathos moralischer Selbstbestimmung. Andererseits weisen sie ironisch („Eigensinn"!) auf eine Gefahr hin, die in dieser stolzen Errungenschaft beschlossen liegt. Könnte die autonome Freiheit nicht im Sinne einer bloß subjektiven, im Grunde also nicht gerechtfertigten und damit letztlich willkürlichen Setzung normativer Maßstäbe (miss)verstanden werden? Hegel betont deshalb entschieden die Vorgegebenheit dieser Maßstäbe. Doch scheint er ins gegenteilige Extrem zu fallen. Denn diese Vorgegebenheit ist für ihn die „Wirklichkeit", die er in der jeweils vorhandenen Lebenswelt gegeben sieht. In dieser findet sich das Subjekt vor. Sie gibt ihm Orientierung und inneren Halt. 1 Hegels Werke werden zitiert nach der 20-bändigen Theorie-Werkausgabe (= TW), hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Frankfurt a. Μ. 1969-1971. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts (= PR) sind Band T W 7, die Enzyklopädie (= Enz) umfasst T W 8-10 (durchgehende Paragraphenzählung; A b k ü r z u n g für Anmerkung: A, für Zusatz: Z, für Hegels handschriftlichen Zusatz: hZ). Die Heidelberger (die erste Auflage der) Enzyklopädie (= HEnz) ist der Jubiläumsausgabe, hrsg. von H . Glockner, Stuttgart 1965, entnommen und ist dort Band 6.

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Josef Schmidt „Wenn die Reflexion, das Gefühl oder welche Gestalt das subjektive Bewußtsein habe, die Gegenwart für ein Eitles ansieht, über sie hinaus ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eitlen, und weil es Wirklichkeit nur in der Gegenwart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit." (PR 25)

Das hört sich an wie ein simpler naturalistischer Fehlschluss. Ist das jeweils Faktische Norm? Unterliegt es nicht selbst der Bewertung? Genau das ist Hegels Lehre, wobei nach ihm der Maßstab der Bewertung ein letzter und höchster ist: die Idee. Auf Grund ihrer unbedingten Verbindlichkeit kann diese Idee aber nicht bloße Setzung oder Konstrukt sein, sondern muss als durch sich selbst begründet gedacht werden. Die Idee „ist" immer schon. Als solche bestimmt sie unser Handeln und „erscheint" deshalb in der von uns gestalteten Welt. „Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in einem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen [...], den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen." (PR 25)

So erläutert Hegel seine zuvor aufgestellte These: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" (PR 24). „Wirklichkeit" ist nach Hegels „Logik" zu unterscheiden von „Existenz" (TW 6, 406, ausführlich: 125 ff, 186 ff). Anwenden lässt sich diese Differenzierung z.B. so: „Ein schlechter Staat ist ein solcher, der bloß existiert; ein kranker Körper existiert auch, aber er hat keine wahrhafte Realität. Eine Hand, die abgehauen ist, sieht auch noch aus wie eine Hand und existiert, doch ohne wirklich zu sein." (PR §270 Ζ)

Das eigentlich Wirkliche ist das Ideelle, das eben deshalb kein abgehobener Bereich ist, sondern im Vorhandenen wirkt und in diesem erkennbar ist. Freilich lassen sich hier Fragen stellen, wie diese: Wie kann das in seiner unbedingten Verbindlichkeit nur apriorisch erkennbare Ideelle sich zu einem der Erfahrungswelt entnehmbaren Maßstab konkretisieren? Zudem, was soll es heißen, dass bereits wirklich ist, was erst noch zu realisieren aufgegeben ist? Klarheit kann hier nur das genauere Eingehen auf Hegel Rechtsphilosophie bringen. U m das Verständnis ihrer Grundgedanken vorzubereiten, beginne ich mit einigen Erwägungen zur allgemeinen Ethik, für die sich der Rückgriff auf Einsichten von Friedo Ricken als hilfreich erweisen wird.

Die Ambivalenz des Gewissens

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2. Verantwortliches Handeln Selbstzweck und Selbstrealisierung Der kategorische Imperativ, der unbedingte moralische Anspruch, ist nach Kant ein „Faktum der Vernunft" (KpV A 56) 2 , eine Gegebenheit, mit der sich das Subjekt unausweichlich konfrontiert sieht. In gewisser Weise bringt schon der Begriff des Faktums diese Unbedingtheit zum Ausdruck. Denn insofern ein Faktum besteht, ist es unbedingt. Aber während es als „bloßes" Faktum auch kontingent ist, ist das unbedingte „Du sollst!" durch nichts als sich selbst begründet. Von nichts sonst ist es herzuleiten oder empfängt es seine Legitimation. Vielmehr haben wir hier eine Unbedingtheit vor uns, in der die Vernunft für sich ist und nur sich selbst erfährt. Der Ausdruck „Faktum der Vernunft" ist somit als Genitivus explicativus zu verstehen und besagt: Es ist das Faktum, welches in der Vernunft besteht. Was aber fordert die Vernunft? Nun, ich soll ihr gerecht werden. Ich soll meine Handlungen und überhaupt meine geistigen Akte so vollziehen und gestalten, dass ich sie verantworten, d. h. rechtfertigen kann. Nur wenn ich mich diesem Anspruch unterstelle, bin ich geistig tätig. Mein Behaupten „soll" der Wahrheit entsprechen, wie auch mein Erkennen dieses „Sollen" erfüllt haben muss, wobei es diese Erfüllung auch will und dieses Wollen wiederum sich jenem Sollen unterstellt haben muss. Mein Erkennen ist somit ein freier und in Freiheit verantworteter Akt des Anerkennens. Andernfalls wäre es der Abbildung durch einen Fotoapparat zu vergleichen. Aus der Freiheit aber kommen meine Vollzüge, wenn sie denn „meine" sind, d. h. alle meine Handlungen. Ich muss sie verantworten und dies vor einem letzten Maßstab, eben dem, welche die Vernunft durch sich fordert. Meine theoretisch-praktischen Vollzüge wollen und sollen auf diese Weise legitimiert sein. U m die spezifische Unausweichlichkeit und somit unbedingte Gesolltheit verantwortlichen Handelns zu zeigen, greift Friedo Ricken in seinem Buch „Allgemeine Ethik" (E) 3 auf ein retorsives Argument zurück. Er geht von der Proposition aus: „Mein Handeln soll in einem voraussetzungslosen Sinn gerechtfertigt werden können" (E 159). Nun kann man die Proposition bejahen, aber auch verneinen oder bezwei2 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Aufl. (= Kp V A); Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Text nach der Akademie Ausgabe: AA) (= GMS AA); Kritik der Urteilskraft (= KU). 3 Friedo Ricken, Ί 9 9 8 , Allgemeine Ethik, Stuttgart (= E).

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fein. Doch der Akt der Verneinung oder Bezweiflung hat nur Sinn, wenn mit ihm der Anspruch auf Begründbarkeit verbunden ist. Indem der Akt ein verantworteter zu sein beansprucht, hat er sich genau derjenigen Forderung nach Rechtfertigung unterworfen, die er zugleich zurückweist. Die Forderung ist also unhintergehbar und kann nur um den Preis des Selbstwiderspruchs negiert werden. Diese Unhintergehbarkeit ist aber nicht lediglich eine faktische Unvermeidlichkeit, von der ich noch imstande wäre, mich zu distanzieren, indem ich sage: ich muss halt so denken. Denn auch die eben hiermit beanspruchte „Einsicht" könnte selbst keine solche Distanzierung sein, sondern wäre genau die Erfüllung jener Forderung, die somit als schlechthin nicht mehr distanzierbare unbedingt legitimiert sein muss. Ich kann diese Verantwortung nicht delegieren. Sie ist die Meine (auch sie zu delegieren müsste ich verantworten). Das macht den unableitbar autonomen Selbstvollzug der Freiheit aus. Hier liegt die Würde des Ich begründet, der unbedingte Respekt, der ihm geschuldet ist. Der Mensch ist Selbstzweck. Er existiert als „Zweck an sich selbst" (GMS AA 428). Nicht nur das die Freiheit unbedingt anfordernde Gute ist somit in sich gerechtfertigt. Auch das Ja dazu ist unbedingt gesollt und entsprechend gerechtfertigt. Das Ja zum Guten soll sein, und zwar unbedingt. Es zu vollziehen ist Selbstzweck. Doch dieser ist kein bloßer Entwurf im Sinne eines Ideals, das noch nicht realisiert ist. Ich begegne ihm vielmehr in jedem Menschen. Er tritt mir in ihm entgegen und fordert als unbedingt gerechtfertigter unbedingten Respekt. Der Vollzug des Selbstzwecks ist seinerseits durch die Aufforderung zum Guten konstituiert. Zum Guten aber kann nur aufgefordert werden, wer schon darauf ausgerichtet ist, d. h. wer das Gute anerkannt und somit vollzogen hat. Der Mensch muss (bei sich und beim anderen) genau dem gerecht werden, was er schon „ist" und als was er sich, jedem konkreten Appell zum Guten vorausgehend, bereits vollzogen hat. In diesem „immer schon" liegt der Respekt vor dem aller Bewährung vorgegebenen „Sein" des Menschen begründet (in theologischer Sprache heißt dies: Sein aus Gnade). Das Böse ist der Widerspruch in und zu diesem sich vorgegebenen Selbstvollzug. Wo immer ich aber diesem Selbstvollzug begegne, dem schon realen (und noch weiter zu realisierenden) Selbstzweck, da begegne ich der (jedenfalls prinzipiellen) Fähigkeit zur Einsicht und zu einer Verantwortung und Freiheit, die meinen unbedingten Respekt erheischt. Ich muss immer so handeln, dass ich die Menschen, die von meinem Handeln betroffen sind, als freie Wesen im Blick habe, sie also in der Weise berücksichtige und einbe-

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ziehe, dass sie meinem Handeln zustimmen könnten: „Der Mensch ist Zweck an sich selbst, insofern alles, was ihn betrifft, ihm gegenüber muß verantwortet werden können" (E 158). Darin besteht die Allgemeingültigkeit, d. h. die Vernünftigkeit meines Handelns, wie auch mein Behaupten und Erkennen nur gerechtfertigt ist bei möglicher Zustimmung aller Vernunftwesen. Wenn der Selbstvollzug des Menschen unbedingt gerechtfertigt und dementsprechend zu respektieren ist, muss ich so handeln, dass ich ihn und seine Bedingungen nicht verhindere. D. h. ich muss die freie Betätigung, deren Mitte die verantwortliche Freiheit ist, einräumen. Hören wir hierzu Ricken: „Die Person, die in meine Handlungsweise muß einstimmen können, ist ein handelndes Wesen, das sich Zwecke setzt und sie verwirklichen will" ( E 123). „Subjekt des guten Willens ist das Subjekt aller möglichen Zwecke. Die Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen, ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung des guten Willens. Wer daher den anderen daran hindert, sich überhaupt Zwecke zu setzen und sie zu verwirklichen, verhindert damit den schlechterdings guten Willen und dessen Verwirklichung." ( E 124)

Inbegriff der Selbstverwirklichung ist, mit Aristoteles gesprochen, „das Glück" (vgl. Ε 163, 167f). Ich muss also dem Anderen Raum geben, sein Glück zu erstreben. Es auf verantwortliche Weise zu erstreben ist ihm abzuverlangen, wobei diese Zumutung an ihn zugleich die Anerkennung seiner Würde ist. Die konkrete Weise freilich, sich zu verwirklichen, darf und muss ihm überlassen bleiben. „Es kann nicht darum gehen, andere Menschen glücklich zu machen, sondern nur darum, Menschen zu befähigen, ihr Glück selbst zu verwirklichen." ( E 171) „Die Person, die willens ist, sich zu verantworten, hat aufgrund dessen einen Anspruch auf das höchstmögliche Ausmaß an konkreter Freiheit, und das ist wiederum zu bestimmen als das Ausmaß, das mit den berechtigten Ansprüchen aller anderen vereinbar ist." ( Ε 180)

Wenn nun der Selbstzweck des Einzelnen erst in einem nach diesen Normen gestalteten und geregelten Zusammenleben gesichert ist, dann ist auch dieses Zusammenleben in sich gerechtfertigt und gut. Das gemeinsame gute Leben soll sein - unbedingt. Wie der individuelle Selbstzweck ist es immer schon real vorhanden, und seine Normativität wird enthüllt durch den Blick auf die jeweils gegenwärtige Welt, in der sich

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der Selbstzweck als soziale Realität zeigt. Dies ist Hegels Perspektive in seiner Lehre vom „objektiven Geist".

3. Hegels Konzept der „konkreten Freiheit" in seiner Lehre vom „objektiven Geist" Letzter Maßstab ist nach Hegel die „Idee". Sie ist der Inbegriff von Begründung und Rechtfertigung und damit unbedingter theoretischpraktischer Maßstab. Sie kann nicht nur Entwurf oder bloß subjektives Konstrukt sein. In diesem Fall wäre sie bedingt. Sie muss „sein", aber nicht im Sinn eines distanzierbaren Objektes, sondern als Subjekt-Objekt-Einheit. „Die Idee kann als die Vernunft [...], ferner als SubjektObjekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen [...] gefaßt werden" (Enz §214). Sie ist Einheit des Wahren und Guten (Enz §§235f; T W 6, 548f), subjektiver Maßstab und tragende Macht der Natur und des Geistes. Unbedingt kann die Vernunft nur in jeder Hinsicht sein, subjektiv-objektiv. Nach Hegel ist dies der Grundgedanke des ontologischen Gottesbeweises. 4 Das vernünftig Absolute, die Idee, konstituiert somit die Freiheit. Zum einem macht dies den individuellen, „subjektiven Geist" aus (so der erste Teil der Geistlehre der Enz). Zum anderen stößt die individuelle Subjektivität im Außen auf ihresgleichen und besitzt sich erst wahrhaft in solcher Objektivität. In dieser Art „Dasein der Idee" besteht unsere soziale Welt: der „objektive Geist" (so der zweite Teil der Geistlehre der Enz). „Der Geist, der sich als frei weiß [...], ist zunächst überhaupt der vernünftige Wille oder an sich die Idee [...]. Die Idee erscheint so nur im Willen, der ein endlicher, aber die Tätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Dasein, welches als Dasein der Idee Wirklichkeit ist, zu

setzen, - objektiver Geist." (Enz §482)

Weil dieses „Dasein" das „Da" der Idee ist, ist es letztbegründet und in sich gerechtfertigt, somit auch unbedingt zu respektieren. „Diese Realität überhaupt als Dasein des freien Willens ist das Recht" (Enz § 486; vgl. PR §29). Die Welt dieses „Daseins" steht deshalb unter einem Anspruch, der von ihr selbst ausgeht. Sie soll so gestaltet werden, wie es ih4 Vgl. Schmidt, Josef, 2000, Hegels Übernahme und Radikalisierung des Ontologischen Gottesbeweises, in: Wahrheit - Sein - Struktur. Auseinandersetzungen mit Metaphysik, hrsg. von C. Peres u. D. Greimann, Hildesheim/Zürich/New York, S. 7 5 -

101.

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rer inneren Normativität entspricht. Bei den weiteren Darlegungen dieser Lehre vom „objektiven Geist" werde ich mich vor allem auf die „Philosophie des Rechts" beziehen. Das „Recht" ist „Dasein des freien Willens" (PR § 29). Dieser ist, genauer bestimmt, „die Freiheit, als Idee" (ebd.). Die Freiheit ist konstituiert durch die Dimension des Unbedingten, und zwar theoretischpraktisch, d. h. durch eine in sich gerechtfertigte und damit letztbegründete Wahrheit und Gutheit: die „absolute Idee" (TW 6, 548f). Auf ihren Horizont hin legt die „Einleitung" zur PR den „Willen" aus. Dieser besitzt zunächst eine nicht begrenzbare Transzendenzfähigkeit (PR § 5). Doch die Fixierung darauf ist ein Selbstmissverständnis des Willens. Denn die Loslösung von jeder begrenzenden Bestimmung produziert ebenfalls eine Bestimmtheit, nämlich die nur über den Gegensatz zur Bestimmtheit bestimmbare Unbestimmtheit (PR § 6). Die wahre Unendlichkeit und Unbegrenztheit kann der Wille nur in der Vermittlung mit der Bestimmtheit und Grenze erreichen, so dass er dann in der Besonderheit über ihr steht und so sich selbst bestimmt (PR § 7). Wie aber kommt der Wille zu seiner Besonderung? Nun, er muss nicht lange suchen. Er findet sie in sich vor: als Triebe, Bedürfnisse, Neigungen (PR §§ 8-11). Sie sind ihm nur dann ein Fremdes, wenn er sich passiv von ihnen determinieren lässt. Frei ist er, wenn er sie aufnimmt oder abweist, d. h. „beschließend" ist (PR § 12). Was aber ist der Maßstab dieses Beschließens? Hier stellt sich zunächst der Begriff der „Glückseligkeit" ein (PR § 20) als Integration der Triebe und Neigungen im Sinne ihrer möglichst umfassenden Erfüllung. Aber dieser Maßstab ist noch mit der Zufälligkeit einer subjektiven Vorstellung vom Angenehmen behaftet. Eine wirklich objektive und verbindliche, der eigenen Unbedingtheit angemessene Erfüllung erreicht erst ein Streben, welches darin besteht, das sein zu wollen, was man im Grunde ist, und d.h., der eigenen Unbedingtheit entsprechen zu wollen. Die Besonderungen des faktischen Strebens sind dann zwar aufzunehmen, aber nicht mehr in ein subjektiv gefärbtes Allgemeinheitsideal, sondern in eine objektiv rechtfertigbare Umfassendheit und Allgemeinheit. Nur mit diesem Ziel entspricht der Wille der eigenen Unbedingtheit. „Indem er [der Wille] die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille - die wahrhafte Idee." (PR §21)

Die strikte Selbstbestimmung ist also das Ziel, welches sich allein unbedingt rechtfertigen lässt. Wo es erfasst wird, da ist Freiheit vorhanden

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und damit auch ein durch die Idee konstituiertes Dasein. „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. - Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee" (PR § 29). Auf diese Weise ist das Recht begründet, aber auch die Moral. Denn das Fundament kann für beide nur eines sein. Im weiteren folge ich der Einteilung der PR in „abstraktes Recht", „Moralität" und „Sittlichkeit".

3.1 Das „abstrakte Recht" und das vertraglich Regelbare Die Grundbestimmung des Rechts ist also gegeben: die „Idee", das Dasein des freien Willens. So gesehen ist der Mensch „Person": die Einheit des Ideellen mit seiner faktischen Existenz. „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen" (PR § 36). Die Person hat ihre äußere Existenz, ihren Leib. In ihm ist ihre Unbedingtheit „da" und fordert entsprechenden Respekt (PR §48). Uber den Leib ist die Person mit der weiteren Sphäre des Äußeren verbunden und kann in sie ihr „Dasein" legen. Dies begründet das Recht auf „Eigentum", durch das die Person mit ihresgleichen in Beziehung tritt. Denn Eigentum kann veräußert werden, und so eröffnet sich die Ebene der Vereinbarungen und Verträge. Das Eigentum steht dabei paradigmatisch für die Art von Zwischenmenschlichkeit, die auf Verträgen basieren kann. Andere Verbindungen, wie Ehe oder Staat entziehen sich einer durchgehenden Regelbarkeit durch Verträge (PR § 75 Α). Zugleich hebt die vertragliche Verbindung eine elementare, den Vertrag ermöglichende, über ihn als solchen aber hinausgehende, Verwiesenheit der Menschen aufeinander ans Licht. „Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat" (PR § 71). Denn nur der gleichrangig Andere lässt mich aus meiner Hinwendung nach außen so zu mir zurückkehren, dass ich mich im Außen nicht verliere, sondern dieses als mein Außen überhaupt erst erkennen und in Anspruch nehmen kann. „Die konkrete Rückkehr meiner in mich in der Äußerlichkeit ist, daß Ich, die unendliche Beziehung auf mich, als Person die Repulsion meiner von mir selbst bin und in dem Sein anderer Personen, meiner Beziehung auf sie und dem Anerkanntsein von ihnen, das gegenseitig ist, das Dasein meiner Persönlichkeit habe." (Enz §490; vgl. HEnz §405)

„Repulsion" ist ein Begriff aus Hegels Logik, der die im „Fürsichsein" implizite Vervielfältigung zum Ausdruck bringt (TW 5,186ff). Gegenüber dem gleichrangig Anderen erfasse ich das Äußere als mein, aber

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auch als sein mögliches „Eigentum" ebenso wie die Möglichkeit, durch Verträge das eine in das andere übergehen zu lassen. Wie die Hinwendung nach außen die tiefere Ebene des Interpersonalen aufdeckte, so auch die Vertragsebene als solche. Denn was bindet die Verträge? Das jeweilige Interesse reicht dafür nicht aus. Was ist, wenn es zum Bruch der Verträge kommt? Die bloße Furcht vor Sanktionen macht sie nicht wirklich verbindlich. Wenn Begriffe wie „Unrecht" und „Strafe" Sinn haben sollen, dann muss die interessengeleitete Vertragsebene auf einer tieferen, innerlicheren aufruhen, einer als strikt allgemeinverbindlich gewussten (§§ 82-104). Das aber ist die „Moralität".

3.2 Die „Moralität" und das Problem des Gewissens Der Wille hat nicht nur im Äußeren sein „Dasein", sondern vor allem im Inneren. Sein „Recht" besteht darin, darüber zu urteilen, was wahrhaft gut ist, und danach zu handeln. „Der moralische Standpunkt ist [...] das Recht des subjektiven Willens. N a c h diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als Subjektives ist." ( P R § 107) „In der Moralität ist es das eigentümliche Interesse des Menschen, das in Frage kommt, und dies ist eben der hohe Wert desselben, daß dieser sich selbst als absolut weiß und sich bestimmt." (ebd. Z)

Es fällt auf, dass zu Beginn des Moralitäts-Kapitels vom Recht auf die eigenen Interessen die Rede ist und an dieses Recht jene Unbedingtheit geknüpft wird, die der Wille als Anspruch erfährt. Ein Kantianer wird hier Unbehagen empfinden. Aber für Hegel ergibt sich diese Verknüpfung konsequent aus dem Willensbegriff, den er in der „Einleitung" entwickelt hat. Die Allgemeinheit des Willens ist nicht gegen dessen Besonderungen gerichtet, sondern nur in der Vermittlung mit ihnen zu realisieren. Und eben diese Vermittlung ist unbedingt gerechtfertigt. Hegel greift deswegen auf die frühere Argumentation zurück (PR §121). Die Freiheit vermittelt sich zunächst über das Glücksziel, trans zendiert dieses jedoch im Blick auf die wahre Allgemeinheit, in der jenes Ziel bewahrt (man könnte sagen „aufgehoben") und (erst hier) gerechtfertigt ist, und zwar unbedingt. Dies zu erkennen gehört zum „moralischen Standpunkt". „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.

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Josef Schmidt Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden." (PR § 1 2 4 A)

Die Korrektur (nicht Verneinung) der Kantischen Position liegt darin, dass die natürlichen Neigungen im vernünftigen Willen ihren Platz haben und nicht in prinzipiellem Gegensatz zu ihm stehen (in PR § 124 A nimmt Hegel Schillers Kritik am Kantischen Dualismus von Pflicht und Neigung auf). Zum Recht gehört es, das eigene Wohl anzustreben, das allerdings in seiner gereinigten Gestalt die Züge des Allgemeinen aufweist. Denn im Ziel des eigenen „Wohles" liegt bereits eine Transzendenz des Egoismus. Die wahrhafte „Selbst"-Realisierung (SelbstObjektivierung) im Äußeren ist nämlich erst dann erfüllt, wenn dieses Außere mir nicht einfachhin untergeordnet ist. Dass ich erst im wahrhaft, d. h. gleichrangig Anderen mich „reflektieren" und mir selbst begegnen kann, wurde schon früher angesprochen (PR §71). Hier (PR §112) kommt hinzu, dass die Realisierung meiner selbst auch die des gleichrangig Anderen zum Ziel haben muss. Denn mich selbst in einem mir gleichrangig Objektiven zu realisieren impliziert, dass es mir um dessen Selbstrealisierung zu tun sein muss. Mein Wohl ist also vom Wohl des Anderen nicht zu lösen. „Der Boden der Existenz des Willens ist nun die Subjektivität und der Wille anderer die zugleich mir andere Existenz, die ich meinem Zwecke gebe. Die Ausführung meines Zweckes hat daher diese Identität meines und anderer Willen in sich, - sie hat eine positive Beziehung auf den Willen anderer." (PR § 1 1 2 ) (Handschriftlicher Zusatz:) „Äußerliches Dasein des Subjektes wesentlich sogleich Wille anderer." (PR § 112 hZ) „Dies Moment, zunächst an dieser Besonderheit selbst gesetzt, ist es das Wohl auch anderer - in vollständiger, aber ganz leerer Bestimmung, das Wohl aller. Das Wohl vieler anderer Besonderer überhaupt ist dann auch wesentlicher Zweck und Recht der Subjektivität." (PR § 125)

Die Ausrichtung auf die Realisierung des eigenen und gemeinsamen Wohles ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn die generelle Rechtsbasis bewusst bleibt. Ich darf also nicht in den Widerspruch verfallen, das Wohl gegen das Recht anzustreben. Dass es zu Konflikten kommen kann, etwa wenn das Eigentumsrecht gegen das Lebensrecht steht (Problem des Mundraubes PR § 127), ist kein Einwand gegen die Einheit jener beiden, sondern lässt nur die Aufgabe ihrer Vermittlung deutlich werden. Was in diesem übergreifenden Sinn absolut rechtens und damit verpflichtend ist, kann das „Gute" genannt werden.

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„Das Gute ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens, in welcher das abstrakte Recht, wie das Wohl und die Subjektivität des Wissens und die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins, als für sich selbständig aufgehoben, damit aber ihrem Wesen nach darin enthalten und erhalten sind, - die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt." (PR § 129)

Als allgemeiner Rahmen ist dies unstrittig. Doch wer entscheidet, was gut ist? Der Standpunkt der „Moralität" kann nur den des Subjektes geltend machen: „Das Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde" (PR § 132). Es geht nicht um willkürliche Festsetzungen, sondern um das Bewusstsein der Pflicht. „Das Gute hat zu dem besonderen Subjekte das Verhältnis, das Wesentliche seines Willens zu sein, der hiermit darin schlechthin seine Verpflichtung hat." (PR § 133) „[...] was ist Pflicht? Für diese Bestimmung ist zunächst noch nichts vorhanden als dies: Recht zu tun und für das Wohl, sein eigenes Wohl und das Wohl in allgemeiner Bestimmung, das Wohl anderer, zu sorgen.« (PR § 1 3 4 )

Doch begrifflich entspricht dieses bloße „sowohl als auch" nicht dem „Unbedingten" der Pflicht. Die hier geforderte Einheit ist allein im „Selbstbewußtsein" gegeben, da „es sich innerhalb seiner auf sich nur bezieht" (PR § 135). Die hier sich vollziehende „reine unbedingte Selbstbestimmung" (ebd. A) ist „Wurzel der Pflicht" (ebd.). Dies erkannt und hervorgehoben zu haben ist nach Hegel das Verdienst der Kantischen Philosophie. Doch sogleich kommt eine Einschränkung: „So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben, wie denn die Erkenntnis des Willens erst durch die Kantische Philosophie ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie gewonnen hat, so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht, diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herab." (PR § 135 A)

Aus der Formel von der widerspruchfreien Verallgemeinerbarkeit ergibt sich noch kein Inhalt. „Im Gegenteil kann alle unrechtliche und unmoralische Handlungsweise auf diese Weise gerechtfertigt werden" (ebd.). Der „Stoff", durch den „besondere Pflichten" bestimmt werden, kommt nur „ von außen" hinein (ebd.). „Wenn es sonst für sich fest und vorausgesetzt ist, daß Eigentum und Menschenleben sein und respektiert werden soll, dann ist es ein Widerspruch, einen Diebstahl oder einen Mord zu begehen" (ebd.). Durch die Form des Gesetzes er-

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gibt sich der Widerspruch aber noch nicht. Man kann dieser Kritik vorwerfen, dass sie nur das Kriterium der formellen, widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit ins Visier nimmt, Kants „Selbstzweckformel" und die reflexiven Momente des kategorischen Imperativs unberücksichtigt lässt, nicht zu reden von den materialen Darlegungen in Kants „Metaphysik der Sitten", die sich, was das Eigentum betrifft, von den Ausführungen der PR gar nicht so sehr unterscheiden. Dennoch behält Hegels Kantkritik etwas Bedenkenswertes. Einmal ist zu fragen, ob Kant die Zusammenführung des formellen und inhaltlichen Aspektes in der Moralbegründung wirklich gelungen ist. Zum anderen hat Hegel eine ernstzunehmende Gefahr identifiziert. Wenn nämlich die rein formelle Moralbegründung die Legitimierung der Inhalte nicht erreicht, begünstigt ihre Verwendung die Willkür. Hegel misstraut wie überall so auch hier einem abstrakt rationalen Verfahren. Bekommt das Subjekt nicht dadurch die Möglichkeit an die Hand, mit ausgefeilten Begründungen sich dem konkreten Anspruch des Guten stets zu entziehen? Die „Subjektivität" fällt also im „Gewissen" die Entscheidung darüber, was im Besonderen, d. h. konkret gut ist (PR § 136). Hegel würdigt diesen Standpunkt als den der modernen Zeit zugehörigen und angemessenen: Es ist „das Gewissen diese tiefste innerliche Einsamkeit mit sich, wo alles Äußerliche und alle Beschränktheit verschwunden ist, diese durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst" (PR § 136 Ζ; ebenso § 137 Α). Doch gilt es auch, die Ambivalenz dieses Gewissens klar zu erkennen. Es geht hier nicht um das in die „Sittlichkeit" eingebettete „wahrhafte Gewissen" (PR § 137), sondern um die Problematik eines Gewissenstandpunktes, auf dem das Verbindliche nur dem Gang der Begründungen, die das Subjekt sich gibt, entnommen wird. Die gefährliche Dialektik, die hier aufbricht, ist nun Hegels Thema. „Das Gewissen ist als diese Einheit des subjektiven Wissens und dessen, was an und für sich ist, ein Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre. Ob aber das Gewissen eines bestimmten Individuums dieser Idee des Gewissens gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden. Was Recht und Pflicht ist, ist als das an und für sich Vernünftige der Willensbestimmungen wesentlich weder das besondere Eigentum eines Individuums noch in der Form von Empfindung [...] Die Zweideutigkeit in Ansehung des Gewissens liegt daher darin, daß es in der Bedeutung jener Identität des subjektiven Wissens und Wollens und des wahrhaften Guten vorausgesetzt und so als ein Heiliges behauptet und anerkannt wird und ebenso als die nur subjektive Reflexion des Selbstbewußtseins in sich doch auf die Be-

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rechtigung Anspruch macht, welche jener Identität selbst nur vermöge ihres an und für sich gültigen Inhalts zukommt." (PR § 137 A)

So entsteht die Möglichkeit des eigentlich Bösen: „Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren - böse zu sein." (PR § 139)

Das im eigentlichen Sinn „Böse" ist schlimmer als das früher behandelte „Unrecht". Denn es kommt eine Steigerung hinzu: Die Rechtfertigung vor dem eigenen Gewissen. Im Unterschied zu einem Verbrecher, der um die Verwerflichkeit seines Tuns weiß, ist an einen gewissensmäßigen „Bösen" kaum heranzukommen, denn für ihn gibt es immer gute Gründe. Die Dialektik besteht darin, dass gerade die Instanz, der die innere Rechtfertigung zusteht, in der Gefahr ist, ins Böse umzuschlagen. „Das Gewissen ist als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse umzuschlagen" (PR § 139 A). Das tödlich Gefährliche am Bösen besteht darin, dass es aus der höchsten geistigen Bestimmung des Menschen, aus seiner sittlichen Autonomie, erwächst. Hegel stellt die Formen der Steigerung dieses Bösen vor als Formen der „Heuchelei" nach außen und nach innen, als der „sich als das Absolute behauptenden Subjektivität" (PR § 140; das Folgende in A). Die Heuchelei (a) „mit bösem Gewissen", d. h. in der Absicht des Bösen, ist noch nicht die gefährliche Stufe. Der Mensch kann jedoch (b) „in guten Gründen, für sich selbst eine Berechtigung zum Bösen finden, indem er durch sie es für sich zum Guten verkehrt" (ebd.). Diese Gefahr sieht Hegel (c) im moraltheologischen System des „Probabilismus", nach welchem, wie Hegel ihn versteht, bei guten Gründen (die auch durch die Berufung auf eine Autorität ersetzt werden können) eine bedenkliche, aber nicht zweifelsfrei abzulehnende Tat für erlaubt erklärt werden kann. Hieran schließt sich (d) das Prinzip: „der Zweck heiligt die Mittel". Da Handeln nicht ohne Einsatz der geeigneten Mittel möglich ist, kann gegen das Prinzip zunächst nichts eingewendet werden. Die Bosheit in jenem Satze liegt jedoch in dem Verständnis, „[...] daß nämlich für einen guten Zweck als Mittel zu gebrauchen, was für sich schlechthin kein Mittel ist, etwas zu verletzen, was für sich heilig ist, ein Verbrechen also zum Mittel eines guten Zwecks zu machen, erlaubt, ja auch wohl Pflicht sei" (ebd.)

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Mit Kant zu sprechen: der Mensch muss unter allen Umständen als „Zweck an sich selbst" respektiert werden. Die nächste Steigerung ist (e) die, dass „die subjektive Meinung" „ausdrücklich als die Regel des Rechts und der Pflicht ausgesprochen" wird (ebd.). Man kann auf dieser Stufe nicht einmal mehr von „Heuchelei" sprechen, „[...] denn die Qualifizierung des Bösen als Heuchelei hat zugrunde liegen, daß gewisse Handlungen an und für sieb Vergehen, Laster und Verbrechen sind, daß, der sie begehe, sie notwendig als solche wisse, insofern er die Grundsätze und äußern Handlungen der Frömmigkeit und Rechtlichkeit eben in dem Scheine, zu dem er sie mißbraucht, wisse und anerkenne [...].Wenn aber das gute H e r z , die gute Absicht, und die subjektive U b e r zeugung für das erklärt wird, was den Handlungen ihren Wert gebe, so gibt es keine Heuchelei und überhaupt kein Böses mehr, denn was Einer tut, weiß er durch die Reflexion der guten Absichten und Bewegungsgründe zu etwas G u t e m zu machen, und durch das M o m e n t seiner Überzeugung ist es gut." (ebd.)

Diese Form des Bösen ist nur noch zu überbieten durch das, was Hegel „Ironie" nennt (f). Hegel unterscheidet sie von der Ironie des Sokrates, die mit der Intention der Entlarvung eine pädagogische Absicht verfolgt. Hegel zielt vielmehr auf eine Tendenz, die er in der Romantik zu erkennen glaubt, eine Haltung, die nichts mehr ernst nimmt, die sich auf keinen Inhalt mehr ernsthaft einzulassen bereit ist, sondern jedem gegenüber eine innere Distanz kultiviert, sich über alles erhebt und so nur den Kult des eigenen Ich betreibt: „Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt und in diesem ironischen Bewußtsein, in welchem Ich das H ö c h s t e untergehen lasse, nur mich genieße." (ebd.)

Hegel verweist hier auf seine Ausführungen in der „Phänomenologie des Geistes" zur „schönen Seele", deren Selbstbespiegelung (TW 3, 48Iff) er in Entsprechung zu dieser Ironie setzt.

3.3 Die „Sittlichkeit" und der Zusammenhang des „objektiven Geistes" Das Gefährliche dieser Gewissenspositionen ist, dass sie sich unangreifbar machen. Was Hegel im Auge hat, kann im Blick auf eine moderne Kontroverse erläutert werden: Dem „Deontologen" gegenüber, der sich mit dem Hinweis auf das in sich Schlechte einer Handlung be-

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gnügt, über das ihn sein Gewissen unmittelbar belehrt, kann der „Konsequentialist" die Notwendigkeit der Begründung einklagen, wobei er selbst sich durch immer weitläufigere Begründungen seiner Gewissensurteile jeder Widerlegung zu entziehen vermag. Die einzige Möglichkeit, aus dieser Sackgasse der Unangreifbarkeit herauszukommen ist nach Hegel die Einsicht, dass sich das wahrhaft Gute nicht erst einer abstrakten Rationalität erschließt, deren Inhaltslosigkeit scheinbar allein dem Charakter seiner Unbedingtheit entspricht, sondern nur einer Vernunft, die sich zur vorhandenen Praxis hin öffnet, dorthin also, wo das Gute immer schon präsent und wirksam ist. Was gut ist, wissen wir, indem wir als Menschen handeln. Und wenn wir es so nicht wissen, wissen wir es nie. Nur die Reflexion auf diese Praxis lässt uns das Gute vor Augen kommen. Das ist nicht ein höherer Empirismus. Denn die Reflexion auf die überempirische Bedingung der Möglichkeit der Praxis ist dabei unverzichtbar. Jedoch ist diese unbedingte Bedingung nicht eine lediglich subjektive Idee, sondern die das Denken und Sein übergreifende „absolute Idee". So wenig diese Idee bloßer Gedanke ist, so offensichtlich gibt sie sich auch in der Wirklichkeit kund, indem sie als realer (nicht nur projektierter) Selbstzweck in ihr erscheint und Respekt verlangt. In der Wirklichkeit unseres Handelns ist unser Selbstzweck real da, vollzieht sich und legt sich aus. Daraus ist unsere Lebenswelt gebildet. Sie enthält somit in sich die Normativität, auf welche die Frage nach dem Guten gerichtet ist. Allein dieser Blick „nach außen", auf die konkrete Lebenswelt und Lebenspraxis, befreit das Subjekt aus den Aporien seiner Selbstisolation im Gewissen. Das bloß abstrakte Gute ist ebenso unwirklich wie die abstrakte Subjektivität. Erst ihre Einheit lässt beide konkret werden. Doch die ist wiederum nicht in abstrakten Gedankengebilden aufzufinden, sondern nur dort, wo die Vermittlung schon „vollbracht" ist (PR § 141): in der konkreten Lebenspraxis. Gegenüber der Berufung auf ein prinzipiell unerfülltes und unerfüllbares „Sollen", dessen Unwirklichkeit und Abstraktheit Gefahr läuft, sich ins Unbestimmte und Willkürliche zu verlieren, gilt es vielmehr, auf das schon realisierte Gute sein Augenmerk zu richten. Das Gute muss gleichsam nicht erst erfunden werden, ist es doch von vornherein mehr als bloß subjektiver Entwurf. Es ist „Idee", somit immer schon wirkend und wirklich, also auch immer schon „da". In Hegels Worten: „Das unbefriedigte Streben verschwindet, wenn wir erkennen, daß der Endzweck der Welt ebenso vollbracht ist, als er sich ewig vollbringt." (Enz § 234 Z; vgl. T W 6, 548) „Die frei sich wissende Substanz, in welcher das

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Josef Schmidt absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit [...]· Die Person [...] schaut sie [die Substanz] als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit sowohl als erreichtes Diesseits an, als sie denselben durch ihre Tätigkeit hervorbringt." (Enz §514) „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit [hat], sowie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und [seinen] bewegenden Zweck hat - der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit." (PR § 142)

Geschichtlich zeigt sich die Priorität der maßstabsetzenden sittlichen Praxis darin, dass diese der (kritischen) Reflexion dessen, was gilt, vorausgeht. „In diesem Sinne verkündet Antigone, niemand wisse, woher die Gesetze kommen; sie seien ewig" (PR § 144 Ζ). So werden die geltenden Normen als göttliche „Mächte" geehrt, die das Handeln der Menschen bestimmen (PR § 145 + Ζ). Sie haben „festere Autorität und Macht als das Sein der Natur" (PR § 146). D. h. ihre Geltung ist wirkmächtiger, lebensbestimmender als manches Existierende. Zugleich sind sie dem Subjekt „nicht ein Fremdes". Vielmehr hat es in ihnen „sein Selbstgefühl" (PR § 147), erkennt in ihnen seine „Pflichten" (PR § 148), die, zur selbstverständlichen Haltung geworden, „Tugenden" sind und ein Leben in „Rechtschaffenheit" ausmachen (PR § 150). So wird das sittlich Bestimmende „Gewohnheit" und „zweite Natur" (PR §151; vgl. Enz §513). „In dieser Identität des allgemeinen und besonderen Willens fällt somit Pflicht und Recht in Eins, und der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat." (PR § 155) „Der Sklave kann keine Pflichten haben, nur der freie Mensch hat solche." (ebd. Z)

Hegel redet keineswegs einer archaischen Sittlichkeit das Wort und empfiehlt auch nicht die Rückkehr zur Antike. Mit der Reflexion der jeweiligen Sittlichkeit verbindet sich immer wieder auch deren Kritik, und zwar besonders „in Epochen, wo das, was als das Rechte und Gute in der Wirklichkeit und Sitte gilt, den besseren Willen nicht befriedigen kann" (PR § 138 Α). Schon in der Antike haben Sokrates und die Stoiker (ebd.) gegen ihre Zeit die selbständige Reflexion zur Geltung gebracht, deren adäquates Erfassen als Freiheit jedoch erst aus einem Ungenügen an der antiken Welt überhaupt hervorgehen konnte. „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und

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Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden." (PR §124 A)

Zwar ist dieses Prinzip immer schon wirksam. Man muss es nicht erfinden. Doch geht seine volle Bedeutung den Menschen erst allmählich auf, und aus der Reflexion vorhandener Praxis und ihrer Implikationen entsteht ein neues, höheres Bewusstsein, wie etwa in der Moderne machtvoll und unwidersprechlich das der allgemeinen Menschenrechte. „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist." (PR § 209 A)

Den dritten Teil der PR, die „Sittlichkeit", teilt Hegel in die Abschnitte „Familie", „bürgerliche Gesellschaft" und „Staat". Es sind Grundformen des Sozialen, die sich einem deskriptiven, man könnte sagen soziologischen Blick auf unsere Welt darbieten, die aber zugleich den normativen Rahmen für die Gestaltung gemeinsamen Lebens erkennen lassen. Ich kann aus Hegels Darstellung nur einige Hauptlinien herausheben. Zunächst zur Institution der „Familie": Sie existiert als Form der Intersubjektivität, die über „das Verhältnis eines Vertrags" hinausgeht (PR §163 Α), und lebt aus einer Wechselseitigkeit der Anerkennung und Annahme, die für das Werden der Persönlichkeit ebenso grundlegend ist, wie sie für die vermitteltsten Gestalten des Sozialen noch Bedeutung hat. Ihr Prinzip ist die Liebe, und zwar nicht nur als Gefühl, sondern als ein für den Geist konstitutives Verhältnis. „Liebe heißt überhaupt das Bewußtsein meiner Einheit mit einem anderen, so daß ich für mich nicht isoliert bin, sondern mein Selbstbewußtsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne [...]. Die Liebe ist daher der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann, [...] und die Auflösung des Widerspruchs: als die Auflösung ist sie die sittliche Einigkeit." (PR § 158 Ζ)

Die Intersubjektivität, die sich im „abstrakten Recht" (PR §71) und in der „Moralität" (PR § 112) als bestimmender Hintergrund bereits abzeichnete, erweist sich in der „Sittlichkeit" als der tragende Boden überhaupt. Doch eben dieser Boden geistiger Verhältnis-Einheit lässt mit Nachdruck auch das Recht der Besonderheit hervortreten, das in der Moderne als „bürgerliche Gesellschaft" erscheint. „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die

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des Staates erfolgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus." (PR §182 Ζ)

Hier kommt das liberale Prinzip zum Tragen: das Recht des einzelnen, seinen eigenen Interessen zu folgen. Der pure Auseinanderfall in eine Menge von Partikularitäten wird allerdings verhindert durch das immanente Gegenprinzip der „invisible hand" (Adam Smith), also des gegenseitigen Nutzens, der sich durch die Spezialisierung auf dem Weg der Interessenverfolgung einstellt. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles Andere ist ihm nichts f...]. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt." (ebd.)

Zudem ist der Liberalismus genötigt, sich einen rechtlichen Rahmen zu geben, ohne den er nicht funktionieren kann. Doch mit dem bloßen Schutz des Eigentums ist es nicht getan. Hegel sieht innerhalb der liberalen Gesellschaft einige ihrer Selbstauflösung entgegenwirkende „familiäre" Elemente sich bilden. Das ist einmal die Institution, die Hegel mit einem älteren Sprachgebrauch „Polizei" nennt, die Behörde zur allgemeinen Aufsicht und sogar Fürsorge: „Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit Sorge zu tragen" (PR § 236 Ζ), „die Eltern zu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, ihnen die Pocken impfen zu lassen usw." (PR § 239 Ζ). Von dieser Institution her ist das Almosengeben zu ergänzen durch öffentliche Armenfürsorge, und „der öffentliche Zustand" ist „um so vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meinung, in Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet wird, zu tun übrigbleibt" (PR §242 Α). Doch scheint Hegel angesichts der sich häufenden Probleme der bürgerlichen Gesellschaft, wie Zunahme der Differenz von Arm und Reich (PR §243), Mechanisierung (PR § 198), Überproduktion und Arbeitslosigkeit (PR §245) in eine gewisse Ratlosigkeit zu fallen: „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Ubermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." (PR §245)

Der Leser vermisst allerdings Vorschläge zur Abhilfe, und es bleibt die Frage, ob Hegel sie nicht hat oder nicht zu geben wagt. Das zweite „familiäre" Element sind die „Korporationen" (PR §§250ff), Zusammenschlüsse, vor allem der Stände, in denen der einzelne eine gewisse soziale Eingebundenheit erfährt, die seiner Isolierung in der Gesellschaft

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entgegenwirkt. Doch bedarf das familiäre Element, um seiner tieferen Berechtigung gemäß zur Geltung zu kommen, noch der Ebene des „Staates", einer Ebene, die über die Regelungen durch den „Not- und Verstandesstaat" (PR § 183), den die bürgerliche Gesellschaft sich schaffen muss, um existieren zu können, hinausgeht. Mit dem Staat kommt das Gemeinschaftsmoment der Familie erneut zum Tragen, und zwar so, dass sich das einzelne Ich in ein umfassendes Wir integriert weiß. In neuerer Zeit entspricht der Staat allerdings seiner „Idee" nur dann, wenn das liberale Moment in ihm ausreichende Berücksichtung findet. Insofern dies in den modernen Staaten erreicht ist, darf es auf keinen Fall aufgegeben werden. In der „bürgerlichen Gesellschaft" ist „das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck". Doch „die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate" (PR §258 Α). „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit" (PR §260), in der die persönlichen Interessen ihr Recht erhalten und zugleich in ein gemeinsames Leben integriert sind. „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten." (PR §260)

In dieser Vernünftigkeit ist der moderne Staatsgedanke dem antiken überlegen (ebd. Z), wenn von diesem auch die wichtige Vorstellung des Staates als „Organismus" zu übernehmen ist (PR §269 + Ζ). Denn der Staat ist kein äußeres Arrangement oder bloßes Aggregat, sondern eine umgreifende Lebenseinheit, deren Differenzmoment freilich in der Moderne stärker entfaltet ist als in der Antike. Was die nähere Beschreibung dieses modernen Staatsorganismus durch Hegel betrifft, so ist sie zu großen Teilen am zeitgenössischen preußischen Staat abgelesen, der nach seinen erfolgreichen Reformen aus den napoleonischen Kriegen erstarkt hervorging. Entsprechend entfaltet Hegel die Idee des Staates als einen Rechtsstaat mit monarchischer Spitze, versehen mit Gewaltenteilung und Ständevertretung. Dabei hebt Hegels Konzeption einige „vernünftige" Momente hervor, die zu seiner Zeit noch nicht realisiert waren. Hegels Schüler Karl Rosenkranz schreibt dazu: „Preussen war damals kein constitutioneller Staat; er besaß keine Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege, keine Pressfreiheit, keine Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, keinen Anteil des Volkes an der Ge-

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Josef Schmidt setzgebung und Steuerbewilligung - und alles das lehrte Hegel als philosophische Notwendigkeit" 5 .

Die Vernunft in der Gegenwart zu erkennen heißt also nach Hegel nicht lediglich, sich am Ist-Zustand zu orientieren wie ebenso nicht einfach an den positiven Gesetzen, denn es „kann das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist" (PR §212). Doch muss die Darstellung des wahren Rechtes und eines ihm entsprechenden Staates bei dem ansetzten, was an Vernunft schon realisiert ist und in der Geschichte sich bewährt hat. Zutiefst skeptisch ist Hegel gegenüber idealen Entwürfen, die ihren normativen Anspruch vor allem aus der Unangreifbarkeit ihrer intellektuellen Abgehobenheit schöpfen. Doch die im Staat „Wirklichkeit" gewordene „Idee" (PR §257) ist noch nicht deren umfassendste Verwirklichung. Diese ist erst die Geschichte. Innerhalb ihrer hat sich die moderne Form des Staates herausgebildet, dessen vernünftige Grundstrukturen Hegel beschreibt. Die Geschichte macht somit deutlich, worum es letztlich geht: die Idee. Ihr Verlauf ist deshalb „die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes" (PR § 342). Man könnte vermuten, dass Hegel aus der so gewonnenen Perspektive einen Geschichtsverlauf zu einem Zustand sittlicher Vollkommenheit prognostiziert, etwa im Sinne eines Idealstaates, der alle Menschen umfasst. Doch das tut er nicht. Aus der Voraussetzung eines letzten ideellen Maßstabes in allem Geschehen ergibt sich für ihn keine Entschlüsselung der Zukunft. Was Hegel über die Gegenwart hinaus an Entwicklungen andeutet, ist nicht viel mehr als ein ungefähres Ausziehen gewisser Linien, das uns ebenso Hegels realistischen Blick wie seinen verhaltenen Pessimismus zeigt. So bleibt für ihn das Verhältnis der Staaten untereinander ein Kampf um Anerkennung (PR §331), ohne dass sich ein Ubergang in ein höheres Vernunftverhältnis erkennen lässt. „Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen den Staaten, und auch diese nur zufälligerweise, d.i. nach besonderen Willen" (PR §333 A). Dies macht auch die Kantische Idee eines „ewigen Friedens" in einem Völkerbund fragwürdig (ebd.). Die friedliche Verständigung unter den Staaten ist nur ein „Sollen" (PR § 333) und ihr Verhältnis bleibt insofern „im Naturzustande" (ebd.). Hegel schreibt dem Krieg eine Erneuerungsfunktion für das Leben der Staaten zu (PR § 334; wie übrigens auch Kant: KUK §28), wobei der Krieg aber nicht ausufern darf, sondern Regeln unter5 Karl Rosenkranz, 1965, Hegel als deutscher Ausg. Leipzig 1870), S.152.

Nationalphilosoph,

Darmstadt (ND der

Die Ambivalenz des Gewissens

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worfen sein muss (PR § 338 f). Hegel greift damit auf seine These vom heroischen Kampf um Ankerkennung als Weg zur Herausbildung rechtlicher Verhältnisse im Staate zurück (Enz § 433 A). Doch ist der Naturzustand dieses Kampfes eigentlich das, was es zu überwinden gilt (vgl. Enz §432 Z, §433 A). Heroen kann es im Staat nicht mehr geben (PR § 93 Ζ). Der wahrhaft vernünftige Zustand ist allein der allgemein rechtliche. Hegel scheint hier in eklatanter Weise seiner eigenen Lehre zu widersprechen, wenn die Weltgeschichte aus dem Naturzustand nicht herauszukommen in der Lage ist. Doch der Widerspruch ergibt sich nur dann, wenn die Vernunfthaltigkeit der Geschichte an ein vollkommenes Ende ihres Verlaufes in der Zeit geknüpft wird. Aber diese Verknüpfung vertritt Hegel gerade nicht. Zwar hat die Geschichte einen Maßstab: die Idee, und retrospektiv ist in ihr ein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" zu erkennen, vom orientalischen Reich, wo nur einer, über die Antike, wo immerhin einige, bis hin zu der durch das Christentum begründeten Moderne, wo schließlich alle Menschen als frei gewusst werden (PR §§ 355-360). Weil das, worum es letztlich geht, die Idee, die Geschichte bestimmt, wie auch die Bedeutung der Völker an diesem Maßstab gemessen werden muss, kann von der „Weltgeschichte" auch als vom „Weltgerichte" (PR § 340) gesprochen werden. Doch lässt sich daraus kein Geschichtsverlauf hin zu einem prognostizierbaren Geschichtsziel ableiten. Hegel vertritt keinen Geschichtsdeterminismus wie Marx und seine Nachfolger. Unbeschadet dessen, dass der Naturzustand durch die Vernunft überwunden werden soll, verschwindet er nie ganz. Die Geschichte wird naturhafte und chaotische Züge behalten. Dennoch geht es in ihr um ein Letztes, Absolutes, und dieses, die Idee, ist in ihr immer wirksam und wirklich.6

4. Die sittliche Praxis der geschichtlichen Lebenswelt als normative Quelle Fassen wir noch einmal zusammen! Angelpunkt für Hegel ist die „Idee". Sie ist der apriorisch vorauszusetzende letzte Rechtfertigungsgrund unseres Erkennens und Bewertens, und ihre Unbedingtheit ver6 Vgl. zu Hegels Geschichtsphilosophie den ausgezeichneten Aufsatz von Henning Ottmann, dem ich viele Anregungen verdanke: Ottmann, 1997, Die Weltgeschichte, in: Hegel. Grundlegung der Philosophie des Rechts, hrsg. von L. Siep, Berlin: Akademie-Verlag (Klassiker auslegen Band 9), S. 267-284.

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langt es, sie in letzter Uneingeschränktheit über den Gegensatz von Denken und Sein zu stellen. Das unbedingte Gelten der Idee hat zur Folge, dass auch die geistige Ausrichtung auf sie letztlich gerechtfertigt ist. Wo eine solche antreffbar ist, d. h. wo sie möglich und damit schon ansatzweise wirklich ist, ist die Idee „da", und dieses ihr „Dasein" ist mit ihr selbst zusammen unbedingt gerechtfertigt. In diesem „Dasein" besteht die Würde der Person und liegt die Grundlage des Rechtes und der Moral beschlossen. Hier stößt der Wille auf seine Unendlichkeitsdimension, die er allerdings nur in Vermittlung mit seiner Endlichkeit besitzt: als Aufgabe zur Vermittlung mit sich selbst in Freiheit. Prinzipiell gerechtfertigt sind aber auch die sich aus der weiteren Vermittlung ergebenen Rechtsverhältnisse, in denen die Entfaltung der Freiheit in Gemeinsamkeit und gegenseitigem Respekt erst möglich wird. Nicht nur einzelne Subjektivität soll sein. Auch die Intersubjektivität und ihre Institutionen sind in sich berechtigt und im Prinzip gut. Unter dieser Verantwortung steht das Handeln. Seine Orientierung muss es gewinnen aus der Reflexion auf die praktizierte Verantwortung in seiner Lebenswelt, denn in ihr erscheint die Idee. Wäre das Gute nicht immer schon vorhanden und vollzogen, hätten wir keine Idee von ihm. Der Blick auf die vorhandene Praxis ist deshalb gerade vom entwickelten und gebildeten Subjekt zu verlangen, welches die Ausrichtung auf die Idee zur Autonomie des Gewissensurteils befähigt hat. Apriorität und Empirie sind nicht einfach Gegensätze, weil die Idee immer schon in der Erfahrung anwesend ist und sie bestimmt, und zwar so grundsätzlich, dass sich daraus auch die Einsicht in die Idee als Geschichtsmacht ergibt. In der Geschichte geht es eben um nichts anderes als sie, und wenn dies so ist, dann wirkt sie in der Geschichte, ist ihre Macht und ihr Gericht.

Reflexionen zum praktischen Hintergrund von Metaphysik. Hindernisse für das Verständnis des Bezugs von Wirklichkeit und Praxis, ens et bonum OTTO MUCK Gründen ethische Normen im Sein? Ist die Wirklichkeit wertneutral? Führt die Warnung vor einem naturalistischen Fehlschluss zu einem Irrationalismus in der Lebensgestaltung, zu einer Missachtung der ethisch-praktischen Relevanz der Erkenntnis der Wirklichkeit? Muss die Gegenposition ein einseitiger Rationalismus sein, der die Eigenart des sittlichen Anspruchs übersieht? Derartige radikale Positionen legen den Verdacht nahe, dass der Fragestellung eine unklare Auffassung davon zugrunde liegt, was unter „Wirklichkeit" bzw. „Sein" verstanden wird.

1. Erinnerung an Marechal Ein Impuls zur Klärung unseres Bezugs zur Wirklichkeit ist mit dem Namen von J. Marechal verbunden. Der belgische Denker J. Marechal (1878-1944) hat bezüglich einer Kontroverse, ob und wie unser Erkennen Wirklichkeit erreichen kann, unsere spontane Wirklichkeitserkenntnis gegenüber irreführenden Modellen verteidigt. Das legt die Frage nahe, ob nicht auch die Diskussion um Sein und Wert gelegentlich durch einseitige Interpretationen oder Modelle von „Wirklichkeit" belastet ist. So möchte ich der Rolle nachgehen, die Modellvorstellungen für das Verstehen unseres Bezugs zur Wirklichkeit spielen. Ich erinnere dazu an einige zentrale Gedanken in Marechals Erkenntnistheorie. Dazu gehört zunächst seine Deutung der spontanen Gewissheit, besonders aber sein Versuch, Kant gegenüber die für unser Erkennen

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konstitutive Funktion des Bezugs zum „Absoluten des Seins" aufzuweisen, sowohl als Postulat der praktischen Vernunft wie auch durch transzendentale Deduktion. Grundsätzlich berechtigte Realitätsbejahung: Zu Beginn des 20. Jh. setzte sich Marechal mit erkenntnistheoretischen Positionen des 19. Jahrhunderts auseinander, die von Bewusstseinsgehalten ausgehend den erkenntnistheoretischen Realismus durch ein Schlussverfahren oder durch irrationale Faktoren zu rechtfertigen suchten. Er kritisierte die Voraussetzung, auf der diese Versuche beruhten, dass nämlich Schein und Irrtum das Grundlegende für unser Erkennen seien.1 Wird die Erkenntnis nach dem Modell einer Gegenüberstellung von einem Binnenraum des Bewusstseins und der bewusstseinsjenseitigen Realität aufgefasst, so muss es aussichtslos sein, ein Ausgreifen des Erkennens auf die Realität verständlich zu machen. Vielmehr sei ein Weg einzuschlagen, der zeigt, dass die grundsätzlich berechtigte Bejahung der Realität das Grundlegende ist und dass sie erst den Hintergrund bildet für die Möglichkeit, überhaupt zwischen Schein und Sein zu unterscheiden, wie auch zwischen Irrtum und Wahrheit. Urteilen als Handlungsorientierung: In seinem Hauptwerk2 sucht Marechal aufzuweisen, dass für jedes Urteil eine Beziehung auf das „Absolute des Seins", auf Gegenstände in einem umfassenden Bereich, konstitutiv ist. Dieser Aufweis erfolgt zunächst als praktisches Postulat3. Der springende Punkt scheint mir dabei zu sein, dass das Urteil in unserem Leben eine wesentlich praktische Funktion hat, nämlich als Orientierung für unser Handeln. Metaphysik als Differenzierung des Bezugs zum Absoluten des Seins: Schließlich sucht Marechal4 durch eine transzendentale Deduktion den Bezug zum Absoluten als konstitutiv für jedes Urteilen aufzuweisen. Dadurch werde der grundsätzliche Seinsbezug menschlichen Erkennens gerechtfertigt. Für ihn besteht darin gleichzeitig die kritische Grundlegung der Metaphysik - wie er sie versteht. Er stützt sich dabei 1 J. Marechal, 1908/1909, A propos du sentiment de presence chez les profanes et les mystiques, in: Revue des Questions Sdentifiques 64 (1908), S. 527-563; 65 (1909), S. 219-249. 376-426. A b d r u c k in: Etudes sur la Psychologie des Mystiques, Paris Ί924,21938. 2 J. Marechal, 1944/1947/1949, Le point de depart de la metaphysique. Leqons sur le developpement bistorique et theorique du probleme de la connaissance (Museum Lessianum), 1,11,III Löwen 3 1944, IV 1947, V 2 1949 3 L . c . V , S . 528-532. 4 L . c . V , S . 532-554.

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auf Aristoteles, insofern die „erste Wissenschaft" Seiendes als Seiendes bedenkt. Metaphysik dient aus dieser Sicht der ausdrücklichen Unterscheidung vielfältiger Weisen, in denen wir uns auf Gegenstände beziehen. Dieser Ansatz kann weiter entwickelt und entfaltet werden, was hier unter Einbeziehung eigener Überlegungen in Hinblick auf den praktischen Aspekt in unserem spontanen Wirklichkeitsverständnis geschehen soll. Im Folgenden dienen mir die eben erwähnten drei Punkte im Denken Marechals als Leitfaden. Ich verstehe sie als Hinweise auf Strukturen, die u. a. die Problematik einer unkritischen Verwendung von Modellen zur Klärung der Eigenart des Wirklichkeitsbezugs unseres Erkennens zeigen. Derartige Modelle haben den Zugang zu berechtigten Einsichten der Metaphysik belastet. Vielleicht hilft das, was aus Marechal gelernt werden kann, diesen Zugang zu erleichtern.

2. Kritik von Modellvorstellungen Marechal sucht also die grundsätzliche Geltung der spontanen Gewissheit zu rechtfertigen. Er tut dies in Abhebung von Versuchen, die den Vollzug des Erkennens mittels eines Modells der Erkenntnis beurteilen, nämlich des Modells der „Brücke" zwischen Bewusstsein und Dingen. Bei dieser Beurteilung wird aber bereits von Unterscheidungen Gebrauch gemacht, die selber eine grundsätzliche Geltung der Tätigkeit des Erkennens voraussetzen. Dieser Zirkel wirft folgende Fragen auf: 1) Bringt das verwendete Modell alle für ein Thema relevanten Eigenschaften einer Tätigkeit angemessen zum Ausdruck? 2) Welche Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn mit Modellen nur eine eingeschränkte Interpretation der Tätigkeit erreicht wird, die untersucht werden soll? 3) Wie können die Schwierigkeiten einer eingeschränkten Interpretation vermieden werden? Ad 1: Der Vorteil eines Modells besteht darin, dass Beziehungen eines zu verstehenden Tatbestandes mittels vertrauter Gegenstände dargestellt werden, in denen die Struktur dieser Beziehungen realisiert ist. Im allgemeinen ist aber nicht zu erwarten, dass alle Eigenschaften des zu verstehenden Tatbestandes durch dieses Modell dargestellt werden. Häufig gilt das Interesse bestimmten Eigenschaften oder Beziehungen, die durch das Modell dargestellt werden. In Hinblick auf diese kann durch das Modell ein angemessenes Verständnis vermittelt wer-

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den. Allerdings ist dieses Verständnis in dem Sinn eine eingeschränkte Interpretation des zu verstehenden Tatbestandes, als nur ein auf den betreffenden Fragenkreis eingeschränktes Verständnis erreicht wird. Daraus folgt, dass das durch das Modell erreichte Verständnis zunächst nur in bestimmten Kontexten und hinsichtlich bestimmter Interessen zureichend ist. Man denke an das Verhältnis einer Landkarte zur Landschaft. Nennen wir die Vergegenwärtigung von Eigenschaften eines Untersuchungsgegenstandes mittels eines Modells ein Verständnis dieses Gegenstandes in Hinblick auf ein Modell. Dies ergibt gewöhnlich eine eingeschränkte Interpretation. Wird der Anspruch erhoben, dass alle Eigenschaften des Gegenstandes durch das Modell repräsentiert werden, möchte ich von einem Verständnis des Gegenstandes in diesem Modell sprechen. Wird bei einem Verständnis in Hinblick auf ein Modell vernachlässigt, dass diese Interpretation eingeschränkt ist, so wird der Anspruch auf ein Verständnis in einem Modell erhoben. Damit wird der Gegenstand in dem Sinn auf das Modell reduziert, als der Anspruch erhoben wird, dass alle Eigenschaften des Gegenstandes auch im Modell dargestellt sind. Es liegt dann ein unkritischer Reduktionismus vor, weil dies zur Negation von anderen Eigenschaften des darzustellenden Gegenstandes führt. Ad 2: Die Verwendung von Modellen führt zu Schwierigkeiten, wenn die Einschränkung der durch das Modell geschehenden Interpretation des Gegenstandes der Untersuchung nicht beachtet wird. Formen des eben erwähnten Reduktionismus sind Beispiele dafür. Sie können durch einige typische Arten von Fehlschlüssen gefördert werden. Ich nenne den genetischen Trugschluss und den Trugschluss mit reziproken Begriffen. Unter einem genetischen Trugschluss wird gelegentlich der Versuch verstanden, aus einer Erklärung des Zustandekommens einer Meinung, aus der Genese einer Meinungsbildung, unmittelbar Folgerungen zu ziehen bezüglich der Geltung oder Nichtgeltung der betreffenden Meinung. Von dem Chemiker Friedrich August Kekule wird berichtet, er habe die ringförmige Strukturformel des Benzols gefunden, nachdem er eingenickt und ihm im Traum ein Reigen von Kohlen- und Wasserstoffatomen erschienen sei. Das ist psychologisch interessant, sagt aber nichts aus über die Geltung der chemischen Strukturformel. Diese ist nach den Standards der Chemie zu prüfen.

Reflexionen z u m praktischen Hintergrund von Metaphysik

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Eine psychologische Erklärung ist auch am Platz, wenn typische Sinnestäuschungen erklärt werden. Dass das spontane Urteil falsch ist, folgt aber nicht aus der psychologischen Erklärung, sondern aus der Uberprüfung der Geltung der Aussage. Die psychologische Erklärung gibt eine Antwort darauf, warum wir dennoch zu der anderweitig als ungültig erwiesenen Aussage neigen. Eine genetische Erklärung ist also dort am Platz, wo das Vorkommen einer ungültigen Aussage erklärt werden soll. Ein genetischer Trugschluss hingegen liegt vor, wenn eine genetische Erklärung unmittelbar die Geltung einer Erkenntnisleistung erweisen oder widerlegen soll. Auf unsere Fragestellung angewendet liegt ein genetischer Trugschluss vor, wenn aus einem Modell der Entstehung der Sinneserkenntnis heraus gefolgert wird, dass es keine nicht empiristisch rekonstruierbare Wirklichkeitserkenntnis gäbe. Genau das hat Marechal in seiner Rechtfertigung der grundsätzlichen Geltung spontaner Erkenntnis kritisiert. Ein genetischer Trugschluss liegt auch vor, wenn aus einer ideologiekritischen Überlegung heraus die Geltung einer bestimmten weltanschaulichen Auffassung kritisiert wird. Dazu müsste vorerst mit angemessenen Methoden nachgewiesen werden, dass diese Auffassung nicht zutreffend, nicht gültig ist. Dann mag eine ideologiekritische Erklärung dafür aufschlussreich sein, warum eine solche Auffassung dennoch vertreten wird. Mit dem Namen Trugschluss mit reziproken Begriffen möchte ich Fehlschlüsse von der folgenden Art bezeichnen: Ausgegangen wird von einem komplexen Phänomen. Dieses wird gedeutet durch ein Modell, das aber nur bestimmte Eigenschaften des Phänomens darstellt, von anderen absieht. Schließlich wird das durch das Modell vermittelte Verständnis des Phänomens zum alleinigen Maßstab gemacht und in einem weiteren Schritt gefolgert, dass es keinen Gegenstand mit jenen Eigenschaften geben könne, von denen das Modell abgesehen hat. Aristoteles beschäftigte sich damit am Beispiel der Probleme des Kontinuums und der eleatischen Paradoxien: Wird ein Punkt als Schnitt von Linien verstanden und die Linie aus solchen (potentiellen) Punkten bestehend, dann verhalten sich die Begriffe „Punkt" als „Teil der Linie" und „Linie" als „aus Punkten zusammengesetzt" zueinander reziprok. Ein Trugschluss entsteht, wenn jemand darauf hinweist, dass die Punkte keine Dimension haben und daher aus ihnen auch keine Linie aufgebaut werden könne, weshalb es auch keine Linie geben könne.

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Was zur Gewinnung der Begriffe wie „Punkt" vorausgesetzt und wovon abgesehen wurde, nämlich die ausgedehnte Linie und die idealisierende Einschränkung, wird nicht mehr berücksichtigt. Eine zentrale Aufgabe der Philosophie ist es wohl, derartige Scheinprobleme aufzudecken. Ein Weg dazu besteht im Aufweis der Voraussetzungen oder Einschränkungen, die für die Problemstellung verwendet werden mussten, später aber nicht mehr beachtet worden sind. Diese Sicht der Problemlage finden wir auch bei Marechal, wenn er meint, dass die begriffliche Unterscheidung von Erscheinung im Bewusstsein und Wirklichkeit selbst erst unter der Voraussetzung eines grundsätzlich berechtigten Bezugs auf Wirklichkeit gewonnen sei. In einem bestimmten Modell des Erkenntnisvollzugs werde das aber nicht mehr berücksichtigt und schließlich sogar die grundsätzliche Möglichkeit von Wirklichkeitsgeltung des Erkennens negiert. Ad 3: Manche Schwierigkeiten entstehen also dadurch, dass ein Modell zwar das Verständnis eines Gegenstandes fördert, dabei aber die Grenzen der Anwendbarkeit des Modells und damit der Tatsache, dass das gewonnene Verständnis eingeschränkt ist, nicht beachtet wird. Die Auseinandersetzung mit solchen Schwierigkeiten kann auf verschiedenen, einander ergänzenden Wegen geschehen. Präzisierung des Anwendungsbereiches: Ein Weg besteht im Aufweis der Einschränkung durch Hinweis auf Eigenschaften, die im Modell nicht dargestellt werden. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf Grenzen der Anwendbarkeit des Modells gelenkt. Manche philosophische Begriffe dienen dazu, den Bereich, für den ein eingeschränktes Verständnis als angemessen betrachtet werden kann, von anderen Bereichen menschlichen Interesses zu unterscheiden. Durch solche Präzisierungen des Anwendungsbereichs soll voreiligen Folgerungen aus einem Bereich für den anderen vorgebaut werden. Derartige Begriffe ersetzen nicht ein weiteres Erforschen der betreffenden Bereiche, sind in diesem Sinn leer. Sie können aber eine Hilfe sein gegenüber voreiligen Folgerungen und damit einem unkritischen Auffüllen solcher Bereiche. So kann unterschieden werden, was als „Wesen" des Menschen in der Biologie oder in der Sozialpsychologie betrachtet wird. Termini, welche die besondere Betrachtungsweise bzw. Fragerichtung charakterisieren, haben eine grenzbegriffliche und eine heuristische Funktion: „grenzbegrifflich", indem sie die Grenzen eines Anwendungsbereichs markieren, „heuristisch", weil sie den Bereich weiterer Untersuchungen anzeigen. Ein besonderer Fall des Aufweises der Begrenzung betrifft das eingeschränkte Verständnis von bewussten Tätigkeiten. Bei einem Ver-

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ständnis in einem Modell kann es vorkommen, dass die Einschränkung von einer Eigenschaft absieht, welche die Tätigkeit überhaupt erst ermöglicht. Dies zu zeigen ist das Anwendungsgebiet indirekter Beweisführung oder einer Retorsion, welche aufweist, dass der betreffende Vollzug einer bewussten Tätigkeit nicht möglich wäre, ohne dass die Geltung einer bestimmten Voraussetzung anerkannt wird. Wenn das Modell, das dem Verständnis dieser Tätigkeit zugrunde liegt, keinen Platz hat für diese Voraussetzung, dann erweist sich dadurch a) die Begrenzung der Anwendbarkeit dieses Modells und b) die Berechtigung einer Unterscheidung, welche diese Einschränkung artikuliert. Dies kann auch als eine Anwendung der transzendentalphilosophischen Analyse gesehen werden. Ihre Frucht ist es dann, Erkenntnis zugleich zu rechtfertigen und gegenüber unberechtigten Ansprüchen kritisch abzugrenzen. Erweiterung von Modellen: Ein weiterer Weg zum Berücksichtigen der Grenzen eines Modells besteht darin, dass das Modell, in Hinblick auf das ein Gegenstand bzw. eine Tätigkeit verstanden wurde, ergänzt wird. Die Einschränkung kann dann auch dadurch berücksichtigt werden, dass ein Betonen von den im Modell nicht dargestellten Eigenschaften des Vollzugs zu einer Erweiterung des Modells durch Hinzufügung neuer Elemente führt. Bezüglich der menschlichen Erkenntnis geschah dies in der aristotelischen Tradition durch Hinzufügung des Intellekts, bei Marechal durch Erweiterung durch den Dynamismus des Intellekts, dem gemäß die einzelnen Erkenntnisinhalte als Frucht einer widerspruchsfreien Assimilierung der sinnlich gegebenen Wirklichkeit unter die Ausrichtung des Intellekts auf einen umfassenden Bereich, auf das „Absolute des Seins", gesehen werden. Diese Elemente sind im Erkenntnismodell Platzhalter für die nicht empiristisch erklärbaren Eigenschaften des Erkenntnisinhalts. Ein solches hinzugefügtes Element ergibt sich gerade nicht aus dem anfänglich verwendeten Modell. Daher mag es einem, der auf dem Boden des anfänglichen Modells denkt, als willkürlich und unverständlich erscheinen. Der Sinn dieses hinzugefügten Elements muss sich aus der Analyse des zu deutenden Vollzugs und aus dem Aufweis von Eigenschaften dieses Vollzugs ergeben, die im anfänglich verwendeten Modell nicht darstellbar sind. Das ist besonders zu beachten, damit man sich nicht nur mit Assoziationen zu den Ausdrücken begnügt, mit denen dieses hinzugefügte Element benannt wird, ζ. B. als tätiger „Intellekt", als „Dynamismus" oder als „Apriori" oder „Intuition". Der Sinn dieser Benennungen hängt von der Problemstellung ab, in welcher das

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Ungenügen des eingeschränkten Modells deutlich gemacht wurde. Was dadurch benannt wird, ist daher von dieser Analyse her zu verstehen! Andernfalls würde man von neuem in ein eingeschränktes Modell zurückfallen und dem Fehler erliegen, der in einem Nichtbeachten der Grenzen der Anwendbarkeit eines Modells besteht. Manche würden das eine irreführende Vergegenständlichung nennen. Mir scheint, dass zu den Beispielen dafür eine vorschnelle Gegenüberstellung von setzendem und hinnehmendem Charakter menschlicher Erkenntnis gehört oder eine einseitige Betonung von Apriori oder Aposteriori. Solche Gegensätze ließen sich durch Besinnung auf den Sinn der Gegensatzglieder vermeiden.

3. Praxis und Ideal der Geltung Wie steht es nun aber mit jener Deutung von Erkennen, welche Erkennen als Darstellung von Wirklichkeit auffasst? Mitunter wird die Meinung vertreten, dem Ideal einer objektiven Geltung entsprechend dürfe diese Darstellung nicht durch wertende Gesichtspunkte verfälscht werden. Aber ist dies nicht auch ein eingeschränktes Modell? Hier wird nämlich nicht die praktische Dimension der im spontanen Erkennen angezielten Wirklichkeit erfasst. Kein Wunder, wenn dann im Sinn eines Fehlschlusses mit reziproken Begriffen der praktische oder normativ-wertbegründende Aspekt der erkannten Wirklichkeit negiert wird. Lässt sich diese praktische Dimension der Wirklichkeit durch ein praktisches Interesse an der Frage nach Rationalität verdeutlichen? Ich lasse mich davon anregen, dass Marechal den zumindest grundsätzlichen Bezug des Erkennens zur Wirklichkeit postuliert hat als Folge dessen, dass sich unser Handeln an unserem Erkennen orientiert. Kann daher als Ansatz für den Bezug der Rationalität des Erkennens zur Praxis die Auffassung gesehen werden, dass es nicht immer gleichgültig sei, was wir tun? Wie weit ist dann diese unsere Rationalität rekonstruierbar? Vor allem, wenn als „tun" auch unser Bilden von handlungsleitenden Meinungen und Uberzeugungen verstanden wird. Dann wird die Frage nach der Rationalität zur Frage nach den Maßstäben oder Regeln, nach denen wir diese Gleichgültigkeit aufheben und Handlungsalternativen bewerten können. Für Marechal ist der Mensch als Denkender und Handelnder ausgerichtet auf das Sein. Wesentliche Differenzierungen seines Verständnisses der Wirklichkeit ergeben sich als notwendige Bedingungen da-

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für, das Begegnende unter dieser Ausrichtung widerspruchsfrei aufzufassen. Diese Auffassung findet meiner Meinung nach ihre konkrete Gestalt in einer gelebten Weltanschauung oder Lebens- und Daseinsorientierung. Von einer solchen macht jeder Mensch auf seine Weise mehr oder weniger explizit in seiner Deutung und Bewertung der verschiedenen Lebensbereiche Gebrauch. Die gelebte Weltanschauung ist eine Auffassung von der Wirklichkeit, eine theoretische und praktische Gesamtdeutung des Begegnenden, die ein Mensch, indem er lebt, hat.5 O b er sich ihrer ausdrücklich bewusst ist oder nicht, bleibt offen. Ebenso, ob er sie thematisiert, formuliert hat, oder ob sie nur dadurch ausdrücklich wird, wie er manches faktisch einschätzt und wie er sich verhält. Diese gelebte persönliche Weltanschauung ändert sich dauernd, wenn auch oft nur in Details. Sprechen können wir von ihren Inhalten natürlich nur von der Fiktion her, dass sie expliziert wird. Das geschieht oft, wenigstens zum Teil, wenn wir auf Inkonsequenzen stoßen, uns Fragen stellen oder Fragen stellen lassen. Eine solche grundlegende Lebensorientierung hat die Funktion, das Begegnende theoretisch und praktisch zu deuten. Es bestimmt die Weise, wie wir das, was uns begegnet, jeweils auffassen und in seiner Relevanz für unser Handeln einschätzen und in diesem Sinne bewerten. Von ihr hängt aber auch ab, wie wir die Relevanz bestimmter Erkenntnisweisen oder Weisen der Meinungsbildung einschätzen. Damit ist ein Hintergrund im menschlichen Leben genannt, der oft nicht explizit formuliert ist, der sich aber im Entscheiden und Denken auswirkt. Er hat Einfluss darauf, was als wirklich angesehen wird und wie dies für das Handeln bewertet wird. Wenn Metaphysik nun helfen soll, Fragen, die sich auf diesem Boden ergeben, zu klären, so gehört zu ihr auch eine integrative Erklärung oder Deutung des Zusammenhangs von Sein und Wert. Für Marechal war die praktische Relevanz urteilender Erkenntnis ein Zugang, den Wirklichkeitsbezug dieser Erkenntnis zu postulieren. 5 Vgl. diese Bestimmung von „Weltanschauung" in religionsphilosophischem Zusammenhang in: Otto Muck, 1967, Zur Logik der Rede von Gott, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 89, S. 1-28, bes. 21-27. Ferner ders., 1997, "Weltanschauliche Bedingungen religiöser Erfahrung, in: Erfahrung - Geschichte - Identität. Zum Schnittpunkt von Philosophie und Theologie. Für Richard Schaeffler (Hrsg. v. M. Laarmann u. Tobias Trappe), Freiburg, S. 71-90. Beides auch in Otto Muck SJ, 1999, Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen, hrsg. v. Winfried Löffler, Innsbruck, hier abgekürzt mit RW.

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Dabei erweist sich, dass er unter „Wirklichkeit" alles das verstanden hat, womit wir uns im Leben auseinandersetzen müssen. Dies ist aber auch das, von dem wir uns in unserer lebenstragenden Uberzeugung, unserer gelebten Weltanschauung, eine Meinung bilden. Wie verhält sich aber diese zu jenem Anspruch auf Geltung, den unser Erkennen erhebt? Hier können wir an den dritten Punkt Marechals anknüpfen, an seinen Aufweis dafür, dass sich unser Erkennen wesentlich auf eine umfassende Wirklichkeit bezieht, die auch unsere Wertungen umfasst und die das ist, womit sich „Metaphysik" in seinem Sinn beschäftigt.

4. Geltungsfrage als Kritik von Modellen der Wirklichkeit In meiner eigenen Weiterführung von Marechals Aufweis des Bezugs zur umfassenden Wirklichkeit hatte mir die Auseinandersetzung mit Bernard Lonergans „Insight" 6 wie auch mit dem operativen Standpunkt des methodischen Konstruktivismus der damaligen Erlanger Schule um Paul Lorenzen7 Gelegenheit gegeben, den in unserem Aussagen enthaltenen Geltungsanspruch explizit zu formulieren.8 Dabei sollte nicht ein Modell aus dem Alltagsverständnis ungeprüft vorausgesetzt werden, auch nicht das Modell der Vergegenwärtigung wirklicher Gegenstände im Bewusstsein. Das führte mich zu einem operativen Kriterium, das als ideale Norm für die beanspruchte Geltung zu verstehen ist. Das Kriterium besagt, dass eine Aussage dann und nur dann den in ihr enthaltenen Geltungsanspruch erfüllt, wenn keine für sie relevante Frage offen ist. Für eine Aussage wird eine Frage als relevant bezeichnet, wenn eine ihrer sinnvollen Antwortmöglichkeiten in Widerspruch zu der betreffenden Aussage steht. Offen ist eine relevante 6 Bernard Lonergan, 1957, Insight. N e w York - Toronto.

Α Study of Human

Understanding,

London -

7 Vgl. z . B . die Beiträge in: F. Kambartel/J. Mittelstraß (Hrsg.), 1973, Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt a. M., und die programmatische Zusammenfassung in: P. Janich u. a. (Hrsg.), 1974, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, Frankfurt a. M. Kritische Ubersicht in: Mechthild Jäger, 1998, Die Philosophie des Konstruktivismus auf dem Hintergrund des Konstruktionsbegriffs (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 49) Hildesheim. 8 O . Muck, 1976, Wahrheit und Verifikation, in: Die Wahrheit des Ganzen. Festschrift für Leo Gabriel, hrsg. von Helmut Kohlenberger, Wien: Herder, S. 3 5 - 5 2 , und RW, S. 81-100.

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Frage, wenn noch nicht ausgeschlossen ist, dass die der Aussage widersprechende Antwort zutreffend ist. Damit wird terminologisch gefasst, was als „Sitz im Leben" für unser Fragen nach Wahrheit bzw. Geltung angesehen werden kann, nämlich die Erfahrung von Irrtum und Meinungsgegensätzen und das daraus entstehende Interesse an Verlässlichkeit der Grundlagen für unsere Lebensgestaltung. Das genannte Kriterium wirft die Frage auf, wie sich die grundsätzlich beanspruchte Geltung unseres Erkennens zu der Geltung oder auch zum Verfehlen der Geltung einzelner Aussagen verhält, die wir in einer der vielen Weisen der Meinungsbildung oder Weisen unseres alltäglichen oder wissenschaftlichen Erkennens machen. Mit welchen Mitteln werden innerhalb einer bestimmten Erkenntnisweise berechtigte Erkenntnisleistungen von irrtümlichen bzw. unzuverlässigen Aussagen unterschieden? Wenn wir Maßstäbe dafür „Kriterien" nennen, dann handelt es sich hierbei um Kriterien, nach denen wir Einzelakte innerhalb einer Erkenntnisweise als verlässlich oder irrtümlich beurteilen. Es handelt sich hier nicht um eine „absolute Gewissheit", sondern um die „praktische Gewissheit", die „bedingte Gewissheit", 9 die zwar in vielen Fällen des Alltags und der Wissenschaften als hinreichend verlässlich angenommen wird, die aber im Einzelfall nicht absolut zweifelsfrei ist, sondern fehlbar bleibt. Solche Erkenntnisse werden für die Praxis als verlässlich angesehen, wenn kein vernünftiger, d. h. aufgrund der bisherigen Erfahrung begründeter Zweifel vorliegt. Man könnte dies so ausdrücken, dass damit die Gefahr eines Irrtums ausgeschlossen ist, obwohl die absolute Möglichkeit eines Irrtums denkbar bleibt. Für die Lebenspraxis wäre es aber unvernünftig, deshalb auf die Orientierungsleistung dieser Erkenntnis zu verzichten. Vom Ergebnis her könnte die Bestimmung und die Verfeinerung der Kriterien für die Unterscheidung von Gefahr und Möglichkeit eines Irrtums, die in einer Erkenntnisweise verwendet werden, durch das Modell eines sich selbst korrigierenden Prozesses veranschaulicht werden. Es geht dabei um die Optimierung von Ermöglichung und Treffsicherheit des Handelns in einem bestimmten Lebensbereich. Wir erachten den Bereich als uns vertraut, wenn diese Optimierung gelungen ist, wir die Gefahr eines Irrtums beurteilen können. 9 Vgl. J. de Vries, 1980, Grundfragen der Erkenntnis, München: Johannes Berchmans Verlag, S. 91-100. Vgl. K. Popper, 1973, Objektive Erkenntnis, Hamburg, S.92: „Es gibt einen Gewissheitsbegriff des Alltagsverstands, der, kurz ausgedrückt, so viel bedeutet wie .hinreichend sicher für praktische Zwecke'."

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Werden Kriterien so gewählt bzw. praktisch anerkannt, dass zu häufig Fehler auftreten, dann ist diese Erfahrung von Irrtum Anlass, die Kriterien enger zu fassen oder rigoroser anzuwenden - also häufiger einen begründeten Zweifel zu äußern. Werden jedoch die Kriterien zu eng gefasst, kommt es nur selten zu einer für die Entscheidung brauchbaren Information. Es kommt dann zu keiner Entscheidung. Um einen das Handeln blockierenden und damit lebenszerstörenden Rückzug von der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu vermeiden, müssen die Kriterien weiter gefasst werden, muss mehr Raum für „Ungewissheit und Wagnis" gewährt werden. Allerdings bilden auch diese Bemerkungen und das angedeutete Modell eines sich selbst korrigierenden Prozesses nur einen allgemeinen Rahmen für den Prozess, in dem die Kriterien für die praktische oder bedingte Gewissheit ausgebildet werden. Die Kriterien werden dadurch noch nicht im einzelnen explizit angegeben. Es kann nicht erspart werden, dass sie im handelnden Umgang lebend erlernt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dann, wenn diese Grenze der Reflexion auf den Prozess der Präzisierung der Kriterien nicht berücksichtigt wird, es wieder zu einer die ganzheitliche Betrachtung missachtenden isolierten Betrachtung einzelner Akte kommt. Damit würde wieder die ganze Problematik des Nicht-Gelingens der rationalen Rekonstruktion spontaner Erfahrungserkenntnis aufgeworfen. Die Kriterien, die wir für die im Leben gewöhnlich verwendete praktische oder bedingte Gewissheit verwenden, bestimmen, wann ein in der bisherigen Erfahrung begründeter vernünftiger Zweifel vorliegt. Terminologisch sollen relevante Fragen, die einen solchen Zweifel ausdrücken, als positiv relevante Fragen bezeichnet werden. Daraus folgt, dass für die Lebenspraxis zunächst angestrebt wird, dass keine positiv relevante Frage offen ist. Die Spannung zu den relevanten Fragen, die nicht als positiv relevant erachtet werden, macht auf den Anwendungsbereich der bedingten Gewissheit aufmerksam. Dabei ist zu beachten, dass die Grenzen dieses Anwendungsbereichs oft zunächst nicht genügend deutlich sind, sondern eine Randunscharfe aufweisen. Eine Hilfe, sie zu beachten, können Widersprüche sein, die zutage treten, wenn diese Grenzen nicht beachtet werden. Darin mag man den Nutzen sehen eines Dialogs mit anderen Menschen, - sei es in der Gegenwart, sei es in der Geschichte - der oft zu einer entsprechenden Differenzierung und Anerkennung der Geltungsgrenzen herausfordert. 10 Gegensätze, die in unserem Denken oder in einem Dialog auftreten,

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können Anlass zu Differenzierungen werden. Ich möchte dies an einem alten einfachen Beispiel erläutern. Dies mag zugleich eine Hilfe sein zu verstehen, wie Marechal meinen kann, dass erst auf dem Hintergrund eines grundsätzlichen Bezugs zur Wirklichkeit zwischen Schein und Wirklichkeit unterschieden wird. Das mag auch als Beispiel dafür dienen, wie philosophische Begriffe derartige Unterscheidungen terminologisch fassen. Besinnen wir uns darauf, wie wir im Alltag von „wirklich" sprechen. Wann sage ich, etwas sei Täuschung oder Schein? Hier helfe das alte Beispiel von einem Stab, den man schräg in ein Aquarium hineinsteckt und der geknickt ausschaut. 11 Spontan, wenn man nur hinschaut, ist man geneigt zu sagen, der Stab hat einen Knick. Dann, wenn man sich genauer damit beschäftigt und ihn abtastet oder verschiedene Perspektiven zum Aquarium einnimmt, stellt man fest: er ist nicht geknickt. Hier wird eine für die erste Aussage relevante Frage gestellt: „wie fühlt sich der Stab an, wenn ich ihn abtaste?". Diese Frage ist so beantwortet worden, dass sie in Widerspruch zur ersten Aussage steht: Aussage, Antwort und vorausgesetztes Hintergrundwissen können nicht zugleich wahr sein. Damit ist zunächst die Verlässlichkeit der Aussage in Frage gestellt. Wie würden wir das weiter behandeln? Eine Reaktion wäre zu sagen, ich habe mich geirrt bzw. getäuscht. Der Stab ist nicht wirklich geknickt. Eine andere Reaktion wäre zu sagen: „Es ist klar: der Stab schaut nur so aus, dem Auge erscheint er als geknickt, in Wirklichkeit ist er nicht geknickt, sondern er ist gerade". In diesem Fall schränken wir die relevanten Fragen methodisch ein, wenn wir das Präfix „dem Auge erscheint es," vor den Aussagegehalt „dass der Stab geknickt ist" stellen. Wenn daher jemand sagt „Meinem Auge erscheint der Stab geknickt", dann ist die Frage „Wie fühlt er sich an?", nicht mehr relevant, weil jetzt methodisch davon abgesehen wird, zu welchem Ergebnis andere Betrachtungsweisen kommen. Die relevanten Fragen werden eingeschränkt, es kommt zu einer Differenzierung und Präzisierung des Gesichtspunkts, der Betrachtungsweise. Durch diese methodische Einschränkung wird deutlich, dass man sich hier nicht mehr uneingeschränkt auf die Wirklichkeit be10 Vgl. O. Muck, 1999, Gedanken zum Dialog zwischen Weltanschauungen, in: Wahrheit und Sittlichkeit (Erfurter Theologische Schriften Bd. 27) Leipzig: Benno-Verlag, S. 149-162. 11 Das Beispiel vom geknickten Stab wurde ζ. B. auch verwendet bei W. Stegmüller, 1956, Glauben Wissen und Erkennen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 10, S. 509-549, 529f.

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zieht. Umgekehrt, wenn solche Einschränkungen nicht gemacht werden, wird dadurch das expliziert, was wir meinen, wenn wir sagen, diese Aussage beziehe sich auf die Wirklichkeit, stimme mit der Wirklichkeit überein. Damit ist die Aussage aber zugänglich für alle relevanten Fragen, es wird keine der relevanten Fragen methodisch ausgeschlossen. Das legt die Explikation nahe: Als „Wirklichkeit" wird der Bereich angezielt, für den keine relevanten Fragen methodisch ausgeschlossen sind. Blicken wir zurück: Mit der eben dargestellten Struktur relevanter Fragen sollte der im Erkennen operativ jeweils schon angestrebte Wirklichkeitsbezug expliziert werden. Auf diesem Hintergrund werden Gegensätze Anlass, Unterscheidungen einzuführen und damit Einschränkungen von Betrachtungsweisen ausdrücklich zu machen. In diesem Sinn verstehe ich auch, wie Marechal die Meinung vertreten kann, dass der grundsätzlich berechtigte Bezug zur Wirklichkeit erst den Boden bietet für die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein. Das skizzierte Modell der Reaktion auf Widersprüche macht auch verständlich, welche Auffassung von Metaphysik Marechal verfolgt.12 Grundlage für die Metaphysik ist ihm, dass die grundsätzliche Offenheit unseres praktisch relevanten Erkennens und Fragens für die Wirklichkeit, für das Sein, beachtet wird. Die Auseinandersetzung mit besonderen Aufgaben und Fragen veranlasst dann besondere Betrachtungsweisen. Auf ihre Unterschiede und die damit gegebenen unterschiedlichen Voraussetzungen und Anwendungsbereiche machen die in philosophische Termini gefassten Unterscheidungen aufmerksam. Anlass, sie herauszuarbeiten, sind Widersprüche, die auftreten, wenn die vorausgesetzten Einschränkungen nicht beachtet werden. Solchen Widersprüchen vorzubauen dient die philosophische Systematik, die in ihr angezielte integrative Erklärung, in der einzelne, auf Anwendungsbereiche begrenzte Betrachtungsweisen als solche und in ihrem Verhältnis zu anderen theoretischen oder praktischen Haltungen zur Wirklichkeit artikuliert werden. Derartige Unterscheidungen deuten darauf hin, dass die unterschiedenen Bereiche im menschlichen Leben eine Rolle spielen, die nicht übersehen werden sollte. Sie machen aber nicht überflüssig, in jedem Bereich die Auffassungen mit den Kriterien zu überprüfen, die diesem Bereich eigen sind. Auch ersparen sie es nicht, den Zusammen12 Vgl. O . Muck, 1999, Ein Beitrag transzendentalphilosophischer ständnis von Metaphysik, in: RW, S. 247-259, 254-257.

Reflexion zum Ver-

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hang der unterschiedenen Bereiche kritisch zu entfalten, auch hinsichtlich allfälliger constraints, wechselseitiger Folgerungsbeziehungen der Inhalte der Bereiche. Von dieser Ansicht über die Aufgabe der Metaphysik ist jene andere Auffassung zu unterscheiden, die in der Metaphysik die Entfaltung einer persönlichen Weltsicht sieht. Dies ist keine zu unterschätzende Aufgabe. Ich habe bereits auf die wichtige Rolle hingewiesen, die einer persönlichen Weltanschauung als lebenstragender Uberzeugung zukommt. Und es ist ein anerkennenswertes Unternehmen, diese nicht nur im Hintergrund wirken zu lassen, sondern auch ausdrücklich zu machen. Um sie zu klären und für eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen - seien es die der Gesprächspartner oder die eigene - sollte aber nicht auf die Hilfe verzichtet werden, welche „metaphysische" Überlegungen in dem in Anschluss an Marechal skizzierten Sinn leisten können. Ohne diese Hilfe kann es leicht dazu kommen, dass eine faktische Weltanschauung bereits als Grundlage für Normen benützt wird, ohne dass sie kritisch geprüft wird und die impliziten Voraussetzungen geklärt werden, die einem Vertreter dieser Weltanschauung bestimmte Normen als Folgen aus der betreffenden Sicht erscheinen lassen. In diesem Sinne halte ich es für wichtig, zwischen einer „reflektierenden" Metaphysik, wie sie eben in Anschluss an Marechal skizziert wurde, und einer „inhaltlichen" Metaphysik zu unterscheiden, die eher der - wenn auch kritischen - Entfaltung einer persönlichen Weltsicht dient. Reflektierende Metaphysik verstehe ich dabei im Sinne eines Herausarbeitens von Unterscheidungen durch Begriffe, die Unterscheidungen ausdrücken und daher eher grenzbegrifflich und heuristisch aufzufassen sind. Diese Auffassung scheint mir auch anwendbar auf die Unterscheidung und den Zusammenhang von Wirklichkeit und Wert, oder in traditioneller Terminologie ausgedrückt, von ens und bonum. Eine Anwendung der angestellten Überlegungen wäre der Versuch, das Verhältnis von Sein und Wert in Hinblick auf das Modell des eben angesprochenen Verhältnisses verschiedener Bereiche zu deuten. Als Unterscheidung wird darauf aufmerksam gemacht, dass die in unserem Fragen angezielte Erkenntnis der Wirklichkeit noch nicht die Perspektive der Praxis ausdrücklich enthält, wohl aber wesentlich auf sie verwiesen ist. Diese Bereiche sind nicht zu vermischen. Weder ist die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Nützlichkeit für begrenzte Zwecke einzuschränken, noch ist die der Praxis eigene Rechtfertigung unge-

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prüft auf eine faktische Weltanschauung abzuschieben. Anderseits ist die Erkenntnis der Wirklichkeit für das Verständnis und die Orientierung unserer Praxis wesentlich. So erfolgt die Unterscheidung von Sein und Wert vor dem Hintergrund, dass in unserem Leben und überlegten Handeln ein Zusammenhang zwischen beiden besteht. Sie macht es nicht überflüssig, Meinungen in jedem dieser Bereiche mit entsprechenden Kriterien zu prüfen. Auch ist mit dieser Unterscheidung noch nicht entfaltet, wie sich Auffassungen in jedem dieser Bereiche zueinander verhalten, welche constraints bzw. Folgerungszusammenhänge zwischen ihnen bestehen. In meiner oben vorgeschlagenen Terminologie wäre der Vergleich dieser Unterscheidung mit Unterscheidungen in anderen Bereichen eine Deutung in Hinblick auf ein Modell in dem Sinn, dass dadurch spezifische Gesichtspunkte, die durch die Eigenheit der betreffenden Bereiche bedingt sind, noch nicht vorentschieden sein müssen. Abschließend sollen einige typische Positionen bezüglich Wirklichkeit und Norm erwähnt werden, die ich zugleich als Beispiele sehe für Irreführungen und Fehlschlüsse durch überstrapazierte Modelle.

5. Klippen für ein Verständnis von Wirklichkeit und N o r m Wegen des praktischen Bezugs unseres Sprechens von der Wirklichkeit verbinden wir in vertrauten, aber begrenzten Zusammenhängen unser Auffassen von Tatbeständen mit Imperativen. Die Tatbestände mögen Anwendungsbedingungen von Normen sein, die anderweitig gerechtfertigt sind. Irreführend wäre es nun aber, würden bei einer Verallgemeinerung die Anwendungsbedingungen als Gründe zur Rechtfertigung der Norm missverstanden werden. In diesem Fall würde anstelle der Rechtfertigung der Norm nur auf einen speziellen Anwendungsfall verwiesen, bei dem noch dazu fraglich ist, ob er Modell sein kann für andere Situationen. Hier würden Folgerungen aus einem Anwendungsfall gezogen, über den berechtigten Anwendungsbereich hinaus. Noch dazu würde die Exemplifizierung mit einer generellen Rechtfertigung einer Handlungsweise oder Norm verwechselt. Ideologiekritisch wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass eine bestimmte weltanschauliche Sicht nicht Frucht einer Erkenntnis der Wirklichkeit ist, dass sie vielmehr so gestaltet wurde, dass sich aus ihr die anerkannten oder zu verteidigenden Normen folgern lassen.13

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Wenn allein daraus gefolgert wird, dass diese Sicht der Wirklichkeit inadäquat sei, liegt allerdings ein genetischer Trugschluss vor. Eine Begründung jedoch dafür, dass einer solchen Stützung von Normen keine Geltung zukommen könne, mag sich auf die Uberzeugung stützen, dass eine weltanschauliche Sicht grundsätzlich nicht rational vertretbar sei und daher auch nicht Geltung beanspruchen könne. Das folge daraus, dass aus einer für vertretbar gehaltenen Auffassung der Wirklichkeit, nämlich im erfahrungswissenschaftlichen Sinn, keine Normen oder Werte begründbar seien. Demgegenüber ist jedoch zu bedenken, dass in dieser Argumentation „Wirklichkeit" nur im Sinn dieses Modells erfahrungswissenschaftlichen Wissens verstanden wird. Es werden also reduktionistisch die anderen Aspekte des menschlichen Bezugs zur Wirklichkeit außer acht gelassen. So wurde hier das Verständnis der Wirklichkeit auf eine erfahrungswissenschaftliche Sicht der Wirklichkeit eingeschränkt. Das ist methodisch möglich, setzt dabei aber den Zusammenhang von Wirklichkeit und Norm voraus, von dem dann methodisch abgesehen wird. Wird jedoch dieser vorausgesetzte Zusammenhang in der Folge generell verneint, so liegt das vor, was früher Trugschluss mit reziproken Begriffen genannt wurde. Die eben genannte Sichtweise, welche unter „Wirklichkeit" das in Erfahrungswissenschaften Erkannte versteht, erweist sich als eingeschränkt, wenn sie jener Betrachtungsweise gegenüber gestellt wird, die unter „Wirklichkeit" das in einer lebenstragenden Uberzeugung Angezielte versteht. Diese Auffassung von „Wirklichkeit" hat insofern praktische Bedeutung, als sie auch die praktische Relevanz bestimmt, die ein Mensch den Ergebnissen der Wissenschaften für sein Leben zuerkennt. Doch wäre es verfehlt, daraus zu folgern, dass aus faktischen Auffassungen der Wirklichkeit, die Menschen oder Gruppen von Menschen haben und aus denen sie ihre Lebensweise deuten, ohne entsprechende Kritik dieser Auffassungen Wertungen und Normen abgeleitet werden können. Vielmehr ist der Inhalt der gelebten Weltanschauung selbst einer kritischen Weiterentwicklung fähig, auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Wissenschaften, wenn auch diese Weiterentwicklung ihre Rationalität hat, für welche die erfahrungswissenschaftliche Rationalität nicht in jeder Hinsicht das Modell ist. 14 13 Ich denke dabei an Ernst Topitsch, 1958, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien. 14 Otto Muck, 1984, Der Beitrag der Wissenschaftstheorie zur Klärung der Rationalität von Glaube als lebenstragender Überzeugung: Religionsphilosophie, in: Akten des

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6. Rückblick Mein Anliegen war es zu zeigen, dass in unserem Erkenntnisbemühen eine Auffassung von Wirklichkeit wirksam ist, welche den eingeschränkten Modellen von Wirklichkeit, die oft im Sprechen von „Wirklichkeit" verwendet werden, vorausliegt. 15 Ich habe den Eindruck, dass in der Diskussion um Sein und Wert oft ein derart eingeschränktes Verständnis von „Wirklichkeit" zugrunde gelegt wird. Meine Hinweise sollten davor warnen, dieses eingeschränkte Verständnis unkritisch mit dem in unserem Leben wirksamen Wirklichkeitsbezug zu identifizieren. Als Hilfsmittel, ein Verständnis dafür zu gewinnen, habe ich versucht, die Spannung zwischen dem Verständnis unserer Vollzüge und der sowohl helfenden als auch oft irreführenden Rolle von Modellen dafür zu skizzieren. Angezielt war dabei nur, voreiligen Schlüssen auch in Bezug auf das Verhältnis von Sein und Wert bzw. von Wirklichkeit und Norm - vorzubauen.

8. Internationalen Wittgenstein Symposiums 1983, Teil 2, Wien, S. 53-56. RW, S. 101105. 15 Für wertvolle Anregungen danke ich meinem Kollegen, Herrn Ass.-Prof. Mag. DDr. Winfried Löffler.

Paul Ricceurs Weg zur Frage der Handlung. Die Bezeugung FRANQOIS MARTY

Paul Ricoeur ist eine der Hauptfiguren der heutigen französischen Philosophie. Er ist einer der Vertreter der sich in den letzten dreißig Jahren zeigenden Tendenz, die Ethik als zentrale philosophische Frage zu betrachten. Diese Fragestellung setzt jedoch einen langen Weg voraus, der selbst von Bedeutung ist, wenn man die Tragweite der ethischen Reflexion Ricoeurs richtig verstehen will. Dieser Weg beginnt im Kontext der französischen reflexiven Philosophie, derer Hauptinteresse dem Problem der Erkenntnis gilt. Bald begegnet Ricoeur jedoch der Phänomenologie, die freilich in ihrer ersten Fassung die Erkenntnisfrage wie die Reflexionsphilosophie betrachtet. Allerdings geht Ricoeur nun seinen eigenen Weg, indem er eine Phänomenologie des Willens entwickelt. So wird der Horizont der Handlung mit ihren Normen eröffnet. Dieser Weg führt ihn dann weiter durch den französischen Strukturalismus hindurch zu seinem durch die Humanwissenschaften geprägten Denkmodell. Das Ergebnis ist eine neue Erwägung der ethischen Dimension der Handlung. Ich möchte einen zentralen Begriff der Ricoeurschen Ethik darlegen - die Bezeugung - , der für eine abwägende Vernunft von Bedeutung ist, da er eine für die moralische Entscheidung wichtige Haltung bildet. Um diesen Begriff erörtern zu können, muss ich zuerst einen Punkt seiner Anthropologie vortragen, nämlich die der Einbildungskraft zukommende Rolle in der Erwägung der Handlung.

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1. Vom Symbol zur Handlung Aus der Biographie des 1913 in Valence (Südfrankreich) geborenen Paul Ricceur erwähne ich nur die enge Freundschaft mit Emmanuel Mounier, dem Gründer der Gruppe (und der Zeitschrift) Esprit. Beiden war die Sorge um einen echten Kontakt zwischen dem christlichen Glauben und der modernen Welt gemeinsam. Ich möchte zuerst den zur Frage des Symbols führenden Weg Ricceurs darlegen, der einen Übergang von der Phänomenologie zur Hermeneutik herbeiführt. Die ziemlich unerwartete Rolle der Einbildungskraft bei der Entstehung der Handlung ist eine Folge dieses Ubergangs.

1.1 Der Übergang von der Phänomenologie zur Hermeneutik Das erste wichtige Werk Ricceurs gilt, wie sein Titel sagt, einer Philosophie des Willens 1 . Der Ausgangspunkt besteht in der Übertragung der auf die Erkenntnis angewandten phänomenologischen Methode Husserls auf die vom Willen bestimmte Handlung. Es handelt sich also um eine „eidetische Reduktion", die nicht die die Erkenntnis schaffende Intentionalität, sondern die auf die Handlung ausgerichtete Intentionalität erscheinen lässt. - Eine solche Analyse bleibt jedoch durch eine doppelte Abstraktion gekennzeichnet, nämlich die der Schuld (die Vernunft als solche kennt nur Irrtümer) und die der Transzendenz (insofern die Vernunft als letzte Instanz auftritt) 2 . Hier fängt der Ricceur eigene Denkprozess an. Wegen der durch die Handlung entstehenden Verantwortung kann diese doppelte Abstraktion nur ein Moment der Analyse darstellen. Einer vor allem durch die Ethnologie erneuerten Tradition gemäß wird diese Abstraktion überholt, indem die auf die Handlung gerichteten Herausforderungen in der Sprache der Symbole gehört werden. Die Aufgabe besteht dann in einer Wiederholung der Symbole in der Einbildungskraft und in der Sympathie. 3 „Sympathie" heißt das Ernstnehmen der vor allem in der Sprache der Mythen mitgeteilten Überliefe1 P. Ricceur, 1950, Philosophie de la volonte, I, Le Volontaire et l'Involontaire, Paris, Aubier. 2 Ibid., S. 25. 3 P. Ricoeur, 1960, Philosophie de la volonte, Finitude et culpabilite, II, La symholique du mal, Paris, Aubier, S. 25.

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rungen. Die Einbildungskraft weist auf den Weg hin, der die Wirklichkeit des Symbols nicht verfehlen lässt. - So wird es möglich, der kantischen Anregung gemäß, das Symbol in seiner ganzen Tragweite erscheinen zu lassen, gemäß dem Spruch: das Symbol gibt viel zu denken4. Ein solches Denken ist eine Interpretation der symbolischen Sprache. - Wir sind von der Phänomenologie zur Hermeneutik gelangt. Von nun an hat Ricoeur den Leitfaden für seine ganze Forschung zum Ausdruck gebracht. Das so klar formulierte Vorhaben der Interpretation konnte nicht vor der Psychoanalyse ausweichen. Das ist der Anlass des großen Bandes, der eine (bemerkenswerte) Darstellung der Lehre Freuds vorträgt.5 Das Buch veranlasst aber einen Konflikt der Interpretationen, wie der Titel einer Sammlung von Aufsätzen lautet, die die (oft harten) Streitigkeiten dieser Periode widerspiegeln.6 Die lebendige Metapher7 bezeichnet das Ende dieser oft schwierigen Periode. Sie darf als eine andere Formulierung des Satzes über das Symbol verstanden werden.

1.2 Einbildungskraft und Theorie der Handlung Die 1986 erschienene Aufsatzsammlung unter dem Titel Vom Text zur Handlung8 macht für Ricoeur eine Fortsetzung des Konflikts der Interpretationen aus. Die beiden Bände bilden ein Essay über die Interpretation. Diese beiden Titel dokumentieren vortrefflich die Entwicklung Ricoeurs. Statt eines Konfliktes untersucht der zweite Band die neue Problematik Ricoeurs, die eine Theorie der Handlung zum Hauptproblem macht. Die Frage der Einbildungskraft, die seit der griechischen Geburt der Philosophie und besonders seit Aristoteles ein Hauptthema der Philosophie bildet, gehört zum Motto: „das Symbol gibt zu denken". Kant ist die Hauptreferenz, da die kritische Wende 1781 mit der Kritik der reinen Vernunft zuerst in der Entdeckung der Rolle der Einbildungskraft im Schematismus besteht.

4 5 6 7 8

Ibid., S. 324-330. - Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59. P. Ricoeur, 1965, De Vinterpretation, Essai sur Freud, Paris, Seuil. P. Ricoeur, 1969, Le conflit des interpretations, Essais d'hermeneutique, Paris, Seuil. P. Ricoeur, 1975, La metaphore vive, Paris, Seuil. P. Ricoeur, 1986, Du texte α Γaction, Essais d'hermmeneutique, II, Paris, Seuil.

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1.3 Bild und Sprache Ich beschränke mich auf einen wichtigen Aufsatz über die Einbildungskraft. Der Titel lautet: „Die Einbildungskraft in der Rede und in der Handlung", mit dem Untertitel: „Nach einer allgemeinen Theorie der Einbildungskraft" 9 . Das Bild ist das eigentliche Produkt der Einbildungskraft. Der erste Schritt besteht darin, das Bild nicht mehr als eine defiziente Empfindung, sondern als einen Bestandteil eines Sprechaktes 10 zu betrachten. Der eigentliche Ort des Bildes ist nämlich die Metapher als lebendige Metapher.11 So erscheint die Bedeutung dieses 1976 erschienenen Buches. Die lebendige Metapher ist die Bewegung der sich ereignenden Metapher, während die auf das Resultat reduzierte Metapher eine tote Metapher ist. Nun ist die Metapher nach Ricoeur keine beliebige Wortsubstituierung (statt „Mut" setze ich „Löwe" ein). Die Metapher gehört zur ersten Einheit der Rede, dem Satz. Deshalb beinhaltet die Metapher die Referenz und die Kommunikation. 12 Die Metapher, die nach Kant eine Form des Symbols ist, bringt ein reflektierendes Urteil ins Spiel.13 Sie bringt eine Erweiterung der ausgesprochenen Realität hervor (der „Mut" betrifft nicht nur eine besondere Haltung, er gehört zu den vielfältigen Beziehungen, die den Stoff einer Welt weben. Bei Kant geht das bestimmende Urteil vom Allgemeinen zum Besonderen (Anwendung eines Naturgesetzes), während das reflektierende Urteil den umgekehrten Weg geht.14 Das Allgemeine ist aber in diesem Fall als die Totalität der Vernunft zu verstehen. Das Bild wird gesprochen, bevor es empfunden wird, dieser Satz gilt als Leitfaden dieser Überlegung. Das Bild bringt einen Ubergang zu einer anderen Realität hervor. Sie besitzt eine referenzielle Kraft zweiter Ordnung (die erste Ordnung ist die der Feststellungen der Tatsachen, die zweite die ganze Ordnung des Verstehens).15

9 P. Ricoeur, 1986a, L'imagination generale

de l'imagination,

dans le discours et dans l'action, Pour une

in: P. Ricoeur, 1986, S. 213-236.

10 Ibid., S. 216-217. 11 Ricoeur, 1975. 12 Ibid., S. 88-100.

13 Kant, Kritik der Urteilskraft, 14 Ibid., Einleitung, IV. 15 Ricoeur, 1986 a, S. 220-221.

§ 59.

theorie

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1.4 Der Raum für die Handlung Daraus folgt die Rolle der Einbildungskraft in der Handlung. Das Bild stellt nicht nur das Objekt der Handlung (ζ. B. einen Besuch zu machen) dar, sondern auch die Welt der Handlung (den Kontext des Besuchs). Diese zum Bild gehörende Darstellung verbindet die raumzeitliche Besonderheit und die Ganzheit des reflektierenden Urteils. So kann sie als ein „reduziertes Modell" gebraucht werden. Sie ermöglicht eine erste Hervorbringung der Handlung in der Einbildungskraft. Die für mich zugängliche Möglichkeit der Handlung wird auf eine konkrete Weise erfahren. Freilich bleibt die effektive Verwirklichung unentbehrlich. Durch das Bild und nur durch es wird dennoch der Entwurf als solcher zur konkreten Wirklichkeit.16 Die „Wiederholung durch Einbildungskraft und Sympathie" lässt mich ein Machenkönnen erfahren.17 Wie in einer lichtvollen Lichtung wird das Entwerfen zu einem Können.

1.5 Das den Wirkungen der Geschichte ausgesetzte Subjekt Das so erweiterte Bildbewusstsein kann nicht auf das bloße Individuum beschränkt werden. Es konstituiert ein soziales Bildbewusstsein. Es handelt sich um die Lebenswelt Husserls, auf den sich Ricoeur ausdrücklich beruft. In diesem sozialen Bildbewusstsein kann das Analogieprinzip Husserls ins Spiel gebracht werden. Nach diesem Prinzip gestalten sich die verschiedenen Beziehungen, die die menschliche Welt ausmachen. Es handelt sich dabei durchaus nicht um Vernunftschlüsse, durch die ich aus dem Verhalten anderer Wesen auf deren mögliches Menschsein schließe. Solche Analogien betreffen ein Können und gehen nicht von mir auf die anderen über, sondern umgekehrt von den anderen auf mich. Was andere Mitmenschen haben machen können, das kann ich ebenso machen. So entsteht für mich eine Welt von Vorgängern und Gefährten. So wird das Subjekt der Wirkung der Geschichte ausgesetzt.18 So mündet die durch die lebendige Metapher geführte Überlegung in das dreibändige „Zwillingswerk" (wie Ricoeur selbst sagt) Zeit und 16 Ibid., 224-225. 17 Vgl., supra N . 3. 18 Ricoeur, 1986 a, S. 225-228.

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Erzählung19. Die Zeit als menschliche und geschichtliche Zeit wird nur dadurch zur Wirklichkeit, dass sich das Entstehen der Ahnen und das Zusammensein der Gefährten in und durch eine Erzählung ereignet. Die Mythen gehören zur Erzählung. Unsere Modernität unterscheidet zwischen der „erdichteten Geschichte" und der „gelehrten Geschichte". Sowohl die zweite als die erste sind als Erzählungen zu verstehen.20

2. Die Bezeugung und die Frage der Ethik Das 1990 erschiene Werk Das Selbst als ein Anderer21 setzt die Reflexion Ricoeurs über die Handlung fort. Die auf das Selbst gerichtete Überlegung bedeutet jedoch eine Auseinandersetzung mit der im Selbst als Cogito enthaltenen Frage der Begründung, sogar der letzten Begründung 22 . Der Titel selbst kündigt eine Kritik einer solchen letzten Begründung an, indem er das Selbst mit seinem scheinbaren Gegenteil, nämlich dem Anderen, verknüpft. So betritt Ricceur einen durch die „postmoderne" Fragestellung eröffneten Weg. Die Bezeugung stellt seine eigene Antwort dar.

2.1 Die Bezeugung und die Frage der letzten Begründung Der Titel des letzten Kapitels des Werkes lautet „Auf welche Ontologie hin" 23 . Der Weg nach einer Antwort befindet sich im Begriff von Bezeugung (attestation), der nach Ricceur selbst als Leitfaden für das ganze Werk dienen kann. Das Problem der Bezeugung ist auf eine doppelte, nämlich negative und positive, Weise zu stellen. Negativ tritt die Bezeugung in der Frage der Selbstbegründung des Selbst auf. Zwei Gestalten bestimmen das Feld dieser Meditation, Descartes und Nietzsche. Descartes kann als derjenige gelten, der der Frage des Subjektes mit seinem „Cogito" ihre moderne Fassung gibt. Das im Rahmen der modernen mathematischen 19 P. Ricoeur, 1983-1985, Temps et redt, I, L'intrigue et le recit bistorique, guration dans le recit de fiction, I I I , Le temps raconte, Paris, Seuil.

II, La confi-

20 Ricoeur, 1986a, S. 224-226; vgl. die Untertitel, Temps et recit, Bd I und Bd II. 21 P. Ricoeur, 1990, Soi-meme

comme un autre, Paris, Seuil.

22 Ibid., S. 14-15. 23 „Vers quelle ontologie?", Ibid., S.345.

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Wissenschaften erarbeitete „Ich denke" bietet ein Modell der Gewissheit an, das das erste Kennzeichen jeder Wissenschaft ist. Dadurch gehört es zur Grundlegung der Wissenschaft. In den Betrachtungen bildet es den Ausgangspunkt für die Suche nach dem Wesen des Subjekts in der Welt, den Ausgangspunkt also für die ganze Philosophie. Im Bezug auf dieses Moment des cartesianischen Denkens darf man von einer Anmaßung des „Cogito" sprechen. 24 Auf der anderen extrem entgegengesetzten Seite befindet sich Nietzsche, der diese Anmaßung zur Lüge erklärt, um das „Cogito" entsprechend zu demütigen. Sie bietet nämlich nur scheinbare Stützpunkte in der endlosen Reihe der Interpretationen, die die Sprache ausmachen. 25 Die Bezeugung vermag sowohl den Hochmut der Selbstbegründung als auch die Demütigung der Grundlosigkeit zu vermeiden. Die positive Dimension der Bezeugung will die auf der Vernunft beruhende Würde nicht vergessen. Sie beansprucht dennoch keine Selbstgenügsamkeit, obgleich ein solcher Zug dem Wesen der Vernunft entspricht. Die Vernunft verfügt nicht über das Ganze des Vernünftigen. Sie ist also in dieser Hinsicht fremd im eigenen Hause. Sie erfährt eine Grenze. Eine Grenze heißt aber nicht nur Mangel. Sie weist auf ein anderes Land hin, das die eigene Identität ermöglicht. Das ist sogar die Bedingung, um der endlosen Suche nach dem Grund ein Ende zu setzen. Die scheinbare Begründung durchläuft eine gleichförmige Reihe. Die wirkliche Begründung erfordert den Ubergang zu einem ganz anderen Niveau. Sie entspricht also dem heideggerschen Schritt, der von der flachen Ebene des Seienden her auf das grundliegende Sein zurückweist. Diese Rückkehr zu den Wurzeln kündigt auch eine Verheißung an. Jede Gegenwart ist Ubergang. Dieselbe Geste, die eine Vergangenheit abschließt, eröffnet eine Zukunft. Die Bezeugung ist ein „modus essendi", eine Art der Existenz, die Art nämlich, die in der Sicherheit besteht, einer sich auf der Ebene des Seins eingerichteten Existenz. Sie ist zuerst Sicherheit, die von der Gewissheit zu unterscheiden ist, insofern die Sicherheit eher eine Haltung als eine Erkenntnis kennzeichnet, da sie zunächst das Handeln betrifft. Sie wurzelt aber in der Quelle jeder Sicherheit, in der Vernunft, die sowohl den Handlungen als auch den Gedanken ihre Richtigkeit gibt. Sie besteht dennoch in keinem spekulativen Verfahren, noch in einer der Natur des vernünftigen Wesens entnommenen Folgerung. Etwas geht 24 Ibid., S. 15-21. 25 Ibid., S. 22-27.

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der Vernunft voraus. Sie muss auf ihre Vorfahrt verzichten, obwohl diese aus ihrem Wesen folgt. 26

2.2 Die Bezeugung verweist auf eine Ontologie Ricoeur übernimmt also die heideggersche Frage nach dem Sein. Dadurch unterscheidet er sich von Levinas, obgleich ihre Verwandtschaft tiefgreifender ist als der Unterschied. Ricoeur spricht nämlich von einer in der Betrachtung des Selbst zum Vorschein kommenden ontologischen Heftigkeit (einer vehemence ontologique) 27 , die der ethischen Dimension der Seinsfrage zuzuschreiben ist, und die in der Bezeugung ins Licht kommt. Insofern die Bezeugung auf das im Cogito verwurzelte, jede Seinsaussage bewahrheitende Identitätsprinzip verzichtet, nimmt sie von jedem Anspruch auf eine letzte Begründung Abschied. Sie bedeutet jedoch keine anarchistische Zersplitterung des Seins. Sie bekundet eine analogische Einheit der Handlung. 28 In dieser Hinsicht bekennt sich Ricoeur ausdrücklich zu der aristotelischen Tradition. Das Paradoxon der Handlung besteht nämlich darin, dass die durch das in jeder Entscheidung beinhaltete Scheiden hervorgebrachte feste Bestimmung nicht bestehen kann, da sie zugleich eine zeitliche Bestimmung ist. Dabei kann aber das aristotelische Kategorienpaar von Potenz und Akt, Möglichkeit und Wirklichkeit helfen. Auf dem langen Weg, wo sich das Selbst als einen Anderen (bzw als ein Anderes) entdeckt und bildet, erfährt es sich zugleich als idem (was der durch das „Selbst" erforderten Selbstständigkeit und Stabilität entspricht) und als ipse (was die konstitutive Abhängigkeit von einem Anderem bzw. von etwas Anderem bedeutet). Die auf einem solchen Selbst beruhende Handlung kann sich nur auf die Bezeugung berufen, die auf einen zugleich wirklichen und potentiellen Grund hin verweist, aus dem das Handeln hervorgeht. 29 Ich kann die Bezugnahme Ricoeurs auf den conatus Spinozas, der das Beharren im Sein bedeutet, nur erwähnen. Dadurch möchte ich nur auf einen sich von dem heideggerschen Vorsatz entfernenden Zug des Denkens Ricoeurs hinweisen, nämlich auf die Suche nach einer Konti26 Ibid., S. 33-35. 27 Ibid., S. 350. 28 Ibid., S. 351-352. 29 Ibid., S. 357.

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nuität in der philosophischen Tradition, wo die Umwandlungen verwurzelt sind. 30

2.3 Ethik, Moral, Weisheit Durch diese drei Begriffe möchte ich den Denkprozess Ricoeurs skizzieren, wo seine Ontologie ihre eigene Gestalt erlangt und sich von Heidegger auf entscheidende Weise unterscheidet. Dadurch knüpft er an den Grundgedanken Levinas' an, die Ethik zur ersten Philosophie zu machen. 3 ' Der Begriff Ethik bekommt jedoch bei Ricoeur eine besondere Prägung, indem er die verschiedene, griechische und lateinische, Herkunft der Worte benützt, um damit einen wichtigen begrifflichen Unterschied auszudrücken. Ethik bezeichnet die Welt der Handlung, insofern sie auf verschiedene Werte zielt, die ein „gutes Leben" ausmachen. Es handelt sich um alles, was das Glück des Menschen herbeiführt, dessen Formen von den Umständen abhängen. Es handelt sich um echte Werte, die man nicht unterschätzen darf. Dabei beruft sich Ricoeur auf Aristoteles, der eine der Säulen des philosophischen moralischen Denkens darstellt. 32 Die andere Säule ist Kant, bei dem die moralische Reflexion als Moral hervortritt, insofern diese die mit der menschlichen Handlung verknüpfte Verpflichtung darstellt. Der Bestimmungsgrund der Handlung liegt nicht in den das übrigens ehrenvolle Glück schaffenden Werten, sondern in dem kategorisch gebietenden Gesetz. Ricoeur ist der Meinung, dass erst dieser Schritt das Niveau des Menschlichen erreicht. 33 Das letzte Wort jedoch, so Ricoeur, gehört Aristoteles. Die aus der Achtung des Gesetzes beschlossene Handlung ist eine konkrete Handlung, die sich um die das Schicksal der Mitmenschen bestimmenden Wirklichkeiten kümmern soll. Die Klugheit (prudentia) tritt als die Grundtugend hervor. Man darf von praktischer Weisheit sprechen. 34 30 Ibid., S. 365-367. 31 E. Levinas, 1984, Ethique comme philosophic premiere, in XIX°Congres des Societes de Philosophie de langue franijaise, Justifications de I'Ethique, ed. de l'Universite de Bruxelles, S.41-51. 32 P. Ricoeur, 1990: Soi-meme comme un autre, Sixieme etude, Le soi et la visee ethique, S. 199 f. 33 Ibid., Septieme etude, Le soi et la norme morale, S.237f. 34 Ibid., Neuvieme etude, Le soi et la sagesse pratique: la conviction, S.279f.

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Ricoeur will nicht sagen, dass die moralische Reflexion Kants eine solche wesentliche Dimension des Handelns übersehen hätte. Der zweite Schritt, der der Moral, sollte vielmehr den unersetzbaren Beitrag Kants hervorheben. Das dritte und letzte Moment ist bei Ricoeur auch durch die Erzählung gekennzeichnet. Sie vermag die Hoheit des Menschen, der um des Sinns des Lebens willen auf das Glück, ja sogar auf das Leben, verzichten kann. Das letzte Wort jeder solchen Erzählung lautet: „Hier bin ich", „Me voici" (197); ein Wort, das sich dem Aufruf durch das Gesicht des Anderen bei Levinas nähert, das aber die Härte der zwischen mir und dem Anderen entstehenden Asymmetrie in der Betrachtung Levinas' etwas mildern möchte. 35 Die Bezeugung steht zwischen zwei entgegengesetzten Haltungen, nämlich zwischen der Anmaßung und der Entmutigung. Die erste verneint die eigenen Grenzen und verachtet die anderen Mitmenschen. Die zweite sperrt alle Wege der Hoffnung. Der „modus essendi" der Bezeugung stellt den Raum zur Verfügung, wo der Mensch die eigene Zweideutigkeit bekennen und zugleich den Weg der Genesung antreten kann. In den letzten Jahren hat Ricoeur mehrmals an Diskussionen über eine der wichtigsten Fragen der Nachkriegszeit teilgenommen, wo die abwägende Vernunft am meisten angefordert ist, nämlich die Frage der Vergebung. Diesen Beitrag Ricoeurs kann ich hier nur erwähnen. Das Dilemma zwischen der Pflicht des Gedächtnisses und dem jedem Schuldigen gebotenen Raum des Neuanfangs ist schwer zu lösen. Eine Form der Bezeugung ist das Mitleidsgefühl, das niemandem die Hoffnung verweigert. 36

35 Ibid., S. 197-198; vgl. E . Levinas, 1974, Totalite et infini, Essai sur l'exteriorite, Nijhoff, L a Haye, S. 38: „presence venant des hauteurs" (Von den Höhen kommende Anwesenheit). 36 P. Ricoeur, 2000, La memoire,

l'histoire, l'oubli, Seuil, Paris, besonders S. 6 3 7 - 6 4 2 .

Abwägende Vernunft im Kontext kausaler Handlungstheorien EDMUND RUNGGALDIER

1. Einleitung Ist Ricken's Anliegen der abwägenden Vernunft auch im Kontext der naturalistisch geprägten kausalen Handlungstheorien vertretbar? Obwohl die Antwort negativ ausfällt, möchte ich diese Theorien differenziert sehen. Was sind ihre Motivationen? In der Kantischen Tradition unterscheiden wir selbstverständlich zwischen Ursachen und Gründen: Auf Ursachen rekurrieren wir, wenn wir Ereignisse erklären, auf Gründe, wenn wir angeben, warum sich Menschen für ganz bestimmte Handlungen entscheiden. Naturalistische Handlungstheoretiker wenden sich gegen die Tendenz, in folgenden Dualismus zu flüchten: Auf der einen Seite gehe es um intersubjektiv nachprüfbare Erklärungen, auf der anderen um die im Alltag und in der ethischen Diskussion verbreiteten Handlungserklärungen. Sie wollen verstehen, inwiefern die Angabe von Gründen erklärungsrelevant ist, und fragen nach der Wirksamkeit von Gründen. Sie bringen somit Gründe in die Nähe von Ursachen. Davidson selber setzt sie sogar mit Ursachen gleich (Davidson, D., 1982). Unterschiede zwischen Handlungstheorien hängen von ontologischen Positionen ab. Die von den kausalen Handlungstheorien vorausgesetzten Tendenzen sind zu eng, um eine überzeugende Uberbrückung der Kluft zwischen den zwei Bereichen zu ermöglichen. Sie sind für naturwissenschaftliche Zielsetzungen geeignet, nicht aber für Erklärungen aus dem Bereich der praktischen Vernunft. Wegen ihrer monistischen Tendenzen neigen sie dazu, einen Typ von Erklärung und Kausalität zu verallgemeinern. Mit gutem Grund wird heute überlegt, ob man trotz Hume und Kant die klassische Agens-Kausalität wieder berücksichtigen soll. Die häufig als obsolet hingestellte Ziel- und Wirkursächlichkeit erweisen

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sich als hilfreich, die Absichtlichkeit als notwendige Bedingung für Handlungen und deren moralische Bewertung besser zu verstehen. Versteht man die Ontologie als rein theoretische Disziplin, so wird man sich damit begnügen, die ontologischen Voraussetzungen bzw. Implikationen von rein wissenschaftlichen Beschreibungen und Erklärungen zu explizieren. Versteht man die Ontologie andererseits als Disziplin, die Voraussetzungen auch der praktische Rationalität zu klären hat, so kommt man ohne handelnde Subjekte nicht aus. Man braucht eine reichere Ontologie, in der Platz ist für aristotelische Substanzen, heute auch „endurers" oder „Kontinuanten" genannt. Rickens Anliegen der abwägenden Vernunft ist ernst zu nehmen. Dafür braucht es aber entsprechende Handlungstheorien. Die rein kausalen Handlungstheorien erweisen sich durch ihre engen ontologischen Voraussetzungen als nicht geeignet. In diesem Beitrag bemühe ich mich zwar, Verständnis für ihre Motivation aufzubringen, aber auch für die Vielfalt von Erklärungstypen und eine entsprechende multi-kategoriale Ontologie einzutreten.

2. Das Problem der Absichten Handlungstheorien sollen helfen zu verstehen, was den Unterschied zwischen natürlichen Geschehnissen und Handlungen ausmacht. Handlungen werden in der Regel als etwas bestimmt, das ein Subjekt absichtlich hervorbringt. Was jemand tut, gilt nur dann als Handlung, wenn er es beabsichtigt. Es kann zwar unterschiedlich beschrieben werden und muss somit nicht unter jeder Beschreibung absichtlich sein, wenn es aber unter keiner Beschreibung absichtlich ist, ist es lediglich etwas, das dem jeweiligen Subjekt widerfährt. Auch in der aristotelischen Philosophie galt die Absicht oder das Bestreben, ein Ziel zu erlangen, als notwendige Bedingung für Handlungen. Die jeweilige Absicht des Handelnden ist bereits deshalb relevant, weil die Art (species) der Handlung aufgrund der dahinter stehenden Absicht bestimmt wird. Was jemand handelnd tut, kann je nach Absicht ζ. B. Mord oder lediglich fahrlässige Tötung sein. Handlungstheorien stimmen zwar darin überein, dass es bei der begrifflichen Bestimmung der Handlung auf die Absicht ankommt. Sie divergieren aber in der Erklärung, worin die jeweilige Absicht besteht und wie sie wirkt. Die unterschiedlichen Bestimmungen der Absicht sind nicht nur auf verschiedene Ansätze in den Theorien zurückzufüh-

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ren, sondern auch auf unterschiedliche ontologische und weltanschauliche Positionen. Sie hängen schließlich mit der dornigen Frage zusammen, wie es um die Entscheidungsfreiheit des Menschen steht. Die begriffliche Bestimmung der Absicht wirft bereits deshalb Probleme auf, weil der Handelnde in der Regel aufgrund mehrerer Absichten handelt: Indem er etwas Bestimmtes beabsichtigt, beabsichtigt er auch anderes. Er verfolgt ein bestimmtes Ziel, weil er dadurch ein anderes, und durch dieses eine weiteres Ziel ins Auge fasst. Warum hat Peter die Absicht, eine Prüfung abzulegen? Er beabsichtigt es, weil er die Absicht hat, das Studium zu absolvieren. Indem er die Absicht hegt, Prüfungen abzulegen, beabsichtigt er die Absolvierung des Studiums. Die Verknüpfung der Absichtsbeschreibungen untereinander erfolgt durch den Ausdruck „indem" und wird daher in der analytischen Terminologie „ by-relation" genannt. Indem der Handelnde Α beabsichtigt, beabsichtigt er B. Es gilt aber auch: Indem er A', A", A'",... beabsichtigt, kann er ebenfalls Β beabsichtigen. Wegen der Verästelungen können wir so genannte Absichtsbäume bilden. Die vielen verschiedenen Absichten konvergieren in höheren Absichten. In klassischer Terminologie ausgedrückt: die fines proximi setzen einige wenige fines remoti voraus. Um eine höher geordnete Absicht zu verfolgen, hat der Handelnde in der Regel viele andere Absichten. Wie sind nun die Absichtsbäume zu deuten? Beziehen sich die durch die „ by-relation" verknüpften Ausdrücke auf unterschiedliche Absichten oder sind sie lediglich verschiedene Beschreibungen ein und derselben Absicht? Es gibt feinkörnige und grobkörnige Deutungen. Naturalistisch eingestellte Denker tendieren zu grobkörnigen Deutungen: Man soll die Entitäten nicht unnötigerweise vermehren (Siehe z.B.: Goldman, Α., 1970). Wir haben gesehen, dass die Frage nach den Absichten verschiedene Probleme hervorruft. Naturalisten konzentrieren sich dabei vornehmlich auf die Frage nach der Wirksamkeit der Absichten. Warum und inwiefern sind sie für Handlungen ausschlaggebend? Die Frage steht im Rahmen der weiteren Frage nach der sogenannten mental causation·. Wie können mentale oder psychische Gegebenheiten in der erfahrbaren und intersubjektiv beschreibbaren Realität wirksam werden? (Das Problem der Wirksamkeit der Absichten wurde in den scholastischen Traktaten im Kontext der causa finalis behandelt. Siehe ζ. B. Suärez, Disputationes Metaphysicae, dd. 12-27) Die neuere Debatte in der Handlungstheorie wirft das Problem der Spannung zwischen dem Bereich der Kausalität, in dem Naturgesetze

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gelten, und dem Bereich der Freiheit, in dem Handlungen möglich sind, erneut auf. Im einen Bereich spricht man von theoretischer, im anderen von praktischer Vernunft oder Rationalität. Ziele und entsprechende Absichten fallen in den Bereich der praktischen Vernunft. Wie verhalten sich aber die zwei Bereiche zueinander? Eine prinzipielle Trennung impliziert eine Art Dualismus, wie sie heute in der Tradition Kants und des Frühen Wittgensteins vertreten wird. Naturalisten wenden sich vornehmlich gegen eine derartige dualistische Trennung.

3. Hintergrund der kausalen Theorien Im Alltag fragen wir selbstverständlich nicht nur nach Ursachen im wissenschaftlichen Sinne, sondern auch nach Zielen und Zwecken, d.h. nach der klassischen Zielursächlichkeit. Nach Zielen fragen wir besonders dann, wenn wir verstehen wollen, warum Menschen auf eine bestimmte Art handeln und was sie durch ihre Entscheidungen beabsichtigen. Die alte Frage nach der Zielursache hängt mit der Frage nach den Absichten zusammen. Der in der Moderne entbrannte philosophische, vornehmlich wissenschaftstheoretische Streit über die Brauchbarkeit der Zielursache scheint jedoch entschieden: Die Teleologie bewährte sich für Erklärungen nicht. Die Zielursache ist für eine gültige wissenschaftliche Erklärung nicht brauchbar. Der Fortschritt in den Naturwissenschaften dürfte in der Tat durch Zurückdrängung von teleologischen Überlegungen beschleunigt worden sein. Auch in den biologischen Wissenschaften, in der Botanik und Zoologie, erweisen sich teleologische Erklärungen als problematisch. Wird in der Wissenschaft nach den Ursachen von eingetroffenen Geschehnissen gefragt, will man sie erklären, so fragt man nicht nach der Zielursache. Man fragt auch nicht nach der klassischen Wirkursache, nämlich danach, wer oder was das zu Erklärende hervorgebracht hat. Sondern man fragt nach Ereignissen und Bedingungen, die zusammengenommen für das Einreffen des zu erklärenden Geschehnisses hinreichend waren. In der Kausalitätsdebatte wird die vorausgesetzte Art von Kausalität „Ereigniskausalität" genannt, weil durch sie Ereignisse auf andere Ereignisse als ihre Antezedensbedingungen zurückgeführt werden. Das sogenannte deduktiv-nomologische Erklärungsschema hilft, die Ereigniskausalität zu explizieren. Ε sei das zu erklärende Ereignis:

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Wir fragen, warum geschah es? Zur Beantwortung dieser Frage wird auf die Antezedensbedingungen, d. h. auf gewisse andere Ereignisse und Zustände Ε 1 , E 2 ,..., E n und auf ein Gesetz oder auf mehrere Gesetze L 1 , L 2 ,..., L n verwiesen, so dass klar wird, dass aus Ε 1 , E 2 ,..., E n aufgrund von L1, L 2 ,..., L n Ε mit Notwendigkeit folgte. Ε ist das Explanandum, und Ε 1 , E 2 ,..., E n und L 1 , L 2 ,..., L n sind das Explanans. Durch den Ausdruck „deduktiv" wird angedeutet, dass das zu erklärende Ereignis aufgrund der Antezedensbedingungen eintreten musste, dass es also daraus deduzierbar ist. Durch den Ausdruck „nomologisch" wird auf den Gesetzescharakter der angesprochenen Zusammenhänge verwiesen. Ereigniskausalität darf nicht verwechselt werden mit der Wirkursächlichkeit. Bereits aus den klassischen aristotelischen Beispielen geht hervor, dass die causa agens jeweils ein agierender oder handelnder Mensch ist. Das typische aristotelische Beispiel ist der Handwerker, der eine Flöte oder ein Bett herstellt. Gilt für wissenschaftliche Erklärungszwecke die Zielursache als obsolet, so mit gleichem Recht auch die Wirkursache. Nach allgemeiner Auffassung hat Hume die Uberwindung des alten Kausalitätsdenkens zugunsten der modernen Auffassung am besten zum Ausdruck gebracht. Die Vorstellung, es brauche einen inneren Wirknexus zwischen der Ursache und ihrem Effekt, sei Folge einer illegitimen Übertragung vom Menschen auf die Natur. Was wir als Handelnde subjektiv erleben, dürfe nicht auf die Natur und die Zusammenhänge zwischen Ereignissen projiziert werden. Der Aufklärer Hume gilt als Sprachrohr jener, die Mystifizierungen bekämpfen und sachliche Erklärungen der Naturphänomene anstreben. Die wissenschaftstheoretische Deutung von kausalen Relationen anhand von zusammengenommen hinreichenden Bedingungen ist weltanschaulich neutral. Sie setzt keine Vorstellungen von Kräften (powers) voraus: Ausschlaggebend für eine Erklärung ist die Angabe von Bedingungen aufgrund von gesetzesartigen Zusammenhängen. Die Notwendigkeit dieser Zusammenhänge dürfe ebenfalls nicht mit inhaltlichen Vorstellungen einer Wirkkraft vermengt werden. Die Humesche Kritik favorisierte die Entwicklung verschiedener deflationärer Auffassungen des kausalen Nexus (siehe Posch, G., 1981). Kausalaussagen und kausale Erklärungen werden heute auf Regularitätszusammenhänge, probabilistische Beziehungen, kontrafaktische Konditionale oder eben notwendige und zusammengenommen hinreichende Bedingungen zurückgeführt. Diese unterschiedlichen theoreti-

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sehen Ausfaltungen haben verschiedene Verfeinerungen erfahren. Zum Hintergrund der neueren Debatten über die Wirksamkeit von Absichten gehört jedenfalls die Uberzeugung, dass durch den Siegeszug der modernen Naturwissenschaft nicht nur Final-Erklärungen, sondern auch Wirk-Erklärungen überwunden wurden. Die Rede von Ziel- und Wirkursachen sei obsolet. Die angesprochene Uberzeugung betrifft den wissenschaftlichen Bereich. Sie besagt nicht, dass die Rede im Sinne der Wirk- und Zielursächlichkeit mit den entsprechenden Erklärungen auch im Alltag obsolet sei. Die für praktische Alltagszwecke so zentrale Art der Handlungserklärungen wäre ohne Angabe von Handlenden und ihren Absichten nicht möglich. Auch moralische Bewertungen von Handlungen aufgrund von Absichten sowie das Anliegen der abwägenden Vernunft wären problematisch. In unserem Alltag sind wir zutiefst davon überzeugt, dass wir in den Gang der Geschichte eingreifen. Wir sind verantwortlich für das, was wir absichtlich hervorrufen. Bereits durch alltägliche Redeweisen macht sich eine bestimmte Zweiheit bemerkbar: theoretische Rationalität einerseits und praktische andererseits. Als vernünftig oder rational gelten auf der einen Ebene epistemische Haltungen und entsprechende Annahmen und auf der anderen Ebene Entscheidungen und Handlungen. Theoretische Rationalität bezieht sich auf den Bereich der Uberzeugungen, des Erkennens und Wissens, praktische Rationalität hingegen auf jenen des Wollens, Beabsichtigens und Handelns. Seinsfragen dürfen nicht vermengt werden mit Sollensfragen. Wegen der Unterschiede zwischen den zwei Bereichen der theoretischen und praktischen Vernunft drängt sich ein bestimmter Dualismus auf. Die konsequent durchgeführte Trennung zwischen theoretischer und praktischer Rationalität führt zur These, dass den Handlungserklärungen und der Angabe von Gründen für Handlungsentscheidungen keine kognitive Rolle zukommt. Sie hätten keine theoretische und explikative Funktion, sondern lediglich eine praktische Rolle. Wie schon für die Vertreter des Wiener Kreises und den Frühen Wittgenstein seien nur intersubjektiv überprüfbare und der Forschergemeinschaft zugängliche Aussagen wahrheitsfähig. Extreme Formen erfuhr diese Einstellung in verschiedenen Varianten des Positivismus. Auffallend ist, dass viele Menschen faktisch einen derartigen Dualismus vertreten. Auf der einen Seite gehe es um Erkenntnis, auf der anderen um Handlungs- oder Lebensentscheidungen. Im einen Fall gebe es Kausalität, im anderen Freiheit der Entscheidung. Wofür sich Men-

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sehen mit der faktischen Wahl ihrer Lebensziele entscheiden, entziehe sich rationalen Überlegungen. Rationale Überlegungen dienten lediglich, um zu klären, wie jene Ziele, für die man sich entschieden hat, verwirklicht werden können. Diese Art von Dualismus ist aber auf Dauer nicht zufrieden stellend. Irgendwann drängt sich die Frage auf, wie die zwei Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft miteinander zusammenhängen. Besonders aktuell werden die Probleme der prinzipiellen Trennung dann, wenn gefragt wird, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Mit den geschilderten dualistischen Tendenzen können sich die Naturalisten nicht abfinden. Ihre kausalen Handlungstheorien sind Ausdruck des Bemühens, die Kluft zwischen den Bereichen der theoretischen und praktischen Vernunft zu überwinden. Die ethische Rede und die alltägliche Praxis der Handlungserklärungen seien zu wichtig, als dass man sie allein der Pragmatik überlassen könne. Sie dürften sich nicht dem Zugriff der Wissenschaft entziehen (Bishop, J., 1989, 5f.). Aber auch die kausalen Handlungstheorien bieten ihrerseits keine überzeugenden Lösungsansätze.

4. Probleme der kausalen Handlungstheorien Kausale Handlungserklärungen haben dieselbe Struktur wie die sonstigen kausalen Erklärungen: Eine Handlung (expanandum) wird auf Antezedensbedingungen zurückgeführt, die für die Auslösung der Handlung ausschlaggebend waren (explanans). Obwohl es sich um mentale Gegebenheiten handelt, werden diese Bedingungen wie Ursachen betrachtet. Sie gelten als zusammengenommen hinreichend für die Auslösung der zu erklärenden Handlung. Den unterschiedlichen Varianten der kausalen Theorie ist gemeinsam, dass Absichten ihrerseits auf Wünsche und Überzeugungen zurückzuführen sind: Die Person X hat die Absicht A, weil sie den Wunsch hat, dass p, und die Überzeugung hegt, dass durch Verwirklichung von Α ρ herbeigeführt wird. Die Varianten der kausalen Handlungstheorien ergeben sich aus unterschiedlichen Ergänzungen dieser den Absichten voraus liegenden Bedingungen. Kausale Handlungstheorien sind mit vielen Problemen verknüpft: Wie sollen Absichten als Ursachen wirken können? Der Terminus „Absicht" ist zweideutig. Damit kann der mentale Akt des Beabsichti-

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gens sowie der intentionale Gegenstand, d. h. der beabsichtigte Sachverhalt, gemeint sein. Der Akt lässt sich leichter naturalisieren, d. h. als relatum einer kausalen Ereignisrelation verstehen. Wenn man im Alltag Gründe für Handlungen angibt, so intendiert man aber in der Regel nicht den Akt des Beabsichtigens, sondern das Beabsichtigte. Der intentionale Gegenstand entspricht dem Ziel oder der klassischen causa finalis. Was nach unserer alltäglichen Einstellung mit der Angabe der Gründe als Absichten verstanden wird, ist der beabsichtigte Inhalt oder Sachverhalt (siehe auch: Meixner, U., 2001, 350f.). Da er erst beabsichtigt und noch nicht realisiert ist, kann er nicht so wirken wie ein Akt des Wünschens oder Beabsichtigens. Besonders gravierend erweisen sich die Probleme der Indexikalität von Handlungen: Zu den für die Auslösung der zu erklärenden Handlung relevanten Bedingungen sind nicht nur allgemeine, sondern auch indexikalische Uberzeugungen zu rechnen. Der Handelnde ist überzeugt, dass er jetzt in diesen Umständen handeln soll, um den entsprechenden Wunsch zu verwirklichen. Die abwägende Vernunft muss die partikulären Umstände im hic et nunc berücksichtigen. Für die Behandlung dieses Fragekomplexes im Sinne des erwähnten Anliegens der Uberwindung von Dualismen braucht es entsprechende ontologische Voraussetzungen. Die von den Naturalisten gemachten erweisen sich als zu eng.

5. Ontologische Voraussetzungen Charakteristisch für den Naturalismus der kausalen Theorien ist die These einer bestimmten Kontinuität zwischen Philosophie und positiver Wissenschaft. Was real ist, müsse von der positiven Wissenschaft erfasst und erklärt werden können: „Any entities that are taken to exist should bear a relevant similarity to entities that characterize our best physical theories, their coming-to-be should be intelligible in light of the naturalistic causal story, and they should be knowable by scientific means." (Craig, W. L./Moreland, J. P., 2000, xii)

Unter ontologischer Rücksicht besagt der Naturalismus, dass alles, was existiert oder vorkommt, natürlich in dem Sinne ist, dass es den Methoden der positiven wissenschaftlichen Forschung - zumindest prinzipiell - zugänglich ist.

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Aufgrund dieser ontologischen Überzeugung wird die angepeilte Uberwindung der Kluft zwischen theoretischer und praktischer Vernunft letztlich im Versuch bestehen, den einen Bereich auf den anderen zurückzuführen. In der Tat, die Ontologie wird als rein theoretische Branche der Philosophie verstanden. In ihr gehe es darum, die allgemeinsten und letzten Konstituenten der Wirklichkeit zu individuieren. Das könne lediglich ein theoretisches Unterfangen sein. Die Frage nach der ontologischen Voraussetzung der Sinnhaftigkeit der praktischen Rede und der abwägenden Vernunft wird somit ausgeklammert. Auch der Zugang zur Kausalitätsproblematik ist geprägt von dieser Uberzeugung. Die naturalistische Auffassung der kausalen Relation und ihrer relata ist bestimmt durch die Bewährung in den theoretischen Wissenschaften. Die im Sinne des Naturalismus bewährten Ontologien sind die vier-dimensionalen Raum-Zeit-Ereignisontologien. Alles, was es gibt, sei auch zeitlich ausgedehnt und könne durch die zeitliche vierte Dimension abgebildet werden. Alle Entitäten füllten somit Raum-ZeitPortionen aus. Wenn zwei Entitäten raum-zeitlich koinzidieren, so seien sie auch numerisch identisch. Im Rahmen derartiger Ontologien sind keine Entitäten zugelassen, die im Laufe der Zeit mit sich selbst identisch bleiben. Es könne somit keine diachrone Identität geben, auch keine personale Identität. Wird der Begriff der Identität dennoch verwendet, so müsse Identität anders gedeutet werden. In der Regel wird sie auf eine schwächere Kontinuitätsrelation reduziert. Wer also explizit oder implizit ein naturalistisches Weltbild und eine naturalistisch-monistisch geprägte Ontologie teilt, der kann letztlich nur das eine in den theoretischen Wissenschaften bewährte kausale Erklärungsschema zulassen. Er wird somit die Kluft zwischen dem theoretischen und praktischen Bereich dadurch zu überwinden versuchen, dass er alltägliche Handlungserklärungen letztlich auf deduktivnomologische Ereigniserklärungen zurückführt. Wenn alles, was es gibt, Ereignischarakter hat, kann die Annahme von agentia nicht standhalten. Die Probleme, auf die der naturalistische Versuch stößt, einerseits dualistische Tendenzen zu überwinden, andererseits auch zu den engen naturalistischen ontologischen Prämissen zu stehen, haben erneut Überlegungen zur Kausalität gefördert: Könnte es neben der in den Wissenschaften bewährten Ereigniskausalität nicht doch auch andere Arten von kausalen Relationen geben? Handelt es sich bei der naturalistischen

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Standardauffassung vielleicht um eine fragliche Verallgemeinerung der Ereigiskausalität? Man spricht wieder von „agent-causality". Gewisse Tatsachen gibt es, weil Menschen sie durch ihr absichtliches Tun verursacht (caused) haben, und vieles hat sich ereignet, weil es durch handelnde Menschen absichtlich ausgelöst wurde. Handlungen wie Mord, Uberfall, Diebstahl usw. sind Erklärungsgrund für bestimmte Tatsachen oder Ereignisse. Vieles wird erst durch die Arbeit eines Detektivs verständlich. Diese alltäglichen Begründungszusammenhänge zwischen Handelnden und ihren Handlungen bzw. zwischen Handlungen und Tatsachen oder Ereignissen bilden den Hintergrund nicht nur der klassischen, sondern auch aktuellen Rede von der Agenskausalität. Selbst im Rahmen der Naturphilosophie wird Kausalität nicht mehr nur unter der Rücksicht der Humschen Regularitätsauffassung und der notwendigen und zusammengenommenen hinreichenden Bedingungen gedeutet (siehe auch: Keil, G., 2000). Dispositionen werden heute wieder unter kausalem Vorzeichen behandelt. Es gibt eine Renaissance kausaler Kräfte (powers) und Vermögen (capacities). In geeigneten Umständen aktivieren natürliche pariculars ihre Kräfte, die als kausaler Erklärungsgrund für ihr Wirken fungieren (Harre, R./Madden E.H., 1975). Die laufende Diskussion betrifft auch die Frage, ob die Auffassung der Ereignis- oder jene der Agenskausalität grundlegender sei. Bereits sprachphilosophische Untersuchungen führten die eine Redeweise auf die andere zurück. So meint ζ. B. Meixner, die Agenskausalität müsse für ein besseres Verständnis der Ereigniskausalität vorausgesetzt werden (Meixner, U., 2001, 363). Die Asymmetrie zwischen Verursacher und Verursachtem im Falle der Agenskausalität sei bereits auf die kategoriale Verschiedenheit der relata zurückzuführen: Das agens gehört der Kategorie der aristotelischen Substanzen an - heute auch „Kontinuanten" oder „endurers" genannt - , das Verursachte hingegen der Kategorie der Ereignisse. Kontinuanten sind im Unterschied zu Ereignissen drei-dimensional und existieren zu allen Zeitpunkten ihrer Existenz als Ganze und nicht nur als zeitliche Abschnitte. Sie gehen mit der Zeit oder bewegten sich in der Zeit. Kontinuanten können sich so wie aristotelische Substanzen im Laufe der Zeit verändern, d. h. zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften annehmen. Eine mehr-kategoriale Ontologie mit Kontinuanten hat den Vorteil, der intuitiven Auffassung zu entsprechen, dass menschliche Perso-

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nen diachrone Identität haben und dass ihnen zwei verschiedene Arten von Eigenschaften zukommen können, physische und mentale. Sie besitzen körperliche und intentionale Vermögen. Zu diesen Vermögen zählen auch die praktische sowie theoretische Vernunft. Es sind dieselben Kontinuanten, die sowohl allgemeine als auch indexikalische Urteile bilden. Für die Praxis der Abwägung von Gütern, für handlungsrelevante Überlegungen und für Handlungsentscheidungen ist die Berücksichtigung der Umstände im hic et nunc unerlässlich. Das ist aber nur durch indexikalische Urteile möglich. Sie setzen die Erste-Person-Perspektive voraus, Gegebenheiten, denen man in der Dritten-Person-Perspektive nicht gerecht werden kann. Ereigniskausalität und das deduktiv-nomologische Erklärungsschema haben sich für positiv wissenschaftliche Zwecke bewährt. Das impliziert aber nicht, dass sie für alle Zwecke geeignet sind. Versteht man Ontologie als allgemeinste Wissenschaft, die die letzten Voraussetzungen auch der praktischen Vernunft und somit der Intentionalität und Indexikalität zu berücksichtigen hat, so wird man der klassischen, erneut diskutierten Agenskausalität Raum geben. Mit diesen Voraussetzungen wird man der für den Alltag und die Ethik so wichtigen abwägenden Vernunft gerechter als mit rein naturalistischen Voraussetzungen.

6. Schluss Was bewegt die Dinge? Einerseits moventia, d.h. Naturereignisse, andererseits agenda, d. h. absichtlich handelnde Personen. Wir erklären daher Veränderungen, indem wir sie entweder auf andere Ereignisse (im Sinne des deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas) zurückführen oder aber auf handelnde Personen (im Sinne der Handlungserklärungen). Von Kant beeinflusste Standpunkte verleiten dazu, prinzipiell zwischen diesen Bereichen, zwischen dem der wissenschaftlichen Kausalität und dem der Freiheit und Verantwortung zu trennen. Naturalistisch gesinnte Denker bemühen sich, diese Trennung zu überwinden, erliegen aber wegen ihrer ontologischen Prämissen der Tendenz, doch nur die wissenschaftliche deduktiv-nomologische Erklärungsart und die entsprechende Ereigniskausalität gelten zu lassen. Der Hintergrund der kausalen Handlungstheorien ist einerseits ein bestimmter Dualismus, andererseits der naturalistische Monismus. Es gibt gute Gründe, beide Extreme zu vermeiden, indem man für eine multi-kategoriale Ontologie plädiert, in der neben Ereignissen auch

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Kontinuanten vorkommen. Im Rahmen derartiger Ontologien kann es neben Ereigniskausalität auch Agens- und Finalkausalität geben. Rickens Anliegen der abwägenden Vernunft ist ernst zu nehmen. Dafür braucht es aber entsprechende Handlungstheorien, die eine Vielfalt von Erklärungstypen und eine multi-kategoriale Ontologie voraussetzen.

Der Wahrheitsbegriff in der Ethik: Versuch einer Klärung LORENZ B . PUNTEL

1. Einleitung Ob ethische Sätze1 wahrheitsfähige Sätze sind, ist eine Frage, mit der sich die Philosophie in der einen oder anderen Weise immer beschäftigt hat. Diese Frage wird heute besonders intensiv diskutiert (vgl. ζ. B. Hooker, 1996), was sich aus einer bemerkenswerten Konvergenz der Diskussionen im Rahmen der beiden beteiligten Disziplinen, der Ethik und der Wahrheitstheorie, erklären lässt. Zum einen führen die Uberlegungen über den Status und die Grundlagen der kognitivistisch konzipierten Ethik zu einer expliziten Thematisierung der Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs auf den Bereich der Ethik; zum anderen erzeugen die Bemühungen um einen möglichst adäquaten und umfassenden Wahrheitsbegriff die beinahe als „natürlich" zu bezeichnende Tendenz, diesen Begriff auf immer weitere Gebiete auszudehnen und die damit gegebenen semantischen Probleme zu klären.2 Aber die Frage, in welchem genauen Sinn der Wahrheitsbegriff in der Ethik Verwendung finden kann bzw. muss, kann überhaupt nicht als geklärt gelten, auch nicht in Ansätzen. Diese Tatsache verdankt sich ihrerseits hauptsächlich dem Umstand, dass ein hoffnungsloser Dissens hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs herrscht, wobei der zentrale problematische Punkt in dem ontologischen Bezug des Wahrheitsbegriffs zu sehen ist. Wenn 1 Es wird hier terminologisch zwischen ethischen und moralischen Sätzen streng unterschieden. Ethische Sätze sind Sätze, die im Rahmen der Disziplin „Ethik" aufgestellt werden. Moralische Sätze sind solche, die in allen möglichen Lebens- und Sprachkontexten geäußert werden (können) und sich auf das große Gebiet der Moral beziehen. In einer bestimmten Hinsicht kann gesagt werden, dass ethische Sätze „Metasätze" bezüglich moralischer Sätze sind. 2 Das zeigen exemplarisch u.a. die Arbeiten des Wahrheitstheoretikers C . Wright (vgl. bes. Wright, 1996).

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Wahrheit direkt oder indirekt einen Welt- oder ontologischen Bezug beinhaltet, so fragt sich sofort, wie die Welt bzw. die ontologische Dimension im Falle der ethischen Wahrheit aufzufassen ist. (Vgl. dazu bes. Puntel 2001, 2002 a, 2002 b.) Der vorliegende Essay soll in einer explizit festgelegten Hinsicht einen Beitrag zur Klärung dieser Frage leisten. Es wird hier von ganz bestimmten Voraussetzungen ausgegangen, die aus Platzgründen nur minimal erläutert und kaum begründet werden können. Die hier gemeinten Voraussetzungen, die in Teil 1 dargelegt werden, betreffen zum einen den genauen Status ethischer Sätze und zum anderen die hier angenommene Wahrheitstheorie. In Teil 2 soll dann gezeigt werden, wie dem Wahrheitsbegriff einen relevanten und klaren Stellenwert in der Ethik zugewiesen werden kann und muss. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist der Aufweis, dass es im Rahmen bestimmter Annahmen über den „praktischen " Status ethischer Sätze und unter Voraussetzung eines ganz bestimmten Verständnisses des Wahrheitsbegriffs möglich ist, eine klare und kohärente Konzeption über den Wahrheitsbegriff im ethischen Bereich zu vertreten. Noch auf einen weiteren Punkt ist hinzuweisen, der beachtet werden muss, um die hier vorgelegten Überlegungen richtig einzuschätzen. Die hier vertretene Konzeption dürfte kaum in jeder Hinsicht einleuchten, da die Thematik sowohl in philosophiegeschichtlicher als auch in systematischer Hinsicht extrem komplex ist. Viele Erläuterungen in begriffs- und problemgeschichtlicher Hinsicht wären erforderlich, um den herauszuarbeitenden Ansatz voll zu verstehen und zu begründen, was aber hier nicht geleistet werden kann. Besonders hinsichtlich des hier in aller Kürze präsentierten und sonst vorausgesetzten Wahrheitsbegriffs und des ebenfalls hier anvisierten völlig neuen ontologischen Ansatzes kann aber der Verfasser auf andere Arbeiten hinweisen, in denen er diese vorausgesetzten Grundlagen teilweise ausführlich behandelt hat (vgl. die im Literaturverzeichnis angeführten Schriften des Verfassers). Schließlich ist noch die Unvollständigkeit des hier herausgearbeiteten Ansatzes hervorzuheben. Das betrifft insbesondere viele grundsätzliche Fragen, die sich stellen, wenn man die am Ende des Aufsatzes aufgezeigte fundamentale Unterscheidung zwischen basal-ontologischen und moral-ontologischen Werten weiter zu bestimmen versucht, ganz speziell die Frage, wie sich beide „Ebenen" der Werte zueinander verhalten. Aber auch diese Aufgabe kann hier nicht mehr in Angriff genommen werden. Der Verfasser darf aber darauf hinweisen, dass er alle

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diese Fragen in einer bald erscheinenden Monographie mit der nötigen Ausführlichkeit behandeln wird.

2. Voraussetzungen Die allgemeine Perspektive, die hier verfolgt wird, ohne dass sie hier begründet werden kann, ist eine bestimmte Spielart einer kognitivistischen Konzeption von Ethik.

2.1 Zum theoretischen Charakter ethischer Sätze Was die besondere Schwierigkeit einer Inbeziehungsetzung ethischer Sätze zum Wahrheitsbegriff auf den ersten Blick hervorzurufen scheint, ist der scheinbare „praktische" Status ethischer Sätze. „Praktische" Sätze werden zur praktischen Philosophie gerechnet, die traditionell von der theoretischen Philosophie unterschieden wird. Meistens wird diese Unterscheidung, die seit Aristoteles und erst recht heute als so etwas wie eine kontinentale Wasserscheide für die ganze philosophische Landschaft gilt, als mehr oder weniger selbstverständlich angenommen. Bei der genaueren Charakterisierung des dabei vorausgesetzten Verständnisses drängen sich aber Probleme auf, die deutlich zeigen, dass sich der genannte weitgehende Konsens rasch als ziemlich leer herausstellt. Ist Ethik - auf die Betrachtung dieser Disziplin soll hinfort die Problematik der „praktischen Philosophie" eingegrenzt werden keine theoretische Disziplin, kurz: ist Ethik nicht eine philosophische Theorie?

2.1.1 Die Ambiguität der „praktischen Philosophie" und der „normativen Ethik" Es besteht in der ganzen Geschichte der Philosophie, genauer: seit Aristoteles, eine grundsätzliche Ambiguität über diese Frage bzw. den genauen Status der Ethik. Will man aber der Ethik nicht irgendeinen theorielosen oder gar theoriefremden Status verleihen, so muss man sie in jedem Fall von all den „Aktivitäten" abgrenzen, die in direkter Weise „praktisch" sind bzw. „praktisch" genannt werden (wie: Anweisung

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oder Aufruf zu einem bestimmten Handeln, Beratung, Seelsoge, Erziehung usw.). Was bleibt dann anderes übrig, als Ethik als eine im strengen Sinne, und das heißt dann: theoretische, Disziplin zu konzipieren? Der konfuse Status der Ethik als der Zentraldisziplin der praktischen Philosophie verdankt sich einer hauptsächlich auf Aristoteles zurückgehenden Ambiguität in der Bestimmung der „praktischen Wissenschaft".3 Die praktische Philosophie und damit auch die Ethik hat immer so etwas wie einen „Januskopf-Charakter" gehabt. Sie wurde/ wird nämlich durch zwei Faktoren bestimmt, deren Verhältnis zueinander und im Hinblick auf die Definition der Ethik undurchsichtig bleibt. Zum einen wird die Ethik durch ihren Gegenstand, den Bereich des Praktischen im Sinne des moralischen Handelns, bestimmt; dadurch unterscheidet sie sich nicht im Geringsten von jeder anderen Wissenschaft, die jeweils einen eigenen Gegenstand hat; somit wäre die Ethik eine Theorie, die Theorie des praktischen (moralischen) Handelns. Zum anderen wird immer ein anderer Faktor genannt, der zumindest als faktisches Mitdefiniens genommen wird: eine bestimmte Zielsetzung, nämlich die praktische Absicht. Bei Aristoteles wird die eine bestimmte Absicht festlegende Zielsetzung einer Wissenschaft in die Charakterisierung der Wissenschaft selbst hineingenommen: Eine Wissenschaft, deren Ziel sie selbst ist, die also um des reinen Wissens willen betrieben wird, ist „theoretische" Wissenschaft; hingegen ist eine Wissenschaft, die um eines nicht mit ihr identischen Zieles, also nicht um des reinen Wissens willen, gepflegt wird, keine theoretische; sie ist „praktische Wissenschaft", wenn das Ziel das Handeln ist. Diese janusköpfige Bestimmung der praktischen Philosophie bzw. der Ethik ergibt keine kohärente Konzeption. Zum einen leuchtet leicht ein, dass mit jeder traditionell als „theoretisch" eingestuften Wissenschaft alle möglichen Ziele verbunden werden können; das Wissen um seiner selbst oder die Wahrheit um ihrer selbst willen ist nur eines dieser Ziele. Heute wird sogar faktisch als Zielsetzung der Wissenschaft meistens nicht die Wahrheit oder das Wissen selbst, sondern etwa die technische Beherrschung der Welt angesetzt. Zum anderen muss mit der Entwicklung einer oder der Ethik nicht unbedingt das Handeln, etwa in der Form eines Beitrags zu einer humaneren Welt (was immer das sein mag), verknüpft werden. Und was die Philosophie allgemein, 3 Aristoteles kennt die Bezeichnung .praktische Philosophie' nicht. Vgl. dazu den von G. Bien verfassten Teil I. C . („Aristoteles") des Artikels „Philosophie" im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Ritter, J./Alii, 1971, ff., Bd. 7, Sp. 583-590).

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unter Einbeziehung auch der Ethik, angeht, können viele Zielsetzungen genannt werden: eine humanistische, eine national-kulturelle und noch viele andere, sogar ganz „primitive" (wie Geld verdienen... oder Uberwindung der Langeweile u. ä.). Ein Philosoph kann aber eine Ethik durchaus auch „um der reinen Wahrheit willen" entwickeln. Es ergibt sich daraus, dass die Angabe eines Zieles den Status einer Wissenschaft nicht definieren kann. Dieser ist vielmehr grundsätzlich nur durch den Gegenstand und die spezifischen begrifflichen, argumentativen, logischen usw. Strukturen der Wissenschaft bestimmbar. Die traditionelle Konfusion über den Status der Ethik kommt hauptsächlich in der Problematik der Nomativität zum Vorschein. Da der Bereich des Praktischen, der das „Phänomen" des Normativen wesentlich einschließt, unstreitig Gegenstand der Ethik ist, hat diese selbstverständlich mit „praktischen" Sätzen im Sinne von „normativen" Sätzen zu tun. Die Frage ist nur, wie das genau zu verstehen ist. Hier ist der Ort erreicht, wo sich ganz deutlich zeigt, wie die traditionelle Zweideutigkeit entsteht. Es gibt zwei hinsichtlich ihres Status wesentlich verschiedene Arten von „praktischen" Sätzen. Artikuliert man den Bezug von Sätzen auf das Praktische in der oben erwähnten Perspektive der Zielsetzung bzw. der Absicht, so handelt es sich um Sätze mit einem praktischen Status in elnemprimären Sinne; diese sollen primärpraktische Sätze genannt werden. Es sind Sätze, die in einer direkten Weise einen Aufforderungscharakter haben; die stärkste Form bilden die Imperativsätze, die Sollenssätze im eigentlichen Sinne, wie: Du sollst dies oder jenes tun. Kants berühmte Formulierungen des Kategorischen Imperativs sind typische Beispiele für solche Sätze. Artikuliert man aber den Bezug von Sätzen auf das Praktische in der ebenfalls oben erwähnten Perspektive des Gegenstands der Ethik, so handelt es sich um Sätze, die zwar auch einen praktischen „Gehalt", nicht aber einen primärpraktischen Status haben; man könnte sie als sekundär- oder objektpraktische Sätze bezeichnen. Wie unten im einzelnen zu zeigen ist, muss man davon zwei ganz verschiedene Varianten unterscheiden. Diese Sätze haben keinen rein- oder primärpraktischen, sondern einen theoretisch-praktischen Status. Wenn von „normativer Ethik" gesprochen wird, so ist es in der Regel nicht klar, was mit „Normativität" genau gemeint ist. Dass die Ethik primärpraktische Sätze als Gegenstand einer Betrachtung (Untersuchung, Theorie) behandeln kann, ja muss, ist selbstverständlich. Aber kann die Ethik primärpraktische Sätze als eigene Sätze, also als Sätze der Theorie selbst, aufstellen? Das ist der zentrale und entscheidende

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Punkt in der hier festgestellten Ambiguität der Ethik als „normativer Wissenschaft". Die hier vertretene Position schließt es aus, dass die Ethik selbst solche Sätze aufstellen kann. Eine Wissenschaft, die in diesem starken Sinne „normativ" wäre, wäre ein Unding, ein selbstwidersprüchliches Gebilde; denn es gehört zum Wesen von Wissenschaft, dass untersucht wird, „wie es sich (empirisch oder prinzipiell) verhält". Die vom traditionellen Verständnis von „praktischer Philosophie" herrührende Ambiguität gilt es als Erstes zu überwinden, was im nächsten Unterabschnitt unternommen wird.

2.1.2 Primärpraktische, theoretisch-deontische und theoretisch-evaluative Sätze Die allgemeine Tendenz in der heutigen Ethik geht dahin, nicht (nur) eine Metaethik, sondern (auch) eine normative Ethik zu entwickeln. Die Metaethik untersucht nur die Bedeutung der in der Ethik verwendeten Termini; die normative Ethik will darüber hinaus auch darlegen, was ethisch richtig oder unrichtig, also was eine moralische Norm ist, und zwar nicht wieder rein abstrakt, sondern konkret und detailliert; genauer: die normative Ethik will zeigen, welche moralischen Normen gültig sind. Wie ist aber der Begriff „normativ" genauer zu fassen? Anstatt vom „Begriff des Normativen" zu sprechen, kann man auch - und in vielfacher Hinsicht adäquater - „normative Sätze" betrachten bzw. formulieren; diese werden im allgemeinen auch als „praktische Sätze" charakterisiert, wobei aber die genaue Bedeutung von „praktisch" ebenfalls unklar und unbestimmt bleibt. Im allgemeinen verwendet man als Explikation des Begriffs des Normativen (bzw. des normativen oder praktischen Satzes) nur allgemeine verbale Paraphrasierungen („eine Norm betreffend..."). Wenn versucht wird, mehr darüber zu sagen, so werden gleich zwei große Gruppen normativer Begriffe (bzw. normativer/praktischer Sätze) genannt: die deontischen Begriffe (Sätze) und die evaluativen Begriffe (Sätze) oder Wertbegriffe (Wertsätze oder -aussagen) (vgl. ζ. B. Kutschera 1982 b, S. 1 ff.). Die zentralen deontischen Begriffe sind die des Gebotenseins, des Verbotenseins und des Erlaubtseins. Wie unklar die genaue Bedeutung der normativ-deontischen Begriffe ist, zeigt sich gerade in der Weise, wie die deontischen Sätze näher verstanden werden. Darüber herrscht keine Klarheit.

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[1] Die deontischen Begriffe können in Sätzen sowohl als Prädikate („Diese Handlung ist geboten") als auch als Satzoperatoren („Es ist geboten dass A", wobei ,A' ein Satz ist) vorkommen. (Wenn für ,A' ,Fa' eingesetzt wird, ist der Satz so zu lesen: Es ist geboten dass a F tut.) Symbolisch schreibt man dafür: O(A) bzw. O(Fa). Aber was heißt das genau? Diese Formulierungen sind alles andere als eindeutig. [i] O(A) (bzw. O(Fa)) kann bedeuten (bzw. gelesen werden als): Der durch den Satz Α ausgedrückte Sachverhalt Α soll getan werden, a soll F tun (,A' entspricht also ,F'; in der Regel ist Α eine bestimmte Handlung). Dies wäre eine indirekte Form eines echten Imperativsatzes: Jede Person soll Α tun, im Enzelfall: Tu A. Ein solcher Satz soll hier ein primärpraktischer oder auch praktisch-deontischer Satz genannt werden; streng genommen, erübrigt sich die Präzisierung ,deontisch' hier, da nach der hier verwendeten Terminologie jeder primärpraktische Satz ein deontischer Satz ist. Umgekehrt aber ist nicht jeder deontische Satz ein primärpraktischer Satz, wie gleich zu zeigen ist; aus diesem Grund dürfte um der Klarheit und Übersichtlichkeit willen hinsichtlich der Spezifizierung von .deontisch' angebracht sein, die Formulierung .praktisch-dpontischer Satz' als Gegensatz zu ,theoretisch-deontischer Satz' zu gebrauchen. [ii] O(A) (bzw. O(Fa)) kann aber auch ganz anders gelesen und interpretiert werden, nämlich als Behauptungssatz oder als theoretischer Satz. Und hier gibt es wieder zwei ganz verschiedene Möglichkeiten. [ii-i] Die erste ist eine theoretisch-empirische Lesart: „Es verhält sich empirisch so dass es geboten ist [oder es wird festgestellt dass es geboten ist] dass Α getan wird". Der Operator „es verhält sich empirisch so dass" [bzw. „es wird festgestellt dass"] zeigt eine empirische Situation an, ein Umstand, der sich unmittelbar auf den zweiten Operator, nämlich „es ist geboten dass", auswirkt. Macht man diesen Zusammenhang explizit, so ergibt sich eine Paraphrasierung der folgenden Art: „Es verhält sich empirisch so [es wird festgestellt] dass in der (gesellschaftlichen, kulturellen, historischen, geographischen usw.) Situation s das Gebot dass Α getan wird besteht", oder: „Es gilt empirisch (d. h. in der gesellschaftlichen, historischen, kulturellen usw. Situation s) dass es geboten ist dass Α (getan wird)". [ii-ii] Die zweite Form oder Möglichkeit ist eine theoretisch-generelle (oder theoretisch-prinzipielle), d.h.: Hier wird kein empirischer, sondern ein „genereller/prinzipieller Geltungsoperator" vorausgesetzt, nämlich: „Es verhält sich generell/prinzipiell so dass [oder einfach: es gilt generell/prinzipiell dass] es geboten ist dass Α getan wird".

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Die Sätze der Form [ii-i] und [ii-ii] erweisen sich damit als theoretischdeontische Sätze und werden hier so bezeichnet. Um vollständige Klarheit über den Status dieser Sätze (bzw. der drei beschriebenen Lesarten des Satzes O(A)) zu erzielen, ist es angebracht, auch jeweils den ersten Operator durch ein eigenes Symbol kenntlich zu machen. Das Symbol (,P* für: .PrimärPraktisch') möge den praktisch-deontischen Operator anzeigen; er charakterisiert also den Status eines primärpraktischen Satzes im strengen Sinne eines Imperativs: ® 0 ( A ) (zu lesen oder paraphrasieren als: „Es soll gelten dass [es geboten ist dass Α getan wird)]"). Das Symbol , © ' soll den Theoretischen Operator bezeichnen: „Es verhält sich..." oder „Es gilt...". Auch im Bereich des Praktischen kann der theoretische Operator der bestimmende Operator sein. Die „praktischen" Sätze, in denen er vorkommt, sind dann theoretisch-deontische Sätze, wie oben gezeigt wurde; für diesen theoretisch-deontischen Operator kann man das allgemeine Symbol: , © D ' einführen. Aber dieser Operator ist noch unbestimmt, da er entweder als empirisch oder als generell bzw. prinzipiell gültig verstanden werden kann, was zwei völlig verschiedene Arten von Sätzen bedangt. Die theoretisch-deontisch-empirische Lesart wird durch das Symbol ,(T)DE' (,Es gilt Theoretisch-Deontisch-Empirisch dass'), die generelle oder prinzipielle Lesart durch das Symbol ,© D G' (>ES gilt Theoretisch-Deontisch-Generell dass') angezeigt. Die drei Lesarten [i], [ii-i] und [ii-ii] des scheinbar so einfachen und klaren Satzes O(A) ergeben drei Formen von Sätzen, nämlich: , ® 0 ( A ) ' , , © D E O ( A ) ' und ,© D G O(A)'. Sätze der Form , © D E O ( A ) ' und , © D G O ( A ) ' kann man auch theoretisch-praktische Sätze (,S ThPr ') nennen, wobei .theoretisch' den den ganzen Status des Satzes bestimmenden Operator, ,praktisch' den Bereich, auf den sich der Satz bezieht, nämlich den praktischen Bereich, anzeigt. [2] Die zweite große Gruppe normativer/praktischer Begriffe sind die Werthegriffe·, ihnen entsprechen die evaluativen Sätze bzw. Aussagen (Wertsätze bzw. Wertaussagen). Beispiele: „Diese Handlung ist gut"; „Versprechen zu halten ist gut" usw. Es ist natürlich nicht möglich, in diesem Essay auf die einzelnen Aspekte dieser Klasse von Begriffen bzw. Sätzen einzugehen (vgl. dazu ζ. B. Kutschera 1982 b, S. lOff.). Vermerkt sei nur folgendes: Solche Begriffe (z.B. „gut") werden sowohl prädikativ als auch attributiv verwendet. Es gibt aber auch die Verwendung als Operator: „Es ist gut dass Versprechen gehalten werden". Es wir sich später herausstellen, dass letztere Verwendung in

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ontologischer Hinsicht bedeutende Vorteile hat. Sie wird hier daher bevorzugt. Evaluative oder Wertsätze haben eindeutig die syntaktische Form von (deskriptiv-)theoretischen Sätzen. Nicht-kognitivistische Ethiker leugnen dies nicht, versuchen aber, diese Sätze umzudeuten, indem sie beispielweise sie als Expressionen einer Haltung, einer Präferenz oder einer Abneigung interpretieren. Im vorliegenden Essay wird auf diese von nicht wenigen Philosophen vertretene Auffassung nicht eingegangen; wie schon oben vermerkt, wird hier versucht, eine kohärente und tragbare kognitivistische Konzeption zu entwickeln. Evaluativen oder Wertsätzen einen kognitivistischen Status zuzuerkennen, heißt, sie als grundsätzlich deskriptive und damit als grundsätzlich theoretische Sätze interpretieren. Es ist aber zu beachten, dass sie Theoretisch-£i> p.

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(TSy ·)

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Es ist wahr dass Schnee weiß ist PER' als Argumente und „erzeugt" als Wert den vollbestimmten Status solcher Sätze. Dafür wird hier die Notation ,p' verwendet. Die Funktionen T* und T + können folgendermaßen genau (formal) definiert werden (TO

T*: X — » r p ^ T

(p)(EY(=pPER)

(dabei ist X die Menge der unqualifizierten/indeterminierten Sätze bzw. Propositionen p, auf die der Operator ,es ist wahr dass' angewandt wird, Y die Menge der aus der Applikation des Operators ,es ist wahr dass' auf diese Sätze/Propositionen resultierenden PERsentenzen bzw. PERpropositionen p PER ) (T 2 )

T + : Y—> Ζ Ρ per 1 —• T+ {p PER) Ε Ζ (= ρ)

(dabei ist Fdie Menge der PERsentenzen bzw. PERpropositionen/7PER im erläuterten Sinne, Ζ die Menge der volldeterminierten Sätze bzw. Propositionen p, die katapboriscb/prospektiv aus den PERsentenzen bzw. PERpropositionen resultieren)

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[4] Die dritte Funktion, T x , ist die explizit ontologische Funktion. Es geht darum, den zentralen Begriff des vollbestimmten Status der als wahr qualifizierten Sätze bzw. Propositionen zu explizieren. Das wird dadurch erreicht, dass eine dritte Funktion eingeführt wird, die vollbestimmte Sätze/Propositionen als Argumente hat und sie in die ontologische Dimension abbildet. Hier wird aber keiner korrespondenztheoretischen Konzeption im gewöhnlichen Sinne das Wort geredet; vielmehr wird hier eine These vertreten, die seit etwa 1990 ,Identitätstheorie der Wahrheit' genannt wird (vgl. dazu Puntel, 1999; Puntel, 2001, bes. S. 276ff.). Diese Formulierung wird allerdings hier nicht übernommen, da gemäß der hier angenommenen Wahrheitstheorie die (noch zu erläuternde) Identität nur einen Aspekt, eben die dritte Funktion, des integralen Wahrheitsbegriffs, nicht die ganze Wahrheitstheorie, ausmacht. Daher wird hier von der „IdentitätsiÄese" gesprochen. Wenn auch hier keine korrespondenztheoretische Konzeption vertreten wird, so muss dennoch hervorgehoben werden, dass der Grundgedanke oder die Grundintuition, der/die dieser Auffassung zugrunde liegt, bewahrt wird. „Identität" kann nämlich als limiting case von Korrespondenz verstanden werden, d. h. als jener (höchste!) Fall der Korrespondenzrelation, in welchem die Relata nicht verschieden, sondern eben identisch sind. Am einfachsten und kürzesten kann man die Identitätsthese mit Hilfe einer berühmten äußerung Freges formulieren. In seinem Aufsatz „Der Gedanke" heißt es: „Was ist eine Tatsache? Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist." (Frege, 1976, S. 50) Das ,ist' ist hier eindeutig im Sinne der Identität zu verstehen. Wenn man statt .Gedanke' .Proposition' sagt, so ergibt sich: Eine wahre Proposition ist identisch mit einer Tatsache. Diese These wird heute von vielen Wahrheitstheoretikern vertreten. Allerdings bleibt dabei ein großes Problem ungeklärt: Wie ist die vorausgesetzte bzw. implizierte Ontologie zu konzipieren? Unter Hinweis auf andere Arbeiten des Verfassers sei hier nur kurz gesagt, dass die einzige einem solchen Wahrheitsbegriff angemessene Ontologie diejenige ist, die die Welt (das Universum, das Sein im Ganzen) als „die Gesamtheit der Tatsachen" im strengsten Sinne (also im Sinne der bestehenden oder existierenden Propositionen oder Sachverhalte) begreift. 6 Doch darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. 6 D i e beste Formulierung der zentralen These der hier anvisierten Ontologie ist der zweite Satz im Tractatus von L. Wittgenstein: „1.1 D i e Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge." Dazu ist allerdings zu bemerken, dass im weiteren Ver-

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Die dritte Funktion, also T*, lässt sich formal so darstellen: (T3)

T*:Z—* F Ρ

1

* T x (p) G F (= f)

(dabei ist Ζ die Menge der volldeterminierten Sätze bzw. Propositionen ρ und F die Menge der Tatsachen (.Facts') und es soll gelten: Vp G Z, Vf G F (f = T" (p)

ρ = f))

Jetzt ist es möglich, abschließend eine genaue formale Definition des Vollständigen WahrheitsBegriffs zu formulieren: (VWB)

Τ = T x ° T + ° T*

3.3 Die ontologische Dimension der ethischen Wahrheit: ontologische Werte 3.3.1 Der zentrale Problempunkt in der Diskussion über Wahrheit in der Ethik [1] Die Philosophen, die sich heute mit der Thematik der Wahrheit in der Ethik direkt oder indirekt befassen, können in zwei Gruppen eingeteilt werden. Eine erste Gruppe behauptet, dass ethische Sätze wahr (bzw. falsch) sind, ohne sich explizit oder ausreichend um die genaue Bedeutung von Wahrheit in diesem Zusammenhang zu kümmern. Man stützt sich auf ein meistens allgemeines oder rein intuitives Wahrheitsverständnis, bei dem Wahrheit vorwiegend im Sinne einer der vielen in der Regel nicht-analysierten - Varianten der Korrespondenztheorie verstanden wird; manchmal wird zwischen Wahrheit und Begründbarkeit kaum unterschieden (vgl. z.B. Ricken, 1998, S. 46f., Kutschera, 1982b, 7 McGinn, 1997, Kap.3, 8 u.a.). lauf seines Werkes Wittgenstein keineswegs nur Tatsachen zulässt; vielmehr nimmt er noch (angeblich) „ursprünglichere" Kategorien wie „Sache/Ding", „Gegenstand" und sogar „Substanz" an. 7 Kutschera bejaht den Wahrheitscharakter ethischer Sätze; was den Wahrheitsbegriff anbelangt, verweist er schlicht in einer Fußnote auf einen Abschnitt in einem anderen Buch über Erkenntnistheorie (vgl. Kutschera, 1982b, S.47, Fußn. 11, mit Verweis auf Kutschera, 1982 a, Abschnitt 1.6), in dem Wahrheit so definiert wird: „WK: Ein Satz ist wahr genau dann, wenn der Sachverhalt besteht, den er ausdruckt", was Kutschera so erläutert: „Ein Satz Α wird wahr genannt genau dann, wenn es sich in

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Eine zweite Gruppe, der die meisten in diesem Bereich arbeitenden Philosophen zuzurechnen sind, vertritt einen explizit epistemischen Wahrheitsbegriff: Wahrheit wird auf so etwas wie Objektivität, Intersubjektivität, ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit u. ä. reduziert (vgl. z.B. Wiggins, 1996, bes. S.46ff.). In diesem Zusammenhang sei auf zwei charakteristische Beispiele kurz eingegangen. C. Wright hat eine viel diskutierte Theorie der Wahrheit entwickelt, die unter dem Namen .minimalist superassertibility theory of truth' bekannt ist. Wright zufolge ist eine Aussage wahr genau dann, wenn sie superassertibel ist, was er so versteht: Eine Aussage ist superassertibel genau dann, wenn sie in einem bestimmten Informationsstadium asssertibel ist und dann assertibel bleibt ungeachtet jeder weiteren oder neu auftauchenden Information. Dieser Begriff der Wahrheit, so behauptet Wright, steht „im Einklang (compliance)" mit einer gewissen Anzahl von „Prinzipien (principles)", die er - wegen ihrer angeblichen Selbstverständlichkeit - „platitudes" nennt. Eine dieser „platitudes" formuliert C. Wright so: „[...] to be true is to correspond to the facts" (Wright, 1992, S. 34). Seine Strategie besteht darin, dass er das von ihm akzeptierte Prinzip {„platitude") dahingehend interpretiert, dass es seines Sinnes und Inhalts völlig entleert wird. Er formuliert das geschickt so: „It is [...] a platitude that a statement is true if and only if it corresponds to the facts. But it is so only in so far as we understand a statement's correspondence to fact to involve no more than that matters stand as it affirms. For reflect that if ,p' says that p, then matters will stand as ,p' affirms if and only if p. Since by the Disquotational Scheme, ,p' is true if and only if p, it follows that matters stand as ,p' affirms just in case ,p' is true - essentially the Correspondence Platitude. What this simple argument brings out [...is] that the phraseology of correspondence may embody much less of a metaphysical commitment than realism supposes." (Wright, 1996, S. 12) Wirklichkeit so verhält, wie Α es darstellt." (Ebd. S.46). In seinen Grundlagen der Ethik erklärt Kutschera überhaupt nicht, was es heißt oder heißen kann, dass ein moralischer Sachverhalt „besteht" bzw. dass im Falle eines wahren ethischen Satzes Α es sich in Wirklichkeit so verhält, wie Α es darstellt. Was das heißen kann oder soll, versteht sich wahrhaftig nicht von selbst, wie die heutigen Debatten zur Genüge zeigen. 8 Besonders aufschlussreich ist C. McGinns Konzeption. Unter Verweis auf sein Buch (McGinn, 1997) behauptet er: „In my own view... truth applies equally and univocally to moral and scientific statements" (McGinn, 2003, S. 72, Fußn. 2). In dem zitierten Buch findet sich zwar eine dezidierte Verteidigung des ontologischen Charakters moralischer Normen, aber keine nennenswerte Explikation des in der Ethik verwendeten Wahrheitsbegriffs und der Art von Ontologie, die ihm entspricht.

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Die Wahrheit einer Aussage wird also reduziert auf „matters stand as it [the statement] affirms". Aber was heißt es zu sagen: „matters stand"? Ganz allgemein reduziert C. Wright „Wahrheit" auf eine diffus konzipierte „Objektivität", die ihm zufolge im Bereich der Moral durch Konvergenz („convergence") zu erreichen ist. Immerhin macht er am Ende seiner Ausführungen über Wahrheit in der Ethik eine bemerkenswerte Konzession; genauer müsste man von einem vielsagenden Eingeständnis sprechen: „How much, and what kinds of moral appraisal may [...] contain the seeds of such convergence seems to me a greatperhaps the greatest - unresolved question in moral philosophy." (Ebd. S. 18) Man kann hier noch so viele Paraphrasierungen und Phraseologien verwenden, man wird die ontologische Frage nicht los, wie die kurze Präsentation eines ganz anderen Wahrheitsbegriffs in Abschnitt 1.2 gezeigt haben dürfte. Die im folgenden gegen Habermas zu skizzierende Argumentation trifft auch in analoger Weise C. Wrights Position. /. Habermas ist hinsichtlich der hier abgehandelten Thematik sehr bekannt geworden, weil er mit einem terminologischen Kunststück das Problem der Wahrheit in der Ethik angeblich „aufgelöst" hat. Er unterscheidet nämlich zwischen „Wahrheit" und „Richtigkeit", wobei er Wahrheit irgendwie im Sinne der Korrespondenztheorie versteht. Im Unterschied von Wahrheitsgeltung „geht der Sinn von ,Richtigkeit' in ideal gerechtfertigter Akzeptabilität auf" (Habermas, 1999, S. 285). Ethische Aussagen sind demnach nicht wahr/unwahr, sondern nur richtig/unrichtig. Richtigkeit im Sinne Habermas' ist genau das, was eine der bekanntesten Varianten der epistemischen Wahrheitstheorie behauptet. Es wird damit klar, dass hier nur eine terminologische Verschiebung des Problems stattfindet. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Habermas würde den Rahmen dieses Essays bei weitem überspringen. Es sei dennoch auf die fundamentale Aporie der Habermasschen Konzeption kurz hingewiesen. Wie wäre eine „ideale Rechtfertigung/Akzeptabilität" überhaupt zu konzipieren? In jedem Fall nicht als eine solche, die sich in irgendeiner Weise wieder auf Konsens welcher Art auch immer u. dgl. stützen würde. Sonst würde sich noch einmal - und immer wieder - die Frage aufdrängen: Und worauf basiert der (neue, tiefere...) Konsens? In der Tat: woran muss sich ein „ideal rationaler" Diskursteilnehmer halten? Woran bemisst sich Rationalität? Ein verhängnisvolles (Selbst)Missverständnis des angeblich so „aufgeklärten" modernen Menschen ist gerade der leere Appell an „die Vernunft". In Wirklich-

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keit beruft man sich auf eine hypostasierte Abstraktion; denn wie ist „Vernunft" überhaupt zu bestimmen? Wo hat sie ihr(en) Maß(stab)? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, ähnelt die Berufung auf ideale Rationalität bzw. ideal gerechtfertigte Akzeptabilität u. ä. haargenau dem, was Nietzsche auf brillante Weise (aber zu Unrecht) in Jenseits von Gut und Böse von der Freiheit des Willens sagt: „Das Verlangen nach ,Freiheit des Willens' [...] ist [...] nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehen." (Nietzsche, 1967-1977, Bd. 5, S. 35) Man kann hier die Dinge drehen, wie man will, schließlich wird man nolens volens auf die ontologische Ebene stoßen: die Grundlage bzw. das/der Maß(stab) besteht darin, dass eine ontologische Basis angenommen wird. Eine ideale Rechtfertigung ist diejenige, die die zu rechtfertigende Aussage auf die ontologische Verfasstheit des Bereichs, auf den sich die Aussage bezieht, zurückführt. Im allgemeinen versuchen einige Formen des moralischen Realismus, der ontologischen Dimension des moralischen Bereichs gerecht zu werden (vgl. D. O. Brink, 1989, N. Rescher, 1990, u. a.). Dabei bleibt in der Regel unklar, wie die entsprechende Ontologie konzipiert wird und in welchem genaueren Sinne der Wahrheitsbegriff eine Rolle spielt. Als der zentrale Problempunkt bei der heutigen Diskussion über Wahrheit in der Ethik stellt sich die Frage nach der ontologischen Dimension der als wahr qualifizierten ethischen Aussagen heraus. [2] Wie ist der Wahrheitsstatus theoretischer ethischer Sätze zu verstehen? Wenn ein theoretisch-deontischer bzw. theoretisch-evaluativer Satz (bzw. die durch solche Sätze ausgedrückte Proposition) als wahr qualifiziert wird, so heißt das im Sinne der hier vertretenen semantischontologischen Wahrheitskonzeption, dass der Satz bzw. die Proposition als volldeterminierter Satz/volldeterminierte Proposition betrachtet wird, was er/sie vor der Qualifikation als wahr nicht war. Aber dann ist erneut zu fragen: Was heißt dieser volldeterminierte Status in vorliegenden Fall, d. h. im ethischen Bereich? Zunächst gilt auch hier, was im Rahmen der kurzen Präsentation der semantisch-ontologischen Wahrheitstheorie über den volldeterminierten Status aller als wahr qualifizierten Sätze gesagt wurde, was hier nicht zu wiederholen ist und nicht weiter ausgeführt werden kann. Hier wird es nur möglich sein, die dritte Funktion, T x , im Bereich der ethischen Wahrheit ausführlicher zu behandeln. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben dürften, stellt die ontologische Dimen-

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sion des Wahrheitsbegriffs die zentrale Problematik des ethischen Wahrheitsbegriffs dar. Um die folgenden Ausführungen richtig zu verstehen und zu situieren, wäre es erforderlich, zunächst auf die Deontologisierung des Wertgedankens in der Neuzeit und in der Gegenwart und auf die Ambiguitäten der Dualität von Wert und Sein (Tatsache) einzugehen, worauf aber hier ganz verzichtet werden muss.

3.2 Die Unterscheidung zwischen „basal-ontologischen Werten" und „moralisch-ontologischen Werten" Theoretisch-evaluative und theoretisch-deontische Sätze drücken Propositionen oder Sachverhalte aus,9 die als wahr (bzw. falsch) qualifiziert werden (können). Wie sind solche ethische Sachverhalte bzw. Tatsachen zu verstehen? Betrachten wir als Beispiel den theoretisch-evaluativen Satz: .Einen unschuldigen Menschen zu töten ist unrecht' bzw. den theoretisch-deontischen Satz: ,Ein unschuldiger Mensch darf nicht getötet werden'. Der theoretisch-evaluative Satz drückt den Sachverhalt aus, dass es sich generell/prinzipiell so verhält, dass es unrecht ist, einen unschuldigen Menschen zu töten, der theoretisch-deontische Satz den Sachverhalt, dass es sich generell/prinzipiell so verhält, dass es untersagt ist, einen unschuldigen Menschen zu töten. Es handelt sich hierbei um sehr komplexe Propositionen/Sachverhalte. [1] Wollte man eine Analyse des theoretisch-evaluativen Satzes (bzw. der durch ihn ausgedrückten Proposition) auf der Basis einer prädikatenlogischen Semantik bzw. der ihr korrespondierenden Ontologie von Objekten (Substanzen, Ereignissen, Prozessen), Eigenschaften und Relationen durchführen, so gelänge man zu folgendem Ergebnis: Das „Objekt" oder das „Ereignis" oder auch die „Handlung" Tötung eines unschuldigen Menschen besitzt die „wertontologische Eigenschaft" (erster Stufe) des Unrechten und die so bestimmte Entität (Tötung eines unschuldigen Menschen plus Eigenschaft des Unrechten) besitzt die Eigenschaft (zweiter Stufe) des Generellen/ Prinzipiellen/Allgemeingültigen. Aus grundsätzlichen Gründen erweist sich diese Analyse als unangemessen.10 Eine Alternativanalyse basiert auf einer Semantik/Ontologie, die nur Operatoren und primä9 Die Ausdrücke .Proposition' und .Sachverhalt' werden hier terminologisch als synonyme Ausdrücke verstanden und verwendet. 10 Zur Kritik dieser Semantik bzw. dieser Ontologie vgl. besonders Puntel, 2002a.

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re Sätze, primäre Propositionen/Sachverhalte und primäre Tatsachen anerkennt.11 Aus einer solchen - allerdings nicht in allen Details, sondern nur im Hinblick auf die Thematik dieses Essays durchgeführten - Analyse ergibt sich, dass in dem soeben erwähnten Beispiel ein basaler Satz (,ein unschuldiger Mensch wird getötet') und zwei Operatoren zu unterscheiden und anzunehmen sind (,es ist unrecht dass' und ,es verhält sich generell/prinzipiell so dass'), wobei der basale Satz Argument des ersten Operators und der hieraus resultierende Satz Argument des zweiten Operators ist. Mit dem Gebrauch einer stark unnatürlichen Paraphrasierung und mit Hilfe verschiedener Klammern kann man das Resultat der Analyse so darstellen: {Es verhält sich gener eil/prinzipiell so - oder: es ist allgemeingültig dass (es unrecht ist dass [ein unschuldiger Mensch getötet wird])} Die semantisch-ontologische Analyse des theoretisch-deontischen Satzes führt zu einem ganz analogen Resultat: {Es verhält sich generell/prinzipiell so - oder: es ist allgemeingültig dass (es ist untersagt ist dass [ein unschuldiger Mensch getötet wird])} [2] Die eigentliche Ontologie, die diesen Sätzen zugrunde liegt, ist jeweils durch den zweiten Operator und den durch ihn bestimmten Satz artikuliert: „Es-ist-unrecht-dass [ein unschuldiger Mensch getötet wird]" bzw. „Es-ist-untersagt-dass [ein unschuldiger Mensch getötet wird]'. In beiden Fällen gibt es zunächst einen nicht weiter qualifizierten 11 Hier wird eine völlig neue Semantik und Ontologie vorausgesetzt, die in mehreren schon zitierten Arbeiten des Verfassers ausführlich dargestellt und begründet wurde. „Primäre Sätze" sind Sätze ohne die bekannte Subjekt-Prädikat-Struktur (wie: ,Es regnet', ,Es weihnachtet', halbformalisiert: ,Es verhält sich F', wobei ,F' ein Ausdruck ist, der in der natürlichen Sprache die Stellung eines Prädikats einnehmen würde). Diese ungewöhnliche These ist darin begründet, dass Sätze mit Subjekt-Prädikat-Struktur eine „Substanz(Substratum)"-Ontologie implizieren, die sich aber als nicht vertretbar herausstellt. Primäre Sätze drücken primäre Propositionen/Sachverhalte aus; diese, wenn sie wahr sind, erweisen sich als mit Tatsachen (genauer: mit primären Tatsachen) identisch (vgl. dazu bes. Puntel, 2002a).

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Sachverhalt, den man normalerweise eine Handlung nennt: „Ein unschuldiger Mensch wird getötet". (Der Ausdruck .unschuldig'... ist hier im sehr neutralen Sinne zu nehmen, nämlich einfach im Sinne von: „hat eine bestimmte Tat nicht begangen".) Der Sachverhalt bzw. die Handlung des Tötens wird nun im ersten Satz mit der Qualifikation (dem Operator) „(es ist) unrecht (dass)" und im zweiten Satz mit der Qualifikation (dem Operator) „(es ist) untersagt (dass)" versehen. Es handelt sich einerseits um verwandte oder ähnliche, andererseits um ganz verschiedene Qualifikationen/Operatoren. Verwandt bzw. ähnlich sind die Qualifikationen/Operatoren, insofern beide einen Wert (oder eine Werthaftigkeit) artikulieren; völlig verschieden sind sie, insofern die erste Qualifikation (der erste Operator) einen Wert „als solchen" (einfach das „Unrecht(sein)") bezeichnet, die zweite Qualifikation (der zweite Operator) hingegen eine praktische Handlungsweise mit der Feststellung des Wertes als solchen (also des „Unrecht(sein)s") verknüpft, nämlich: das Untersagtsein. Daraus ergibt sich unmittelbar, erstens dass beide Qualifikationen (Operatoren) wertsemantische Sachverhalte artikulieren, und zweitens dass der erste semantische Wertsachverhalt als Basis für den zweiten dient. Um sowohl die Gemeinsamkeit als auch die Verschiedenheit der beiden Wertsachverhalte terminologisch zu kennzeichnen, werden folgende Bezeichnungen eingeführt: Der durch den ersten Satz ausgedrückte Sachverhalt wird „ basal-semantischer Wertsachverhalt", der durch den zweiten Satz ausgedrückte Sachverhalt „moralisch-semantischer Wertsachverhalt" genannt. Werden nun der theoretisch-evaluative und der theoretisch-deontische Satz als wahr qualifiziert, so heißt das gemäß der dritten den Wahrheitsbegriff definierenden Funktion (also der „Identitätsthese"), dass diese „Sachverhalte" identischerweise Tatsachen in der Welt sind. Es ergibt sich somit: Ein wahrer theoretisch-evaluativer Satz drückt einen basalen Wertsachverhalt aus und dieser ist (im Sinne der Identität!) eine Tatsache, also eine basale Werttatsache oder einfach ein basal-ontologischer Wert. Und entsprechend: Ein wahrer theoretisch-deontischer Satz drückt einen moralischen Wertsachverhalt aus und dieser ist (im Sinne der Identität!) eine Tatsache in der Welt, also eine moralische Werttatsache oder einfach ein moralisch-ontologischer Wert. Im folgenden wird grundsätzlich nur die explizit ontologische Ebene betrachtet.

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3.3 Der ontologische Status der basal-ontologischen Werte Basal-ontologische Werte sind Werttatsachen, also Entitäten in der Welt, die (noch) nichts Präskriptives beinhalten oder besagen. Sie heißen „basal", weil sie die Basis für die moralischen Werte im eigentlichen Sinne bilden, wie noch zu zeigen ist. Wie sind sie zu konzipieren? Man kann den Begriff des basal-ontologischen Wertes auf zweierlei Weise herausarbeiten, was gleichzeitig als eine zweifache Begründung der These anzusehen ist, dass - und in welchem Sinne - basal-ontologische Werte anzunehmen sind. Die erste Weise kann die allgemein-metaphysische, die zweite die metaphysisch-anthropologische Perspektive genannt werden.

3.3.1 Die allgemein-metaphysische Perspektive Die „allgemein-metaphysische Perspektive" hat eine lange Geschichte im Rahmen der großen Tradition der christlichen Metaphysik, wobei insbesondere Thomas von Aquin zu erwähnen ist. Sie wird dort als der große Gedanke der „Vollkommenheit" (perfectio) artikuliert.12 Die Welt oder das Sein im Ganzen ist nicht durch eine amorphe Masse irgendwie völlig gestaltloser oder unstruktierter „Dinge" oder „Entitäten" konstituiert; vielmehr stellt sie/es ein wohlstrukturiertes Ganzes dar, bestehend aus wohlstrukturierten einzelnen Seienden. Jedes Element dieses Ganzen hat eine eigene Verfasstheit, eine ontologische Konstitution. Jedes hat einen zu ihm passenden, d. h. seiner Verfasstheit entsprechenden Ort oder eben Stellenwert im Ganzen. Jedes Seiende ist wahrhaft es selbst in dem Maße, in dem es diesen seinen Ort oder Stellenwert „besetzt" und dementsprechend seine Potentialitäten entfaltet und verwirklicht. Diesen abstrakt-metaphysischen Gedanken kann man ganz konkret illustrieren. Schon von den untermenschlichen Seienden sagt man ganz zu recht - und die entsprechenden Wissenschaften demonstrieren es dass jedes zu diesem Bereich gehörende Seiende, ζ. B. eine Pflanze(nart) oder ein Tier (oder eine Tierspecies) etc., eine eigene Umwelt 12 Vgl. ζ. B. Formulierungen wie die folgenden in den Schriften des Thomas von Aquin: Bonum uniuscuiusque est perfectio ipsius (ScG 130). In hoc enim consistit uniuscuiusque rei bonitas, quod convenienter se habeat secundum modum suae naturae (S.Th. I—II q.71 a. l c . ) .

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oder ein eigenes Lebenselement hat, die/das ihrer/seiner ontologischen Verfasstheit entspricht. Beispielsweise ist Leben nur möglich, wenn Wasser verfügbar ist. Man kann hier die ganze Geschichte des Lebens, des vegetarischen und des animalischen Bereichs im einzelnen anführen. Und wenn man dann den Menschen betrachtet, so erhält der große Gedanke der Vollkommenheit seines Wesens, d. h. seiner ontologischen leib-geistigen Verfasstheit, schlechterdings universale Dimensionen, worauf noch einzugehen ist. Es fragt sich nun, was diese kurze Überlegung überhaupt zeigt. Die Antwort ist: Sie zeigt (mindestens) viererlei. [i] Wert ist grundsätzlich der durch die ontologische Verfasstheit eines Seienden bestimmte oder gesetzte Maßstab für die Verwirklichungsmöglichkeiten eines Seienden. Wenn man statt „Wert" eher traditionell „das Gute" sagt, dann wird sofort klar, dass dieser Gedanke in dem berühmten klassischen Dictum „Ens et bonum convertuntur" artikuliert wird. Dass ein Seiendes nicht ein für alle Mal als fix und fertig einfach „vorkommt" oder „da" oder „vorhanden" ist, heißt, dass es eine ontologische Verfasstheit hat, die durch einen Spielraum von Verwirklichungsmöglichkeiten charakterisiert ist. Jedes Seiende setzt von sich aus einen solchen Maßstab - kraft seiner ontologischen Verfasstheit. Dies ist der grundsätzliche Sinn der Formulierung: Jedes Seiende hat einen Wert. „Wert" ist soweit noch nicht mit so etwas wie „moralischem Wert" zu identifizieren, da noch nicht gezeigt wurde, in welcher Weise der Maßstab, d. h. der Wert des Seienden, verwirklicht wird oder zu verwirklichen ist. [ii] Jedes Seiende hat einen Wert. Dies folgt einfachhin daraus, dass jedes Seiende kraft seiner ontologischen Verfasstheit einen, genauer: den Maßstab der Verwirklichung seiner Möglichkeiten bestimmt oder setzt. Die Negation dieser These würde bedeuten, dass es Seiende ohne ontologische Verfasstheit gibt - was ein selbstwidersprüchliches Unding wäre. [iii] Ferner zeigt der kurz skizzierte Gedankengang, dass und wie die verschiedenen Seienden mit ihren je eigenen Werten einen Wertebereich bilden. Auch diese These folgt direkt aus dem bisher Gezeigten. Die Frage ist nun, wie dieser Wertebereich genauer zu konzipieren ist. [iv] Schließlich ergibt sich aus dem vorgelegten Gedankengang, dass es sich um ontologische Werte im eigentlichen Sinne handelt. Hier könnte jemand einwenden, dass zwischen der ontologischen Verfasstheit eines Seienden und dem aufgezeigten Maßstab für die Verwirklichung der im Seienden liegenden Potentialitäten zu unterscheiden sei: Der als ein

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solcher Maßstab konzipierte Wert sei nicht einfach identisch mit der ontologischen Strukturiertheit des Seienden, sondern sei etwas hinsichtlich dieser Struktur „Supervenientes"; damit sei der Wert etwas „NichtNaturales". Doch ein solcher Einwand trifft nicht den hier aufgezeigten Sachverhalt. „Wert" heißt hier noch nicht „moralischer Wert", sondern nur „basal-ontologischer Wert". Letzterer, aufgefasst als Maßstab im erläuterten Sinne, ergibt sich aus der Analyse der ontologischen Verfasstheit des Seienden. Freilich ist diese ontologische Verfasstheit nicht naiv, rein atomistisch, rein statisch, mit einem Wort: rein positivistisch, sondern, wenn man will, wirklich holistisch-metaphysisch zu begreifen. Das Seiende wird als „Element" des Seins im Ganzen betrachtet, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Oben wurde gesagt, dass die ontologische Strukturiertheit des Seienden den genannten Maßstab „setzt" oder „bestimmt". Diese Formulierung darf nicht dahingehend (miss)verstanden werden, dass es sich um zwei verschiedene „Entitäten" (etwa nach dem Modell: Objekt - Eigenschaft) handelt; vielmehr ist das „Verhältnis" zwischen „ontologischer Verfasstheit" und „Maßstab/Wert" kein echtes „Verhältnis", besagt doch Maßstab/ Wert nichts anderes als die vollbestimmte oder vollanalysierte ontologische Verfasstheit selbst.

3.3.2 Die metaphysisch-anthropologische Perspektive [1] Die zweite Perspektive ist in einer grundsätzlichen Hinsicht nur eine Spezifikation der soeben entwickelten allgemein-metaphysischen Überlegungen im Hinblick auf jenes Seiende, das ein ausgezeichnetes Seiendes ist, nämlich den Menschen. Es wird hier von einer zweiten Perspektive aus eher methodologischen Gründen gesprochen. Was bedeutet es für eine Konzeption des Seins im Ganzen oder einfach des Universums oder, noch einfacher, der Welt, dass es den Menschen als leib-geistiges, mit Intelligenz, Willen, Freiheit usw. ausgestattetes, und hier besonders als so genanntes moralisches Wesen, gibt? Eine allgemeine Tendenz besonders in der analytischen Philosophie vertritt - explizit oder, meistens, implizit - eine Konzeption, die man einen „absoluten abstrakt-metaphysischen Realismus" nennen könnte. Demnach ist „das Universum" die Wirklichkeit „an sich" - und das heißt hier: ohne den Menschen im Sinne eines „Faktors", der für die Bestimmung dessen, was das Universum/die Wirklichkeit „in Wahrheit ist", ohne nennenswerte Bedeutung ist. Eine solche Position ist grund-

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sätzlich eine radikal materialistische Position. Da auch die Vertreter einer solchen Position wissen, dass es den Menschen gibt, müssen sie so oder so mit diesem „Phänomen" fertig werden. Das geschieht (hauptsächlich) auf dreifache Weise, [i] Man ignoriert einfach den Menschen als ernst zu nehmenden ontologischen Faktor; wenn überhaupt, so wird der Mensch nur als „sozialer" oder „psychologischer" oder „historischer Faktor" betrachtet, wobei nicht danach gefragt wird, welchen ontologischen Status diese „soziale-psychologische-historische" Dimension überhaupt hat. [ii] Man betrachtet zwar den Menschen als ernst zu nehmenden „ontologischen Faktor", versucht aber, ihn auf rein materialistisch-physikalistische Entitäten oder Prozesse zu reduzieren. [iii] Man behauptet, das Mentale/Geistige sei nicht reduzierbar auf rein physikalische Prozesse, vertritt aber dennoch weiterhin eine gesamtmaterialistische Konzeption. Letztere Position ist so offensichtlich inkohärent, dass man sich wundern muss, dass (analytische) Philosophen sie überhaupt vertreten können. Es ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen der Positionen [i] und [ii] so etwas wie ontologische Werte als „Absonderlichkeit (queerness)" (Mackie, 1981, S. 43; vgl. dazu unten 3.4) oder sogar als „ontologische Monstrosität" (Greimann, 2000, S. 139) erscheinen. Der Grund ist klar: diese rein materialistisch-physikalistische Ontologie ist nicht in der Lage, den Menschen als solchen zu erfassen und in das Universum zu integrieren. Im Rahmen der Positionen [i] und [ii] spielt der Mensch für eine Bestimmung des Universums so gut wie keine nennenswerte ontologische Rolle. Ohne den Menschen bleibt die Welt ontologisch weiterhin genau das, was sie ohne den Menschen war bzw. wäre. Erst die Position [iii] räumt dem Menschen einen wichtigen Platz in der Bestimmung des Universums ein; aber diese Position, wie gezeigt wurde, ist nicht nur ambig, sondern auch inkohärent. Wenn sie sich von dem ihr zugrunde liegenden Materialismus frei machen würde, so wäre zu sagen, dass sie in die richtige Richtung weist. [2] Nimmt man das „Phänomen" Mensch mit allen seinen Dimensionen und Facetten und in seiner echten ontologischen Verfasstheit ernst, so ergibt sich unmittelbar, dass „das Universum" oder „das Sein im Ganzen" keineswegs im Sinne der oben beschriebenen Position eines absolut abstrakt-metaphysischen Realismus begriffen werden kann. Zum Universum/Sein gehören andere Arten von Entitäten als nur diejenigen, die in den Rahmen einer positivistisch-materialistischen Ontologie hineinpassen. Frege sprach von einem „dritten Reich [der Gedanken]", neben dem (ersten) Reich der Dinge der Außenwelt und

Der Wahrheitsbegriff in der Ethik: Versuch einer Klärung

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dem (zweiten) Reich der Vorstellungen (vgl. Frege, 1976, S. 43). Man muss aber noch mehr, viel mehr Dimensionen annehmen, etwa die Dimension der logisch/mathematischen Strukturen u. a. Der Bereich der Werte ist eine jener Dimensionen des Seins im Ganzen, die eine positivistisch-materialistische Position nicht zu erfassen vermag. Was die Dimension der ontologischen Werte als Basis für die moralischen Werte anbelangt, so ist die Betrachtung der Stellung des Menschen im Universum von entscheidender Bedeutung. Indem der Mensch ein ausgezeichnetes Seiendes neben vielen anderen Seienden ist, ist er eingebunden in ein Geflecht von Werten. Seine ontologische Auszeichnung besagt, dass seine seiner ontologischen Verfasstheit angemessene Stellung im Universum die ist, dass er - nach der traditionellen (Kantischen) Formulierung - absoluter Zweck an sich ist. Die Aussage, dass der Mensch absoluter Zweck an sich ist, ist grundsätzlich (noch) keine moralische, sondern eine rein ontologische These: Es widerspricht der ontologischen Verfasstheit des Menschen, wenn er qua Mensch nicht als Zweck an sich gesehen und behandelt wird. Aufgrund seiner Intelligenz, seines Willens und seiner Freiheit ist der Mensch als geistiges Wesen, wie man sagen könnte, (intentional) koextensiv mit dem Universum, d. h. er kann nicht auf eine Stelle reduziert werden, die als Mittel-für-andere-Elemente des Universums dienen könnte; m. a.W.: der Mensch ist absoluter Bezugspunkt im Universum. Den Menschen als Mittel zu betrachten und zu behandeln, kommt daher einer ontologischen Degradierung gleich, da dies seiner ontologischen Verfasstheit direkt widerspricht. „Zweck an sich selbst" ist daher ein basal-ontologischer Wert. Es ist zu betonen, dass es sich um eine in jeder Hinsicht genuin ontologische Beschaffenheit oder Bestimmtheit handelt. Alles andere wäre ein selbstwidersprüchlicher Subjektivismus. Aber in welchem Sinne ist „Zweck an sich" eine genuin ontologische Entität? Die Antwort wurde schon oben gegeben: „ Zweck an sich " ist die Bezeichnung für die vollbestimmte bzw. vollanalysierte ontologische Struktur oder Verfasstheit des Menschen. Es handelt sich also nicht um etwas „Supervenientes" bezüglich einer irgendwie schon vorausgesetzten ontologischen Verfasstheit, vielmehr ist die ontologische Verfasstheit Zweck an sich, diese „stellt" den basal-ontologischen Wert Zweck an sich „dar".

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3.4 Der ontologische Status der moralisch-ontologischen Werte Moralisch-ontologische Werte sind moralische Normen, präskriptive Werte. Die allgemeinste und höchste moralische Norm lautet in der traditionellen Terminologie: Bonum est faciendum - Malum est vitandum. Wie ist dieses präskribierte „bonum-(bzw. malum)" zu begreifen? Können oder müssen präskribierte Werte, also moralische Werte oder Normen, ontologisch verstanden werden? [1] Besonders bezüglich solcher Werte wird der Vorwurf erhoben, sie seien „absonderlich" oder stellen eine „Monstrosität" dar. W. Stegmüller hat in seiner kommentierenden Wiedergabe des Buches von J. Mackie dessen gegen die Annahme realer moralischer Werte oder „facts" gerichtetes Argument, das auf die „Absonderlichkeit (queerness)" solcher Entitäten abstellt, näher „beschrieben", indem er ein in seinen Augen phantastisches Szenario zeichnete, wie die folgende Passage zeigt: Wer an objektive Werte und Normen glaubt, so behauptet Stegmüller, „muss seine Welt mit absonderlichen Wesenheiten wie dem Getanwerdensollen, Unterlassenwerdensollen oder mit autoritativer Präskriptivität ausgestatteten Werten bevölkern. Piatos Formen liefern ein anschauliches und zugleich dramatisches Bild dieser Entitäten." (Stegmüller, 1989, S. 175)

Ungeachtet seiner Popularität in manchen philosophischen Kreisen stellt dieses „Argument" eine extrem starke und provokative These dar. Welchen argumentativen Wert hat es? Alles entscheidet sich daran, was man unter „Wirklichkeit" versteht. Für jemand, der keine Ahnung etwa von moderner Physik hat oder von dieser grundlegenden Wissenschaft nichts hält, sind die Entitäten, die die Physik einführt, beschreibt, erklärt, benutzt usw., einfach „absonderlich". Zu sagen, dass etwa ein Tisch, ein solider, vertrauter Tisch, den man jeden Tag sieht, betastet, benutzt usw., nichts anderes ist als ein Haufen von Molekülen, Elementarteilchen u.dgl., wäre für diese Person schlichtweg „absonderlich". Mackie vertritt eine radikale empiristisch-materialistische Auffassung von „Wirklichkeit"; es ist daher nicht verwunderlich, dass er so etwas wie „moralische Tatsachen" als absonderliche Entitäten bezeichnet. Das wahre Problem liegt aber nicht in diesen spezifisch moralischen Entitäten, sondern in der allgemeinen Frage, welche „Vorstellung" von Wirklichkeit ein Philosoph hat. Den soeben gegebenen Hinweis auf Entitäten der Physik sollte man ergänzen durch den Hinweis auf andere Begriffe bzw. Entitäten wie logische/mathematische Strukturen, Zahlen, Mengen, Modalitäten

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usw. Mackie selbst erwähnt diesen Punkt. Seine Stellungnahme dazu ist ausgesprochen hilflos und in jedem Fall hoch symptomatisch: „Ich kann hier nur meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass sich auf empiristischer Grundlage zufriedenstellende Antworten für die meisten der genannten Fragen geben lassen. Wenn einige vorgebliche metaphysische Wesenheiten oder Notwendigkeiten einer solchen Erklärung unzugänglich bleiben, so fallen auch sie zusammen mit den objektiven Werten unter das Verdikt des Arguments aus der Absonderlichkeit." (Mackie, 1981, S. 45)

Wie der letzte Satz verrät, ist Mackies Verfahren bzw. Einstellung sehr problematisch. Jedes X , das einer empiristischen „Erklärung" nicht zugänglich ist, wird einfach als „metaphysisch" und „absonderlich" „erklärt". Auf diese Weise kann man in der Tat Probleme „wegerklären"; aber „wegerklärte Probleme" sind keine gelösten Probleme. 13 [2] Im folgenden soll kurz gezeigt werden, dass moralische Normen im eigentlichen Sinn ontologisch zu verstehen sind. Es war nicht schwierig zu zeigen, dass die basal-ontologischen Werte einen ontologischen Status haben. Weniger einleuchtend dürfte die These sein, dass auch die moralischen Normen bzw. Werte ebenfalls einen ontologischen Status haben. Wie ist das genauer zu erläutern und zu begründen? Um diese Frage zu beantworten, muss man einen zweifachen ontologischen Status unterscheiden: einen ontologischen Status erster Ordnung und einen ontologischen Status zweiter Ordnung. (Es sei angemerkt, dass es auf die Terminologie überhaupt nicht ankommt.) Diese Unterscheidung deckt sich zwar nicht ganz mit der bekannten Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten, aber es besteht zwischen beiden Unterscheidungen eine bedeutsame Analogie. Die Unterscheidung zwischen dem ontologischen Status erster Ordnung und dem ontologischen Status zweiter Ordnung betrifft an erster Stelle jene Seienden, die man als leib-geistige Seienden und als Personen bezeichnet. Das sind die Menschen. Hier wird davon ausgegangen, dass die Menschen qua moralische Wesen durch Freiheit im starken Sinne ausgezeichnet sind.14 Der ontologische Status erster Ord13 Zur Kritik am Mackies Argument aus der „Absonderlichkeit" der Annahme ontologischer Werte vgl. die ähnlichen Überlegungen von C . McGinn in seinem Buch McGinn, 1997, bes. S. 19f. Allerdings sind seine Ausführungen sehr allgemein gehalten; beispielsweise unterscheidet er nicht zwischen basal-ontologischen und moralisch-ontologischen Werten. 14 „Freiheit im starken Sinne" kann kurz so charakterisiert werden: Freiheit, so konzipiert, dass sie jede Kompatibilität mit irgendeiner F o r m von Determinismus ausschließt.

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nung charakterisiert jene Strukturen des Menschen, die zu seiner Verfasstheit als ein leib-geistiges Wesen gehören. Der ontologische Status zweiter Ordnung bezeichnet all das, was aus Handlungen des Menschen qua leib-geistiges Wesen hervorgeht oder damit zusammenhängt, kurz: es ist der Bereich der Entitäten, die durch den Menschen selbst hervorgebracht werden. Das umfasst u. a. den Bereich, den Hegel „objektiven Geist" nennt, soziale Tatsachen, den Bereich des Rechts, der Moralität, der Institutionen usw. Moralische Normen haben diesen ontologischen Status zweiter Ordnung. Es ist klar, dass ohne die Existenz des Menschen solche Entitäten nicht existieren würden. Aber mit der Existenz des Menschen sind sie Bestandteile der Welt oder des Universums genauso wie Farben u. ä. Dabei spielt die Frage, wie sich aus den basal-ontologischen Werten moralisch-ontologische Werte, also Normen, ergeben, eine zentrale Rolle, ist doch die Klärung dieser Frage eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der ontologische Status moralischer Normen verständlich gemacht werden kann. Darauf kann hier nicht mehr eingegangen werden. Es sei nur noch darauf hingewiesen, dass das Verhältnis zwischen basal-ontologischen und moralisch-ontologischen Werten kein analytisches ist: Zwischen beiden besteht kein logisch-deduktiver Zusammenhang. Die Behauptung eines solchen logisch-deduktiven Zusammenhangs wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Der zentrale Gesichtspunkt dabei ist der folgende: moralisch-ontologische Werte (also Normen im streng präskriptiven Sinne) sind ohne Einbeziehung und Vermittlung eines Willens nicht begreifbar. Wie ein solcher Wille und der durch ihn vermittelte Zusammenhang zwischen den beiden Wertdimensionen zu denken sind, kann hier nicht mehr gezeigt werden. Ein Satz ist wahr genau dann, wenn er eine wahre Proposition (einen wahren Sachverhalt) ausdrückt. Eine Proposition (ein Sachverhalt) ist wahr genau dann, wenn sie (er) identisch ist mit einer Tatsache ([in] der Welt). Ethische Wahrheit ist eine Spezifikation des allgemeinen Begriffs der Wahrheit. Ein ethisch-evaluativer Satz ist wahr genau dann, wenn er eine ethisch-evaluative Proposition ausdrückt; eine ethischevaluative Proposition ist wahr genau dann, wenn sie mit einem basalontologischen Wert, also mit einer basal-ontologischen Werttatsache, identisch ist. Ein ethisch-deontischer Satz ist wahr genau dann, wenn er eine ethisch-deontische Proposition ausdrückt; eine ethisch-deontische Proposition ist wahr genau dann, wenn sie mit einem moral-ontologischen Wert, also mit einer moral-ontologischen Werttatsache, identisch ist. Q.E.D.

Wilfrid Seilars' Analyse der moralischen Urteile JOZEF BREMER

„Roughly, to value from a moral point of view is to value as a member of the relevant community which as far as the present argument is concerned, I shall assume to be mankind generally." 1

1. Einführung In seiner Dankesrede „Glauben und Wissen", die Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 2001 hielt, geht er vom Szenario einer Gesellschaft aus, das von dem im Jahre 1989 verstorbenen amerikanischen Philosophen Wilfrid Seilars entworfen wurde.2 In dieser postulierten Gesellschaft sind, so Habermas, die altmodischen Sprachspiele unseres Alltags zugunsten der objektivierenden Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen außer Kraft gesetzt. Der Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des Geistes ist ein wissenschaftliches Bild vom Menschen in der extensionalen Begrifflichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie, das auch unser Selbstverständnis vollständig entsozialisiert. Ein solches Vorhaben, so meint Habermas, kann nur gelingen, „wenn die Intentionalität unseres menschlichen Bewußtseins und die Normativität unseres Handelns in einer solchen Selbstbeschreibung ohne Rest aufgehen". Die erforderlichen Theorien müssen laut Habermas beispielsweise erklären, wie Personen Regeln - grammatische, begriffliche oder moralische Regeln befolgen oder verletzen können. Die Habermasschen Anspielungen auf die Theorie Sellars', die irgendwie seinen ganzen Text strukturieren, verlangen nach einer Ergänzung. In Seilars' Aufsatz „Philosophy and the Scientific Image of Man", auf den 1 Seilars, 1967, S. 220. 2 Vgl. Habermas, 2001, S. 9.

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Jozef Bremer

Habermas Bezug nimmt, geht es nicht in erster Linie um ein „wissenschaftliches Bild" der heutigen Wissenschaften, sondern um ein zukünftiges, zusammengefügtes („synoptisches") Weltbild („unified scientific account"), das - verkürzt gesagt - aus der philosophischen Interpretation des heutigen alltäglichen Weltbildes und des heutigen wissenschaftlichen Weltbildes entstehen werde.3 Das Zusammenfügen der beiden Weltbilder bezieht sich vor allem auf die Suche nach ontologischen Kategorien, die es ermöglichen, sowohl unsere alltäglichen Gedanken und Sinneseindrücke im wissenschaftlichen Weltbild wiederzugeben als auch die alltägliche Kategorie der Person (als einzelnes Subjekt) zu umfassen. Bereits das heutige wissenschaftliche Weltbild sagt uns, dass die Person eher ein „Bündel" von Wahrnehmungen, Urteilen usw. ist. Das Thema des ontologischen Zusammenfügens der beiden Weltbilder wird ausführlich in der Sekundärliteratur behandelt.4 Weniger bekannt sind Seilars' Überlegungen zur Ethik, die zur Frage nach der Person gehören, und dadurch gehören sie zur Frage nach dem „synoptischen" Weltbild. Im vorliegenden Aufsatz beziehe ich mich auf eine der Sellarsschen Fragen, die zugleich zu den zentralen Fragen von Habermas gehört. Sellars fragt danach, ob uns die Aufgabe gelingt „[...] o f s h o w i n g that c a t e g o r i e s p e r t a i n i n g t o m a n as a person

w h o finds

h i m s e l f c o n f r o n t e d b y s t a n d a r d s (ethical, l o g i c a l , etc.) w h i c h o f t e n c o n f l i c t w i t h his d e s i r e s a n d i m p u l s e s , a n d t o w h i c h h e m a y o r m a y n o t c o n f o r m , c a n b e r e c o n c i l e d w i t h the i d e a that m a n is w h a t s c i e n c e s a y s h e i s . " 5

Aus Sellars' Überlegungen zur Theorie der praktischen Vernunft greife ich seine Auffassung der Formen der „Shall-sentences"6 heraus, um darzustellen, was und wie sie - im Kontext der genannten Sellarschen Frage zur synoptischen Vision der beiden Weltbilder beitragen kann. Unter anderem wird es darum gehen, welches Licht Seilars' Analyse des prakti3 Zu einer allgemeinen Einführung zu Sellars' Philosophie vgl. Rosenberg, 1990, S. 1-23. Zu den beiden Weltbildern vgl. J . Bremer, 1997, S. 9-43. 4 Zu diesem Thema vgl. Seibt, 1990, passim, Bremer, 1990, passim. In beiden Büchern befinden sich Angaben über weiterführende Literatur. 5 Sellars, 1962, S. 38. 6 Bei der Ubersetzung von Sellars' Texten taucht das Problem auf, wie die englischen Termini „shall" und „ought" im Deutschen angemessen wiedergeben werden können. Ich übersetze das sellarssche „shall" mit „sollen". „ O u g h t " wäre dann wohl am besten mit „sollte" zu übersetzen. Sellars schreibt: „I am reconstructing English usage pertaining to .shall' in such a way that, in candid speech, it always expresses an intention on the part of the speaker with respect to a certain state of affairs. In other words, I shall use .shall' and .will' in such a way that .shall' always expresses an intention, whereas .will' is always a simple future." Sellars, 1967, S. 179.

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sehen Urteils auf die Problematik der Rickenschen „Ethik der abwägenden Vernunft" wirft.

2. Die alltägliche Auffassung der Absichten Die Herausforderung der Integration von Handlungen (actions) in die synoptische Vision des alltäglichen und des wissenschaftlichen Weltbildes ist für Sellars keine grundlegende ontologische Herausforderung. Vom ontologischen Standpunkt aus sind Absichten (intentions) und Willensakte (volitions) einfach unterschiedliche Arten von Gedanken. Handlungsabsicht ist für Seilars ein Begriff, ähnlich wie seine Auffassung der „praktischen Vernunft" (practical reason) oder der „praktischen Verpflichtung" (practical commitment). Vom funktionalen Standpunkt aus sind sie, also die Absichten und Willensakte, zugleich Gedanken spezieller Art. Sie sind praktische Erkenntnisse (practical cognitions). Auf diese Weise ist Sellars' Auffassung dessen, was er mit „Absicht" meint, sehr breit. Sie umfasst im Allgemeinen sowohl moralische und nicht-moralische praktische Verpflichtungen wie auch Zustände wie Willensakte, Vorzüge oder Wünsche. Die funktionale Rolle der praktischen Erkenntnisse ist vom Verhalten der Person her zu verstehen. Es geht um etwas Analoges zu der Weise, in welcher die Rolle der Erkenntnis in Urteilen, die sich auf Wahrnehmung beziehen, verstanden wird, d. h. in ihrem Status als nicht schlussfolgernde (non-inferential) Reaktionen auf Eindrücke. Sellars unterstreicht die spezielle Rolle der praktischen Erkenntnisse durch einen eigens von ihm ersonnenen, technischen Gebrauch des Hilfsverbs „sollen" (shall). Wenn wir anerkennen, dass „sollen" (shall) zur begrifflichen Anordnung der Person bzw. der Gemeinschaft gehört (d. h. es muss gute Argumente geben, zu denen „sollen" gehört), dann ist der Weg frei, um anzuerkennen, dass „gut" und „sollte" (ought) auch dazu gehören. 7 In Sellars' Worten ausgedrückt: „I would argue that the meaning of,ought' is related to that of,shall' and is indicated, roughly, by the context." 7 Sellars, 1967 a, S. 408. Sellars klärt seinen Sprachgebrauch durch folgende U n t e r scheidungen: „(1) This is red, therefore, it is extended and not green. (2) T o m o r r o w will be Tuesday, therefore, yesterday was Sunday. (3)1 shall get to H a r t f o r d by 8 PM, therefore, I shall leave N e w Haven before 6 PM." Sellars, ebd., S.408.

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Sellars sagt uns aber nicht, was er hier mit „context" meint, es handelt sich wohl um den Gebrauchskontext. „Sollen" wird von Sellars als ein Operator für den sprachlichen Ausdruck von Gedanken gebraucht. Der Operator „sollen" funktioniert auf eine expressive und keineswegs deskriptive Weise. Er drückt die Absicht der Person aus, die den entsprechenden Satz formuliert.8 Seilars fügt hinzu: „ N o w it is clearly important to distinguish between the expression of an intention and the ascription of an intention." 9

Kategorische Absichten oder Vorhaben (intendings) sind zeitlich determinierte, in der ersten Person Singular („Ich") gebrauchte, sich auf die Zukunft beziehende praktische Gedanken in folgender Form: [Ab]

Sollen (Ich werde X in t tun), oder allgemein: „Soll Ich (p)" Shall (I will do X at t), Shall, (ρ).

Der Satz [Ab] ist zu unterscheiden von einer Zuschreibung (ascription) von Absichten, vor allem von der Selbst-Zuschreibung von Absichten. Eine Zuschreibung in der Form „Ich beabsichtige, dass p " beschreibt mich als denjenigen, der beabsichtigt, dass p. Das Sellarssche „Soll ich (p)" beschreibt mich jedoch nicht als denjenigen, der beabsichtigt, dass p, sondern drückt diese meine Absicht aus, dass p. Natürlich können die Sätze [Ab] auch mich repräsentieren (als den, der eine solche Absicht hat), aber sie leisten das nicht durch den Operator „soll", sondern durch ihren Inhalt. Ahnlich werden von Seilars „Willensakte" definiert. Willensakte sind spezielle Fälle der genannten Absichten, in welchen die Determination der Zeit zum indexikalen Präsens wird: [Wi]

Sollen (Ich werde X jetzt tun) Shall (I will now do Χ). 1 0

Solche praktischen Gedanken vermitteln zwischen dem logischen Denken und dem Verhalten einer Person. Einerseits stehen sie in Verbindung mit Verhaltensweisen dadurch, dass sie als ein Bündel von erworbenen kausalen Neigungen (propensities) aufgefasst werden, welche garantieren, dass die Absichten in der Form [Ab] regulär zur Zeit t Willensakte in der Form [Wi] verursachen, welche dann in der Regel (ausgenommen Fälle von Lähmung und anderen Hindernissen) körperliche Bewegungen ver8 Vgl. Seilars, 1967, S. 220. 9 Seilars, 1967, S. 185. 10 Vgl. Seilars, 1967, S. 177.

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Ursachen und die Anfangsphasen im Tun von X bilden. Absichten sind propositional inhaltsvolle mentale Zustände und Ereignisse mit einer „begrifflichen Verbindung zur Praxis". Ohne „a conceptual tie to practice", wie indirekt auch immer, würden sie keine praktischen Beweggründe (reasonings) sein. 11 Andererseits stehen, wie wir im nächsten Punkt sehen werden, die Absichten in Verbindung mit dem logischen Denken gemäß einem einfachen Prinzip, welches die praktische und theoretische Argumentation zusammenführt. Sellars weist dabei auf eine Parallelität zwischen der praktischen Argumentation (reasoning) und der Argumentation in den empirischen Wissenschaften hin.

3. Der propositionale Gehalt der Absichten Sellars geht von einem grundlegenden und allgemeinen ÄquivalenzPrinzip aus: Der propositionale Gehalt des theoretischen Denkens ist von derselben Art wie der propositionale Gehalt des praktischen Denkens. Das Prinzip gibt die schlussfolgernde Relation zwischen Absichten wieder: [A]

„ E s ist der Fall, dass-P" impliziert „es ist der Fall, d a s s - Q " ο „ E s soll der Fall sein, dass-P" impliziert „es soll der Fall sein dass-Q."12

Diesem Prinzip entsprechend entwickelt Sellars keine spezielle „Logik der Absichten", um die praktische Schlussfolgerung darzustellen, sondern er gebraucht die Logik des theoretischen Denkens, um per analogiam die Schlussfolgerung des praktischen Denken wiederzugeben. Welcher Art sind aber die im zweiten Teil der These [A] vorkommenden Implikationen? Sie hängen nicht vom Erkennen der Schlussfolgerungsregel ab, d. h. sie hängen nicht vom propositionalen Erkennen der Namen ab. Man kann hier von „materiellen" Implikationen sprechen. 13 Sellars identifiziert nicht die Regel der zu den Tatsachen gehörenden Implikationen mit den Ableitungsregeln der Prädikatenlogik I. Stufe (das Aquivalenz11 Sellars, 1967, S. 176. 12 „,1t is the case that-P' implies ,1t is the case t h a t - Q ' " ο „,1t shall be the case that-P' implies ,it shall be the case t h a t - Q ' " (Sellars, 1967, S. 179). 13 „I shall use .implies' without qualification to mean causally or physically implies, where the context makes it clear that this is what is involved." Sellars, 1967, S. 181.

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zeichen „ o " gehört dieser Prädikatenlogik an). Auf diese Weise besagt die These [A], dass eine Absicht von einer anderen abgeleitet werden kann. Somit ist festzustellen: Sellars' Auffassung alltäglicher Absichten oder Willensakte ist eine funktionale Auffassung kausal-vermittelnder logisch-semantischer Rollenspiele, und nicht der Begriff einer Entität mit einem determinierten, intrinsischen Charakter, der der Person selbst (propria persona) zugeschrieben wird.

4. Subjektive Absichten Die zitierten Sellarsschen Shall-Sätze sind weder falsch noch wahr, obwohl die zu ihnen gehörenden deskriptiven Sätze entweder falsch oder wahr sind. Aus dem Fehlen einer externalen Negation (d. h. einer Negation, die ausserhalb der Reichweite des Operators liegt) folgt, dass niemand einen „Soll-Satz" widersprüchlich machen kann, auch nicht die Person, die ihn ausspricht.14 Dies führt zur Frage nach der Intersubjektivität der Shall-Sätze. Auf der Basis der Autorität dieser Sätze unterscheidet Sellars zwischen Absichten in subjektiver Form und solchen in intersubjektiver Form. 15 Die ersten sind im wesentlichen privat und „egozentrisch" (ihre Autorität hängt von der Person ab, die sie hat), die zweiten erstrecken ihre Autorität zugleich auf andere Personen. Was meint Sellars, wenn er von Absichten in subjektiver Form spricht? Auch dort, wo der deskriptive Gehalt der Absichten von zwei Personen (im strengsten Sinne) derselbe ist, sind diese Absichten einerseits numerisch nicht-identische Absichten, und andererseits schließt der ganzheitliche Inhalt der Absichten eine spezielle Art von Egozentriertheit mit ein. Sie wird durch das „sollen" ausgedrückt. Diese Art von Egozentriertheit gehört zum praktischen Diskurs und stellt das Gegenstück der Egozentriertheit der Demonstrativpronomen dar. Die letztgenannte Egozentriertheit drückt die Auswirkung der Welt auf den Diskurs aus, die Egozentriertheit der Absichten meint die Auswirkung des Diskurses auf die Welt. Wenn wir zwischen dem deskriptiven Element im Gehalt eines Vorhabens (intendings) und dem Element, das durch den Operator „sollen" (shall) ausgedrückt wird, unterscheiden, können wir sagen, dass dort, wo der deskriptive Gehalt im strikten Sinne derselbe ist, die beiden Absichten „parallel" sind. Der traditionelle 14 Vgl. Sellars, 1967, S.188f. 15 Sellars, 1967, S.217f.

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Emotivismus würde hier - so Sellars - von einem „agreement in attitude" sprechen. 16 Die Egozentriertheit (im praktischen Modus) des „sollen" einerseits und die Abwesenheit einer externalen Negation andererseits werfen für den praktischen Diskurs das Problem der Bedeutung von solchen Begriffen wie Intersubjektivität und Wahrheit auf. Zwei Menschen können in einem strengen Sinne denselben Satz als denselben bestätigen. Aber soweit wir ihre Absichten in subjektiver Form betrachten, können diese Absichten im besten Fall parallel sein. „They are irreducibly egocentric, even when this egocentricity is latent as in Tom: it shall be the case that the war ends Dick: it shall be the case that the war ends."

Dieser Quasi-Dialog stellt ein Beispiel von „agreement in attitude" dar. Jedoch ist die grundlegende Form dieser Sätze: „Tom: (ceteris paribus) I (Tom) shall do what I can to end the war. Dick: (ceteris paribus) I (Dick) shall do what I can to end the war." 17

Das heißt, die Ubereinstimmung in der Einstellung (attitude) bedeutet keine Identität der Absichten. Den Absichten in subjektiver Form fehlt es an interpersonaler Autorität, ähnlich wie sie auch den persönlichen Uberzeugungen fehlt. Wenn wir solche Absichten haben, bringt dies keine normative Erwartungen an andere Personen mit sich. Deswegen spricht Seilars von der „Egozentriertheit" und „Privatheit" der Absichten in subjektiver Form. Ihre Privatheit liegt in ihrer praktischen, propositionalen Einstellung, sie sind propositionale Einstellungen mit motivierenden Elementen. Absichten in subjektiver Form sind als praktische Einstellungen bloß persönliche oder subjektive Präferenzen im Hinblick darauf, dass eine bestimmte Sachlage sich ereignen sollte.

5. Intersubjektive Absichten Sellars' metaethische These lautet: Absichten zu moralischen Handlungen haben, als Einstellungen, einen intrinsischen und nicht-reduzierbaren Charakter, der ihnen aus der Formulierung in der ersten Person Plural zukommt. 16 Vgl. Sellars, 1967, S. 188 f. 17 Sellars, 1967, S. 217.

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Die grundlegende Frage seiner Theorie des praktischen Denkens lautet: Wie können praktische Verpflichtungen (commitments) nicht nur hypothetisch (d. h. relativ zu ihren Prämissen) vernünftig (reasonable) sein, sondern auch kategorisch vernünftig sein? Damit die moralischen Absichten und Wertungen kategorisch vernünftig sein können, müssen sie von einer anderen Art sein als die subjektiven Absichten. Seilars nennt die gesuchten Absichten „Absichten in intersubjektiver Form" (intentions with intersubjective form). Sie werden mit Hilfe des Operators „We shall do..." ausgedrückt. Anhand von Seilars' Texten lassen sich drei Charakteristika dieser Absichten herausarbeiten: [1] „Tom: we shall do what we can to end the war Dick: we shall do what we can to end the war." 1 8

Diese Sätze in der ersten Person Plural haben zwei Eigenschaften: (i) Sie drücken die Absicht der Sprechenden aus. (ii) Die ausgedrückten Absichten sind im strengen Sinne dieselben. Wir haben zwar zwei unterschiedliche Vorhaben (intendings), aber ihr Inhalt ist derselbe. [2] Die Entsprechung (counterpart) der Zuschreibung „Smith values, from a moral point of view,..." ist gemäß Seilars: „We would that...". In anderen Worten: „... to value from a moral point of view is to value as a member of the relevant community, which as far as present argument is concerned, I shall assume to be mankind generally." 19

[3] Die Absicht „It shallwe be the case that our welfare is maximized" 20 scheint eine Autorität zu haben, die mehr ist als nur dies, dass sie allgemein akzeptiert wird. Es ist eine begriffliche Tatsache - schreibt Sellars weiter-, dass Menschen eine Gemeinschaft bilden, d.h., ein gemeinsames „Wir" bilden, und zwar dadurch, dass sie jeden anderen Menschen als einen von „uns" ansehen. Wir wollen das gemeinsam Gute nicht als eine Art von Wohlwollen (Benevolence) haben, sondern wir wollen es als eine Person, die zur Gemeinschaft gehört, d. h. von einem moralischen Gesichtspunkt aus. Die Charakteristika [1], [2] und [3] verweisen auf Sellars' Denkweg: U m den Ubergang von rein hypothetischen Gedanken (reasonableness) zu praktischen Verpflichtungen zu schaffen, führt er den Begriff der Absichten in intersubjektiver Form ein. Absichten dieser Art setzen eine Gei s Sellars, 1967, S. 217. 19 Sellars, 1967, S. 220. 20 Sellars, 1967, S. 222.

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meinschaft von vernünftig handelnden Mitgliedern voraus, sie setzen einen gemeinsamen Gesichtspunkt anstelle eines egozentrischen Gesichtspunkts voraus. Seilars' These lautet: Dass Menschen Absichten in solch einer intersubjektiven Weise haben, reicht aus, um die Möglichkeit „logischer Zusammenstöße" (logical clashes) zwischen solchen praktisch rationalen Wesen zu erklären (ζ. B. zwischen Tom und Dick). Wenn Tom die Absicht in intersubjektiver Form hat: „Sollenwir[Es wird der Fall sein, dass der Krieg endet]" (Shallwe[It will be the case that the war ends]), legt er nicht nur sich selbst dahingehend fest, was auch immer dazu beizutragen, damit der Krieg zu Ende geht. Dieser Beitrag umfasst nicht nur seine weiteren Absichten, die zu diesem Ziel führen. Tom bezieht vielmehr alle Mitglieder seiner Gemeinschaft (auch sich selbst) in den Bereich dieses „wir" mit ein. Er sieht sie alle als dazu verpflichtet an, alles zu tun, damit der Krieg endet, d. h., auch weitere Absichten zu formulieren, die zu diesem Ziel beitragen werden. Wenn nun Dick die Absicht „Sollenwir[Es wird nicht der Fall sein, dass der Krieg zu Ende geht]" hegt, dann „stoßen" Tom und Dick „logisch zusammen". Dick hat den Vorsatz, dieselbe praktische Position einzunehmen wie Tom, aber seine Absicht steht im Widerspruch zur Absicht von Tom. Es wäre nicht ausreichend, den „logischen Zusammenstoß" zwischen Dick und Tom dadurch zu erklären, dass Tom und Dick Einstellungen mit widersprüchlichen Inhalten haben. Tom und Dick haben folgende subjektive Absichten: „Sollich(Tom)[Es trete der Fall ein, dass der Krieg zu Ende geht]" und „Sollich(Dick)[Es trete nicht der Fall ein, dass der Krieg zu Ende geht]". Dann werden die beiden Personen in mentalen Zuständen in identischer Form (beide haben Absichten), aber mit widersprüchlichem Inhalt sein. Ihre so aufgefassten Aussagen stoßen jedoch nicht logisch aufeinander. Die notwendige Bedingung für den genannten „logischen Zusammenstoß" zwischen Dick und Tom ist vielmehr dann gegeben, wenn beide von Einstellungen „sollenwir" und nicht von Einstellungen „sollich" her argumentieren.21 Bei der praktischen Argumentation vom sollenwirStandpunkt gehen Tom und Dick vom selben Standpunkt aus. Die moralische Argumentation (reasoning) besteht im Verfolgen solcher „sollen wir "-Absichten in intersubjektiver Form. Tom und Dick geben vor, praktisch vom demselben Standpunkt aus zu argumentieren, aber ihre Absichten haben einen widersprüchlichen Inhalt. Laut Tom ist Dicks praktische Einstellung zum Kriegsende falsch, ungeachtet seiner anderen 21 Vgl. Seilars, 1967, S. 218.

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Einstellungen. Für Dick ist Toms praktische Einstellung zum Kriegsende falsch, ungeachtet seiner anderen Einstellungen. Ein überzeugend guter Grund (d. h. ein gutes Motiv) braucht, so Seilars, nicht der überzeugendste Grund (d. h. das am meisten überzeugende Motiv) zu sein. 22 Jemand kann das Bessere kennen und das Schlechtere tun, und das aus Selbstliebe. Aus diesem Grund wird der genuin moralische Konflikt imaginativ als Konflikt zwischen zwei Personen dargestellt. Die eine von ihnen repräsentiert die interpersonale Verpflichtung für ihre Gemeinschaft, die andere die persönliche Verpflichtung für das eigene Wohlergehen. In einem Moment der Entscheidung dominiert der eine oder der andere der Kandidaten bei der Orientierung des „Selbst-in-derHandlung". 2 3 Die Wahl besteht, in gewissem Sinn, zwischen nicht vergleichbaren (incommensurables) Größen. Welche Wahl jemand trifft, ist eine Enthüllung dessen, wer er in diesem Moment ist. Zusammenfassend kann gesagt werden: Gemäß Seilars sind praktische Verpflichtungen in intersubjektiver Form solche Absichten, die von Individuen anerkannt werden, und diese Anerkennung erfolgt vom Standpunkt der ersten Person im Plural. Seilars' allgemeine Theorie der praktischen Rationalität umfasst seine Theorie der moralischen Absichten.

6. Ontologie der manifesten intersubjektiven Absichten Im letzten Punkt (vgl. [1]) wurde gesagt, dass (ungeachtet des „sollen^/'-Standpunktes) Tom und Dick zwei numerisch unterschiedliche Absichten haben. Dies besagt, dass eine praktische Argumentation in der intersubjektiven Form keine ontologischen Implikationen mit sich bringt. Es ist nicht so, dass Tom und Dick sich ontologisch irgendwie vereinen oder verschmelzen, weil sie den gemeinsamem „sollen wir "-Standpunkt einnehmen. Jede einzelne Person, die von dem gemeinsamen Standpunkt argumentiert, nimmt sich vor, den Standpunkt jedes moralischen menschlichen Daseins einzunehmen. Aber ihre Vorhaben unterscheiden sich nu22 Vgl. Sellars, 1970, S. 42. 23 „At the moment of decision, one or the other of these candidates f o r an orientation of the self-in-action - each in its o w n w a y over-arching - predominates." Sellars, 1970, S.42.

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merisch von den Vorhaben der anderen Personen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Absichten in intersubjektiver Form haben zugleich individualistische Aspekte.24 Wegen der numerischen Unterschiedenheit kann das ontologische Zusammenfügen des praktischen Denkens und des praktischen Argumentierens im wissenschaftlichen Weltbild in analoger Weise geschehen wie das allgemeine Zusammenfügen der kognitiven Gedanken, die ja auch numerisch den einzelnen Personen zugehören. Dieses ontologische Zusammenfügen kann hier keineswegs das Ende der Erzählung sein. Wenn wir die Idee ernst nehmen, dass das zukünftige wissenschaftliche Weltbild ein komplettes Bild des Menschen-in-der-Welt zu sein beabsichtigt und das alltägliche Weltbild ersetzen soll, dann sehen wir, dass ein solches „Ersetzen" verlangt, dass die zur Person gehörenden Kategorien als solche im vereinigten Weltbild zu erscheinen haben. Die Sellarssche Theorie der moralischen Absichten, oder der „ethical standards" im Allgemeinen, lässt sich ins wissenschaftliche Weltbild einfügen, weil der „sollen wir "-Operator eine expressive Funktion hat. Er drückt, ähnlich dem subjektiven Operator „soll ich ", eine Einstellung der Person zu einem propositionalen Gehalt aus. Für Seilars ist der Begriff der Person unvermeidbar ein sozialer Begriff. Von einer Entität als Person zu denken bedeutet, von ihr als Mitglied einer Gemeinschaft zu denken. Mit anderen Worten: Von der Person vom Standpunkt einer Gruppe her zu denken, wobei wie Seilars sagt „each member of which [dieser Gruppe] thinks of itself as a member of the group". 25 Es sind die meist allgemeinen Absichten einer Gemeinschaft, die die Strukturen der Normen und der Werte grundlegend definieren und in deren Termini die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder als „korrekt", „unkorrekt", „recht" oder „falsch" bestimmt werden können. Die kategorische Gültigkeit einer intersubjektiven Absicht (ζ. B. der Form: „sollen wir [Es wird der Fall sein, dass der Krieg endet]", oder „sollenwir[Es wird der Fall sein, dass unser Wohlergehen maximiert wird"]) scheint in der Tatsache zu bestehen, dass aufgrund solcher Absichten eine Gruppe oder Gemeinschaft eben eine Gemeinschaft ist. Was auch immer Leute, die einen normativen Diskurs führen, über sich selbst und ihre Gemeinschaft 24 „Moral attitudes are in this sense impartial. They are also, I have suggested, interpersonal or shared attitudes in the sense that their proper expression involves not simply ,1 intend, approve etc.,' but rather ,we intend, approve, etc.' They are subjectively universal (inter-personal) as well as objectively universal (impartial)." Sellars, 1967a, S.411. 25 Sellars, 1962, S. 39.

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vermitteln mögen, das, was sie sagen, kann nicht gesagt werden, ohne auf den normativen Diskurs Bezug zu nehmen. Grob gesagt, eine Gemeinschaft besteht aus Personen, welche „intend sub specie such an intention, the scope of ,we' being the members of the community." 26 Sellars setzt voraus, dass eine allgemeine faktische Annahme einer praktischen Verpflichtung in einer Gemeinschaft praktisch rationaler Personen weder notwendig noch ausreichend für das praktische Handeln ist. Die Tatsache, dass nur eine einzige Person eine bestimmte Absicht in intersubjektiver Form hat, bedeutet keineswegs, dass diese Absicht kategorisch unvernünftig ist. Aber auch die Tatsache, dass jeder diese Absicht teilt, macht sie nicht kategorisch vernünftig. Auch Absichten, an denen nur eine Person festhält, können richtig sein. „Sollen wir "-Aussagen sind kategorisch gültige intersubjektive Absichten, die jemand unter bestimmten Bedingungen als eine bestimmte Art von Handlung ausführt. „It follows that to recognize a featherless biped or dolphin or Martian as a person requires that one think thoughts of the form ,we (one) shall do (or obtain from doing) action of kind A in circumstances of kind C.' To think thoughts of this kind is not to classify or explain but to rehearse an intention."27

Nach Sellars ist das Begriffsgefüge der Person eine Einheit, in der wir von den anderen als von Mitgliedern einer Gemeinschaft denken, die deren Absichten teilen. Diese Art des Denkens stellt uns einen Zusammenhang von Prinzipien und Standards zur Verfügung. Vor allem geht es um solche Prinzipien, die einen bedeutungsgeladenen Diskurs und Rationalität ermöglichen.

7. Schluss Sellars' Theorie der Moral ist der rationalistischen Tradition zuzurechnen: Rationales Verhalten ist ein Anpassungsverhalten, das (in ähnlichen Umständen) parallel zu den Verhaltensweisen der anderen Mitglieder der Gemeinschaft verläuft. Sellars nimmt an, dass die allgemeinen moralischen Prinzipien die mutmaßlich geteilten Absichten ausdrücken. Seine Analyse liefert eine Darstellung unseres Gebrauchs des „Sollens": Ein Begriff funktioniert nur dann als moralisches „Sollten" (ought), wenn die Spre26 Sellars, 1967, S.225. Vgl. Sellars, 1953, S.256. 27 Sellars, 1962, S. 39.

Wilfrid Sellars' A n a l y s e der m o r a l i s c h e n U r t e i l e

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chenden ihn gebrauchen, um Absichten auszudrücken, die zum Teil ihre eigenen Absichten sind. Das moralische Argumentieren verläuft parallel zum alltäglichen praktischen Argumentieren. „K soll Α tun" bedeutet etwas ähnliches wie „Beabsichtigenwir Κ tut A". Die Wir-Absichten sind Absichten von Individuen im Hinblick auf das gemeinsame Tun einiger partikularer Dinge. Als erster Punkt in Hinblick auf die Sellarssche Theorie lässt sich anführen, dass es eine vernünftige Aufforderung bezüglich des Handeln der Personen ist zu erwarten, dass sie im Hinblick auf das Gemeinwohl der Gemeinschaft handeln. Sellars nimmt an, dass sich mit seiner Auffassung der Absichten in intersubjektiver Form die begriffliche Unabhängigkeit der kategorischen Vernünftigkeit (Angemessenheit) in praktischen Dingen erklären lässt. Wenn wir aber sowohl seine „sollen wir "-Aussagen wie deskriptive Formeln im Sinne von „wir beabsichtigen, dass" interpretieren, als auch seine Sollens-Sätze wie Zuschreibungen von Absichten zu Gruppen von Personen deuten, dann würde die kategorische Vernünftigkeit dieser SollensSätze davon abhängen, ob jeder im „Bereich" des „Wir" tatsächlich diese Absichten hat, welche der jeweilige Satz spezifiziert. Seilars will keineswegs eine diesbezüglich begriffliche Abhängigkeit der kategorischen Vernünftigkeit der Sollenwir-Sätze von den tatsächlichen Absichten der Gemeinschaft herleiten. Deswegen interpretiert er seine „sollen wir "-Aussagen eher expressiv als deskriptiv. Die notwendige Bedingung für eine moralische Verpflichtung ist die interpersonale Autorität der Verpflichtung, die als eine Verpflichtung für alle Mitglieder einer Gemeinschaft angenommen wird. Dank der Eigenschaft der intersubjektiven Form umfasst das Beabsichtigen auf eine solch intersubjektive Weise eine normative Erwartung an alle praktisch vernünftigen Personen. Diese normative Erwartung zeigt auf, was es für eine Absicht bedeutet, eine interpersonale Autorität zu haben. Als zweiter Punkt bezüglich der Sellarsschen Theorie kann gesagt werden: Die moralischen Urteile sind einerseits praktische Urteile und stellen die Zustimmung zu einer Handlung her, andererseits sind sie kognitive Urteile (d. h. sie können in Bezug auf ihre Wahrheit und Falschheit beurteilt werden, ähnlich wie auch faktische Urteile beurteilt werden können). Die Schwierigkeit mit diesen beiden Seiten der moralischen Urteile zeigt sich gewöhnlich dann, wenn wir diese Seiten gleichzeitig betrachten. Wird die praktische Kraft der moralischen Urteile durch ihre Ausdruckweise der Absichten erklärt, ist es schwierig zu zeigen, wie diese Urteile kognitive Geltung haben können. Wird der kognitive Charakter

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der moralischen Urteile durch ihre Konstruktion als tatsächliche Urteile erklärt, ist es schwierig zu sehen, wie solche Urteile entsprechende Gründe von Handlungen sein können. Sellars überwindet diese Schwierigkeiten dadurch, dass er die moralischen Urteile als Ausdrücke von Absichten auffasst (was als Erklärung für ihre praktische Seite steht) und zugleich zeigt, wie die Ausdrücke der Absichten (unter Sollenwir-Umständen) einen kognitiven Charakter haben können. Der dritte Punkt bezieht sich auf das moralische „Subjekt" und die Natur von „gut" oder „wahr". Sellars spricht nicht von „gut" oder von einem „kategorischen Imperativ", weil er unsicher ist, was es meinen würde, von solchen „Dingen" zu sprechen. Zugleich sucht er jedoch nach einer Formulierung seiner „praktischen" Wir-Theorie. Moral ist für ihn ein soziales Konstrukt, das wir von unserer Gesellschaft geliefert bekommen. Das moralische Subjekt ist bei Sellars ein Bündel aus Uberzeugungen, Absichten und Emotionen, allerdings ohne ein dahinterstehendes, analoges moralisches „Wesen". Das Subjekt appelliert an die Moral, wenn es an die Absichten und Uberzeugungen appelliert, die ihm erlauben zu sagen: „So handeln wir nicht". Moral ist bei Sellars eine Sache von Wir-Absichten. Moralische Zielkonflikte haben nach seiner Auffassung nichts zu tun mit einer objektiven moralischen Wahrheit. Das Subjekt kann die moralischen Konflikte nicht dadurch lösen, dass es konkurrierende Ziele „gegeneinander abwägt". Es ist nicht so, dass der „weise Mann" seine Konflikte löst, indem er sein Gedächtnis, seine Ideen von „gut" und „Gott" oder die entsprechenden Artikel des moralischen Gesetzes befragt. Sellars würde im Befolgen solch einer Methode, zu moralischem Handeln zu gelangen, eher eine mechanische Vorgehensweise sehen. Dadurch würde das moralische Handeln auf ein automatisches Unternehmen reduziert, in dem es (im Grunde genommen) keine Zweifel über „richtig" und „schlecht" geben kann, oder darüber, was in einer konkreten Situation zu tun wäre. Stattdessen zieht Sellars nach reiflicher Überlegung die Tatsache in Betracht, dass die meisten von uns sich mit unserer Gemeinschaft (oder verschiedenen Gemeinschaften) identifizieren und es ihnen widerstrebt, sich in Bezug auf die Gemeinschaft zu marginalisieren. Sellars will uns von der Idee befreien, dass wir eine philosophische Grundlage (im Sinne von Kant) für unsere moralischen Handlungen haben müssten. Auf diese Weise wird auch die Seilarsche Antwort auf das von Habermas angedeutete Problem gegeben: Gelingt es uns zu zeigen, dass die Kategorien des moralisch handelnden Menschen mit der Idee vereinbart werden können, dass die Person das ist, was das zukünftige

Wilfrid Seilars' Analyse der moralischen Urteile

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Weltbild von ihr sagt? Natürlich bezieht sich die in meinem Aufsatz besprochene Antwort nur auf moralische Urteile. Es stellt sich die Frage, wie sich Sellars' Rekonstruktion der Ethik zu Friedo Rickens ,Ethik der abwägenden Vernunft' verhält. Seilars Bezugnahme auf die grundlegende Rolle der Gemeinschaft bildet einen sprachlich-formellen Rahmen für die eher inhaltlichen und sehr detaillierten Ausführungen Rickens über die Funktion der „sozialen Bindungen": Sie „bestimmen die Aufgaben, die der einzelne zu erfüllen, und den Personenkreis, für den er zu sorgen hat." 28 Eine weitere Ubereinstimmung zwischen beiden Autoren ist in ihrer Auffassung des ethischen Urteils zu sehen. Auch Ricken lehnt die Vorstellung ab, moralisches Handeln sei ein „angelerntes, regelgeleitetes Verhalten". Zwar ist „die Tugend [...] ein Ergebnis eines Sozialisationsprozesses", jedoch mündet sie in „die Fähigkeit zur selbständigen vernünftigen Entscheidung, die sich am Richtigen orientiert und den jeweils neuen Umständen Rechnung trägt." 29 Eine offene Frage bleibt, ob sich auf dem metaethischen Fundament Sellars' die Eigenart des moralischen „Sollens" angemessen rekonstruieren lässt. Denn dem „Sollen" im moralischen Sinn wohnt eine Unbedingtheit bei, die nur schwerlich aus sozialen Wir-Konstruktionen herzuleiten ist. Moralisches „Sollen" stellt eine Forderung an die Person dar, die sich vom Zwang einer Gemeinschaft unterscheidet und die Freiheit der Person voraussetzt und herausfordert.

28 Ricken, 1998, S.201. 29 Ricken, 1998, S. 186. Bei J a y F. Rosenberg (University of N o r t h Carolina, Chapel Hill) und Michael Heinz SJ (Hochschule für Philosophie, München) bedanke ich mich für die hilfreichen Anmerkungen.

Vernunft und Tugend L U D W I G SIEP

Es ist in der Geschichte der Ethik unbestritten, dass der Mensch nicht ohne Vernunft tugendhaft sein kann. Selbst wenn es Genies der Barmherzigkeit oder der Gerechtigkeit geben sollte, die sozusagen traumwandlerisch das Richtige in den entsprechenden Situationen treffen, werden sie dabei doch vermutlich irgendeine Art vernünftiger Einsicht aktivieren. Umstritten ist dagegen, was die Vernunft zur Tugend beiträgt, ob sie dazu ausreicht, Menschen tugendhaft zu machen, oder welche übrigen Fähigkeiten und Kräfte hinzukommen müssen. Die Skala reicht vom Rationalismus eines Sokrates oder der älteren Stoa, für die Vernunft und Tugend zusammenfallen und richtiges Handeln aus richtigem, vernünftigem Urteil ohne weiteres folgt, bis zur Vernunftskepsis David Humes, für den die Vernunft nur ein Instrument der wesentlich affektiv bestimmten Tugend ist. Was fehlt der Vernunft, um den Menschen zum richtigen, tugendhaften Handeln zu bewegen? Zweierlei wird hauptsächlich ins Feld geführt: ein kognitiver und ein motivationaler Defekt. Wenn die Vernunft das Vermögen allgemeiner Erkenntnis von Regeln, Gesetzen und Normen ist, dann könnte ihr die Fähigkeit abgehen, das in einer konkreten Situation Richtige bzw. Notwendige zu erfassen. Dieser Mangel müsste durch andere Erkenntnisweisen wie Intuitionen oder auch „erschließende" Empfindungen behoben werden. Der zweite Defekt betrifft die Fähigkeit, zu einer als richtig erkannten Handlung auch zu motivieren bzw. zu bewegen. Das setzt für viele Philosophen voluntative oder affektive Regungen voraus, die nicht aus der Vernunft stammen. Sie müssen in der Lage sein, zielgerichtete körperliche Bewegungen auszulösen. In den folgenden Überlegungen kann natürlich der Jahrtausende alte Streit nicht geschlichtet werden. Vielmehr geht es um eine Klärung des Verständnisses von Tugend, Vernunft und ethisch richtigem Verhalten und Handeln, das die jeweiligen Konzeptionen des Verhältnisses von Tugend und Vernunft implizieren. Es geht um folgende Fragen:

Vernunft und Tugend

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Nach welchem Verständnis ist die Vernunft kognitiv unzureichend für die Entstehung und Betätigung von Tugenden (1)? Nach welchem ist sie motivational defekt (2)? Was muss dagegen eine Konzeption voraussetzen, nach der die Vernunft allein zu tugendhaftem Handeln ausreicht (3)? Es wird sich zeigen, dass fast alle auf diese Fragen antwortenden Konzeptionen eine Unterscheidung der Vernunft von anderen seelischen Vermögen voraussetzen, die nur begrenzt plausibel ist. Ein bisher wenig beschrittener Ausweg wäre die Konzeption einer „holistischen" Vernunft, die am Schluss angedeutet werden soll (4).

1. Ein wesentliches Kennzeichen der Tugend liegt nach langer Tradition in ihrem habituellen Charakter. Aristoteles bestimmt sie als hexis, Thomas von Aquin als habitusIn diesem habituellen, auf Gewöhnung und Übung beruhenden Charakter liegt eine gewisse Garantie dafür, dass ein Mensch in verschiedenen, aber relevant ähnlichen Situationen jeweils das richtige Verhalten zeigt - wobei Verhalten von emotionaler Reaktion bis zur bewussten und zielgerichteten Handlung (mit einem „körperlichen Anteil") oder Unterlassung reichen kann. Diese Verlässlichkeit ist natürlich besonders wichtig in einer Gemeinschaft mit unterschiedlichen Funktionen und Rollen: Die Tugenden des guten Königs, des gerechten Richters, des ehrlichen Kaufmanns etc. bestehen nicht in einzelnen richtigen Reaktionen, sondern in einem dauerhaft richtigen, verlässlichen Verhalten. Dabei kann die Frage, ob es besondere Standestugenden gibt, oder ob es sich um ein einheitliches Verhalten des „guten Menschen" in all diesen Situationen und Funktionen handelt, vorläufig offen bleiben. Warum geht die Habitualität einer Haltung über die vernünftige Einsicht hinaus? Weil, so die aristotelische These, eine Haltung nicht durch das Verstehen eines Prinzips bzw. einer richtigen N o r m allein erworben wird, sondern Übung voraussetzt. Die aristotelischen Beispiele weisen in den musikalischen und sportlichen Bereich: Man muss die richtige Handlung wie eine richtige körperliche Regung oft erst einmal „treffen", um sie dann verstehen und stabilisieren zu können. Skilaufen oder Tennisspielen lernt man nicht durch die einfache Befolgung einer 1 Vor einer Überschätzung des Gewohnheitscharakters der Tugend warnt F. Ricken, 3 1998, Allgemeine Ethik, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, S. 186.

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Gebrauchsanweisung. Die Stabilisierung der „getroffenen" Bewegung erfolgt sowohl durch Wiederholung der körperlichen wie affektiven Bewegungen - oft eigens unter „Abschalten" der Aufmerksamkeit wie auch durch zunehmende Kenntnis, die es erlaubt, Fehler zu korrigieren. Vernunft im Sinne des Findens wahrer Sätze, der Zustimmung zu ihnen und der Folgerung aus ihnen ist dazu nicht ausreichend. Aber die Vernunft, von der beim tugendhaften Handeln die Rede ist, darf natürlich auch nicht mit der theoretischen verwechselt werden. Praktische Vernunft oder Klugheit (phronesis), wie sie in der aristotelischen Tradition verstanden wird, ist nicht bloß die Erkenntnis allgemeiner Regeln und die Subsumtion eines Falles darunter. Vielmehr hat sie es mit der Einsicht in die Bedürfnisse verschiedener Betroffener in einer Situation und oft auch mit dem Ausgleich verschiedener Ansprüche (natürlich auch gesetzlicher) und Güter zu tun.2 Auch eine praktische Vernunft, die als Vermögen der situationsgemäßen Einsicht in Güter und Ansprüche sowie der Abwägung und der Selbsteinschätzung verstanden wird, scheint aber nicht ausreichend für das tugendhafte Verhalten. Man muss ja die Bedürfnisse und Sensibilitäten nicht nur erkennen, sondern empathisch nach- (bzw. vor-)vollziehen können, damit einem die Augen für mögliche Verletzungen oder Erfüllungen geöffnet werden. Bereits auf der („kognitiven") Ebene der Erfassung von Ansprüchen und Gütern erscheint also selbst eine Vernunft, der man Fähigkeiten situativer Erkenntnis bzw. „intellektueller" Wahrnehmung zurechnet, nicht ausreichend zu sein. Für Tugend muss man zudem einen Habitus nicht nur des richtigen Sehens, sondern auch der richtigen Gefühle und Neigungen entwickeln. Wenn Tugend emotionale und appetitive Momente des Erfassens und Beantwortens von Bedürfnissen, Ansprüchen und Gütern in konkreten Situationen impliziert, dann kann Vernunft dazu offenbar nicht ausreichen. Dazu werden Fähigkeiten vorausgesetzt, die wir normalerweise der affektiven und körperlichen, nicht der kognitiven und geistigen Seite des Menschen zurechnen. Unmittelbares Anschauen, Einfüh2 Für eine Tugendethik in modernen Gesellschaften, die weitgehend durch Rechtsgesetze geregelt sind, muss der Begriff der „Situation" so umfassend verstanden werden, dass er „ L a g e n " und „Konstellationen" einschließt, in denen gesetzlich garantierte Ansprüche und durch gesetzliche Leistungen realisierbare Güter zu berücksichtigen sind. Tugendethik darf keine „Situationsethik" im Sinne der Legitimation von intuitiven Gewissens- oder gar Gefühlsentscheidungen sein, die nicht an Regeln gebunden (und daher unberechenbar) sind. Aber in die Beurteilung und „Setzung" von Regeln geht natürlich die Erfahrung mit tugendhaften Handlungen und Charakteren ein.

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lung und intuitive Affektmodulation scheinen zur Vernunft nicht zu gehören. Ob das so ist, hängt natürlich davon ab, welchen Bereich unserer seelischen und körperlichen Vermögen der Begriff Vernunft abdeckt und welchen nicht. Davon wird zum Schluss zu reden sein.

2. Anders als die aristotelische Tradition sieht die humeanische den Mangel der Vernunft weniger im kognitiven Bereich - da leistet sie als richtiges Urteil über Fakten und über Mittel zu bereits gewählten Zielen3 Ausreichendes - als im motivationalen. Das gilt schon für die Billigung eines Urteils über eine moralisch richtige Handlung. Dass hier zu helfen oder dort zu tadeln ist, stellt einen Urteilsakt dar, der nicht nur „wahre Meinung", sondern zugleich emotionale Affirmation ist.4 Würden mich die Belange der Menschen völlig kalt lassen, käme ich nicht auf die Idee, dass einem Hungernden geholfen oder ein Betrüger getadelt werden muss - prima facie natürlich. Was für die Billigung eines moralischen Urteils gilt, ist aber erst recht zutreffend für die Selbstbewegung zu der von einem solchen Urteil geforderten Handlung. Ein Urteil für richtig zu halten und danach zu handeln, sind nach dieser Auffassung zwei grundverschiedene Sachen.5 Für Letzteres braucht man ein Motiv: einen Affekt, einen Wunsch oder eine „Triebfeder", wie man mit den Bildern der Maschinentechnik des 18.Jh. sagte. Für Hume ist dieses Motiv letztlich eine Mischung aus Selbstliebe und Gattungsliebe, die in ihrer Triebkraft abgestuft ist nach den Kreisen der näher und ferner Stehenden. Die gesellschaftliche Mechanik, vor allem die des Rechtes, hat dafür zu sorgen, dass die „Fernaffekte" der Sympathie gegen die Nahaffekte der Selbstliebe gestärkt werden. 6 3 Also nicht im Sinne „normativer G r ü n d e " . Vgl. Ch. Halbig, 2003, Normative Gründe - Neue Beiträge zur Theorie praktischer Vernunft (II), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, S. 133-149. 4 Vgl. D . H u m e , 1978, Ein Traktat über die menschliche Natur., übers, v. Th. Lipps, mit einer neuen Einführung hrsg. v. R. Brandt, Hamburg: Meiner, Buch II, S. 199; D. H u me, 1972, Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übers., mit einer Einleitung und einem Register versehen v. C . Winckler, H a m b u r g (Nachdr. d. Ausgabe von 1929), S. 7, 136f. 5 Vgl. H u m e , 1972, S.6. Zur modernen Diskussion vgl. Ch. Halbig, 2002, Motivierende Gründe - Neue Beiträge zur Theorie praktischer Vernunft (I), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, S. 961-972. 6 Vgl. Hume, 1978, Traktat über die menschliche Natur II, S. 230.

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Diese Motivationstheorie wird bekanntlich heute auch ins Feld geführt, wenn es um Fragen der Moralontologie geht: Werte, moralische Ansprüche und andere handlungsauslösende Entitäten können nicht zum Stoff der außerpsychischen Welt gehören, weil diese sonst eine bizarre Art von Eigenschaften haben müsste. Die materielle Welt müsste auffordernde und handlungsauslösende Qualitäten haben, die über kognitive und psychische Kanäle auf den affektiven Antriebsriemen wirken. 7 Aber solche Eigenschaften passen nicht zu der von psychischen Zuständen des Menschen unabhängigen Welt, die Gegenstand der objektiven Erkenntnis theoretischer Vernunft ist. Auch diese Mangeltheorie der Vernunft geht natürlich auf eine Einteilung des Vernünftigen, Seelischen und Körperlichen - und außerdem des Materiellen und Immateriellen - zurück, die bestimmten philosophischen und wissenschaftlichen Welt- und Menschenbildern zugehört. Sie versteht sich nicht von selbst und sie ist in der Geschichte der Philosophie von anderen Positionen aus als reichlich abwegig beurteilt worden. Dass die Einsicht in einen für wahr gehaltenen Sachverhalt, auch in einen für richtig gehaltenen Handlungszweck, hinreichend sein kann, um zum Handeln zu motivieren, war vor allem in der antiken Philosophie verbreitete Uberzeugung. Wenn man Bewegungen durch ihre Ziele veranlasst und „gesteuert" sieht, sind vor allem solche Ziele attraktiv, die dem Handelnden als richtig einleuchten und seiner Fähigkeit und Bestimmung zur Vernunft entsprechen. Cato als Vertreter der Stoa weist bei Cicero darauf hin, dass schon Kinder ein großes Vergnügen an selbst gewonnenen Einsichten empfinden. 8 Dem Erwachsenen liege erst recht daran, das Wahre zu erkennen und das Richtige zu tun. Nichts sei für den Menschen naturwidriger, als einer falschen Meinung seine Zustimmung zu geben. Da Affekte, zumindest für die ältere Stoa, selber Urteile sind, ist natürlich auch kein zusätzlicher Affekt nötig, um eine Einsicht bzw. ein Urteil über den Anlass und den Zweck des Handelns in die Tat umzusetzen. Alltäglich gehen wir auch heute davon aus, dass jemand aufgrund einer bestimmten Überzeugung (auch einer „theoretischen") handeln 7 Vgl. J. L. Mackie, 1977, Ethics: Inventing Right and Wrong, London, S. 43 f.; dt.: 1983, Ethik: Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, übers, v. R. Ginters, durchges. und verb. Auflage, Stuttgart, S.46. 8 Vgl. Cicero, 1989, De finibus bonorum et malorum/Über das höchste Gut und das größte Übel, übers, u. hrsg.v. H . Merklin, Stuttgart: Reclam, S.259.

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kann. Natürlich kann er durch gegenläufige Interessen, Affekte, Motive auch davon abgehalten werden. Aber die Einsicht in das, was in einer bestimmten Situation richtig bzw. gut wäre, stellt für sich gesehen bereits ein Handlungsmotiv dar. Man muss nicht jedes Motiv auf irgendein grundsätzliches Interesse der Selbsterhaltung, des Lustgewinns oder dergleichen schwer nachweisbare implizite Grundintentionen zurückführen. Sie anzunehmen hat zwar vor allem in der Moderne eine Anfangsplausibilität, die sowohl auf mechanistische Bewegungslehren wie auf die Rehabilitation egoistischer Motive zurückgeht. Aber in konkreten Handlungserklärungen zeigt sich zumeist, dass solche Annahmen eigentlich überflüssig sind und ebenfalls recht merkwürdige Entitäten - latente dauerhafte Triebe oder Interessen an so Unbestimmtem wie „Selbsterhaltung" oder „Lust" - postulieren. Natürlich sind auch Tugenden als stabile Dispositionen, unter wechselnden Umständen positive Handlungseigenschaften eines bestimmten Typs („gerecht", „tapfer" etc.) hervorzubringen, keine unproblematischen „Gegenstände". Aber es gibt zumindest phänomenale Eigenschaften gerechter, tapferer, besonnener Handlungen, die zur Annahme solcher Dispositionen zu nötigen scheinen - wie eine gewisse Leichtigkeit, sich in schwierigen Situationen und bei widerstrebenden Interessen für Handlungen zu entscheiden, die aus verschiedenen Perspektiven und mit überlegten Begründungen lobenswert sind. Plausibler als die Annahme der ständig latenten positiven Antriebe der Selbsterhaltung und der Suche nach Lust, die für jede vernünftige Entscheidung vorauszusetzen wären, scheint die Annahme negativer Strebungen zu sein. Dass wir bei unserem Handeln Leben und Gesundheit nicht gefährden wollen und ceteris paribus angenehme Gefühle unangenehmen vorziehen, ist nur schwer zu bestreiten. Aber der Grad von Beeinträchtigung und Gefährdung, den wir zu akzeptieren bereit sind, hängt von dem Wert der übrigen Güter ab, die wir erreichen oder erhalten wollen. Es gibt viele Ziele, für die wir unangenehme Gefühle und Zustände in Kauf nehmen, etliche, für die wir Gesundheitsrisiken auf uns nehmen (ζ. B. Reisen) und sogar einige, die das Leben wert sind. Zu Letzteren zählt die Verteidigung von Menschen, Uberzeugungen oder Lebensweisen, die das Zentrum unseres Lebens ausmachen oder die aufzugeben würdelos wäre. 9 Welche Einbußen hin9 Vgl. dazu Charles Taylors Theorie der starken Wertungen: ders., 1996, Quellen des Selbst, übers. v.J. Schulte, Frankfurt a.M., S. 17 u.ö. (1989, Sources of the Self, Cambridge).

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nehmbar sind, hängt von unserer Erkenntnis und Erfahrung des Wertes dieser Ziele ab. Werterfahrungen und Werterkenntnisse können offenbar Handlungsmotive sein - sonst hätte es nie einen aufrechten Befreiungskämpfer gegeben, den die Erfahrung von Unterdrückung und verletzter Würde zu seinen Taten bewegt. Der Verdacht, dass es ihm dabei nur um soziale Anerkennung oder Selbstwertgefühle geht, ist, mit Hegel gesprochen, eine „Kammerdienerperspektive der Weltgeschichte". 10 Aus Werterfahrungen und Motiven können Tugenden entstehen oder aktiviert werden - wie geistige Unabhängigkeit, Zivilcourage und andere aus Werterfahrungen gespeiste Handlungen und Haltungen belegen. Inwieweit Vernunft, Affekte, Phantasie, Empathie etc. an solchen Erfahrungen beteiligt sind und zu ihrer dispositionalen Verfestigung führen, ist abhängig von der Frage der Beteiligung der Vernunft an der Werterfahrung. Aber kann und muss die Vernunft nicht sogar autonome Wert- und Motivationsquelle sein?

3. Wir haben bisher die verbreitete Annahme erörtert, Vernunft sei für die Ausbildung und Betätigung von Tugenden nicht zureichend. Die Gründe für den behaupteten Defekt der Vernunft sind unterschiedlich plausibel, selten durchschlagend und immer abhängig von problematischen Grenzziehungen zwischen „der Vernunft" und anderen seelischen und körperlichen Fähigkeiten und Kräften. Wenn Vernunft von den Fähigkeiten der direkten Situationswahrnehmung, der Empathie und der Phantasie getrennt ist, fällt es schwer, ihr die für Tugenden nötige Einsicht und Einübung zuzutrauen. Denn wenn körperliche Bewegungen auf Triebe, Affekte oder Eigeninteressen zurückgehen, kann die Vernunft dafür zwar Informationen und Mittel liefern, aber keine hinreichenden Antriebe. Beide „Defekte", der kognitive und der motivationale, leuchten aber nur auf dem Hintergrund bestimmter Annahmen über die Reichweite von Vernunft ein. Man kann sie auf zwei Weisen bestreiten: Zum einen, indem man die Vernunft in Fragen tugendhaften Handelns für autonom hält. Unter bestimmten Annahmen braucht man für 10 Vgl. G.W. F. Hegel, 1988, Phänomenologie Clairmont, Hamburg, S. 437.

des Geistes, neu hrsg. v. F. Wessels u. H.

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solches Handeln die zusätzlichen Erkenntnisweisen und Motive gar nicht. Wir haben ja schon Theorien rationaler Motivation erwähnt. Die radikalere Position der Vernunftautonomie behauptet darüber hinaus, tugendhaftes Handeln könne und müsse allein durch Vernunft, und nicht etwa noch durch unterstützende emotionale Motive oder Gewohnheiten, bestimmt sein. Die andere Zurückweisung des Defektes der Vernunft stellt unser traditionelles Verständnis der Vernunft überhaupt in Frage und bezweifelt die darin implizierten Grenzen zu den anderen Vermögen oder Kräften. Bevor ich im letzten Abschnitt diese Möglichkeit erwäge, sei geprüft, welche Annahmen die Theorie einer auch in Hinsicht auf Tugenden völlig autonomen Vernunft machen muss und wie plausibel sie sind. Die These, Vernunft sei autonom bei der Ausbildung von Tugenden und tugendhaftem Handeln, geht in der Regel von einem deduktivistischen Modell ethischer Erkenntnis11 und einer rationalistischen Motivationstheorie aus. Vernunft ist an allgemeinen Ideen des Gerechten und Guten orientiert, wie bei Piaton,12 oder an Vorstellungen eines universalen Gesetzes für vernünftige Wesen wie in der kantischen Tradition. Im Lichte dieser Ideen erscheinen bestimmte Situationen als Fälle der Gerechtigkeit oder als Anforderungen an Tapferkeit und Gerechtigkeit. Die Frage nach der Unterscheidung der verschiedenen Tugenden kann dann entweder durch einen Apriorismus eingeborener unterschiedlicher Ideen beantwortet werden, oder mit der These der einen Tugend, die als vernünftige Gesinnung oder weise Einsicht in die Weltvernunft13 in jeder Situation oder in Bezug auf jeden Handlungstypus zur richtigen Entscheidung befähigt. Dass solches Handeln einmal unter die „Beschreibung" der Gerechtigkeit, das andere Mal unter die der Barmherzigkeit fällt, ist für die Einheitsthese eher Unterschieden in der externen Perspektive zu verdanken als unterschiedlichen inneren Einstellungen oder Erkenntnissen des Geforderten. Man kann die Differenz der verschiedenen Tugenden auch auf die Mannigfaltigkeit der gegebenen Triebe und Strebungen des Menschen 11 Zur Kritik an diesem Modell vgl. auch J. McDowell, 1998, Virtue and Reason, in: ders., Mind, Value and Reality, Cambridge, Mass./London, S. 50-73. 12 Eine andere als die gewöhnliche Deutung der ethischen Ideen bei Piaton gibt McDowell, 1998, S. 72 f., unter Berufung auf I. Murdoch, 1970, The Sovereignty of Good, London. 13 Zur Bedeutung der „kosmischen" Begründung der stoischen Ethik vgl. M. Forschner, 2 1995, Die stoische Ethik, Darmstadt, S. 163f.

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zurückführen, gegen deren Eigenrichtung die eine Vernunft durchgehalten werden muss. 14 Eine autonome Vernunft muss dazu allerdings auch eigene Kräfte besitzen, sie darf nicht, wie bei Piaton, auf die quasi-militärischen 15 Energien anderer Seelenfunktionen angewiesen sein. Außer den hinreichenden kognitiven Fähigkeiten für die Erkenntnis allgemeiner Regeln und die Subsumtion der Fälle und Situationen muss die Vernunft auch das Vermögen besitzen, dem Verhalten die notwendige innere Konstanz zu sichern. 16 Das Modell dafür ist dann nicht die - teils unbewusste - Einübung emotionaler und körperlicher „Rhythmen", sondern die Festigkeit des Urteils und die daraus folgende Unerschütterlichkeit des Handelns. Der Tugendhafte fällt hier weitgehend mit dem „Prinzipienfesten" zusammen. Wieder ist das Verhältnis zu den außervernünftigen Regungen in erster Linie defensiv gefasst: Der Vernünftige lässt sich von den Schwankungen der Laune und dem Hin- und Herzerren der Neigungen nicht beeinflussen. Dass diese Haltung der metaphysischen Unterscheidung zwischen der höheren Wirklichkeit des Gleichbleibenden und Notwendigen gegenüber der Scheinwirklichkeit des Zufälligen und Wandelbaren entspricht, hat sicher zu ihrer traditionellen Verbreitung beigetragen. Es hat ihr aber auch die Vorwürfe der Starre, der Rigidität und der mangelnden Sensibilität für situativen und historischen Wandel eingetragen. Dass eine solche zur Erkenntnis und zum Habitus des richtigen Handelns autonom fähige Vernunft auch motivational ausreichende Kraft besitzen muss, liegt auf der Hand. Wenn sie zur Auslösung vernünftiger Handlungen andere Kräfte in Anspruch nehmen müsste, könnte sie in Bezug auf die Art und die Zwecke des Handelns nicht gänzlich autonom sein. In der Motivationstheorie scheint dabei die Position der Tugendvielfalt, die auf vernünftige Orientierung an verschiedenen Ideen zurückgeht, derjenigen der Einheit der Tugenden in der richtigen Gesinnung überlegen zu sein. Denn dass man für Ideen der 14 So ist etwa für Kant Tugend „das Vermögen und der überlegte Vorsatz", dem „Gegner der sittlichen Gesinnung in uns [...] Widerstand zu thun". Gegner sind diejenigen „Antriebe der N a t u r " , die die Ausführung der sittlichen Pflicht behindern. Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Einleitung (Akademie-Textausgabe in zehn Bänden, Berlin 1968, Bd. VI, S. 380). N a c h F. Ricken ist diese negative Bestimmung der Tugend auch kennzeichnend für die aristotelische Tradition: vgl. Ricken, 3 1998, S. 184. 15 Dies im Hinblick auf die Analogie des T h y m o s zum Stand der Wächter in der Platonischen Politeia 4 4 0 a 8 - 4 4 1 c 3 . 16 Vgl. Cicero, 1989, Definibus,

S.263.

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Gerechtigkeit, der Unabhängigkeit, der Treue handeln und gegen inneren und äußeren Widerstand kämpfen kann, leuchtet eher ein als das Handeln „um des Gesetzes" oder einer inhaltlich nicht differenzierten Vernunft willen. Allerdings dürfen Motivationstheorien wie die Kantische „Achtung vor dem Gesetz" auch nicht mit normalen Kausalerklärungen in der sinnlichen Welt verwechselt werden. Die Achtung vor dem Gesetz ist ja nicht einfach ein zeitlich vorausliegendes Ereignis, auf das die körperlichen Bewegungen nach Sukzessionsregeln folgten. Eher verdankt sie sich einer außerzeitlichen Einstellung (der rationalen Wahl des Charakters). Sie motiviert in der Weise eines Zurückhaltens, einer Scheu und einer von zeitlichen Abläufen unabhängigen Ausrichtung an der Vorstellung einer möglichen gesetzlichen Ordnung für vernünftige Wesen. Dass sowohl Einsicht in ideale Forderungen wie Respekt vor gesetzlichen Grenzen (und nicht nur Angst vor Strafe) den Handelnden bewegen können, ist nach dem im vorigen Abschnitt Ausgeführten keine „überschwengliche" Annahme. Eine autonome, von sich her zum Handeln fähige Vernunft ist aber nur schwer ohne eine eigene Inhaltlichkeit verschiedener Zwecke bzw. verschiedener innerer Einstellungen vorstellbar. Und es fragt sich ferner, ob wir zur Wertung solcher Zwecke und Einstellungen als erstrebenswert kommen können, ohne die Zustände zu bewerten, die bei Erreichen der Absichten eintreten würden. Wenn der Wille aber durch positiv bewertete zukünftige Zustände motiviert wird, ist er etwa nach Kant bereits fremdbestimmt. 17 Die Verteidigung der Vernunft als gänzlich autonom bei der Herausbildung und Betätigung von Tugenden muss also, wenn sie praktische Vernunft nicht nur als Hemmung unabhängiger Neigungen versteht, von einer inhaltlichen Vielfalt von Zielen bzw. Wertvorstellungen ausgehen, die erfahrungsunabhängig sind und dennoch in den vielfältigsten, auch neuen und überraschenden Situationen erkennbar und erstrebbar sind. Die Debatte darüber, ob etwa der Kantische Versuch zur Behauptung einer solchen Position gelungen ist, will ich hier nicht fortführen. 18 Dass eine solche Beweislast eine schwere Hypothek ist, kann man kaum bestreiten. Die bleibende Attraktivität der Tugendethik be17 Vgl. etwa Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Zweites Hauptstück: Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft (Akademie Textausgabe V, S. 62). Zu den zukünftigen Zuständen, deren Vorstellung „vergnügt" oder „schmerzt", gehören natürlich nicht nur hedonistische, sondern etwa auch solche einer Welt ohne Hunger und Krieg. 18 Vgl. dazu F. Ricken, 3 1998, S. 109-125, sowie L. Siep, 2004 b, Konkrete Ethik, S. 173 ff.

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ruht gerade auf der Tatsache, dass sie eine Vielzahl kognitiver und affektiver Haltungen angeben kann, die zudem flexibel in neuen Situationen interpretiert und fortgebildet werden können. Die Vorstellung eines Charaktertypus und seiner „Schattierungen" und Neudeutungen scheint der Vielzahl von Situationen, Fällen und Problemen in einer ausdifferenzierten und sich schnell wandelnden Gesellschaft eher angemessen zu sein als eine an apriorischen Gesetzen und Ideen orientierte Vernunft. Erhebliche Begründungslasten haben aber auch die zuvor erörterten Theorien der Defizienz der Vernunft zu tragen. Weder die Dichotomie zwischen Vernunft und anderen psychischen Kräften noch die „mechanistische" Antriebstheorie werden von einer unvoreingenommenen Wahrnehmung der Phänomene moralischen Handelns gestützt. Statt die Allmacht oder die Ohnmacht der Vernunft zu behaupten, könnte es sich nahe legen, die Kartierung der menschlichen Vermögen und das darin der Vernunft eingeräumte Terrain in Frage zu stellen.

4. Was ist das „Terrain" der Vernunft in der seelischen „Landschaft" des Menschen? Was insbesondere das der praktischen Vernunft? Was sind die Gründe dafür, im Feld des moralischen Handelns und speziell der Ausübung von Tugenden der Vernunft eine spezifische Rolle zuzusprechen? Ganz grob kann man vielleicht eine lange Tradition wie folgt zusammenfassen: Mittels der Vernunft besitzen wir die Kraft, Regeln für richtiges Verhalten zu erkennen und sie gegen Wünsche und Interessen durchzusetzen, die zu solchen Regeln nicht passen. Durch vernünftige Erkenntnis können wir ferner die Ansprüche von Betroffenen unseres Verhaltens erkennen und die Folgen abschätzen, die bestimmte Aktionen oder Äußerungen (von Gefühlen, sprachlichen Ausdrücken usf.) auf Ansprüche und Erwartungen haben werden. Mittels der Vernunft erkennen wir auch vernünftige, anderen gegenüber vertretbare Gründe, um gute von schlechten Folgen zu unterscheiden. Schließlich scheint es auch eine Forderung der Vernunft, verantwortbares Handeln nach guten Gründen einem solchen vorzuziehen, das uns selber vorteilhaft erscheint, ohne solchen Anforderungen zu genügen. Moralische Gesinnung besteht offenbar darin, diese Forderung zu erfüllen. Schon diese Aufzählung benennt eine Reihe verschiedener Aktivitäten, die

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wir unter dem gemeinsamen Prädikat „vernünftig" zusammenfassen bzw. als Betätigungen „der Vernunft" beurteilen. Die Differenzierung wird noch „kleinteiliger", wenn wir genauer nachfragen, was denn nun gute Gründe sind und wie sie zu den Bewertungen der erwartbaren Handlungsfolgen stehen. Das gilt auch für Präzisierungen dessen, was unter dem „Durchsetzen" allgemeiner Regeln gegen abweichende Wünsche und Interessen gemeint ist. Schon oben wurde die Frage angeschnitten, ob dies nur eine Art Hemmung, ein Respekt vor Grenzen oder auch eine positive Zielvorgabe und eine eigene Form des Antriebes ist. Selbst die Art der Grenzen des Handelns kann innerhalb der Ethik sehr verschieden sein. 19 Was berechtigt also, solche verschiedenen Kompetenzen, Denkund Verhaltensweisen unter dem Titel eines Vermögens oder sogar eines Subjekts des Handelns („die Vernunft" fordert, motiviert, erkennt etc.) zusammenzufassen? Sind sie wirklich durch eine klare Grenze von den vernunftlosen oder außervernünftigen Tätigkeiten der menschlichen Seele - als des Ganzen der psychischen Fähigkeiten, Tätigkeiten und Zustände - unterschieden? Was in der Tradition die bejahende Antwort auf diese Frage erleichtert hat, war zum einen die Verwandtschaft der praktischen Vernunft mit der theoretischen, zum anderen die Annahme eines eigenen rationalen Strebevermögens, das seit der Spätantike „Wille" (voluntas) genannt wurde. Mit der theoretischen Vernunft teilt die praktische offenbar die Fähigkeit der interesselosen Einsicht, der Bildung und Verwendung von Begriffen bzw. allgemeinen Ausdrücken, die Fähigkeit des Schlussfolgere und der Anwendung von Regeln auf „einschlägige" Fälle. Über das Schließen hinaus ist sie aber zum Beschließen oder Entschließen fähig, das zwar Einiges mit dem Schlussfolgern gemeinsam hat (daher die Idee des „praktischen Syllogismus"), aber darüber hinaus der Anfang einer Handlung ist. Dazu muss der Entschluss nach Gründen in der Lage sein, sich gegen andere Handlungsauslöser (Motive) durchzusetzen. Daher muss es eine eigene Kraft der praktischen Vernunft geben, die „Willenskraft". Dass den Gemeinsamkeiten der praktischen und der theoretischen Vernunft Grenzen gesetzt sind, hat allerdings schon Aristoteles hervorgehoben. Zu streng allgemeinen Gesetzen ist die praktische Vernunft nicht fähig, weil ihr Gegenstand, das Handeln in der Menschenwelt, 19 Vgl. L. Siep, 2004 a, in: W. Hogrebe (Hrsg.), Arten und Ursprünge ethischer und Grenzüberschreitungen, Berlin: Akademie Verlag, S. 120-130.

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nicht unveränderlich und notwendig, sondern nur in Umrissen gleichbleibend ist. Praktische Vernunft ist nicht so klar von den „sinnlichen" Vermögen des Anschauens und Strebens unterschieden wie die theoretische Vernunft, weil sie sowohl intuitive wie appetitive Momente einschließt. Sie hat nicht nur aktive, sondern auch rezeptive Züge, weil sie empfänglich sein muss sowohl für die Gefühle und Erwartungen der anderen wie für die wertvollen oder abstoßenden Eigenschaften von Zuständen oder Gesinnungen. Wie anders sollte die Vernunft überhaupt vernehmen und verstehen können, was an den Gesinnungen, Haltungen und typischen Reaktionen von Menschen lobenswert, also tugendhaft ist? Diese doppelte Verwandtschaft der praktischen Vernunft mit der theoretischen einerseits und andererseits mit den Fähigkeiten und Zuständen, die jedenfalls im Feld des Erkennens von der Vernunft offenbar klar abtrennbar sind (Anschauung, Empfindung, Affekt, Streben etc.), ist der Grund für die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der eigentümlichen Leistungen der Vernunft beim moralischen Handeln, besonders bei den Tugenden. Vielleicht ist es gut, für einen Moment den alltäglichen Sprachgebrauch zu befragen, worin denn das Gemeinsame eines tugendhaften und eines „vernünftigen" Menschen besteht. Einen vernünftigen Menschen wird man gerne um Rat fragen, mit ihm wird man gerne schwierige Probleme in Angriff nehmen, gerade wenn es um schwer zu vereinbarende, durchaus begründete Ansprüche geht. Man wird erwarten, dass er nicht engstirnig oder borniert reagiert, dass er Phantasie und Vorausschau genug besitzt, um Erwartungen und Folgen aufzuspüren und zu antizipieren. Er wird auch im Verlauf einer Problemlösung offen für die Korrektur ursprünglicher Annahmen bleiben. Er wird Regeln nicht starr anwenden, Prinzipien nicht um ihrer selbst willen durchsetzen wollen - ohne dabei prinzipienlos oder anpasserisch zu sein. Denn Unabhängigkeit des Urteils und des Handelns gehört zum vernünftigen Menschen ebenso wie der Mut, die Konsequenzen seiner Uberzeugungen auch zu ziehen und zu tragen. Dieses Bild enthält - nicht ohne Absicht, aber hoffentlich ohne Gewaltsamkeit - viele Züge der traditionellen Tugenden von der Klugheit über das Maß und die Gerechtigkeit bis zur Tapferkeit (vornehmlich in nicht-kriegerischer Form). Ist es plausibel, aus diesen verschiedenen Zügen des vernünftigen Menschen ein identisches Vermögen „der Vernunft" zu isolieren? Oder sollten wir lieber von einer ganzheitlichen „Kultur" des Denkens, Empfindens und Verhaltens sprechen, die wir

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mit dem positiven Wertausdruck des „Vernünftigen" charakterisieren? Kommen wir überhaupt weiter in der Erkenntnis richtigen Handelns und guter Charaktere, wenn wir dieser Beschreibung eines Komplexes von Eigenschaften der Offenheit, der Phantasie, der Unabhängigkeit, der Empfänglichkeit, der Konstanz etc. Vagheit unterstellen und stattdessen eine klare Abgrenzung von seelischen Vermögen mit präzis zu unterscheidenden Anteilen verlangen?20 Natürlich kommt einem hier der Wittgensteinsche Begriff der „Familienähnlichkeit" in den Sinn, mit dem sicher auch Missbrauch getrieben wird. Interessant erscheint aber doch die Frage, ob die Verwandtschaft derjenigen Züge, die den vernünftigen Charakter, die vernünftige Reaktion, das vernünftig-kluge Nachdenken, Folgern und ins Werk Setzen von den gegenteiligen Zügen des Bornierten, Fixierten, Fanatischen, Rigiden, Kurzsichtigen, Groben etc. unterscheidet, wirklich durch die Gemeinsamkeit mit Eigenschaften der theoretischen Vernunft begründet ist. Sicher braucht auch ein in der Theorie erfolgreicher und vorbildlicher Mensch viele Eigenschaften solcher „Vernünftigkeit". Aber das sind eben nicht die kognitiven Fähigkeiten der Verallgemeinerung, Regelanwendung, des Schließens usw. Und auch nicht die spezifischen Willensmomente des Entschlusses und der Aktivierung von „spirituellen" Energien. Wenn praktische Vernunft eher eine Kultur des Sehens, Empfindens und Reagierens, sozusagen ein Modus verschiedener menschlicher Fähigkeiten und Tätigkeiten, als ein getrenntes, von Intuition, Empathie, imaginativer Antizipation etc. klar unterschiedenes Vermögen wäre, dann käme ihr in der Tat ein entscheidender Anteil an den Tugenden zu. Andererseits ließe sie sich selber gar nicht explizieren als durch die Unterscheidung und genaue Darstellung unterschiedlicher Tugenden. Wir bräuchten also eine Art holistisches Verfahren, um praktische Vernunft und ihr Verhältnis zu den Tugenden zu verstehen und zu erklären.21 Wichtig für die Verteidigung eines solchen holistischen und gegenüber dem singularen {„die Vernunft") und abgegrenzten („Vernunft 20 Kritisch dazu formuliert schon Hegel: „Die Schwierigkeit besteht für den Verstand darin, sich von der Trennung, die sich einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühle, dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, loszumachen und zu der Vorstellung zu kommen, dass im Menschen nur eine Vernunft im Gefühl, Denken und Wollen ist." Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), §471. 21 Zum holistischen Verfahren in der Ethik und zu Ansätzen eines holistischen Begriffs der Vernunft vgl. auch L. Siep, 2004b, Konkrete Ethik, S.21ff., 177f.

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und ...") Vernunftbegriff eher „weichen" Begriff von praktischer Vernunft ist aber, ob die Eigenschaften moralischen Urteilens und Verhaltens, die zur Annahme eines „harten" Vernunftbegriffs geführt haben, noch aufrechterhalten und erklärt werden können. Kann die Unabhängigkeit der Vernunft von a-sozialen Regungen und Interessen, die Fähigkeit, von der eigenen Perspektive zu abstrahieren, die Aufstellung von Regeln und die Kraft ihrer Anwendung auch mit den Mitteln eines solchen holistischen Vernunftbegriffs verteidigt und erklärt werden? Oder bleibt nur eine gänzlich situationsbezogene, prinzipienlose und konformistische Ethik übrig? Man kann kaum bestreiten, dass die Fähigkeit, besondere Fälle bzw. Situationen nach gemeinsamen Eigenschaften zu klassifizieren und daraus Regeln abzuleiten, zu den artspezifischen Kapazitäten gehört, die wir, auch wegen ihrer Verbindung mit der Sprache und den Abstraktionsvermögen des Zählens und Rechnens, als logisch, rational oder vernünftig bezeichnen. Man braucht auch die Verwandtschaft dieser Eigenschaft mit einigen Zügen der praktischen Vernunft bzw. Vernünftigkeit nicht in Abrede zu stellen. Aber schon das Abstrahieren von der eigenen Perspektive setzt bei der praktischen Vernunft wesentlich andere Fähigkeiten voraus als bei der theoretischen Abstraktion. Man muss von Vorurteilen des Denkens und Empfindens frei sein, sich empathisch in die Perspektive Anderer hineinversetzen, ihre „Sicht der Dinge" übernehmen können usw. Dazu gehört, wie gesagt, eine Offenheit und Phantasie, die von der theoretischen Fähigkeit, Alternativen vorzustellen und von eigenen Denkgewohnheiten frei zu sein, deutlich unterschieden ist. Und wenn auch hier Gemeinsamkeiten liegen sollten, dann verstehen wir sie offenbar primär von der anderen Seite her: der praktischen Vernunft als einer Weise anschaulichen Denkens und selbstdistanzierten Fühlens. Aber woher kann die Kraft der vernünftigen Opposition gegen Gefühle, Wünsche, Interessen kommen, wenn nicht von einer autonomen, von allen diesen a-rationalen Vermögen und Strebungen unabhängigen Vernunft? Wie könnten wir Imperative, Verpflichtungen und Pflichtbewusstsein erklären, wenn nicht von einer solchen Trennung und Opposition von Vernunft und dem „Rest" der seelischen Tendenzen her? Ein holistischer Vernunftbegriff kann doch eine solche Rolle offenbar nicht spielen. Schon Hegel - der zwar einen holistischen, aber doch zugleich autonomen Begriff von Vernunft vertritt - hat darauf hingewiesen, dass die erste Form der Befreiung der Vernunft von den Inhalten der Nei-

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gungen darin besteht, sie durch ein Ganzes zu relativieren, innerhalb dessen sie einen begrenzten, aber teilweise berechtigten Platz einnehmen.22 Relativierung durch Einordnung in ein umfassendes Ganzes gehört auch zu den Strategien der stoischen Tradition, Affektauslösung durch Betrachtung „sub specie aeternitatis" zu verhindern - man denke an den Neustoiker Spinoza. Auch eine „Kultur" der Gefühle und Phantasien hat diese Wirkung der Schwächung durch Relativierung und Einordnung. Wenn praktische Vernunft eher ein Modus aller seelischen Kräfte als eine spezielle, von ihnen allen unterschiedene Kraft ist, dann wird sie zur Eingrenzung einer jeden - vor allem ihrer spezifischen Ausformung und Ausübung - führen und damit zur Unabhängigkeit des Handelnden sowie seiner Offenheit für Forderungen, die seinen Interessen widerstreben. Das „Allgemeine", dem die vernünftige seelische Kultur Aufmerksamkeit und Eingang verschafft, kann das einer Regel sein, deren Notwendigkeit und Förderlichkeit von einer umfassenden Perspektive her einleuchtet. Diese Perspektive wird aber ebenfalls durch Integration und nicht durch Abstraktion von den Perspektiven der Teilnehmer an Handlungskonstellationen erreicht werden. Dabei können Verfahren des diskursiven Austausche und der wechselseitigen Begründung hilfreich sein. Ausreichend werden sie nur sein, wenn es einen gemeinsamen Horizont von Werterfahrungen gibt, vor dem individuelle und Gruppenansprüche interpretiert und bewertet werden können. Aber muss es nicht doch ein vernünftiges Subjekt geben, dass sich in der Distanz zu allen seinen Interessen und Perspektiven manifestiert und reflektiert? Muss nicht die Freiheit dieser Selbstdistanz der eigentliche Zweck des vernünftigen Willens sein? Fraglich ist allerdings seit langem - man vergleiche Hegels Auseinandersetzung mit Kant und Fichte ebenso wie moderne Theorien der Verschränkung von subjektiver und objektiver Perspektive etwa bei Thomas Nagel 23 - ob das freie Selbst einen Inhalt hat, der „rein" ist von allen individuellen und kulturellen Zielen, Werten und Normen, oder ob es eine Art der freien Aneignung, der selbstbewussten und kritischen Rekonstruktion und Bindung darstellt, sicher auch mit schöpferischen Momenten der eigenen Deutung und Weiterentwicklung. Es ist 22 Vgl. G.W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), §471 ff. 23 Th. Nagel, 1992, Der Blick von Nirgendwo, übers, u. hrsg. v. M. Gebauer, Frankfurt a. M. (1986, The View from Nowhere, New York, Oxford).

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jeweils ein umfassenderer Horizont, der von den engeren frei macht, aber nicht die reine Horizont- bzw. Perspektivlosigkeit. 24 Dass solche integrative Distanz auch motivierende Kraft haben kann, ist schon im zweiten Abschnitt angedeutet worden. Vernünftige Öffnung, Distanz, Integration etc. von Gefühlen, Interessen und Motiven kann selbst ein Motiv sein. Jeder Akt der Befreiung von Vorurteilen, der Neubewertung von eingefahrenen Interessen, der Überschreitung enger und „phantasieloser" Wünsche beweist diese lösende und neuorientierende Kraft vernünftiger Einstellungen und Haltungen. Warum soll darunter nur die Achtung vor Gesetzen oder Prinzipien eine Wirkung der Vernunft sein? Vielleicht doch nur, weil die Grenze zwischen Göttlichem und Tierischem im Menschen angeblich zwischen dem „Vermögen" zur Kognition und Exekution allgemeiner Gesetze und den „niederen" Vermögen verläuft? Zurück zu unserer Ausgangsfrage: Wäre denn die skizzierte Art einer ganzheitlicheren Vernünftigkeit ausreichend für die Ausbildung und Ausübung von Tugenden, „der" Tugenden sogar? Nach dem Gesagten kann die Frage bejaht werden, aber es gilt dann auch das Umgekehrte, dass der Inhalt dieser Vernunft oder praktisch-ethischen Vernünftigkeit selber nur durch die Beschreibung der Tugenden erfasst werden kann. Und dass diese wiederum rückgebunden ist an die Erfassung einzelner Fälle von „wahrer" Freundschaft, beispielhafter Tapferkeit etc.25 So setzen sich am Ende Einheit der Vernunft und Vielheit der Tugenden und tugendhaften Handlungen wechselseitig voraus. Sie müssen nicht auf unterschiedliche Anteile, Komponenten und „Vermögen" zurückgeführt werden. Dass praktische Vernunft selber eine „organische" Entfaltungen von Tugenden ist - d. h. aber von hervorragenden Eigenschaften der Gefühle, der Wahrnehmung, der Phantasie, der Überlegung - scheint schließlich doch keine ganz neue These zu sein. Sie ist in den Thesen der Einheit der Tugenden schon antizipiert. Aber sie muss, wie stets in der Philosophie, vom Ballast der eingefahrenen Unterscheidungen und der vorgeblich festen Grenzziehungen befreit werden.

24 Der „View f r o m N o w h e r e " , den die naturwissenschaftliche Weltbetrachtung im Sinne Nagels darstellt, wäre den Werthorizonten gegenüber gerade eine „Uberobjektivierung": vgl. Nagel, 1992, S.241, 244. 25 So auch McDowell, 1998, S.71.

Gefühle und ethische Tugenden JOSEF SCHUSTER

1. Positionen Die moralphilosophische wie auch moraltheologische Diskussion der letzten drei Jahrzehnte in Deutschland hat der Frage nach dem Verhältnis von Gefühl und Moral keine besondere Beachtung geschenkt. Im angelsächsischen Sprachraum - hier vor allem in den Vereinigten Staaten von Nordamerika - stand dieses Thema stets mit auf der Tagesordnung vornehmlich des moralphilosophischen Diskurses um Pro und Contra einer Tugendethik. 1 Man mag darüber trefflich spekulieren, warum das Thema Gefühl (Emotion, Affekt) 2 und Moral allenfalls im Kontext der kritischen Befassung mit den Positionen von Piaget und Kohlberg über die Stufen der Moralentwicklung Beachtung fand. Unstrittig dürfte sein, dass auch in Moralphilosophie wie Moraltheologie Themen ihre Konjunkturen haben. Bei dem Versuch einer Verhältnisbestimmung nehmen eine Extremposition jene ein, die davon ausgehen, dass Moral und Gefühl nichts oder nur wenig miteinander zu tun haben, weil wir für unsere Gefühle keinerlei Verantwortung tragen. Gefühle sind unter die Kategorie der Widerfahrnisse einzuordnen, die weder planbar noch gestaltbar sind. Sie überkommen uns und sie entziehen sich zugleich vernünftiger Einwirkung. 3 Empfinden wir ihre Erlebnisqualität als beängsti1 Vgl. mit Literaturangaben Josef Schuster, 1997, Moralisch es Können. Studien zur Tugendethik, Würzburg, S. 87-181. 2 Im Folgenden werde ich die Ausdrücke Gefühl und Emotion synonym verwenden. Bisher hat sich keine einheitliche Terminologie herausgebildet, was nicht zuletzt seinen Grund in der Schwierigkeit haben dürfte, eine allgemein akzeptierte Definition für diese Wörter zu finden. Ronald de Sousa (1997, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a. M., S. 47) bekennt: „Ich gebe zu, daß ich unfähig bin, eine Definition von Gefühl zu geben." 3 Sigmund Freud ordnet die Gefühle dem ES zu. Selbst die primitivsten Denkgesetze gelten für sie nicht, vor allem nicht der Satz vom Widerspruch. Es handelt sich bei ih-

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gend oder als deprimierend, gewinnen wir den Eindruck, ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Diese Position lebt von der strikten Entgegensetzung von Gefühl und Vernunft, von Emotion und Kognition. 4 Am anderen Ende der Skala möglicher Positionen stehen die Emotivisten, für die sich das moralische Verhalten des Menschen auf Gefühle reduziert. D. h. Gefühle sind nicht nur als ein genuiner Bereich für ethische Reflexion und für moralisches Handeln bedeutsam, sie nehmen vielmehr die Stelle der Kriterien des Moralischen ein. Während also die erste Position ein Verhältnis der Beziehungslosigkeit zwischen Moral und Gefühl konstatiert, setzt die andere Position beide in eins.5 Die Tradition der Tugendlehre gibt unübersehbare Hinweise für die Annahme, dass sich mit der idealtypischen Charakterisierung der Extrempositionen die Verhältnisbestimmung von Gefühl und Moral nicht erschöpft hat. Um es vorweg zu sagen: Gefühle sind keine Kriterien der moralischen Beurteilung, sondern unterliegen ihrerseits unter bestimmter Rücksicht moralischer Bewertung. Diese These impliziert die Behauptung, dass Gefühle nicht schlechthin vernünftiger Einwirkung und Gestaltung entzogen sind und dass wir deshalb in eingeschränktem Maße auch für unsere Gefühle eine Verantwortung haben. Ich werde im Folgenden nicht näher auf die Position des Emotivismus eingehen, sondern die Frage zu klären suchen, inwiefern es sich bei den Gefühlen um moralisch bedeutsame Sachverhalte handelt. Doch schon diese Wortwahl ist problematisch, denn Gefühle scheinen prima facie nur dem subjektiven Erleben zugänglich zu sein und sich damit einer objektiven Betrachtung zu entziehen. Erröten kann Ausdruck freudiger Erregung, aber ebenso äußeres Signal hochgradigen Zornes sein. Um in dieser Frage wie in der Frage nach dem Verhältnis von Gefühlen zu ethischen Tugenden weiterzukommen, ist es geboten, zuvor Begriff und Phänomen des Gefühls zu klären. Das kann nicht ohne eine Rückfrage an die Psychologie geschehen. Doch sei nicht verschwiegen, dass nen um „ein C h a o s " und er vergleicht sie mit einem „Kessel voll brodelnder Erregungen" (1981, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, G W XV, Frankfurt a. M., S. 81). 4 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht § 74, VII, Berlin, S. 252, wählt die Metapher vom Dammbruch, um die Wirkung der Affekte auf das Denken zu beschreiben. 5 Eine naturalistische Position dieser Art vertreten u.a. Robert H . Frank, 1992, Die Strategie der Emotionen, München (1988, Passion within reason. The strategic role of the emotion, N e w Y o r k / L o n d o n ) und James Q . Wilson, 1994, Das moralische Empfinden. Warum die Natur des Menschen besser ist als ihr Ruf, Hamburg (1993, The Moral Sense, N e w York).

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die moderne Psychologie sich keineswegs einig ist in dem, was mit den Ausdrücken ,Gefühl', .Emotion' und ,Affekt' gemeint ist. 6

2. Gefühl (Emotion, Affekt) in der zeitgenössischen Psychologie Menschliches Erleben ist stets mit Gefühlen verbunden. Sinnliches Wahrnehmen wie Sehen, Hören, Riechen oder Schmecken, und geistige Vollzüge wie Bedenken, Planen oder Erforschen haben in ihren jeweiligen Bewusstseinsinhalten stets auch eine Gefühlskomponente bei sich. Was wir wahrnehmen oder denken, verbindet sich mit Vorstellungen von angenehm oder unangenehm, interessant oder uninteressant, erfreulich oder unerfreulich. Ohne diese Erlebnisqualitäten bleibt unser Erkennen und Wissen psychisch belanglos. Selbst das oft so nüchterne Geschäft der Feststellung und Bewertung von Tatsachen ist von Gefühlen begleitet. Je nach emotionaler Gestimmtheit bewerten wir ähnliche oder vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich, ob wir also guter Laune sind oder in einer üblen Stimmung, ob wir uns freuen oder ärgern, ob wir friedfertig oder zornig gestimmt sind. Dass unser Wahrnehmen, Denken und Handeln gefühlsmäßig „gefärbt" ist, bedeutet allerdings nicht, wir seien in diesen Vollzügen vor allem von unseren Gefühlen bestimmt. 7 Die Auffassung Piatons, Aristoteles' oder Thomas von Aquins, nach der die Gefühle (πάθη, passiones animae) als Seelenvermögen der Vernunft gehorchen können, ist in der Gegenwart keineswegs durch schlagende neuere Erkenntnisse widerlegt worden, wenngleich ihr Maß an Eigenständigkeit und Widerständigkeit gegenüber vernünftiger Einwirkung deutlich herausgestellt wird. Für die ethische Reflexion heißt das u. a.: Gefühle sind nicht ausschließlich unter der Rücksicht der schuldlosen Einschränkung der 6 Einen guten Überblick bietet Hans Goller, 1992, Emotionspsychologie und LeibSeele-Problem, Stuttgart, S. 15-198; ders., 1995, Psychologie. Emotion, Motivation, Verhalten, Stuttgart. Vgl. Auch Barbara Krimm, 2002, Erziehung und die „ Vernunft der Gefühle". Gefühlserziehung - Möglichkeit, Notwendigkeit, RelevanzDiss. Duisburg (online). 7 Sigmund Freud vertritt die Auffassung, dass der Mensch - ein Wesen von schwacher Intelligenz - permanent mit den auf Lustgewinn zielenden affektiven Impulsen zu kämpfen hat, um nur einigermaßen Vernunft- und realitätsgerecht handeln zu können. Menschen werden mehr gelebt als das sie leben (vgl. G.W. XIV, S. 372; XIII, S.251).

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Verantwortlichkeit für ein bestimmtes Tun oder Lassen zu behandeln etwa im Sinne „mildernder Umstände", die das Strafrecht kennt. Sie hemmen und schränken moralisches Erkennen und Handeln nicht nur ein, sondern sie können dazu auch motivieren.

2.1 Definition Sichtet man verschiedene Definitionen von Gefühl (Emotion, Affekt), dann zeigt sich, dass in der Regel eine knappe Phänomenologie der wichtigsten Erfahrungskomponenten des Emotionalen geboten wird, zu denen (1) die affektive Komponente, das Emotionserleben, (2) die kognitive Komponente (Intentionalität), (3) die physiologische Komponente und (4) die motorisch-expressive Komponente ( - emotionales Verhalten) gehören. 8 Am Beispiel einer Angstreaktion lässt sich die komplexe Interaktion seelischer und körperliche Vorgänge illustrieren: (1) die affektive Komponente - subjektives Angstgefühl; (2) die kognitive Komponente - das Erkennen einer Gefahr; (3) die physiologische Komponente - Herzschlagbeschleunigung, Schweißausbruch, feuchte Hände; (4) die motorisch-expressive Komponente - Mimik, Gestik, automatische Muskelreaktionen etc. Diese Komponenten machen zusammen das aus, was man gemeinhin das Gefühl der Angst nennt. 9 Goller zitiert folgende „Arbeitsdefinition" 10 , welche die wesentlichen Elemente des Emotionalen umfasst und als Zusammenfassung dienen kann: „Emotion ist ein komplexes Interaktionsgefüge zwischen subjektiven und objektiven Faktoren, das von neuronal/hormonalen Systemen vermittelt wird. Dieses Interaktionsgefüge kann (a) affektive Erfahrungen, wie Gefühle der Erregung oder Lust/Unlust, bewirken; (b) kognitive Prozesse hervorrufen, wie emotional relevante Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse; (c) ausgedehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen zur Folge haben und (d) zu Verhalten führen, das oft, aber nicht immer, expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist."

8 Vgl. Goller, 1992, S. 27. 9 Vgl. Goller, 1992, S. 16. 10 Ebd. S. 18. Quelle: P. R. Kleinginna/A. M. Kleinginna, 1981, A categorized list of emotion definitions, with suggestions for a consensual definition, in: Motivation and Emotion 5, S. 3 4 5 - 3 7 9 , 355.

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2.2 Definitionselemente (a) Die Gefühlskomponente bzw. das Emotionserleben 11 : Damit ist der subjektive Gefühlszustand gemeint, das affektive Erlebnis mit den vielfältigen Varianten von Lust- und Unlusterfahrungen. Schon Aristoteles sieht in ihnen den gemeinsamen Nenner der Erfahrungsqualität der Pathe. 12 „Das Emotionserleben umfasst die wahrgenommenen Befindlichkeiten, die das betroffene Individuum selbst als Gefühl bezeichnet." 13 Wir teilen ζ. B. einander mit, dass wir uns freuen, traurig sind, Angst haben. Damit „definieren" wir unser Emotionserleben, das ohne diese Mitteilung anderen u. U. verborgen bleiben könnte oder zumindest für sie nicht deutbar wäre. Was uns gleichgültig lässt, „bewegt" uns auch nicht. Gefühle zeigen also das Gegenteil von Gleichgültigkeit an. Sie sind Indikatoren von Selbstbetroffenheit, die darauf hinweist, dass eigene Ziele, Interessen oder gar Rechte berührt sind. „Darin k o m m t [...] jeweils unsere Stellung, unser Verhältnis zu .etwas', also zur Welt, zu Gegenständen oder anderen Personen, zum Ausdruck. Im Gefühlserleben sind Werte tangiert. Emotionale Reagibilität ist generell an das Vorhandensein von Wertbindungen [...] geknüpft." 1 4

Gefühlszustände können labil sein: Freude kann in Niedergeschlagenheit umschlagen, Begeisterung in Enttäuschung, leidenschaftliche Verehrung in Ablehnung. Gerade diese Tatsache, die sich auch in der geistlich-religiösen Erfahrung zeigt, liegt der Lehre von der „Unterscheidung der Geister" zugrunde, die u. a. in den Exerzitien des Ignatius von Loyola eine wichtige Rolle spielt.15 M. a.W.: Gefühle sind zwar Indika11 So wie keine Übereinkunft über den Sprachgebrauch der Ausdrücke Gefühl, Emotion, Affekt besteht, ebenso wenig ist man sich einig darüber, wie sich Stimmungen und Gemütsbewegungen voneinander abgrenzen lassen oder ob sie als Synonyma zu verstehen sind. 12 Vgl. u.a. Aristoteles, Rhet II 1-11; Friedo Ricken, 1976, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen, S. 63-80. 13 Goller, 1995, S.33. 14 Dieter Ulich, 1992, Begriffsbestimmungen und Theoriediskussion, in: Dieter Ulich/ Philipp Myring, Psychologie der Emotionen, Stuttgart u. a., S. 28-57, hier 56. Bei Max Scheler, 5 1966, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern und München, bes. S. 248-259, werden Emotionen als Einstellungen verstanden, die uns einen besonderen epistemischen Zugang zu Werten als Teil der objektiven Wirklichkeit eröffnen. 15 Vgl. u. a. Michael J. Buckley, 1973, The Structure of the Rules for Discernment of Spirits, in: The Way, Suppl.20, S. 19-37; Günter Switek, 1972,„Discretio spirituum". Ein Beitrag zur Geschichte der Spiritualität, in: Theologie und Philosophie 47, S. 36-76;

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toren für existentielle Bedeutsamkeiten, aber sie können uns auch täuschen. Hinzu kommt: Wir erleben zwar mit Gewissheit emotionale Zustände, aber diese sind nicht notwendig in dem Sinne bewusstseinsfähig, dass wir präzise angeben könnten, wovor wir uns ängstigen oder was in uns diese Freude auslöst. (b) Die kognitive Komponente: Für Aristoteles wie für Thomas von Aquin ist die erste Ursache von Gefühlen die Annahme eines Sachverhalts und dessen Bewertung. 16 Dabei stimmen beide, der Philosoph und der Theologe, darin überein, dass Emotionen nicht einfach als vernünftig anzusehen sind, weil sie nicht über den Wahrheitswert ihrer Annahmen und Wertungen entscheiden können. Das kann nur die Vernunft. Die Gefühle haben ihren „Ort" nicht in der Vernunft, sondern im Strebevermögen des Menschen. Während die Tradition in erster Linie das Verhältnis von Gefühl und Vernunft bedenkt, streitet die zeitgenössische Emotionspsychologie über die Bestimmung des Verhältnisses von Emotion und Kognition. Emotionstheorien, die kognitiv ausgerichtet sind, fokussieren die Aufmerksamkeit auf die Genese und Differenzierung der Gefühle durch kognitive bzw. quasikognitive Bewertungen. 17 Ohne das Moment der Bewertung treten keine Gefühle auf. Dies geschieht jedoch unbewusst, d. h. Gefühle werden nicht willentlich bewirkt, sie gehen vielmehr bewussten Entscheidungen voraus und beeinflussen diese u. U. in einem erheblichen Maße. Gefühle, die auf falschen Annahmen und Bewertungen beruhen, können u. U. korrigiert werden. Das ist aber nicht durchgängig der Fall. Wer an einer Hundephobie leidet, dem nützt die Versicherung des Hundebesitzers wenig, die Bulldogge beiße nicht. Er wird auch in Zukunft in Panik geraten, wenn er diesem Hund begegnet. Freilich drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob man dieses Phänomen als Beleg für den Eigenstand von Gefühlen ansehen muss, oder ob sich an der Schwierigkeit, Gefühle durch die Berichtigung von Annahmen und Wertungen zu korrigieren, nicht das Pathologische bestimmter emotionaler Reaktionen zeigt. Auf unser Beispiel angewendet: Es gibt vielleicht eine natürliche Vorsicht und Scheu vor großen Hunden und es ders., 1977, Unterscheidung der Geister - biblische Grundlage Entwicklung, in: Ordenskorrespondenz 18, S. 59-70.

und

geschichtliche

16 Vgl. Aristoteles, De anima 403 a27: 427 b21 f; Rh et. 1378 a24. Vgl. bei Thomas von Aquin u. a. S. Th. I—II 22, 2. Für Aristoteles vgl. auch Martha C. Nussbaum, 1994, The Therapy of Desire, Princeton NJ, S. 78-101. 17 Vgl. Goller, 1992, S. 149-198.

Gefühle und ethische Tugenden

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gibt eine pathologische Phobie vor diesen. Im alltäglichen Sprachgebrauch reden wir davon, dass bestimmte Gefühlsausbrüche in keinerlei Verhältnis zum Anlass gestanden hätten (ζ. B. hysterische Trauerreaktion beim Tod eines entfernten Verwandten, zu dem kaum Kontakt bestand). (c) Die körperliche Komponente: Zu Gefühlen gehören wesentlich physiologische Reaktionen. Uber die Regulation des autonomen Nervensystems beeinflussen Gefühle nahezu alle Systeme der inneren O r gane wie Blutdruck, Herzschlagfrequenz, Atmung, Verdauung und Transpiration. Die Interaktion von Emotionserleben und Körperprozessen hat ihrerseits Emotionstheorien inspiriert, die sich vor allem an den spezifischen körperlichen Vorgängen orientieren und weniger an den entsprechenden Kognitionen. D.h. Emotionen werden als Erleben der jeweiligen körperlichen Veränderungen verstanden.18 Das Modell hat einen gewissen Erklärwert für Gefühle wie Überraschung, Furcht, Arger, Traurigkeit, Ekel. Es gelingt aber nicht, generell bestimmten körperlichen Veränderungen eindeutig bestimmte Emotionen zuzuordnen. (d) Emotionales Verhalten bzw. motorisch-expressive Komponente: Gefühle bleiben in der Regel nicht verborgen. Sie zeigen sich in Flucht- wie in Angriffsreaktionen, in Mimik und Gestik, in Lautstärke und Stimmtönung. An den Reaktionen lesen wir ab, ob jemand zornig oder milde gestimmt ist, ob er ruhig oder gereizt ist, usw. Nur durch die äußere Manifestation von Gefühlen sind wir in der Lage, Gefühle zu beurteilen. Doch ist diese Äußerung von Emotionen nicht einfach naturwüchsig, sondern die jeweiligen Ausdrucksweisen sind zum großen Teil sozial und kulturell vermittelt. Ohne gleich von starren Ritualisierungen sprechen zu müssen, wissen wir in der Regel, was angemessene Formen öffentlich bekundeter Trauer sind und was nicht. Die Medien, in denen wir unsere Gefühle ausdrücken können, sind vielfältig: Sie reichen von der sprachlosen Gestik über Sprache, bildende Kunst, Musik bis zum Spiel. So werden Gefühle für andere verständlich, die u. U. sonst unerfahrbar und unverstanden blieben. Damit wird aber zugleich deutlich, welch hoher kommunikativer Rang gerade auch non-verbalen Gefühlsäußerungen zukommt. Ohne das Verstehen von Gefühlen können wir einander nicht verstehen. 18 Zu nennen sind vor allem William James, 1884, What is an emotionin: Mind. 9, S. 1 8 8 - 2 0 5 , und C . Lange, 1910, Die Gemütsbewegungen, Würzburg (Dän. Orig.: 1885).

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3. Gefühl als Motiv 3.1 Generell Bei Aristoteles wie Jahrhunderte später bei Kant 19 hat die Tugendlehre ihren systematischen Ort innerhalb der Motivationsproblematik. Zum menschlichen Strebevermögen gehören mit Begierde und Wünschen auch die Gefühle. Aristoteles ordnet sie dem nicht-vernünftigen Seelenteil zu. Aufgabe der ethischen Tugenden ist es u. a., die Gefühle als menschliche Antriebskräfte so zu gestalten, dass sie im Einklang mit der rechten Vernunft stehen, damit die praktische Vernunft nicht gegen die Gefühle, sondern mit ihnen handlungsleitend werden kann. 20 Dass diese Aufgabenbeschreibung der ethischen Tugenden in der Gegenwart anschlussfähig geblieben ist, zeigt die zweifache Aufgabenzuweisung für die Tugenden bei Winfried Anselm Müller: „1. Als Klugheit stimmt sie das Verhalten des Menschen auf das Ganze seiner Zwecke und auf die Vielfalt der jeweiligen Situationen ab, wo ein Tier instinktiv und triebhaft mit typischem Verhalten auf typische Zustände des Organismus und wahrgenommener Umgebungen antwortet. 2. In der Gestalt der ethischen Tugenden kultiviert sie die ohnehin im Menschen wirksamen Neigungen und Antriebe durch Zähmung bzw. Stärkung, so daß sie seinem Gedeihen dienen bzw. jedenfalls nicht schaden." 21

Sexualität und Hunger können Motive für ein bestimmtes Verhalten sein, ohne als Gründe verstanden zu werden. Denken wir an das bedürfnisorientierte Verhalten von Tieren, von denen wir nicht behaupten, sie verhielten sich aus Gründen so und nicht anders. Menschlichen Motiven aber entsprechen stets praktische Gründe oder sie sind solche Gründe. 22 19 Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Schuster, 1997, S. 132-152. 20 Vgl. EN 1106 b 14-25. 21 Anselm Winfried Müller, 1998, Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Stuttgart, S. 66. 22 Damit wird ausdrücklich eine humesche Position zurückgewiesen, nach der stets nur Wünsche und Gefühle zum Handeln motivieren können, nicht aber Gründe, die praktischer Überlegung und vernünftiger Wahl entspringen. Vgl. zur Auseinandersetzung mit David Hume und seinen Anhängern: Ulrike Heuer, 2001, Gründe und Motive. Über humesche Theorien praktischer Vernunft, Paderborn. Vgl. ferner als modernen Vertreter einer humeschen Position: Bernard Williams, 1999, Interne und externe Gründe, in: Stefan Gosepath (Hrsg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt a. M., S. 105-120. Zur Frage über Hume hinaus vgl. die Beiträge in: Sabine A. Döring/Verena Mayer (Hrsg.), 2002, Die Moralität der Gefühle (DZPh Sonderband 4), Berlin.

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Motiv-Wörter stehen in unmittelbarer Nähe zu Gefühlen. Vielfach drücken wir ein Handlungsmotiv mit einem Emotionswort aus. Handlungen geschehen aus Dankbarkeit, Liebe, Zorn, Neid, Neugierde etc. „Warum hat er Herrn Becker umgebracht?" „Er tat es aus Rache, denn Herr Becker hat seine minderjährige Tochter vor Jahren sexuell missbraucht." Rache als Handlungsmotiv kann mit unterschiedlichen Gründen verbunden sein. Jemand kann sich an einem anderen rächen, weil er ihn beleidigt oder weil er den guten Ruf seiner Eltern geschädigt hat. Als Grund für die Beobachtung der inneren Verwiesenheit von Motiv-Wörtern und Emotionen gibt Müller an: „Zu jeder Emotion gehört ganz wesentlich die Tendenz, im Tun und Lassen - und sogar im Fühlen selbst - von einer bestimmten, für diese E m o tion spezifischen Art von G r u n d bestimmt zu werden. Daher ist es selbstverständlich, dass sich emotionsgebundene Gründe durch Motiv-Wörter klassifizieren lassen." 2 3

Grund und Motiv sind aber nicht einfach bedeutungsgleich. Denn wir bewerten Handlungs- bzw. Verhaltensgründe als Leistungen praktischer Vernunft. Motive dagegen werden in der Weise beurteilt, dass damit über das emotionale Leben des Betroffenen geurteilt wird, d. h. u. U. auch über seinen Charakter. Die Tugend der Klugheit, eine dianoetische Tugend, ist notwendig, um beständig aus guten Gründen heraus handeln zu können; die ethischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß etc. sind notwendig, um beständig aus guten Motiven heraus zu handeln.

3.2 Gefühl, Tugend und abwägende Vernunft Soll Friedo Rickens Konzept der abwägenden Vernunft 24 mit einer Tugendethik in eine Beziehung gebracht werden, sind zwei Voraussetzungen unabdingbar: (1) Tugendethik und normative Ethik sind keine sich ausschließenden Ethiktypen, sondern verhalten sich zumindest komplementär zueinander.25 Denn das Konzept der abwägenden Vernunft ist dem Bereich normativer Ethik zuzuordnen und daher würde ein disjunktives Verhältnis beider Ethiktypen ein In-Beziehung-Setzen 23 Ebd. S. 86f. 24 Friedo Ricken, 1993, Ethik der abwägenden Vernunft, in: EuS 4, S. 587-594; ders., 3 1998, Allgemeine Ethik, Stuttgart, S. 181-204. 25 Vgl. Schuster, 1997, S. 27-86.

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a limine ausschließen. (2) Der Tugendbegriff ist im Hinblick auf die moralische Bewertung von Handlungen gegenüber dem Begriff moralischer Pflicht sekundär, d. h. abgeleitet. Denn wäre der Tugendhafte per definitionem auch jener, der in entsprechenden entscheidungs- und handlungsrelevanten Situationen beständig und spontan das moralisch Richtige tun und das moralisch Falsche lassen würde, dann wäre der Tugendbegriff gegenüber dem Normbegriff primär und eine Entscheidung aufgrund einer Abwägung alternativer Handlungsmöglichkeiten würde sich erübrigen. 26 An dieser Stelle ist allerdings eine weitere Präzisierung notwendig: Deontische Prädikate (moralisch richtig - moralisch falsch - moralisch erlaubt) beziehen sich primär auf Handlungen, mit denen es eine abwägende Vernunft zu tun hat, während aretaische Ausdrücke in erster Linie Charaktereigenschaften benennen. Die These vom logischen Vorrang deontischer Aussagen vor aretaischen besagt in diesem Zusammenhang, dass Aussagen über Charaktereigenschaften von Personen sich von denen über Handlungen ableiten. Urteile über Tugenden setzen nach dieser Auffassung Urteile über Handlungen voraus. Ricken begründet diese These mit der aristotelischen Lehre von den Vermögen. In Aristoteles' Abhandlung „Uber die Seele" heißt es: „[...] denn früher dem Begriffe nach sind die Tätigkeiten und Handlungen als die Vermögen. Wenn es sich aber so verhält, und wir noch früher deren Gegenstände betrachtet haben müssen, dann sind wohl aus demselben Grunde zuerst diese zu bestimmen [...]" 27

Entsprechendes gilt auch für die Tugend als gute Verfassung eines Vermögens. Aristoteles definiert ethische Tugend durch den Begriff der Entscheidung (proairesis)2S. Kriterium für die Entscheidung ist die 26 Rosalind Hursthouse, 2002, Applying Virtue Ethics, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Ed.), Virtues and Reasons. Philippa Foot and Moral Theory\ Oxford, S. 57-75; John McDowell, 1979, Virtue and Reason, in: The Monist 62, S. 3 3 1 - 3 5 0 ( N D in: Roger Crisp & Michael Slote (Ed.), 2001, Virtue Ethics, Oxford, S. 141-162). Vgl. zum Folgenden vor allem Friedo Ricken, 1999, Aristoteles und die moderne Tugendethik, in: Theologie und Philosophie 74, S. 3 9 1 - 4 0 4 , der ebd. S. 393 darauf hinweist, dass Hursthouse keine reduktionistische Position vertritt. Aber am Primat einer Tugendethik hält sie dennoch fest. Vgl. zur Frage auch Robert N . J o h n s o n , 2003, Virtue and Right, in: Ethics 113, S. 8 1 0 - 8 3 4 . Gleich zu Beginn seines Beitrages stellt Johnson seine Position so vor: „[...] a virtue-oriented theory of right action will be unable to explain moral distinctions we regularly make regarding behavior appropriate for those who could better themselves." 27 Aristoteles, De anima

Β 4, 4 1 5 a 18-21 (zit. nach Meiner-Ausgabe).

28 Vgl. E N 1 1 0 6 b . 3 6 - 1 1 0 7 a 4 .

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Gefühle und ethische Tugenden

„nach uns bemessene Mitte", die von der Vernunft bestimmt wird. Wenn es dann unmittelbar anschließend heißt, dass diese Mitte so erkannt wird, „wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt", dann darf dieser Zusatz nicht als zirkuläre Bestimmung interpretiert werden, denn Aristoteles gibt Auskunft darüber, wie ein kluger bzw. gerechter Mann entscheidet: Entscheidend ist nicht allein, dass eine Handlung eine bestimmte Beschaffenheit zeigt, also moralisch richtig ist, „ [ . . . ] s o n d e r n erst d a n n , w e n n a u c h d e r H a n d e l n d e bei d e r H a n d l u n g g e w i s s e B e d i n g u n g e n erfüllt, w e n n e r e r s t e n s w i s s e n t l i c h , w e n n er z w e i t e n s m i t V o r s a t z (proairoumenon), Handlung

gerichteten

u n d z w a r m i t d e m einzig a u f die sittliche

Vorsatz,

und

wenn

er drittens

fest

und

ohne

Schwanken handelt."29

Wissentlich handeln heißt, um die in einer gegebenen Situation moralisch richtige Handlungsalternative zu wissen. Einem Handelnden zurechenbar wird eine Handlung, wenn sie auf einer Entscheidung beruht. In der dritten Bedingung spricht Aristoteles die Unterscheidung in der Terminologie Kants ausgedrückt - zwischen „pflichtgemäß" und „aus Pflicht" an. Drei Bedingungen werden also für den Wert einer Handlung angegeben: erstens muss die Handlung sittlich richtig sein, zweitens muss sie zurechenbar sein und drittens muss der Handelnde zur Richtigkeit auch die entsprechende Einstellung haben. Uber den Wert einer Handlung entscheidet die Frage, ob sie pflichtgemäß - also sittlich richtig - ist, und die Frage, ob sie aus Pflicht geschieht. Die Antwort auf diese Frage kann nicht mehr von der sittlichen Richtigkeit abgeleitet werden, sie kann allein aus der Kenntnis des Charakters des Handelnden heraus gegeben werden. Die Gegenthese geht davon aus, dass Aussagen über Tugenden unabhängig von Aussagen über Handlungen möglich sind und dass Aussagen über die moralische Qualität von Handlungen sich aus aretaischen Begriffen ableiten: Die Handlungen des Tugendhaften zeugen von dessen Tugendhaftigkeit, moralisch richtige Handlungen lassen dagegen keinen Schluß auf die Tugendhaftigkeit des Handelnden zu.30 Als 29 EN

1105a30-33.

30 Im angelsächsischen Bereich spricht man, um beide Ethiktypen zu unterscheiden, von „agent centered ethics" bzw. „act centered ethics". Vgl. z . B . Michael Slote, 1995, Agent-Based Virtue Ethics, in: Midwest Studies in Philosophy 20, S. 83-101 ( N D in: Crisp & Slote (Ed.), Virtue Ethics, S. 2 3 9 - 2 6 2 ) . Slote charakterisiert eine „agent-based ethics" wie folgt: „An angent-based approach to virtue ethics treats the moral or ethical status of acts as entirely derivative from independent und fundamental arectaic (as opposed to deontic) ethical characterizations of motives, character traits,

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Beispiel ließe sich Mt 7,17 anführen: „Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor." Die Frage drängt sich allerdings auf, ob denn ohne das Wissen um das, welchen Qualitäten gute Früchte entsprechen müssen, man wissen kann, was ein guter Baum ist. Und in jedem Fall ist das Kriterium für das, was die gute Qualität von Früchten ausmacht, unabhängig von der Bestimmung eines guten Baumes. Dieses Beispiel taugt also nicht als Illustration für die in Frage stehende These. 31 Sieht man es als erwiesen an, dass sich aus aretaischen Aussagen keine deontischen ableiten lassen, dann stellt sich die Frage, welchen Beitrag Tugenden zur Erkenntnis des sittlich Richtigen leisten können. Für die Tradition besitzt die Tugend der Klugheit als praktisches Urteilsvermögen, ohne die moralische Tugenden nicht gedacht werden können, bei der Erkenntnis dessen, was hier und jetzt zu tun oder zu lassen ist, eine unersetzliche Bedeutung, denn moralische Prinzipien und Regeln haben keine Regeln zu ihrer Anwendung auf den Einzelfall bei sich. Eine sachgemäße Entscheidung im Einzelfall verlangt neben dem Wissen um die sittlich relevanten Sachverhalte, um die in Frage stehen Güter oder Übel, auch Erfahrung, denn es geht nicht einfach um das Konstatieren von Fakten, also um Tatsachenwissen, sondern auch um die angemessene nicht-moralische Bewertung der moralisch relevanten Sachverhalte. Unter dieser Rücksicht ist moralische Erkenntnis auch an emotionale Voraussetzungen gebunden, was die Objektivität der Tatsachenerkenntnis nicht in Frage stellt. Was jemand als gut, erfreulich, wohlwollend, gerecht, mutig etc. ansieht, hängt auch von der Art seines Charakters ab. Wer neidisch ist, wird stets versucht sein, die Leistungen anderer abzuwerten oder sie als Bedrohung für das eigene Selbstwertgefühl anzusehen. Wer von Gewinnsucht beherrscht wird, wird eine besondere Aufmerksamkeit für jene Güter entwickeln, die seinem Gewinnstreben förderlich sind, und andere Güter vernachlässigen oder gar gering achten, aus denen kein Vorteil für die eigene Person zu ziehen ist. 32 Beispiele dieser Art lassen sich leicht finden. Zum menschlichen Strebevermögen gehören wesentlich die Emotionen. Dass wir ihnen nicht einfach ausgeliefert sind, ist die moralpsyor individuals [...]" (S.239). Slote unterscheidet eine „agent-based ethics" von einer „agent-focused virtue ethics", insofern bei letzterer das handelnde Subjekt zwar im Mittelpunkt der ethischen Aufmerksamkeit steht, aber kein Ableitungsverhältnis von aretaischen zu deontischen Aussagen besteht. 31 Vgl. zur moraltheologischen Auseinandersetzung um ein finales und konsekutives Moralverständnis: Schuster, 1997, S. 210-216. 32 Vgl. die Ausführungen des Aristoteles zur Pleonexia: EN V 4.

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chologische Grundüberzeugung einer langen Tradition. Ohne sie verlören die verschiedenen Tugendlehren ihre anthropologische Basis. 33 Die ethischen Tugenden stehen für die jeweils gute Verfassung der naturalen Vermögen des Menschen. Ihre Leistung besteht unter anderen darin, menschliches Strebevermögen und sittliche Erkenntnis zu einer Einheit bringen. Auf die Dringlichkeit einer solchen Einheit verweist Paulus, wenn er auf die Erfahrung der inneren Zerrissenheit verweist. „[...] ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse [...] D a s Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen." (Rö 7,15.18)

Die Verfassung unserer Emotionalität hat nicht nur Einfluss auf die moralische Erkenntnis, sie wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, das als gut und richtig Erkannte ins Werk zu setzen, weil es ζ. B. an der affektiven Bejahung fehlt. „Ungeordnete Neigungen" beeinflussen also nicht nur die richtige Erkenntnis des jeweils moralisch angemessenen Verhaltens, sie behindern auch die angemessene affektive Stellungnahme zu Gütern wie Übeln.

3.3 Scham als Motiv Kaum eine Emotion hat in der Gegenwart so viel Aufmerksamkeit erfahren wie die Scham. 34 Sie eignet sich in besonderer Weise, um die Relevanz von Gefühlen nicht nur für eine Tugendlehre, sondern für die Ethik insgesamt zu verdeutlichen.

3.3.1 Phänomen und Bedeutung 1. Phänomenologisch scheint es zur Scham zu gehören, schutzlos den Blicken anderer ausgesetzt zu sein in Situationen, in denen ich das nicht wünsche. „Ich wäre am liebsten im Boden versunken" oder „Ich wünschte, ich wäre in dieser Situation dort gewesen, wo mich niemand kennt" - in solchen Äußerungen kommt dieses Merkmal der Scham zur Sprache. Allgemeiner: Scham 33 Vgl. Schuster, 1997, S. 87-182. 34 Einen guten Überblick bieten J. Ruhnau, 1992, Art. Scham, Scheu, in: HWP 8, S. 1208-1215 und Matthias Heesch, 1999, Art. Scham, in: TR Ε 30, S. 65-72.

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„[...] bezeichnet ein Gefühl, das die Tendenz hat, einen Handlungs- oder Redeimpuls zu hemmen, um möglichen Tadel und damit Minderung des Selbstwertgefühls zu vermeiden, oder Insuffizienz schmerzlich spüren zu lassen, weil diese Rücksicht verletzt wurde [...]" 35

In dieser Definition wird die prospektive Dimension der Scham benannt, insofern es um ein Ereignis in der Zukunft geht. Der Ausdruck „Scheu" wäre wohl ebenso angemessen. Scham richtet sich aber auch retrospektiv auf bereits Geschehenes. Man kann sich seiner Schuld schämen: „Wenn ich doch nur meine Zunge im Zaum gehalten hätte, dann hätte ich den Freund nicht so verletzt!" 2. Scham als Gefühl 36 richtet sich intentional (1) auf Personen, Anschauungen oder Dinge, die Achtung und Respekt verdienen wie Gott, Religion, Sitte, Forderungen der Humanität oder des Anstandes; (2) auf eine Urteilsinstanz wie den Bekanntenkreis, Autoritäten oder das eigene Ich (bzw. Über-Ich); (3) auf das handelnde Subjekt, dem durch die Verletzung der genannten Werte Bloßstellung, Blamage oder Schande droht. 3. Drei „Funktionen" der Scham lassen sich unterscheiden: (1) eine prohibitive Funktion im Sinne des Unterlassens von allem, was mich beschämen könnte; (2) eine beurteilende bzw. verurteilende Funktion im Sinne des Bedauerns und der Reue über begangenes Unrecht und (3) eine adhortative Funktion, die als Ehrgefühl zum Edlen, Guten und Richtigen anspornt. Jörg Splett konzentriert das .Wesen' der Scham auf das positive Moment des Bewahrens: „In der Scham sucht a) Freiheit, das heißt die Person als Freiheitssubjekt, sich und den anderen zu wahren, und dies so, dass sie b) ihre (und dessen) Hingabe als Freiheitsgeschehen, ihre Liebe als Liebe zu bewahren sucht." 37

4. Die beurteilende bzw. verurteilende Funktion der Scham verlangt nach einem Maßstab, dem wir in unserem Tun und Lassen entsprochen haben oder nicht. Dabei kann es sich um Forderungen der Moral han35 J . R u h n a u , 1992, S. 1208. 36 Vgl. Hilge Landweer, 2001, Differenzierungen im Begriff „Scham", in: EuS 12, S. 2 8 5 - 2 9 6 , und die Kritik an ihrer Position ebd. S. 2 9 7 - 3 3 7 , sowie die Replik auf die Kritik ebd. S. 3 3 8 - 3 4 8 . Landweer legt ihrer Analyse ein zu enges Verständnis der Scham als Ausdruck einer Normverletzung zugrunde. Dadurch geraten Scham und Schuld in ein unmittelbares Verhältnis zueinander, was aber dem Gefühl Scham nicht gerecht wird. 37 Jörg Splett, 1976, Prüfstein Diskretion, in: ders., Lernziel sche Grundperspektiven, Frankfurt a. M., S. 6 1 - 8 0 , 67.

Menschlichkeit.

Philosophi-

Gefühle und ethische Tugenden

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dein, um persönliche Ideale, um gesellschaftlich vermittelte Erwartung oder Standards oder auch um das Urteil des eigenen Gewissens. Wir können uns aber auch über das Unrecht schämen, was durch andere geschieht. So können sich Eltern über das ungehörige Verhalten ihrer Kinder schämen wie auch umgekehrt. 5. Auch beim Gefühl der Scham legen wir die Kriterien des Angemessenen bzw. Unangemessenen an: Wir sprechen von Schüchternheit, Verzagtheit, Prüderie, Unsicherheit etc., wenn wir eine der Fehlformen der Scham benennen. 6. Gegenüber der Tendenz, Scham als stets außengeleitet zu verstehen, so dass die Vorstellung, andere könnten von meinem Versagen etwas wissen, konstitutiv für sie ist 38 , sei darauf hingewiesen, dass sich nach der Tradition auch der Tugendhafte vor sich selber schämen müsste, wenn er lediglich aus Gründen des vorteilhaften Ansehens bei anderen tugendhaft wäre. Es muss nicht notwendig externe Zuschauer geben, um sich zu schämen. In retrospektiver Perspektive ehrt den Tugendhaften die Scham, denn er weiß darum, dass er nicht gänzlich ohne Schwächen und Schuld ist und dass er sich auch immer wieder verfehlen kann. Scham kann also davor bewahren, selbstgefällig und moralisch unsensibel gegenüber der eigenen Person zu werden. Es bedarf dazu nicht erst der Furcht vor externer Sanktion.

3.3.2 Scham als Ausdruck stellvertretender Verantwortung Wir können uns stellvertretend für andere schämen, wir können aber nicht stellvertretend für andere schuldig werden. Denn Schuld ist nicht von einem zum anderen übertragbar. Der Sündenbock, dem symbolisch die Schuld der vielen aufgeladen und dann in die Wüste gejagt wird, trägt nicht die Schuld der vielen, sondern ist Symbol für eine Sühneleistung. Auch unter theologischer Rücksicht gilt: Schuld im moralischen Sinn ist nicht übertragbar, doch ist ein solidarisches Mittragen der Schuld möglich. Getilgt wird Schuld aber erst durch Vergebung. Nach christlicher Überzeugung „trägt" Jesus Christus die Last unserer Schuld und wird selber ein Opfer der Schuld der Menschen, aber er bleibt schuldlos (vgl. 2 Kor 5,21; Rom 8,3; 1 Petr 2,24). 38 So u. a. Sighart Neckel, 1993, Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls, in: Heinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M., S. 244-265.

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Schuldgefühle sind angemessen, wenn auch tatsächlich Schuld vorliegt. Demgegenüber können Schamgefühle auch dann angemessen sein, wenn kein persönliches Verschulden auszumachen ist. Im Unterschied zur Schuld lässt Scham also einen Transfer zu. Jean-Claude Wolf nennt das „erweiterte Identität" als Bedingung für ein stellvertretendes Schamgefühl. 39 Diese Erweiterung der Identität bezieht sich nicht nur auf Angehörige und Freunde, sondern sie kann sich bis zu den Bürgern des eigenen Landes erstrecken. Wir können Scham über das empfinden, was etwa Deutsche während der Zeit des Nationalsozialismus jüdischen Mitbrüdern angetan haben. Allerdings ist es problematisch, die Scham allzu sehr zu globalisieren. Uber das Versagen der Menschheit wird man wohl kaum Scham empfinden können, denn ein Abstraktum wird eine affektive Regung in der Regel nicht hervorrufen können. Uber das schuldhafte Verhalten anderer wird man sich schämen können, wenn man in einer qualifizierten Nähe zu ihnen steht. Dass wir solche stellvertretende Scham empfinden können, ist auch ein Werk der kultivierenden Wirkung der ethischen Tugenden.

4. Ethische Tugenden und Gefühle Gefühle besitzen eine eingeschränkte Rationalität. Deshalb dürfen wir uns ihren Antrieben auch nicht einfach überlassen. Aber dass es uns möglich ist, auf Gefühle Einfluss zu nehmen, zeigt sich z.B. daran, dass wir uns im Falle zorniger Erregung sagen können: „Es ist nicht gut, wenn ich jetzt einfach meinem Zorn freien Lauf lasse und noch größeren Schaden anrichte." Wir bringen also in der Regel das, was der Zornige tut, mit Gründen in Verbindung und nicht nur mit Ursachen, die (quasi-)mechanisch wirken. 40 Wer wiederholt aus bloßem Affekt heraus handelt, dem billigen wir zwar mildernde Umstände zu, aber wir sagen von ihm nicht, er sei ein tugendhafter Mensch. Die Begrenztheit der Rationalität der Gefühle zeigt sich u. a. in der Diskrepanz, die es zwischen den einer bestimmten Emotion immanenten Gründen und der Stimme der Vernunft geben kann. „Eigentlich 39 Jean-Claude Wolf, 1993, Stellvertretende Verantwortung und der moralische Begriff der Scham, in: EvTh 53, S. 549-565, 561. 40 Dieser Auffassung widerspricht David Hume, 2 1978, A Treatise of Human Nature, ed. by L. A. Sclby-Bigge, Oxford, S.458: „[...] reason is perfectly inert, and can never either prevent or produce any action or affection."

Gefühle und ethische Tugenden

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müsste ich nicht so niedergeschlagen sein, denn ich bin bei dem Autounfall unverletzt geblieben." Den gemeinten Sachverhalt macht Müller an folgendem Beispiel deutlich: „Die Quasi-Rationalität einer E m o t i o n läßt sich mit dem Quasi-Urteil einer optischen Illusion vergleichen. Mein astronomisches und wahrnehmungspsychologisches Wissen ändert nichts daran, daß mir der M o n d , wenn er über dem H o r i z o n t aufgeht, größer v o r k o m m t , als wenn er hoch am H i m m e l steht. G a n z ähnlich ändert meine feste Uberzeugung, daß das Eis die nötige Dicke hat, mich zu tragen, nichts an den Regungen meiner Bangigkeit." 4 1

Die beschränkte Rationalität von Gefühlen verlangt nach Kultivierung, die dadurch geschehen kann, dass die Begrenztheit durch Annäherung an die vernünftige Sicht überwunden und - sollte dies an der Widerständigkeit bestimmter Gefühle scheitern - ihre Wirksamkeit in Bezug auf das Verhalten begrenzt wird. Denn die Diskrepanz zwischen der Rationalität der Gefühle und der Vernunft lässt sich nicht in allen Fällen beseitigen. Obwohl die Märtyrer ihrer Rettung durch Gott im Glauben gewiss sind, fürchten sich viele von ihnen dennoch vor dem Tod. Zur Tugend der Tapferkeit gehört es nicht, keine Angst zu haben, sondern sich von dieser Angst nicht überwältigen zu lassen und vor der drohenden Gefahr nicht zu fliehen. Allerdings ist an dieser Stelle zu vermerken, dass es Tugenden gibt, die nicht nur die Dominanz bestimmter Gefühle eindämmen, sondern die entsprechende Gefühle überhaupt nicht aufkommen lassen. Wer wirklich von Herzen vergebungsbereit ist, kann keine Rache verspüren. Die Kardinaltugend des Maßes (temperantia) gilt als eine Tugend, die die unterschiedlichen Antriebskräfte des Menschen in eine O r d nung zueinander zu bringen vermag. Josef Pieper paraphrasiert das Verbum temper are im Anschluss an 1 Kor 12,24 als „aus verschiedenen Teilen ein einiges geordnetes Ganzes fügen". 4 2 Maß als Tugend dämmt also nicht nur „wilde" und „impulsive" Gefühle ein, sie bringt sie vielmehr in eine für das menschliche Gedeihen zuträgliche Ordnung, so dass ein Mensch nicht gegen, sondern mit seinen Gefühlen handeln kann. Grundbedürfnisse wie Nahrung, Sexualität, Anerkennung und Geltung, Streben nach Erkenntnis sind Gegenstände der Tugend des Maßes. N u r wenn wir in Distanz zu grundlegenden Bedürfnissen und 41 Müller, A. W., 1998, S. 136. 42 Josef Pieper, 1939, Zucht und Maß, Leipzig, S. 10.

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Antrieben treten können, gewinnen wir jene Handlungsfreiheit, die uns eine Integration der ζ. T. widerstrebenden Kräfte erlaubt. „Der Mensch ist [...] auf ein Gegengewicht zur Allmacht seines Begehrens angewiesen, das ihn zur Annahme einer freigewollten Ordnung und zur Selbstbegrenzung im Umgang mit den Impulsen seiner eigenen Bedürftigkeit fähig macht." 43

Es geht um Grenzziehung, damit nicht ein Ubermaß menschliches Gedeihen erstickt, vielmehr das rechte Maß den Menschen in der Entfaltung seiner Vermögen fördert. Die Tugend des Maßes bringt die menschlichen Neigungen und Strebungen nicht in eine idyllische Harmonie oder gar zur Ruhe, sondern sie integriert sie in eine Ordnung, die dem guten Leben dient. Am Beispiel des Zorns sei das verdeutlicht. Nach Thomas von Aquin kann Zorn im positiven Sinn zu einer Kraft werden, die dem Menschen dazu verhilft, auch das Widrige anzugreifen und ihn mit hinreichender Widerstandskraft ausstattet, um sich dem Unrecht nicht zu unterwerfen. Zorn ist dann eine gute Motivationskraft, wenn er sich für die guten Ziele, welche die praktische Vernunft dem Menschen vorgibt, in Anspruch nehmen lässt.44 Das Beispiel Zorn zeigt aber auch, dass Vorsicht geboten ist bei dem Versuch, Gefühle in gute und schlechte Gemütsbewegungen einzuteilen. Die Versuchung dazu liegt nahe, weil Tugendwörter auch Emotionen bezeichnen wie z.B. Hoffnung, Geduld, Dankbarkeit. Doch gilt es zu unterscheiden: Die Gemütsbewegung der Dankbarkeit richtet sich stets auf einen bestimmten Menschen, der mir eine Wohltat erwiesen hat, während dies bei der Tugend der Dankbarkeit nicht der Fall ist. Sie bezieht sich weder auf bestimmte Personen noch bestimmte Gegenstände. Ähnlich verhält es sich bei Ausdrücken für Laster, die zugleich eine Emotion bezeichnen, die wir als problematisch einstufen: Neid, Missgunst, Rachsucht oder Schadenfreude. Als negative moralische Wertungswörter enthalten sie analytisch die Aussage, sie sollten eigentlich nicht sein. Im Unterschied zu den positiv bewerteten Gefühlen ist bei den letztgenannten Emotionen eine Kultivierung nicht möglich. „Hier besteht moralische Bildung in der Förderung von Einstellungen und Gefühlen, die den Begründungsmustern dieser Emotionen entgegenstehen. Wer ζ. B. Teilnahme an der Freude und am Leid von anderen gelernt hat, wird nicht zu Mißgunst und Schadenfreude versucht sein. Er läßt sich in 43 Eberhard Schockenhoff, Maß, in: Norbert Kutschki (Hrsg.), 1993, den. Alte Lebensmaximen neu gesehen, Würzburg, S. 41-50, 43. 44 Vgl. Thomas von Aquin, 5. Th. II-II 158, 1.5.

Kardinaltugen-

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seinem affektiven Leben nicht von den charakteristischen Begründungsmustern dieser Emotionen bestimmen: Für ihn bedeutet die Tatsache, daß Gutes einem anderen zugefallen ist, keinen Grund, es zu zerstören oder abzuwerten, den Vorteil des anderen zu bedauern o. ä.; der Schaden, den an-

dere erleiden, ist für ihn kein Grund, sich zu freuen."45

Gilt es also die so genannten positiven Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Hoffnung etc. zu fördern, indem man sie bestärkt und u. U. verstärkt, die negativ-bewerteten Emotionen durch Uberwindung von deren Begründungsmustern so weit wie möglich auszuschalten, so bleiben als dritte Gruppe jene Gefühle, die ambivalent sind wie etwa Furcht oder Zorn. Je nach Situation sind diese zu fördern oder zu hemmen. Furcht kann ein wichtiger Indikator für eine ernsthafte Gefahr sein, in der sich jemand befindet. Sie kann aber auch auf einer übertriebenen Sorge um das eigene Wohlergehen angesichts einer vermuteten, aber unwahrscheinlichen Gefahr beruhen. Kriterium ist die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit in Relation zu der Situation, die sie hervorruft. Kluge Vorsicht wie Mut sollten den rechten Umgang mit Risiken bestimmen. Kultivierung der Gefühle heißt also, dass sie zu differenzieren sind. „Genauer gesagt: Indem sich die Quasi-Rationalität einer Emotion dem Profil der zuständigen Tugend anbequemt [...], folgt diese Emotion tendenziell in ihren .emotionalen Urteilen' der Stimme der Klugheit, und bis in die Erfordernisse der jeweiligen Umstände hinein [...]." 46

Durch die Kultivierung der Gefühle wird eine Stabilität des emotionalen Lebens erreicht. Diese „Leistung" der jeweiligen ethischen Tugenden ist von bloßer Gewohnheit zu unterscheiden, weil eine tugendhaft durchformte Emotionalität kein Ergebnis von Konditionierung ist. Es handelt sich um eine Ausrichtung des Wollens, die dem Tugendhaften auch bewusst ist, insofern er die Orientierung an vernünftigen Maßstäben bejaht.

5. Ausblick In den vergangenen Jahren ging der Streit u. a. auch über die Frage, ob einer Tugendethik gegenüber einer normativen Ethik logisch und sachlich der Vorrang gebühre. Auf diese Frage habe ich in Abschnitt 3.2 45 Müller, A. W„ 1998, S. 140. 46 Ebd.

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kurz geantwortet. Doch der Tugendgedanke bietet unbeschadet dieses Streitpunktes die Chance, die Dimension menschlicher Gefühle so in eine Ethik zu integrieren, dass praktische Rationalität auf der einen Seite ihre Maßgeblichkeit behält - aber gerade so, dass sie sich auf der anderen Seite nicht gegen die menschlichen Affekte behaupten muss, sondern in ihrem Gefälle zum Handeln motiviert. Dabei geht es u.a. auch um den Versuch, ethisch aus zu buchstabieren, dass der Mensch eine Einheit darstellt aus Erleben (Erleiden) und Handeln, aus Affiziertwerden und Gestalten. Gefühle sind stets auch Indikatoren der Stellung des Menschen zu seiner Welt. Deshalb verdienen sie es, in der ethischen Reflexion beachtet zu werden.

Was wird gewogen? Uber praktische Vernunft als System ANSELM WINFRIED M Ü L L E R

1. Gewichtung von Gründen als Grundstruktur der Praxis In seiner Allgemeinen Ethik schreibt Friedo Ricken (AE 236):' „ D i e moralische Ü b e r l e g u n g fragt nach der richtigen Handlungsalternative. F ü r diese Ü b e r l e g u n g sind zwei Schritte wesentlich: 1. D i e handelnde Person muß die Folgen der Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen sie zu entscheiden hat, feststellen. [...] 2. D i e Folgen müssen bewertet werden. Diese Bewertung vollzieht sich in einem Prozeß der A b w ä g u n g anhand zweier Kriterien: (a) d e m Gewicht der von den Alternativen tangierten Güter; (b) Recht und Gerechtigkeit".

Ich möchte diese Bestimmung zum Anlass nehmen, zwei Fragen aufzuwerfen. Die erste lautet: Lassen sich die Gesichtspunkte moralischer Überlegung beschränken auf die potentiellen Handlungsgründe, die der Autor aus den beiden Kriterien herleitet (AE 235-237; vgl. 331), nämlich solche der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit? Die Erörterung dieses Themas führt zu der grundlegenderen Frage, was die beiden von Ricken genannten Kriterien miteinander verbindet: ob und, wenn ja, auf welche Weise sie Implikationen eines einzigen Prinzips, ζ. B. Erfordernisse „konkreter Freiheit" (AE 231-233) oder dergleichen, repräsentieren. In den folgenden Erörterungen werde ich immer wieder auf Thesen und Aspekte der von Friedo Ricken ausgearbeiteten Konzeption der Ethik und speziell der abwägenden Vernunft Bezug nehmen. Das Ziel der Erörterung ist jedoch weder Auslegung noch Auseinandersetzung. Ich möchte vielmehr zum Verständnis der potentiellen Gründe beitra1 Verweise auf Ricken, 31998, erfolgen im Text mittels „AE" und Angabe der dort durchgezählten Paragraphen.

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gen, die in moralisch orientiertes Abwägen, Urteilen und Handeln eingehen.

1.1 Gesichtspunkte der Abwägung Aus der Perspektive der Freiheit, die den Menschen vor ein Spektrum unzähliger Handlungsmöglichkeiten zu stellen scheint, liegt die Aufgabe der praktischen Vernunft darin, zwischen ihnen zu wählen. Vor dieser Aufgabe steht sie häufig auch dann noch, wenn sie die Möglichkeiten durch moralische Gesichtspunkte begrenzt. Dann gilt es, zwischen verbleibenden Möglichkeiten abzuwägen und dem Ergebnis entsprechend zu entscheiden. Die Abwägung nimmt man vor, indem man sich am Gewicht der relevanten Gesichtspunkte orientiert. Diese Struktur konkreter praktischer Rationalität steht hinter allem moralisch normierten Handeln. 2 Auch da, wo keine ungewohnten Faktoren und erst recht keine dramatischen inneren Konflikte die Situation bestimmen. Und auch da, wo dem Handeln „nichts Inneres vorausgeht", weil es „selbstverständlich" scheint, dass man 50 handeln darf, oder dass man 50 handeln muss und nicht anders; genauer: da, wo keine Überlegung vor sich geht und keine Handlungsabsicht gebildet wird, weil kabitualisierte moralische Orientierung, im Verein mit ungetrübtem Uberblick über die Faktoren der Situation, sich in habitualisierter Beachtung und Gewichtung relevanter Gesichtspunkte niederschlägt, die dann unmittelbar im Tun und Lassen zum Ausdruck kommt. Dass dementsprechend Abwägungsstrukturen in Handlungsdispositionen eingehen, zeigt sich u. a. daran: Auch spontanes und gewohnheitsmäßiges Handeln können wir auf seine Gründe hin befragen und entsprechend bewerten. Um die Qualität einer Abwägung zu bewerten, nehmen wir auf eine Reihe eng miteinander verwobenen Faktoren Bezug: Erstens auf die Sensibilität, die Umsicht, die Verlässlichkeit und die Promptheit, mit denen das Subjekt moralisch relevante Aspekte der Situation und dementsprechend relevante Gesichtspunkte der Handlungsorientierung überhaupt in den Blick nimmt. 2 Mit der Annahme, die ethische Qualität des Handelns sei eine Frage der Begründbarkeit von Handlungen (und Unterlassungen), erlaube ich mir und dem Leser eine Vereinfachung. Zur Korrektur dieser Annahme vgl. Müller, A.W., 2003 a.

Was wird gewogen? Über praktische Vernunft als System

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Wir fragen sodann zum einen nach der Phantasie und zum anderen nach dem Realitätssinn, die in seine Entwürfe von Handlungsmöglichkeiten eingehen. Drittens fragen wir, wie rational das Subjekt seinen Zwecken Mittel zuordnet; genauer und allgemeiner formuliert: wie adäquat es die Bezüge zwischen den berücksichtigten Gesichtspunkten, der begrenzenden Wirklichkeit und den entworfenen Handlungsmöglichkeiten erkennt bzw. einschätzt. Die Qualität der Abwägung hängt, viertens, davon ab, wie angemessen das Subjekt die Gesichtspunkte, die es berücksichtigt, im Verhältnis zueinander gewichtet. Und schließlich müssen die Gesichtspunkte, an denen das Subjekt sein Abwägen und Handeln insgesamt orientiert, die richtigen sein.

Grundsätzlich, so scheint es, kann die Abwägung zwischen Handlungsoptionen sowohl moralischer als auch rein prudentieller Natur sein - je nach Art der Gesichtspunkte, denen sie Geltung einräumt. Zunächst soll es nur um moralische Gesichtspunkte gehen (vgl. aber unten 3-4). Als Gesichtspunkte bezeichne ich hier potentielle Gründe. 3 Abwägen müssen wir ja deshalb, weil relevante Gesichtspunkte häufig für oder gegen eine Handlungsweise „ sprechen dann aber, angesichts der Konkurrenz vorrangiger Gesichtspunkte, nicht den Ausschlag geben bzw. geben sollten. Im Hinblick auf diesen Umstand werde ich die Bezeichnung Grund in der Regel für solche Gesichtspunkte reservieren, die der Handelnde unter den Umständen als ausschlaggebend behandelt bzw. behandeln sollte.

1.2 Kriterien des Moralischen Gesichtspunkte sind also potentielle Beweggründe des Handelns. Welche Gesichtspunkte aber sind es, die im Zuge einer moralisch normierten Abwägung beachtet und gewichtet werden? Die von Ricken angeführten und eingangs zitierten Kriterien verweisen zwar auf eine gemeinsame Basis, bringen dann aber zwei Gruppen von handlungsrelevanten Gesichtspunkten in den Blick. Will ich richtig handeln, so muss ich mich an den Erfordernissen der „konkreten Freiheit" meiner Mitmenschen orientieren: daran, was sie brauchen, um ihr Glück erstreben zu können. Das ist die gemeinsame Basis 3 Man vergleiche im Englischen considerations

und pro tanto oder prima fade

reasons.

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Anselm Winfried Müller

(AE 225; 331). Auf ihr beruht zum einen die Beachtung der Rechte dieser Menschen: mit Blick auf ihre Rechte (im moralischen, nicht positivrechtlichen Sinne) muss ich das Spektrum der Möglichkeiten, eigene Interessen zu verfolgen, einschränken. Zum anderen verlangt die moralische Orientierung, dass ich, mit Blick auf die Güter, die ein anderer benötigt, das von meinen Interessen diktierte Verhaltensspektrum erweitere, um seine Freiheit aktiv zu fördern (vgl. 232-236). Im ersten Fall leiten mich Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, im zweiten solche der Wohltätigkeit (249-273). Man könnte den Eindruck gewinnen, mit diesen beiden Gruppen von Gesichtspunkten der Abwägung sei die moralische Dimension des Handelns hinlänglich gekennzeichnet. In einigen wichtigen Punkten stellt sich die Situation aber als weniger einfach dar. Das soll Teil 2 meiner Überlegungen zeigen. Teil 3 beschäftigt sich dann mit grundlegenden Aspekten der Frage, wie ein System der Gesichtspunkte aussehen könnte, an denen sich die abwägende Vernunft zu orientieren hat.

2. Ansprüche: Moral als Gerechtigkeit und Wohltätigkeit? Lässt sich der moralische Anspruch des Gegenübers aufteilen in einen Anspruch, Wohltaten zu empfangen, und einen Anspruch, in den eigenen Rechten nicht verletzt zu werden? Gewichtige Gründe, diese Dichotomie zu hinterfragen, resultieren aus der Möglichkeit, anderen zu schaden. Seit Cicero gilt: „Die oberste Norm der Gerechtigkeit fordert, niemandem zu schaden" (AE 256). Indessen lässt sich diese Auffassung nur aufrechterhalten, wenn man dem Ausdruck „Gerechtigkeit" einen sehr weiten Sinn unterschiebt. Denn Schädigung kann ohne Rechtsverletzung und Rechtsverletzung ohne Schädigung stattfinden (2.1-2). Im übrigen weisen die Begriffe Nutzen und Schaden auch darüber hinaus auf die Komplexität der Gesichtspunkte hin, die eine moralisch orientierte Abwägung im Blick auf Güter und Rechte zu bedenken hat (2.3-7).

Was wird gewogen? Über praktische Vernunft als System

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2.1 Jede Schädigung eine Rechtsverletzung? Relativ harmlos - zumindest im Hinblick auf die begriffliche Situation! - scheint vielleicht der Umstand, dass Menschen einander ständig und unvermeidlich dadurch schaden, dass ihre Handlungen mit unbeabsichtigten, aber ungünstigen Nebenwirkungen verbunden sind. Ein Beispiel liefern Lärmbelästigung und Schadstoffbelastung der Atemluft durch Autofahren. Durch die resultierende Schädigung werden die Betroffenen nicht unbedingt in irgendwelchen Rechten verletzt. - An einer Schädigung dieser Art ist dreierlei bemerkenswert. Erstens ist die schädigende Handlung in den angenommenen Fällen nicht vorwerfbar. Und zwar auch dann nicht, wenn der Handelnde sich des Schadens bewusst ist und insoweit freiwillig (obgleich nicht absichtlich) schadet. Zweitens würde eine Schädigung der erwähnten Art wohl noch nicht einmal dadurch, dass sie absichtlich erfolgte und somit moralisch verwerflich wäre, ohne weiteres zur Rechtsverletzung. Und drittens gilt umgekehrt: Wo tatsächlich ein relevantes Recht wie etwa das Recht auf Unversehrtheit - besteht, da stellt die Schädigung in der Regel auch dann eine moralisch kritikwürdige Rechtsverletzung dar, wenn sie ohne Absicht erfolgt; ja sogar, wenn sie unwissentlich erfolgt - sofern der Handelnde um die zu erwartende Schädigung wissen könnte und sollte. Im übrigen stehen wir ganz unabhängig von irgendwelchen Rechten der Mitmenschen unter dem generellen Anspruch, ihnen nicht zu schaden. „Generell" lässt Ausnahmen zu, besagt jedoch zugleich, dass vorhersehbarer Schaden ausnahmslos zu den Gesichtspunkten gehört, die wir in unserem Handeln zu berücksichtigen haben. Ein entgegenkommender Nachbar erlaubt mir, seinen Birnbaum, der meinem Arbeitszimmer das Licht nimmt, notfalls zu fällen. Fälle ich ihn, so verletze ich keines Menschen Recht. Der Schaden jedoch, den ich dem Nachbarn verursachen würde, sollte mich entweder davon abhalten, den Baum zu beseitigen, oder jedenfalls als gewichtiger Gesichtspunkt in das Für und Wider der Abwägung eingehen. Auch Gerechtigkeit in dem relativ weiten Sinn, den Ricken für seine Dichotomie von Wohltätigkeit und Gerechtigkeit geltend macht, dürfte kaum gegen die hier illustrierte Art von Schädigung sprechen (vgl. AE 263-264). Denn bei ihr geht es weder um ein ius subiectivum des Nachbarn, noch spielen „Gleichheitsgesichtspunkte" eine Rolle.

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2.2 Jede Rechtsverletzung ein Schaden? Schädigung ist also keine hinreichende Bedingung einer Rechtsverletzung. Ist sie vielleicht eine notwendige Bedingung? Das müsste wohl bedeuten: Um das Recht eines anderen zu verletzen und somit falsch zu handeln, muss man ihm durch Beeinträchtigung der Güter schaden, die jenes Recht ihm zuspricht und schützen soll. Das aber trifft offenbar nicht zu. Denken wir ζ. B. an einen bescheidenen Diebstahl, der dem bestohlenen Millionär keinen Schaden verursacht. Er verletzt gleichwohl sein Eigentumsrecht - ein Recht, das alle anderen zu gewissen Unterlassungen verpflichtet. Erst recht ist es möglich, eines Menschen Recht zu verletzen, ohne ihm zu schaden, wenn dieses Recht das Gegenüber nicht zu Unterlassungen, sondern zum Handeln verpflichtet. Das gilt insbesondere deshalb, weil nicht jedes Versäumnis, durch solches Handeln zu nützen, auch Schädigung bedeutet. (Wenn ich meiner Tochter die Unterhaltszahlung, zu der ich verpflichtet bin, im Oktober vorenthalte, mag ihr dadurch ein Nutzen - etwa in Gestalt eines Bildungsurlaubs - entgehen, ohne dass sie geschädigt wird.) Drittens gibt es Fälle, in denen das Handeln, zu dem das Recht des Gegenübers verpflichtet, diesem nicht nützt und vielleicht sogar schadet. Dieser Umstand entbindet einen durchaus nicht immer von der Forderung, jenes Recht zu respektieren. Im allgemeinen muss man eine vertragliche Verpflichtung selbst dann einhalten, wenn hieraus dem Partner, der auf Erfüllung des Vertrages besteht, mit Sicherheit kein Vorteil, sondern eher Nachteil erwächst. Freilich besteht ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Rechtsverletzung und Schaden. Indessen erfüllen Rechte ihre Funktion im System der Moral gerade dadurch, dass sie als solche und unabhängig davon, ob ihre Verletzung hic et nunc Schaden anrichtet, einen gewichtigen (wenn auch nicht immer ausschlaggebenden) Grund liefern gegen ein Handeln, das jene Rechte verletzt. Man könnte meiner Argumentation entgegenhalten, individuelle oder „subjektive" Rechte seien als solche zugleich Güter. Schon deshalb werde ein Mensch geschädigt, wo er eines Rechtes beraubt werde. Die Antwort muss lauten: Im Besitz eines Rechtes zu sein, ist in der Tat ein Gut. Doch wird mir dieses Gut durch Missachtung meines Rechts nicht geraubt. Wer mich bestiehlt, der entzieht mir mein Eigentum - nicht mein Eigentumsrecht. (Ebendeshalb wird er verurteilt:

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weil sich das Eigentum bei ihm, das Recht daran jedoch bei mir findet!)4

2.3 Rechte und Interessen Ebenso wenig wie Rechtsverletzung mit Schädigung, ist auch Rechtsbeachtung mit Förderung oder ähnlichem gleichzusetzen. Denn Rechte dienen zwar der Sicherung von Gütern. Doch handelt es sich dabei nicht immer um Güter, die dem jeweils Berechtigten selbst als Besitz oder Nutzen oder persönlicher Vorteil zugute kommen oder zugute kommen sollen. Man denke etwa an das Erziehungsrecht von Eltern, das Vorfahrtsrecht des Krankenwagenfahrers, das Wahlrecht des Bürgers: in keinem dieser Fälle zielt das Recht auf einen Vorteil des jeweils Berechtigten. Daher ist es ein gravierendes Missverständnis, wenn Philosophen versuchen, Rechte auf besonders wichtige Interessen des Berechtigten zurückzuführen. Rechte sollen eher im Gegenteil, ich habe es schon angedeutet, die unmittelbare Orientierung des Abwägens und des Handelns an irgendwelchen Interessen - eigenen wie fremden, wichtigen wie unwichtigen - relativieren und einschränken, manchmal sogar ganz ausblenden·, und zwar, in der Regel, um Platz zu machen für die Rücksicht auf komplexere Güter. In diese komplexeren Güter gehen zwar häufig auch Interessen des jeweils Berechtigten mit ein. Doch weisen sie immer, wenn auch nicht so offenkundig, über-individuelle Aspekte auf, die sich insbesondere aus gesellschaftlichen und längerfristigen Konsequenzen einer Praxis ergeben, die das jeweilige Recht respektiert. (Man denke etwa an das 4 Allenfalls könnte man noch einwenden, auch das sei ein Gut: in seinem Recht nicht verletzt zu werden; und jede Rechtsverletzung sei insofern eine Schädigung. - Sofern dies zutrifft, trifft es deshalb zu, weil Rechte die soeben angedeutete Funktion haben und grosso modo diese Funktion tatsächlich erfüllen. Sie besteht vor allem - wenn auch nicht ausschließlich (vgl. 2.3) - darin, bestimmte Güter des jeweils Berechtigten zu sichern. Das durch ein Recht gesicherte Gut muss aber natürlich etwas anderes sein als Respektierung ebendieses Rechts: Auf die Frage „Ein Recht worauf?" kann man nicht erwidern: „Ein Recht darauf, in diesem Recht nicht verletzt zu werden"! Und es ist das von einem Recht gesicherte Gut, auf das sich meine These bezieht nicht das Gut, das darin besteht, in diesem Recht nicht verletzt zu werden. Von den durch Rechte gesicherten Gütern behaupte ich: Es kommt nicht selten vor, dass sie nicht beeinträchtigt und die Berechtigten insofern nicht geschädigt werden, wenn und obwohl die jeweiligen Rechte verletzt werden.

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Recht auf freie Meinungsäußerung und seine Bedeutung für eine Demokratie.) Rechte stellen ζ. B. sicher, dass - bei aller Freiheit des Handelns und seiner Orientierung am jeweiligen Gewicht der zufällig betroffenen Güter - Tun und Lassen der Mitmenschen in gewissen Grenzen berechenbar, Zukunftsperspektiven einigermaßen verlässlich und lebensnotwendige Institutionen intakt bleiben; Rechte privilegieren Handlungsoptionen und Strukturen des Miteinander, die das Leben des einzelnen und der Gesellschaft stabilisieren.

2.4 Nutzen und Schaden Neben dem Anspruch auf Gerechtigkeit - auf Respektierung seiner Rechte - hat der andere an den Handelnden auch einen Anspruch auf Hilfe, wo sie vonnöten ist. Obwohl dieser Anspruch kein Recht darstellt, entspricht ihm auf Seiten des Handlungssubjekts eine Pflicht zur Wohltätigkeit. Allerdings hat der Handelnde nach Ricken „nur dem gegenüber die Pflicht zu helfen, der auf ihn angewiesen ist" (AE 252). Bei Hilfe und Wohltätigkeit geht es um Handlungen, die sich nicht an den Rechten anderer orientieren, sondern unmittelbar an dem Zweck, ihnen zu nützen oder drohenden Schaden von ihnen abzuwenden. Hier scheint die Abwägung von Gütern zu Hause zu sein - dem zweiten Kriterium entsprechend, das (AE 236 zufolge) die Bewertung von Handlungsfolgen leitet. Dementsprechend behandelt Ricken, unter der Uberschrift Güter, tatsächlich Regeln der Abwägung, denen helfendes oder wohltätiges Handeln Rechnung zu tragen hat (249254). Der Begriff der Wohltätigkeit nimmt auf Nutzen und Schaden Bezug, und mit diesen Stichwörtern betritt eine Reihe von Problemen die Bühne, denen die nun folgenden Abschnitte gewidmet sind.

2.5 Erwünschter Schaden Ein erstes Problem lässt sich in die Frage fassen: Sprechen schädliche Wirkungen einer Handlungsweise ausschließlich gegen sie? Dies scheint nicht ausnahmslos der Fall zu sein. Ein Gegenbeispiel liefert die Bestrafung. Wo es richtig ist, zu strafen, ist es richtig, mit Absicht Übel zuzufügen. Die schädliche Wirkung des Handelns liefert hier einen Gesichtspunkt zu seinen Gunsten.

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Es wäre falsch zu behaupten, beim Bestrafen nehme man eine Schädigung nur billigend in Kauf. Nein, wer Bestrafung intendiert, intendiert unweigerlich auch Schädigung; denn Ubelzufügung gehört zum Wesen der Strafe. Muss aber nicht der Strafende den Schaden, den er zufügt, in ein Verhältnis zum letztlich intendierten Nutzen für den Gestraften bringen, und zwar so, dass eine insgesamt günstige Bilanz resultiert? Das trifft zu - vermutlich aber nur auf den Bereich der erzieherischen Strafe. Für die Vergeltungsstrafe scheint es nicht zu gelten.5 Es gilt also entgegen den Beteuerungen reformbeflissener Ideologen - nicht für den Bereich der staatlichen Strafverfolgung Erwachsener. Freilich darf die intendierte Schädigung - ganz abgesehen von Fragen nach Art und Ausmaß - auch im Fall der Vergeltungsstrafe nicht den letzten Grund, also nicht das Motiv abgeben, aus dem der Strafende handelt. (Bei retributiver Bestrafung liefert überhaupt kein Zweck ein legitimes Motiv; nicht das erhoffte Ergebnis, sondern nur eine relevante Gegebenheit - das Vergehen des Bestraften - darf hier letzter Grund des Handelns sein; vgl. 3.6.) Dieser Umstand ändert zwar nichts an der Tatsache, um die es mir hier geht: dass nämlich schädliche Handlungsfolgen gelegentlich einen Gesichtspunkt zugunsten der Handlung bedeuten können. Andererseits ist aber einstweilen die Annahme gerettet, mit der Rücksicht zum einen auf Rechte und zum anderen auf Güter sei das Spektrum der Gesichtspunkte erschöpft, die motivierend - und somit als letzte Gründe unser Handeln bestimmen dürfen.

2.6 Unerlaubte Schädigung ohne Pflichtverletzung? Auch auf dem Hintergrund dieser Annahme stellt sich indessen die Frage, ob sich Moral reduzieren lässt auf Pflichten der Gerechtigkeit und Pflichten des Helfens. Häufig nämlich verstößt die Schädigung eines Mitmenschen weder gegen dessen Rechte noch gegen ein Gebot der Wohltätigkeit. Man denke etwa an folgende Situation: Aus der Bibliothek der Universität entleihe ich ein Buch, das ich für meine Arbeit benötige. Ich weiß, dass ein anderer bald dasselbe Buch benötigen wird und dass er 5 Darin könnte man (irrtümlich, wie ich meine) einen Grund sehen, jede retributive Bestrafung abzulehnen. Für die gegenwärtige Erörterung ist das aber irrelevant.

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sich ein eigenes Exemplar kaufen muss - was für ihn einen Schaden bedeutet - , falls ich das Exemplar der Bibliothek nicht vor Ablauf der Leihfrist zurückgebe. Handle ich falsch, wenn ich trotzdem das Buch bis zum Ablauf der Frist behalte? Die richtige Antwort muss offenbar lauten: Je nach dem. Benötige ich das Buch für meine legitimen Zwecke bis zum Ende der Frist, so darf ich es auch - ceteris paribus - so lange behalten. Nach dem Prinzip der Doppelwirkung (vgl. A E 316-324) darf ich in diesem Fall dem Kollegen einen leicht verkraftbaren Schaden zumuten. Anders, wenn ich das entliehene Buch nur kurze Zeit benötige, es aber aus gleichgültiger Rücksichtslosigkeit oder aus Bosheit (vielleicht von invidia collegialis inspiriert) für die gesamte Dauer der Leihfrist behalte. Unter dieser Voraussetzung ist mein Handeln kritikwürdig. Aber warum? Der moralische Mangel liegt weder in einer Rechtsverletzung - der Kollege hat hier keinen Rechtsanspruch an mich noch in „unterlassener Hilfeleistung" - er ist nicht wirklich darauf angewiesen, dass ich das Exemplar der Bibliothek zurückgebe (vgl. A E 252). Wenn mein Verhalten dennoch moralisch zu verurteilen ist, dann weder deshalb, weil es ungerecht wäre, noch weil es einer Pflicht, zu helfen, nicht genügte. Weshalb aber dann? Ich würde sagen: Einfach deshalb, weil ich mich von der Aussicht, dem Kollegen zu schaden, motivieren lasse - der Fall der Bosheit; oder aber, weil ich mich nicht von Gesichtspunkten der Rücksichtnahme motivieren lasse - der Fall der Gleichgültigkeit.

2.7 Nutzen jenseits von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit Der vorangehende Abschnitt zeigt: Die Verwerflichkeit einer Handlung, mit der man einem anderen schadet, lässt sich nicht generell zurückführen auf die Verwerflichkeit von Rechtsverletzung und Verweigerung nötiger Hilfe. Ebenso wenig - darum soll es jetzt gehen - lässt sich der moralische Wert einer Handlung, mit der man einem anderen nützt, zurückführen auf den moralischen Wert der Achtung von Rechten und der Erfüllung von Hilfspflichten. Beispiele sind uns vertraut. So hilft man etwa einem Bekannten bei einer langweiligen oder unangenehmen oder langwierigen Arbeit, die er zwar ganz gut allein erledigen könnte, die man ihm aber wesentlich erleichtert, indem man mitmacht. Die Bereitschaft, auf solche Weise jenseits aller Verpflichtung zu helfen, heißt Gefälligkeit.

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Man könnte meinen, hier handle es sich um die Erfüllung einer Freundespflicht und insofern (vgl. AE 265) letztlich um eine Forderung der Gerechtigkeit. Das muss aber keineswegs der Fall sein. Der andere könnte auch ein Kollege sein, der einem leid tut. Im übrigen ist noch nicht einmal jede Aufmerksamkeit dem Freund gegenüber Freundespflicht. Vielleicht wird man an dieser Stelle einwenden, was weder Pflicht der Gerechtigkeit noch der Wohltätigkeit sei, das gehöre auch nicht zu den Erfordernissen des richtigen Handelns. Es könne allenfalls eine Frage des guten Lebens sein. An dieser heute verbreiteten Unterscheidung wäre manches kritisch anzumerken (vgl. z.B. Müller, 1998, S.344-347 sowie unten 3.1 und 3.4). Hier muss der Hinweis genügen, dass kein einheitliches Prinzip in Sicht ist, das Erfordernisse des richtigen Handelns auf einleuchtende Weise gegen „bloß Ethisches" abgrenzen würde. So rechnet z.B. Ricken Normen der Freundschaft zu den Normen richtigen Handelns (AE 265); andere würden ihm entgegenhalten, Beziehungen und ihre Normierung seien eine Angelegenheit des persönlichen Ideals.

2.8 Güter und Rechte - eine zulässige Dichotomie? Was tragen die bisherigen Erörterungen bei zur Beantwortung der Titelfrage? - Vor allem wurde klar, dass Nutzen und Schaden für die moralisch orientierte Abwägung eine komplexe Rolle spielen. Weder ist Rücksicht auf Rechte dasselbe wie Schadensvermeidung, noch ist das eine eine Spezies des anderen (2.1-2). Ebenso wenig lassen sich Rechte einfach auf wichtige Vorteile oder besonders geschützte Interessen des Berechtigten zurückführen (2.3). Die Beförderung menschlichen Nutzens und die Vermeidung oder auch Behebung von Schaden wird vielmehr durch die Beachtung von Rechten mehr oder weniger indirekt betrieben. Freilich kann die Rücksicht auf gute und schlechte Handlungsfolgen sowie auf das Gewicht der jeweils betroffenen Güter auch unmittelbar in die Abwägung eingehen. Dies geschieht besonders deutlich, wo solche Rücksicht eine Pflicht der Wohltätigkeit bedeutet (2.4). Allerdings kann die Beförderung fremden Nutzens auch da ein moralischer Gesichtspunkt sein, wo sie weder eine Forderung der Wohltätigkeit noch eine Forderung der Gerechtigkeit bedeutet (2.7). Umgekehrt ist es möglich, einen anderen zu schädigen, ohne seine Rechte zu ver-

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letzen. Denn in Kauf genommene Schädigung ist häufig verwerflich, intendierte fast immer 6 - unabhängig davon, ob Ungerechtigkeit im Spiel ist. Aber auch auf einen Mangel an Wohltätigkeit lässt sich nicht jede unerlaubte Schädigung zurückführen (2.6). Es scheint also, dass Orientierung an Gütern und Rechten im Rahmen von Wohltätigkeit und Gerechtigkeit das Spektrum moralisch relevanter Gesichtspunkte nicht erschöpft. Die erste der eingangs aufgeworfenen Fragen ist damit vorläufig beantwortet. Unklar bleibt einstweilen, welcher Ergänzung jene Orientierung bedarf, und vor allem: mit welchen „credentials" ein (fernerer) Gesichtspunkt der Abwägung seine „moralische Identität" nachweisen kann.

3. Hinweise auf ein System der praktischen Vernunft Meine zweite Frage betraf das Verhältnis der von Ricken aufgestellten Moral-Kriterien zueinander. Eine Antwort lässt sich dem bisher Gesagten noch nicht entnehmen. Immerhin verweisen die beiden Kriterien insofern auf einen gemeinsamen Nenner, als es Güter sind, die einmal unmittelbar und dann, bei der Berufung auf Rechte, mittelbar in die moralische Orientierung eingehen. Dass hinter den Gesichtspunkten moralischer Orientierung so etwas wie ein Prinzip steht, geht daraus hervor, dass sich diese Gesichtspunkte nur als Elemente eines „ethischen Systems" (3.5) verstehen lassen. In diesem System der praktischen Vernunft konkurrieren nicht nur Gerechtigkeit und Wohltätigkeit miteinander (3.1). Es lässt auch Platz für andere Formen der Handlungsbegründung (3.2); auch für solche, die nicht aus individuellen Ansprüchen resultieren (3.3); und sogar für die Belange des Handelnden selbst (3.4). Fundamental ist dabei die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Bezug der Gesichtspunkte auf ein telos des Systems (3.6-7).

6 Nicht ausnahmslos - wie das Beispiel der Bestrafung in 2.5 beweist.

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3.1 Vorrang der Gerechtigkeit? Dass Gesichtspunkte der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit ein einziges Orientierungssystem repräsentieren, zeigt sich daran, dass sie miteinander konkurrieren können und sich dann in ihren Ansprüchen gegenseitig begrenzen. Wie wird die Grenze gezogen? Welcher Gesichtspunkt darf Vorrang beanspruchen? „Nach Cicero", so lesen wir bei Ricken (AE 256), „wird die Wohltätigkeit durch die Gerechtigkeit begrenzt." Doch Ciceros Sicht bedarf der Modifizierung. Zwei Beispiele mögen das zeigen. Das erste Beispiel spricht der Abwendung großen Schadens den Vorrang vor einem immerhin gewichtigen Recht zu: Um die Ausbreitung eines Brandes auf das ganze Dorf zu verhindern, veranlasst jemand die Zerstörung einer großen Scheune. Das dürfte richtig gehandelt sein - und zwar unabhängig davon, wer hier handelt, wem die Scheune gehört und wem mit der Abwendung des Schadens geholfen ist. (Lediglich das Motiv der Handlung ist nicht irrelevant!) Ebenso ist die moralische Situation strukturiert, wenn jemand, um großen Schaden abzuwenden, das Briefgeheimnis verletzt; oder wenn er ein Versprechen nicht allzu gewichtigen Inhalts bricht, um einem Unfall-Opfer helfen zu können. Ein anderes Beispiel geht in der Relativierung von Rechten noch weiter, indem es sogar einem Nutzen, der sich nicht als Beseitigung oder Abwendung von Schaden auffassen lässt, einen Vorrang vor „leichtgewichtigen" Rechten einräumt: Jemand hält einen zugesagten Termin nicht ein, um eine überraschend auftauchende einmalige Chance wahrzunehmen und seinen Kindern den Besuch einer Pantomime zu ermöglichen. - Selbst wer die in diesem Beispiel getroffene Wahl für falsch hält, wird kaum behaupten wollen, der Vorrang des hier ignorierten Rechtes vor dem intendierten Nutzen sei offenkundig, ganz unabhängig davon, wie unwichtig die gebrochene Verabredung sei. Dass Rechte in ihrer moralischen Autorität nicht nur durch andere Rechte, sondern auch unmittelbar durch Güter - genauer: durch gute Zwecke nach Maßgabe von Nutzen und Schaden - begrenzt werden; dass man also Ciceros Sicht insoweit widersprechen muss: das scheint mir über jeden Zweifel erhaben zu sein. Indessen bleiben genug interessante Fragen offen: Welche Wahrheit steckt dennoch in dieser Sicht? Warum favorisiert die Moral - im Unterschied zum utilitaristischen Denken - prinzipiell den Vorrang der Gerechtigkeit vor der Wohltätigkeit? Und unter welchen Bedingungen ist es richtig, dieses Verhältnis,

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wie in den angeführten Beispielen, umzukehren? Welche „Vorfahrtsregeln" gelten hier? Und auf was für cetera spielt Ricken an, wenn er, Ciceros Auffassung relativierend, von einem „ceteris-paribus-Yorra.ng der Gerechtigkeitspflichten" spricht (AE 264)? Ich werde auf diese Fragen hier nicht weiter eingehen. Drei Hinweise könnten aber hilfreich sein. Der erste ergibt sich aus einer früheren Beobachtung (2.3): Die besondere Bedeutung von Rechten hängt mit ihrer Funktion zusammen, so etwas wie menschliches Wohlergehen auf vielfältigen, teils indirekten Wegen, auch über-individuell und längerfristig zu schützen und zu fördern. Die Missachtung von Rechten kann unerwünschte Konsequenzen haben, die über die unmittelbare Wirkung hinausreichen. Ferner ist daran zu erinnern, dass wir generell der Vermeidung von Schaden einen Vorrang vor der Erzielung von Nutzen einräumen; und überhaupt der gebotenen Unterlassung einen Vorrang vor der ansonsten gebotenen Handlung. Die drei Rangverhältnisse - Gerechtigkeit vor Wohltätigkeit, Schadensvermeidung vor Nutzen, Unterlassungs- vor Handlungspflicht - sind zwar nicht miteinander identisch. Ein Vergleich aber könnte erhellende Bezüge deutlich machen. Drittens nimmt die Frage nach der gegenseitigen Begrenzung konkurrierender moralischer Gesichtspunkte einen neuen, allgemeineren Charakter an, sobald wir nicht mehr nur an Kollisionen zwischen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit denken (AE 239; Müller, 2004). Die Frage manifestiert dann den System-Charakter der praktischen Vernunft.

3.2 Handlungsbegründung: Vielfalt der Gesichtspunkte Neben Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit muss die Ethik weitere potentielle Gründe für unser Tun und Lassen anerkennen. Begegnet sind uns bisher Gesichtspunkte der Rücksichtsnahme bzw. des Wohlwollens (bei der Unterschreitung der Leihfrist in 2.6) sowie der Gefälligkeit (bei der kollegialen Hilfe in 2.7). Nehmen wir die Erfordernisse der Rücksichtsnahme unter die Lupe. Sie orientieren das Handeln zwar - wie die Erfordernisse der Wohltätigkeit und anders als die der Gerechtigkeit - unmittelbar an Gütern und ihrem jeweiligen Gewicht. Doch liegt der Beweggrund rücksichtsvollen Handelns in der Absicht, einem anderen nicht zu schaden. (Das heißt: Dass Handlungsalternative Η einem anderen schaden

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würde, ist ein potentieller Grund, Η nicht zu wählen.) Die Absicht nicht zu schaden aber ist etwas anderes als die Absicht des Wohltätigen, nämlich: zu nützen. Und auch mit der Absicht, keine Rechte zu verletzen, ist sie nicht identisch (vgl. 2.1-2). Ebenso wenig lassen sich andere Muster moralischer Orientierung - wie Gefälligkeit und Wohlwollen, aber auch Nachsicht, Dankbarkeit, Solidarität, Geduld usw. - auf Gerechtigkeit oder Wohltätigkeit zurückführen.

3.3 Nicht nur Ansprüche Die bisherigen Überlegungen können den Eindruck erwecken, Han-

deln unter moralischen Normen bedeute so viel wie Handeln unter den Ansprüchen anderer. Dieser Eindruck täuscht. Nicht alle moralisch relevanten Gesichtspunkte lassen sich zurückführen auf individuelle Rechte oder Bedürfnisse oder sonstige Formen individuellen Anspruchs. Vermutlich gilt dies, schon aus Gründen der Logik, bereits für die Orientierung an Forderungen der Wohltätigkeit. Zumindest resultiert meine allgemeine Pflicht, Bedürftigen zu helfen, weder aus einer „Konjunktion" noch aus einer „Disjunktion" von Pflichten, A, B, C usw. zu helfen. Denn jene Pflicht ist nicht durch Identifizierung irgendwelcher Empfänger spezifiziert. Weder Α zu helfen noch Β zu helfen... bin ich durch die allgemeine Hilfspflicht verpflichtet. Und andererseits: Insoweit A, B, C usw. tatsächlich individuell auf Hilfe Anspruch haben, richten sich ihre Ansprüche doch häufig nicht gegen bestimmte Individuen: sie sind dann nicht durch die Identifizierung irgendwelcher Helfer spezifiziert. „Jeder schwer Kranke hat Anspruch auf ärztliche Hilfe." Vielleicht. Indessen steht weder X noch Y noch irgendein anderes Arzt-Individuum unter den damit gegebenen Ansprüchen. Auch Forderungen der Gerechtigkeit lassen sich nicht immer mit individuellen Ansprüchen, näherhin mit subjektiven Rechten begründen. Das gilt ζ. B. in der Regel von der Forderung gleicher Zuweisung von Gütern oder Lasten unter dem Vorzeichen der Verteilungsgerechtigkeit. Ebenso ist es bei Gesichtspunkten der Wahrhaftigkeit, der Solidarität, des Umweltbewusstseins und vielen anderen keineswegs selbstverständlich, dass sie individuelle Ansprüche widerspiegeln.

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3.4 Belange des Handelnden In den unter 3.3 angeführten Zusammenhängen ist zwar - wenn ich recht sehe - keine einzelne Person die Quelle der moralischen Forderung. Die relevanten Gesichtspunkte sind in gewissem Sinne über-individuell. Doch ist es auch in diesen Zusammenhängen die Freiheit des Subjekts, die eingeschränkt werden soll - und zwar ausschließlich oder vorwiegend anderen zuliebe. Einiges spricht jedoch dafür, in der moralischen, oder besser: ethischen Orientierung des Handelns auch den Belangen des Handelnden selbst einen Platz zu reservieren. Unter 3.1 ging es um die gegenseitige Begrenzung konkurrierender moralischer Gesichtspunkte. In einem der Beispiele ignoriert der Handelnde das Recht eines anderen, um seinen Kindern den Besuch einer Pantomime zu ermöglichen. Dürfte er aber jenes Recht nicht auch ignorieren, um sich selbst den Besuch zu ermöglichen? Ich meine: Unter Umständen durchaus. Erst recht ist es - und das scheint niemand zu leugnen - legitim, in einer Notlage und insbesondere, um sich selbst am Leben zu erhalten, Nahrungsmittel zu verwenden, die einem anderen gehören, der selbst keinen Mangel leidet. Moralisch bzw. ethisch relevant sind die Belange des Handelnden schließlich auch da, wo das Prinzip der Doppelwirkung es erlaubt, die Schädigung anderer in Kauf zu nehmen, um eigene Interessen verfolgen zu können (2.6).

3.5 Das ethische System Verallgemeinert, bedeutet dies für die vernünftige Abwägung zwischen Handlungsmöglichkeiten: Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, der Wohltätigkeit usw. werden nicht nur da legitimerweise eingeschränkt, wo konkurrierende Gesichtspunkte derselben Art ein höheres Gewicht beanspruchen dürfen, sondern auch da, wo eigene Belange vorrangige Gesichtspunkte liefern. Tangieren diese Belange aber wirklich die Moral? Nach welchen Maßstäben des Richtigen ist es „legitim", sein Tun und Lassen unter gewissen Umständen zu Lasten eindeutig moralischer Gesichtspunkte nicht nur von eigenen Rechten, sondern sogar von eigenen Interessen bestimmen zu lassen?

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Unterschiedliche Antworten lassen sich denken. Zum Beispiel: Moral muss in einem so weiten Sinn verstanden werden, dass eigene Belange - zusammen mit den unter 3.1-3 behandelten, im engeren Sinne moralischen Gesichtspunkten - als prinzipiell gleichberechtigte Konkurrenten in die moralische Orientierung des Handelns eingehen.7 Oder etwa: Eigene Belange stehen, als konkurrierendes System, moralischen Gesichtspunkten gegenüber, Abwägung aber ist nicht nur innerhalb beider Systeme, sondern auch - von einem übergeordneten Standpunkt der Rationalität aus? - zwischen ihren jeweiligen Maßgaben vonnöten. Die Brauchbarkeit dieser und anderer Antworten will ich hier nicht weiter diskutieren. Entscheidend ist folgendes: Eigene Belange müssen zusammen mit (im engeren Sinne) moralischen Gesichtspunkten als Elemente eines umfassenderen Systems der Handlungsorientierung betrachtet und behandelt werden. Ich werde es hier als das ethische System bezeichnen. Die Moral im engeren Sinne erweist sich als unselbständiges Teilsystem letztgültiger Handlungsorientierung - „unselbständig", insofern Gesichtspunkte dieser Moral nicht bereits als solche das letzte Wort haben. Die so verstandene Moral ist vielmehr der normativen Autorität einer praktischen Vernunft unterworfen, die bei der Abwägung zwischen Handlungsoptionen alle Gesichtspunkte des ethischen Systems, insbesondere auch die Belange des Subjekts, berücksichtigt.

3.6 Ergebnisbezogene und gegebenheitsbezogene Handlungsbegründung Die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Belangen ist aus der Perspektive eines umfassenden Systems der praktischen Rationalität vielleicht weniger fundamental als die neuzeitliche Moralphilosophie uns glauben macht. Das ergibt sich ζ. B. daraus, dass eigene und fremde Güter in die Gesichtspunkte der Gerechtigkeit nur indirekt zum Teil sehr indirekt - eingehen (vgl. 2.1-3; 2.8). Es ergibt sich ferner 7 Auch Kant gesteht eigenen Belangen moralische Relevanz zu. Doch scheinen sie bei ihm - anders als bei Aristoteles - keinen letztgültigen Gesichtspunkt für richtiges Handeln zu liefern: „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden" (Kant, GMS, in: Werke in zehn Bänden, hrg.v. W. Weischedel, Darmstadt, S. 25).

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daraus, dass soziale Bindungen häufig mit einer Aneignung „fremder" und gemeinschaftlicher Interessen einhergehen, die einer Dichotomie zwischen eigenen und fremden Belangen den Boden entzieht. Eine andere Unterscheidung dagegen, der die Moralphilosophie in der Regel keine Beachtung schenkt, verdient erwähnt zu werden, wenn man Kriterien moralischer Bewertung in ihrem Bezug auf das ethische System verstehen und angemessen charakterisieren will: die Unterscheidung zwischen ergebnis- und gegebenheitsbezogenen Gesichtspunkten der Abwägung und des Handelns. Diese Unterscheidung, an Rickens Gegenüberstellung zweier Bewertungskriterien orientiert, 8 verallgemeinert einen Unterschied, den ich in Abschnitt 2.8 hervorhebe. Dort stelle ich den unmittelbaren Güter-Bezug der Wohltätigkeit dem mittelbaren der Gerechtigkeit gegenüber. Doch so wie die Wohltätigkeit orientieren sich auch ζ. B. Rücksichtsnahme und Gefälligkeit unmittelbar an der nützlichen bzw. schädlichen Auswirkung von Handlungsmöglichkeiten: die jeweils relevanten Gesichtspunkte sind ergebnisbezogen. Und so, wie sich Gerechtigkeit - als Gleichbehandlung und Achtung von Rechten - nur mittelbar auf Nutzen und Schaden bezieht, so tun das auch ζ. B. Dankbarkeit, Nachsicht und Loyalität: die jeweils relevanten Gesichtspunkte nehmen nicht auf die Ergebnisse der erwogenen Handlung Bezug, sondern auf Gegebenheiten - auf bestehende Gleichheiten, Ungleichheiten, Rechte und Verdienste im Fall der Gerechtigkeit, auf empfangene Wohltaten im Fall der Dankbarkeit, auf die menschliche Schwäche 8 Vgl. insbes. Ricken, 3 1998,236. Hier muss man wohl - entsprechend den beiden Kriterien: Gewicht tangierter Güter / Recht und Gerechtigkeit - zwei Arten von „Folgen der Handlungsmöglichkeiten" unterscheiden. Zum einen hat das Handeln kausale Konsequenzen, insbesondere nützliche und schädliche Auswirkungen auf die Situation von Mitmenschen. Diesen Folgen entspricht die ergebnisbezogene Orientierung von Abwägung, Urteil und Handlung an Gütern und ihrem Gewicht. Zum anderen aber könnte man von konstitutionellen Konsequenzen einer Handlung, von ihren Implikationen sprechen. Ihnen entspricht die gegebenheitsbezogene Orientierung an Rechten. - Folgen im „konstitutionellen" Sinne hat beispielsweise eine verleumderische Aussage einfach insofern, als sie das Recht des Verleumdeten auf seinen guten Ruf verletzt - ganz unabhängig davon, wie sie sich tatsächlich auswirkt. Dieselbe Aussage wird freilich in der Regel auch moralisch relevante Auswirkungen, also Folgen im kausalen Sinne, haben; sie wird insbesondere dem Betroffenen dadurch schaden, dass sie weitergegeben, gehört und geglaubt wird, so dass andere ihm ihr Vertrauen entziehen, im sozialen und wirtschaftlichen Leben aus dem Weg gehen etc. Das Recht auf einen guten Ruf hat freilich vor allem die Funktion, die durch Verleumdung bedrohten Güter zu schützen. Dennoch ist begrifflich zwischen Orientierung an diesem Recht und unmittelbarer Orientierung an den geschützten Gütern zu unterscheiden (vgl. 2.2 und Müller, A.W., 2003 b, S. 129-134).

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des Gegenübers im Fall der Nachsicht, auf soziale Bindungen im Fall der Loyalität. Uber die Rolle von Ergebnis- und Gegebenheitsbezug in der Handlungsbegründung wäre natürlich sehr viel mehr zu sagen. Ich kann hier nur noch auf zwei Punkte hinweisen, in denen meine Skizze der Ergänzung bedarf. Erstens bringt ein Muster ethischer Handlungsbegründung nicht selten eine Kombination ergebnis- und gegebenheitsbezogener Gesichtspunkte ins Spiel. Zum Beispiel orientiert man sich beim gefälligen oder auch pflichtmäßigen Helfen nicht ausschließlich - ergebnisbezogen - am möglichen Nutzen, sondern auch - gegebenheitsbezogen - an der Bitte des Gegenübers oder an der eigenen Beziehung zu ihm. Nun zu einem zweiten Punkt, den ich in diesem Beitrag ansonsten ignorieren muss: Die ethische Qualität des Handelns hängt zwar vielfach davon ab, dass bestimmte Gesichtspunkte zur Geltung kommen; in anderen Fällen aber beruht sie darauf, dass sich bestimmte Gesichtspunkte nicht durchsetzen. Um beispielsweise Toleranz zu üben, muss ich nicht lediglich die Rechte des anderen respektieren, sondern - darin liegt das Spezifikum der Toleranz - ich darf mein Handeln nicht daran orientieren, dass er mir nach Rasse, Religion, politischer Uberzeugung usw. fremd ist. Lassen sich aber ergebnisbezogene und gegebenheitsbezogene Gesichtspunkte nicht vielleicht aufeinander zurückführen? - Das scheint mir fraglich. Zwar mögen sich moralische Relevanz und Gewicht gegebenheitsbezogener Gesichtspunkte daran entscheiden, welche Ergebnisse aus ihrer Beherzigung resultieren würden (vgl. 2.2-3). Doch betrifft das „sich daran entscheiden" nicht die Beweggründe des Handelnden; also reduziert es gegebenheitsbezogene nicht auf ergebnisbezogene Gesichtspunkte. Ebenso wenig plausibel ist eine Reduktion in umgekehrter Richtung. Wenn jemand mit einer Handlung Η die Absicht verfolgt, Ε zu erreichen, dann orientiert er sich am beabsichtigten Ergebnis E. Freilich könnte man sagen, der leitende Gesichtspunkt sei also eine zweifache Gegebenheit: die Möglichkeit, Ε durch Η zu erzielen, in Verbindung mit der einstweiligen Abwesenheit von E. Ich würde jedoch mit Wittgenstein zurückfragen, ob durch eine derartige Angleichung der Ausdrucksweisen der Unterschied der Strukturen geringer wird. Der unaufhebbare Unterschied zwischen ergebnis- und gegebenheitsbezogenen Gesichtspunkten hat Konsequenzen für die Titelfrage.

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Beim Abwägen von Handlungsoptionen werden nicht nur Güter gewogen - Güter, die durch die jeweils erwogene Handlungsweise hervorgebracht oder vernichtet würden. Vielmehr liefern Nutzen und Schaden, die den Wert des möglichen Handlungserge&msses bestimmen, der praktischen Vernunft nur einen Teil der zu beachtenden Gesichtspunkte. Die übrigen nehmen auf Gegebenheiten Bezug. Bei einer konkreten Abwägung wiegen auch sie mehr oder weniger schwer. Nur bewegt sich ihr Gewicht natürlich nicht in den Dimensionen von Nützlichkeit und Schädlichkeit.

3.7 Ein telos als Qualitätskriterium Diese Überlegungen suggerieren folgende Antwort auf die zweite der eingangs gestellten Fragen: In den von Ricken genannten Kriterien der Abwägung verweist das Stichwort Güter auf ergebnisbezogene Gesichtspunkte, während Recht und Gerechtigkeit paradigmatisch für gegebenheitsbezogene Gesichtspunkte steht. Beide Kriterien gründen jedoch, wenn auch auf ungleiche Weise, in einem sie verbindenden telos des Handelns. „Telos" steht hier nicht für einen letzten Zweck, den der Handelnde intendieren müsste, um richtig zu handeln. Das gemeinte telos ist eher ein Ideal, an dem sich die Richtigkeit des Handelns letztlich bemisst. Formal ist es durch folgenden Zusammenhang bestimmt: Potentielle Handlungsgründe sind dann und nur dann von ethischer Qualität, wenn ihre Beherzigung tendenziell die Realisierung dieses telos befördert. Ob das telos des Handelns näherhin als größtes Glück der größten Zahl, als menschliches Wohlergehen, als Reich der Zwecke, als konkrete Freiheit aller,9 als gutes Leben, 10 als eigene eudaimonia oder sonstwie zu bestimmen ist: das darf hier offen bleiben. Wichtig ist im gegenwär9 Wenn wir Rickens Argumenten (insbes. 3 1998, 223-225) folgen, liefert die eingangs erwähnte konkrete Freiheit den Maßstab aller moralischen Pflicht. Der resultierende „Grundsatz der inhaltlichen Selbstzwecklichkeit" gilt unabhängig vom faktischen Freiheitsgebrauch des Gegenübers (234). Gleichwohl scheint Moral hier eine Begründung zu erhalten, die sich zunächst nur auf das Verhalten gegenüber Mitmenschen beziehen lässt, die frei handelnd nach Glück streben können. Säuglinge ζ. B. oder geistig schwer Behinderte wären so allenfalls mittelbar berücksichtigt. 10 Zum Verhältnis zwischen naturalen Gütern und ethischer Qualität im guten Leben vgl. Müller, A.W., 1998, S. 92-100 und 169-192.

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tigen Kontext lediglich seine zweifache - direkte und indirekte - Bedeutung für die ethische Orientierung des Handelns: Ergebnisbezogene Gesichtspunkte machen einen konstitutiven Ausschnitt oder Aspekt dieses telos zum letztlich intendierten Zweck einer Handlung, während gegebenheitsbezogene Gesichtspunkte dem telos „zuarbeiten", ohne es zum Inhalt einer Absicht zu machen.11 Das fragliche telos erfüllt die Funktion des Prinzips, nach dem ich eingangs gefragt habe. Denn es vereinigt im ethischen System eine Vielfalt relevanter Gesichtspunkte. Das heißt dreierlei. Erstens lässt es die übereinstimmende Pointe der Orientierung an unterschiedlichen Handlungsgründen erkennen. Es verlangt sodann Konsistenz der ethischen Normen untereinander. Und drittens sorgt es gewissermaßen für solche Konsistenz. Denn in Zweifelsfällen muss ethische Reflexion auf dieses telos rekurrieren, um zu klären, welche Gewichtung konkurrierender Gesichtspunkte ihm am ehesten Rechnung trägt; oder gar: um dieses oder jenes Muster der Handlungsbegründung selbst zu bewerten.

11 Gegebenheitsbezogene Beweggründe lassen sich vermutlich überhaupt nicht als Intentionen auffassen. Man könnte zwar meinen: Wer Η tut, weil X ein Recht darauf hat, tut Η in der Absicht, dieses Recht zu respektieren. D o c h der Inhalt dieser A b sicht verweist bereits auf einen anderen Beweggrund, der keine Absicht ist. Denn „ein Recht respektieren" heißt bereits: es zum (effektiven) Beweggrund des H a n delns machen. Wollte man diesen Bezug wiederum As Absicht, das fragliche Recht zu respektieren, verstehen, so käme die Reihe der aufeinander verweisenden Absichten, und somit die Analyse, an kein Ende. - Wenn das richtig ist, kann übrigens der praktische Syllogismus kaum als Modell einer ethisch orientierten Überlegung gelten. Denn die Absicht als Ausgangspunkt gehört zu seiner Struktur (Ricken, 3 1998, 128).

Gerechtigkeit als Abwägungsproblem CHRISTIAN SCHRÖER

Die allegorische Figur der Iustitia ist ausgestattet mit drei typischen Attributen: Die Binde um die Augen steht für die Unparteilichkeit; das Urteil soll ohne Ansehung der Person gefällt werden. Die Waage als zweites Attribut steht für die unvoreingenommene Abwägung der Ansprüche der Parteien. Als drittes Attribut trägt sie das Schwert an ihrer Seite; es steht für die Befugnis des Rechts, die Durchsetzung des Urteils gegebenenfalls zu erzwingen. In der scheinbaren Klarheit der Symbole schlummert jedoch eine Zwiespältigkeit, die Bärbel Bohley in der Zeit der Wende pointiert formulierte: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen."1 Die Spannung, die in diesem Satz zum Ausdruck kommt, hat die Diskussion über Gerechtigkeit von je her begleitet. Zum einen begegnet der Begriff der Gerechtigkeit weithin mit dem ganzen Gewicht eines genuin moralischen Begriffs: Gerechtigkeit als Kriterium aller sittlichen Rechts- und Staatskritik2, Gerechtigkeit als die Sehnsucht der Völker3, Gerechtigkeit als das Herz jeder Vision4. Zum andern scheint der Begriff der Gerechtigkeit in der modernen rechtstheoretischen Diskussion durch den Begriff des Rechts verdrängt worden zu sein, wobei das Recht als eine nicht-moralische Institution bzw. als ein nicht-moralisches Subsystem moderner Gesellschaften verstanden wird5. Damit gerät aber jede Diskussion über das Gerechte in ein Di1 Zitiert nach: Alexander Hollerbach, 1999, Gerechtigkeit 2. Rechtlich, in: W. Korff u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, Bd. II, S. 7 3 75, hier 74. 2 „Da der Bereich des Politischen in der Neuzeit die Gestalt einer Rechts- und Staatsordnung annimmt, bezeichnet die politische Gerechtigkeit auch die sittliche Idee von Recht und Staat. Mit ihrer Hilfe werden legitime von nichtlegitimen Rechtsund Staatsformen unterschiede; die politische Gerechtigkeit ist der Grundbegriff einer sittlichen Rechts- und Staatskritik." Otfried Höffe, 1989, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S . l l . 3 „Er bringt den Völkern das Recht." Jes. 42,1. 4 So Dorothee Solle in einem Publik-Forum-Artikel

im Frühjahr 2000.

Gerechtigkeit als Abwägungsproblem

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lemma: Entweder man betrachtet Gerechtigkeit als einen moralischen Begriff; dann gehört er nicht in eine (an sich mc/?i-moralische) Theorie des Rechts. Oder man versteht unter Gerechtigkeit ein nicht-moralisches Rechtsprinzip, das gleichwohl eine Art von Anspruch zu behaupten scheint. Dann bringt das Wort von Bärbel Bohley offenbar einen Konflikt zwischen verschiedenen Arten von Ansprüchen zum Ausdruck. Kann aber das Recht als nicht-moralische Instanz Ansprüche geltend machen, die den Anspruch der Gerechtigkeit als eines moralischen Prinzips begrenzen? Welches sind die Ansprüche, die hier gegeneinander zu stehen scheinen, und wie ist der Konflikt zu beurteilen? Ich möchte dieser Frage in sieben Schritten nachgehen und dabei die maßgeblichen Momente zusammentragen, die mir für ein angemessenes Verständnis der inneren Spannung des Gerechtigkeitsbegriffs wesentlich erscheinen. Dabei verfolge ich primär ein systematisches Anliegen, das ich aber an einigen paradigmatischen Lehrstücken klassischer Autoren entwickeln möchte.

1. Aporien des Gerechtigkeitsbegriffs bei Piaton Im ersten Buch der Politeia diskutiert Piaton die These des Sophisten Trasymachos, die besagt: Als gerecht gilt, was dem, der die Macht hat, nützt.6 Die These erscheint plausibel, wenn man die folgende Überlegung teilt: Als gerecht gilt, was den Gesetzen entspricht. Nun werden die Gesetze von dem erlassen, der die Macht dazu besitzt. Was immer aber jemand tut - so wird unterstellt - , tut er, weil es ihm nützlich erscheint. Also gilt als gerecht, was dem, der die Macht hat, nützt. Diese Theorie gilt, wie Trasymachos ausdrücklich hinzufügt, unabhängig davon, ob der Staat tyrannisch, aristokratisch oder demokratisch verfasst sei7. So wird der Tyrann Gesetze erlassen, die ihm selbst nützen, die Aristokratie wird solche Gesetze geben, die der aristokratischen Schicht nutzen, und die Demokratie solche Gesetze, die allen nützen. Hieran lässt sich nahtlos die politische Theorie des Protagoras anfügen, die Piaton in den Dialogen Protagoras und Theaitet disku5 Vgl. Habermas' Kritik an Max Webers Konzept der formalen (i. S. v. moralfreien) Rechtsrationalität in: Jürgen Habermas, 1993, Faktizität und Geltung, Frankfurt a . M . : Suhrkamp, S. 5 4 2 - 5 5 2 . 6 τό δίκαιον ούκ αλλο τι ή τό τοΰ κρείττονος ξυμφέρον: Platon, Rp. I, 338 c 2 f . 7 Platon, Rp. I , 3 3 8 d 7 f .

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tiert.8 Wie Protagoras anhand eines Mythos9 erklärt, sind die Menschen aufgrund ihrer mangelhaften biologischen Naturausstattung auf zwei Fähigkeiten angewiesen, die ihnen die Götter mit auf den Weg gegeben haben: die Fähigkeiten zur Entwicklung von handwerklichen Techniken, wobei diese Fähigkeiten individuell verschieden angelegt seien, und die Fähigkeit zum politischen Zusammenleben, die im Prinzip alle Menschen besäßen. Bei handwerklichen Fragen sollte man sich daher an den Rat der Fachleute halten. In den Versammlungen aber, die das Zusammenleben betreffen, d. h. in den Gerichts-, Volks- und Ratsversammlungen, sollte dagegen nach dem entschieden werden, was allen oder doch den meisten als gerecht erscheine: „Was einer jeden Polis gerecht und schön erscheint, das ist es auch für sie, solange sie es dafür hält."10 Die Aufgabe der Politiker und Anwälte besteht folglich darin, die von ihnen favorisierten Vorschläge jeweils so darzustellen, dass sie den Mitgliedern der Gremien mehrheitlich als politisch klug und gerecht erscheinen. Tragendes Motiv ist wie bei Trasymachos der gemeinsame Nutzen, wie Protagoras an einer späteren Stelle bemerkt: Jeder unterrichte jeden bereitwillig darüber, was gerecht und gesetzmäßig sei, „denn jedem von uns, glaube ich, nützt die Gerechtigkeit und Tugend der andern."11 Alle werden also Vorteile haben, wenn alle gerecht und tugendhaft leben. Als gerecht gilt demnach etwas genau dann, wenn es im Rahmen der von allen bejahten Gesellschaftsstruktur dem gemeinsamen Nutzen dient. Das jeweils Gerechte ergibt sich aus der Gesetzeslage, die alle als vorteilhaft betrachten. Was diesen Begriff des Gerechten so modern anmuten lässt, ist zugleich das, was den platonischen Sokrates daran stört: Die Theorieansätze der beiden Sophisten kommen ohne die moralische Wahrheitsfrage aus. Für Trasymachos geht es bei der Gesetzgebung schlicht um das, was nützt, was den Sonderfall nicht ausschließt, dass es in einer Demokratie um das geht, was allen nützt; alles andere ist dann eine Frage der politisch geschickten Optimierung des Nutzens, aber keine Frage der Tugend im Sinne einer moralischen Wahrheit. Die These des Protagoras, etwas gelte als gerecht einfach deshalb, weil es allen gerecht zu sein 8 Vgl. Klaus Döring, 1981, Die politische Theorie des Protagoras, in: G . B . Kerfeld (Hrsg.), The Sophists and Their Legacy, Wiesbaden, S. 109-115. 9 Piaton, Protagoras 320 c 8-323 a 5. 10 Έπεί οιά γ' αν έκαστη πόλει δίκαια και καλά δοκτ], ταύτα και είναι αύτη εως αν αυτά νομίζτ): Piaton, Theaitet 167 c 4 - 5 . 11 λυσιτελεϊ γάρ οίμαι ήμϊν ή αλλήλων δικαιοσύνη και αρετή: Platon, Protagoras 327 b2-3.

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scheint und eben deshalb in Geltung gesetzt wird - findet ihren schärfsten Ausdruck wohl in dem Hobbesschen Prinzip auctoritas non Veritas facit leges: die Urheberinstanz, nicht die Wahrheit macht die Gesetze. Auch Piatons eigener Staatsentwurf scheint zunächst diesem Gerechtigkeitsbegriff zu folgen. Als gerecht gilt, wenn in einem geordneten und möglichst funktionstüchtig organisierten Staat jede Gruppe und jeder Stand dauerhaft und verlässlich jeweils das Seine tutn. Die Tugenden der Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit lassen sich sodenn als notwendige Stabilisatoren in den Entwurf integrieren. Was genau aber für jeden Stand jeweils das Seine ist, hängt zunächst immer noch von der gesetzlich verfügten Verfassung ab. Ziel der platonischen Kritik gegen die Positionen der Sophisten ist es jedoch, die Wahrheitsfrage zu stellen. Hintergrund ist bekanntlich die für den jungen Piaton prägende Erfahrung, dass die junge Athener Demokratie Sokrates, den gerechtesten aller Hellenen', rechtens zum Tode verurteilt hatte. In der Auslegung des Höhlengleichnisses geißelt Piaton diejenigen, die in den Gerichten gleichsam über die Schatten des Gerechten streiten, ohne zu wissen, was Gerechtigkeit selbst sei.13 Das Gerechte sollte nicht nur eine bloße Funktion der gesetzlichen Verfassung, sondern wesentlich auch kritischer Maßstab für die Gesetzgebung selbst sein. Ein erster Anhaltspunkt auf der Suche nach einem objektiven Kriterium des Gerechten ist die Analogie zwischen der Gesundheit eines leiblichen und eines seelischen bzw. gesellschaftlichen Organismus. Im Gorgias sucht Sokrates das Prinzip der Richtigkeit in der Ordnung (taxis), die als schöne Ordnung (kosmos) und Wohlgeordnetheit (kosmia) von jeder vernünftigen Seele anzuerkennen sei.14 Der wichtigere Gesichtspunkt findet sich im Staat. Im sechsten Buch heißt es, jeder Streit um das Gerechte bleibe solange lächerlich und fernab der wahren Gerechtigkeit, solange man nicht auch erkennt, warum es gut sei, gerecht zu sein. So sei denn erst „die Idee des Guten die größte Einsicht [...], durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihm macht, nützlich und heilsam" werde.15 12 Vgl. Piaton, Rp. 433 a 1-334 a 1. 13 Vgl. Piaton, Rp. 517 d5-e2. 14 Piaton, Gorgias 506 d4-e4. Warum jede Seele das Geordnete vorziehen sollte, bleibt allerdings offen. 15 έπεΐ δτι γε ή τοΰ άγαθοϋ ιδέα μέγιστον μάθημα, πολλάκις άκήκοας, ή δή δίκαια και τάλλα προσχρηοάμενα χρήσιμα και ωφέλιμα γίγνεται: Piaton, Rp. 505 a 2-4; vgl. 517 b8-c5.

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Damit wird der Begriff der Gerechtigkeit an den Begriff des Guten zurückgebunden und damit als ein letztlich moralischer Begriff ausgewiesen: Wir wissen erst, was gerecht eigentlich meint, wenn wir wissen, warum es sittlich gut (agathon, kalon) sei, gerecht zu sein. So wie aber das Gerechte als das Prinzip der Richtigkeit der übrigen Tugenden erscheint, so erscheint die Idee des Guten als Prinzip der richtigen Gerechtigkeit und damit insgesamt als das umfassende Prinzip richtigen Handelns. Als Norm aller Normen, die durch keine höhere Norm mehr bedingt ist, gilt das Gute unbedingt.16 Und da es für alle vernünftigen Seelen gilt, kommt dem Anspruch des Guten selbst zugleich ein universaler Charakter zu. Wenn auch Piaton selbst diesen Begriff des Sittlich-Guten nicht mehr weiter expliziert hat, ist damit doch das Phänomen der Sittlichkeit aufgedeckt und in seiner Eigenart beschrieben. So ist denn auch mit der Frage, was das letztlich Gute der Gerechtigkeit ausmacht, die Frage nach der Gerechtigkeit als Moralprinzip gestellt.

2. Äquivokation des Gerechtigkeitsbegriffs bei Aristoteles Aristoteles beginnt seine Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs im fünften Buch der Nikomachischen Ethik mit dem Hinweis, dass die Begriffe des Gerechten und Ungerechten homonym, d. h. in einer wesentlich zweifachen Bedeutung gebraucht werden, wobei allerdings beide Bedeutungen soweit einander angenähert seien, dass es schwer sei, den Unterschied zu entdecken.17 Als gerecht gelte zum einen das Gesetzliche (to nomimon), zum andern aber das Gleiche (to ison), entsprechend als ungerecht das Gesetzwidrige (to paranomon) und das Ungleiche (to anison).iS Die erste Bedeutung knüpft deutlich an den schon skizzierten politischen Gerechtigkeitsbegriff des Trasymachos an: „Die Gesetze treffen Bestimmungen über den ganzen Lebensbereich. Ihr Ziel ist dabei der gemeinsame Vorteil für das gesamte Volk oder nur für die 16 Vgl. Piaton, Rp. 5 1 7 c 3 - 4 . 17 έοικέ δε πλεοναχώς λέγεσθαι ή δικαιοσύνη και ή άδικία, άλλά διά τό σύνεγγυς είναι τήν όμωνυμίαν αύτών λανθάνει και ούκ ώσπερ έπί των πόρρω δήλη μάλλον: Aristoteles, EN V, 1129 a26-28. 18 Aristoteles, EN V, 1129 a34-35.

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Adelsgeschlechter oder nur für die Gruppe, die ausschlaggebend ist."19 Der gemeinsame Nutzen zielt nach Aristoteles dabei letztlich auf das gemeinsame höchste Gut, mithin auf das gemeinsame Glück ab. Damit ergibt sich die Definition der iustitia legalis: „Wir bezeichnen also in einer Hinsicht als gerecht ein Handeln, welches den Zweck hat, das Glück sowie dessen Komponenten für das Gemeinwesen hervorzubringen und zu erhalten."20 Wenn aber die Gesetze die Polis auf das Glück ausrichten sollen, und wenn zur Erstrebung des Glücks immer auch Tugenden erforderlich sind, dann ist es auch Aufgabe der Gesetze, die Tugenden zu befördern. Insofern alle Tugenden immer auch zum gemeinsamen Glück beitragen und sich somit immer auch auf andere beziehen, ist jeder Akt dieser Tugenden zugleich immer auch ein Akt der Gerechtigkeit im definierten Sinne.21 Gerechtigkeit erscheint damit als die alle übrigen Tugenden umfassende Tugend (iustitia generalis). Die zweite Bedeutung von gerecht kennt jedes Kind: Gerecht ist, wenn jeder gleichviel bekommt, ungerecht ist, wer auf Kosten der anderen mehr haben will, als ihm zusteht. Aristoteles unterscheidet bekanntlich zwei Fälle: Das Gleichviel von Geben und Nehmen beim Tausch (Tauschgerechtigkeit), und das Gleichviel für jeden bei der Verteilung (Verteilungsgerechtigkeit). Bemerkenswert ist nun, dass sich dieser zweite Begriff des Gerechten zunächst völlig unabhängig von einer gegebenen Gesetzeslage und damit auch unabhängig von einem Akt der Gesetzgebung konzipieren lässt: Bei der Tauschgerechtigkeit kommt es allein auf die Gleichwertigkeit der beiden Tauschgrößen an, d. h. es geht allein um die Gleichheit von Wert und Gegenwert, von Leistung und Gegenleistung, unabhängig von den tauschenden Personen (,arithmetrische' Gleichheit)22. Und sofern bei einer Verteilung einschlägige Unterschiede der betroffenen Personen zu berücksichtigen sind, kommt es bei der Verteilungsgerechtigkeit zunächst nur auf die proportionale Gleichwertigkeit zwischen den betroffenen PersonenSachgut-Beziehungen an (,geometrische' Gleichheit)23; so wird man dem, der mehr zum Erfolg eines Geschäftes beiträgt, auch mehr vom 19 οί δέ νόμοι άγορεύουσι περί άπάνχων, στοχαζόμενοι ή τοϋ κοινή συμφέροντος πασιν η τοις άρίστοις ή τοις κυρίοις [κατ' αρετήν] ή κατ' άλλον τινά τρόπον τοιούτον: Aristoteles, EN V, 1129 b 14-17. 20 ώστε ενα μεν τρόπον δίκαια λέγομεν τά ποιητικά και φυλακτικά ευδαιμονίας και των μορίων αυτής τη πολιτική κοινωνία: Aristoteles, ENV, 1129 b 17-19. 21 Vgl. Aristoteles, EN V, 1129 b 19-1130 a 13 und 1130 b 18-29. 22 Aristoteles, EN V, 1132 a2. 23 Aristoteles, EN V, 1131 b 13.

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Gewinn zugestehen, oder einem Patienten, der die dreifache Menge eines Medikaments braucht, diese größere Menge aufgrund seiner größeren Bedürftigkeit gewähren. Insofern sich solche Rücksichten aus der Natur des Sachgutes bestimmen, erscheint der Begriff des Gerechten im Sinne des Gleichvielen immer noch unabhängig von allen sachfremden Unterschieden zwischen den betroffenen Personen. Die typischen Irritationen entstehen nun dadurch, dass beide zunächst eigenständige Grundbegriffe des Gerechten meist schon wechselseitig aufeinander bezogen werden. So kann man etwa den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit auf das gesellschaftliche Gefüge von Ständen, Gruppen und Rollen anwenden, und dann erscheint dasjenige als gerecht, was einem jeden bezogen auf seine gesellschaftliche Stellung zukommt, und umgekehrt: Da, wie Aristoteles eigens bemerkt, jede politische Gemeinschaft auf Tausch angewiesen ist, wird der Staat auch für eine verlässliche Tauschgerechtigkeit sorgen müssen.24 Da es sich aber auf beiden Seiten um zunächst eigenständige Gerechtigkeitsbegriffe handelt, tritt hier streng genommen der eine an den anderen als ein im Prinzip äußeres Kriterium heran. Damit wird es möglich, dass etwas, das in dem einen Sinne als gerecht gilt, in dem jeweils anderen Sinne als ungerecht erscheint: Was im gesetzlichen Sinne als gerecht gilt, kann im Sinne der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit gerecht oder ungerecht sein, und was im Sinne der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit gerecht scheint, kann im gesetzlichen Sinne gerecht oder ungerecht sein.

3. Naturgesetz und Naturrecht bei Thomas von Aquin Kein klassischer Autor hat, soweit ich sehe, diese Aquivokation des Gerechtigkeitsbegriffs so deutlich aufgegriffen wie Thomas von Aquin: Gesetzliche Ordnungen werden durch denjenigen geschaffen, der Gesetze zum Wohl aller erlässt. Gerechtes schaffen im eigentlichen Sinne bedeutet dagegen, für Ausgeglichenheit in den Beziehungen zwischen Menschen, insbesondere in Tausch- und Verteilungsangelegenheiten zu sorgen. Nach Thomas beruhen beide Akte auf jeweils völlig anderen Prinzipien. Die Prinzipien einer rationalen Gesetzgebung behandelt 24 Aristoteles, EN V, 1133 b 17-18.

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Thomas im /ex-Traktat der Summa Tbeologiae I-II am Ende seiner allgemeinen Ethik, die Prinzipien der Schaffung von Gerechtem dagegen unter dem Begriff des ius naturale im Gerechtigkeitstraktat der Summa Tbeologiae II-II, d. h. im Rahmen seiner konkreten Ethik. Die Zuordnungen könnten kaum verschiedener sein: Das Gesetz behandelt Thomas als ein äußeres Prinzip des Handelns. Die Gerechtigkeit gehört dagegen zunächst zu den Tugenden und damit zu den inneren Prinzipien des Handelns25. Die Gesetzgebung ist für Thomas ein Akt der Vernunft, deren wesentliche Tugend die Klugheit ist, und somit ist sie wesentlich ein Akt des richtigen Denkens, wenn auch im Auftrag eines richtigen Wollens. Ein Akt der Gerechtigkeit aber ist als solcher ein Akt des richtigen Wollens26. In der Definition des Gesetzes kommt der Maßstab der aequalitas nicht vor: Ein Gesetz sei „nichts anderes als eine Anordnung der Vernunft zum Gemeinwohl, erlassen von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft trägt."27 Grundlegendes normatives Prinzip ist die Ausrichtung auf das allen gemeinsame Gut (bonum commune), mithin auf das Glück der Gemeinschaft.28 Die Definition der Gerechtigkeit dagegen kommt zunächst ohne jeden Bezug auf Staat oder Gesetzgebung aus: „Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, einem jeden sein Recht zuzuteilen."29 Grundlegendes normatives Prinzip hierbei ist die Ausgeglichenheit (aequalitas) 30 . In der Analyse des /ex-Begriffs31 kommen die Begriffe iustitia, ius oder iustum nur beiläufig und nur dort vor, wo Fragen der Rechtsprechung berührt werden. Im zwsiziw-Traktat ergibt sich eine mögliche Brücke vom Recht zum Gesetz erst mit dem Begriff des positiven Rechts (ius positivum), bei dem etwas deshalb als ausgeglichen gilt, weil es aufgrund einer Vereinbarung (ex condicto)32 von allen Beteiligten als ausgeglichen anerkannt wird. Dieser Akt der Anerkennung beruht auf einer Zustimmung aller Beteiligten oder erfolgt durch eine Anordnung dessen, der im Namen aller handelt. So könne etwas als gerecht gelten, 25 Vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I—II 49 Prolog und 90 Prolog. 26 S. Th. I-II 56,6c; 61,2c; II-II 58,4. 27 „[...] definitio legis, quae nihil est aliud quam quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata." S. Th. I-II 90,4c. 28 S. Th. I-II 90,2. 29 „Iustitia est constans et perpetua voluntas jus suum unicuique tribuens." S. Th. II-II 58,1. 30 S. Th. II-II 57,1. 31 Vgl.S. Th. I-II 90-97. 32 S. Th. II-II 57,2 c.

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„[...] wenn ζ. Β. das ganze Volk zustimmt, dass sich etwas gleichsam angemessen und ausgeglichen zum anderen verhalte, oder wenn dies der Fürst anordnet, der die Sorge für das Volk trägt und seine Rolle spielt."33 In diesem Fall geht es, modern gesprochen, um einen performativen Akt der Anerkennung bezüglich des Gerechten als einer Ausgeglichenheit. Die Gesetzgebung erscheint hier als eine Festlegungs- und Interpretationsinstanz dessen, was in einer gegebenen Gesellschaft als gerecht i. S. v. ausgeglichen gelten solle. Primärer Zweck der Gesetzgebung bleibt jedoch nach Auskunft des /ex-Traktats die rationale Ausrichtung der gemeinschaftlichen Praxis auf das Gemeinwohl, wenn sich auch bei Thomas das Ideal einer gemeinwohlorientierten und zugleich ausgeglichenen Ordnung andeutet.34

4. Nützlichkeit und Sittlichkeit des Rechts bei Cicero Die Zweideutigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs erfährt eine pointierte Zuspitzung durch die neuzeitliche Entgegensetzung von Sittlichkeit und Nützlichkeit, die in Ciceros de officiis vorgezeichnet wird. In diesem höchst einflussreichen Text betont Cicero im Anschluss an den Stoiker Panaitios, dass die Frage nach dem rechten Handeln mit einem dreifachen Abwägungsproblem verknüpft sei. Denn es sei zu fragen, ob das erwogene Handeln sittlich-gut (honestum) oder sittlich-schlecht (turpe) sei, ob es nützlich {utile) oder nachteilig (inutile) sei, und wie zu entscheiden sei, wenn das Sittlich-Gute dem Nützlichen widerstreite. Dieser Konflikt zwischen dem Sittlichen und dem Nützlichen sei von den Schulen unterschiedlich beurteilt worden. Die alten Akademiker und die Peripatetiker hätten „das, was sittlich gut ist, dem, was nützlich scheint, vorangestellt"; Cicero selbst schließt sich dagegen der Lehre der Stoiker an, wonach das, „was sittlich gut sei, zugleich auch nützlich scheint, und nichts nützlich, was nicht sittlich gut" sei.35 33 „[...] puta cum totus populus consentit quod aliquid habeatur quasi adaequatum et commensuratum alteri; vel cum hoc ordinat princeps, qui curam populi habet et eius personam gerit. Et hoc dicitur ius positivum." S. Th. II-II 57,2 c. 34 „[...] verum bonum, quod est bonum commune secundum iustitiam divinam regulato." S. Th. I-II 92,1c. 35 „Erit autem haec formula Stoicorum rationi disciplinaeque maxime consentanea; quam quidem his libris properea sequimur, quod, quamquam et a veteribus Academicis et a Peripateticis vestris, qui quondam idem erant, qui Academici, quae honesta

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Da Cicero nun die Gerechtigkeit als die primäre Quelle aller sittlichen Pflichten betrachtet, spitzt sich denn auch die Frage nach dem Konflikt von Sittlichkeit (honestas) und Nützlichkeit (utilitas) im Blick auf den Gerechtigkeitsbegriff zu. Zunächst ist auch für Cicero wie schon für Aristoteles die Gerechtigkeit diejenige Tugend, die die Beziehung zum andern zum Gegenstand hat, insofern alle anderen Tugenden letztlich mitumfasst und daher „Herrin und Königin allen Tugenden" 36 sei. Die Tugend als solche schöpfe aus einer Quelle, die zwei wesentliche Momente enthalte: „Kern der Tugend als solcher ist es, den Geist der Menschen zu versöhnen und zu ihren Nutzen zu verknüpfen." 37 Die Versöhnung des Geistes der Menschen und der damit einhergehende gemeinsame Nutzen verschmelzen bei Cicero somit zu einem Gerechtigkeitsbegriff mit einer utilitären und zugleich einer sittlichen Bedeutung. In der konkreten Ausfaltung zeichnen sich näherhin drei Stufen ab: Die Versöhnung erscheint bei Cicero als quasi transzendentale Bedingung: Ohne eine solche Versöhnung sei eine konkret lebensfähige Gesellschaft nicht möglich. Zum Aufbau eines konkreten Gemeinwesens gehöre sodann sowohl der Entwurf einer verlässlichen Lebensordnung als auch eine gleiche Zuschreibung des Rechts. Erst auf dieser Grundlage könne sich schließlich auch eine gefestigte Ordnung des Lebens entwickeln, bei der man „dank des Gebens, Nehmens und Austauschens von Möglichkeiten und Vorteilen an nichts Mangel" erleide.38 Da aber eine Missachtung des Gerechten im Geben und Nehmen sowohl den Zweck des gemeinsamen Wohlstands als auch die Gleichheit des Rechts gefährdet, ergibt sich die strikte Forderung, niemand dürfe um des eigenen Vorteils willen anderen schaden: „Den anderen also um etwas zu kürzen und als Mensch durch des Mitmenschen Nachteil den eigenen Vorteil zu mehren, ist mehr gegen die Natur als sunt, anteponuntur iis, quae videntur utilia, tarnen splendidius haec ab eis disserentur, quibus quicquid honestum est, idem utile videtur nec utile quicquam, quod n o n honestum, quam ab iis, quibus et honestum aliquid n o n utile aut utile non honestum." De off. III 2 0 (lat.-dt. Ed. 1 9 8 7 , De officiis / Vom rechten Handeln, München/ Zürich: Artemis), S . 2 3 4 . 36 „domina et regina virtutum" De off. III 28, S. 240. 3 7 „[...] p r o p r i u m hoc statuo esse virtutis, conciliare animos h o m i n u m et ad usus suos adiungere." De off. II 17, S. 152. 38 „Urbes v e r o sine h o m i n u m coetu n o n potuissent nec aedificari nec frequentan; ex q u o leges moresque constituti, tum juris aequa discriptio certaque vivendi disciplina-, quas res et mansuetudo a n i m o r u m consecuta et verecundia est effectumque, ut esset vita munitior atque ut dando et accipiendo mutandisque facultatibus et c o m m o d i s nulla re egeremus." De off. II 15, S. 150.

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Christian Schröer d e r T o d , als d i e A r m u t , als d e r S c h m e r z u n d als alles ü b r i g e , w a s d e m K ö r per oder den äußeren D i n g e n zustoßen kann."39

Wenn Cicero auch betont, das Sittliche und das Nützliche seien letztlich nur dem Aspekt nach verschieden, der Sache nach aber dasselbe, so fragt er schließlich doch, ob der gemeine Nutzen das Prinzip des Sittlichen oder umgekehrt das Sittliche Prinzip des gemeinsamen Nutzens sei, - und bereitet damit die neuzeitliche Kontroverse zwischen naturrechtlichen und utilitaristischen Rechtsauffassungen vor. Cicero selbst bekennt sich im Anschluss an die stoische Doktrin zum Primat des Sittlichen: „ E s ist n ä m l i c h n i c h t s n ü t z l i c h , w a s n i c h t z u g l e i c h sittlich g u t ist, a b e r es ist n i c h t sittlich g u t , w e i l es n ü t z l i c h , s o n d e r n , w e i l es sittlich g u t ist, ist es nützlich."40

Bezogen auf den Gerechtigkeitsbegriff bedeutet das: Wahrhaft nützlich ist nur das, was zugleich immer auch der Versöhnung des Geistes der Menschen dient, und ein versöhntes Zusammenleben erfordert, dass jeder erhält und sich mit dem begnügt, was ihm zusteht. Wurzel aller Sittlichkeit ist damit die Versöhnung des Geistes aller Menschen als Menschen gleichen Rechts, und dies ist zugleich die Quelle und Grundlage des gemeinsamen Wohlstands, der auf einer gerechten Tausch- und Verteilungspraxis beruht. An dem so bestimmten Gerechtigkeitsbegriff lassen sich die drei formalen Kennzeichen wiederentdecken, die schon bei Piaton begegneten: Gerechtigkeit als sittliche Forderung, aufgrund einer grundlegenden Verbundenheit aller Menschen niemandem zum eigenem Vorteil zu schaden, erscheint als der primäre Maßstab sittlich richtigen Handelns. Cicero schreibt der Gerechtigkeitsforderung zugleich einen unbedingten Charakter zu, sofern nichts sittliche Pflicht sein könne, was nicht gerecht sei. Und die Grundsätze der Gerechtigkeit gelten nach Cicero für alle vernünftigen Wesen als Wesen gleichen Rechts, insofern diese nach stoischer Lehre gleichsam eine kosmisch umfassende Gemeinschaft bilden.41 Insofern gilt der Anspruch des Gerechten auch für jedermann, mithin objektiv für jedes vernünftige Wesen und somit 39 „Detrahere igitur alteri aliquid et hominem hominis in c o m m o d o suum c o m m o d u m augere magis est contra naturam quam mors, quam paupertas, quam dolor, quam vertera, quae possunt aut corpori accidere aut rebus externis." De off. III 21, S.235. 40 „Est enim nihil utile, q u o d idem non honestum, nec, quia utile, honestum, sed quia honestum, utile." De off. III 110, S.313. 41 Vgl. Cicero, De fin. III, 63-64.

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universal. Diese drei Merkmale machen deutlich, dass Cicero hier zum einen an die Tradition des platonischen Begriffs des Guten anknüpft. Zum andern sind es aber auch eben diese drei Merkmale - praktische Richtigkeit, Unbedingtheit und universale Geltung mit denen Kant den Begriff der Moralität bestimmt: Moralische Normen als solche sind Handlungsregeln, die ein bestimmtes Handeln als praktisch richtig ausweisen, die unbedingt gelten und die als objektiv, d. h. für jedermann gültig zu begreifen sind42. Ciceros Gerechtigkeitsbegriff in de officiis erfüllt diese drei Kriterien und erweist sich damit als ein Moralprinzip im kantischen Sinne. Wenn man allerdings das Verhältnis der beiden Komponenten umgekehrt interpretiert und die Versöhnung der Menschen um des gemeinsamen Nutzens willen als das primäre Element fasst, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild: Die beste Gesetzgebung würde diejenige sein, die den Zweck der Vereinigung, mithin die Förderung des gemeinsamen Nutzens, am geschicktesten umzusetzen vermag. Der Zusammenschluss aber dient primär dem subjektiven Interesse derer, die sich vereinigen und sich eben davon Vorteile versprechen, und die Vereinbarungen zu einem gemeinschaftlichen Handeln gelten nur für die, die sich zusammengeschlossen haben. Angestrebt würde also primär eine Gesetzgebung, die ein bestimmtes Handeln im Blick auf den Gemeinnutzen als pragmatisch richtig ausweisen, die dem subjektiven Interesse des Kollektivs dienen und insofern nur bedingt gelten und die demnach auch keine Geltung für jedermann, sondern nur für die vereinigten Mitglieder beanspruchen können. Fasst man den Gerechtigkeitsbegriff so auf, dann beansprucht er weder spezifisch praktische Richtigkeit noch unbedingte noch universale Geltung. Er erfüllt damit keines der drei Kriterien der Moralität und erscheint damit auch nicht mehr als ein Moralprinzip, sondern als ein bloßes kollektives Nützlichkeitsprinzip .

42 „Findet sich nun, dass diese Regel praktisch richtig sei, so ist sie ein Gesetz, weil sie ein kategorischer Imperativ ist" (Kant, KpVA 38). „Hier aber sagt die Regel: man solle schlechthin auf gewisse Weise verfahren. Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin, als kategorischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar objektiv bestimmt wird" (KpV, A 55) - „objektiv, d. i .für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt" (KpV, A 35).

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5. Der zweifache Zweck des Zwanges: Kant und Mill Kant selbst folgt der Lösung Ciceros insofern, als er die Versöhnung des Geistes der Menschen als wechselseitige Achtung der „Menschheit" in der Person eines jeden Menschen interpretiert.43 An die Stelle des kosmischen Staats der stoischen Lehre tritt das Ideal eines vorinstitutionellen „Reiches der Zwecke", in dem im Prinzip jeder nur nach solchen Grundsätzen handelt, die mit den Grundsätzen aller anderen Menschen verträglich erscheinen.44 Das Recht wird strikt als Institution gedacht. Es erscheint als ein äußeres Instrument der Gewährleistung einer wechselseitigen Achtung menschlicher Freiheit, das allerdings nur auf die äußere Seite des Handelns zugreifen kann. So tritt neben die moralische Versöhnung des Geistes der Menschen hinsichtlich der freien Wahl allgemein verträglicher Grundsätze die konkrete Verteilung äußerer Freiheit in Gestalt von rechtlich zu schützenden Räumen freier Willkür: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann."45 Das Recht erscheint demnach als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." 46 Zugleich sei diese „Freiheit, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, [...das] einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht." 47 Da aber das Recht im Unterschied zur bloßen Moralität ein äußeres Prinzip menschlichen Zusammenlebens darstellt, ist es einer institutionellen Absicherung durch äußere Sanktionsmittel fähig. Daher könne das konkrete Recht denn auch im Sinne eines „mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden."48 Soweit eine Grundverteilung äußerer Freiheitsräume nun im wesentlichen für jeden Menschen als Menschen in unbedingter Weise als praktisch rich43 44 45 46 47 48

Kant, Kant, Kant, Ebd. Kant, Kant,

GMS, BA 63-70; KpV, A 154-157. GMS, BA 74 f. MS, AB 33. MS, AB 45. MS, AB 35.

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tig gefordert wird, erfüllt diese Forderung die drei genannten formalen Merkmale der Moralität, wenn auch nur bezogen auf die äußere Ordnung menschlichen Handelns - scholastisch gesprochen liegt also eine Verbindlichkeit secundum quid und keine schlechthin unbedingte Verbindlichkeit simpliciter vor. Zugleich erfüllt Kants Rechtsbegriff auch den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, wenn auch wiederum secundum quid bezüglich des äußeren Freiheitsraumes. Und schließlich umfasst dieser Begriff des Rechts auch die drei Attribute der Iustitia. Denn eine Rechtsordnung sollte so eingerichtet sein, dass ohne Ansehung der Person grundlegende Freiheitsräume ausgewogen verteilt und gegen Übergriffe verteidigt werden können. Der Zweck des Zwanges wird somit grundsätzlich als die wirksame Gewährleistung einer gerechten Verteilung von konkreten Freiheitsräumen gedacht und scheint sich damit auf ein letztlich moralisches Motiv, d. i. die unbedingte Achtung menschlicher Freiheit, stützen zu können. Dabei ist jedoch zu beachten, dass, wie Kant selbst an anderer Stelle betont, das eigentliche Prinzip der Moralität niemals hinreichend im Bereich der empirischen Erfahrung abgebildet werden kann49, so dass auch eine positive Rechtsordnung als eine empirische Institution die Moralität (als eines Reiches der Zwecke), platonisch gesprochen, immer nur auf einer zweiten Stufe abwärts der praktische Wahrheit zu repräsentieren vermag. Es fehlt aber auch nicht an Versuchen, die Frage nach dem Zweck des rechtlichen Zwanges wiederum umgekehrt vom Motiv des gemeinsamen Vorteils zu entwickeln. John Stuart Mill etwa beschreibt im Gerechtigkeitskapitel seines einflussreichen Essay Utilitarismus50 die Gerechtigkeit ausdrücklich als eine besondere Erscheinungsform des Prinzips der Nützlichkeit. Zur Begründung seiner Position sei nur zu zeigen, durch welche besonderen Merkmale sich das Gerechte und Ungerechte von anderen Formen der Nützlichkeit unterscheide und warum dem Gerechten jenes charakteristische Gefühl der Intensität und Dringlichkeit eigne, das dem Gefühl der bloßen Nützlichkeit zu fehlen scheine.51 49 „Hingegen ist das sittlich-Gute etwas dem Objekte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann [...]." Kant, KpV, A 120; vgl. auch Kants nachdrücklichen Hinweis, dass jedes faktisch geltende Naturgesetz nur der Typik nach dem Sittengesetz vergleichbar sei: KpV, A 119-126. 50 John Stuart Mill, 2003, Utilitarism and, On Liberty, ed. by Mary Warnock, Maiden/ USA, Oxford/UK u.a.: Blackwell, S. 181-235 (dtsch.: Der Utilitarismus, 1976, übers, u. hrsg. v. Dieter Birnbacher, Stuttgart: Reclam). 51 Mill, 2003, S.217 (1976, S.73f).

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Ausgehend vom Prinzip des Nützlichen gewinnt Mill den Begriff des Gerechten über zwei Unterscheidungen: Das Nützliche lasse sich einteilen in schlichte Nützlichkeiten und sittliche Pflichten. Kennzeichnend für die sittlichen Pflichten sei das Gefühl, dass sie erzwungen und Zuwiderhandlungen bestraft werden sollten. Sittliche Pflichten teilen sich wiederum in unvollkommene Pflichten als Pflichten der Moral (Dankbarkeit, Wohltätigkeit etc.) und vollkommene Pflichten als Pflichten der Gerechtigkeit. Unvollkommen sei eine Pflicht dann, wenn sie in Bezug auf Zeit, Ort und Personen unbestimmt sei und insofern der Entscheidung des Handelnden anheimgestellt bleibe. Eine vollkommene Pflicht liege dagegen vor, wenn das, was des einen Pflicht sei, zugleich das ist, worauf eine andere Person ein Recht geltend machen und daher auf einer Erfüllung der Pflicht bestehen könne. 52 Diese Grundbestimmung begegnet sodann in den vier Hauptbedeutungen von gerecht/ungerecht wieder, die Mill zuvor unterscheidet: 53 Gesetzlich gerecht sei etwas, was jemand als sein gesetzlich verbürgtes Recht geltend machen könne (persönliche Freiheit, Eigentum u.ä.). Moralisch gerecht sei etwas, worauf jemand ein moralisches Recht habe, auch wenn dies faktisch oder aus Erwägungen der Klugheit nicht ausdrücklich Inhalt der faktisch geltenden Rechtsordnung sei. Vergeltungen seien ungerecht, wenn jemand zu viel oder zu wenig Belohnung oder Strafe erhalte als er verdiene. Und im Kontext von Vereinbarungen sei es Unrecht, eingegangene Verpflichtungen zu brechen. Bezeichnender Weise hält Mill die Prinzipien der Unparteilichkeit und der Gleichheit nicht für wesentliche Bestandteile der Gerechten, sondern kann diesen Prinzipien nur eine sekundäre Bedeutung als Verfahrensprinzipien abgewinnen. Unparteilich bedeute etwa, nach Sachlage zu entscheiden, wie das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz etwa fordere, dass gleiche Delikte auch gleich zu behandeln seien.54 So ergeben sich am Ende zwei zweigliedrige und zusammen hinreichende Kernmerkmale des Gerechten: Es liegt ein Unrecht vor, und es gibt eine Person, der das Unrecht geschieht; es besteht für die Person ein Rechtsanspruch, ihr Recht geltend zu machen, und die Erfüllung des Rechtsanspruchs darf erzwungen werden. 55 Damit lässt sich das Gerechte in Sinne Mills auf den Satz reduzieren: Nützliches erscheint dann als gerecht, wenn mir

52 Mill, 2003, S. 222-223 (1976, S. 84-88). 53 Mill, 2003, S. 217-219 (1976, S. 75-78). 54 Mill, 2003, S.219f. (1976, S. 78-80). 55 Mill, 2003, S.223; 225 (1976, S. 86-87; 91).

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im Rahmen einer allgemeinen Nützlichkeitsordnung durch die Pflichtverletzung einer anderen Person ein Unrecht geschieht und ich einen Rechtsanspruch darauf habe, mein Recht erzwingen zu lassen: „Ein Recht zu haben bedeutet demnach, etwas zu haben, das mir die Gesellschaft schützen sollte, während ich es besitze. Wenn nun jemand fragt, warum sie das tun sollte, kann ich keinen andern Grund nennen als die allgemeine Nützlichkeit."56 Die Gefühle der Dringlichkeit und Intensität, die das Gerechtigkeitsgefühl begleiten, führt Mill im Anschluss an Adam Smith57 zurück auf zwei Gefühle: das Gefühl der Empörung über ein erlittenes Unrecht, das Bestrafung verdiene, und das Gefühl der Sympathie, das die Menschen zur Gemeinschaft verbinde: „Wenn der Gerechte in Zorn gerät, dann gegen den Schaden, der der Gesellschaft zugefügt wird."58 Der Zorn richte sich gegen den, der gegen das Gesamtinteresse der menschlichen Gemeinschaft verstoße, insbesondere dann, wenn dabei Grundbedürfnisse der Existenz betroffen seien. Denn das Interesse, um das es letztlich gehe, sei „das Interesse an Sicherheit, in jedermanns Augen das wesentlichste unter allen Interessen."59 Der Anspruch an die Mitmenschen, sich an der Sicherung dieser absoluten Grundlage unserer Existenz wirksam zu beteiligen, nehme eine Unbedingtheit an, die ihn als eine von allen empfundene moralische Unbedingtheit erscheinen lasse.60 Mills Begriff des Gerechten erscheint somit als ein zwangsbewehrtes Recht auf innere und äußere Verteidigung fundamentaler gemeinschaftlicher Sicherheitsinteressen. Das Gerechtigkeitsgefühl wird zum solidarischen Zorn. Damit entpuppt sich aber das Schwert der Iustitia als das Schwert der Fortitudo, während Augenbinde und Waage zu 56 „To have a right, then, is, I conceive, to have something which society ought to defend me in the possession of. If the objector goes on to ask why it ought, I can give him no other reason than general utility." Mill, 2003, S. 2 2 6 (1976, S. 93). 57 Smith, Adam, 1976, Theory of Moral Sentiments, ed. by D. D. Raphael/A. L. Macfie,, Oxford (dtsch.: 1994, Theorie der ethischen Gefühle, hrsg. v. W. Eckstein, Hamburg: Meiner), Zweiter Teil - wobei für Smith die entscheidende Instanz für die Billigung eines auftretenden Zorns bzw. Vergeltungsgefühls stets das Urteil des unparteiischen Beobachters ist, dem jedermann zustimmen würde: ebd. passim. 58 „just persons resenting a hurt to society" Mill 2003, S.225 (Übersetzung Birnbacher, in: Mill, 1976, S.90). 59 „The interest involved is that of security, to every one's feeling the most vital of all interests." Mill, 2003, S . 2 2 6 (1976, S.94). 60 „The feelings concerned are so powerful, and we count so positively on finding a responsive feeling in others (all being alike interested), that ought and should grow into must, and recognized indispensability becomes a moral necessity [...]" Mill, 2003, S. 2 2 7 (1976, S.95).

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sekundären Attributen der Anwendung degradiert werden. Vornehmlicher Zweck des Zwanges ist die solidarische Verteidigung grundlegender Interessen, die als berechtigt empfunden werden oder gesetzlichen Schutz genießen.

6. Zwei Leistungen des Rechts Entsprechend dem zweifachen Zweck des Zwanges lassen sich nun auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht zwei Ursprünge einer Rechtsordnung unterscheiden. Zum einen entzündet sich die Frage nach der Gerechtigkeit spätestens seit Trasymachos und Protagoras an dem sozialgeschichtlich irgendwann auftretenden Phänomen der Gesetzgebung durch einen politischen Gesetzgeber. Entsprechend konzentriert sich die Diskussion auf den Nachweis der Legitimität der gesetzgebenden Gewalt. In neuzeitlichen Konzeptionen besteht dieser Nachweis meist in dem Versuch, den ursprünglichen Ubergang von einer vorstaatlichen zu einer rechtlich verfassten Gesellschaft unter Legitimitätskriterien zu rekonstruieren. Ziel dabei ist es aufzuweisen, dass die gesetzliche Ordnung letztlich als eine Vereinbarung aller Betroffenen verstanden werden kann und daher im Prinzip auf dem gemeinsamen Willen aller beruht. Da, vereinfacht gesagt, niemandem mit eigenem Willen Unrecht geschieht, bedeutet eine solche Ordnung auch für niemanden ein Unrecht und kann daher als gerecht gelten. In dieser Perspektive erscheint jedoch regelmäßig der Begriff des Gleichvielen als ein sekundärer und schwierig zu integrierender Aspekt. Dem steht sozialgeschichtlich der umgekehrte Weg gegenüber, auf den Frank Crüsemann in seiner Rekonstruktion der biblischen Rechtsgeschichte aufmerksam gemacht hat.61 Liest man mit ihm die Geschichte des alten Israel nicht nach dem kanonischen Sinn der erzählten Geschichte, sondern auf der Grundlage der exegetisch rekonstruierbaren Datierung der Texte als ein historisches Selbstprotokoll einer konkreten Gesellschaftsentwicklung, dann lässt sich der Weg der altisraelischen Gesellschaft schrittweise verfolgen als Wandel vom Nomadenclan zu sesshaften Bauern, von einem losen Sippenverbund zum gemeinsamen Volksbewusstsein, von der dezentralen Assoziation zum zentralen Staatswesen, von der Agrar- zur Stadtkultur, von der Tausch61 Frank Crüsemann, 1992, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München: Chr. Kaiser.

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zur Geldwirtschaft sowie von eher ausgeglichenen zu erheblich differierenden Macht- und Vermögensverteilungen. Die Konflikte, die sich dabei ergeben, erfordern zunehmend die Einrichtung besonderer Schiedsinstanzen. Aus der ursprünglichen Rechtsprechung vor Ort erwächst ein Kasualrecht, das zunächst noch deutlich die Spuren der Präzedenzfälle erkennen lässt, bis schließlich das Bestreben greifbar wird, mit Hilfe eines umfassenden Gesetzeswerkes die wesentlichen Bereiche des gesellschaftlichen Handelns insgesamt gleichsam aus einem Guss neu zu ordnen 62 . Die Einrichtung neuer Handlungsordnungen wird durch Gesetzgebung verfügt, die gelebte Sitte damit vom Recht überformt und die Einhaltung der gebotenen Ordnung über das Instrument der zwangsbewehrten Rechtsprechung durchgesetzt. Neben die Verschriftlichung einer Rechtsprechungspraxis treten nun Vorschriften für die Rechtsprechung. Zugleich sieht sich nun aber sowohl die gelebte Sitte als auch das geltende Recht noch einmal der kritischen Frage der Propheten ausgesetzt, ob es sich um eine gerechte oder ungerechte Sitten· und Rechtsordnung handele. Die nun geforderte sowie die in Jes 42,1 ersehnte endgültige Gesetzgebung erscheint somit als eine umfassend gerechte Rechtsprechung. Diese Perspektive gerät dann mit der gesellschaftlichen Zweckidee des Rechts als eines Instruments der allgemeinen Vorteilssicherung in Konflikt. Dem zweifachen Ursprung der Rechtsordnung entsprechen offenbar zwei grundverschiedene Leistungen des Rechts: die Rechtsprechung als Instrument der Konfliktlösung und die Gesetzgebung als Steuerinstrument einer kollektiven Praxis. Beide Leistungen zeigen ein spezifisch eigenes Profil. Der entscheidende Punkt bei der Rechtsprechung ist der Gang zum Richter: Wo eingespielte Regelungen die aufbrechenden Konflikte nicht mehr lösen können, wendet man sich einer Person zu, die das Vertrauen beider Streitparteien genießt. Diese Person wird um eine unabhängige Beurteilung der Angelegenheit und um einen Vorschlag gebeten, wie in der Sache verfahren werden sollte. Angezielt ist eine Beurteilung des Falls, die möglichst für beide Parteien annehmbar erscheint und insofern den Konflikt zu überwinden vermag. Die Pointe liegt somit darin, dass man einen Konfliktfall durch

einen unparteiischen Dritten beurteilen, die Ansprüche beider Parteien gegeneinander abwägen und den Richter über einen wirksamen Weg zur Überwindung

des Konflikts

entscheiden

lässt. Die richterliche Ent-

62 Nach Crüsemann geschieht dies erstmals durch das deuteronomische Gesetz (ca. 630-606 v. Chr.): Crüsemann, 1992, S. 235-251.

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Scheidung wird ihre konfliktlösende Funktion jedoch nur erfüllen können, wenn sich anschließend auch beide Parteien an die richterliche Entscheidung gebunden fühlen, d. h. wenn der Richterspruch für alle Parteien bindende Kraft hat. Diese Verbindlichkeit erwächst zunächst aus der besonderen Autorität des Richters, die er ursprünglich aufgrund seiner Rolle als unparteiisch abwägender Schlichter innehat. Bis hierher handelt es sich offenbar um nichts weiter als um die institutionelle Inszenierung eines reinen Aktes der abwägenden Vernunft anlässlich eines sozialen Konflikts. Das entscheidende Prinzip ist das sachgemäße und zugleich handlungswirksame Urteil eines wesentlich überparteilichen Beobachters, dessen einziges Ziel die Lösung des Konflikts durch eine ausgewogene Regelung ist. Erst wenn eine der betroffenen Parteien zwar formal die Rolle des Richters und dessen Befugnis zu entscheiden anerkennt, aber nicht inhaltlich dem Spruch des Richters zustimmt, treten gleichsam institutionelle und inhaltliche Geltung auseinander. Die Partei wird die Aufforderung, sich dennoch an die getroffene Entscheidung zu halten, als eine äußere Aufforderung empfinden und die institutionellen Sanktionen, die dem Gericht zur Gewährleistung seiner Wirksamkeit beigegeben sind, als Zwang erfahren. Die primäre Aufgabe der Gesetzgebung als Instrument politischen Handelns ist dagegen die Gestaltung einer sozialen Praxis insgesamt. Eine soziale Praxis besteht im Handeln einer Mehrzahl von Menschen, die sich in ihrem Handeln insofern aufeinander beziehen, als sie in ihrem Verhalten die Intentionen der anderen Handelnden wesentlich berücksichtigen. Die Motive des Handelns aller Betroffenen liegen zunächst in den Interessen der einzelnen Handelnden begründet. Eine konkrete Gesetzgebung kann entweder eine bereits eingespielte Praxisform zu stabilisieren versuchen, indem sie sie ausdrücklich festschreibt; die Betroffenen brauchen dann nicht mehr auf das pochen, was sich gehört, sondern können sich auf ihr Recht berufen. Oder die Gesetzgebung kann versuchen, die gelebte Praxis zu korrigieren, wie man im 19. Jahrhundert etwa das Verbot des Duells gesetzlich durchzusetzen versuchte. In diesem Fall riskiert der Gesetzgeber jedoch einen Konflikt zwischen der gewachsenen Verbindlichkeitsform der gelebten Sitten und der zwangsbewehrten Verbindlichkeitsform des Rechts. In diesem Fall treten auch hier institutionelle und inhaltliche Geltung auseinander. Die sittlich konservative Partei wird die Aufforderung, sich an die neue Gesetzeslage zu halten, als eine äußere Aufforderung empfinden und die angedrohten Sanktionen als Zwang erleben.

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Damit tritt der jeweils dreigliedrige Grundriss beider Rechtsleistungen auseinander: Als Instrument der Rechtsprechung fußt das Recht auf einer prinzipiell überparteiliche Instanz, die auf Ausgeglichenheit abzielt und als Institution zur Gewährleistung von Ausgewogenheiten über Zwangsmittel verfügt. Als Instrument politischen Handelns fußt das Recht auf einer selbst interessierten Instanz, die auf eine möglichst zweckdienliche Einrichtung der sozialen Praxis abzielt und als Institution zur Gewährleistung dieser Einrichtungen mit Zwangsmitteln ausgestattet ist.

7. Gerechtigkeit als Abwägungsproblem Keine moderne Rechtsordnung kann sich dem rationalen Anspruch beider Grundleistungen des Rechts entziehen. Die gesetzliche Ordnung hat eben nicht nur Konflikte zu schlichten. Sie hat auch die Funktionstüchtigkeit, das Fortbestehen oder das Wohlergehen der Gesellschaft zu gewährleisten und bei alledem sich immer auch selbst als Instrument der Gewährleistungen von verbindlichen Konfliktregelungen und als Instrument der Sicherung der gesellschaftlichen Rahmenordnung zu behaupten. Bringt man aber den gerade aufgezeigten Grundriss beider Leistungen des Rechts zur Deckung, entspringen die charakteristischen Interferenzprobleme, an denen sich die Gerechtigkeitsdiskussion von je her abarbeitet: überparteilicher Standpunkt versus kollektives Interesse, Gleichheit versus Gesetzlichkeit und zwei Funktionen des Zwangs. Zudem bleibt der Streit um den Vorrang, d. h. ob man die Rechtsordnung primär als gesetzlich organisierte Praxis unter dem Anspruch gerechter Verhältnisse oder umgekehrt als Einrichtung gerechter Verhältnisse unter den Bedingungen einer gesetzlich organisierten Praxis begreifen sollte. So fehlt es nicht an Versuchen, den jeweils eigenständigen Anspruch beider Seiten aufzuweisen und gegeneinander auszuspielen, und umgekehrt nicht an Bemühungen, die wesentlichen Momente beider Seiten des Rechts aufeinander zu beziehen. Und schließlich bleibt die Frage offen, in welchem Maße die Rechtsordnung als Freiheitsordnung secundum quid immer noch einmal bestimmten fundamentalen Restriktionen moralischer Grundansprüche unterliegt. Um abschließend das Profil des Abwägungsproblems zu skizzieren, das sich angesichts der Gerechtigkeitsfrage stellt, sei zunächst zwischen einer handlungstheoretischen Ebene der sozialen Praxis und der

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institutionellen Ebene des Recht unterschieden. Grundlegend ist der handlungstheoretische Sachverhalt, dass jede konkrete Handlung nur dann sinnvoll erscheint, wenn sie vom Handelnden aus eigenem Urteil bejaht werden kann, wenn sie auf ein sinnvoll erscheinendes Ziel bezogen ist, und wenn die dafür notwendigen Mittel erreichbar scheinen. Alles Handeln bliebe ohne eine persönliche Bejahung des eigenen Tuns unmenschlich, ohne erreichbares Ziel sinnlos und ohne die erforderlichen Mittel utopisch.63 Entsprechend wird konkrete Freiheit dann zerstört, wenn man dem menschlichen Handeln die Möglichkeit der Selbstbejahung, die Aussicht auf Erfüllung oder die notwendigen Mittel vorenthält. Alle drei Momente besitzen zugleich eine eminente soziale Dimension: Die wechselseitige Anerkennung der menschlichen Freiheitsfähigkeit stützt und stärkt das Selbstwertgefühl des Menschen als Person; die soziale Praxis ermöglicht die konkrete Verfolgung persönlicher Lebensziele, und sie gewährleistet die dafür notwendigen Mittel. Offen ist wie bei der individuellen Lebenspraxis die jeweils konkrete Gestaltungsweise. Jedoch unterliegen auch hier die möglichen Praxisformen prinzipiell derselben dreifachen Restriktion: Konkrete soziale Praxis wird als menschliche Praxis zerstört, wenn man einzelnen Handelnden die Möglichkeit der Selbstbejahung, die Aussicht auf Erfüllung oder grundlegende Mittel für den Gebrauch konkreter Freiheit vorenthält. Und da sich, wie Kant bemerkt, jedes vernünftige Wesen sein Dasein so vorstellt, so wird jedes vernünftige Wesen, das sich auf diese Momente beruft, auch allen anderen vernünftigen Wesen zugestehen, dass sie sich auf dieselben Momente berufen.64 Damit gelten die genannten Restriktionen strikt universell und erweisen sich damit als normativ einschränkende Bedingung aller informeller oder verfasster Praxisformen. Innerhalb der verbleibenden erheblichen Gestaltungsspielräume wird man dasjenige als gerecht empfinden, was angesichts der bestehenden wechselseitigen Erwartungen und im Rahmen des konkret Möglichen als angemessen oder ausgewogen gelten kann. Das Recht als Institution kann sich nun formell zur Anerkennung grundlegender moralischer Ansprüche verpflichten, indem es etwa die Achtung einer unantastbaren Würde des Menschen als oberste einschränkende Bedingung allen Rechts ausdrücklich in den Rechtskodex 63 Christian Schröer, 1995, Praktische hammer, S. 77-90. 64 Kant, GMS, BA 66.

Vernunft bei Tomas von Aquin, Stuttgart: Kohl-

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aufnimmt. Sodann dient das Recht als solches sowohl der konkreten Ausgestaltung als auch der relativen Ausgewogenheit der sozialen Praxis, und es meldet schließlich einen weiteren Anspruch in eigener Sache an: Man hat im Anschluss an Kant darauf hingewiesen, dass sich auch konventionelle Formen gemeinschaftlichen Handelns immer auch als Formen verschränkter Freiheit betrachten lassen. Daraus lassen sich nun drei zusätzliche Gesichtspunkte gewinnen, die über den bloß subjektiven Nutzen für alle und über die bloß konventionelle Geltung zweckdienlicher Gesetze hinaus weisen. Zum einen lässt sich die einseitige Missachtung gemeinsam beschlossener Gesetze immer auch als Eingriff in die Freiheit der übrigen Mitglieder bewerten, insofern sich die anderen in ihren Handlungen auf die gesetzlich vereinbarte Praxis verlassen. Betrachtet man aber die Achtung der Freiheit anderer grundsätzlich als einen moralisch begründbaren Anspruch, dann besitzt bereits die Aufforderung zu einem Handeln, das auf einer gesetzmäßigen Vereinbarung beruht, eine formale moralische Qualität. Allerdings macht dieses Kriterium allein aus einer beliebigen konkreten Gesetzeslage noch keine unantastbare moralische Ordnung, da jede Rechtsordnung noch einmal der Kantischen Frage nach einer ausgewogenen Verteilung konkreter Freiheitsanteile unterworfen werden kann. Ein weiteres Argument hängt mit diesem eng zusammen und findet sich in allen vertragstheoretischen Rechtstheorien: Um überhaupt ein Mindestmaß an menschlicher Freiheit gewährleisten zu können, erscheint es geboten, lieber überhaupt eine Ordnung zu haben als überhaupt keine Ordnung. Auch dieses zweite Kriterium rechtfertigt nicht jede Ordnung; denn dass eine Ordnung sein muss, heißt nicht schon, dass auch genau diese eine Ordnung herrschen sollte. Wenn aber überhaupt Freiheitsansprüche verteidigt und überhaupt eine Ordnung gewährleistet werden soll, dann soll und darf offenbar auch das Recht überhaupt für sich selbst die für seine Leistung notwendige Anerkennung verlangen. Zwar rechtfertigt auch dieses dritte Kriterium nicht jede Durchsetzung positiven Rechts; wo es aber seine Funktion auf Gewährleistung aufgibt, gibt es sich selbst als Recht auf. So scheint sich aus diesen drei Kriterien bereits eine dreifache formale Grundforderung für jede Rechtsordnung als solche zu ergeben: Jede Rechtsordnung hat zunächst überhaupt für eine zweckdienliche bürgerliche Ordnung zu sorgen; sie hat auf die Gewährleistung angemessener Freiheitsanteile zu achten, und sie hat den Gebrauch der gesetzlich garantierten Zwecke und Freiheiten vor allen gesetzwidrigen Beeinträchtigungen durch andere zu schützen. Das Recht als Instrument der Gewährleistung sozialer Praxis hat damit

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überhaupt für Gerechtigkeit im Sinne gleicher konkreter Freiheitsanteile, für das Gemeinwohl und für Rechtssicherheit zu sorgen.

Damit erweitert sich am Ende die Zwiespältigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs zu einem Trilemma, das jedem Recht als konkreter Institution innewohnt und auf das am deutlichsten Gustav Radbruch hingewiesen hat:65 Die drei Momente - Gerechtigkeit im Sinne der Ausgeglichenheit konkreter Freiheiten, die Zweckidee des Rechts im Sinne der Ausrichtung auf das Gemeinwohl, und die Rechtssicherheit als formale Grundleistung jeder Rechtsordnung als solcher - sind drei Prinzipien, die für jedes konkrete Recht gelten, sich aber nicht wechselseitig enthalten. Wie erwähnt weist bereits Mill darauf hin, dass es nicht immer ratsam erscheint, alle Verletzungen von an sich schützenswerten Rechten auch rechtlich zu verfolgen.66 Insofern ist gegebenenfalls abzuwägen zwischen dem gemeinsamen Nutzen und der rechtlichen Sicherung von Rechten. In ähnlicher Weise muss ebenfalls abgewogen werden, in welchem Maße die Gleichheit konkreter Freiheit um des gemeinsamen Nutzen willen oder umgekehrt der mögliche gemeinsame Nutzen gegen die Gleichheit konkreter Freiheit oder beides aus Gründen der Rechtssicherheit eingeschränkt werden sollte. Da alle drei Ansprüche nur im Idealfall zugleich erfüllbar sind, stehen sie in einem unvermeidbaren kritischen Verhältnis zueinander und müssen daher in der Regel immer wieder neu gegeneinander abgewogen werden. 67 Die Grenzen dieser Abwägungen werden nach Radbruch schließlich dort erreicht, wo insbesondere das konstitutive Moment der Gerechtigkeit in „unerträglicher" Weise verletzt werde 68 ; dies ist offensichtlich genau 65 Gustav Radbruch, 1999, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), hrsg. von R. Dreier und S. L. Paulson, Heidelberg: Müller, §9, S. 73-77. 66 Mill, 2003, S.221 (1976, S.83). 67 „Unser Ergebnis wäre also dieses, daß die drei Seiten der Rechtsidee: Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Sicherheit des Rechts das Recht nach allen seinen Seiten gemeinsam beherrschen, obgleich sie zueinander in scharfen Widerspruch treten können [...] Wir haben die Widersprüche aufgezeigt, ohne sie lösen zu können. Wir sehen darin keinen Mangel eines Systems. Philosophie soll Entscheidungen nicht abnehmen, sie soll gerade vor Entscheidungen stellen [...] Und wie überflüssig wäre ein Dasein, wenn nicht die Welt letzten Endes Widerspruch und das Leben Entscheidung wäre!" Radbruch, 1999, S.77. 68 „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als .unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat." Radbruch, 1999, S.216.

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dann der Fall, wenn das Recht die basale moralische Restriktion der Achtung der Gleichheit aller Menschen als Zwecke an sich selbst in eklatanter Weise missachtet. Wir wollten Gerechtigkeit - das ist der Appell an den unbedingten und universalen Anspruch der Gerechtigkeit als Grundprinzip sozialer Sittlichkeit - und was kam war der Rechtsstaat - das ist die ernüchternde Einsicht, dass eine konkrete Gerechtigkeitsordnung immer erst mit den endlichen Möglichkeiten einer zweckdienlichen Praxis vermittelt werden muss und, bei aller Unvollkommenheit, der Absicherung der vereinbarten Ansprüche durch eine dazu legitimierten Instanz bedarf. Dennoch bleibt Gerechtigkeit in dieser spannungsreichen Gestalt das Herz jeder Vision. Denn nur eine solche Vision vermag die notwendigen Kräfte und Kompetenzen zu mobilisieren, die nötig sind, um letztlich eine globale Rechtsordnung zu schaffen, die sich zugleich der Ausgeglichenheit konkreter Freiheit, dem gemeinsamen Nutzen aller Menschen und der Absicherung von Grundrechten für jedermann verpflichtet weiß.

Ein dreifacher Vorrang in Bezug auf die Gerechtigkeit VICENTE D U R A N CASAS

1. Einleitung Wenn1 wir unseren normalen Sprachgebrauch bezüglich der Wörter „Gerechtigkeit" und „Ungerechtigkeit" betrachten, so fällt uns als Erstes die Vielfalt an Bedeutungen und Verwendungen auf, die diese Wörter haben und immer gehabt haben. Dasselbe Wort dient uns dazu: 1) um das zu bezeichnen, was ein Richter verwirklicht, wenn er rechtmäßig einen Streit zwischen verschiedenen Personen entscheidet, oder wenn er jemanden verurteilt, der vor einem unparteiischen Gericht eines Verbrechens für schuldig befunden wurde oder von dem festgestellt wurde, dass er sich in irgendeiner Weise strafbar gemacht hat; 2) um die Situation der Armut und sozialen Ungleichheit zu charakterisieren, in der viele Völker auf der Welt leben, wie ζ. B. wenn wir sagen, dass die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede, in denen das lateinamerikanische Volk lebt, eine Situation darstellen, die als „institutionalisierte Ungerechtigkeit" aufgefasst werden muss; 3) um die Anwendung von Regeln und Gesetzen in derselben Weise für alle zu verlangen, ζ. B. wenn wir in einem öffentlichen Wettbewerb nicht akzeptieren, dass einige Teilnehmer nach anderen Regeln behandelt werden oder eine ungerechtfertige Vorzugsbehandlung erfahren; 4) um eine bestimmte moralische Tugend zu identifizieren, die einige Personen besitzen, und die sowohl von den Philosophen als auch von den verschiedenen Religionen unter allen übrigen Tugenden gelobt und herausgehoben worden ist, und die nach Psalm 17 diejenige ist, die uns die Schau des Angesichtes Gottes gewährt; 5) um unser Vertrauen darauf auszudrücken, dass Gott trotz der Unannehmlichkeiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt 1 Der aufrichtige Dank des Verfassers gilt Harald Schöndorf für die deutsche Übersetzung dieses ursprünglich auf Spanisch verfassten Textes.

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am Ende der Zeiten einen letzten und endgültigen Zustand der Dinge herbeiführen wird (eine eschatologische Gerechtigkeit), der hier auf der Erde definitiv unerreichbar scheint. Weniger klar scheint der Gebrauch der Wörter „Gerechtigkeit" und „Ungerechtigkeit", wenn wir damit Situationen kennzeichnen, von denen wir meinen, dass sie nicht so hätten geschehen sollen, oder mit deren Entwicklung wir uns einfach nicht einverstanden oder überrascht erklären, obwohl wir zugleich die Regeln, unter denen dies geschieht, als gerecht ansehen würden. Wenn ζ. B. bei einem Fußballspiel eine Mannschaft neunzig Minuten lang im Angriff stärker als die gegnerische Mannschaft war und sie in gefährliche Situationen gebracht hat, und wenn sie dann am Ende wie durch einen reinen Schicksalsschlag ein Tor hinnehmen muss und so das Spiel verliert, obwohl sie viel öfter ganz nahe am Sieg war als ihr Gegner, dann bezeichnen wir es als „Ungerechtigkeit", dass die Mannschaft, die häufiger angegriffen hat, das Spiel verloren hat, während die andere, die seltener angegriffen hat, die Partie gewonnen hat. Trotzdem geben wir auf der Ebene weiteren kritischen Nachdenkens die Gerechtigkeit der Regeln des Fußballs zu, nach denen diejenige Mannschaft das Spiel gewinnt, die mehr Tore zu erzielen vermag und nicht die, die mehr das gegnerische Tor bedrängt hat. Auch wenn alle diese Gebrauchsweisen der Wörter „Gerechtigkeit" und „Ungerechtigkeit" auf eine Grundverschiedenheit der Bedeutungen zu verweisen scheinen2, lassen sich auch Familienähnlichkeiten3 erkennen, d. h. gemeinsame Züge oder Ähnlichkeiten wie bei den Angehörigen einer Familie. Zahlreiche klassische Philosophen haben gleichwohl versucht, einen allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit zu bilden und vorzulegen. Die Mehrzahl hat dies im Rahmen einer umfassenderen Theorie der Moral und als deren Teil getan.4 In diesen Fäl2 Vgl. Aristoteles zu Beginn des 5. Buches der Nikomachischen Ethik: „Man scheint nun tatsächlich von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in mehrfachem Sinne zu sprechen, nur daß diese Homonymie, diese Verschiedenheit der Bedeutung bei Gleichheit des Wortes, nicht groß ist und sich darum versteckt oder nicht so offen hervortritt wie bei Dingen, die weit von einander liegen." (EN 1129a). - Die N i k o machische Ethik wird nach der von G. Bien hrsg. Ubersetzung von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner, 3 1972 zitiert (Anm. d . Ü . ) . 3 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische

Untersuchungen,

67.

4 So entwickelt Aristoteles seine Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit im Rahmen seiner Theorie der Tugenden (vgl. EN V), ähnlich Thomas von Aquin (S. Th. II-II, 5 7 - 6 2 ) , Thomas Hobbes im Kontext des Leviathan (vom 13. Kapitel an), oder Kant innerhalb des Projekts einer Metaphysik der Sitten.

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len gehört die philosophische Konzeption der Gerechtigkeit zu einem umfassenden Entwurf einer Moralphilosophie, von dem sie ausgeht und auf dem sie aufbaut. Neuere Entwürfe sehen das Problem, das zu lösen ist, vor allem darin, dass in einer wohlgeordneten Gesellschaft die Personen in der Lage sein müssten, sich über den Begriff des Rechten zu einigen, und zwar unabhängig davon, welche Auffassungen davon sie hatten, was gut ist, d. h. unabhängig von ihrem religiösen Glauben oder von ihrer weltanschaulichen Auffassung vom Sinn des Lebens, der Transzendenz usw.5 Aber auch eine solche Einigung setzt voraus, dass entweder alle Betroffenen bestimmte Grundprinzipien der Gerechtigkeit akzeptieren oder dass alle Gerechtigkeitsüberzeugungen zumindest miteinander verträglich sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit und ihrem Vorrang. Dazu will ich im Folgenden drei Hypothesen vertreten: 1) die Gerechtigkeit besitzt einen Vorrang innerhalb der übrigen Tugenden und innerhalb jeglicher Tugendethik; 2) die Gerechtigkeit der politischen Institutionen besitzt einen Vorrang vor der Gerechtigkeit als persönlicher Tugend; 3) die philosophische Begründung der Gerechtigkeit besitzt einen Vorrang vor ihrer theologischen Begründung.

2. Der Vorrang der Gerechtigkeit als Tugend Es besteht kein Zweifel daran, dass das 19. und 20. Jahrhundert wenig Sinn für die Tugendethik hatten. Es waren die Jahrhunderte der Analyse der Möglichkeiten des moralischen Sprechens (G. E. Moore und die Metaethik), das Jahrhundert der Ethik als Zusammenfassung der moralischen Pflichten (infolge des Einflusses des Neukantianismus) und das Jahrhundert der Institutionalisierung und Bürokratisierung des menschlichen Verhaltens. In diesem Sinn verstehe ich die Kohärenz und Ähnlichkeit eines großen Teils der Werke von einander so unähnlichen Autoren wie Max Weber und Franz Kafka. Die persönlichen Tugenden, die seit Aristoteles im Zentrum der Analyse des menschlichen Verhaltens gestanden hatten, erlangten nicht nur eine zweitrangige Bedeutung, sondern wurden einer Logik unterworfen, die über ihnen 5 Vgl. etwa den Ansatz von John Rawls, 1971, vi theory of justice, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press; dt.: 1975, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 50.

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stand und sie einschloss. Wenn es weiterhin Teil des Lebensideals war, eine tugendhafte Person zu sein, so handelte es sich um Ideale, mit denen sich eher die Religion als die Ethik zu beschäftigen hatte. Die philosophischen und rationalen Grundlagen des tugendhaften Lebens erwiesen sich nicht als so stark und durchschlagend wie die der kalten Begriffsanalyse oder der Analyse des Sein-Sollens, wobei in der Mehrheit der Fälle die unstrittigen sozialen Bedürfnisse zum Ausgangspunkt genommen wurden. Der Begriff des Fortschritts drang in die Ethik ein und bestimmte ihre Richtung. Nicht von ungefähr wurde der Utilitarismus eine der, Schulen, die am meisten die Entwicklung der westlichen Gesellschaften voranbrachte und antrieb. Die persönliche Tugend hatte sich an der Menge des Wohlstandes zu messen, der in einem selbst und in den anderen erzeugt wurde. Das Glück wurde mit dem Fortschritt gleichgesetzt. Die Reaktion angesichts einer solchen Ungereimtheit ließ nicht auf sich warten. Auch wenn ich den größten Teil der Auffassungen von Alasdair Maclntyre nicht teile, so bin ich doch darin mit ihm einverstanden, dass eine Diagnose der Ethik in der Moderne, vor allem aber im 20. Jahrhundert, die beunruhigende Feststellung eines fast völligen Verlustes der Tugend als grundlegendem ethischen Horizont einschließen muss 6 . Nach der moralischen Katastrophe, die der Holocaust bedeutete, war nicht mehr zu bestreiten, dass ein Mehr an Besitz, Wissen und Macht die Menschen nicht notwendigerweise besser macht. Die politischen Tugenden, die einen guten Bürger ausmachen, sind kein Ersatz für jene anderen herkömmlichen familiären und gemeinschaftlichen Tugenden, die eine Person zu einer guten Person machen. Die gerechten Institutionen tilgen nicht die Gerechtigkeit als persönliche Tugend, sondern setzen sie im Gegenteil voraus. Dass die Wirtschaft in den Händen der Klügsten liegt, stellt für uns keine Beruhigung dar, denn heutzutage müssen wir auch dessen gewiss sein, dass sie in den Händen vertrauenswürdiger Personen ist, in den Händen von Leuten, die bestimmte moralische Werte wie die Menschenrechte der ersten, zweiten bis hin zur dritten Generation ernst nehmen. Dasselbe gilt für die neuen technischen Errungenschaften, die Möglichkeiten der Genetik, die Bioethik wie auch im Blick auf die Krise der Umwelt und auf 6 Vgl. Alasdair Maclntyre: After Virtue. Α Study in Moral Theory, University of N o tre Dame Press, Notre Dame, Indiana 1981. Es ist bemerkenswert, dass dieses Werk auf Deutsch mit einem Untertitel erschienen ist, der ganz anders lautet als im Original: Nach der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988.

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die Probleme der Ökologie: Hoffentlich werden die Entscheidungen in diesen Bereichen von Menschen getroffen, die mit uns bestimmte Werte teilen, und nicht von Menschen, die ihre Kenntnisse dem je besten Anbieter verkaufen. Die vorausgehenden Erörterungen erklären, wenn auch nur teilweise, wieso viele zeitgenössische Philosophen, vor allem in der angelsächsischen Welt, darauf hinweisen, wie wichtig es ist, das Thema der Tugend im Allgemeinen und einiger Tugenden im Besonderen wieder aufzugreifen und neu zu bedenken 7 . Bei diesen Autoren zeigt sich eine symptomatische Unzufriedenheit mit vielen Aspekten, die für die moderne Moralphilosophie typisch sind, vor allem mit dem Formalismus und Rigorismus Kantischen (oder richtiger: neukantianischen) Ursprungs, dem Positivismus, dem Utilitarismus und ganz allgemein mit jeder ethischen Position, die den Akzent auf das Tun, das Sollen und das Ergebnis der Handlung legt, während sie den Wert des tugendhaften Seins und der Forderung nach persönlichen Qualitäten als Garantie für ein moralisches Leben, das der Gesellschaft förderlich ist, vernachlässigt oder schmälert. Es geht im Letzten um eine Kritik an der modernen Moralphilosophie, und in einigen, wenngleich nicht allen Fällen, um sorgfältige Versuche, zu einem bestimmten Typ vormoderner Auffassungen von dem, was das gute Leben ist, zurückzukehren. Andererseits erweisen sich die Herausforderungen der gegenwärtigen Welt im Bereich der Berufsethik, der Bioethik und der angewand7 Oxford University Press veröffentlichte 1997 in ihrer Reihe Oxford Readings in Philosophy einen Band mit dem Titel Virtue Ethics, hrsg. von Roger Crisp und Michael Slote, der dreizehn philosophische Arbeiten über das Thema der Tugend enthält, von denen wir auf folgende hinweisen wollen: G. Ε. M. Anscombe: Modern Moral Philosophy, Alasdair Maclntyre: The Nature of the Virtues·, Michael Stocker: The Schizophrenia of Modern Ethical Theories·, John McDowell: Virtue and Reason·, Philippa F o o t : Virtues and Vices; Jerome B. Schneewind: The Misfortunes of Virtue·, R o bert B. Louden: On Some Vices of Virtue Ethics·, Michael Slote: Agent-Based Virtue Ethics. Ebenso veröffentlichte der Verlag Reclam (Stuttgart) 1998 ein Buch Tugendethik, hrsg. von Klaus Peter Rippe und Peter Schaber, in dem außer der deutschen Ubersetzung einiger der in dem vorhergehenden Werk genannten Artikel folgende Arbeiten enthalten sind: Otfried Höffe: Aristoteles' universalistische Tugendethik·, Martha Nussbaum: Nicht-relative Tugenden - Ein aristotelischer Ansatz·, Martin Honecker: Schwierigkeiten mit dem Begriff Tugend. Die Zweideutigkeit der Tugend. Auf spanisch gibt es seit 1994 das Werk von Philippa F o o t , Las virtudes y los vicios y otros ensayos de filosofia moral, das die Universidad Nacional A u t o n o m a de Mexico, Mexico, herausgebracht hat. Das jüngst erschienene Werk von Martin Rhonheimer, Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik (2001, Berlin: Akademie Verlag), kann als einer der wichtigsten und bedeutendsten zeitgenössischen Beiträge zum Thema der Tugendethik betrachtet werden.

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ten Ethik überhaupt als unlösbar, wenn man nicht auf die eine oder andere Weise zum alten Thema der Tugenden zurückkehrt. Zwar ist das Recht ein Feld unbestreitbarer und unaufgebbarer Wichtigkeit für die angemessene und zuträgliche Organisation des sozialen Lebens, aber es ist nach der Meinung vieler Philosophen immer dann unzureichend, wenn, wie dies gerade Kant sehr gut gesehen hat, die ethischen Forderungen, die von der Vernunft begründet werden können, weiter gehen als jene, die sich aus dem positiven Recht ergeben 8 . Dies ist der Grund dafür, dass viele dazu aufrufen, sehr konkrete - alte und moderne - Tugenden, die von unbestreitbarem sozialen Wert sind, wie die Solidarität, die Loyalität, die Mäßigung, die Achtung, die Sparsamkeit, die Tapferkeit, die Klugheit und natürlich die Gerechtigkeit, jene Tugend, von der ich behaupte, dass sie den Vorrang vor den anderen hat, wieder zu aktualisieren und neu zu überdenken. Worin besteht dieser Vorrang? Wahrscheinlich in nichts anderem als in dem, was Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik sagt, wenn er schreibt, dass die Gerechtigkeit „oft für die vorzüglichste der Tugenden" gilt, „für eine Tugend so wunderbar schön, dass nicht der Abendund nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt" (1129b), wahrscheinlich ein Zitat aus Melanippe, einer verlorenen Tragödie des Euripides 9 . Aber es handelt sich hier nicht um bloße Rhetorik oder um lyrische Begeisterung für die Gerechtigkeit. Denn anschließend fährt der Stagirite wie folgt fort: „sie gilt als die v o l l k o m m e n s t e T u g e n d , w e i l sie die A n w e n d u n g d e r v o l l k o m m e n s t e n T u g e n d ist. V o l l k o m m e n ist sie aber, weil i h r I n h a b e r die T u g e n d a u c h g e g e n a n d e r e a u s ü b e n k a n n u n d n i c h t b l o ß f ü r s i c h selbst. [...] E b e n d a r u m s c h e i n t a u c h die G e r e c h t i g k e i t allein u n t e r d e n T u g e n d e n ein f r e m d e s G u t z u sein, weil sie sich a u f a n d e r e b e z i e h t . [...] D i e g e s e t z l i c h e G e r e c h t i g k e i t ist d e m n a c h kein b l o ß e r Teil d e r T u g e n d , s o n d e r n die g a n z e Tugend [...]." ( E N

1129b-1130a)

8 „Die Rechtslehre hatte es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d.i. mit dem Recht zu tun. Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird, an die H a n d . " (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre I., A A VI, S. 380) Diese Zwecke, die nach Kant zugleich Pflichten sind, stellen die Tugendpflichten dar: die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. 9 Vgl. Anmerkung von Julio Palli Bonet zur Ausgabe der Nikomachischen Verlag Editorial Gredos, Madrid 1985, S.239.

Ethik im

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Die Idee des Aristoteles ist, dass derjenige, der die Tugend der Gerechtigkeit besitzt, sich eine Gewohnheit oder eine Seinsweise10 zugelegt hat, die es ihm erlaubt, alle übrigen Tugenden auszuüben und zu leben, und zwar besonders diejenigen, die ihn mit den übrigen Menschen in Beziehung bringen. In diesem Sinn zitiert Aristoteles Theognis von Megara, einen griechischen Dichter vom Ende des 6. Jahrhunderts: „in der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten" ( E N 1129b). In derselben Gedankenrichtung haben wir die Behauptung des Thomas von Aquin zu verstehen: „ D i e Gerechtigkeit hat u n t e r den a n d e r e n T u g e n d e n die Eigentümlichkeit, d e n M e n s c h e n in all d e m z u o r d n e n , w a s s i c h a u f d i e a n d e r e n b e z i e h t . D i e s s e t z t eine g e w i s s e G l e i c h h e i t v o r a u s , w i e das W o r t selbst b e z e u g t . D e n n m a n s p r i c h t v o n . j u s t i e r e n ' [ G e r e c h t i g k e i t = lat. justitia, A n m . d. Ü . ] , w e n n m a n z w e i D i n g e einander angleicht; u n d die Gleichheit bezieht sich i m m e r auf die a n d e r e n . " ( S . T h . I I - I I , q . 5 7 )

So verstanden, passt die Gerechtigkeit an, stellt sie Ubereinstimmung her, harmonisiert sie das Zusammenwirken der verschiedenen Personen innerhalb des sozialen Verbundes. Ohne sie geriete das Gesamt des Zusammenwirkens aus der „Justierung", es wäre nicht angeglichen, d. h. es wäre nicht gerecht. In diesem Sinn ist die Gerechtigkeit diejenige persönliche Tugend, die sich auf das menschliche Zusammenleben bezieht. Die Gerechtigkeit ist nämlich die Tugend, die einer Person einen angemessenen - gerechten - Umgang mit den anderen ermöglicht, und darum ist sie, obwohl sie eine persönliche Tugend ist, d. h. eine Tugend, die in den Personen wurzelt, die soziale Tugend schlechthin. Ein Mensch, der allein auf einer Insel ist, hat keine Möglichkeit, gerecht oder ungerecht zu sein. Dagegen hat ein wirklicher Mensch bei jeder Beziehung, die er zu anderen Menschen aufnimmt, die Möglichkeit, gerecht oder ungerecht zu sein. Der natürliche Ort für die Ausübung der Gerechtigkeit - und der Ungerechtigkeit - sind die Beziehungen zwi10 „Modo de ser" (Seinsweise) ist die spanische Übersetzung von hexis, die Emilio Lledo fnigo in der bereits erwähnten Ausgabe des Verlags Gredos vorgeschlagen hat. Die Ubersetzung von größerem historischen Gewicht ist das aus dem Latein genommene habitus, das Thomas von Aquin gebraucht hat, und dieser Ausdruck findet sich in der Ubersetzung von Lilia Segura (Cläsicos Jakson, Buenos Aires 1952). Die spanische Ausgabe des Verlags Editorial Universo (Lima, Peru, 1970), die den Ü b e r setzer nicht nennt, übersetzt hexis mit „moralische Qualität", was zwar eine Ü b e r treibung darstellt, aber eine mögliche Bedeutung von „Tugend" angibt. Es ist interessant, dass die deutsche Übersetzung der Nikomachischen Ethik von Eugen Rolfes, Verlag Felix Meiner (Hamburg, 1985), das lateinische Wort „habitus" beibehält.

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sehen den Personen. Nur auf diese Weise erklärt sich, dass Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik seine Theorie über das Geld einfügt: dieses existiert nämlich, damit ein gerechter Güteraustausch möglich wird, d. h. damit ein gemeinsames Maß für alle Produkte des Austausche existiert und damit bei diesem Austausch niemand benachteiligt oder bevorzugt wird und so die Gleichheit zerstört würde: „Das Geld macht also wie ein Maß alle Dinge kommensurabel und stellt dadurch eine Gleichheit unter ihnen her. Denn ohne Austausch wäre keine Gemeinschaft und ohne Gleichheit kein Austausch und ohne Kommensurabilität keine Gleichheit." ( E N 1133b).

Als Habitus oder Seinsweise kann die Gerechtigkeit nicht mit einer einzelnen Tätigkeit oder mit einem einzelnen Handlungstyp identifiziert werden. Wenn das Tun des Gerechten kein Habitus ist, sondern zufällig, oder wenn die Verwirklichung des Gerechten kein Resultat einer Seinsweise darstellt, sondern aus der Furcht vor Strafe oder aus dem Wunsch nach einem Lohn entspringt, so kann man nicht von der Tugend der Gerechtigkeit sprechen. In Kantischer Sprache würde Aristoteles sagen, dass die bloße äußere Gleichförmigkeit meiner Handlung mit dem Gesetz mich nicht notwendigerweise gerecht macht. Thomas von Aquin sagt wörtlich, dass „die Gerechtigkeit im Strebevermögen wie in ihrem Subjekt gründet" (S. Th. I I - I I , q. 58, a. 4). D. h. dass die Gerechtigkeit als Tugend geliebt und erstrebt wird, dass sie das Ergebnis eines intentionalen Aktes ist. Man liebt sie, man erstrebt sie, und man erlangt sie. In unseren sozialen Beziehungen wird die Gerechtigkeit geübt oder unterlassen. Ohne in den Kantischen Formalismus zu verfallen, zu dem sie eine Alternative werden kann, sondern in der Aufnahme der berühmten und polemischen Formulierung „aus Achtung fürs Gesetz" könnten wir sagen, dass die Tugend der Gerechtigkeit darin zum Ausdruck kommt, dass unsere Taten nicht nur gerecht sind, sondern dass sie aus Achtung vor der Gerechtigkeit geschehen. Die zentrale Stellung der Tugend der Gerechtigkeit bei Aristoteles lässt sich in diesem Sinn mit der Heiligkeit des Sittengesetzes bei Kant vergleichen. Wer die Tugend der Gerechtigkeit besitzt, hat die Fähigkeit, die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit eines positiven Gesetzes zu unterscheiden (man denke an die Rassengesetze Hitlers), wer sie jedoch nicht besitzt, hat diese Fähigkeit nicht. Wer diese Tugend besitzt, liebt das Gerechte und hasst das Ungerechte als eine Tendenz, als ein Habitus oder eine eigene Seinsweise. Wer diese Tugend besitzt, mag zwar in seinen Händen die Macht und die Fähigkeit besitzen, ungerecht zu handeln, aber er wird dennoch nicht so handeln, weil dies nicht seiner

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Seinsweise oder seiner Weise, sich mit den anderen in Beziehung zu setzen, entspricht. Es ist gut möglich und sehr wahrscheinlich, dass einige Personen oder menschliche Gemeinschaften aus dem wertenden oder kulturellen Horizont heraus, in dem sie sich befinden, der Meinung sind, dass bestimmte andere Tugenden als die Gerechtigkeit höhere moralische Gehalte in sich bergen als die Gerechtigkeit. Dies ist etwa bei denen der Fall, die beispielsweise meinen, dass die Tugend des Gehorsams gegenüber göttlichen Weisungen nicht durch die menschliche Gerechtigkeit begrenzt werden könne, wie in der wohlbekannten Geschichte Abrahams, der dazu bereit war, seinen Sohn Isaak aus dem einzigen Grund zu opfern, weil Gott ihn so „auf die Probe stellte" (Gen 22,1 ff.). Es sind genau solche Beispiele, mit denen das Verständnis für den Vorrang der Gerechtigkeit vor anderen moralischen Tugenden beginnt. Es mag sein, dass die Gerechtigkeit nicht der allumfassendste moralische Begriff ist, wie dies sehr wohl Piaton sah und woran uns Iris Murdoch erinnert sowohl in ihren Romanen als auch in ihren philosophischen Schriften. 11 Der Wille eines höheren Wesens, an dessen Existenz man fest glaubt, besitzt eine größere Reichweite als die unserer Ideen und Vermutungen über das Gerechte. Und es ist wahr, dass ein aus sich selbst existierender Gott mehr Furcht und Ehrfurcht hervorruft als unsere geistigen Entwürfe. Aber es ist möglich, dass eben genau aus diesem Grund die im Lauf der Geschichte von der Menschheit herausgebildete Gerechtigkeit fähig ist, einem solchen absoluten Verständnis der Wirklichkeit Grenzen zu setzen. Ein göttlicher Wille, der nicht an der menschlichen Kategorie der Gerechtigkeit gemessen - und zugleich durch sie begrenzt - wird, kann sich in eine ungeheuerlich ungerechte

11 Vgl. Iris Murdoch, 2001, The Sovereignity of Good over other moral concepts, London and New York: Routledge Classics. Für Murdoch besitzt allein die Idee des Guten, wenn sie in unabhängiger und souveräner Weise in Bezug zu anderen moralischen Ideen, wie der der Gerechtigkeit, konzipiert wird, jene „unifying power" (S. 92), die zur Führung eines kohärenten moralischen Lebens notwendig ist, das wirklich ehrlich und sinnerfüllt ist: „We are admittedly specialized creatures where morality is concerned and merit in one area does not seem to guarantee merit in another. The good artist is not necessarily wise at home, and the concentration camp guard can be a kindly father" (S. 94). Ebenso wie für Piaton stellt für Murdoch die Idee des Guten nicht nur eine moralische Vorzüglichkeit dar, die keine andere Tugend - auch nicht die Gerechtigkeit - zu enthalten vermag; sie geht sogar soweit zu sagen, dass einige Tugenden, wie der Mut, die Kühnheit und die Verwegenheit sich in etwas äußerst Gefährliches und Schädliches verwandeln können, wenn sie von der Idee des Guten abgekoppelt werden (S. 99).

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Tyrannei verwandeln. Aber hierauf werden wir später noch zurückkommen. Für jetzt mag es genügen, dass der Vorrang der Tugend der Gerechtigkeit sich auf jene Gesamtheit von Tugenden erstreckt, die anscheinend höher sind, und die wir mit Lebensweisen zu verbinden pflegen, die den tiefsten Uberzeugungen der Personen entspringen. Wenn die moralischen Tugenden religiösen Glaubensüberzeugungen und Praktiken zur Grenze werden können, so liegt dies daran, dass die Gerechtigkeit in der Gesamtheit der moralischen Tugenden einen Vorrang besitzt, der unaufgebbar ist. Ein gerechter Mensch ist ein Mensch, der die Gesetze befolgt, wenn er weiß, dass sie gerecht sind, und der versucht, sie zu verändern, wenn er weiß, dass sie es nicht sind, oder dass sie gerechter sein könnten. Was der gerechte Mensch nicht hinnimmt, ist, dass jemand gut sein will, ohne dass er die Notwendigkeit sieht, die Gesetze zu befolgen, wie wenn ihn sein Gutsein auf einer höheren Ebene jenseits des Gesetzes ansiedeln würde, während dies für die anderen nicht gilt. Eine gerechte Person ist eine politische Person. Sie ist nicht eine Person, die sich paternalistisch verhält. Es hätte wenig Sinn zu behaupten, dass jemand gerecht ist, aber nicht gut, während man sehr wohl von jemandem behaupten kann, dass er nicht gerecht ist, obwohl er gut ist, oder gerade, weil er zu gut ist. 2 « gerecht kann man jedoch nicht sein: Auch dies sah schon Aristoteles sehr klar, insofern er der Meinung war, dass die Tugend der Gerechtigkeit sich von den übrigen Tugenden dadurch unterscheidet, dass sie nicht eine Mitte zwischen zwei Extremen ist, sondern ein Habitus, eine Seinsweise, durch die man fähig ist, das Gerechte zu bewirken, zu tun und zu wollen 12 , während die anderen Tugenden eine Mitte „zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus" sind, „dem Fehler des Ubermaßes und des Mangels" 13 . Während beispielsweise in Bezug auf die Ehre das Ubermaß die Ruhmsucht darstellt und den Mangel der Kleinmut, wobei die Mitte zwischen beiden die Großherzigkeit bildet, ist es klar, dass ein Übermaß oder ein Mangel an Gerechtigkeit in einer Person ihr Gegenteil darstellt. „Der Richter war sehr nahe daran, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" kann heißen, dass er mir ein großes Unrecht angetan hat. Die Tugend der Gerechtigkeit bewirkt das menschliche Gemeinwohl im Ausgang von der Person, nicht von der sozialen Struktur, denn sie ist eine persönliche Tugend. Der Vorrang der Gerechtigkeit als Tu12 Vgl. Aristoteles, EN 1129a, 7. 13 Aristoteles, EN 1107 a.

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gend will besagen, dass der Gerechte durch seine Seinsweise danach strebt, alle übrigen moralischen Tugenden zu leben. Wer gerecht ist, lügt nicht, betrügt nicht, schwindelt nicht, benützt nicht die anderen nach Lust und Laune, übertreibt nicht mit seinen Forderungen und erpresst niemanden, tötet nicht und verletzt niemanden, und nimmt überhaupt keine feindliche Haltung gegenüber den anderen ein, und dies alles aus einem ganz einfachen Grund: weil in all diesen Handlungen eine Ungerechtigkeit enthalten ist, die seiner Seinsweise entgegensteht. Für Thomas von Aquin „übertrifft die Gerechtigkeit die übrigen moralischen Tugenden in Bezug auf ihr Ziel, das das Gemeinwohl ist" 14 . Ohne die Gerechtigkeit wären viele Tugenden keine moralischen Tugenden, denn, wie Thomas von Aquin unter Verweis auf Cicero sagt: „Der Glanz der Tugend ist ein überragender bei der Gerechtigkeit, durch die die Menschen gut werden" 15 . Die Ausübung anderer Tugenden ohne das Vorhandensein der Gerechtigkeit nähme diesen Tugenden ihren moralischen Wert. Heutzutage wissen wir, dass die Erkenntnis ohne die Tugend der Gerechtigkeit gefährlich werden kann. Thomas von Aquin sagt sogar, dass die Großherzigkeit „ohne die Gerechtigkeit überhaupt keine Tugend wäre", und er sagt, dass die Tugend der Tapferkeit der Gerechtigkeit untergeordnet ist, was sich an der Tatsache zeigt, dass „die Starken ihren Dienst für den Krieg leisten, und die Gerechten im Krieg wie im Frieden" 16 . Auf diese Weise ist die Gerechtigkeit nicht nur die erste der Tugenden, weil sie die sozialste aller persönlichen Tugenden ist, sondern sie hat den Vorrang inne, weil ihr Vorhandensein die natürlichen Veranlagungen der Person in moralische Tugenden verwandeln kann, und darum erfüllt sie dieselbe Funktion, die im Denken Kants das Sittengesetz erfüllt: alles, was ohne sein Vorhandensein einfach nur natürlich wäre, in Moral zu verwandeln.

3. Der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit Hier dürfte der Perspektivenwechsel wohlbekannt und höchstwahrscheinlich mit Problemen behaftet sein. Wenn der geschichtliche philosophische Horizont für die Festlegung des Vorrangs der Gerechtigkeit als persönlicher Tugend die Antike und das Mittelalter war (Aristoteles 14 S.Th. II-II, q. 58, a. 12. 15 Ebd. Vgl. Cicero: De officiis, Buch I, Kap. VII. 16 S.Th. II-II, q. 58, a. 12.

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und Thomas von Aquin), so ist der nunmehrige Horizont unausweichlich modern, vertragstheoretisch und zeitgenössisch (Hobbes, Kant, Rawls). Es handelt sich um eine Herausforderung: Es ist die Möglichkeit zu erkunden, in Kontinuität zu dem bisher über die persönliche Gerechtigkeit Gesagten, d. h. ohne ihm zu widersprechen, die These zu vertreten, dass die Gerechtigkeit zwar als persönliche Tugend innerhalb einer Theorie der Tugenden den Vorrang genießt, dass aber auf einer umfassenderen Ebene die institutionelle oder politische Gerechtigkeit den Vorrang vor der Gerechtigkeit als persönlicher Tugend innehat. Ein Großteil der politischen Ethik und Philosophie der Moderne baut auf dieser Voraussetzung auf oder versucht, diese Idee zu begründen. Im Grunde handelt es sich dabei um einen Widerhall und um die Erforschung der Konsequenzen des wohlbekannten Satzes, mit dem die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls beginnt: ,Justice is the first virtue of social institutions, as truth is of systems of thought",7. Diese Wende in der Konzeption des Begriffs der Gerechtigkeit, die unserer Auffassung nach mit Hobbes beginnt, bei Locke, Rousseau und Kant ihren Reifezustand erreicht und ihre höchste Ausfaltung bei Rawls erlangt, könnte auch als vertragstheoretische Wende des Gerechtigkeitsbegriffs charakterisiert werden. Dahinter verbirgt sich ebenso wie beim Denken Augustins von Hippo ein gewisser Pessimismus in Bezug auf die menschliche Natur, aber im Gegensatz zu Letzterem ist beim modernen Gerechtigkeitsbegriff der feste und vertrauensvolle Glaube an einen Gott, der eingreift und rettet, verschwunden18, weshalb die moderne politische Ethik und Philosophie statt eines Kampfes gegen das Böse es vorzieht, es anzuerkennen und in die menschliche Natur selbst einzubeziehen, um es so zu zähmen und Tag für Tag mit ihm zu leben. Die Leitidee lautet, dass wir Menschen auf die Zusammenarbeit mit den anderen angewiesen sind, so wie die anderen auf unsere. Sogar wenn wir nicht auf sie angewiesen sein wollten, so ist es doch eine unbestreitbare Tatsache, dass wir auf sie angewiesen sind. Wir sind lediglich intelligente Egoisten, unsere Natur ist, wie Kant sagt, eine „ungesellige Geselligkeit" 19 . Aber dies ist nicht nur etwas, was wir anerkennen müssen, es ist vielmehr der Grundstoff, aus dem wir unser soziales Leben, den Staat, die Politik und natürlich die Institutionen, 17 Rawls, 1971, S. 3. 18 Vgl. Vittorio Hösle, 1997, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München: C. H . Beck, S. 55. 19 Kant, Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Vierter Satz, Α Α. VIII, S.20.

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die uns regieren sollen, bauen müssen. Ob es sich nun um Verzicht und Übertragung, um verantwortliche Delegation, um die Bildung eines allgemeinen Willens oder um die soziale Konstruktion aus einer Anfangsbedingung heraus handelt, die mit dem exotischen Schleier des Nichtwissens geschmückt ist, Tatsache ist und bleibt, dass die Institutionen des modernen Staates als gerechte Institutionen betrachtet werden wollen, d. h. sie wollen als legitim anerkannt werden, wenn sie die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und familiären Beziehungen zwischen den Personen regeln20. Von sich her ist dies keine Besonderheit und kein ausschließliches Merkmal der Moderne. Auch die antiken und vormodernen Institutionen wollten als gerecht betrachtet werden. Dass der Richter als Repräsentant einer legitimen Institutionalisierung Gerechtigkeit zu gewähren hat, ist keine Erfindung der Moderne. Die Neuerung hierbei besteht vielleicht in der Beziehung der Personen zu den Institutionen, zu ihren Institutionen, d. h. zu den Institutionen, die sie selbst geschaffen, verändert, verstärkt oder auch zerstört und abgeschafft haben. Wenn es auch immer Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gegeben hat, so entsteht und wächst doch in der Moderne eine Form unpersönlicher und universaler Gerechtigkeit, die eine Eigentümlichkeit der Institutionen ist und der ein gewisser Vorrang eingeräumt wird. Konnte man von der vormodernen Ethik sagen, dass ihr vor allem an der Förderung der Gerechtigkeit als persönlicher Tugend lag, so muss man von der modernen Ethik sagen, dass sie vorrangig dazu eine institutionelle Gerechtigkeit verlangt. Der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit als Eigentümlichkeit der modernen Gesellschaften kann im Ausgang von dem Vorrang beschrieben werden, den die individuellen und universalen Menschenrechte in den modernen Gesellschaften besitzen, und im Ausgang von dem Vorrang, den derzeit für viele die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte haben. Es handelt sich um einen höchst politischen Vorrang, der seinerseits das Ergebnis der gesellschaftlichen Evolution 20 Unter Institutionen verstehe ich in Übernahme von Ideen von Walter Kerber „dauerhafte Muster menschlicher Beziehungen, [...] wiederkehrende Regelmäßigkeiten und abgrenzbare Gleichförmigkeiten des menschlichen Verhaltens", die vom Menschen geschaffen wurden und von ihm geändert werden können, die aber zu einer Existenz und Persönlichkeit gelangen, die in einem gewissen Sinn als unabhängig von den Personen betrachtet werden können, die sie bilden, und die sich unter anderem durch ihre Fähigkeit manifestieren, Zwänge zu erzeugen: Walter Kerber, 1998, Sozialethik, Stuttgart: Kohlhammer, S. 14.

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und Entwicklung ist. Innerhalb dieser Entwicklung sind die Konzeption und die Rolle der Normen ausschlaggebend geworden. Einerseits haben wir es mit vertragstheoretischen Rechtsauffassungen, andererseits mit verschiedenen Säkularisierungsprozessen zu tun, die zweifellos die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung der westlichen Völker begleitet und geformt haben, und zwar trotz der vielen gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiedlichkeiten oder gegenläufig zu ihnen. Die gesellschaftlichen Institutionen regeln immer mehr das Leben der Personen. Einige dieser Institutionen werden freiwillig gewählt (gesellige Klubs, Sportvereine, Berufsgenossenschaften, Wohltätigkeitsorganisationen, u. a. m.), andere werden uns mehr oder weniger aufgezwungen (die Familie, die Kirche, zu der wir gehören, der Staat). Von diesen allen hoffen wir jedoch, dass man sie als gerecht bezeichnen kann, weil sie alle auf die eine oder andere Weise unser gesellschaftliches Leben regeln. Intuitiv sagen wir z.B., dass die Ehe eine gerechte Institution ist, insofern sie die Gleichheit von Rechten und Pflichten der Partner gewährleistet und fördert, oder dass ein gesellschaftlicher Rechtszustand nicht gerecht ist, wenn er nicht die Gleichheit der Grundrechte für alle Bürger, Gruppen und ethnischen Gemeinschaften garantiert, usw. Obwohl es nicht immer so gewesen ist und bei Anerkennung des spezifisch historischen Charakters des Vorrangs der institutionellen Gerechtigkeit, scheint es uns heute evident, dass ein Staat, in dem die Sklaverei erlaubt ist, nicht gerecht genannt werden kann. Das Vorausgehende erklärt sich durch die Tatsache, dass der Vorrang der institutionellen und politischen Gerechtigkeit sich nicht aus der bloßen Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs ergibt, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Konstruktion ist, die sich im Lauf der Geschichte ergeben hat. Die individuellen Menschenrechte sind ebenso wie die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der Völker nicht so sehr eine wunderbare Entdeckung, die im privilegierten Denken einiger Intellektueller stattgefunden hat, als vielmehr eine langsame und geduldige Errungenschaft der Menschheit, die zudem zahllose Blutstropfen gekostet hat. Und dass diese genannten Rechte in jeder institutionellen Organisation bewahrt und gewährleistet werden müssen, ist etwas, was völlig im Sinn des Vorrangs ist, von dem wir sprechen. Selbstverständlich verunklart dies den Vorrang der Gerechtigkeit innerhalb des Gesamts der übrigen Tugenden in keiner Weise und tut ihm keinerlei Abbruch. Es setzt jedoch sehr wohl der Ausübung der persönlichen Tugenden eine Grenze, wie noch zu sehen sein wird.

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Der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit hat viele Voraussetzungen, ohne deren Anerkennung er nur schwer akzeptiert wird oder plausibel erscheint. Ich möchte nur zwei davon hervorheben, die aufs innigste miteinander verknüpft sind: die grundlegende Gleichheit der Personen und die Freiheit als ein zu bewahrender Wert. Diese beiden Voraussetzungen verlangen einen Grad an Abstraktion und Verallgemeinerung, der notwendig eine Überschreitung empirischer Gegebenheiten erfordert. Zum andern stellen sie den entscheidenden Punkt dessen dar, was als Gerechtigkeit erstrebt wird. Diese beiden Punkte gehören zum Bereich der Moral, und darum ist der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit auch ein Vorrang, der im Bereich der Moral angesiedelt ist - und sein muss. Der Vorrang dieser Gerechtigkeit entspringt nicht aus empirisch überprüfbaren Daten und kann nicht durch beschreibende Urteile widerlegt werden. Ebenso wie alle moralischen Begriffe haben Freiheit und Gleichheit ihren Grund in der Vernunft, aber dieser besagte Grund ist beschränkt. Dies bedeutet keineswegs, dass die besagte Grundlegung untauglich ist oder dass man auf die Intuition, auf den Glauben oder auf irgendeine andere Quelle der moralischen Erkenntnis rekurrieren müsse; jede Grundlage eröffnet eine Möglichkeit, hat aber zugleich auch ihre Grenzen. Es stellt sich die Frage, wo der genannte Vorrang konkret anzusiedeln ist. Aristoteles, Thomas von Aquin, Hobbes, Kant, Rawls und sicherlich viele andere mehr sind sich darin einig, dass die Gerechtigkeit ihre ganz konkrete Verwirklichung im Recht findet, und dass sie sich sogar in die Maßgabe des Rechts verwandelt. Man kann nicht gerecht sein, wenn man nicht das Recht achtet und befolgt, natürlich unter der Voraussetzung, dass es sich um ein gerechtes Recht, um gerechte Gesetze handelt. Die menschliche Natur ist derart komplex, dass ein friedliches Zusammenleben unter Personen unmöglich wäre, wenn es nicht das gäbe, was Höffe „allgemeine Verbindlichkeiten" 21 nennt, und was eben genau die Gewährleistung des Friedens und des Lebens zum Ziel hat. Der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit heißt sodann, dass die Gerechtigkeit sowohl Maßstab als auch Kontrolle des Rechts ist. Ungerechte Rechte dürfen weder geschaffen noch akzeptiert werden; es dürfen nur Gesetze angenommen werden, die als gerecht qualifiziert werden können. Schon Kant sagte auf einprägsame Weise: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf 21 Otfried Höffe, 1981, in: Sittlich-politische Diskurse. Philosophische Grundlagen. litische Ethik. Biomedizinische Ethik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 88.

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Erden leben" 22 . Es ist interessant, dass er dies nicht in Bezug auf die Gerechtigkeit als persönliche Tugend sagte, sondern in Bezug auf eine sehr konkrete Weise der institutionellen Gerechtigkeit, nämlich das Strafrecht. Für Kant verwirklicht sich Recht in Institutionen, die vom Menschen und zu seinem Wohl geschaffen sind, und die nur der Mensch als Teil der Ausübung seiner gesellschaftlichen und politischen Freiheit verändern kann. Niemand bestreitet nämlich, dass das gesellschaftliche Leben nur dann friedlich sein kann, wenn der Ausübung der individuellen Freiheit Grenzen gesetzt sind. Wenn ich immer das tun kann, wozu ich Lust habe, dann isoliere ich mich selbst von der Gesellschaft, und ich beraube mich nicht nur der Möglichkeit, mit den anderen in Frieden zu leben, sondern ich nehme sie auch den anderen. Die Freiheit, die keine Grenzen kennt, erkennt die Freiheit des anderen nicht an. Der andere bedeutet immer eine Grenze und eine Ermöglichung für meine persönliche Freiheit. Darum stellt sich die Frage, ob es eine Instanz gibt, von der aus die Beschränkung der individuellen Ausübung der Freiheit als gerecht angesehen werden kann, oder ob im Gegenteil jegliche Beschränkung der genannten Ausübung als ungerecht und willkürlich angesehen werden muss. Während die Anarchisten für das zweite optieren, ist die Mehrheit der Meinung, dass die Freiheit ohne Selbstbeschränkung notwendigerweise zu ihrer eigenen Zerstörung führt. Mit Kant bin ich der Meinung, dass genau der Begriff eines gerechten Rechts diese nichtwillkürliche Instanz darstellt, von der aus die Freiheit zu begrenzen ist. Das gerechte Recht beschränkt die Freiheit, damit eben diese Freiheit bewahrt werden kann. Seine Definition des Rechts als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" 23 , ebenso wie seine Präzisierungen in dem Sinn (a) „Der Begriff des Rechts [...] betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander [...] Einfluß haben können", (b) aber nicht „das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch [...] des anderen, [...] sondern lediglich auf die Willkür des anderen", und (c) „in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht 22 K a n t , Metaphysik der Sitten, Rechtslehre 2. Teil, 1. A b s c h n . E. V o m Straf- und Begnadigungsrecht, A A . VI, S. 332. 23 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre § Β, Α Α. VI, S. 230.

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hat, in Betrachtung" 24 , zeigen genau die Vorrangstellung der politischen Gerechtigkeit an: sie ist dazu da, um die äußeren und objektiven Beziehungen der Personen vernünftig zu vermitteln, insoweit diese Beziehungen sich in ein Hindernis für die Ausübung der Freiheit verwandeln könnten, aber sie greift zu keinem sonstigen Zweck in meine Freiheit ein. Mit anderen Worten: Die Gerechtigkeit der Institutionen sagt mir nicht, wie ich glücklich werden soll oder kann, sondern sie sagt mir, dies aber mit voller Klarheit und Uberzeugungskraft, dass es mir in keiner Weise erlaubt ist, mich mit meinen Handlungen dem Glück anderer in den Weg zu stellen. Und hier zeigt sich schließlich der Vorrang der politischen Gerechtigkeit als echter Vorrang: die Ausübung keiner persönlichen Tugend kann das gerechte Recht verletzen oder missachten, die individuellen moralischen Tugenden stehen nicht über den politischen Bürgertugenden, und auch die Religion mit ihren rechtmäßigen Beziehungen zu absoluten und transzendenten Werten hat den Gerechtigkeitsbegriff als eine normative Instanz anzuerkennen, die sie sowohl begrenzt als ihr auch einen unermesslichen Raum an Möglichkeiten und Gestaltungen verschafft. John Rawls hat hellsichtig das Thema des Vorrangs in Bezug auf die Prinzipien der Gerechtigkeit erörtert 25 . Meines Erachtens ist am interessantesten an seiner Analyse des genannten Vorrangs die Form, in der er die ausschließlich interventionistischen Vorgehensweisen bei der Lösung der verschiedenen Probleme bezüglich des Vorrangs kritisiert. Für Rawls ist es klar, dass die Probleme, die sich üblicherweise bei der gleichzeitigen Anwendung verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien stellen, nicht intuitiv gelöst werden können, d.h. dass man bei der Identifikation der verschiedenen ersten nicht weiter aufeinander rückführbaren Gerechtigkeitsprinzipien diese auf eine nicht öffentlich und rational diskutierbare Weise einander nachzuordnen und anzuwenden versucht und darum ausgerechnet im Namen der Gerechtigkeit schließlich die größten Ungerechtigkeiten begeht. Dies war der Fall in den totalitären Regimen, die die soziale Gerechtigkeit mit Gewalt durchsetzen wollen. Wer keine Vorzugsregeln hat, über die er öffentlich zu diskutieren und zu argumentieren bereit ist, hat den Sinn der modernen politischen Gerechtigkeit nicht verstanden. Moralische Intuitionen können die Gerechtigkeit in einer Demokratie radikal verletzen; und wenn es auch scheint, dass man nicht ein für alle mal auf solche 24 Ebd. 25 Siehe besonders in seiner Theorie der Gerechtigkeit,

§§ 8, 9, 39, 40, 46, 82.

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Intuitionen verzichten kann, wie Rawls selbst zugibt, so sollte man sich doch so wenig wie möglich auf sie berufen. Die Stabilität und die Entwicklung der gesellschaftlichen Institutionen, die für den Fortschritt der Völker nötig sind, erfordern Kriterien für die Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien, die klar, öffentlich und vernünftig sind. Es reicht nicht aus zu sagen, dass die für die Entscheidungen Verantwortlichen diese Prinzipien in der Form anwenden sollen, in der es ihnen augenblicklich richtig erscheint. Gesellschaftliche Institutionen, die als gerecht betrachtet werden können, müssen sich beispielsweise darüber im klaren sein, dass das Recht auf Leben den Vorrang vor dem Recht auf Eigentum hat, oder dass die sozialen Rechte den individuellen Rechten untergeordnet sind. Eine moderne Konzeption der sozialen, politischen und institutionellen Gerechtigkeit darf sich nicht damit begnügen, darauf zu vertrauen, dass der jeweilige Amtsträger wohl aufgrund seiner persönlichen Tugenden intuitiv irgendwelche Gerechtigkeitsprinzipien anwenden wird. Der Vorrang der institutionellen Gerechtigkeit über die Gerechtigkeit als persönliche Tugend, von dem wir gesprochen haben, verlangt die Feststellung der Gültigkeit dieser Forderung.

4. Der Vorrang einer philosophischen Begründung der Gerechtigkeit Schließlich möchte ich mich mit dem Vorrang befassen, der in meinen Augen der philosophischen gegenüber jeglicher theologischen Begründung der Gerechtigkeit zukommt 26 . Dabei möchte ich mit einer Geschichte beginnen, die allem Anschein nach von dem legendären Buch der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht inspiriert ist: „Der Prophet Mohammed sitzt in einer einsamen Gegend auf einem H ü gel. A m Fuße des Hügels befindet sich eine Quelle. Ein Reiter kommt. Während der Reiter sein Pferd tränkt, fällt ihm ein Geldbeutel aus dem Sattel. Der Reiter entfernt sich, ohne den Verlust des Geldbeutels zu bemerken. Ein zweiter Reiter kommt, findet den Geldbeutel und reitet damit da26 Unter theologischer Begründung der Gerechtigkeit verstehe ich jede Art geistiger, symbolischer oder literarischer Vorstellung, bei der über kurz oder lang Gott der Verantwortliche für die Handlungen oder Situationen der Gerechtigkeit ist, sei es in dieser Welt oder außerhalb von ihr, d. h. unter Einschluss der eschatologischen G e rechtigkeit.

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von. Ein dritter Reiter kommt und tränkt sein Pferd an der Quelle. Der erste Reiter hat inzwischen den Verlust des Geldbeutels bemerkt und kehrt zurück. Er glaubt, der dritte Reiter habe ihm das Geld gestohlen. Es kommt zum Streit. Der erste Reiter tötet den dritten Reiter, stutzt, weil er keinen Geldbeutel findet, und macht sich aus dem Staube. Der Prophet auf dem Hügel ist verzweifelt. Allah, ruft er aus, die Welt ist ungerecht. Ein Dieb kommt ungestraft davon, und ein Unschuldiger wird erschlagen. Allah, sonst schweigend, antwortet: Du Narr, was verstehst du von meiner Gerechtigkeit! Der erste Reiter hatte das Geld, das er verlor, dem Vater des zweiten Reiters gestohlen. Der zweite Reiter nahm zu sich, was ihm schon gehörte. Der dritte Reiter hatte die Frau des ersten Reiters vergewaltigt. Der erste Reiter rächte seine Frau, indem er den dritten Reiter erschlug. Dann schweigt Allah wieder. Nachdem der Prophet die Stimme Allahs vernommen hat, lobt er dessen Gerechtigkeit" 27

Geschichten dieser Art können aus jedem heiligen Buch genommen und entsprechend angepasst werden, in dem Gott der Urheber oder der Verantwortliche für die Gerechtigkeitsbeziehungen unter den Menschen ist. Das Ergebnis bleibt jedoch ebenfalls problematisch für die menschliche Vernunft: Was in den Augen der Menschen gerecht oder ungerecht ist, kann in den Augen Gottes völlig anders sein. Dies wirft in Bezug auf den Gerechtigkeitsbegriff verschiedene Arten von epistemologischen und ontologischen Problemen auf. Kann es der Wille Gottes sein und nicht der der Menschen, der die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Handlung verursacht? Wie können wir einen solchen Willen Gottes erkennen? Heißt das, dass unsere Erkenntnis dessen, was gerecht oder ungerecht ist, nicht nur begrenzt ist, wie dies sicherlich der Fall zu sein scheint, sondern dass sie sogar im Gegensatz zur göttlichen Gerechtigkeit, die prinzipiell unbegrenzt ist, sich vollständig im Irrtum befinden kann? Hätte dies nicht notwendigerweise eine pessimistische Haltung in Bezug auf die menschliche Natur und ein übermäßiges Misstrauen in die menschliche Vernunft und ihre Fähigkeiten zur Folge? Kann die göttliche Gerechtigkeit anders sein als die menschliche? Der Begriff eines Gottes, der seine Gerechtigkeit in der Welt verwirklicht, ist ein theologischer Begriff, der nur auf eine der drei folgenden Weisen gerechtfertigt werden kann: a) durch die Voraussetzung, dass Er auf direkte Weise und ohne menschliche Vermittlung den Inhalt dieser Gerechtigkeit offenbart, wie in der Geschichte, die wir gerade er2 7 E n t n o m m e n dem Buch v o n O t f r i e d H ö f f e , 2 0 0 1 , Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München: C . H. Beck, S. 3 3 - 3 4 , w o es w i e d e r u m einer Bearbeitung v o n Friedrich D ü r r e n m a t t entnommen ist, der es, w i e bereits gesagt, den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht e n t n o m m e n haben dürfte.

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zählt haben, b) mit Hilfe einer mythologischen Vorstellung wie bei den griechischen Göttern, oder c) mit Hilfe irgendeiner Kombination von a) und b) wie bei den geoffenbarten Religionen, bei denen sich Gott dem Menschen geoffenbart hat, wobei der Glaube an Gott vorauszusetzen ist, und der Mensch eine menschliche, sehr menschliche Anstrengung macht, um angesichts der verschiedenen Probleme der Gerechtigkeit, mit denen er konfrontiert ist, den Sinn dieser Mitteilung zu verstehen und entsprechend zu unterscheiden. In dieser letzteren Perspektive kann man meines Erachtens von einem Gott sprechen, der durch die Stimme seiner Propheten die Gerechtigkeit verlangt und einfordert, von einem Gott, der am Kreuz die Ungerechtigkeit erleidet, oder von einem Gott, der sein Volk tröstet und ihm eine eschatologische und endgültige Gerechtigkeit verheißt. Was ich aber an dieser Stelle hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass es philosophische - und auch theologische - Gründe für die Behauptung gibt, dass eine philosophische Begründung der Gerechtigkeit den Vorrang hat, d. h. dass sie für eine theologische Reflexion über die Gerechtigkeit normativ ist. Und dies gilt nicht nur aus historischen Gründen oder bloß um der Moderne zu Gefallen zu sein, wie Otfried Höffe annimmt 28 , sondern wegen der Evolution und der Entwicklung der Theologie selbst, sowohl in der Weise, wie man sich, wie uns die historisch-kritische Methode sagt, um das Verständnis der heiligen Schriften bemühen muss, als auch wegen der Entwicklung, die der Sinn des moralischen Sprachgebrauchs in der Theologie genommen hat. Wenn man zugibt, wie dies viele katholische und evangelische Theologen tun, dass Gott dem Menschen keine spezifischen und genauen moralischen d. h. normativen - Inhalte über die Sexualität, über die verschiedenen Umweltprobleme, über die Fragen der Bioethik oder über die angemessenste Beziehung zwischen Ethik und Wirtschaft im Zusammenhang mit der Globalisierung geoffenbart hat, dann muss man auch zugeben, dass er auch keinen spezifischen Begriff von Gerechtigkeit geoffenbart hat, der normative moralische Inhalte enthielte. Bei unserer Hypothese bezüglich des Vorrangs der philosophischen gegenüber einer theologischen Begründung der Gerechtigkeit geht es genau darum zu zeigen, dass alle diese moralischen Fragen dann, wenn sie aus der Perspektive der Moraltheologie behandelt werden, sich unausweichlich auf einen philosophischen Begriff der Gerechtigkeit stützen müssen, ohne den sie 28 „ D i e Vergöttlichung, die .Divinisierung' bzw. Theologisierung, der Gerechtigkeit ist eine interkulturelle Gemeinsamkeit archaischer Kulturen.", in: H ö f f e , 2001, S. 13.

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nicht vernünftig und kohärent artikuliert werden könnten. Ohne die bewusste und gewollte Übernahme eines philosophischen Gerechtigkeitsbegriffs läuft jede moraltheologische Begründung Gefahr, unvermeidlich auf den Abgrund des Fundamentalismus zuzudriften. Der Vorrang der philosophischen Begründung der Gerechtigkeit ist nicht so sehr einer im Bereich der Ontologie als vielmehr einer im Bereich der Erkenntnis dessen, was gerecht oder ungerecht ist, in einem Bereich, der sich um kein Haar ändert, ob man irgendeine Voraussetzung bezüglich der Existenz Gottes annimmt oder ablehnt. Die Probleme der Gerechtigkeit liegen genau da, wo sie Überlegung und Abwägung der Umstände angesichts einer Entscheidung oder einer Reihe von Entscheidungen verlangen, die zu treffen sind, und sowohl die Überlegung als auch die Abwägung stellen eine Tätigkeit dar, die dazu beitragen will, eine geordnete praktische Erkenntnis auszubilden. Die moralische Unterscheidung ist eine Angelegenheit der moralischen Erkenntnislehre. Dies hängt damit zusammen, dass allem Anschein nach Gott weder überlegt noch abwägt, da es für ihn keine Notwendigkeit hierzu gibt, und sofern er es tut, so wissen wir nicht, wie er es tut. Mehr noch: Gott handelt eigentlich gar nicht moralisch, oder er handelt nicht in Angelegenheiten, die die Gerechtigkeit betreffen, sofern wir unter einem Handeln in solchen Kategorien „die Entscheidung eines Handelnden für eine unter wenigstens zwei Handlungsalternativen und die Verwirklichung der gewählten Alternative" 29 verstehen. U m gerecht oder ungerecht zu handeln, braucht es nämlich Entscheidungen und Verwirklichungen, die sich auf Kriterien gründen müssen, die, wenn auch nicht unbedingt absolut, so doch verständlich und mitteilbar sein müssen. Im Zusammenhang mit dem Vorausgehenden steht ein Kriterium, das unseres Erachtens das entscheidende zugunsten des Vorrangs der philosophischen gegenüber jeder theologischen Begründung der Gerechtigkeit ist: die Unabhängigkeit und der Primat der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen Vernunft. Es ist die alte Kantische These, dass die Erkenntnis dessen, was sein soll (die moralische Ordnung), in keiner Weise von der Erkenntnis der Bedingungen des Seins (der natürlichen Ordnung) abhängt 30 . Um das Gerechte zu tun und das 29 Friedo Ricken, Allgemeine Ethik, Stuttgart: Kohlhammer, Ί 9 8 3 , S. 138. 30 „Der spekulativen Vernunft aber untergeordnet zu sein, und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist." Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstück, III, AA. V, S. 121.

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Ungerechte zu vermeiden, bedarf es keiner theoretischen Prämissen von schwerem Gewicht (Prämissen metaphysischer Ordnung über die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele oder die Unendlichkeit der Welt); es braucht auch keine theoretischen Prämissen von schwachem Gewicht (wissenschaftliche Prämissen über die wissenschaftliche Erkenntnis, über die Naturgesetze oder über die Möglichkeiten einer Mathematisierung der Natur). Aber um das zu tun, was gerecht ist, zumal innerhalb eines religiösen Lebensverständnisses, sind sehr wohl Überlegungen, Abwägungen, Entscheidungen und Realisierungen erforderlich - die nicht unbedingt theologisch zu sein brauchen - , die dazu führen, dass unsere gerechten Handlungen eine moralische Bedeutung erlangen. In der modernen Moralphilosophie hat eine Wende stattgefunden, die man als eine kopernikanische Wende bezüglich des Gerechtigkeitsbegriffs beschreiben könnte und die nicht wenige Konsequenzen hat, wenn man die Gerechtigkeit aus einer theologischen Perspektive heraus denkt. Diese Wende besteht im wesentlichen darin, dass es das Gerechte und das Ungerechte nicht unabhängig von ihrem eigenen Begründungsprozess gibt. Die Existenz von allgemein geteilten Kriterien der Gerechtigkeit - die Existenz der Gerechtigkeit - ist das Ergebnis ihrer eigenen gesellschaftlichen Konstruktion. Der moralische Gehalt einer Handlung - sei sie gerecht oder ungerecht - besteht nicht unabhängig von den öffentlichen Gründen, auf denen dieser Gehalt basiert. Die Gerechtigkeit einer Handlung existiert darum nicht unabhängig von ihrer eigenen Begründung. Es hätte nicht den geringsten Sinn zu behaupten, dass etwas gerecht oder ungerecht ist, dass wir aber nicht genau wüssten, warum es so ist. Die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit einer Handlung zu begründen, die Gründe anzugeben, warum diese Handlung gerecht oder ungerecht ist, ist dasselbe wie der Gerechtigkeit Leben und gesellschaftliche Gegenwart zu verleihen. Somit ist nichts gerecht oder ungerecht, wenn man es von den Gründen abtrennt, die es rechtfertigen. Ernst Tugendhat meint sogar, dass in einer nicht-autoritären Moral eine Norm nur dann Geltung besitzt, wenn für alle klar ist, warum sie eine moralische Norm ist und warum sie für alle gilt 31 . 31 Siehe: Ernst Tugendhat, 1997, Moralbegründung und Gerechtigkeit. Vortrag und Kolloquium in Münster, Münsteraner Vorlesungen zur Philosophie, hrsg. v. Marcus Willaschek, Bd. 1, S. 15ff. In einem früheren Text (1980) anlässlich des 80. Geburtstags von Hans Georg Gadamer hatte Tugendhat darauf aufmerksam gemacht, was

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Das Vorausgehende beeinträchtigt in keiner Weise die Geltung einer möglichen theologischen Begründung der Gerechtigkeit. Was gesagt wird, meint vielmehr, dass eine theologische Begründung der Gerechtigkeit immer eine Begründung auf einer zweiten Ebene ist, und zwar in dem Sinn, dass sie sich auf etwas stützt, was nicht in ihr selbst mit ihren eigenen Methoden und Quellen erarbeitet worden ist. In diesem Sinn kann man sagen, dass eine Theologie der Gerechtigkeit eine Philosophie der Gerechtigkeit voraussetzt, während eine Philosophie des Gerechten keine Theologie des Gerechten voraussetzt. Bei einem möglichen philosophisch-theologischen Dialog über das Thema der Gerechtigkeit bringt die Theologie keinen Gerechtigkeitsbegriff mit, der neben der Philosophie erarbeitet worden wäre und der ihr Konkurrenz machen könnte. Wenn sie dies tut, dann verwandelt sie sich selbst in eine Philosophie und macht somit einen Dialog unmöglich, der eigentlich fruchtbar sein könnte. Andererseits ist es vollkommen erlaubt und erhellend, sich all den vielen biblischen Texten zu widmen, die uns nach Art der Propheten Arnos, Osea oder Jeremia das Antlitz eines barmherzigen Gottes offenbaren, der die einem unschuldigen Volk ungerechterweise auferlegten Leiden nicht vergisst und bessere Tage verkündet, an denen die Verschleppten und Vertriebenen in ihre Heimat zurückkehren können, um dies zu tun: sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein, sie legen Gärten an und essen die Früchte (Am 9,14). Ebenso kann es vernünftig und angebracht sein, sich dem Denken der heiligen und ehrwürdigen Kirchenväter zuzuwenden, damit sie kraft ihrer Weisheit, ihrer geistlichen Gesinnung und ihres Sinnes für die Transzendenz vielen unserer Fragen und Antworten über die persönliche oder soziale Gerechtigkeit Erleuchtung und Orientierung verleihen. All dies kann sehr angebracht, erlaubt und sogar theologisch notwendig sein. Aber da es sich hier um eine methodologische Angelegenheit bezüglich der Gerechtigkeit handelt, ist zu sagen, dass keine biblisch-theologische Bezugnahme auf die Gerechtigkeit, so erhellend sie auch sein mag, das zu ersetzen oder an dessen Stelle zu treten vermag, was ein philosophischer Gerechtigkeitsbegriff zu leisten imstande ist. Von der theologischen Gediese radikale Forderung nach Begründung meint, die so typisch ist für die moderne Moralphilosophie: „Das bedeutet nicht einen Neo-Cartesianismus, als ob nur darüber geredet werden dürfte, was sicher zu begründen ist, und sonst zu schweigen wäre. Es geht nicht um Sicherheit der Begründung, sondern um Klarheit über die Art der Begründungsmöglichkeit." Tugendhat, 1984, Antike und moderne Ethik, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart: Reclam, S. 3 3 - 5 6 , hier 50.

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rechtigkeit kann man sagen, dass sie entweder auf der Grundlage einer vorausgehenden philosophischen Konzeption des Gerechten aufbaut oder nicht mit einer wahrhaft menschlichen Erfahrung von Gerechtigkeit verknüpft ist.

Deontologische Ansprüche und die Grenzen der Abwägung in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls FRANZ-JOSEF BORMANN

Eine überzeugende Konzeption normativer Ethik muss wenigstens die folgenden drei durchaus anspruchsvollen Bedingungen erfüllen: Sie hat erstens gegenüber Tendenzen einer vollständigen Kontextualisierung und damit Relativierung praktischer Rationalität einen Vernunftbegriff zu verteidigen, der stark genug ist, zumindest den Kernbestand unserer lebensweltlichen moralischen Urteilspraxis zu begründen. Sie muss zweitens angesichts einer verbreiteten Rücknahme moralischer Geltungsansprüche auf bloße Verfahrensfragen ein eindeutig operationalisierbares inhaltliches, d. h. nicht nur formal-prozedurales Kriterium zur Beurteilung menschlichen Handelns entwickeln. Und sie hat schließlich drittens gegenüber Versuchen, die strukturelle Differenz zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft einzuebnen, die Grenzen jenes Abwägungsspielraumes auszuloten, der es der praktischen Urteilskraft ermöglicht, im Umgang mit objektiven, universal adressierten normativen Standards situationsadäquate Lösungen zu finden und die normative Ethik davor bewahrt, in ein starres more geometrico konstruiertes Moralkalkül abzugleiten. Im Folgenden soll uns vor allem die dritte Bedingung beschäftigen, die allerdings mit der zweiten Bedingung insofern eng verbunden ist, als das jeweilige Verständnis des obersten Moralkriteriums erhebliche Auswirkungen auf die Lösung der Abwägungsproblematik hat. Näherhin wird es dabei um die Kontroverse gehen, die Deontologen und Teleologen um die Grenzen legitimer Abwägungen führen. Trotz ihres gemeinsamen Plädoyers für einen materialen kognitiven Ansatz in der normativen Ethik unterscheiden sich die Anhänger eines teleologischen Konzepts von den Verfechtern eines deontologischen Ansatzes bekanntlich gerade hinsichtlich der nicht zu überschreitenden Grenzen vernünftiger Ab-

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wägungsprozesse ganz erheblich voneinander. Die intensive Debatte der vergangenen Jahrzehnte um Güterabwägungen und Folgenabschätzungen im Kontext teleologischer Theoriemodelle hat bei nicht wenigen Zeitgenossen allerdings den Eindruck entstehen lassen, Deontologen seien an Abwägungsfragen generell wenig interessiert und begnügten sich damit, eine zeitlos gültige Prinzipienethik aufzustellen, während die eigentliche Domäne eines Konzepts der abwägenden Vernunft die Teleologie mit ihrem Ringen um lebens- und anwendungsorientierte Konfliktlösungen sei. Um den eigentlichen Streitpunkt und die Tragweite der Auseinandersetzung zwischen beiden Traditionssträngen freizulegen, werde ich zunächst die Position eines besonders einflussreichen zeitgenössischen Deontologen, des amerikanischen Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls, rekonstruieren, dann in einem zweiten Schritt auf verschiedene Probleme innerhalb seines Entwurfes aufmerksam machen und schließlich im Rückgriff auf die moralphilosophische Tradition einige Vorschläge zur Uberwindung derartiger Unzulänglichkeiten unterbreiten.

1. Die Position von John Rawls Als sich Rawls in den 50er und 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts1 daran machte, in teilweise provozierender Frontstellung gegen einen Großteil der zeitgenössischen anglo-amerikanischen Moralphilosophie die Grundzüge seines eigenen deontologischen Ansatzes zu entwickeln, hatte er vor allem den Utilitarismus als das zweifellos einflussreichste teleologische Theoriemodell der neuzeitlichen Ethik im Visier. Trotz seiner klaren Struktur, der zumindest prima facie schwachen Voraussetzungen und des eleganten Theoriedesigns, das im szientistischen Klima der angelsächsischen Welt maßgeblich zum Siegeszug utilitaristischen Denkens nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaftswissenschaften beigetragen hatte, erweist sich der Utilitarismus Rawls zufolge bei näherer Betrachtung als eine von Grund auf falsch konzipierte Moraltheorie, die im krassen Widerspruch zu grundlegenden moralischen In1 Vgl. J. Rawls, 1951, Outline of a Decision Procedure for Ethics, in: Philosophical Review 60, S. 177-197; ders., 1957, Justice as Fairness, in: Journal of Philosophy 54, S. 653-662; ders., 1967, Distributive Justice, in: P. Laslett/W. G. Runciman (Hrsg.), Philosophy, Politics and Society, Third Series, London, S. 58-82; ders., 1968, Distributive Justice: Some Addenda, in: Natural Law Forum 13, S. 51-71.

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tuitionen steht. 2 Als typischer Teleologe definiere der Utilitarist das Gute nämlich unabhängig vom Rechten und bestimme das sittlich Richtige dann anschließend als die bloße Maximierung des außermoralischen Guten. 3 Diese Verkehrung der logischen Beziehungen zwischen den beiden Hauptbegriffen der Ethik führe dazu, dass es sich beim utilitaristischen Nutzenprinzip letztlich um ein rein vormoralisches Effizienzprinzip handele, das aus wenigstens drei Gründen zur moralischen Konfliktlösung ungeeignet sei: Es beruhe erstens auf einer unzulässigen „Übertragung des Prinzips der vernünftigen Entscheidung für den Einzelmenschen auf die Gesellschaft als ganze" 4 , nehme zweitens die „Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst" 5 und führe damit drittens zwangsläufig zur Verletzung fundamentaler natürlicher Rechte einzelner Individuen. Der utilitaristische Verweis auf die kriterielle Bedeutung des größtmöglichen gesamtgesellschaftlichen Nutzens bzw. des größten Glücks der größten Zahl erscheint Rawls also nicht zuerst deswegen problematisch, weil er dem gesellschaftlichen Pluralismus im Verständnis des Guten nicht gerecht wird 6 oder sich aufgrund der Schwierigkeiten interpersoneller Nutzenvergleiche in unlösbare praktische Probleme verstrickt. 7 Viel gravierender ist s. E. der Umstand, dass die vollständige Vernachlässigung der Personbindung elementarer Güter im Utilitarismus der moralisch skandalösen Ausbeutung einzelner Individuen Vorschub leistet. Am Beispiel des moralischen Verbots der (erblichen) Sklaverei versucht Rawls zu zeigen, dass wir es selbst da, wo Teleologen und Deontologen prima facie zu demselben Ergebnis nämlich dem moralischen Unwerturteil über die Versklavung von Menschen - kommen, mit zwei „ganz anderen Gerechtigkeitsauffas-

2 Rawls stellt in diesem Sinne programmatisch fest: „Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muß fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann." J. Rawls, 1990, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp, S. 19. 3 Vgl.J. Rawls, 1990, S. 42. 4 J. Rawls, 1990, S.45. 5 Ebd. 6 Vgl. J. Rawls, 1982, Social unity and primary goods, in: Α. Sen/B. Williams, Utilitarianism and beyond, Cambridge University Press, S. 160. 7 Vgl.J. Rawls, 1990, S. 111-113 und 358.

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sung(en)" 8 zu tun haben, die sich insbesondere hinsichtlich des Schutzes menschlicher Grundrechte ganz erheblich voneinander unterscheiden. Während teleologische Theorien wie der Utilitarismus dazu neigten, „die auf der Gerechtigkeit beruhenden Rechte" zum „Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessensabwägungen" 9 zu machen, zeichneten sich deontologische Theoriemodelle vor allem dadurch aus, dass sie „jedem Mitglied der Gesellschaft [...] eine auf der Gerechtigkeit - oder, wie manche sagen, dem Naturrecht - beruhende Unverletzlichkeit zu(schreiben), die auch im Namen des Wohles aller anderen nicht aufgehoben werden kann" 10 . Um sicherzustellen, dass seine eigene Fairnesskonzeption beiden Anforderungen gerecht wird, also sowohl die Grundrechte des Einzelnen durch klare Begrenzung zulässiger Abwägungsprozesse wirkungsvoll schützt als auch den mit der Anerkennung von Autonomie und selbstbestimmter Lebenswahl jedes Individuums einhergehenden gesellschaftlichen Pluralismus respektiert, bedient sich Rawls einer komplexen mehrstufigen Argumentation, in der zwei Elemente von besonderer Bedeutung sind. Das erste Element besteht in der kontraktualistischen Einkleidung seiner Uberlegungen. Mit Hilfe der Vorstellung eines hypothetischen Vertrages versucht Rawls, genau jene Prinzipien zur gerechten Gestaltung der institutionellen Grundstruktur einer Gesellschaft zu ermitteln, denen freie und gleiche Bürger, die an einem dauerhaften System fairer wechselseitiger Kooperation interessiert sind, rationalerweise zustimmen würden. Da das Ergebnis einer vertraglichen Vereinbarung jedoch weitgehend von den Bedingungen abhängt, unter denen sie zustande kommt, das gesamte kontraktualistische Argument also in begründungstheoretischer Hinsicht nicht selbständig ist, und daher bestenfalls von sekundärer Bedeutung sein kann,11 ist es erforderlich, auf ein zweites Element in Rawls' Ansatz hinzuweisen, das de facto die eigentliche Beweislast seiner gesamten Argumentation zu tragen hat und in der Konstruktion einer den moralischen Standpunkt abbildenden „ur-

8 J. Rawls, 1977, Gerechtigkeit als Fairneß, in: ders., Gerechtigkeit als Fairneß, hrsg. von O . Höffe, Freiburg/München: Alber, S. 81 (engl. Original: 1958, Justice as Fairness, in: The Philosophical Review 67, S. 1 6 4 - 1 9 4 ) . 9 J. Rawls, 1990, S.46. 10 Ebd. 11 Vgl. W. Kersting, 1 9 9 3 , J o h n Rawls zur Einführung, Hamburg: Junius, S. 1 lOf, sowie ders., 1994, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.283.

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sprünglichen Entscheidungssituation" besteht. Ganz konkret fordert Rawls den Leser dazu auf, sich gedanklich in eine als „Urzustand" (original position) bezeichnete Situation zu versetzen, in der rein zweckrational agierende Vertragspartner als Treuhänder der Interessen Dritter aus einer vorgegebenen Liste rivalisierender Gerechtigkeitsgrundsätze diejenigen Prinzipien zur Verteilung gesellschaftlicher Vor- und Nachteile auswählen, die die Lage der von ihnen jeweils Repräsentierten insgesamt optimieren. Um sicherzustellen, dass diese grundlegende Wahlentscheidung nicht von partikularen Interessen im Gefolge der natürlichen und sozialen Lotterie beeinflusst wird, sondern sich allein an moralischen Gesichtspunkten orientiert, stattet Rawls den Urzustand mit ganz bestimmten, aus den so genannten „formalen Bedingungen des Rechten" 12 abgeleiteten Merkmalen aus, deren wichtigstes die radikale Informationsbeschränkung durch den „Schleier des Nichtwissens" sein dürfte. Denn nur wenn das gesamte s. E. in moralischer Hinsicht irrelevante Wissen über das Alter und Geschlecht, die Begabungen und Talente, den sozialen Status und die religiös-weltanschaulichen Überzeugungen der Vertragspartner bzw. ihrer Klienten zum Verschwinden gebracht werde, sei damit zu rechnen, dass die Entscheidung für bestimmte Verteilungsprinzipien in objektiver Weise und das heißt für Rawls allein auf der Grundlage des allen gemeinsamen vernünftigen Interesses an so genannten „gesellschaftlichen Grundgütern" getroffen werde. Gesellschaftliche Grundgüter sind Güter wie ζ. B. „Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen"13, die jeder notwendigerweise zur Verwirklichung seines persönlichen Lebensplanes völlig unabhängig davon benötigt, welche spezifische Auffassung vom Guten diesem Plan dabei zugrunde liegt. Es handelt sich bei diesen social basic goods also um verteilungsrelevante universelle Gelingensvoraussetzungen des Menschseins, über deren Notwendigkeit sich aufgrund ihrer vielfältigen Verwertbarkeit selbst dann noch ein Konsens in pluralistischen Gesellschaften erzielen lässt, wenn dies auf der anspruchsvolleren voraussetzungsreicheren Ebene der umfassenden Glücksvorstellungen längst nicht mehr der Fall ist. Wegen der weitreichenden Konsequenzen dieser urzuständlichen Prinzipienwahl für die dauerhafte Verteilung gravierender gesellschaftlicher Vergünstigungen und Belastungen unterstellt Rawls den Vertragspartnern ein extrem ri-

12 Vgl. J. Rawls, 1990, S. 152-159. 13 J. Rawls, 1990, S. 112.

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sikoscheues Verhalten. Auf der Basis des so genannten Maximin-Prinzips, einer Entscheidungsregel für Situationen großer Unsicherheit, die vorschreibt, die Aussichten der Inhaber der niedrigsten sozialen Position zu maximieren, würden die Vertragspartner schließlich die beiden folgenden Gerechtigkeitsgrundsätze wählen: Der erste schützt „jedermann^) [...] gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist" u . Der zweite Grundsatz schreibt vor, soziale und ökonomische Ungleichheiten so einzurichten, dass sie „(a) unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) [...] mit Ämtern und Positionen verbunden (sind), die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen" 15 . Es ist für das Verständnis der Gerechtigkeit als Fairness wesentlich, nicht nur jede dieser Einzelforderungen für sich zu betrachten, sondern auch ihr Verhältnis zueinander zu berücksichtigen. Rawls präzisiert diese Grundsätze nämlich durch zwei für das Profil seines Ansatzes höchst folgenreiche Vorrangregeln. Die in diesem Zusammenhang entscheidende erste behauptet einen „lexikalischen" Vorrang des ersten vor dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz und stellt sicher, dass die „Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden" 16 können, nicht aber um anderer Güter willen wie ζ. B. der Erlangung wirtschaftlicher Vorteile oder der Vermeidung bestimmter Übel. Die zweite Vorrangregel bezieht sich auf die beiden Teile des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes und propagiert durch die Vorordnung der fairen Chancengleichheit vor dem Differenzprinzip einen „Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard" 17 . Obgleich die Bedeutung dieser beiden Regeln zumal im Blick auf Rawls' Kritik am ungelösten Vorrangproblem intuitionistischer Moraltheorien kaum zu überschätzen sein dürfte, ist sich Rawls sehr wohl darüber im Klaren, dass damit längst noch nicht alle Abwägungsprobleme gelöst sind. Da die beiden das Herzstück seiner Fairnesskonzeption bildenden Gerechtigkeitsgrundsätze ebenso wie die ihnen zugeordneten Vorrangregeln hochgradig abstrakt bleiben und folglich der weiteren Spezifizierung bedürfen, hat er einen so genannten „Vier-Stufen-Gang" zu ihrer näheren Konkretion und praktischen

14 J. Rawls, 1990, S. 336. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 J. Rawls, 1990, S.337.

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Umsetzung entworfen. 18 Dieser umfasst neben der bereits erwähnten Wahl der obersten Gerechtigkeitsprinzipien im Urzustand den Prozess der Ausarbeitung einer Verfassung in einer verfassunggebenden Versammlung, sodann die legislative Stufe der Gestaltung konkreter Gesetzesvorhaben und politischer Programme und schließlich die Anwendung von Regeln auf Einzelfälle durch Verwaltung und Justiz sowie die Befolgung von Regeln durch die Bürger im Allgemeinen. Auch wenn auf jeder dieser Stufen immer wieder neue und ganz spezielle Abwägungsprobleme auftauchen, glaubt Rawls mit den beiden Fairnessgrundsätzen die entscheidenden Grundzüge einer idealtypisch gerechten Gesellschaft im Sinne einer „realistischen Utopie" 1 9 vorgelegt zu haben, deren spezifische Ausbalancierung von Freiheit und Gleichheit einen die gesamte politische Philosophie der Neuzeit durchziehenden Grundkonflikt demokratischer Gesellschaften auf überzeugende Weise zu entschärfen vermag.

2. Kritische Anfragen an Rawls' Grenzziehungen Es ist hier nicht der Ort, um zu beurteilen, ob es Rawls tatsächlich gelungen ist, die selbstgestellte herkulische Aufgabe einer zukunftsfähigen Neuorientierung der philosophischen Gerechtigkeitsdiskussion zu erfüllen. 20 Stattdessen soll lediglich die Plausibilität seiner Ausführungen zu den Grenzen legitimer Abwägungsprozesse überprüft werden. Neben der Berechtigung seiner Teleologie- bzw. Utilitarismuskritik steht damit auch die Uberzeugungskraft seines eigenen Gegenentwurfs der Gerechtigkeit als Fairness auf dem Prüfstand. Werfen wir also zunächst noch einmal einen Blick auf seine Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus. Es stellt m. E. eine Stärke der Rawls'schen Überlegungen dar, dass sie sich nicht von oberflächlichen Gemeinsamkeiten unter18 Vgl. J. Rawls, 1990, S. 223-229. 19 J. Rawls, 2002, Das Recht der Völker, Berlin/New York: de Gruyter, S. 6 und 13-25. 20 Einen Uberblick über die Diskussion vermitteln J. H. Wellbank/D. Snook/D. T. Mason (Hrsg.), 1982, John Rawls and. His Critics: An Annotated Bibliography, New York: Garland; H.S. Richardson/P. J. Weithman (Hrsg.), 1999, The Philosophy of Rawls. A Collection of Essays (5 Vol.), New York/London: Garland; S. Freeman (Hrsg.), 2003, The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge: Cambridge University Press, sowie F.-J. Bormann, 2003, Was von der Fairneß übrig blieb. Zur Bedeutung von John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit für die katholische Soziallehre, in: Theologie und Philosophie 78, S. 384-405.

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schiedlicher Theoriemodelle beeindrucken lässt, sondern gezielt die in systematischer Perspektive entscheidende Tiefenstruktur eines Ansatzes analysiert. Der breite konzeptionelle Graben, der sich s. E. zwischen Teleologen und Deontologen auftut, ist nämlich weder durch das Eingeständnis des Deontologen, auch er habe selbstverständlich die Folgen einer Handlung zu berücksichtigen, 21 noch durch den Hinweis des Teleologen zu überbrücken, ausnahmslos geltende Ge- oder Verbotsurteile ließen sich prinzipiell auch im Rahmen einer teleologischen Konzeption begründen. Obwohl Deontologie und Teleologie faktisch selten in Reinform auftreten, verliert die auf C . D . Broad zurückgehende Grundunterscheidung beider Theorietypen auf der Basis der jeweiligen Verhältnisbestimmung des Rechten und des Guten keineswegs ihre Bedeutung. 22 Der von Rawls zu Recht verteidigte Primat des Rechten vor dem Guten, der gewissermaßen das Wasserzeichen einer deontologischen Moraltheorie darstellt und von utilitaristischer ebenso wie von kommunitaristischer Seite heftig attackiert wird, 23 ist nämlich kein theoretischer Luxus, auf den man notfalls auch verzichten könnte, sondern ein notwendiges Instrument zum wirksamen Schutz der elementaren Grundrechte der menschlichen Person, deren Unverletzlichkeit eben nur dann garantiert werden kann, wenn alle moralisch überhaupt relevanten Gesichtspunkte des Guten zunächst einmal auf ihre Vereinbarkeit mit grundlegenden Gerechtigkeitsforderungen geprüft werden. Mit diesem gerechtigkeitsethischen Personvorbehalt gewinnt Rawls in der Tat eine erste wichtige Grenze legitimer Abwägungsprozesse, deren Bedeutung der Utilitarismus zu ignorieren scheint. Während sich nämlich intrapersonale Abwägungsprobleme etwa im Kontext der individuellen Lebensplanung dadurch auszeichnen, dass die jeweiligen Vor- und Nachteile bestimmter Entscheidungen ein und derselben Person zugute kommen, ist das bei sozialen oder interpersonellen Abwägungsproblemen im Kontext von Verteilungsfragen gerade nicht der Fall. Die mit der Mehrzahl der involvierten Personen auftretende Gefahr der Ubervorteilung oder gar Instrumentalisierung einzelner verweist auf ein fundamentales Gerechtigkeitsproblem, für das der Utilitarist keine überzeugende Lösung hat.

21 Vgl. J. Rawls, 1990, S. 48. 22 Vgl. C. D. Broad, 1930, Five Types of Ethical Theory, London: Kegan Paul, S . 2 0 6 208. 23 Vgl. A. Maclntyre, 1982, After Virtue, London: Duckworth, sowie M . J . Sandel, 1982, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge: Cambridge University Press.

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Wenn der Utilitarismus aber Rawls und anderen führenden Liberalen wie Nozick, 24 Nagel25 und Williams26 zufolge vor allem deswegen abzulehnen ist, weil er fundamentalen individuellen Rechten27 und personengebundenen Werten wie Autonomie und Integrität keinen hinreichenden Schutz zu bieten vermag, dann stellt sich die Frage, ob der deontologische Gegenentwurf der Gerechtigkeit als Fairness hier eine tragfähige Alternative zu bieten vermag. Aus wenigstens zwei Gründen scheinen hier ernste Zweifel angebracht. Erstens gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass auch bei Rawls die Grenzen legitimer Abwägungen nicht eng genug gezogen werden, um den moralisch gebotenen Schutz des Einzelnen tatsächlich garantieren zu können. So stellt der späte Rawls etwa im Blick auf die umstrittene Abtreibungsproblematik die provozierende Behauptung auf, dass „jede vernünftige Abwägung" der drei hier einschlägigen politischen Werte - das sind erstens die dem menschlichen Leben gebührende Achtung, zweitens die ordentliche Reproduktion der politischen Gesellschaft und schließlich drittens die Gleichheit der Frauen als gleichberechtigter Bürger - „Frauen ein in gebührender Weise qualifiziertes Recht zuerkennen muss, innerhalb des ersten Drittel selbst darüber zu entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen wollen oder nicht" 28 . Diese Schlussfolgerung entbehrt nicht nur jeder sachlichen Begründung, sie steht auch in krassem Gegensatz zu seinen eigenen früheren Uberlegungen zum so genannten .Gerechtigkeitssinn', mit deren Hilfe die Reichweite der Gerechtigkeitspflichten bestimmt und die Frage beantwortet werden sollte, „was für Wesen den Schutz der Gerechtigkeit genießen"29. Nach anfänglichem Zögern hatte Rawls noch in der .Theorie' die berechtigte Forderung aufgestellt, für den Eintritt in den Schutzraum der Gerechtigkeit dürfe „nur das unbedingte Minimum" verlangt werden, das darin bestehe, dass jedes „Wesen mit dieser Fähigkeit [sc. dem Gerechtigkeitssinn], sei sie bereits entwickelt oder nicht, [...] den vollen Schutz der Gerechtigkeitsgrundsätze genießen" 24 Vgl. R. Nozick, 1974, Anarchy,

25 Vgl. T. Nagel, 1988, Autonomy

State,

and

New York: Basic Books, S. ix.

Utopia,

and Deontology,

in: S. Scheffler (Hrsg.),

Consequen-

tialism and Its Critics, Oxford: Oxford University Press, S. 142-172. 26 Vgl. B. Williams, 1988, Consequentialism and Integrity, in: S. Scheffler (Hrsg.),

sequentialism

and Its Critics, Oxford, S. 20-50.

27 Vgl. dazu auch A. Sen, 1988, Rights

and Agency,

tialism and Its Critics, Oxford, S. 187-223.

28 J. Rawls, 1998, Politischer

Liberalismus,

29 J. Rawls, 1990, Theorie der Gerechtigkeit,

in: S. Scheffler (Hrsg.),

Frankfurt: Suhrkamp, S.349.

S. 548.

Con-

Consequen-

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459

müsse.30 Man braucht wenig Phantasie, um aus diesen an das klassische Potentialitätsargument gemahnenden Überlegungen ein Tötungsverbot menschlicher Embryonen abzuleiten,31 sehr viel Einfallsreichtum dagegen, um unter diesen Voraussetzungen die „Vernünftigkeit" der Fristenlösung zu begründen.32 Die Lage verbessert sich für Rawls nur unerheblich, wenn man einmal vom Spezialproblem der Gerechtigkeitspflichten gegenüber Ungeborenen absieht und sich der Gruppe der erwachsenen Menschen zuwendet, die auch für Rawls als vollwertige Kooperationspartner unzweifelhaft in den Genuss fundamentaler Schutzrechte kommen sollen. Aber auch hier droht seiner Argumentation dadurch neues Ungemach, dass er im Rahmen seines antimeritokratischen common asset-Argumentes in fragwürdiger Weise aus der Unverdientheit persönlicher Talente das moralische Recht der Gesellschaft zur weitgehenden Aneignung jener Früchte ableitet, die aus dem individuellen Einsatz zur Entfaltung und Pflege dieser Begabungen resultieren.33 Die damit indirekt vollzogene Trennung zwischen einem Individuum und seinen Talenten unterminiert aber nicht nur die Einheit der Person und ihre Verantwortung für die Entfaltung der eigenen Begabungen, sondern öffnet auch der gesellschaftlichen Ausbeutung der Klasse der Leistungsträger Tür und Tor und begeht damit letztlich genau denselben Fehler wie der Utilitarismus, zu dessen Vermeidung die Fairnesskonzeption ursprünglich gerade entwickelt worden war.34 30 ]. Rawls, 1990, S. 553. 31 Vgl. F.-J. Bormann, 2002, Embryonen, Menschen und die Stammzellforschung. Plädoyer für eine differenzierte Identitätsthese in der Statusfrage, in: Theologie und Philosophie 77, 227f. 32 Vgl. dazu J. Finnis, 2000, Abortion, Natural Law, and Public Reason, in: R. P. George/C. Wolfe (Hrsg.), Natural Law and Public Reason, Washington: Georgetown University Press, S. 75-105; J. Reiman, 2000, Abortion, Natural Law, and Liberal Discourse: Α Response to John Finnis, in: R. P. George/C. Wolfe (Hrsg.), Natural Law and Public Reason, S. 107-124, sowie J.W. Boettcher, 2002, Reasonableness and Political Justification: Α Study of John Rawls' Idea of Public Reason, Boston: Boston College (unveröffentlichte Dissertation). 33 Konkret verlangt Rawls, „daß man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden." J. Rawls, 1990, S. 122. 34 Vgl. dazu auch R. Nozick, 1974, S. 198 und 219; D. Gauthier, 1975, Justice and Natural Endowment: Toward A Critique of Rawls' Ideological Framework, in: Social Theory and Practice 3, S.3-26; A.T. Kronman, 1981, Talent Pooling, in: Nomos XIII, S. 58-79; A. H. Goldman, 1987, Real People, Natural Differences and the Scope of

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Die Liste der Beispiele für eine problematische Überdehnung sozialer Abwägungsprozesse ließe sich etwa im Blick auf Rawls' Plädoyer für eine Freigabe des ärztlich assistierten Suizids35 oder die erstaunlich engen Grenzen s. E. moralisch gebotener Entwicklungshilfe von Seiten der Industrienationen36 noch beliebig verlängern, doch dürfte es sich hierbei zumeist um ad hoc formulierte Einzelüberlegungen handeln, die zwar viel über Rawls' problematische Verstrickung in den liberalen Zeitgeist der amerikanischen Gesellschaft aussagen, aber kaum mit den „stark Kantische(n) Züge(n)"37 seiner eigenen Theorie in Einklang zu bringen sein dürften. Wesentlich ernster zu nehmen ist da schon eine zweite Problemgruppe, die allerdings nicht aus einer zu weiten, sondern ganz im Gegenteil aus einer all zu engen Grenzziehung des Abwägungsspielraumes in der Gerechtigkeit als Fairness resultiert. Bekanntlich hat H.L. A. Hart in diesem Sinne schon früh auf ein gravierendes Begründungsund Anwendungsproblem hingewiesen, das sich Rawls mit seiner These von einem absoluten Vorrang der Freiheit eingehandelt hat.38 Im Grunde geht es hierbei um ein ganzes Problemknäuel, in dem zumindest die folgenden drei Schwierigkeiten miteinander verquickt sind: Erstens zieht Rawls' Versuch, den relativ unbestimmten Begriff der .Freiheit' in den frühen Aufsätzen zur Vermeidung bestimmter theorieimmanenter Spannungen durch die präzisere Kategorie der,Grundfreiheit' zu ersetzen, insofern eine ganze Reihe neuer Ungereimtheiten nach sich, als er weder eine klare Definition des Begriffs der basic libert y noch eine Rechtfertigung für die von ihm konkret aufgestellte Liste der Grundfreiheiten bietet, in der unter anderem so wichtige Freiheiten wie die sexuelle und die ökonomische Freiheit entweder gänzlich feh-

35 36 37 38

Justice, in: Canadian Journal of Philosophy 17, S. 377-393; A. Kernohan, 1990, Rawls and the Collective Ownership of Natural Abilities, in: Canadian Journal of Philosophy 20, S. 19-28, sowie S. Scheffler, 1992, Responsibility, Reactive Attitudes, and Liberalism in Philosophy and Politics, in: Philosophy and Public Affairs 21, S. 299-323. Vgl. R. Dworkin/T. Nagel/R. Nozick/J. Rawls/T. Scanlon/J.J. Thomason, 1997, Assisted Suicide. The Philosopher's Brief, in: New York Review of Books vom 27.3.1997, S. 41-47. Vgl. J. Rawls, 1999, The Law of Peoples, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S. 118f. J. Rawls, 1990, S. 12. Vgl. Η. L. A. Hart, 1977, Freiheit und ihre Priorität bei Rawls, in: O. Höffe (Hrsg.), Uber John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp, S. 131-161 (engl. Original: H. L. A. Hart, 1973, Rawls on Liberty and its Priority, in: University of Chicago Law Review 40, S. 534-555).

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461

len oder nur in stark amputierter Form vorkommen. R. Alexy hat daher zu Recht auf die Unvollständigkeit der Rawls'schen Überlegungen hingewiesen und eine Erweiterung der Freiheitsliste zumindest um die so genannten sozialen Grundfreiheiten angemahnt. 39 Zweitens bleibt Rawls ein überzeugendes Kriterium zur Lösung von Konflikten zwischen verschiedenen Grundfreiheiten schuldig, die selbst in Rawls' reduzierter Liste nicht gänzlich zu vermeiden sind. Während der Rekurs auf die ,rationale Präferenz des repräsentativen gleichen Bürgers' ausgerechnet im Konfliktfall auf Grund der Strittigkeit eben dieser Präferenz versagt, bietet auch die dem Begriff des »größten Gesamtsystems gleicher Grundfreiheiten' zugrunde liegende rein quantitative Maximierungsforderung keine Lösung, da der Wert einzelner Grundfreiheiten von verschiedenen Individuen unterschiedlich veranschlagt wird. Der in dieser Situation einzig mögliche Ausweg einer Zuflucht zu einer übergeordneten Kategorie wie der des Gemeinwohls ist aber durch Rawls' eigene erste Vorrangregel insofern abgeschnitten, als das Gemeinwohl neben der Freiheit selbst noch weitere Güter einschließen würde. Eine dritte Schwierigkeit ergibt sich aus der schleichenden inhaltlichen Auszehrung von Rawls' Freiheitsverständnis. Die Unterscheidung zwischen der Freiheit selbst und ihrem Wert für den Einzelnen führt nämlich letztlich zu einem rein formalen Freiheitsbegriff, dessen politisch-praktische Bedeutung durch den primär negativemanzipatorischen Einschlag seiner Liste der Grundfreiheiten noch zusätzlich gemindert wird. 40 Angesichts derart gravierender Probleme 39 R. Alexy, 1997, Theorie der Grundfreiheiten, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt: Suhrkamp, S. 263-303. Alexy erklärt Rawls' Vorgehen zutreffend wie folgt: „Sein Ziel besteht darin, die Liste der Grundfreiheiten so zu gestalten, daß zwar zwischen den einzelnen Grundfreiheiten noch Kollisionen zu lösen sind, die Freiheiten der Liste aber gegenüber allen anderen Gütern und Werten ein absolutes Gewicht haben. Die Grundrechte sollen keine prima facie-Rechte sein. In die Liste wird gerade deshalb nur eine begrenzte Zahl von Grundfreiheiten aufgenommen, weil jede Erweiterung die .indeterminate and unguided balancing problems' wieder auf den Plan rufen würde, die Rawls mit seiner Prioritätsregel vermeiden will. Es geht also darum, Abwägungen zu vermeiden. [...] Rawls ist der Auffassung, daß die Methode der Abwägung seine Idee der Grundrechte im Kern zerstören würde. Die Grundrechte würden zum Gegenstand des Kalküls der sozialen Interessen werden. [...] U m die wichtigsten Grundrechte zu sichern, dürfe man deshalb gar nicht erst unwichtigere und abwägungsbedürftige Grundrechte in die Liste aufnehmen." Theorie der Grundfreiheiten, S.284f. 40 Vgl. N. Daniels, 1975, Equal Liberty and Unequal Worth of Liberty, in: ders. (Hrsg.), Reading Rawls, New York: Basic Books, S. 253-281, bes. 261; N. Bowie, 1980, Equal Basic Liberty for All, in: H. G. Blocker/E. H. Smith (Hrsg.), John

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ist es kaum überraschend, dass Rawls' These vom absoluten Vorrang der Freiheit auf breite Ablehnung gestoßen ist. H. L. A. Hart hat ihren „offenkundig dogmatischen Einschlag" durch ein „latentes eigenes Ideal" 41 erklärt, das sich hinter den Rawls'sehen Überlegungen verberge und maßgeblichen Einfluss auf den Argumentationsgang nehme. Sollte diese Vermutung zutreffen, dann hätte dies auch gravierende Auswirkungen auf die angeblich größere Pluralismuskompatibilität der Gerechtigkeit als Fairness, die den zweiten von Rawls reklamierten Vorzug seiner eigenen Konzeption gegenüber dem Utilitarismus ausmacht. Die für die Lösung von Konfliktsituationen entscheidenden Vorrangregeln würden bei Rawls dann nämlich nicht wie versprochen ausschließlich durch das allen gemeinsame und somit lebensformneutrale rationale Interesse an einer optimalen Grundgüterausstattung begründet, sondern verdankten ihre Plausibilität einer bestimmten partikularen Vorstellung vom guten Leben, über die sich in einer pluralistischen Gesellschaft voraussetzungsgemäß gerade kein Konsens mehr erzielen lässt. Zwar hat der späte Rawls versucht, diese Einwände insbesondere durch den Verweis auf die zentrale Stellung des liberalen Personbegriffs in seinem Entwurf sowie durch kleinere Veränderungen in der Grundgüterlehre und in der Formulierung des ersten Fairnessgrundsatzes auszuräumen, 42 doch dürfte der Erfolg dieser eher kosmetischen Maßnahmen recht gering zu veranschlagen sein, zumal Rawls selbst betont hat, trotz aller Veränderungen im Detail an der Substanz seines Ansatzes einschließlich des umstrittenen Vorrangs der Freiheit festhalten zu wollen. Verschiedene Kritiker haben denn auch kurzerhand das Scheitern von Rawls' groß angelegtem Projekt einer systematischen Überwindung das Utilitarismus festgestellt. Vor allem von utilitaristischer Seite selbst wurde schon früh der Versuch unternommen, entweder die Angemessenheit der Rawls'schen Darstellung des Utilitarismus in Zweifel zu ziehen oder aber die Fairnesskonzeption aufgrund angeblich weitgehender Ergebnisgleichheit mit utilitaristischen Ansätzen als lediglich Rawls's Theory of Social Justice, Athens, O H : Ohio University Press, S. 110-131, 128, sowie L. P. Francis, 1980, Responses to Rawls from the Political Left, in: H. G . Blocker/E. H . Smith, 1980, S. 463-493. 41 H . L . A . Hart, 1977, S. 161. 42 Vgl. J. Rawls, 1996, Political Liberalism, N e w York: Columbia University Press, Introduction to the Paperback Edition, bes. S. xxxvii-lxii, sowie ders., 2001, Justice as Fairness. A Restatement, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press.

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raffiniertere Variante des Utilitarismus einzugemeinden. 43 Ich halte beide Strategien für unangemessen. Rawls ist von seinem Grundansatz her keineswegs ein verkappter Utilitarist, sondern eindeutig ein Deontologe, der grundlegenden utilitaristischen Überzeugungen den Kampf ansagt.44 Allerdings ist kaum zu bestreiten, dass ihn die starke Fixierung auf den Utilitarismus als Hauptgegner in der Entfaltung seines eigenen Ansatzes zu einer Reihe durchaus problematischer Entscheidungen verleitet hat, die neben verschiedenen Missverständnissen auch berechtigte Einwände hervorgerufen haben. Dies trifft nicht nur für den Flirt des frühen Rawls mit der Spiel- und Entscheidungstheorie, sondern auch für seine offenkundige Faszination für möglichst eindeutige und präzise Lösungsmechanismen zu. In dem Bemühen, die Gerechtigkeit als Fairness als eine dem Utilitarismus gerade auch in formaler Hinsicht mindestens ebenbürtige Theorie zu präsentieren, neigt Rawls nämlich dazu, komplexe Zusammenhänge durch überaus fragwürdige Auslassungen und Reduktionismen radikal zu vereinfachen. Das lässt sich in seiner Grundgüterlehre 45 ebenso beobachten wie in seinen Ausführungen zu Art und Stellung der so genannten Grundfreiheiten. In beiden Fällen operiert Rawls mit einer hochgradig defizitären Kandidatenliste, deren Plausibilität er damit zu rechtfertigen sucht, dass die theoretischen Schwierigkeiten nur durch die vorgenommene Reduzierung der involvierten Parameter überhaupt beherrschbar blieben und eine eindeutige Lösung böten. Ein derart gewaltsames unphänomenologisches Vorgehen führt aber regelmäßig dazu, dass Rawls seinen an sich vielversprechenden Grundansatz mit einer Reihe fragwürdiger Einzelüberlegungen befrachtet, deren Konsequenzen gerade im Blick auf die hier einschlägige Abwägungsproblematik kaum zu überschät43 Vgl. N . S. Care, 1969, Contractualism and Moral Criticism, in: Review of Metaphysics 23, S. 85-101; D. Lyons, 1975, Nature and Soundness of the Contract and Coherence Arguments, in: N. Daniels (Hrsg.), Reading Rawls, S. 141-167; H. Smith Goldman, 1980, Rawls and Utilitarianism, in: H. G. Blocker/E. H. Smith (Hrsg.), S. 346-394. 44 Vgl. dazu auch L. Mulholland, 1986, Rights, Utilitarisnism, and the Conflation of Persons, in: Journal of Philosophy 83, S. 323-340; W. Kymlicka, 1988, Rawls on Teleology and Deontology, in: Philosophy and Public Affairs 17, S. 173-190; S. Freeman, 1994, Utilitarianism, Deontology, and the Priority of Right, in: Philosophy and Public Affairs 23, S. 313-349, sowie S. Scheffler, 2003, Rawls and Utilitarianism, in: S. Freeman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge: Cambridge University Press, S. 4 2 6 - 4 5 9 . 45 Vgl. A. Schwartz, 1973, Moral Neutrality S. 294-307.

and Primary

Goods, in: Ethics 83,

464

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zen sind. Zur Überwindung dieser und ähnlicher Ungereimtheiten dürfte es sich lohnen, noch einmal jene naturrechtlich-deontologische Tradition auf die Grenzen legitimer Abwägungen hin zu befragen, deren legitimer Erbe zu sein Rawls beansprucht.46

3. Abwägungsspielräume in der aristotelisch-thomanischen Tradition Wenn wir abschließend noch einen kurzen Blick auf Aristoteles und Thomas von Aquin werfen, dann scheint dies vor allem aus zwei Gründen gerechtfertigt. Erstens stellt Rawls diesen Zusammenhang selbst her, indem er neben der Betonung der „stark kantische(n)" Züge seines Ansatzes und dessen Verwurzelung im neuzeitlichen Kontraktualismus ausdrücklich auch Aristoteles zum Kronzeugen für die Berechtigung seines Vorgehens anruft.47 Zweitens fordert Rawls' bislang viel zu wenig beachtete Kennzeichnung seiner Fairnesskonzeption als eines naturrechtlichen oder wenigstens naturrechtskompatiblen Ansatzes zumindest den katholischen Moraltheologen insofern zu einem kritischen Vergleich mit der thomanischen Naturrechtslehre geradezu heraus, als Thomas' Traktat De Lege in der Prima Secundae der Summa theologiae gemeinhin als „Höhepunkt katholischen Naturrechtsdenkens"48 gilt und somit zwangsläufig die Frage nach der Kompatibilität von Rawls' liberalem Fairnessmodell und dem thomanischen Naturrechtsverständnis aufwirft. Angesichts der völlig unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, unter denen Denker wie Aristoteles, Thomas, Kant und Rawls ihre jeweiligen moralphilosophischen Entwürfe erarbeiten, muss sich ein derartiger epochenübergreifender Strukturvergleich naturgemäß auf wenige, ganz grundlegende Theorieelemente beschränken. Dabei zeigen sich neben wichtigen Parallelen auch gravierende Unterschiede, deren Bedeutung gerade auch für Fragen der Güterabwägung kaum zu überschätzen sind. Eine erste Gemeinsamkeit dürfte darin liegen, dass jeder der genannten Autoren eine moralphilosophische Konzeption vertritt, die sich nicht nur durch ihr grundsätzliches Bekenntnis zum Kognitivis46 Vgl. J. Rawls, 1990, S. 549 Anm. 30. 47 J. Rawls, 1990, S . 2 7 u . ö . 48 F. Ricken, 1994, A r t . Naturrecht, in: Theologische Realenzyklopädie

lin/New York: de Gruyter, S. 142.

Bd. XXIV, Ber-

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465

mus sowie zur Materialität und universalen Geltung oberster Moralprinzipien, sondern auch durch eine große Sensibilität für die Eigenständigkeit und Unableitbarkeit praktischer Vernunft auszeichnet. 49 Einigkeit herrscht unter ihnen weiterhin auch über die Notwendigkeit eines deontologischen Elements innerhalb der Ethik, das im Schutz der einzelnen Person als sittlichem Subjekt und der Sicherung ihres Zuganges zu bestimmten elementaren Gütern besteht. Dieser für Gerechtigkeitsfragen schlechthin fundamentale Personenbezug des Guten ist nicht nur in Rawls' Verweis auf die „Unverletzlichkeit" jedes einzelnen Menschen und in Kants Selbstzwecklichkeitslehre präsent. Er scheint auch in der aristotelischen Deutung des anzustrebenden Guten als des „menschlichen Guten" (τό άνθρώπινον αγαθόν)50 und im thomanischen Verständnis des obersten Grundsatzes der praktischen Vernunft auf, demzufolge „das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen" 51 sei. Dieses Prinzip stellt keine inhaltsleere Tautologie dar, sondern verfügt ungeachtet seines hohen Abstraktionsgrades mit der Vorstellung einer „umfassenden, durch vernünftige Praxis zu erwirkenden Realisierung des äußersten Seinkönnens des Menschen" 52 über einen komplexen Inhalt, der es ihm ermöglicht, im Sinne eines metanormativen Prinzips alle konkreten normativen Einzelbestimmungen zu fundieren. Gerade die thomanischen Reflexionen zu Inhalt, Umfang und Struktur des naturgesetzlichen Ge- und Verbotsbestandes lassen nun aber auch tiefgreifende Unterschiede zum Rawls'schen Fairnesskonzept erkennen, die eng mit der jeweils vertretenen Güterlehre zusammenhängen. Wir hatten bereits gesehen, dass Rawls in seinen verteilungstheoretischen Überlegungen mit einer Grundgüterliste arbeitet, die vor allem deswegen höchst problematisch erscheint, weil sie nicht nur in Spannung zu seinen eigenen Auswahlkriterien steht, sondern sich zudem als hochgradig unvollständig und parteiisch zugunsten einer be49 Die Methodenexkurse innerhalb der aristotelischen und in Abhängigkeit davon der thomanischen Ethik legen davon ebenso eindrucksvoll Zeugnis ab wie Kants beständiger Kampf gegen eine empiristische Einebnung der Moralphilosophie im Sinne Humes oder Rawls' kritische Auseinandersetzung mit dem vormoralischen Vernunftbegriff des Utilitarismus. 50 Aristoteles, EN I 6, 1098 a 16. 51 Thomas von Aquin, S. Th. I—II q.94 a.2. 52 F.-J. Bormann, 1999, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart: Kohlhammer, 214.

466

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stimmten Lebensform erweist. Die aus der umstrittenen ersten Vorrangregel resultierende dominante Stellung des Freiheitsbegriffs führt de facto zu einer Trennung der Freiheit von den übrigen Grundgütern und hat letztendlich zur Folge, dass Rawls den „äußeren Handlungsaspekt der bereits auf seiner Liste versammelten Grundfreiheiten [...] nicht oder nicht befriedigend erfassen kann" 53 . Vor allem die bei Rawls vermisste Gruppe der naturalen und sozialen Güter spielt nun aber eine wichtige Rolle innerhalb der aristotelischen und der thomanischen Ethik. Da beide Denker übereinstimmend den dynamischen Handlungscharakter menschlicher Vollendung betonen 54 und sich in ihren anthropologischen Ansätzen bewusst um eine ganzheitliche, die leib-seelische Einheit ebenso wie die soziale Beziehungsdimension berücksichtigende Interpretation des Menschen bemühen, haben sie eine überaus differenzierte Güterlehre erarbeitet, die sich im Vergleich mit der Rawls'schen Konzeption der social basic goods vor allem durch ihren größeren inhaltlichen Reichtum auszeichnet.55 Zwar ist es richtig, dass damit zunächst einmal insofern eine Verschärfung der Abwägungsproblematik verbunden ist, als mit der Vermehrung der involvierten Parameter auch die Zahl der möglichen Konflikt- und Konkurrenzsituationen und damit der Bedarf an differenzierten Vorzugsregeln steigt.56 Doch bietet insbesondere die thomanische Konzeption durchaus einen höchst interessanten Ansatz zur Lösung dieser Probleme. Es ist nämlich gerade nicht so, wie uns einige zeitgenössische Verfechter einer sich zu Unrecht auf den Aquinaten berufenden strengen Deontologie glauben machen möchten, dass die in Rede stehenden Grundgüter, die allesamt Zielpunkte elementarer natürlicher Neigungen bilden, für Thomas einfach gleichberechtigt nebeneinander stünden und daher ohne weiteres zum direkten Anknüpfungspunkt streng ausnahmslos geltender Ge- und Verbotsvorschriften gemacht werden könnten. 57 Abgesehen davon, dass eine derartige Vorstellung überhaupt nur unter der Voraussetzung einer 53 R. Alexy, 1997, Theorie der Grundfreiheiten, S.292; F. Ricken hat in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit eines Konzepts „konkreter Freiheit" hingewiesen (vgl. F. Ricken, 3 1998, Allgemeine Ethik, Stuttgart: Kohlhammer, S. 174f und 178f). 54 Vgl. EN I 6, 1098 a 16-18, sowie S. Th. I—II q.3 a.2. 55 Zur aristotelischen Güterlehre vgl. EN I 8, 1098 b 12-14; EN V 2, 1129 b 1-6; EE VIII 3, 1248 b28-30; Rhet. I 5 - 6 ; Pol. VII 1, 1323 a24-b21. 56 Vgl. M. Walzer, 1983, Spheres of Justice, Oxford: Blackwell. 57 Vgl. J. Finnis, 1980, Natural Law and Natural Rights, Oxford: Clarendon Press, S. 85-95, sowie ders., 1991, Moral Absolutes, Washington: The Catholic University of America Press, chap. II.

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prästabilierten Harmonie zwischen den involvierten Strebungen bzw. den ihnen korrespondierenden Gütern plausibel wäre - eine Annahme, für die es innerhalb der thomanischen Konzeption keinerlei Anhalt gibt - , scheinen die Anhänger dieser radikal simplifizierenden Sichtweise primär das strategische Interesse zu verfolgen, den Spielraum legitimer Abwägungsprozesse möglichst einzuschränken und damit die Bedeutung der abwägenden praktischen Vernunft im Sinne der aristotelischen φρόνησις bzw. thomanischen prudentia für eine objektive Moraltheorie nach Möglichkeit zu minimieren. 58 Ein solches Vorgehen steht aber im eindeutigen Widerspruch zum Geist und Buchstaben der aristotelisch-thomanischen Tradition. Mit dem Verweis auf das „sittliche Subjektsein des Menschen" als „Fundament jeglicher Güterabwägung" 59 ist für Thomas nämlich nur ein erstes grundlegendes Moment praktischer Vernünftigkeit gegeben, das durch weitere Elemente zu ergänzen ist. Da dieses sittliche Subjektsein zu seinem Vollzug an eine Fülle verschiedener Voraussetzungen in Gestalt objektiver Güter gebunden ist, und es zwischen diesen Gütern immer wieder zu Konflikten kommen kann, ist zu klären, wie in einem solchen Fall vernünftigerweise zu entscheiden ist. Den thomanischen Reflexionen im berühmten zweiten Artikel der 94. Frage der Prima Secundae, denen eine von J. Finnis zu Unrecht als „irrelevante Schematisierung" 60 diffamierte dreigliedrige Struktur der inclinationes naturales gemäß der Substanz-, der Sinnen- und der Vernunftnatur des Menschen zugrunde liegt, lassen sich zwei wichtige Kriterien entnehmen. Das eine besteht in der Dringlichkeit, das andere in der Ranghöhe der jeweils involvierten Güter. Thomas schließt aus dem Umstand, dass der menschliche Wille natürlicherweise auf eine Vielzahl unterschiedlicher Güter ausgerichtet ist, wobei jedes dieser Güter eine allgemeine Gelingensvoraussetzung des Menschseins darstellt, gerade nicht auf eine prinzipielle Gleichrangigkeit dieser Güter. Er geht vielmehr ganz im Gegenteil von einer Güterhierarchie und einem ΒedingungsVerhältnis zwischen verschiedenen Güterklassen aus.

58 Diese Tendenz zeigt sich nicht nur bei G. Grisez (vgl. Grisez, 1985, Moral Absolutes, in: Anthropos 2, S. 1 5 5 - 2 0 1 ) , sondern auch bei M. Rhonheimer (vgl. 1987, Natur als Grundlage der Moral, Innsbruck: Tyrolia, sowie ders., 1994, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, Berlin: Akademie Verlag). 59 L. Honnefelder, 1989, Güterabwägung

in der aristotelisch-scholastischen

(Medizinethische Materialien Heft 29), Bochum, S.2. 60 J. Finnis, 1980, Natural Law and Natural Rights, S. 95.

Tradition

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Am naturalen Gut des Lebens lassen sich die Konsequenzen dieser Sichtweise besonders eindrücklich beobachten. Obwohl das Leben als fundamentalstes aller Güter in der Hierarchie ganz unten steht, kommt ihm in dem Maße ein Vorrang vor anderen höheren Gütern zu, als die Existenzerhaltung die notwendige Bedingung für die Erlangung aller andern Güter ist. Dieser basale Vorrang des Lebens, der sich auch auf andere naturale Güter ausweiten lässt, die unmittelbar mit dem Status der Person als sittlichem Subjekt verbunden sind, führt zu einer ersten auf die Bedingungsverhältnisse der involvierten Güter abhebenden Vorrangregel, derzufolge ein Gut in dem Maße den Vorzug vor anderen Gütern verdient, wie es selbst die Bedingung der Möglichkeit für die Erlangung und den Erhalt anderer Güter darstellt. 61 Aus diesem Vorrang basaler naturaler Güter ergibt sich für Thomas eine Reihe kategorischer Verbotsvorschriften, die sowohl das Selbst- wie auch das Fremdverhältnis betreffen. Im Fall des Lebens ist dies etwa das unbedingte Verbot des Suizids 62 sowie der direkten Tötung Unschuldiger 63 . An der moralischen Unzulässigkeit derartiger Tötungshandlungen ändern auch die vermeintlich edlen Motive derjenigen nichts, die sich etwa im Kontext der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion dafür aussprechen, das Tötungsverbot um der Erlangung hochrangiger Ziele wie der Bereitstellung neuer Therapieverfahren für schwerste Krankheiten willen in einer begrenzten Zahl von Fällen außer Kraft zu setzen. Wer sich gar unter Berufung auf die im deutschen Grundgesetz nicht mit einem Gesetzesvorbehalt versehene Forschungsfreiheit zur Preisgabe von Leib und Leben Dritter berechtigt glaubt, der redet einer Handlungsweise das Wort, die den Betroffenen gegenüber rationalerweise moralisch nicht verantwortet werden kann, weil sie auf deren ungerechtfertigte Totalinstrumentalisierung hinausläuft und damit letztlich eine Verabschiedung des Personprinzips impliziert, das unserer moralischen und rechtlichen Kultur zugrunde liegt. Heißt das nun aber, dass naturale Güter wie das Leben grundsätzlich jeder Abwägung entzogen sind und als schlechterdings unantastbar zu gelten haben? Gegen eine solche Vermutung sprechen nicht nur jene klassischen Ausnahmen vom Tötungsverbot (wie Notwehr, Todesstrafe 61 Vgl. dazu auch F. Ricken, 1993, Ethik der abwägenden Vernunft, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, S. 592, sowie ders., 3 1998, Allgemeine Ethik, S. 191 f. 62 VgLS.Th. II-II q. 64 a. 5. 63 Vgl. S. Th. II-II q. 64 a. 6.

Deontologische A n s p r ü c h e und die G r e n z e n der A b w ä g u n g

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und das Töten im gerechten Krieg), 64 die sich ganz selbstverständlich auch bei Thomas nachweisen lassen, sondern auch seine in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreichen Überlegungen zum Martyrium. 65 Ganz offensichtlich weiß Thomas um die Existenz tragischer Situationen, in denen das Gut des Lebens ungeachtet seiner fundamentalen Bedeutung in einen unauflösbaren Konflikt mit bestimmten anderen Gütern gerät, deren unvergleichliche Ranghöhe eine Preisgabe sogar des eigenen Lebens erforderlich macht. Von einer feindlichen staatlichen Gewalt vor die Alternative gestellt, entweder seinem religiösen Glauben öffentlich abzuschwören und dadurch das eigene physische Leben zu retten oder aber standhaft den Glauben zu bezeugen und dafür den sicheren Tod zu erleiden, besteht für Thomas die einzig moralisch mögliche Entscheidung in der mit dem Verlust des eigenen Lebens zu bezahlenden Glaubenstreue. Die Rede vom „Geschuldetsein der Übernahme des Todes" 66 im Fall des religiösen Martyriums deutet darauf hin, dass hier aufgrund der direkten Konkurrenzsituation der beteiligten Güter keine andere Handlungsweise rational gerechtfertigt werden könnte. Die Perfidie des Verfolgers besteht in diesem Beispiel genau darin, dass er sein Opfer in eine Situation zwingt, in der die Rettung des Lebens nur um den Preis einer öffentlichen Diskreditierung der eigenen religiösen Überzeugung möglich ist. 67 Anders liegen die Dinge im Fall des altruistischen Selbstopfers, in dem jemand zur Rettung des Lebens eines Dritten heroisch auf sein eigenes Leben verzichtet. Hier haben wir es mit zwei gleichrangigen Gütern zu tun. Der Verzicht auf das eigene Leben ist deshalb nicht moralisch notwendig, sondern lediglich moralisch möglich. Er stellt eine von keiner Norm zu erfassende supererogatorische Mehrleistung dar, zu der niemand moralisch verpflichtet werden kann. Im Gegensatz zum religiösen Fanatiker oder politischen Extremisten, der sich zur Durchsetzung seiner Ziele gewaltsamer Mittel bedient, repräsentieren der Märtyrer und der Altruist einen Typ der Gewissensentscheidung, in dem es ausschließlich um den Einsatz des eigenen Lebens, keinesfalls jedoch um die kalkulierte Schädigung oder gar 64 A u f verschiedene Schwierigkeiten der Formulierung dieser A u s n a h m e n hat W. W o l bert, 2 0 0 0 , Du sollst nicht töten. Systematische Überlegungen zum Tötungsverbot, Freiburg: Herder, aufmerksam gemacht. 65 Vgl.

Th. II-II q. 124.

66 S. Th. II-II q. 124 a. 3. 67 A u s d r ü c k l i c h stellt Thomas fest: „cuiuslibet martyrii causa est fidei veritas. - Sed ad fidei veritatem n o n solum pertinet ipsa credulitas cordis, sed etiam exterior protestatio." S. Th. II-II q. 124 a.5.

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Zerstörung des Lebens Dritter geht. Bei allem gebotenen Respekt vor der subjektiven Verpflichtungskraft selbst des objektiv irrenden Gewissens gibt es also auch bei Thomas eine klare Grenze für die Durchsetzung individueller Gewissensentscheidungen. Die persönliche Freiheit des einen endet dort, wo der Gebrauch dieser Freiheit zur Gefährdung der Grundlagen der Freiheit der anderen wird. Dabei besteht die Stärke der thomanischen Konzeption vor allem darin, dass sie die vielfältigen Voraussetzungen eines freien und verantwortlichen Selbstvollzuges als sittliches Subjekt gerade auch in ihren naturalen und sozialen Grundlagen unverkürzt zur Geltung bringt und einer differenzierten Analyse unterwirft. Die hier einschlägige thomanische Lehre vom natürlichen Wollen des Menschen 68 bleibt nicht bei einer bloßen Aufzählung einzelner, beziehungslos nebeneinander stehender Einzelgüter oder Güterklassen stehen, sondern hebt mit der umfassend zu verstehenden Entwicklung und Entfaltung der individuellen Handlungsfähigkeit zugleich den entscheidenden Ziel- und Konvergenzpunkt aller partikularen Einzelstrebungen ans Licht. Sowohl zur Vermeidung einer ungebührlichen Uberdehnung wie einer unzulässigen Verengung der individuellen und sozialen Abwägungsspielräume ist es unbedingt erforderlich, die Voraussetzungen individueller Handlungsfähigkeit einer genauen Analyse zu unterziehen. Nur so ist es möglich, ein Gespür für die realen Bedingungsverhältnisse zwischen mehreren objektiven Gütern zu entwickeln, an denen sich eine verantwortliche Güterabwägung zu orientieren hat. Obwohl Thomas seine Überlegungen noch nicht in die neuzeitliche Sprache subjektiver Rechtsansprüche kleidet, sondern einem vorneuzeitlichen Ordnungsdenken und dem Bild einer mittelalterlichen Einheitsgesellschaft verhaftet bleibt, tut das der bleibenden Bedeutung der tragenden Grundeinsichten seines moralphilosophischen Ansatzes keinen Abbruch. 69 Von Thomas kann man auch heute noch lernen, dass das Bekenntnis zu einem deontologischen Element in der normativen Ethik keineswegs den Blick für die Komplexität von Abwägungsprozessen trüben muss. Der Begriff der Deontologie stellt keine Kampfansage an die Abwägung dar, sondern verweist auf genau jene Voraussetzungen, auf die eine humane Ethik der abwägenden Vernunft nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe verzichten kann. 68 Vgl. dazu F.-J. Bormann, 1999, Natur als Horizont sittlicher Praxis, Kap. 2.2, S. 8 0 143. 69 Vgl. dazu auch Ch. Schröer, 1995, Praktische Vernunft hei Thomas von Aquin, Stuttgart: Kohlhammer, bes. Kap.V.

Franz von Kutschera und das Problem der abwägenden Vernunft HANS-LUDWIG OLLIG

Das Problem der abwägenden Vernunft, auf das Friedo Ricken in seinen Veröffentlichungen aufmerksam gemacht hat, wird in unterschiedlichen Kontexten relevant und ist auch in ethischen Ansätzen der Sache nach präsent, in denen nicht explizit von abwägender Vernunft die Rede ist. Ein Beleg dafür ist von Kutscheras Ethikentwurf. Von Kutschera stößt auf dieses Problem bei seiner Diskussion des pflichtethischen (deontologischen) und des wertethischen (konsequentialistischen) Ansatzes. Im Folgenden soll zunächst diese Diskussion dargestellt (1.) und anschließend nach dem Ertrag der Überlegungen von Kutscheras gefragt werden (2.).

1. In der zweiten Auflage seiner Grundlagen der Ethik1 schreibt Franz von Kutschera: „ N a c h den deontologischen Ethiken hängt die moralische Q u a l i t ä t einer H a n d l u n g von jener der Handlungsweise ab, die damit vollzogen wird [...]. N a c h der konsequentialistischen K o n z e p t i o n hängt die moralische Q u a l i tät einer H a n d l u n g hingegen v o m Wert ihrer Folgen ab. Eine konsequentialistische Ethik geht also von einer für Zustände definierten Wertordnung aus und bestimmt den Wert einer H a n d l u n g als Gesamtwert ihrer zu erwartenden Folgen [...]. F ü r eine teleologische Ethik sind [...] Wertbegriffe fundamental [...]. F ü r deontologische Ethiken sind hingegen deontische Begriffe grundlegend [...]." (Kutschera, 1999, S.72)

Allerdings folgt aus der Tatsache, dass Wertbegriffe als die fundamentalen normativen Begriffe angesehen werden, nicht einfach die konse1 F. von Kutschera, 1999, Grundlagen der Ethik, Berlin: De Gruyter.

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H a n s - L u d w i g Ollig

quentialistische These, dass sich die moralische Qualität einer Handlung aus dem Wert ihrer Resultate bestimmt, gleichwohl wird man, wie von Kutschera formuliert, „den Wert von Handlungen jedenfalls nicht unabhängig von dem ihrer Resultate bestimmen" (ebd.). Ebenso sei auch eine Pflichtethik ihrem Begriff nach nicht immer deontologisch. Insofern Pflichten aber im normalen Sinn generell sind, genügten Pflichtethiken in aller Regel auch der deontologischen These, dass die moralische Qualität einer Handlung sich aus dem deontischen Charakter der Handlungsweise ergibt, die damit realisiert wird. Zum näheren Verständnis des konsequentialistischen Ansatzes weist er zunächst darauf hin, wenn sich hier die moralische Qualität aus dem Wert ihrer Resultate ergebe, so dürfe der Begriff der Resultate nicht zu eng gefasst werden. Denn eine Handlung könne erstens auch in sich, unabhängig von ihren Folgen, einen gewissen Wert haben. Zu den Resultaten zählten also nicht nur ihre Wirkungen oder Folgen, sondern auch der Handlungssachverhalt selbst, und zudem sei es wichtig, nicht nur die unmittelbaren Konsequenzen einer Handlung zu berücksichtigen, sondern „auch die mittelbaren Resultate, die Resultate auf lange Sicht und die Nebenwirkungen" (Kutschera, 1999, S. 73). Wichtig zum Verständnis des konsequentialistischen Ansatzes ist für ihn des Weiteren: Der Wert des Vollzugs einer Handlungsweise richtet sich in diesem Fall nicht nach einem Wert, der dieser Handlungsweise selbst zukommt. Ist es also schlecht, dass eine Person Α eine Person Β belügt, dann „nicht deshalb, weil Lügen an und für sich schlecht wäre, sondern weil diese Lüge schlechte Konsequenzen hat" (ebd.). Auch wenn man in der Regel davon ausgehen kann, dass Lügen schlechte Konsequenzen haben, sind doch auch Fälle denkbar, in denen eine Lüge positive Wirkungen zeitigt. Von Kutschera bringt hier das folgende Beispiel: „Ein Arzt läßt einen Schwerkranken im unklaren über den Ernst seiner Situation und täuscht ihm gute Genesungsaussichten vor. Dadurch vermeidet er eine psychische Belastung des Patienten, stärkt seinen Gesundungswillen und leistet so einen Beitrag zu dessen tatsächlicher Gesundung." (ebd.)

In diesem Fall ist die Lüge des Arztes nach konsequentialistischer Auffassung gerechtfertigt. Auf der Grundlage des konsequentialistischen Ansatzes gelangt man zu folgendem Gebotsbegriff: „Eine Handlung ist genau dann erlaubt, wenn sie ein unter den gegebenen Umständen insgesamt optimales Resultat hat." (Kutschera, 1999, S.74) Die problematischen Implikationen einer solchen Fassung des Gebotsbegriff erläutert von Kutschera wie folgt: Dann und nur dann,

Franz von Kutschera und das Problem der abwägenden Vernunft

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wenn alle Handlungen eines Typs F in bestimmten Situationen immer wertvoll sind, könne man eine Handlungsweise F in diesen Situationen als gut bezeichnen. Je weniger spezifisch aber die angeführten Situationen sind, desto weniger Handlungsweisen könne man als eindeutig gut auszeichnen. Man könne vielmehr nur Aussagen der Art machen, „daß - unter den und den Umständen - eine Handlungsweise in der Regel oder meistens positive Effekte hat" (ebd.). Mit solchen Erfahrungssätzen sei es aber nicht möglich, einen Wert der Handlungsweise als solcher zu begründen, da eine Handlungsweise, die in der Regel gute Wirkungen hat, im Einzelfall durchaus auch negative Wirkungen zeitigen könne. Misslich ist das nach von Kutschera deshalb, weil es gerade der Sinn einer normativen Auszeichnung von Handlungsweisen ist, „all ihre Realisierungen normativ in gleicher Weise auszuzeichnen", denn eine Handlungsweise ist „genau dann gut oder geboten, bzw. verboten oder erlaubt, wenn alle ihre Realisierungen gut, bzw. geboten, verboten oder erlaubt sind" (ebd.). Bei der Diskussion des konsequentialistischen und des deontologischen Ansatzes macht von Kutschera deutlich, dass beide Ansätze ihre Probleme haben.2 Was den konsequentialistischen Ansatz angeht, so sieht er hier zunächst die Schwierigkeit, dass ein solcher Ansatz auf starken Idealisierungen beruht. Von Kutschera schreibt: „Wert hat etwas zunächst immer nur unter einem Aspekt, und unter verschiedenen Aspekten kann es ganz unterschiedliche Werte haben. Eine Handlung kann ζ. B. gerecht, aber pedantisch sein, ein Bild schön in den Farben, aber schlecht in der Komposition. Will man vom Gesamtwert einer Sache reden, so muß man die verschiedenen Wertaspekte gewichten. Im einfachsten Fall gibt man eine Hierarchie der Wertaspekte an, so daß eine Sache, die unter einem höheren Aspekt wertvoll ist als eine andere, dieser vorzuziehen ist, selbst dann, wenn sie unter allen nachgeordneten Aspekten erheblich schlechter ist als diese. Das ist aber offenbar unbefriedigend. Brauchbarer ist der Ansatz, den verschiedenen Wertaspekten numerische Gewichte zuzuordnen und dann den Gesamtwert eines Zustandes als gewichtetes Mittel seiner Werte unter diesen Aspekten zu bestimmen. D a z u muß man zunächst von den komparativen Wertordnungen unter den einzelnen Aspekten ausgehen und metrische Begriffe des Werts unter diesen Aspekten einführen. Metrische Wertbegriffe braucht man auch, um den Gesamtwert der verschiedenen Folgen einer Handlung festzulegen, denn der läßt sich nur als Summe der Werte der einzelnen Folgen bestimmen. Abgesehen von formalen Problemen, die sich dabei ergeben, ist es vor al2 F. von Kutschera, 1998, Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit, Berlin: D e Gruyter.

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Hans-Ludwig Ollig lern schwierig, eine umfassende Wertordnung zu bestimmen, die inhaltlich überzeugend ist." (Kutschera, 1998, S. 332)

Als Beispiele führt von Kutschera hier an, dass sich etwa im ästhetischen Bereich nicht einmal Landschaftsgemälde unterschiedlicher Stilrichtungen „ihrer Gesamtqualität nach vergleichen" (Kutschera, 1998, S. 333) ließen, und noch schwieriger sei es, Architektur mit Musik zu vergleichen. Ebenso seien auch im sozialen Bereich Vergleiche oft kaum möglich oder hochgradig umstritten. Denn die Freiheitlichkeit eines politischen Systems gehe in der Regel auf Kosten der Gleichheit. Wie aber, so fragt er, soll man in diesem Fall die Frage beantworten: „Was ist wichtiger und um wie viel?" (ebd.) Angesichts dieser Probleme, meint von Kutschera, sei wohl nur eine partielle Wertordnung realistisch, in der dann aber vieles nicht vergleichbar ist. Damit aber ließen sich Handlungsalternativen oft nicht vergleichen, sodass das Optimierungsprinzip nicht mehr greift, das uns dazu verpflichtet, in jeder Situation optimal zu handeln, d.h. „im Blick auf die zu erwartenden Folgen der möglichen Handlungsalternativen möglichst viel Gutes zu bewirken" (Kutschera, 1998, S.331). Selbst wenn man aber ungeachtet der eben genannten Probleme von einer umfassenden Wertordnung ausgeht, ist die Umsetzung des Optimierungsprinzips in konkreten Entscheidungssituationen mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Von Kutschera macht das wie folgt deutlich: „Die moralische Qualität einer Handlung hängt von den tatsächlichen Resultaten ab. Da es dabei um längerfristige Folgen geht, die meist unsicher sind, muß man sich bei der Wahl einer Alternative nach den zu erwartenden Ergebnissen richten. U m den zu erwartenden Wert einer Handlung bestimmen zu können, braucht man aber numerische Wahrscheinlichkeiten für ihre möglichen Folgen, und die können wir oft nicht angeben." (Kutschera, 1998, S. 333)

Neben diesem Einwand, der kein prinzipielles Argument gegen ein konsequentialistisches Ethikkonzept darstellt, also nicht besagt, dass dessen Bewertungsmaßstab für Handlungen falsch ist, sondern nur, dass dieser sich oft nicht in konkreten Handlungsanweisungen umsetzen lässt, formuliert von Kutschera mehrere Einwände, die sich alle darauf beziehen, dass sich in einem solchen Ethikkonzept keine Pflichten begründen lassen. Zunächst macht er geltend: Wenn man von dem Prinzip ausgeht, dass es in jeder Situation geboten ist, das moralisch Optimale zu tun, dann werde der Pflichtbegriff „in einem maximalistischen, unrealisti-

Franz von Kutschern und das Problem der abwägenden Vernunft

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sehen und unüblichen Sinn" (Kutsehera, 1999, S. 76) verwandt. Denn wenn man das übliche Verständnis von Pflichten zugrunde lege, sei es keineswegs immer meine Pflicht, mich moralisch optimal zu verhalten. So darf ich mir durchaus einen Urlaub in Italien leisten, selbst wenn sich ein insgesamt besserer Zustand ergäbe, wenn ich das Geld, das ich dafür ausgebe, für einen Bedürftigen stiften würde. Den Verzicht auf eine Urlaubsreise zugunsten Bedürftiger würde man als einen supererogatorischen, d. h. über die Pflichten hinausgehenden Akt bezeichnen, der zwar moralisch gut, aber nicht geboten ist. Ein weiterer Einwand Kutscheras bezieht sich auf die Schwierigkeit, in einem konsequentialistischen Kontext allgemeine Pflichten zu begründen. Der Konsequentialist hat zwar keine Schwierigkeiten damit, dass die Konvention, Versprechen zu halten eine nützliche Einrichtung ist, denn „es hat insgesamt bessere Ergebnisse, wenn sie in einer Gesellschaft befolgt wird, als wenn sie dort nicht besteht und es so keine Möglichkeit der Selbstverpflichtung gegenüber anderen gibt, die es jemand erlaubt, jetzt etwas für künftige Gegenleistungen zu erhalten" (Kutsehera, 1999, S. 78). Selbst wenn für ihn die Forderung begründbar ist, einer solchen Konvention in der Regel zu folgen, bleibt seiner Uberzeugung nach doch in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Einlösung eines gegebenen Versprechens optimal ist. Denn auch wenn man den Schaden in Rechnung stellt, der durch den Bruch des Versprechens für diese insgesamt nützliche Konvention entsteht, sind für ihn viele Fälle denkbar, in denen die Abweichung von einer solchen Konvention moralisch legitim oder sogar geboten ist. In einem rein konsequentialistischen Rahmen lassen sich also „rigide Verhaltenskonventionen moralisch nicht so rechtfertigen, daß es immer geboten wäre, ihnen zu folgen" (ebd.), und in diesem Rahmen ist auch die Verletzung einer Konvention keineswegs nur dann erlaubt, wenn ein Festhalten an ihr erheblichen Schaden bewirken würde. Von Kutsehera verdeutlicht das an dem folgenden Beispiel: „In einer Stadt sei nach einer längeren Dürreperiode das Wasser knapp geworden. Damit die Wasserversorgung nicht zusammenbricht, kommen die Einwohner überein, Wasser ausschließlich zum Trinken, Kochen und Waschen zu verwenden. Ein konsequentialistischer Bürger könnte nun wie folgt argumentieren: Sparen die anderen mit Wasser, so entsteht keine Gefahr für die Wasserversorgung, wenn ich meinen Rasen sprenge, der es dringend nötig hat. Sparen die anderen dagegen nicht, so nützt es auch nichts, wenn ich meinen Rasen nicht sprenge. Es ist also erlaubt, daß ich meinen Rasen sprenge - zumindest dann, wenn die anderen nichts davon merken und so die Konvention nicht gefährdet wird." (ebd.)

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Diese Argumentation ist nach von Kutschera inakzeptabel, weil sie darauf hinausläuft, „daß sich jemand durch Bruch einer Vereinbarung, von der er selbst profitiert, und die von den anderen mit persönlichen Opfern befolgt wird, [...] Vorteile verschafft" (ebd.). Im Übrigen ist dieses Beispiel für ihn ein Beleg dafür, dass die konsequentialistische These nicht richtig sein kann, denn sie bietet keine Lösung für das sogenannte Schwarzfahrerproblem. Als weiteren Einwand gegen die konsequentialistische These führt von Kutschera die „Unzuverlässigkeit des Konsequentialisten" (Kutschera, 1999, S. 79) an. Eine Gesellschaft von Konsequentialisten wäre, wie von Kutschera formuliert, „vermutlich eine ziemlich chaotische Gruppe, die - wenn auch alle das Beste wollen - faktisch nicht weit vom Naturzustand eines ungeregelten Nebeneinander entfernt wäre" (ebd.), da sie geprägt ist von der Unsicherheit bzgl. dessen, was man vom anderen zu erwarten hat. Ein weiteres und in den Augen von Kutscheras zentrales Argument, das gegen ein konsequentialisches Ethikkonzept spricht, lautet: „Die Menschenwürde ist kein verrechenbares Gut" (Kutschera, 1998, S. 336). Von Kutschera begründet diesen Einwand folgendermaßen: Für den Konsequentialisten seien alle Güter grundsätzlich miteinander verrechenbar. Einem jeden Gut müsse er einen numerischen Wert zuordnen, um einen Vergleich von Handlungsalternativen im Blick auf ihre Folgen zu ermöglichen. Viele schwach negative Folgen einer Handlung könnten so einzelne stark negative Folgen überwiegen. Mithin gebe es für den Konsequentialismus „keine Güter mit absolutem Vorrang" und folglich auch „keine unverletzbaren Rechte" (ebd.). Selbst das Leben eines Menschen habe hier einen bestimmten numerischen Wert. Vor allem bezüglich des Tötungsverbots entstehen dadurch Probleme. Denn wenn die Summe kleiner Vorteile für viele dabei größer ist, so ist es für den Konsequentialismus geboten, einen Menschen zu töten. Was der Konsequentialismus nach von Kutschera übersieht, ist die Kantische Unterscheidung von Würde und Wert. Was einen Wert hat, das hat nach Kant einen Preis, der gegen den Preis anderer Dinge aufgerechnet werden kann. Die Würde einer Person liegt hingegen „jenseits von Preisen" und kann „durch nichts anderes ersetzt, kompensiert oder gar überwogen werden" (ebd.). Diese Einwände legen eine Option für den deontologischen Ansatz nahe, in dessen Mittelpunkt nach von Kutschera „die Konzeption vom Menschen als Subjekt unverliehener Rechte steht" (Kutschera, 1999, S. 82). Man geht in diesem Falle „vom Ideal eines Umgangs miteinander

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aus, bei dem die Würde des anderen respektiert wird [...]. Man erkennt ihm Rechte zu, über deren Wahrnehmung er allein bestimmen kann" (ebd.). Nach deontologischer Auffassung geht es im moralischen Verhalten also „nicht um Wertmaximierung, sondern darum, den legitimen Ansprüchen anderer gerecht zu werden" (ebd.). Eine Lüge ist rebus sie stantibus nicht deshalb verboten, weil sie einen Schaden bewirkt, sondern „weil der andere einen Anspruch auf eine wahrheitsgemäße Auskunft hat" (ebd.). Folglich ist sie „auch dann verboten, wenn sie positive Folgen hätte" (ebd.). Allerdings gibt es auch gewichtige Argumente gegen eine reine Pflichtethik. Zunächst einmal gilt: Werte sind für ein Ethikkonzept unverzichtbar. Auch in der Pflichtethik spielen sie eine wichtige Rolle. Denn mit Hilfe deontischer Begriffe lässt sich keine brauchbare Wertordnung festlegen. Der Begriff des Gebotenseins fungiert als klassifikatorischer Begriff für Handlungen, allerdings lässt sich mit Hilfe eines solchen Begriffs „nicht einmal eine komparative Wertordnung für Handlungen gewinnen, geschweige denn für sonstige Ereignisse oder Zustände" (Kutschera, 1998, S.337). Das zentrale Argument, dass man mit einer reinen Pflichtethik nicht durchkommt, stellt aber die Tatsache von Pflichtenkollisionen dar, die eine Güterabwägung erforderlich machen. Von Kutschera schreibt hierzu: „In Systemen der Pflichtethik gibt es, ebenso wie im Recht, Pflichtenkollisionen. N o r m e n müssen aus praktischen Gründen einfach und klar f o r m u liert werden, und einfache N o r m e n können der komplexen Wirklichkeit nicht immer gerecht werden, der Fülle der verschiedenen und z.T. auch unvorhersehbaren Situationen, denen wir im Leben begegnen. Es kann ζ. B. die Lage eintreten, in der ich entweder ein gegebenes Versprechen brechen oder eine gebotene Hilfe unterlassen muß. Dann hat eine Güterabwägung stattzufinden, das heißt aber: es muß eine konsequentialistische Überlegung Platz greifen [...]. Es gibt zudem auch bzgl. desselben Rechtsguts Pflichtenkollisionen. Wenn man nach einem Wassereinbruch in einen Stollen das L e ben von 2 0 Bergleuten nur damit retten kann, daß man einen tiefer gelegenen Stollen flutet, in dem sich nur einer befindet, würde auch der strengste Deontologe das Recht auf Leben der 20 dem des einen überordnen - und wenn er beim Zahlenverhältnis von 20:1 noch zögert, könnte er das bei 200:1 oder 2000:1 nicht mehr tun. Dann addiert aber auch er die Werte von E i n zelleben. Wie das Recht k o m m t also auch eine Pflichtethik nicht ohne konsequentialistische Überlegungen aus." (Kutschera, 1998, S . 3 3 7 f )

Ein weiteres Argument, das nach von Kutschera gegen eine reine Pflichtethik spricht, bezieht sich darauf, dass es sog. imperfekte Pflich-

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ten gibt, die uns ein Ziel des Handelns setzen, ohne zu spezifizieren, wie wir dabei vorzugehen haben. Von Kutschera nennt hier als Beispiel die Tatsache, dass Eltern verpflichtet sind, sich um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern, ohne dass ihnen vorgeschrieben wird, was sie dazu im Einzelnen zu tun haben. Wollen wir solche Pflichten erfüllen, so kommen wir um konsequentialistische Überlegungen nicht herum. Dabei geht es nicht allein um die Frage, welcher Weg jeweils zum Ziel führt, sondern auch um die Angemessenheit solcher Mittel unter moralischen Aspekten. Wir müssen in diesem Fall „die Nebenfolgen der verschiedenen Wege zum Ziel beachten, also wiederum eine Güterabwägung durchführen" (Kutschera, 1998, S.339). Angesichts der Tatsache, dass „weder eine reine Pflichtethik noch eine reine Wertethik adäquat ist", stellt sich für von Kutschera die Frage, wie sich beide Ethikansätze „zu einem befriedigenden Ganzen verbinden lassen" (ebd.). Für die Fixierung von Rechten und Pflichten, so betont er, lasse sich nicht nur der praktische Grund ins Feld führen, dass soziale Kooperation feste Verhaltensmaßregeln braucht, da nur diese verlässliche Annahmen über das Verhalten ermöglichen, sondern es gebe hierfür auch einen moralischen Grund, der besagt: Die Würde der Person lässt sich nur durch Rechte schützen. Andererseits lasse sich aber auch nicht bestreiten, dass sich kein einziges Recht unter allen Umständen garantieren lässt - „weder durch staatliche Maßnahmen, noch auch moralisch" (Kutschera, 1998, S. 341). Zu den elementaren Freiheitsrechten müsste beispielsweise auch ein Recht auf Arbeit gehören; das könne man aber schon unter ganz normalen wirtschaftlichen Bedingungen nicht jedermann garantieren. Unter besonderen Bedingungen wie in dem oben angeführten Bergwerksbeispiel oder im Krieg habe man nicht einmal ein unbedingtes moralisches Recht auf Leben. Da jede Relativierung eines Rechts, die nicht explizit in ihm genannt ist, seine Schutzfunktion schwächt, stellt sich zwangsläufig die Frage: „Wie läßt sich also verhindern, daß die Notwendigkeit von Rechtsbeschränkungen im Einzelfall das Grundanliegen der Pflichtethik gefährdet, die Würde der Person zu schützen?" (ebd.) Von Kutscheras Antwort auf dieses Problem fasst er in die Formel: „Keine Freiheit ohne Verantwortung" (ebd.). Zur Erläuterung einer solchen Formel schreibt er: „Moralische Pflichten [...] setzen die Achtung v o r der W ü r d e des anderen in konkrete Verhaltensregeln um. Personale W ü r d e hat man nun nicht einfach als Naturgabe, [...] sondern sie besteht, wie Kant sagt, in der Achtung

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v o r dem moralischen Gesetz. Anders ausgedrückt: W ü r d e hat, w e r - M ü n digkeit vorausgesetzt - seinerseits die W ü r d e anderer achtet, und die m o ralischen Pflichten erfüllt, die sich daraus ergeben. Personale W ü r d e hat man in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden anderen - konkret: denjenigen, mit dem er es gerade zu tun hat - achtet und sich für ihn und das G a n ze mitverantwortlich weiß." (ebd.)

Als konkrete Konsequenz einer solchen Überlegung ergibt sich, dass es analog der Sozialbindung des Eigentums auch eine „Sozialbindung der Rechtsansprüche" bzw. „eine Verantwortung in der Ausübung der eigenen Rechte" (Kutschera, 1998, S. 342) gibt, und dies impliziert des Weiteren, dass es zur moralischen Pflicht werden kann, auf einen Rechtsanspruch zu verzichten. Von Kutschera bringt hier das folgende Beispiel: „Sehe ich mich zu einer Hilfeleistung verpflichtet, der Hans dringend bedarf, und hindert mich das, ein M a x gegebenes Versprechen eines Besuchs einzuhalten, so bin ich jedenfalls gehalten, mich bei Max zu entschuldigen und mein Verhalten ihm gegenüber zu begründen. Maxens Recht darauf, daß ich mein Versprechen halte, ist also nicht einfach aufgehoben, ich mute ihm aber zu, selber darauf zu verzichten." (ebd.)

Allerdings hat die Zumutbarkeit von Rechtsverzichten ihm zufolge auch moralische und psychologische Grenzen. Moralisch könne man ζ. B. niemanden ein Einverständnis damit zumuten, dass man ihn belügt, da Lügen in jedem Fall die Würde der Person verletzen, und psychologisch könne man einem Menschen „keinen Verzicht auf sein Lebensrecht zumuten" (Kutschera, 1998, S. 343). Das Bergwerksbeispiel sei hier kein Gegenbeispiel, denn in diesem Fall könnte jemand „seine Verweigerung eines Verzichts nicht moralisch begründen und müßte in der Lage dessen, auf dem die Last der Entscheidung über sein Leben ruht, ebenso handeln" (ebd.). Das Beispiel des gebrochenen Versprechens dient von Kutschera auch als Beleg für die Verbindung von Pflichtethik und Wertethik. Denn die Argumentation, die diesem Beispiel zugrunde liegt, funktioniert ihm zufolge nur dann, „wenn wir moralische Verantwortung so bestimmen, daß sie nicht nur den Rechten anderer gilt, sondern auch eine Anerkennung der Rangordnung der Pflichten bzw. der ihnen entsprechenden Güter einschließt" (ebd.). Kann man anderen aber auch eine Verantwortung für Güter zumuten, so verschwindet der Gegensatz zwischen wert- und pflichtethischer Betrachtung. Auch hinsichtlich der Zumutbarkeit in der Anerkennung des Vorrangs von Gütern gibt es freilich moralische Grenzen. Von Kutschera bemerkt zu diesem Problem:

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„Man kann anderen ζ. B. zumuten, daß sie Tieren unnötige Schmerzen ersparen oder sich um die Bewahrung der Schönheit und Vielfalt unserer natürlichen Umwelt kümmern. Man kann ihnen aber nicht zumuten, daß sie sich genau an derselben Wertordnung orientieren wie man selbst. Wir haben gesehen, daß umfassende Wertordnungen, nach denen man auch Güter ganz unterschiedlicher Art vergleichen kann, problematisch sind, ebenso wie die Begründung von Werturteilen. Tatsächlich divergieren die Menschen ja auch in wichtigen Fragen in ihren wohlerwogenen Werturteilen, und diese Divergenzen lassen sich oft nicht argumentativ beseitigen. Es ist gerade ein Anliegen der Pflichtethik, ihnen mit dem Recht auf Selbstbestimmung auch das Recht zuzubilligen, sich ihre eigenen Wertvorstellungen zu bilden, sofern diese nicht der Würde des Menschen als Grundlage dieses Rechts widersprechen." (Kutschera, 1998, S.344) Dass seine Argumentation auf eine unzulässige Relativierung von Rechtsansprüchen hinausläuft, versucht er mit dem Hinweis zu entkräften, es mache einen erheblichen Unterschied, ob jemand ein Recht bis auf weiteres eingeräumt wird, oder ob es ihm absolut zugesprochen wird, wobei man aber von ihm erwartet, um eines höheren Gutes willen notfalls freiwillig darauf zu verzichten. Denn im letzten Fall überlasse man ihm selbst die Entscheidung, im ersten Fall hingegen werde er nicht gefragt. Zudem respektiere man ihn im letzten Fall „als Subjekt, als Träger eines Rechts", im ersten Fall tue man das dagegen „nur bis auf weiteres" (Kutschera, 1998, S.346).

2. Was den Ertrag der Überlegungen von Kutscheras angeht, wird man zunächst sagen müssen: Weitgehendem Forschungskonsens entspricht es sicher, wenn er gegen eine holzschnittartige Gegenüberstellung von Konsequentialismus und Deontologie F r o n t macht. Denn es ist keine Frage, auch eine deontologische Ethik lässt die Möglichkeit von Güterabwägungen zu, ja sie fordert sie, wie Otfried Höffe 3 formuliert, „bei entsprechender Problemkonstellation [...] sogar heraus"; er fährt fort: „Ob es die vielen Notleidenden in der Welt oder mehrere Menschen in einem brennenden Haus sind: Man muß sich der oft schmerzlichen Frage stellen, wem zuerst geholfen werden soll. Angesichts begrenzter Ressourcen entkommt auch die biomedizinische Forschung nicht derartigen Prioritätenfragen. Und wer in einen reißenden Strom springt, um einen Ertrin3 O. Höffe, 2002, Medizin ohne Ethik?, Frankfurt: Suhrkamp.

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kenden zu retten, muß sich vorab überlegen, ob die Rettungschancen überwiegen oder ob sein heroischer Sprung nicht aussichtslos ist und in letzter Konsequenz die Opferzahl auf zwei verdoppeln wird." (Höffe, 2002, S.43f.) Dass von Kutscheras Überlegungen freilich auch einen Problemkomplex berühren, der heute durchaus kontrovers diskutiert wird, wird deutlich, wenn man einen Blick in die Analytische Einführung in die Ethik von Dieter Birnbacher 4 wirft. Birnbacher bemerkt dort zum Verhältnis von Deontologie und Konsequentialismus: „Konsequenzialistische Ethiken erlauben in höherem Maß als deontologische Ethiken Anpassungen des moralischen Urteils an den sozialen und den wissenschaftlich-technischen Wandel. Konsequenzialistische Ethiken sind flexibler als deontologische Ethiken. Sie sind eher als deontologische Ethiken in der Lage, sich auf geänderte Lebensformen und neue Kenntnisse, Einsichten und technische Möglichkeiten einzustellen. Sie vermeiden eines der Grundprobleme der deontologischen Ethik, nämlich die Gefahr, dass sich Wohltat in Plage verkehrt und deontologisch begründete Normen auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie aufgrund gewandelter Umstände dysfunktional geworden sind." (Birnbacher, 2003, S. 174f) Die Gefahr einer deontologischen Position sieht Birnbacher generell in einem „,Normenfetischismus' [...], der an einem bestimmten Normenkanon ungeachtet seiner sich im Zeitlauf sich ändernden Funktionalität festhält" (Birnbacher, 2003, S. 175). Die konkreten Konsequenzen einer solchen Position werden an Birnbachers Stellungnahme zum Problem der Menschenwürde deutlich. Birnbacher kommt auf dieses Problem im Rahmen der Frage der Rangabstufung ethischer Prinzipien zu sprechen. Kritisch setzt er sich in diesem Zusammenhang mit der ,,lexikographische[n] Vorordnung eines oder mehrerer Prinzipien vor anderen" (Birnbacher, 2003, S. 163) auseinander, die nach seinen Worten von allen denkbaren Optionen zwar „die am leichtesten zu handhabende, aber auch die starrste und in den meisten Fällen die intuitiv am wenigsten überzeugende" (Birnbacher, 2003, S. 164) ist, und merkt zu einer solchen Option im Übrigen an: „Eine lexikographische Vorordnung eines Norm- oder Wertprinzips vor anderen Prinzipien bedeutet, dass diese Prinzipien oder Werte jederzeit Vorrang haben, gleichgültig, in welchem Umfang sich in derselben Situation andere Normen befolgen oder andere Werte verwirklichen lassen. Die Nichtbefolgung einer lexikographisch vorrangigen Norm bzw. die Nichtrealisierung eines lexikographisch vorrangigen Werts kann nicht durch die 4 D. Birnbacher, 2003, Analytische Einführung

in die Ethik, Berlin: De Gruyter.

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Befolgung anderer Prinzipien oder durch die Verwirklichung anderer Werte kompensiert werden. Eine lexikographische Rangordnung von Prinzipien läuft insofern auf ein Abwägungsverbot hinaus. Zwischen dem vorgeordneten Prinzip und den nachgeordneten Prinzipien besteht zwar ein Verhältnis der Vergleichbarkeit - es ist im Vergleich zu ihnen höherrangig aber kein Verhältnis der Kommensurabilität. Es gibt keine Skala von .Werteinheiten', die dem vor- und den nachgeordneten Prinzipien gemeinsam ist, und die es möglich macht, die Nichterfüllung des vorgeordneten Prinzips gegen die Erfüllung nachgeordneter Prinzipien zu .verrechnen'." (ebd.)

Als Beispiel führt Birnbacher hier neben Schopenhauers Mitleidsethik auch „die lexikographische Vorordnung der Verpflichtung zur Achtung der menschlichen Würde im deutschen Verfassungsrecht" an, „die eine Abwägung dieser Verpflichtung gegen andere verfassungsmäßige und einfachgesetzliche Pflichten und Rechte ausschließt" (Birnbacher, 2003, S. 165). Birnbacher meint, diese Vorordnung habe „für viele Beurteiler [...] wenig überzeugende Konsequenzen, zumindest wenn ,menschliche Würde' nicht nur dem geborenen Menschen, sondern dem menschlichen Leben in allen Entwicklungsstadien und auch schon im Stadium der befruchteten Eizelle zugesprochen wird" (ebd.). Denn damit würde eine Forschung an menschlichen Eizellen „auch dann als strikt verboten gelten müssen, wenn sie sich als zur Entwicklung wichtiger therapeutischer Optionen notwendig erweisen sollte" (Birnbacher, 2003, S. 165 f.). Von Kutschera sieht hingegen den konsequentialistischen Ansatz nicht gegenüber dem deontologischen Ansatz im Vorteil, sondern geht von den unstreitbaren Grenzen auch des konsequentialistischen Ansatzes aus. In diesem Zusammenhang hält er an einem unverkürzten Begriff von Menschenwürde fest, sieht in diesem Begriff also, um Formulierungen von Wolfgang Wieland 5 aufzugreifen, weder eine „semantische Altlast" noch ein „kontingentes Zwischenprodukt der Evolution" (Wieland, 2003, S. 157). Unter Berufung auf Kant formuliert er: „Die Person ist ein .Endzweck', d. h. ihre Würde ist nicht nur ein hohes, sondern ein absolutes Gut" (Kutschera, 1998, S.354), sie stellt „die Grundlage der Geltung aller moralischen Verpflichtung" (Kutschera, 1998, S. 352) dar. Gegenüber dem ethischen Subjektivismus betont er, „daß es objektive Werttatsachen gibt, Güter, deren Wert unabhängig von faktischen Interessen ist" (Kutschera, 1998, S.350). 5 W. Wieland, 2003, Pro Potentialitätsargument: Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz, in: G. Damschen/D. Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin: De Gruyter, S. 149-168.

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Vor allem gelte das für die Würde der Person, die man nur so respektieren könne, dass man sie „explizit in Rechte übersetzt, in Gebote zu ihrem Schutz oder ihrer Förderung" (ebd.). Auch bei diesem kreativen Umsetzungsprozess könne freilich nicht das Optimierungspostulat leitend sein, sondern nur die Idee, dass es ein Gut gibt, die personale Würde, das sich dem Rahmen von Optimierungsüberlegungen gerade entzieht. Eine Grenze der Ausführungen von Kutscheras besteht sicher darin, dass er (noch) nicht explizit auf die heutige Bioethikdebatte eingeht, in der es um die Frage geht, von welchem Stadium der Entwicklung des menschlichen Individuums man von Menschenwürde sprechen kann. Ricken hat zu dieser Frage im Ausgang von der Kantischen These, dass dem Menschen aufgrund seiner Selbstzwecklichkeit ein absoluter innerer Wert zukomme, wichtige Überlegungen beigesteuert. 6 Zunächst hält er fest, ein absoluter innerer Wert könne nicht verliehen werden, ein Wesen habe ihn oder habe ihn nicht; Würde könne nur „anerkannt [...], aber [...] nicht zuerkannt werden" (Ricken, 2003, S.36). Weiterhin macht er deutlich, Würde komme einem Wesen „unabhängig von seinen Eigenschaften und folglich auch unabhängig vom Stand seiner Entwicklung zu", sie sei „unabhängig von dem Zweck (z.B. der Forschung), zu dem das Wesen erzeugt wurde, und unabhängig davon, ob ihm die Bedingungen für seine weitere Entwicklung (durch Implantation) gewährt oder verweigert werden" (ebd.). Schließlich stellt er auch klar, ein absoluter innerer Wert könne sich „nicht einer menschlichen Entscheidung oder Zwecksetzung verdanken", denn in diesem Fall wäre er nicht mehr absolut, sondern „durch diese Akte bedingt" (ebd.). Es führe also kein Weg an der Einsicht vorbei: „Nur ein von jeder menschlichen Entscheidung unabhängiger Wert kann ein absoluter Wert sein." (ebd.) Eine Lösung der Frage nach dem Beginn der Selbstzwecklichkeit findet er bei Kant, der das Kriterium für diesen Beginn im Akt der Zeugung sieht und der in diesem Zusammenhang von einer notwendigen praktischen Idee spricht. Ricken geht sodann auf Habermas ein, der von der Unmöglichkeit einer eindeutigen Bestimmung des moralischen Status des Embryos unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft ausgeht. Eine 6 F. Ricken, 2003, Klonen und Selbstzwecklichkeit. Aspekte der Menschenwürde, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 8, S. 35-44.

in:

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zentrale Differenz zwischen Kant und Habermas liegt ihm zufolge in dem unterschiedlichen Personbegriff, den beide verwenden. Ricken schreibt hierzu: „Habermas betont, dass das ungeborene Leben nicht Person im Sinne des Grundgesetzes als .Träger von unabdingbaren Grundrechten' ist; erst ,in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Person' [...]. Dagegen ist für Kant,Person' kein Rechts-, sondern ein Wertbegriff. Wenn wir von einem Wesen sagen, es sei Person, so ist das gleichbedeutend mit der Aussage [...], ihm komme ein absoluter, innerer Wert zu, der niemals und unter keinen Umständen Gegenstand einer Abwägung sein kann." (Ricken, 2003, S. 38)

Den „entscheidenden Unterschied" zwischen beiden Denkern bestimmt er anschließend wie folgt: „Nach Habermas [...] handelt es sich bei der Aussage, menschliches Leben sei von der Befruchtung an .potentielle Person' um eine These der .christlichen Metaphysik'; hier werde eine Beschreibung von Tatbeständen weltanschaulich imprägniert. Dagegen ist sie für Kant eine notwendige praktische Idee. Kant sieht in ihr also nicht eine theoretische Aussage, sei es der Religion, sei es der Metaphysik, sei es der Naturwissenschaft." (ebd.)

Wenn Kant hier von einer notwendigen praktischen Idee spricht, dann weist das nach Ricken in Richtung dessen, was Habermas als das ethische Selbstverständnis der Gattung bezeichnet. Denn diese Idee ist, wie Ricken betont, insofern notwendig, als wir zusammen mit ihr auch unser Selbstverständnis als Zweck an sich selbst aufgeben würden. Ricken erläutert sodann näher, was in dieser Kantischen These von der Selbstzwecklichkeit impliziert ist. Zunächst einmal gilt: „Der sittlich handelnde Mensch ist Zweck an sich selbst, weil sein Handeln vernünftigerweise von allen gewollt werden kann; dem in diesem Sinne guten Willen kommt uneingeschränkter, absoluter Wert zu." (Ricken, 2003, S. 39)

In einem zweiten Schritt wird dieser absolute Wert dann „mit Hilfe eines Potentialitätsarguments [...] der Menschheit als Gattung zugesprochen" (ebd.). Seinsgrund der Würde ist mithin „die Tatsache, dass der Mensch .Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft' ist"; Erkenntnisgrund dafür, dass wir es mit einem solchen Subjekt zu tun haben, ist hingegen „die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies" und auch vom Embryo gilt, dass er „ein Individuum der biologischen Spezies Mensch [ist]" (Ricken, 2003, S.40). Ricken resümiert:

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„Nur unter der Voraussetzung, dass die Zugehörigkeit zur Spezies Kriterium für die Fähigkeit zur Sittlichkeit ist, kann es etwas geben, .dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat'. Die Zugehörigkeit zur Spezies ist nicht Gegenstand einer Entscheidung, sondern einer von jeder Metaphysik, Religion oder Wissenschaft unabhängigen Erkenntnis; das Wissen um den Zusammenhang von Zeugung und Geburt gehört zu den Urphänomenen der menschlichen Lebenswelt und den Grundlagen einer jeden Kultur. Wird die Fähigkeit zur Sittlichkeit dagegen an eine bestimmte Phase der Entwicklung gebunden, dann kommt nicht mehr dem Dasein dieses Wesens an sich selbst ein absoluter Wert zu, vielmehr ist sein Wert bedingt durch dessen Entwicklungszustand und das Urteil derer, die ihm aufgrund seiner Entwicklung diesen Wert zusprechen. Damit ist der Gedanke einer von jeder menschlichen Setzung unabhängigen Würde aufgegeben." (ebd.)

Die sittliche Norm erschließt sich nur dem, der sensibel ist für die Gesamtheit der Wirklichkeit PHILIPP SCHMITZ

Ethik ist zum überwiegenden Teil „normative Ethik". Zahlreiche Beobachter haben darauf hingewiesen, dass das so ist.1 Weniger wurde allerdings in den letzten Jahrzehnten auf die ergänzende Einsicht aufmerksam gemacht, dass Norm nicht nur Axiom, Ausdruck von Bindung, sondern ebenso der Spiegel ist, in dem sich die Gesamtheit der „Wirklichkeit" eines Handelns abbildet. Das Verständnis von Ethik hängt aber entscheidend davon ab, dass sie auch der zweiten Anforderung entspricht. Sie darf sich nicht im Aufweis des Sollens erschöpfen 2 , sondern muss „Sollen im Sein" sein und dieses Sollen aus dem Sein erschließen wollen.

1. Wiederbelebung der Ethik gibt es, wenn der Ethiker in Kontakt mit der für sein Handeln relevanten Wirklichkeit tritt In den letzten Jahrzehnten vermochte man - wenigstens in den westlichen Ländern - ein starkes, inzwischen allerdings schon wieder abflauendes Interesse an Ethik zu beobachten. Für diese Erscheinung gab es offensichtlich theoretische und praktische Gründe. Die überkommene neoscholastische Methode bedurfte einerseits wegen ihrer verschiede1 W. Frankena, 1 9 6 3 , Ethics, Englewood C l i f f s , N e w Jersey: Prentice Hall; B. Schüller, 1977, Die Bedeutung der Erfahrung für die Rechtfertigung sittlicher Verhaltensregeln, in: Christlich Glauben und Handeln, hrsg. v o n K. Demmer/B. Schüller, D ü s seldorf, S. 2 6 1 - 2 8 6 . 2 S. Brandt, 1992, Das Sollen im Sein. Eine induktive lag Broeckmeyer.

Ethik, Bochum: Universitätsver-

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nen Mängel (ihres deduktiven Charakters und einer nicht zu übersehenden Gefahr des theologischen Positivismus) der Revision; von vielen Seiten wurde überdies ein ethischer Beitrag zur öffentlichen Diskussion eingeklagt. Erkennbar mühte man sich darum zuerst mit Begriffen und Prozessen ab, welche die Bestimmung der Norm betrafen - im technischen wie im methodologischen Sinn. Doch wollte man sich auch nicht auf Normen beschränken. Hinter den Problemen mit ihnen stand ja doch ein Lebensgefühl, das offenbar bemüht war, in Offenheit (curiositas) und Klugheit (prudentia) das Zeitgemäße und das Wirklichkeitsgetreue im menschlichen Handeln zu erfassen. In der erwähnten Belebungsphase der Ethik ging es also nicht lediglich um eine Erweiterung des vorhandenen normativen Systems, sondern man wollte den „Marsch durch die Institutionen", die Befreiung von Enge und Halbheit, den Geist der 68er Jahre befördern. Die diesen Geist entdeckt zu haben glaubten, wussten eines ganz genau: nach einer kulturellen Periode, die unter dem Schlachtruf „Emanzipation" begonnen hatte, sollte jeder sich in seinem ethischen Denken auf sich selbst gestellt fühlen und selbständig und die Vernunft betonend Handlungsanweisungen entwerfen dürfen. Eine Voraussetzung dafür war es, über eine umfassende Kenntnis und Kompetenz zu verfügen. Nur in dem Maß, in dem jemand in die volle Wirklichkeit eintauchte, vermochte er seine Lust am Leben zu entfalten und die Freude an dem zu wecken, was er sich an Projekten vorgenommen hatte. Wirklichkeit war allerdings nicht zu begreifen, wenn man sie sich als schlichtes Abbild von etwas vorstellte. Sie bot sich dem Betrachter nicht als Blaupause anderer objektiver Realitäten dar. Sie musste vielmehr so betrachtet werden, wie sie sich immer wieder von neuem in einem Subjekt spiegelte. Was und wie viel von der jeweiligen Realität von diesem Subjekt eingeholt wurde, das hing von seiner Aufnahmefähigkeit und Erfahrung ab. Traurige Erfahrungen hatten offenbar eine andere Wirkung als fröhliche. Kampf entließ andere Kräfte als friedliche Versöhnung, usw. Zusammenfassend ist zu sagen: Es gibt kein sittliches Handeln, das man verbindlich nennen könnte und von dem man nicht im gleichen Atemzug hinzufügen müsste, es spiegle die Ganzheit und die Fülle der mit ihm ausgesprochenen Wirklichkeit wider. Ebenso ist zu konstatieren, ein solches Handeln zeichne sich aus durch eine immer genauere Kenntnis des Selbst, ein ausgestaltetes Bild des Menschen, ja einen neuen Humanismus. Doch sind das bislang lediglich formale Aussagen. Worin das Handeln inhaltlich besteht, das liegt außerhalb dieser For-

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malität. Jeder Initiator eines sittlichen Tuns und eines humanen Unternehmens erfährt es nur in dem Maß, als er konkret, real und empirisch, gleichsam Schritt für Schritt (im induktiven Verfahren) erfasst, was im Vorgriff auf die ganze Wirklichkeit virtuell schon enthalten ist. Auf dem gleichen Weg lässt sich sogar die Gestaltung der Gesellschaft ausmalen. „Mehr Demokratie" erklärt sich formal von der Interdependenz zwischen Subjekt und Wirklichkeit her. Konkret kann keine Staatsform sich auf einem vagen politischen Programm aufbauen; sie setzt vielmehr Interaktion vieler Einzelner voraus - anlässlich immer wieder neuer konkreter Möglichkeiten. In der ruhigen, wenn auch niemals ruhenden Begegnung von Wirklichkeit und Subjekt erschließt sich - so wäre noch über das Subjekt zu sagen - seine je größere Freiheit. Die Wirklichkeit, die ins Handeln aufgenommen wird, ermöglicht jeweils eine Neujustierung des Subjekts, wehrt Gleichmacherei ab, lässt die Begeisterung für Verschiedenheit wachsen und an der Stelle von schicksalhafter Ergebenheit erhöhte Leistungsfreude erfahren. Bis hierhin reicht allerdings nur die eine der beiden möglichen Versionen der Normenfindung. Nach der anderen vollzieht sich die Bewegung der Ethik auf unterschiedliche Weise: Es gibt Leute, die sich bei der Bestimmung der Norm nicht direkt auf Freiheit stützen, sondern mit der Elle von schon vorhandenen Normen und Ordnungen messen. Inspirationen und Motivationen kommen - so sagen sie zur Rechtfertigung - aus scharf abgegrenzten Kulturen. Gegenüber der ersten Version ist das nun ein ganz anderer Akzent. Es sind beim ethischen Geschäft nicht nur die „Liberalen" am Werk, sondern auch die „Konservativen" wenn das denn eine legitime Bezeichnung für einen Denk- und Redestil einer durch eine bestimmte Kultur bestimmte Gruppe sein kann. Diese „Konservativen" reagieren nicht durch Appell an die Verantwortung des Einzelnen, sondern operieren mit dem Medium der „Erinnerung". Wichtig ist ihnen, was immer schon gültig war. Als bedeutsam erscheinen ihnen Strukturen und Autoritäten einer nachahmenswerten Gemeinschaft. Im Zentrum stehen Norm, Gesetz, Gebot und vor allem Gehorsam. Aus der Annahme der eigenen und fremden Vergangenheit gestaltet sich für sie die Richtung von Moral und Sittlichkeit. 3 Für die religiös Orientierten unter ihnen lässt sich das normative System in der Person eines Stifters zusammenfassen. Bei Christen steht im Mittelpunkt das „Gesetz Christi, Gott und den Menschen zu lieben". 4 3 Vgl. A. Maclntyre, 1987, Der Verlust der Tugend, Frankfurt/New York: Campe.

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Das sind nun also die beiden Wege, auf denen eine Wiederbelebung der Ethik in den vergangenen Jahrzehnten voranschreiten wollte. Auf dem ersten Weg wurde der subjektiven Ausrichtung ein breiter Raum gewährt. Auf dem Pfad individueller Freiheit, unter der Möglichkeit des sittlichen Urteils und der autonomen Entscheidung sollte sich das Verpflichtende zeigen können. Im Raum einer universalistischen Vernunftethik sollte sich ein rationaler Zugang zu Normen des Verhaltens entwickeln. Auf dem anderen Weg galt als Richtschnur das, was als „hergebracht" schien, aber in einem kollektiven Lernprozess immer wieder neu eingeholt werden musste. Es sei zugegeben: Während man diese Alternative anspricht, machen sich Zweifel und Polemik breit. Was ist hergebracht? Ist es vielleicht das, was konsumierbar und angezeigt ist? Stammt es - wie ja eigentlich zu erwarten wäre - aus dem Hang der meisten Menschen nach Befriedigung der Sinne (Hedonismus), aus dem Einfluss, den die Marktwirtschaft auf das Verhalten der Zeitgenossen ausübt oder gar aus gesellschaftlichen Zwängen? Wird am Ende zur Erklärung des Hergebrachten jeder Unsinn zugelassen, wenn er sich nur mit Hinweis auf das eigene Wohlbefinden zu rechtfertigen versteht? Handelt sich um die Erfüllung aller denkbaren Träume nach eigenem Wohlstand? Kommt bei der Befragung am Ende etwas anderes heraus als sittlicher Positivismus, der sich aus Willkür die Wirklichkeit zurechtlegt? Soviel ist plausibel an dem, was der Frager voraussetzt: Selbst wenn für diesen zweiten Weg wider Erwarten nicht nur einfach eine vage Idee von Welt, sondern glücklicher Weise ein solides Werteschema zur Verfügung stünde, wäre eine einfache Identifizierung der Normen - so wie sie beschrieben wurde - dennoch ein Unding. Das was der erste Weg als seinen Beitrag und seine Stärke angibt, die Erhebung des Vernünftigen im Ausgreifen nach der vollen Wirklichkeit, gilt in jedem Fall. Auf ein im Urteil gegründetes und sich darin aussprechendes Gewissen, das neue Wirklichkeit zu beurteilen imstande wäre, kann nie verzichtet werden. Innerhalb der Norm selbst ergibt sich keine plausible Erklärung für sie selbst. Und was ist die Antwort auf die Frage, warum die Erneuerung der Ethik, die wir festzustellen meinten, so schnell wiederum abgeflacht ist? - Die Emphase der Freiheit - so will es scheinen - hat häufig dazu 4 Vgl. G. Abbä, 1983, Lex et virtus. Studi sull'evoluzione della dottrina morale di San Tommaso d'Aquino, Roma: LAT.

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geführt, den Träger dieser Freiheit, das Selbst zu verabsolutieren und den auf ihr gründenden Humanismus bis zur Unkenntlichkeit auf Handlungsanweisung zu reduzieren. Das ist nach der Meinung Max Schelers nicht allein Kant passiert.5 Was variationsreiches, wirklichkeitsnahes Urteil im Dienst der Praxis hätte sein sollen, ist angeblich oftmals zur metaphysisch fixen Regel des Handelns hochstilisiert worden. Mit der Einbuße von der Wirklichkeit, die doch voll hineingekommen sein sollte in die Festlegung der sittlichen Norm. Wahr ist auch, dass die Ableitung dieser Norm aus dem Hergebrachten - wird dieses nun als Natur oder sonst wie verstanden - ebenso sehr der Versuchung der Verabsolutierung erlag. Wiederum mit Einbuße der Wirklichkeit. So gesehen begreift man also, warum man jetzt schon wieder von Ermüdung eines gar nicht mal so langdauernden ethischen Interesses sprechen kann. Der Problemdruck, die Anforderungen der Realität, die Weite des Seins werden in diesen Versuchen, die so schnell einem Formalismus erlegen sind, vernachlässigt. Statt die moralische Norm in ihrer ganzen Dynamik zu fassen, begnügen sich die Theoretiker mit rationalistischen Fehlformen. Emotionen, welche die Vorstellung der Wirklichkeit begleiten, werden in ihrer Kraft verkannt. Affekte, in denen man die Moral mehr erfährt als erkennt, nehmen die Funktion inhaltsloser Schablonen ein. Die Motive für Aufstieg und Niedergang der Ethik haben bestimmt etwas mit dem jeweils wieder im Einzelfall sich ergebenden Gewinn oder Verlust der ganzen Wirklichkeit zu tun. Es käme alles darauf an, sensibel genug zu sein, sich von neuem für die ganze Wirklichkeit zu entscheiden. 6

5 M. Scheler, 1954, Der Formalismus Francke.

in der Ethik und die materiale

Wertethik,

Bern:

6 In vielfacher Weise verbindet auch Hans Jonas (1979, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M.: Insel) die deduktive Beweisführung nach festgesetzten Axiomen mit der induktiven Logik.

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2. U m die Gesamtheit der Wirklichkeit zu erfassen, muss z u v o r das Interesse für den Menschen (Anthropologie) geweckt werden Deutlicher als das bisher geschehen konnte, muss innerhalb des geschilderten Prozesses noch gezeigt werden, wie in der Begegnung mit der Wirklichkeit das Subjekt (das Bild des Menschen) der Ort ist, in dem sich die Wirklichkeit darstellt. Es müssen die Konturen, welche die Anthropologie vorzeichnet, genauer beschrieben werden. Dabei kann die klassische Unterscheidung von „moralitas objective spectata" und „moralitas subjective spectata" zu Hilfe kommen. Mit der Bezeichnung „moralitas objective spectata" verweist die scholastische Ethik auf jenen Aspekt der sittlichen Verantwortung, den man den menschlichnormativen nennen könnte. Ein Akt stellt sich als (normativ) gut (bonum) - oder normativ schlecht {malum) — dar. Auf Griechisch sind kalon/dikaion entsprechende Begriffe. (Normativ) gut oder schlecht aber ist etwas nicht nur, weil es bindend, schön oder gerecht ist - alles noch mögliche Bezeichnungen für die moralitas objective spectata - , sondern gut oder schlecht ist etwas, weil es mit der entsprechenden Wirklichkeit übereinstimmt oder selbiger widerspricht. Der Bezugspunkt für das eine wie für das andere - das Gute oder das Schlechte - aber ist in der klassischen Ethik die Natur (bonum est conveniens naturae rationali hominis). Gern wird das als ein Relikt der Vorzeit abgewertet. Es ist aber nicht so, dass dieser Bezugspunkt „Natur" immer derselbe sei. Manchmal wird er im Laufe der Zeit durch einen anderen ersetzt. Bei Kant, sicher nicht verklagbar als Vertreter der Scholastik, bleibt zwar das Interesse für die moralitas objective spectata erhalten, aber die sittliche Norm wird nicht mehr mit der Natur in Beziehung gebracht. Sie hat in und durch das rationale Urteil, das nichtwidersprüchlich, objektiv und universell ist, eine andere Referenz, nämlich das Vernünftige.7 Dem Philosophen von Königsberg folgend schwören zahlreiche Ethiker der Neuzeit auf das Vernünftige als Ermessenskriterium. So ζ. B. auch die Vertreter der so genannten autonomen Moral (Auer, Böckle, Schüller), deren Reflexionen die Diskussion katholischer Mo7 „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden kann, als allein ein guter Wille". I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, A A , S. 393.

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raltheologie bis heute bestimmen. Bei der Feststellung des sittlich Gesollten konzentrierten sie sich auf den Aspekt der sittlichen Verantwortung, welcher der praktischen Vernunft (dem Vernünftigen einer universalistischen Ethik, dem diesem folgenden Prinzip der Teleologie) entspricht. Ohne ein Votum für die Natur als Bezugs- oder Kontrapunkt abzugeben oder ihm zu widersprechen, sprechen viele Ethiker im angelsächsischen Bereich in diesem Kontext immer schon von moralisch richtig und falsch (right/wrong). Doch was bleibt über das andere Glied - die moralitas subjective spectata - zu sagen? Als erstes: In allen nachkantischen Versuchen hat es an Bedeutung verloren. Manchmal fehlt es überhaupt. Von dieser Tatsache kann man nicht anders als überrascht sein. Für die klassische antike Ethik ist ein solches Fehlen ganz und gar unvorstellbar. Ganz abgesehen davon, dass sich unter dieser Voraussetzung ethische Orientierung auf formales Dirigieren reduzierte, fiele bei Abwesenheit des subjektiv Moralischen das wichtigste überhaupt weg: die Vorstellung des „agathon", d. h. die Aussage über das Gute schlechthin und über die Ausrichtung des Menschen auf das Gute. Zur Bestimmung des sittlichen Handelns reichte den Alten nicht eine abstrakt-formale Norm, sondern - vor aller Festlegung der Norm - blieb für sie sicherzustellen, dass der Mensch mit seinem Ausgriff auf die gesamte Wirklichkeit zur Sprache kam. Ohne die Qualität des agathon entbehrte der moralische Akt seiner inhaltlichen Orientierung. Wo diese (zweite) Kategorie fehlte, fehlte auch die Kenntnis des Fundaments der sittlichen Ordnung. Es fehlte das Wissen um die seinshaften Grundlagen, die Werte und Ziele, die den Menschen ausmachten. Die Ethik entbehrte mit einem Wort des expliziten Wissens um den Menschen, die Anthropologie. „Das Fundament der sittlichen Ordnung, aus dem sich auch die seinshaften Grundlagen, die Werte und Ziele ergeben, ist die Anthropologie." 8 Ohne Kenntnis dessen, was den Menschen ausmacht und innerlich bewegt, sieht man nicht, worin denn das für die Moral typische Bedürfnis bestehen könnte, ein guter Mensch zu sein, moralisch zu wachsen, heilig zu sein, möglicherweise das Martyrium zu erleiden.9 Immer geht es doch darum, der sich langsam öffnenden Wirklichkeit nichts schuldig zu bleiben. Der Weg dahin führt über die Erfahrung und das Erleben. Was den konkreten Menschen ausmacht, kann wieder nur aus persön-

8 A. Rauscher, 1991, Hundert Jahre Soziallehre der Kirche, Köln: Bachem, S. 6. 9 J. O. Urmson, 1958, Saints and Heroes, Essays in Moral Philosophy, ed. by I. Α. Melden, 1958, Seattle: University of Washington Press.

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liehen Kontakten, Begegnungen und Widerständen angesammelt werden. Entscheidend ist der Wille10, die Suche nach dem Glück, das Streben nach dem Unendlichen. Wie wichtig die Berücksichtigung der moralitas subjective spectata neben der moralitas objective spectata ist, erkennt man dort, wo sie abwesend ist. Nach Heidegger gründet jeder Humanismus „entweder in der Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen."11 Nimmt die Idee des Menschen nicht immer wieder neu an den Grenzen der Wirklichkeit Maß, verabsolutiert sie sich automatisch an einem beliebigen Punkt. Sie formt sich nach irgendeinem Apriori, sei es nun der Utilitarismus oder der Hedonismus, der Egoismus oder der Naturalismus. Wo der Sinn für die volle Wirklichkeit - das Produkt der „subjektiven Moral" - verloren geht, orientiert sich der Mensch nur noch an einer praxisfernen „Metaphysik". Die neuzeitliche Ethik ist stolz darauf, Ethik der „ratio" zu sein und ihre Handlungsanweisung auf das Vernunftgesetz gründen zu können. Damit öffnet sie die Straße zu Pluralismus, Vielfalt und Kommunikation. Doch der Stolz ist nur insofern berechtigt, als das Gespür nicht verloren geht, dass die ratio eingebettet bleibt in einen menschlich-geschichtlichen Vollzug ihrer selbst. Das Wissen um diesen Zusammenhang aber ist nicht mehr selbstverständlich vorhanden. Entweder propagiert jemand eine „starke ratio" der Universalisierung oder aber exklusiv eine historische Vernunft, von der er nicht mehr auszusagen weiß, als dass sie sich durch Teleologie auszeichne, aber immer noch Elemente der Relativität enthalte. Oder jemand spricht vom Eingebettetsein einer Entscheidung in die geschichtliche Vernunft oder besser: von ihrer „Ubereinstimmung mit der Natur". Das hieße in die Lehre der Antike zu gehen. Die Alten kannten die „Wahl" der Vernunft, aber ebenso die Umstände, in denen sie sich verwirklichen mussten. Nur durch den Bezug von beiden vermochten sie zu begreifen, was „kalon/dikaion" war. Um dem Defizit der Moderne zu begegnen, reicht es sicher nicht, von einer starken Vernunft zu träumen und auf ihre Intervention zu vertrauen. Allerdings genügt es auch nicht, neben der starken Vernunft im Prozess der rationalen Normenfindung einige prae-moralischen Fakten hervorzuheben (Proportionalismus) 10 Vgl. F.-J. Bormann, 1999, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart: Kohlhammer. 11 M. Heidegger, 1946, Brief über den Humanismus, a.M., S. 145-194, 153.

in: ders., Wegmarken, Frankfurt

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so wichtig das auch ist. Die Norm muss eingebunden sein in ein vollständiges Konzept „Mensch in Geschichte". Um die konkrete Norm zu kennen und in ihr eine Handhabe für die sittliche Orientierung zu haben, muss konkret immer wieder vom Handelnden selbst umschrieben werden. Dazu muss er bereit sein, auszuschreiten nach allen Seiten, mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen, auf Authentizität der Wirklichkeit zu achten. Induktiv muss er aus der vollen Wirklichkeit die Ordnung des konkreten Handelns komponieren. Natürlich verschwindet auch in der neuzeitlichen, kantischen Ethik die moralitas subjective spectata nicht ganz. Ein Aspekt bleibt für das reserviert, was man „meta-etica" nannte. Doch Meta-Ethik beschränkt sich auf die Frage, was es denn überhaupt heiße, „moralisch"12 genannt zu werden.13 Für den, der sich auf sittlich gutes Handeln einstellt, kommt es allerdings nicht darauf an, dass ein möglichst vollständiges und umfassendes Bild vom Menschen bereits existiert. Es ist nur bedeutsam, dass er sich als Handelnder auf das, was er als menschlich, umfassend und formal ausmacht, auch wirklich konkret einstellt. Er muss sich motivieren, innerlich treiben lassen, die Wirklichkeit umfassen und ihre Fülle erleben wollen. Es ist wichtig, dass er sich unter die inhaltlich noch nicht erreichte Vorstellung begibt, was der Mensch im Rahmen der Wirklichkeitserschließung nach ihm sein kann. Für Thomas wie schon für Aristoteles wird als agathon nicht das verstanden, was direkt gewünscht wird, sondern was grundsätzlich wünschenswert ist. Etwas ist nicht deswegen gut, weil es in allen Stücken schon realisiert ist und man es nun nur noch für sich selber wünschen kann, sondern weil man es als gut wahrgenommen hat und es nunmehr auch wünscht.14 Das agathon ist vornehmlich das, was simpliciter et secundum veritatem als gut gewollt wird, also als das, was in der Dynamik eines praktischen Urteils 12 „Why to be moral at all"?! 13 Ein anderer Aspekt der Metaethik ist auch die „induktive Normenfindung: vgl U . Christoff er, 1989, Erfahrung und Induktion. Zur Metbodenlehre philosophischer und theologischer Ethik. Studien zur theologischen Ethik, Freiburg i. Br./Freiburg i. Ue.; D. Mieth, 1977, Moral und Erfahrung. Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik, Freiburg i. Br./Freiburg i . U e . 1977; Ph. Schmitz, 1972, Die Wirklichkeit fassen. Zur induktiven Normenfindung einer Neuen Moral, Frankfurt a. M. 14 J. Habermas fordert in seinem Buch Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik? (2001, Frankfurt a. M.: Suhrkamp) ein „Recht auf ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist, jedenfalls nicht zu anderen als therapeutischen Zwecken"; siehe E.W. Böckenförde, 2003, Die Würde des Menschen war unantastbar, F A Z Mittwoch, 3. Sept. 2003, S. 3 3 - 3 4 .

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lokalisiert ist (EN III 6; InEN III 10, 5-7). Dieser Dynamik wird entgegenkommen, was im persönlichen Erleben, durch die Suche nach der Wirklichkeit, in der Identifikation des Konkreten ihr entgegenkommt. Der Handelnde muss entsprechend seiner Kompetenz und unter der Bereitschaft sich überraschen zu lassen, den großen Rahmen des simpliciter et secundum veritatem Gewollten ausfüllen wollen.

3. Induktive Ethik, die notwendigerweise „weltlich" ist und in einem Prozess der Säkularisation steht Auf einen dritten Aspekt der Wirklichkeitserschließung sei noch hingewiesen, auf ihren „weltlichen" Charakter. Die Ethik erreicht ihr Ziel, sittliche Normen auch inhaltlich auszudeuten, nur, wenn sie sich zunächst wenigstens der Situation ihres Handelns öffnet, dann der Welt als ganzer, die als solche ja immer mehr ist als nur eine Serie von Situationen. Man könnte versucht sein, die Worte zu zitieren, die der hl. Ignatius für die Betrachtung in den Exerzitien gebrauchte: ich muss bei der Erfassung der Geheimnisse „mit der Sicht der Vorstellungskraft den körperlichen Raum [...] sehen, wo sich die Sache befindet, die ich betrachten will" (EB 47). Ethik ist zuerst immer „weltliche Ethik". Auch von säkularer Ethik ließe sich sprechen, von einer Ethik, die immer wieder vom Saeculum ausgeht. Zur Erklärung dessen, was das heißt, kann die Betrachtung von sicherlich willkürlich ausgewählten Kunstwerken als Gleichnis dienen: Die mittelalterlichen Dome von Mainz, Speyer, usw. legen - so sagen wir jedenfalls heute - davon Zeugnis ab, welch großartige Werke der Mensch geschaffen hat. Wir sprechen von großen Werken der Kultur, welche aus Menschenhand hervorgegangen sind. Es gehört allerdings zu den Kennzeichen der modernen Zeit, dass die Interpreten hinter das, was die jeweilige Kultur hervorgebracht hat, nochmals zurückgehen und von autonomen Sachbereichen, die noch vor der Kultur liegen und ihre Erklärung überflüssig machen: sie sprechen von Leistungen der Wissenschaft, der Wirtschaft, des Rechts, der Politik, usw. Von diesen eindeutig weltlichen Bereichen her suchen sie dann die „Kultur" oder besser: das Werk des Menschen zu verstehen. Der (moderne) Mensch weiß sich auf dieser Ebene unmittelbarer in seiner Vernunft und seiner Entscheidung angesprochen. Was dem (mittelalterlichen) Menschen bei der Erklärung der rheinischen Dome aber fehlt, ist die Bereitschaft, die Kultur mit ihren Sach-

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bereichen auf Gott zurückzuführen. Die Architekten der romanischen Dome hätten von dem, was sie planten und Gestalt werden ließen, von Werken der Schöpfung gesprochen. Im Dom zu Köln zelebrieren die Erbauer ζ. B. den Ausdruck himmlischer Liturgie, ihrerseits Feier und Manifestation der Schöpfung. Für den modernen Menschen, der sich als sittliches Wesen definieren will, gilt der Versuch, sein Handeln von humanen Sachbereichen Ökonomie, Psychologie, Politik - zu erklären. Nur mit Mühe wird er darüber hinaus in die Richtung von Kultur und Schöpfung gehen: Am Ende kann man nur hoffen, dass es ihm gelingt, von der Welt aus und in ihr - zum Menschen und zum Schöpfergott zurückzufinden. Romano Guardini sieht das so, wenn er schreibt: „Durch sein Werk kehrt der Geist der Welt zum Bewusstsein von sich selbst und der Mensch erhält den Sinn seiner Existenz." 1 5 Der Mensch wird immer wieder zum Adam, bevor er sich seiner Würde als Mensch und am Ende als Mandatar und Mitschöpfer bewusst werden kann. Der Prozess der Normenfindung beginnt immer wieder beim Weltlichen, Alltäglichen, Ordentlichen. 16 Für den Christen erhellt sich das Mysterium des Menschen in der Nachfolge des Lebens Jesu 17 , in dem dieser den Menschen zu sich selbst führt, und der seinerseits am Ende im Sohn des Vaters die Erklärung von allem erlangt (Col 1,15). Dass sie das Weltliche an den Anfang der Normenfindung stellt, dient zur Rechtfertigung induktiver Ethik. 18

4. Die Erfahrung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Norm Die dargestellte Eigenschaft jeder Ethik - alle Wirklichkeit zu umfassen und doch jeweils hier und jetzt zu Handlungsanweisungen (Normen) durchzustoßen - findet ihr Vorbild in der speziellen Ethik. In der 15 R o m a n o Guardini, 1986, Das Ende der Neuzeit,

Mainz-Paderborn, S. 41.

16 Der induktive Zugang zur Christologie bei P. Hünermann, und wohl auch H . Küng. Siehe die interessante Beobachtung bei B. Ditzfelbinger, 1 9 9 9 , „ D i r geschehe wie du willstin: Aufmerksame Wege, hrsg. von G. Münderlein, München: Claudius Verlag, S. 2 5 - 3 1 . 17 Vgl. P. Hünermann, 1994, Jesus Christus. Gottes Wort in der Zeit. Eine Christologie, Münster: Aschendorff. 18 Siehe die Regeln zur Unterscheidung der Geister, Ignatius von Loyola, buch (EB).

systematische Exerzitien-

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speziellen Ethik, heute gern auch „angewandte Ethik" (applied ethics) genannt, erfüllt sich nämlich - wenn auch nur in Bezug auf ein eingegrenztes Gebiet - die Forderung nach der „ganzen Wahrheit". Im Gegenstück zur fundamentalen Ethik, die Grundlegung sein soll, wird bei der angewandten Ethik deutlich, dass die ganze Wahrheit sich immer in einem konkreten Subjekt erschließt. Ob es sich nun zum Experten empor schwingt oder aber ein schlichter Mitstreiter bleibt, es hat sich jedenfalls in Bezug auf die es interessierende Wirklichkeit einer Alphabetisierung unterzogen und eine neue Sprache gelernt. (Wir können an dieser Stelle davon absehen, dass sich jeder Ethiker - auch derjenige, der an erster Stelle spezielle Ethik betreibt - sich mit dem Werk der Schöpfung konfrontiert sieht) In der speziellen Ethik ist erkennbar, was es heißt, dass der ethische Erkenntnisprozess mit der Erschließung der Realien anfängt und damit dem Charakter jedweder Ethik, nämlich konkret zu sein und vom Weltlichen her zu den letzten Begründungen vorzustoßen, gerecht wird. 1 9 Aus den genannten Gründen konnte es geschehen, dass aus dem, was man einst „spezielle Ethik" genannt hat, der Urtyp der Ethik werden konnte. 20 Der Wandel dahin hat damit begonnen, dass sich in der sich schnell verändernden Welt im bisher nicht gekannten Ausmaß die Forderung nach dem Konkreten und Praktischen stellte. Regierungen, Industrien, Institute der Bildung und Forschung wurden sich bewusst, dass es die Aufgabe der Ethik sein müsse, das Wirkliche als Wirkliches zu erfassen. 21 Zu diesem Zweck zogen sie Praktiker und Spezialisten anderer Disziplinen hinzu, die sich als Kenner der Materie ausgewiesen hatten und nunmehr auch bereit waren, in einen ethischen Dialog einzutreten. Aber es blieb eine spezifische Rolle der Moralisten, das Konkrete in seiner Forderungsstruktur in den Diskurs einzuführen. Auch wenn der nunmehr zum Kollegen von Juristen, Ökonomen und Medizinern avancierte Theoretiker nicht immer mit deren Sachwissen aus19 Damit ist nichts über den nicht-theologischen Teil der Ethik ausgesagt. 20 R. Heeger, 1993, What is Meant b y „The Turn to applied Ethics"? in: R. Heeger/ Th. van Willigenburg (Eds.), Practical Consequences for Research, Education, and the Role of Ethicists in Public Debate, Kampen: Kok Pharos, S.9-16; A. Edel, 1994, Elisabeth Flowers/Finbarr. W. O. Connor, Critique of Applied Ethics: Reflections and Recommendations, Philadelphia: Temple University Press. 21 G. Calmata, 1997, Etica applicata. L'ordine ideale de IIa vita umana. Filosofia e realtä, Navarra: Mainare; Ruth. F. Chadwick (Ed.), 1998, Enciclopedia of Aplied Ethics, (Academic Press), San Diego ecc.; Armando Massarenti/Antonio da Re, 1991, L'etica da applicare: Una morale per prendere decisioni, Interventi di Giovanni Agnelli e Salvatore Veca. Milano: 11 sole 24 ore.

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gestattet war, war er doch willkommener, ja notwendiger Teilnehmer des Gespräches und ein sehr nützlicher Berater: in Krankenhauskomitees oder in offiziell eingerichteten Gruppierungen, die darüber entscheiden, ob Experimente mit Tieren erlaubt waren, ob spezielle Kuren und Praxen sich rechtfertigten, ob bestimmte Kontrollen des Management durchgeführt werden müssten. Es blieb nicht aus, dass in der Folgezeit dann auch die Moralisten im bescheidenen Rahmen - Experten der Bioethik, der ökologischen Ethik, der Wirtschaftsethik, usw. wurden. Als zu einem interdisziplinären Dialog eingeladene Gäste waren sie jedenfalls gezwungen, die von ihnen traditionell verwandte Terminologie und die gewöhnliche Methode nahe an den zu lösenden Problemen und an der Sprache ihrer Partner zu halten. Gerade das stellte dem Kenner der Ethik vor ernste Aufgaben und verlangte von ihm ständiges Lernen. Es genügte nicht mehr, nur die eigene Disziplin, deren Geschichte und die entsprechenden Argumente zu kennen. Er musste die Grundlagen einer praktischkonkreten Ordnung erkennen und reflektieren. Die beispielhafte Anwendung der angewandten Ethik ist die Bioethik. An ihr zeigt sich, wie wichtig die Erfassung von Partikularität unter einem immer schon gegebenen, aber sich gleichzeitig auch entwickelnden anthropologischen Rahmen ist. In den letzten Jahrzehnten nach dem Zweien Weltkrieg lassen sich in diesem Paradefall drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase behandelte man noch klassische Themen der medizinischen Ethik: man stritt um die Erlaubtheit aussergewöhnlicher chirurgischer Eingriffe (cranio-tomia) oder man suchte solche Eingriffe zu bewerten, welche möglicherweise die menschlich physische Integrität betrafen (Sterilisation, Abtreibung, Euthanasie). Nach der unsäglichen Inhumanität des Nazismus würde es keine medizinische Ethik mehr geben können, die sich nicht zuerst auf den Patienten besann. Die tragischen Ereignisse, die in den Morden und Experimenten in Auschwitz ihren Höhepunkt gefunden hatten, mussten in ihrer Inhumanität im Bewusstsein bleiben. In den Lagern hatte niemand nach Mitsprache und Selbstbestimmung (informed consent) gefragt, in der Zukunft sollten die Schwachen und Kranken nicht mehr zu Versuchstieren gemacht werden dürfen. Die zweite Phase der Bioethik war bereits ein echtes Produkt der angewandten Ethik. Es war vor allem die Technik in der Medizin, welche die Experten herausforderte. Diese Etappe der Bioethik hatte einen beachtenswerten Anfang gehabt in den Vereinigten Staaten (Andre

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Helleghers, Kennedy Institute, und Daniel Callaghan, Hastings Center). Obwohl, was die ethischen Lösungen anging, die Protagonisten der genannten Institute sich im Gleichklang mit vielen Resultaten der katholischen Moraltheologie befanden, erweiterten sie doch ihren H o rizont beträchtlich. Sie interessierten sich auch für die professionelle Deontologie (ippocratica) und die Lösungen des klassischen Liberalismus und Utilitarismus. Wiederum war es die Doppeltheit des Weges, der beeindruckte: Echte Kooperation mit den Experten der Medizin, aber auch des Rechtes oder der Technik. Was in den USA begann, setzte sich in Europa fort. Anfang der sechziger Jahre verspürte man auch hier den Drang, sich an der interdisziplinären ethischen Diskussion zu beteiligen. Und immer blieb der Dreischritt maßgebend: die volle Wahrheit (Wirklichkeit), der Mensch in seiner Selbstreflexion und (für den glaubenden Menschen) die Unterwerfung unter den Willen Gottes. Zum Glück wurde daraus der Anstoß für eine grundsätzliche, ethische Debatte. Die dritte Phase der Bioethik setzte die Linie der angewandten Ethik fort. Das, was deren Reflexion mehr als alle anderen Dinge vorantrieb, waren die zahlreichen Errungenschaften der Medizintechnik. Statt sich von dem zweifellos subjektiven Urteil des einzelnen Arztes abhängig zu machen, unterstrich man nun - wegen des Einsatzes vielfältiger Mittel - die Leistung des Teams. Dabei war mit immer mehr nicht vorhersagbaren Konsequenzen zu rechnen. Umweltbezogene Faktoren mussten ebenso mit ins Spiel gebracht werden: eine wachsende Weltbevölkerung, wirtschaftliches Wachstum, usw. Viele andere Herausforderungen verdichteten sich zu einem wachsenden Kult des Physischen und des Leibes. Präventivmedizin (Herzinfarkt, Bronchitis, Zirrhose) wurden ebenso zum Thema wie die unzulänglichen Sicherungen der Zivilisation und Gesellschaft (Verkehrsunfälle). Neue, so bisher nicht gekannte Kontroversen machten sich breit (Autonomie-Paternalismus). Man lernte langsam: Die Arbeit und Wirkung der Medizin hat zwar ihre konkreten Bezüge, konnte aber nicht mehr allein den Technikern und den Ingenieuren überlassen bleiben. Der Einschluss der Nicht-Experten in den ethischen staatlichen und öffentlichen Gremien wurde immer weniger als taktischer Kompromiss denn als Mitsprache und als Vorbereitung der Steuerung und Praxis angesehen, die der einzelne immer noch zu leisten hatte. Auf diese Weise wuchsen allmählich die verschiedenen Aspekte der angewandten Ethik, die zum Vorbild jeder Ethik werden sollte. Die Technik und die Praxis erwiesen sich als die Motoren des Fortschritts,

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und die Bioethik suchte Schritt zu halten mit der Entwicklung. Heute gibt es wohl keinen Moralisten mehr, der nicht, über die klassischen Prinzipien des Doppelwirkungsprinzip und der Totalität hinaus, andere Prinzipien in Betracht zöge (Konsens, Benefizenz, Gerechtigkeit, Solidarität). In gleicher Weise hat sich, unter der Führung der Bioethik, eine neue Kasuistik mit zahlreichen Aspekten (Intensivtherapie, Geriatrie, pränatale Diagnostik, Wahrheit am Krankenbett, außerordentliche und ordentliche Mittel, Transplantationen) herausgebildet. In allem aber wiederholt sich die Forderung, der ganzen Wirklichkeit gerecht zu werden. Freiheit zeigt sich abhängig von Erfahrung, menschliche Kultur sieht sich in das Werk des Schöpfers eingebunden. Der Christ, der zu eigenem Bewusstsein gelangt ist, begegnet seinem Herrn, der ihm die Möglichkeiten eröffnet, sich in den Dienst der anderen zu stellen. In Christus werden seine Unangepasstheit, seine Angst vor dem Sterben, seine Zweifel und sein den Risiken Ausgeliefertsein erlöst.

Abwägende Vernunft als Grundthema der ethischen Bildung MAX KLOPFER

Im Folgenden soll die Frage nach der Bedeutung des Verfahrens einer abwägenden Vernunft im Hinblick auf den Ethikunterricht an öffentlichen Schulen untersucht und dargestellt werden. Dabei soll auf Ansätze der allgemeinen Ethik als auch auf pädagogische Positionen, wie sie durch die derzeitigen Entwicklungen in unserem Schulwesen sich ergeben haben, eingegangen werden. Einleitend sollen einige Grundgedanken des Begriffs der abwägenden Vernunft dargestellt werden. Ausgehend von der Ethik Kants, dass der Mensch immer als Zweck an sich selbst zu behandeln ist, wird in Verbindung mit der Ethik des Aristoteles und seine Güterlehre versucht, zu inhaltlichen Folgerungen zu kommen. Weil jeder Mensch Zweck an sich selbst ist, muss alles ihm gegenüber verantwortet werden, wobei sich diese Frage vor allem wegen der an Güter gebundenen Handlungsmöglichkeiten ergibt, die als konkrete Freiheit bezeichnet werden kann. Die Anwendung dieses Kriteriums ist Aufgabe der endlichen abwägenden Vernunft, die also aus drei Komponenten besteht: Mit dem Ausdruck Vernunft wird ausgedrückt, dass nach einer richtigen Entscheidung gesucht wird, indem zweitens die Vernunft als abwägend tätig ist, wird betont, dass, obwohl objektive Gesichtspunkte vorhanden sind, es trotzdem keinen Kalkül gibt, der zur richtigen Entscheidung führt, und drittens ist unsere Vernunft endlich, d. h. unser Wissen hat Grenzen. 1 Auf der Basis dieses Ansatzes soll im Folgenden untersucht werden, welche Relevanz er im Hinblick auf den Begriff der ethischen Bildung hat.

1 Friedo Ricken, 4 2003, Allgemeine Ethik, Stuttgart: Kohlhammer; ebenso: Friedo Ricken, 1993, Ethik der abwägenden Vernunft, in: Frank Benseler/Bettina Blanck/Rainer Greshoff/Werner L o h (Hrsg.), Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, Heft 4: Westdeutscher Verlag, S. 587-594.

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1. Pädagogisch-didaktische Positionen Der Begriff der abwägenden Vernunft steht in Zusammenhang mit Fragen des Entscheidens und Handelns, also Themen, wie sie im Ethikunterricht in allen Jahrgangsstufen vorkommen. Der Begriff hat somit neben seinem Ort in der philosophischen Ethik auch Auswirkungen auf die pädagogische und fachdidaktische Diskussion von Ethikunterricht. Dabei kann in didaktischer Perspektive zwischen einer theoretischen und einer empirisch-pragmatischen Bedeutung des Begriffs der abwägenden Vernunft unterschieden werden. Die letztere zeigt sich bereits bei einem auch nur oberflächlichen Blick auf die Situation an den Schulen, in der Schüler lernen, die weitgehend durch eine Ablehnung autoritärer Denkvorgaben seitens der Lehrkraft bzw. der Gesellschaft geprägt sind. Die andere Funktion des Begriffs der abwägenden Vernunft im Kontext didaktischer Reflexionen von Ethikunterricht ergibt sich daraus, dass Unterricht neben Erziehung auf Bildung zielt, Bildung aber - im Gegensatz zu Erziehung - einen Selbstformungsprozess darstellt: Es müssen die kognitiven und emotionalen Kräfte in den Schülern geweckt werden, ihre innere Bereitschaft muss gefördert werden, am Prozess der Bildung aktiv mitzuwirken. Bildung ist nicht bei innerer „Neutralität" zu haben, schon gar nicht gegen einen Widerstand beim Aufbau neuen Wissens. Der Begriff der Bildung ist in Deutschland erst im 18. Jahrhundert als wissenschaftlich-pädagogischer Terminus allgemein in Mode gekommen, die englische Sprache drückt den mit Bildung gemeinten Sachverhalt durch education oder culture aus, die französische Sprache durch instruction, education oder culture. Der deutsche Bildungsbegriff entwickelte sich in Zusammenhang mit der mittelalterlichen Mystik aus den Wörtern uzbilden und inbilden, wobei für die Mystiker die Bedeutung von „Einbildung" im Sinne von Phantasie und Imagination mitschwang.2 An diesen Zusammenhang ist im Hinblick auf den Begriff der abwägenden Vernunft in didaktischer Hinsicht anzuknüpfen. Der Ethik geht es um das gute und gerechte Handeln, das den Menschen zu einer sinnvollen und glücklichen Lebensführung befähigt, der Pädagogik liegt das analoge Thema zugrunde. Sie fragt nach den Bedingungen, die 2 Alexander Müller, 2003, Bildung als Klugheit des Handelns, in: Politische Studien, Bildung: Standards, Tests, Reformen, Sonderheft 3, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, München: Atwerb-Verlag, S. 120.

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es den jungen Menschen ermöglichen, angesichts veränderter - innerer und äußerer - Rahmenbedingungen zu zunehmender Selbständigkeit und darüber hinaus zu moralischer Mündigkeit zu gelangen. Die Personalität des Heranwachsenden ist gekennzeichnet durch Freiheit, Innerlichkeit und Würde. Fasst man Moral auf als ein System von Sollensforderungen und Moralerziehung als eine Veranstaltung zur Übernahme dieser Normen, dann plädiert man fachdidaktisch für Ethikunterricht als Charaktererziehung auf der Basis tradierter Tugenden, Werte und Normen. Dieser Unterricht leistet aber nicht das, was er eigentlich sollte, nämlich eine verinnerlichte Moral zu begründen. Lernen ist mehr als nur Übernahme vorgetragener Lehren, lernen im Sinne eines Geprägtwerdens, eines Gebildetwerdens heißt Integration des Aufgenommenen in den bereits vorhandenen Bestand an Erfahrungen, Einsichten und Wissen, wie dies der kognitiv-konstruktivistische Begriff des Lernens beinhaltet. An dieser Einsicht kommt auch das moralische Lernen nicht vorbei, weil Lernen keine Einbahnstraße vom Lehrer zum Schüler ist, sondern den wechselseitigen Gedankenaustausch benötigt. Die Schüler wollen ihren Lehrern auch ihre Auffassungen von einer Sache vortragen können, sie wollen ihre Fantasie einsetzen dürfen und damit fehlende Lebenserfahrung überbrücken. Dies ist gerade bei moralischen Konfliktfällen eine Möglichkeit, den Fall möglichst nahe an das Verständnis von Schülern heranzuführen, dies aber ist auch eine Möglichkeit, die Methode der abwägenden Vernunft einzusetzen. Die moralpsychologischen Forschungen von Lawrence Kohlberg haben gerade die Bedeutung dieses speziellen Lehrer-Schüler-Interaktionsverhältnisses bestätigt, wie dies auch schon Bert Brecht 1922 zum Ausdruck brachte: „Während meines 9jährigen Eingewecktseins in einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern." 3 Jugendliche sind heute vielfach skeptisch, wenn ihnen starre Regeln des Verhaltens anerzogen werden sollen, weil der Schulunterricht in allen Fächern sie zu einem selbständigen und kritischen Denken erzieht bzw. dieses Ziel verfolgt. Eine isolierte Behandlung einzelner Fächer und einzelner Themen entspricht vielfach nicht mehr den pädagogischen Erfordernissen, die das Stichwort von der „Vernetzung" der Wissensgebiete aufgenommen haben und zu Schlüsselqualifikationen weiterentwickelt haben, da Schüler die Wirklichkeit nicht primär über Fä3 Kurt Beutler, 1996, Das Problem der Normsetzung in der Pädagogik, in: Pädagogik und Ethik, hrsg. v. Kurt Beutler und Detlef Horster, Stuttgart: Reclam, S.268.

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eher, sondern über interessierende Problemstellungen wahrnehmen. Aus diesem Grunde werden heute Lehrpläne im Sinne eines fächerübergreifenden Lernens konzipiert. Dieses Konzept arbeitet mit flexiblen Inhalten, die offen sind für die jeweilige Lernsituation der Jugendlichen. Beispielhaft soll ein Blick in den neuesten Lehrplan für die Gymnasien in Bayern im Fach Ethik diese Grundsituation aufzeigen. Im sog. Fachprofil für den Ethikunterricht heißt es: „Im Ethikunterricht werden Situationen und Probleme aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Schüler in Alltag, Familie und Schule thematisiert, Handlungsalternativen geprüft und gemeinsam mit den Schülern Vorschläge z u m rationalen U m g a n g mit Konflikten entwickelt." (Bayerisches Staatsministerium, 2 0 0 3 , S. 2 3 )

Dieser Ansatz wird folgendermaßen weitergeführt: „Der Ethikunterricht knüpft sowohl an ethisch bedeutsame T h e m e n der einzelnen Fächer als auch an Erfahrungen der Schüler an. A u f dieser Grundlage werden Fragen beispielsweise nach dem Status von Werten, N o r m e n und ihrer Geltung und Begründung gestellt. D e r Ethikunterricht berücksichtigt, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in Spannung zueinander stehen. Wahrnehmung, Entscheidung und Handlung stellen die drei grundlegenden Schritte der ethischen Grundsituation dar. Dabei geht es nicht nur u m das Faktische, das bereits Existierende, sondern v o r allem u m dasjenige, was erst durch menschliches Handeln Wirklichkeit wird." (Bayerisches Staatsministerium, 2 0 0 3 , S . 2 3 )

Das pädagogisch-didaktische Anliegen von Erziehung und Unterricht zielt auf ein Wesen, das sich auf eine Zukunft hin entwickelt. Diese Entwicklung steht unter der doppelten Prämisse der pädagogischen Anthropologie, nämlich Freiheit des Jugendlichen, an seiner Entwicklung beteiligt zu werden, und der Notwendigkeit, auf Hilfe angewiesen zu sein. Greift man den Gedanken des Aristoteles auf, dass es im Bildungsgeschehen darum geht, ein tauglicher Beurteiler zu werden, und greift man den Gedanken Kants auf, dass der Jugendliche nichts mehr liebt, als das innere Wachstum zu fühlen, so lässt sich daraus das Konzept eines flexiblen Unterrichts ableiten, das in Zusammenhang mit dem Begriff der abwägenden Vernunft steht. Der Pädagoge Herbart (1776-1841), Nachfolger Kants in Königsberg, hat die Bedeutung der situativen Erfordernisse im Blick, durchaus im Sinne des aristotelischen Ethikkonzepts der Klugheit, dass zwischen die Theorie und die Praxis sich ein Mittelglied schieben müsse, das er den „pädagogischen Takt" nennt: „Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die Kunst nur

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der, w e l c h e r v o r h e r i m D e n k e n die W i s s e n s c h a f t g e l e r n t , sie s i c h z u eigen g e m a c h t , s i c h d u r c h sie g e s t i m m t , - u n d die k ü n f t i g e n E i n d r ü c k e , w e l c h e die E r f a h r u n g a u f i h n m a c h e n sollte, v o r b e s t i m m t h a t t e . " 4

Das Einbeziehen situativer Elemente in einen normativen Ansatz wird aber nicht nur der Sache gerecht, sondern entspricht auch dem pädagogischen Anliegen, das innere Wachstum des Zöglings zu steigern, indem sich auch der Lernende wandelt und erweitert, und zwar auf eine ethisch gewünschte Weise. Er wird vertraut mit den wechselnden Gegebenheiten der Welt, ohne den Maßstab zur Beurteilung zu verlieren und ohne die Orientierung am guten und gerechten Leben aufzugeben. Bildung ist somit kein statischer, sondern mehr ein dynamischer Begriff, der einen Prozess beschreibt, zu dem die Auseinandersetzung mit kontingenten Situationen gehört. Der Reifungsprozess benötigt das dazu passende Lernmaterial und die dazu gehörenden Lernmethoden. Sich mit dem Prozess des Bildens und Entwickeins zu beschäftigen gehört zu den Aufgaben von Didaktik, hier der Fachdidaktik Ethik. Die kognitive Psychologie hat gezeigt, dass Schüler ihr Wissen durch eine operatorische Einstellung, also durch einen aktiven Umgang sowohl mit einer Sache als auch mit Menschen erwerben. Das trifft auch auf die moralische Entwicklung und den Aufbau eines Wertesystems zu. Nicht starre Inhalte, sondern vom Heranwachsenden selbst erarbeitete Einsichten steuern den Aufbau einer moralischen Tiefenstruktur, denn durch die kognitive Selbsttätigkeit wird zugleich auch die Entwicklung einer Verantwortungsbereitschaft begünstigt. Hierzu gehört auch der Aufbau eines reversiblen Denkens, das immer neue Perspektiven in den Prozess der Urteilsbildung einbezieht. Diesem Anliegen kommt vor allem das moralpsychologische Konzept von Lawrence Kohlberg entgegen, das die Entwicklung und den Aufbau moralischen Wissens progressiv-konstruktivistisch deutet. Es wird davon ausgegangen, dass die Jugendlichen sich in einer offenen moralischen Entwicklung befinden und die Welt mit ihren Augen, nicht mit denen von Erwachsenen sehen. Indem Kohlberg den moralischen Entwicklungsprozess beschreibt, entdeckt er, dass Jugendliche die vorgetragenen Probleme nicht mit Hilfe einer - halbverstandenen Erwachsenenmoral betrachten, sondern notwendig ihre eigenen Lebenserfahrungen einbringen müssen, wenn ein authentisches morali4 Johann Friedrich Herbart, 1973, Die Synthese von Unterricht und Erziehung, in: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung, Band III, 19. HO. Jahrhundert, hrsg. v. Theodor Ballauff und Klaus Schaller, Freiburg u. a.: Karl Alber, S. 95.

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sches Urteil entstehen soll. Diesen Entwicklungsgang hat er als einen sechsstufigen Prozess beschrieben, der rein innerpsychisch verläuft, also kulturunabhängig ist. Auf dieses sehr bekannte Stufenschema soll hier nicht eingegangen werden, sondern auf einige Aspekte, die mit dem Begriff der abwägenden Vernunft in Zusammenhang stehen. Da es Kohlberg auf die Stimulierung eines Moralprozesses ankommt, betont er neben den Kompetenzanforderungen auch die Performanzbedingungen von moralischer Entwicklung, also die innerpsychischen und situativ-kontextuellen Gegebenheiten. Erzieherische Hilfe ist notwendig beim stufenförmigen Aufbau von moralischer Kompetenz, Schulung bei der Lösung eines moralischen Konflikts ist notwendig im Hinblick auf die Performanzbedingungen von Moral. Methodisch soll dieses Ziel erreicht werden (in Anlehnung an Piaget) durch die PlusEins-Methode (auch +1-Konvention genannt), d.h. den Schülern wird ein Konflikt präsentiert, der eine Stufe über ihrem gegenwärtigen moralischen Urteilsvermögen liegt. Durch die als unangenehm empfundene Situation soll der Zögling angeregt werden, durch Aufsuchen einer geeigneten Lösung bzw. Lösungsstrategie so rasch als möglich dieser Situation zu entkommen. Dazu gehört unter den Bedingungen von Unterricht auch der sog. transaktive Dialog, nämlich die Fähigkeit, sich mit den Argumenten des Gegners auseinander zu setzen, sie ggf. aufzunehmen und damit zu transformieren. Anregungen hierzu kann man sich, wenn man sich an einem Klassiker orientieren möchte, bei Thomas von Aquin holen.

2. Philosophisch-pädagogische Positionen Angesichts der vielfältigen geistesgeschichtlichen Strömungen, die den Bildungsbegriff inhaltlich geprägt haben, soll hier der Versuch gemacht werden, auf der Basis des Aristoteles einen Ansatz zu entwickeln. In seinem Werk über die Politik, die für Aristoteles ja zur Ethik gehört, hat er im 8. Buch die Grundzüge einer Lehrplantheorie vorgelegt. Aber auch in der Schrift De partibus animalium beschäftigt er sich im Einleitungskapitel mit diesem Thema, wenn er die unterschiedlichen Anforderungen erörtert, die an einen Wissenschaftler und an einen Gebildeten zu stellen sind. Schließlich finden sich in der Nikomacbiscben Ethik selbst einige Aussagen zur Abgrenzung von Wissenschaft und Bildung. In der Politik unterscheidet Aristoteles drei Grundsätze der Erziehung: das Maß, das Mögliche und das Passende. Das erste leistet die

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Grenzziehung zur Wissenschaft, das zweite bezieht sich auf die altersgemäßen Anforderungen, und das dritte meint das eigentlich Bildende, den Charakter Formende. Zwischen demjenigen, der von einer Sache überhaupt nichts versteht, und dem Experten, dem Wissenschaftler, steht als „Mensch der Mitte" - der nach heutigem Sprachgebrauch Gebildete. Als personifiziertes Bildungsideal erscheint ihm der Hochgesinnte, wie er in der Nikomachischen Ethik (IV, 7 und 8) beschrieben wurde. Er ist eine kultivierte Persönlichkeit, die in ihrem Verhalten von der Tugend der Hochsinnigkeit so geprägt wurde, dass sie in Angelegenheiten des staatlichen Lebens als kompetenter Beurteiler gilt. Er ist von Aristoteles mit so vielen, das richtige äußere Verhalten betreffenden Attributen ausgestattet worden, die Ausdruck einer „vollendeten Bildung seines Charakters" sind, dass es schwer fällt, ihm einen passenden modernen Titel zu geben. Wichtig ist aber dabei nur, dass auch hier das Richtige wieder ein Mittleres ist, nicht im Sinne der Mittelmäßigkeit, sondern in dem einer nicht überbietbaren, richtigen Entscheidung. Deshalb spricht er auch für die Erziehung die Warnung aus, dass man sich nur bis zu einem bestimmten Grade mit den Wissenschaften beschäftigen soll. Eine Uberstrapazierung der jugendlichen Leistungsfähigkeit führt dazu, dass „das Denken unruhig und niedrig wird". Das der Natur Entsprechende ist aber das richtige Maß, die richtige Mitte. Dies meint aber etwas Doppeltes: Nicht nur die Erzieher müssen die richtige Mitte situationsbezogen richtig bestimmen können, sondern die Erziehung muss diese Fähigkeit im jungen Menschen heranbilden, damit er in Selbstverantwortung das richtige Leben führen kann, wie es ihm in seinen jeweiligen Lebensumständen entspricht. Da das Leben ja aus kontingenten Handlungssituationen besteht, gibt es streng genommen gar keine Wissenschaft über das richtige Verhalten, denn das Leben lässt sich gerade nicht unter starre Regeln zwingen. Zur Realität des Lebens gehört, dass über jede Frage eine Vielzahl von Meinungen existiert. Das Charakteristische dieser Meinungen ist, dass sie nicht neutral sind, sondern werbenden Charakter haben, dass also versucht wird, andere ebenfalls für diese Meinung zu gewinnen. Das Feld der Aristotelischen Ethik ist ja unter anderem auch die Politik, und Meinungen sind hier also immer irgendwie auch politische Meinungen. Wenn es also sowieso nur ständig sich verändernde Situationen gibt, dann hat es keinen Sinn, starre Lerninhalte zu rezipieren. Das Bildungsverständnis als Leistungsdefinition eines Unterrichtsfaches muss seinem Gegenstand angemessen sein. Der werbende Charakter der

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Meinungen, die den jungen Menschen bedrängen, fordert nun aber gerade zu einer Entscheidung heraus, denn widersprüchliche Meinungen kann man nicht zugleich erfüllen. Der erste und wichtigste Schritt ist für Aristoteles der, wie er dies in der Endemischen Ethik formuliert, dass man bei jeder Sache „zugehörige und sachfremde Argumente auseinander halten" (EE 1 6 , 1217 a 7-10) kann. Dies ist eine Angelegenheit des kritischen Urteilsvermögens. Der zusammengesetzten Natur des Menschen entsprechend ist aber das kognitive Moment nicht das allein ausschlaggebende. Der Charakter oder, wie man auch sagen kann, das Interesse oder die Emotion bestimmen hier mit, weil in dieser Angelegenheit der Verstand nicht wertfrei urteilen kann. Uber ein verstandesmäßiges Moment, die Tugend der Klugheit (phronesis), wird aber auch der Charakter geformt. Die Beeinflussung des die Handlung leitenden Interesses über die ethischen Tugenden entzieht sich einer systematischen Erfassung durch den Unterricht. Hier muss der Ethikunterricht ein schwer überbrückbares Defizit erkennen, weil er auf zwei Beinen steht, einem kognitiven und einem praktischen, also Schule und Lebenserfahrung. Wichtig im Sinne des Projekts der abwägenden Vernunft ist aber auch hier, dass Aristoteles betont, dass es im Hinblick auf die Tugend nicht primär darum geht zu wissen, was die Tugend ist, sondern wie sie entsteht und vergeht. Dies aber deckt sich mit dem kognitiv-entwicklungspychologischen Ansatz unserer Zeit und seinen Einsichten und Methoden, wie dies die Kohlberg-Schule gezeigt hat. Diesen Sachverhalt muss aber nicht nur der Lehrer kennen, sondern auch der Schüler. Weil es der Ethikunterricht mit einer Realität geringerer Art zu tun hat (die volle Realität bietet nur das Leben selbst), muss sich die Erwartung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit ethischer Analysen im Unterricht an dieser Realität orientieren. Das verlangt aber Aristoteles von jedem seiner Zuhörer: Sie müssen den der Ethik angemessenen Exaktheitsanspruch verstehen können, oder anders ausgedrückt, sie müssen die methodische Eigenart der Ethik kennen. Jugendliche Zuhörer verlangen aber oft eine größere Exaktheit, als es der Gegenstand der Ethik, die praxis kata logon, zulässt. Dies ist - unter anderem - der Sinn des Vorwurfs, dass jugendliche Zuhörer für Ethik wenig geeignet sind. Jenen spezifischen Exaktheitsanspruch der Ethik gewinnt man nämlich nicht auf theoretische Art, sondern indem man mit dieser Praxis vertraut geworden ist. Dies aber braucht Zeit und Lebenserfahrung. Seine Warnungen, Beweise wie in der Mathematik auch in der Ethik zu verlangen, sind Zeugnis dieser Haltung. Auch hier er-

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gibt sich, dass ein abwägendes Verständnis bei moralischen Konfliktund Entscheidungsfällen der Sache am besten entspricht. Die aristotelische Ethik will aber dem praktischen Leben in seiner jeweiligen Andersheit dienen können. Dass dies einen speziellen Methodenansatz erfordert, muss der Schüler begreifen können. Wer die methodische Eigenart eines Faches verstanden hat und auf Grund dieser Einsicht zu einem Urteil über Zutreffendes und Unzutreffendes befähigt ist, der ist ein Gebildeter. Es wird also nicht von ihm verlangt, dass er eine Ethik oder Teile davon produktiv hervorbringen kann, sondern nur, dass er Vorgetragenes auf die der Sache dienenden Argumente hin kritisch prüfen kann. Der Gebildete ist ein „tauglicher Beurteiler" (krites). Insofern ist er gegenüber dem Wissenschaftler der Ethik, von dem Wissen und Können als produktive Leistung verlangt werden, psychisch entlastet, da er nur das, was andere ihm vortragen, beurteilen können muss. Dies aber ist eine Anforderung, die nur von Fall zu Fall erfolgt, nicht aber systematisch. Bei dieser Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Bildung wird dem Schüler als dem zu Bildenden für seinen Lebensweg aber nur ein leichtes Gepäck, die ethische Methodenkenntnis, zugemutet. Es erfordert im Unterricht natürlich eine gewisse Zeit und eine gewisse Anstrengung, sie über bestimmte Inhalte (Fallanalysen) verstehen zu lernen, aber dann hat man gewissermaßen eine immer wieder einsetzbare Methode zur Beurteilung praktischer Gegebenheiten. Das Ziel des Ethikunterrichts ist es also, den Standpunkt des ethischen Relativismus zu überwinden, der ja nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts der Konkurrenz möglicher Moralvorstellungen ist. Urteilskompetenz bedeutet bei Aristoteles soviel wie Normkompetenz, natürlich bezogen auf die jeweilige Situation: Man muss die Norm in ein Bezugssystem setzen, in dem sie Gültigkeit hat. Das Gute ist ja relational, kontextbezogen, zu bestimmen. Eine solche Urteilsschulung soll dem Schüler Situationen ersparen, wie sie Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik beschrieben hat, dass er sich nämlich Gesprächspartnern - Sophisten - gegenübersieht, die ihm „paradoxe Ergebnisse vorführen, um dann, wenn ihnen der Trick gelungen ist, als Geisteshelden dazustehen" ( E N V I I 3 , 1146 a 22). In einer solchen Situation fühlt sich der Übertölpelte unwohl, und zwar deshalb, weil das Beurteilungsvermögen sich auf zweierlei Weise bemerkbar macht, gefühlsmäßig und rational: Wir können möglicherweise zwar vom Gefühl her eine Auffassung als unrichtig einstufen, sie vielleicht jedoch nicht rational-sprachlich widerlegen.

510

Max Klopfer

In diesem Dilemma befindet sich der von Aristoteles beschriebene Mensch, „denn der Verstand fühlt sich wie geknebelt, wenn er einerseits bei dem Ergebnis nicht stehen bleiben will, weil es ihm widerstrebt, andererseits aber nicht vorankommen kann, weil die Widerlegung nicht gelingt" ( E N VII 3,1146 a25). Dieses Argument zeigt auch anschaulich, dass die Schulung von sittlicher Urteilsfähigkeit nicht eine Angelegenheit eines formalistischen Kalküls ist, sondern nur in Einbettung in eine Fallanalyse erfolgen kann. Der Lehrer kann in der Rolle eines advocatus diaboli ein ethisches Dilemma entwickeln, das in einem zweiten Arbeitsschritt von den Schülern in einer rationalen Analyse auf seine berechtigten und unberechtigten Elemente hin untersucht wird. Die Schüler sollen also in der Sprache der heutigen Ethikdidaktik einen transaktiven Dialog führen. Damit ist auch eine motivierende Herausforderung gegeben; denn es gilt ja nun, auf Grund der Einsicht in die Struktur des aristotelischen Argumentierens die vorgetragene ethische Paradoxie zu widerlegen. Dies kann möglicherweise einen gewissen sportlichen Effekt auslösen. Auf jeden Fall aber kann man damit - oder in ähnlicher Weise - ein spielerisches Moment in die ethische Argumentation einbringen. Dies ist aber mehr im Sinne der Weckung motivationaler Einstellungen der Ethik gegenüber zu verstehen. Lässt man sich hierzu noch einmal von Aristoteles belehren, so gibt es kein spielerisches Lernen; denn jedes Lernen ist eine „beschwerliche Angelegenheit". Sich den Schwierigkeiten stellen, die der Sache selbst entsprechen, gehört für ihn - in der Sprache Max Webers ausgedrückt - zur intellektuellen Redlichkeit. In der Metaphysik (III, 995 a25ff.) vergleicht Aristoteles die denkende Problemlösung mit einer mechanischen, der Lösung eines Knotens: Weder ist es leicht, den Anfang zu finden, noch die Entwirrung zügig durchzuführen. So geht es auch mit dem „Knoten in der Sache": Man muss sich der Schwierigkeiten bewusst sein, „[...] weil derjenige, der sucht, ohne sich vorerst mit den Schwierigkeiten zu befassen, einem Menschen gleicht, der nicht weiß, wohin er gehen soll; dazu k o m m t noch, dass ein solcher Mensch auch nicht weiß, ob er das G e suchte schon gefunden hat oder nicht."

Aus solchen Peinlichkeiten befreit nur eine methodisch stabilisierte Fähigkeit zur Problemlösung, die an situativ-kontingenten Sachverhalten geschult wurde. Im Folgenden soll ein kurzer Blick in die Ethik Kants geworfen und danach gesucht werden, welche Ansatzpunkte sich für den Vorgang der Moralerziehung und des Ethikunterrichts gewinnen lassen. Kants Ethik

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vermittelt tatsächlich auch - meist etwas vernachlässigt - einige Anregungen. In dem viel zu wenig beachteten zweiten Teil der Kritik der praktischen Vernunft, der Methodenlehre, weist er nachdrücklich darauf hin, dass ein Verfahren gefunden werden müsse, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt" verschaffen könne. Er schildert zunächst die in Gesprächen mit anderen Personen gemachte Beobachtung, dass selbst Personen, „welchen sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und verdrießlich ist", bald Interesse zeigen, wenn es darum geht, „den moralischen Gehalt einer erzählten guten oder bösen Handlung auszumachen, und sind so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Absicht, und mithin den Grad der Tugend in derselben zu vermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objekte der Spekulation sonst von ihnen erwartet." (KpV, A 274) Für Aristoteles galt ja, dass im Leben derjenige tüchtig ist, der begründet entscheiden kann. Ein durch solche Schulung geübter junger Mensch ist ein tauglicher Beurteiler (krites) in allgemeinen Lebensfragen. Über Aristoteles hinaus wird bei Kant auch noch eine weitere Beobachtung hinzugefügt. Psychologisch gesehen wird das Interesse an ethischen Fragen durch das Richteramt angeregt, das die am Gespräch beteiligten Personen ausüben. D a verschieden strenge Maßstäbe angelegt werden, ergibt sich die Notwendigkeit, die eigene Auffassung innerhalb einer dialektischen Gesprächsführung zu behaupten. Als offensichtlich guter Menschenkenner hat Kant bei vielen Menschen ein gewisses boshaftes Vergnügen festgestellt, die Lauterkeit einer Gesinnung durch das Aufsuchen egoistischer Motive abzuwerten. Der Ethiklehrer unserer Tage braucht seine Augen vor solchen Einsichten sicherlich nicht zu verschließen. Der Ethikunterricht soll sich also der Beispiele bedienen. Gerade hier kommt es Kant entscheidend auf den Realitätsbezug an. Er hält es für psychologisch unrealistisch, an unechten, sentimentalen, oberflächlich erfundenen Geschichten ethische Gesinnung aufrichten zu wollen. D a nichts realistischer ist als das tatsächlich Geschehene, empfiehlt er die Einschaltung historisch-biographischer Exkurse: „Ich weiß nicht, warum die Erzieher der Jugend von diesem Hange der Vernunft [...] nicht schon längst Gebrauch gemacht haben [...und] Biographien alter und neuerer Zeiten in der Absicht durchsuchten, um Belege zu den vorgelegten Pflichten bei der Hand zu haben, an denen sie, vornehmlich durch die Vergleichung ähnlicher Handlungen unter verschiedenen U m ständen, die Beurteilung ihrer Zöglinge in Tätigkeit setzten." (KpV, A 274)

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Didaktisch interessant ist hier nun erstens Kants Feststellung, dass das Urteilsvermögen der Zöglinge durch „die Vergleichung ähnlicher Handlungen unter verschiedenen Umständen" angeregt und offensichtlich methodisch geschult werden soll, d. h. dass neben der Entwicklung einer moralischen Kompetenz auch die Performanzbedingungen der Moral nicht außer Acht gelassen werden sollen. Der Wirklichkeitsbezug ist zweitens eine pädagogisch-didaktische Hauptforderung für die Ethik Kants. Aber auch bei den aus der Wirklichkeit gewählten Beispielen muss unterschieden werden, ob sie nur einen flüchtigen oder aber einen dauerhaften Eindruck zu hinterlassen vermögen. Flüchtigen Aufwallungen des Gemüts (die Kant „Seelenerhebungen" nennt), die durch unechte Dramatisierung zustande gekommen waren, steht die „Herzensunterwerfung" entgegen, die sich auf Grundsätze stützt. Bloße Emotionalisierung nützt nichts, da Moralität nicht im unbeständigen Gefühl, sondern in der Vernunft ihren Ursprung hat. Nur die Vernunftbezogenheit verschafft dem Schüler eine Art motivierendes Erfolgserlebnis, „denn wir gewinnen endlich das lieb, dessen Betrachtung uns den erweiterten Gebrauch unserer Erkenntniskräfte empfinden lässt" (KpV, A 285). In den neueren, auf Fallanalysen aufbauenden Didaktikkonzepten der moralischen Entwicklung wird unterschieden zwischen realistischen, hypothetischen und fachbezogenen Konfliktsituationen, wobei bei der Gruppe der letzteren, den historischen Konflikten (aus dem Geschichtsunterricht), ein besonderer Wert eingeräumt wird. Nicht auswendig gelerntes Wissen, sondern die Fähigkeit zu immer genauerer kritischer Prüfung der Elemente einer Handlung an immer neuen Fällen erzeugt das Bewusstsein der ethischen Bildung. Mit dieser Forderung an das Transferdenken ist Kant auch innerhalb der gegenwärtigen Didaktik ungewöhnlich aktuell. Indem jemand durch das Bejahen oder Verwerfen einer Einstellung auch sich selbst als beurteilendes Wesen erfährt, bahnt sich ihm ein Weg zur ethischen Selbsterkenntnis, denn „[...] wenn der Mensch nichts stärker scheuet, als sich in der inneren Selbstprüfung in seinen Augen geringschätzig und verwerflich zu finden, kann ihm jede gute Gesinnung gepfropft werden, weil dieses der beste, ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderblicher Antriebe vom Gemüte abzuhalten." (KpV, A 287)

Im Hinblick auf die in unserer Zeit immer wieder erhobene Forderung nach moralischen „Beispielen", die den Heranwachsenden zum Vorbild und zur Nachahmung anboten werden sollen (vor allem im Rahmen des Konzepts der Wertevermittlung und des Konzepts der

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Charaktererziehung), hat Kant einen interessanten Gedanken vorgetragen: „ D a s experimentale (technische) Mittel der Bildung zur Tugend ist das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein) und warnende an andern; denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht. [...] Daher wird der Erzieher seinem verunarteten Lehrling nicht sagen: N i m m ein Exempel an jenem guten (ordentlichen, fleißigen) Knaben! Denn das wird jenem nur zur Ursache dienen, diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachteiliges Licht gestellt wird. Das gute Exempel [...] soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Tunlichkeit des Pflichtmäßigen dienen." (MS, A 167f.)

Er unterscheidet hier zwischen dem Exempel und dem Beispiel, wobei er unter einem Exempel eine Regel versteht, aus der Handlungen folgen, während Beispiel eine individuelle Konkretisierung meint ohne Aufforderungscharakter. Eine mechanisch befolgte Regel ist für Kant ja nur das „Gängelband der Unmündigen", ein Mensch, der mechanisch auswendig gelerntes Wissen von sich gibt, ist „ein Gipsabdruck eines lebendigen Menschen". Sich auf Beispiele stützen, die nur motivationale Funktion haben, kann nach Kant (hier hat er eine entscheidende Erkenntnis der entwicklungspsychologischen Didaktik voraus genommen) keinen moralischen Entwicklungsprozess in Gang setzen, sondern dies können nur Beispiele, die vorher nach Prinzipien der Moralität geprüft wurden (GMS Β 29), und die dann den Charakter von Exempeln haben.

Zum Rollenkonflikt des Personalmanagers in alltäglichen moralisch prekären Situationen ERICH SCHÄFER Staat und Verwaltung, Kirchen, Gewerkschaften und andere Institutionen, vor allem aber Wirtschaftsunternehmen verlieren zunehmend das Vertrauen des mündigen Bürgers. Diesem Vertrauensverlust steht zumindest in der Semantik der Berichterstattung und Öffentlichkeitsarbeit - ein verstärktes Bemühen gegenüber, sich durch euphorische Bekenntnisse zu Werten und Leitideen moralisch zu immunisieren. In den Vereinigten Staaten dürfte die bemerkenswerte Zunahme von Unternehmen, die Ethik unternehmenspolitisch institutionalisieren, nicht zuletzt zurückzuführen sein auf die seit 1991 gültigen Federal Sentencing Guidelines, wonach Unternehmen durch den Nachweis gebührender Anstrengungen zur Sicherstellung gesetzeskonformen Verhaltens der Mitarbeiter, z.B. durch Ethik-Richtlinien, Ethik-Komitees auf Vorstandsebene, Ethik-Seminare oder Ethik-Abteilungen, bei gerichtlichen Verurteilungen aufgrund eines Verstoßes gegen positive Rechtsnormen die Höhe der finanziellen Strafen um 20-60% reduzieren können. Um so weniger hinnehmbar erscheint die Diskrepanz zwischen geschäftsstrategischer Ethisierung einerseits und der in den Medien wahrnehmbaren drastischen Häufung der Fälle von Korruption, Geldwäsche, Preisabsprachen, Insiderskandalen, Unterschlagung, betrügerischer Buchführung oder skandalöser Rechnungsprüfung andererseits.

1. Ethische Relevanz betrieblicher Personalarbeit Dass der Rechtfertigungsdruck durch eine kritischer werdende Öffentlichkeit auch den Personalbereich betrifft, zeigen die ökologischen und sozialen Beurteilungsdimensionen, hinsichtlich derer der in den Vereinigten Staaten vom Council on Economic Priorities herausgegebene Einkaufsführer das Verhalten von Unternehmen beurteilt und Lern-

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prozesse hin zu größerem ethischen Engagement induzieren soll (vgl. Wittmann, 1997, S. 8). Vier von 10 Beurteilungskategorien gehören in die klassische Verantwortung der Personalpolitik: Förderung von Frauen, Förderung von Minderheiten (Positionen im Top Management), Family Benefits (Kinderbetreuung, familienorientierte Flexibilisierung von Arbeitsort und -zeit), Arbeitsgestaltung (Beteiligung, Sicherheit, Sozialleistungen). In seiner Studie „Ethik und Management", in der Staffelbach Linienvorgesetzte und Personalmanager ethische Probleme gewichten lässt, werden nach Umweltschutz und Produktesicherheit fünf Items mit Relevanz zum Personalmanagement als besonders kritisch bewertet: Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Betriebsschließungen, Privatsphäre der Mitarbeiter, Schutz von Betriebsdaten und gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit (Staffelbach, 1994, S. 21). Tatsächlich ist der betriebliche Produktions- und Leistungsprozess (noch) nicht vom arbeitenden Menschen zu trennen, Arbeit ist personal gebunden. Menschen werden zur unternehmerischen Zielerreichung eingesetzt, sichern aber auf der anderen Seite durch den damit verbundenen Gelderwerb ihre physisch-materielle Existenz und finden Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Talente. Der Handlungskontext des Personalmanagers ist geprägt durch Entscheidungssituationen, in denen an die Mitarbeiter materielle Güter, Ansehen, Handlungschancen und Machtpotentiale verteilt werden. Eine Synopsis von empirischen Studien zum Problemfeld Ethik im Personalmanagement findet sich bei Wittmann (Wittmann, 1997, S. 41 ff). Harrick und seine Mitarbeiter (Harrick/Danley/Strickland/Sullivan, 1991) haben im Auftrag der USamerikanischen Society for Human Resource Management und des Commerce Clearing House 6335 Personalmanager mittels eines standardisierten Fragebogens über moralisch relevante Arbeitssituationen befragt: Drei Viertel aller Befragten gaben dabei an, bei allen der 40 vorgegebenen, für den Arbeitsalltag eines Personalmanagers typischen Einzelhandlungen ethische Überlegungen anzustellen. Die zehn Situationen, die subjektiv als am stärksten moralisch-konfliktär wahrgenommen werden, betreffen fast ausschließlich den Grundsatz der Gleichbehandlung bzw. Nichtbenachteiligung (vgl. Abbildung 1). Die praktische Frage nach Verteilungsgerechtigkeit und faktischer Ungleichbehandlung verlangt offenbar die Legitimation durch ethisch begründete Normen. Nicht nur die eigenen Leistungsprozesse der Personalabteilung erfordern einen ethischen Orientierungsrahmen, auch im Zusammenhang mit der Etablierung einer unternehmensumfassenden ethischen

516

Erich Schäfer

Moralisch relevante Handlungssituation

Anzahl Nennungen in %

1.

2.

Hiring, training, or promotion based on favouritism (friendships or relatives)

30,7%

Allowing differences in pay, discipline, promotion, etc. due to friendships with top management

30,7%

3.

Sexual harrassment

28,4%

4.

Sexual discrimination in promotion

26,9%

5.

Using discipline for managerial and nonmanagerial personnel inconsistently

26,9%

6.

N o t maintaining confidentiality

26,4%

7.

Sexual discrimination in compensation

25,8%

8.

Nonperformance factors used in appraisals

23,5 %

9. 10.

Arrangements with vendors or consulting agencies leading to personal gain

23,1 %

Sexual discrimination in recruitment or hiring

22,6 %

Abbildung 1: Die zehn bedeutendsten moralischen Konfliktsituationen (für US-amerikanische Personalmanagement-Verantwortliche nach Harrick et al., 1991).

Reflexion scheint ihr eine Schlüsselrolle zuzukommen. Die Verantwortung des Personalmanagements endet jedoch nicht am Werkstor: Uber die Verteilung von Arbeit, über den tarifpolitischen monetären und sozialen Zielfindungsprozess, aber auch über die betriebliche Gestaltung der Arbeitssysteme wirkt das Handeln des Personalmanagers in die Entwicklung der Gesellschaft hinein. Darüber hinaus kann sich der Personalmanager nicht der umfassenderen Pflicht jedes einzelnen mündigen Staatsbürgers entziehen, die neben dem normengemäßen Handeln vor den Rechtssätzen auch die ethisch-kritische Verantwortung für die Rechtssätze im Rahmen der institutionalisierten Verfahren ihrer Gewinnung einschließt. Der Personalmanager trägt (Mit-)Verantwortung für die ethische Qualität der sozialpolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen; insofern diese als Sachzwänge und Handlungsrestriktionen Zumutbarkeits- und Verantwortbarkeitsprobleme begründen, ist prinzipiell aktive innovative und konstruktive ordnungspolitische Beteiligung gefordert. Dennoch tendieren trotz des durch Information und Bildungsmarkt grundsätzlich verfeinerten Wissens um Führungsinstrumente und Me-

Z u m Rollenkonflikt des Personalmanagers

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thoden der Personalarbeit Personalmanager dazu, statt Wert-Konflikte auszutragen sie in einer M muddling-tlirougli"-Einstellung zu ignorieren oder ihnen in Reglementierungen auszuweichen (Lattmann, 1985). Ein ethisches Orientierungswissen lieferte methodisch begründete allgemein gültige Aussagen über das gute und gerechte Handeln, ohne auf Autoritäten der religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder Gewohnheitsmacht rekurrieren zu müssen. Die eigenständigen Gestaltungsspielräume, die bereits gerechtfertigte institutionelle Rahmenbedingungen dem betrieblichen Personalwesen eröffnen oder offen lassen, bilden den Kernbereich autonomer ethischer Verantwortung, der in der Personalpolitik des Unternehmens liegt. Diese wiederum wird für die jeweiligen Regelungsbereiche erfahrungsgemäß abgebildet in allgemeinen Richtlinien, deren Anwendung und Umsetzung Management und Personalwesen sicherstellen sollen. Aus der Legitimität der personalpolitisch relevanten Vorgaben und ihrer willkürfreien, d. h. situationsadäquaten Anwendung und Nutzung gegebener Ermessungsspielräume leitet sich der Legitimitätsanspruch der Entscheidungen und Handlungen her, zu denen der Vorgesetzte sich im Rahmen von Personalführungsmaßnahmen entschließt (z.B. Personalauswahl, Leistungsbeurteilung, Bildungsmaßnahmen, Freizeit/Urlaub, Gehaltsfestlegung und -entwicklung). Das Legitimitätskonzept ist also dreistufig: 1. gesetzlich/ überbetrieblich, 2. betrieblich-personalpolitisch, 3. Einzelfall entscheidend (Steinmann/Löhr, 1992 a, Sp. 847).

2. Kontingenz von Recht und Gesetz Die Bereitschaft, auf einen individuellen Vorteil zu verzichten setzt Einsicht in die Notwendigkeit einer Maßnahme im Interesse der Allgemeinheit voraus. Wie sind aber Forderungen, in denen der Einzelne sein eigenes Interesse dem Interesse eines anderen oder dem Gesamtinteresse einer Gesellschaft hintanstellt, zu begründen? Durch den Hinweis auf den historischen Prozess der Übernahme einer Norm des sozialen Handelns durch ein Individuum oder durch eine Gesellschaft lässt sich die Norm weder als gültig erweisen noch widerlegen. Selbst erfolgreiche Gesetzgebungsverfahren sind nicht hinreichend, genausowenig die betriebsimmanente Ethisierung durch Wertesysteme und Verhaltenscodizes - die frei gewählte wie die erzwungene Befolgung einer Norm zeigt noch nicht deren Allgemeingültigkeit. Der für das Uberleben einer Gesellschaft notwendige moralische Konsens darf sich

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Erich Schäfer

prinzipiell nicht binden an einen weniger wichtigen und leicht störbaren Konsens innerhalb einer Autoritätsgruppe; denn wo die Neutralität des Grundgesetzes dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum lässt, gilt: „Mit jedem Regierungswechsel werden andere Interessen mehrheitsfähig" (Habermas, 1992, S. 554). Darüber hinaus bleibt mit der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der Zukunft durch permanent neue moralisch-praktische Konfliktsituationen jegliche rechtliche Vorregelung zwangsläufig unvollständig. Für eine Vielzahl von Entscheidungen gibt das Arbeitsrecht dem Personalmanager dennoch ein zentrales Ordnungsmuster vor und entlastet ihn offenbar gleichzeitig von einem Teil der eigenen moralischen Verantwortung. Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz, Nichtbenachteiligung aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse oder Religion, aber auch Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz scheinen durch Sanktionsandrohung bereits gesetzlich sichergestellt. Hinzu kommen u. a. Regelungen über die maximale Dauer und die Lage der Arbeitszeit, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz, bezahlten Erholungsurlaub und Arbeitsplatzerhalt. Aber nur im Idealfall werden die äußeren Grenzen der Freiheit eines jeden Handelnden durch rechtliche Normen so festgesetzt, wie sie ein autonom vernünftig Handelnder von sich aus festsetzen würde. Und nicht selten erreichen gesetzliche Bestimmungen nicht den unternehmerischen Entscheider oder aber werden von diesem ganz bewusst ignoriert. Beispielsweise besteht trotz rechtlicher Vertragsparität grundsätzlich, insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, ein deutliches Machtgefälle zugunsten des Arbeitgebers. Schon beim Abschluss eines Arbeitsvertrages zeigt sich eine bewusst gewählte Asymmetrie der Arbeitgeberseite, die der Personalmanager zu diktieren hat: Der Vertrag bildet ein Tauschverhältnis ab, in dem der Arbeitgeber sehr exakt das Maximum dessen definiert, was er zu geben bereit ist (ζ. B. Fixgehalt, Bonus, maximalen Urlaub, Sozialleistungen), während er beim mit dem Arbeitsvertrag erkauften Leistungs- und Gehorsamsversprechen des Mitarbeiters willentlich in Aufgaben- und Zielfestlegung (sowie bei außertariflich bezahlten Mitarbeitern im Umfang bereits gehaltlich abgegoltener, aber einforderbarer Mehrarbeit) so ungenau bleibt, dass genügend Spielraum für Auslegung, Ausgestaltung und Aushandlung bzw. Forderung bleibt. Selbst die mittlerweile gesetzlich auferlegte Nachweispflicht der Stellen-/Aufgabenbeschreibung im Arbeitsvertrag hat nichts daran ändern können, dass die Freiheitsgrade der Vertragspartner in einem klaren Unterstellungsverhältnis stehen. Eine ähnliche Asymmetrie zeigt

Zum Rollenkonflikt des Personalmanagers

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die Praxis in der Herbeiführung von individuellen Vorruhestands- und Altersteilzeitvereinbarungen: Obwohl der Gesetzgeber mit dem Altersteilzeitgesetz und die Tarifparteien in entsprechenden tariflichen Regelungen einen legalen Verfahrensrahmen geschaffen hat, der älteren Arbeitnehmern einen gleitenden Ubergang vom Erwerbsleben in die Altersrente ermöglichen soll, wird gerade die Freiwilligkeitsbedingung nahezu vollständig übergangen. Jeder Personalverantwortliche weiß, wie unterschiedlich ältere Mitarbeiter gerade in dieser Hinsicht „bearbeitet werden". Für Mitarbeiter, die man behalten will, werden immer wieder quantitative und qualitative wichtige betriebliche Gründe angeführt, um ein frühzeitiges Ausscheiden zu verhindern oder zu verzögern; andere Mitarbeiter werden schon Jahre, bevor sie das „relevante" Alter von 55 Jahren erreicht haben, durch Repressalien und virtuose Mobbing-Programme (vgl. Neuberger, 1994) zum Vertragsabschluss genötigt. Da derart diskriminierende Handlungen nur sehr lückenhaft sanktioniert werden, wirkt das Recht nicht durch Vollzug - sei es aufgrund mangelnden Rechtsbewusstseins oder aber bewusster Rechtsumgehung. Wo nicht einmal das durch das Recht gesetzte ethische Minimum erfüllt wird, bleibt die Herbeiführung eines ethischen Optimums durch eine freiwillige Normbefolgung der Beteiligten ein anspruchsvolles, wenn nicht unerreichbares Ziel (vgl. Gröschner, 1991).

3. Unbedingtheit ethischer Grundsätze Das Entscheidende an der ethischen Handlung ist ihre Unbedingtheit, d. h. ihre Durchführung aus autonomer Einsicht in die normative Anerkennungswürdigkeit von Rechten und Pflichten, die sich vor dem Universalitätsprinzip als gültig erweisen. Sowohl Rawls' Theory of Justice, die Gerechtigkeit durch Rationalität zu definieren versucht, als auch Kants Kategorischer Imperativ machen das Universalitätsprinzip zu einem maßgeblichen Grundsatz der praktischen Vernunft. Eine Gesellschaftsordnung erscheint Rawls dann gerecht, wenn sich prinzipiell vorstellen lässt, dass sie von ihren Mitgliedern unter der Bedingung der Unkenntnis der eigenen Rolle in der Gesellschaft gewählt worden wäre. Kants moralische Grundnorm fordert das Handeln nach für jedermann akzeptierbaren Grundsätzen und das Außerachtlassen empirischer individueller Existenzbedingungen (sozialer, biologischer Positionen und ihrer Chancen und Risiken) bei der Wahl von Maximen. Im Gegensatz zum hypothetischen Impe-

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rativ beansprucht ein kategorischer Imperativ Verbindlichkeit ohne Bezugnahme auf vom Adressaten verfolgte subjektive Zwecke oder Absichten. Im weiteren Unterschied zum hypothetischen Imperativ, der sich darauf stützt, dass der Adressat als rational handelndes Wesen auch das zur Erreichung des Ziels nötige Mittel will, bleibt der kategorische Imperativ unabhängig von einem solchen Wollen. „Die Sollensforderung ist zweckfrei. Sie verfolgt weder die Anliegen des sie Setzenden noch solche von Dritten. Sie trägt ihren Sinn und ihre Bedeutung in sich selber. [...] Ihr werden alle anderen Sollensforderungen unterstellt, so solche, die Zweckmäßigkeitsüberlegungen wie der Wirtschaftlichkeit und der technischen Leistungswirksamkeit entspringen. Sie beansprucht einen uneingeschränkten Vorrang." (Lattmann, Charles, 1995, S. 176)

Das Verhalten dessen, der dem kategorischen Imperativ nicht folgt, beinhaltet den Widerspruch, eine Verhaltensweise gerade deshalb zielführend einzusetzen, weil sie nicht die allgemeine Verhaltensweise ist. Wer verstößt, ist der Trittbrettfahrer des allgemeinen Nichtverstoßes, er genießt die Vorteile einer allgemeinen Verhaltensnorm, ohne sich an den sozialen Kosten zu beteiligen. Die Prüfung der Verallgemeinerungsfähigkeit von Normen bedeutet nichts anderes, als sie auf ihre Vernünftigkeit hin zu überprüfen. Vernünftig begründbar ist die Maxime einer Verhaltensweise, wenn sie keinen Unterschied macht zwischen dem jeweils Handelnden und jedem beliebigen anderen in einer moralisch analogen Situation. „Moralische Maximen müssen für jedermann akzeptabel sein, w o immer er in der Skala der Leistungsfähigkeit, Gesundheit oder Versorgtheit mit materiellen Gütern stehen mag." (Patzig, 1988, S. 174)

Aus moralischen Gründen handelt, wer die Entscheidung zu diesem Handeln jedem gegenüber durch Anführung sachlich relevanter Gründe zu erklären vermag. Dies bedeutet die maximale Einbeziehung aller empirischen Daten in eine Fairnessbetrachtung, die dann überzeugend zu erklären vermag, warum die Aufopferung auch wesentlicher Eigeninteressen zugunsten anderer Menschen oder der Allgemeinheit in bestimmten Fällen Individuen zugemutet werden kann. Für Kant scheint die Vernünftigkeit sehr viel intuitiver, wenn er feststellt, dass die „[...] gemeine Menschenvernunft [...] in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei [...], und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein." (Kant, 1911, S . 4 0 3 )

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Wie schwierig diese Berücksichtigung aller empirischen Befunde für eine Fairnessbetrachtung im Rahmen der Personalarbeit sein kann, mag die voreilige, sich einseitig auf Nachweise stützende Anerkennung der „Gruppenarbeit als Paradebeispiel für eine gelungene Integration von ethischen und personalwirtschaftlichen Ansprüchen im Personalmanagement" (Wittmann, 1997, S. 223, vgl. hierzu kritisch Schäfer, 1996) zeigen. Insofern wirtschaftliche Normbegründung von den Bedürfnissen, Interessen und Wünschen der Betroffenen einerseits und von den betrieblichen und volkswirtschaftlichen Tatsachen und Zusammenhängen andererseits auszugehen hat, benötigt sie so umfassend wie möglich Befunde der Sozialwissenschaften, der Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft. Im Maße der Allgemeinheit solcher Hintergrundinformation sowohl in Bezug auf Umstände und Zeiten als auch betroffene Personen erscheint deren Zugang und Rederecht in einer diskursiven Normenbegründung unverzichtbar (vgl. Habermas, 1983; Apel, 1988). Als erste ethische Verpflichtung im Kontext des Personalmanagements mag die Orientierung an den Menschenrechten helfen, jeden Mitarbeiter vorbehaltlos als Person zu respektieren und die Unversehrtheit seiner Würde sowie seiner körperlichen und geistigen Existenz zum obersten Grundsatz zu machen. Dieser Grundsatz schließt die Nichtdiskriminierung sowie die Freiheit zur Selbstbestimmung ein. Die dem Menschen allein kraft seiner Existenz zukommenden Menschenrechte beanspruchen die unabdingbare Geltung der Würde und Freiheit der

Person, die als Zweck an sich selbst und frei von äußerer Verfügung oder Zwecksetzung autonom sich selbst zu bestimmen hat. Als universale Rechte gelten sie für alle Menschen, unabhängig von sozialen, religiösen, politischen oder kulturellen Bedingungen; ihr kategorischer Geltungsanspruch, der sie bedingungslos und um ihrer selbst willen gültig macht, verleiht ihnen gleichzeitig die Priorität gegenüber anderen Rechtsansprüchen. Für den Personalmanager erwächst aus dem fundamentalen Anspruch die unbedingte (Mit-)verantwortung für den Schutz der körperlichen, geistigen und sozial-emotionalen Subjektqualität. Er hat mit oberster Priorität alle gesundheitlichen Schädigungsrisiken durch Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte physische, psychosomatische oder psychische Krankheiten zu verhindern. Er ist aber nicht nur für die Sicherheit der Gesundheit der Mitarbeiter, sondern auch für den Schutz der Persönlichkeitssphäre verantwortlich. Durch eine Vielzahl nationaler Rechtsvorschriften sind Menschenwürde, Persönlichkeitsrecht oder Fürsorgepflicht zwar bereits definiert (Bürgerliches Ge-

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setzbuch, Arbeitssicherheitsgesetz, Gerätesicherheitsgesetz, Gewerbeordnung, Reichsversicherungsordnung, Arbeitsstättenverordnung, Gefahrstoffverordnung, Unfallverhütungsvorschriften), dennoch bleibt dem Arbeitgeber und damit dem Personalmanagement gesetzlich ein weiter Spielraum zur Güterabwägung und Berücksichtigung der „Natur des Betriebes" (§ 120a Abs. 1 Gewerbeordnung). Und für die im Grundsatz eingeschlossene Gleichbehandlung bzw. Gleichberücksichtigung gilt, dass - wie bereits oben gezeigt - ein legalistisches Steuerungspotential (ζ. B. §§ 2,3,4, 5 BGB) kein Garant für Gerechtigkeit ist.

4. Dienstbarkeit der Ethik In vielen konkreten Situationen wird eine einfache Deduktion aus diesem obersten Grundsatz an einer grundsatzimmanenten Normenkollision scheitern und nicht möglich sein; man denke z.B. an die Verwendung von Integritätstests oder investigativer Verfahren zur Feststellung von Suchtproblemen bei der Einstellung von Mitarbeitern für Aufgaben mit hohem Gefährdungspotential für Dritte oder an Zuverlässigkeitstests durch Verführung von Mitarbeitern zur Illoyalität (vgl. Maschmann, 2002; Marcus/Funke/Schuler, 1997). Jede Person nach dem obersten Grundsatz zu respektieren verlangt wenigstens, dass den faktisch erhobenen Ansprüchen eines jeden Betroffenen im Hinblick auf die konkrete Situation a priori das gleiche Recht auf rationale Prüfung zugebilligt wird. Diskursethisch müsste der Nachweis der Anerkennungswürdigkeit im Sinne der moralischen Richtigkeit idealerweise über die qualifizierte Zustimmung aller aktuell und virtuell Betroffenen erfolgen; praktisch bleibt die Entscheidungssituation jedoch sowohl hinsichtlich der Informationsvollständigkeit als auch hinsichtlich der Beteiligung aller Betroffenen defizitär, die Entscheidung damit prinzipiell unabgeschlossen und fallibel. Neben diesen eher „technischen" Unzulänglichkeiten für einen ethischen Ansatz im Personalmanagement ist jedoch sehr viel gravierender, dass im Geschäftsalltag die Entscheidungsprioritäten durch e'mpermanentes Bedeutungsgefälle zwischen ökonomischen und moralischen Zielen diktiert werden. Die typische Struktur moralisch konfliktärer Situationen liegt in der Unvereinbarkeit verschiedener wohlbegründeter und rechtfertigbarer Verpflichtungen wie ζ. B. der Verantwortung für den ökonomischen Erfolg des Betriebes, der Verantwortung für die physische und psychische Integrität der betroffenen Mitarbeiter oder der Verantwortung für

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die Respektierung rechtsstaatlicher (ζ. B. Steuer-)Gesetze. Dem Personalbereich sollte in solchen Situationen die Funktion der Moderation, Klärung, Vermittlung und Schlichtung zukommen. Für die Lösung potentieller Konflikte zwischen ökonomischer Effizienz und Ethik gilt allerdings nahezu überall ein apriorisches Primat der ersteren. Sprenger sieht daher in der „Missachtung der Menschenwürde [...] das häufigste (und folgenreichste) Vergehen im Wirtschaftsleben" (Sprenger, 1991, S. 221). Der Personalmanager befindet sich in dem Dilemma, einerseits moralisch zur Neutralität, zur fairen Abwägung der verschiedenen Interessen, Bedürfnisse, Wünsche verpflichtet zu sein, gleichzeitig aber funktional dem Willen der Geschäftsleitung den Vorrang geben zu müssen - er ist Interessenvertreter des Arbeitgebers. Dies mag mit einer der Gründe sein, warum Personalmanager sich häufig Wertkonflikten erst gar nicht stellen oder ein Gewissensalibi in geschäftspolitischen Strategien, Grundsätzen und Entscheidungen suchen. Die rigorose Trennung betriebswirtschaftlicher und moralischer Fragestellungen vollzieht bereits Max Weber in der Einschränkung der Sozialwissenschaften auf die Erforschung des empirisch Gegebenen und deren Verzicht auf die Setzung von Wertungen. „Wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu entwickeln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können." (Weber, 1904, S. 24)

Der Human Relations-Ansatz - Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an der Harvard Business School von Mayo und Roethlisberger entwickelt - ermittelte erstmals auf der Ebene des Produktivitätsverhältnisses empirisch den positiven Zusammenhang zwischen einer mitarbeiterorientierten, partizipativen Gestaltung der Arbeitsabläufe und der Arbeitsproduktivität. Damit dürfen Maßnahmen und Instrumente, die sich an den Interessen der Mitarbeiter orientieren, tatsächlich als personalwirtschaftlich-rational kalkulierte Zugeständnisse zur Verbesserung der ökonomischen Erfolgsparameter angesehen werden. Die Harmonieformel von der Gleichberechtigung ökonomischer und sozialer Ziele bleibt dennoch eine irreführende rhetorische Floskel (vgl. Neuberger, 1990; Thom, 1987), solange sich ein ethisches Orientierungswissen nicht zu emanzipieren vermag von einer instrumentalistischen Unternehmensethik, die Sinnfragen als geschäftsfördernde Produktionsfaktoren zu etablieren versucht. „Ich halte es für ehrlicher, wenn die Zwänge deutlich genannt werden, denen man unterworfen ist, anstatt sich selbst und andere mit Liebes- und Harmonieformeln zu betrügen. Personalleute sollten die Kostümierung als So-

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Erich Schäfer zialapostel ablegen und sich nicht f ü r solche Verbrämungen benutzen lassen." (Neuberger, 1990, S. 10)

Auch Gertrude Krell verwirft die Ambiguität scheinbar ganzheitlich am Mitarbeiter orientierter Personalkonzepte, sofern sie letztlich „keine anderen Zwecke erfüllen sollen als den der Konformitätssicherung" (Krell, 1994, S.284). Die faktische Anforderung an den Personalmanager liegt weniger in einer individuierenden, die Persönlichkeit fördernden Betreuung von Mitarbeitern und Führungskräften, als in erster Linie in der summarischen Verfügbarmachung von Leistung, die durch welches auch immer einsetzbare und austauschbare menschliche Individuum erbracht wird. Wie anonym der Begriff Personal in Bezeichnungen wie Kollektivmerkmal, menschlicher Faktor, Belegschaft, Human Resources, Arbeitskörper, Humankapital u. ä. verwendet wird, fasst Neuberger zusammen: „Das Produkt des Personalwesens ist Personal, nicht Persönlichkeit" (Neuberger 1990, S.4), der Beitrag des Personalmanagers zum Produktions- und Leistungserbringungsprozess besteht in der Beschaffung neuer und „Umformung bestehender (Handlungs- und Entscheidungs-)Bereitschaften" (Neuberger 1990, S.4). Zufriedenheit der Mitarbeiter ist bestenfalls ein Mittel, um das eigentliche Ziel, Leistung und Ergebnis, zu erreichen. Wo immer ein maschineller Aufgabenträger eine Leistung wirtschaftlicher erbringen kann, ersetzt dieser den Produktionsfaktor Mensch. Das generelle Geschäftsziel der kostengünstigsten Produktion unterwirft das Personal als Kostenfaktor einem permanenten Vergleich mit Alternativen (Standorte mit günstigen Kostenstrukturen z.B. in Entwicklungsländern oder Maschinen als technische Substitute). Je unersetzlicher eine Arbeitskraft ist, desto gefährlicher für die Organisation! Das unternehmerische Steuerungsideal verlangt, dass die beschäftigten „Leute frei & willig wollen, was sie sollen" (Neuberger 1990, S. 6), wobei der Akzent eher auf willig denn auf frei liegt. Wer im Personalmanagement arbeitet, hat sich zu entscheiden für ein Geschäftsverständnis, in dem es in erster Linie um Gewinne und Kosten geht. Das trifft nicht nur für die geldwirtschaftlich geregelten Kooperationsbeziehungen in der Produktions- und Dienstleistungsindustrie im engeren Sinne zu, sondern erfasst zunehmend auch den Non-Profit-Sektor, Gesundheits- und Sozialsektor, Kirche und Kultur, wenngleich hier schamhaft nicht Gewinne, sondern Kosten als Steuerungsmaximen vorgewandt werden. „Was das ,Personalwesen' f ü r die Organisation .einkauft', sind .Produktionsfaktoren' mit .Partialinklusionen', verwertbar, verfügbar, formbar,

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lenkbar, entsorgbar und möglichst sicher, bequem und billig." (Rieckmann, 1990, S. 16)

Obwohl immer wieder der unauflösbare Widerspruch, das konfliktbeladene Verhältnis von personalbezogener Kontrolle und Gewährung personenbezogener Autonomie heraufbeschworen werden (Vgl. Neuberger 1990; Krell 1994; Dachler/Enderle, 1993), scheint sich ein gutes und gerechtes Handeln im Gesamtumfeld des Wirtschaftens und damit der Personalarbeit auf ein lediglich instrumentalistisches Legitimationskonzept zu berufen: Moralisches Verhalten wird auf ein Investitionsgut reduziert, das in der Lage ist, ethisch begründete Wettbewerbsvorteile zu erzeugen. Ethische Vorleistungen sind klug investiert: sie versprechen für die Zukunft geldwerte Vorteile und sind damit rentabel. „Freiwillige" Vereinbarungen und Regeln sind in diesem Sinne nicht selbstlose soziale Gesten der Unternehmen, sondern gezielte Investitionen. „Eine spezielle moralische Motivation ist hier nicht notwendig, eine nüchterne ökonomische Kalkulation reicht aus" (Homann/Blome-Drees, 1992, S. 143). Die Personalmanagement-Praxis hat in aller Regel diesem ökonomischen Kalkül zu folgen: „People will only come first, when it is economically advantageous to pursue such a strategy" (Keenoy, 1990, S.8).

5. Beispiel: Benachteiligung von Frauen Eine typisch instrumentalistische Absicht, getarnt als Beitrag zu einer ethischen Personalpolitik, zeigt sich immer wieder, wenn Diskriminierungstatbestände (ζ. B. in der Gehaltsfindung oder bei der Besetzung von Führungspositionen), die per se ein Aufdecken und Beseitigen fordern, deswegen beseitigt werden, weil sie öffentlich geworden sind und dadurch die Gefahr ökonomischer Nachteile zu erwarten sind. Damit wird der Gleichbehandlungsgrundsatz reduziert auf eine Feigenblattfunktion, die moralische Selbstverständlichkeit zum bloßen Lippenbekenntnis. In diesem Lichte sind auch die Programme zur Frauenförderung zu betrachten; es handelt sich in einer Vielzahl der Fälle nicht um einen Beitrag zur Verbesserung der Durchsetzungschancen von Bedürfnissen, Interessen und Rechten einer benachteiligten Gruppe mit dem Ziel der Gleichbehandlung im Arbeitsleben, sondern - wie sich aus einer Längsschnittstudie von Hegewisch schließen lässt - um einen Rekrutierungsund Motivierungstrick zur Erschließung bislang unge-

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nutzten weiblichen Arbeits- und Leistungsvermögens (vgl. Hegewisch, 1993). Gerade hinsichtlich der sozialen Ungleichheit der Geschlechter, die eng mit der noch immer sehr ausgeprägten Segregation in Männerund Frauenberufe verbunden ist (vgl. Heinz 2001; Hinz/Schübel, 2001; Wetterer, 2002), gibt es zwar inzwischen eine Vielfalt personalpolitischer Initiativen und Maßnahmen, die die Überschwemmung mit dem Thema durch die Populärpresse gerade in jüngster Zeit widerspiegeln (ζ. B. durch Titelschlagzeilen wie „Männer, zieht euch warm an" im Stern 1999, „Karriere, die neuen Waffen der Frau" im Spiegel 1999, „Die Frauen kommen" im Manager Magazin 2000). Dennoch hat sich in den letzten 20 Jahren das Geschlechterverhältnis in den Führungsetagen kaum verändert. Obwohl das Bildungs- und Ausbildungsniveau das der Männer eingeholt und teilweise sogar überholt hat und die Erwerbsbeteiligung von Frauen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 1998 auf mittlerweile 62 % angestiegen ist, liegt der Frauenanteil im mittleren Management bei 8 % , im Topmanagement bei 2 % . Beim individuellen beruflichen Fortkommen von Frauen haben Geschlechtsunterschiede, Geschlechterrollen und Geschlechterstereotypen nach wie vor eine zentrale Bedeutung. Allein durch Gleichstellungsmaßnahmen kann der Personalmanager jedoch latenten Benachteiligungen nicht entgegenwirken, weil erstens Personen, die eine Förderung lediglich aufgrund von Quotenregelungen und anderen Initiativen zur Gleichstellung erhalten, vor allem dann negativ darauf reagieren, wenn die individuelle Leistung für die berufliche Entwicklung irrelevant bleibt (Wagner/ Schmermund, 2000), und zweitens der gesamte andere Personenkreis wiederum qua Förderungsausschluss bei gleicher oder besserer Leistung oder Bedürftigkeit benachteiligt bleibt. Die personalpolitische Einflussnahme wird sich beschränken müssen auf das Angebot spezieller Weiterbildungsmaßnahmen, die durch die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten Frauen auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähiger machen, auf die nachdrückliche Aufforderung von Frauen, sich für bestimmte Positionen zu bewerben, und auf den gezielten Abbau von geschlechtsspezifischen Vorurteilen. In der Mehrzahl der Einzelfälle beansprucht jedoch der Linienvorgesetzte die genaue Aufgabenkenntnis und damit auch die adäquate Beurteilung von Qualifikation und Potential seiner Mitarbeiter gegenüber dem Personalmanager, der sich auf eine bloße Beratungskompetenz zu beschränken hat. Dem Personalmanager bleiben im konkreten Einzelfall damit die Hände gebunden, wenn berufs- und aufgabenbezogene Fertigkeiten und Fähigkeiten weiblicher Mitarbeiter anders bewertet

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werden als die von männlichen Mitarbeitern, und wenn die Vorgesetzteneinschätzung typisch männlicher Schlüsselqualifikationen wie zeitliche Verfügbarkeit, Risikobereitschaft, Mobilität und weiblicher Schlüsselqualifikationen wie soziale Kompetenz oder Teamfähigkeit weiterhin klaren geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen folgt. Der privilegierte Informationszugang und die faktische Entscheidungsverantwortung des Linienvorgesetzten umfassen letztlich alle Personalmaßnahmen, für die die unmittelbare Arbeitsumgebung, die Aufgabengestaltung, die individuelle Leistung und Zusammenarbeit von Relevanz sind. Auch im Rahmen der Gehaltsfindung mögen die Fragen, ob ein männlicher Mitarbeiter und eine weibliche Mitarbeiterin die gleiche Arbeit gleich gut erledigen und damit das gleiche Gehalt verdienen, oder ob die inhaltlich verschiedene Aufgabenstellung einer Frau als gleichwertig mit der Aufgabenstellung eines Mannes zu beurteilen und damit zu vergüten ist, vom Personalmanager zwar beraten und die Entscheidungsfindung durch Vergleichskriterien unterstützt werden - dieser hat jedoch die Entscheidung des Linienmanagers zu akzeptieren, selbst wenn ihm der Gleichbehandlungsgrundsatz sowohl individuell als auch kollektiv verletzt erscheint und die betriebliche Praxis Männern gegenüber Frauen Vorteile im Hinblick auf materielle Resourcen, Macht, Status und Autorität verschafft. Gerade weil auch männliche Vorgesetzte von Annahmen über Status- und Wertunterschiede zwischen den Geschlechtern profitieren, neigen sie dazu, Informationen, die diesen gender status beliefs widersprechen, zu negieren (Ridgeway, 2001). So verwundert es kaum, dass Frauen weiterhin beim Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen benachteiligt werden, dass Frauen und Teilzeitbeschäftigte häufig Informationsdefiziten ausgesetzt sind, dass Verfahren zur Arbeitsbewertung, sofern solche überhaupt zur Anwendung kommen, systematisch dem geschlechtsdiskriminierenden Bias unterliegen und ihn immer wieder aufs Neue reproduzieren.

6. Beispiel: Personalabbau Unter den zehn Situationen, die Personalverantwortliche in der oben zitierten Studie (Harrick/Danley/Strickland/Sullivan, 1991) subjektiv als am stärksten moralisch-konfliktär wahrnahmen, wurde ein anderer Handlungskontext überhaupt nicht erwähnt - vielleicht, weil er in USamerikanischen Unternehmen zu selbstverständlich ist: „Organizational downsizing and restructuring has become business as usual" (Jeu-

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rissen, 1999, S. 88). Der spätestens seit der Rezession der frühen 80er Jahre auch in deutschen Unternehmen beobachtbare massive Personalabbau hat sich in den letzten Jahren verschärft. Traditionell werden Beschäftigungsabbau und Arbeitslosigkeit auf eine zu geringe Nachfrage am Gütermarkt bzw. ein zu hohes und rigides Reallohnniveau zurückgeführt. Das Hauptziel bei Personalabbaumaßnahmen besteht in der Regel in einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität durch die Realisierung einer möglichst schnell wirksamen Kostensenkung. In der Reduzierung des Personals werden dabei große und schnell sichtbare Einsparpotentiale vermutet. Allerdings macht die Beobachtung, dass gerade Großkonzerne seit Jahren trotz deutlicher Umsatz- und Gewinnwachstumsraten kontinuierlich ihre Nettobeschäftigung reduzieren, hinsichtlich des tatsächlichen Erfordernisses eines beständigen Beschäftigungsabbaus skeptisch: Bei den 40 größten deutschen Industriebetrieben stand zwischen 1993 und 1995 jeweils ein signifikant positives Umsatzwachstum einem ausgeprägten Personalabbau gegenüber. Die Chemieunternehmen Hoechst, Bayer und BASF haben 1995 jeweils den höchsten Gewinn in ihrer Geschichte mit einem massiven Stellenabbau begleitet (Seisl, 1998, S.302). Das mit drastischen Personaleinsparmaßnahmen häufig gleichzeitige Steigen der Aktiendividenden darf als Indikator dafür gelten, dass es sich bei einer Vielzahl von Personalanpassungen gerade nicht um einen unumgänglichen Schritt aufgrund der schlechten Ertragslage, sondern um Programme zur Steigerung der Effizienz und damit des shareholder value handelt. Bereits die Ankündigung von Stellenstreichungen wirkt sich zunehmend positiv auf die Aktienkursentwicklung aus. Beckmann kommt in der Auswertung der Daten von über 9000 im IAB-Betriebspanel erfassten Unternehmen zu dem Schluss, dass die Ausrichtung börsennotierter Unternehmen am shareholder value und die Erwartung oberer Führungskräfte, der Managermarkt werde schnelle Geschäftserfolge als positive, karriereförderliche Signale hinsichtlich der eigenen Managementperformance auffassen, diese Führungskräfte zu Stellenstreichungen als schnell wirksamen Kosteneinsparungen veranlasst (Beckmann, 2000). Hinzu kommt ein positiver Zusammenhang zwischen umgesetzten Personaleinsparungen und Managereinkommen: Die Einführung von Aktienoptionsprogrammen mit niedrigen Ausübungshürden beschert den Führungskräften Gewinne, die fast ausschließlich zurückzuführen sind auf eine positive Kursentwicklung im Zusammenhang mit den Stellenstreichungen. Schließlich scheint eine Vielzahl von Managern sich mit Personalabbau

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schlicht den von Konkurrenten verfolgten Strategien bzw. Effizienzvermutungen ganz nach der Devise structure follows fashion anzuschließen (Rumelt, 1974). Sofern Planungen in einem Unternehmen auf Betriebsänderungen hinauslaufen, die für die Belegschaft im Rahmen von Änderungen des Aufgabengebietes, Vorgesetztenwechsel, Versetzungen auf andere Stellen, Übertritt in andere Gesellschaften wesentliche Nachteile oder sogar den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben können, schreibt das Betriebsverfassungsgesetz eine rechtzeitige und umfassende Unterrichtung des Betriebsrates durch den Arbeitgeber und die gemeinsame Beratung der geplanten Betriebsänderungen vor. Obwohl die Arbeitnehmervertreter so rechtzeitig einzubeziehen sind, dass sowohl die Beratung wie auch das Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren noch ohne Zeitdruck durchgeführt werden können, obwohl die Ursachen und Gründe für geplante Betriebsänderungen, deren Umfang und Auswirkungen den Arbeitnehmervertretern unaufgefordert darzulegen sind und obwohl Nichtbeachtung oder nicht ordnungsgemäße Durchführung der Mitwirkungsbefugnisse erhebliche rechtliche Risiken bergen - der Personalmanager hat in seiner Arbeitgebervertreterfunktion Versäumnisse hinsichtlich Rechtzeitigkeit und Informationsumfang mitzutragen und gegebenenfalls auch „planungsgefährdende" Informationen trotz ausdrücklichen Informationsbedarfs durch die Arbeitnehmervertreter zurückzuhalten (vgl. Röder/Baeck 2001). Er wird auch bereit sein müssen, bereits wohlumrissene Handlungsabsichten des Arbeitgebers als Ergebnis faktisch irreversibler Vorentscheidungen - sozusagen als Finalentschluss mitzuteilen - und damit eine Beeinflussung des Entscheidungsprozesses nurmehr durch vollständige Ablehnung des Ergebnisses zu ermöglichen (vgl. Schäfer, 1998). Häufig hat er, um die erhofften Personalkosteneinsparungen nicht übermäßig durch Sozialplanleistungen zu belasten und um die mit einem Sozialplan verbundene Sozialauswahl zu vermeiden (die in der Regel gerade ältere und unterhaltspflichtige Mitarbeiter mehr schützt), sogar den Versuch der Unternehmensleitung zu unterstützen, sich ganz um Interessenausgleich und Sozialplan herumzudrücken. Nicht nur ob und wie Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt werden, zwingt den Personalmanager in einen Rollenkonflikt, bei dem es um rechtliche Ansprüche, aber auch um moralische Prinzipien wie Aufrichtigkeit, Achtung von Person und Verantwortung der Arbeitnehmervertreter geht, sondern auch deren Umsetzung. Dies gilt insbesondere dann, wenn zur Kompensation des Arbeitsplatzverlustes

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millionenschwere Abfindungen für Vorstände und Führungskräfte, die ihre Arbeitskraft in hohem Anteil dafür verwendet haben, sich einen ausgezeichneten Marktwert zu schaffen, und aufgrund bisheriger Bezüge und anschließender beruflicher Positionierung ihren Lebensstandard und ihr Image halten können, mageren Abfindungen für einfache Arbeiter und Angestellte gegenüberstehen, deren Biographie aufgrund des Alters, familienbedingter Orts- und/oder Teilzeitgebundenheit, fachlicher Spezialisierung, fehlender Weiterbildung und damit Beschäftigungsfähigkeit keine oder nur sehr geringe Chancen zur Wiederbeschäftigung bietet. Und es gilt auch dann, wenn für die „Neuorientierung" von Leitenden Führungskräften die verfügbaren Outplacementbudgets nahezu grenzenlos erscheinen, die Sozialplanmittel für den Ausgleich oder die Milderung von Nachteilen nichtleitender Mitarbeiter aber um so knapper ausfallen. Der Sozialplan ist rechtlich als institutionelle Einrichtung konzipiert, die eine abstrakte, vom Einzelnen absehende und damit dem ethischen Universalitätsprinzip folgende Handlungsorientierung liefern sollte. Faktisch hat der Personalmanager jedoch in seiner Funktion als Arbeitgebervertreter den Sozialplan nicht neutral und die Interessen aller Beteiligten gleichermaßen berücksichtigend, sondern unter Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel und aller Rechtsambiguitäten so zu gestalten, dass die „Guten" ins Kröpfchen, die „Schlechten" ins Töpfchen wandern; konsequenterweise hat er damit das Abwälzen firmeninterner Personalprobleme auf die Gesellschaft zu unterstützen. Selbst wenn bei Personalkürzungen die Nutzung des interner Stellenmarkts, Einstellstopp und natürliche Fluktuation das Ausmaß für die aktive Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen verringern, so wird vom Personalmanager dennoch in seiner Servicefunktion für die Geschäftsbereiche und Fachabteilungen verlangt, moralisch unverantwortbare Vorgehensweisen durch formale Werkzeuge (ζ. B. Freistellung, Arbeitszeit- und Fehlzeitencontrolling) rechtlich abzusichern bzw. zu dulden. Drastische Vorgaben für Personalabbauquoten in den einzelnen Geschäftsbereichen entziehen interne Vermittlungsaktivitäten nicht selten der Steuerung durch die Personalabteilung und lassen sie gegen das Recht auf Privatsphäre verstoßen: Soll im Rahmen eines Personalabbaus eine Person intern vermittelt werden, so muss sie selbst bestimmen können, welche und wie viel Information über sich selbst dritten gegenüber preisgegeben werden. Sie ist an den Entscheidungen zu beteiligen, an wen/in welcher Weise/zu welchem Zeitpunkt die Informationen weitergeleitet, welche Auswertungen vorgenommen und

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wie lange die Informationen aufbewahrt werden. Nicht nur dass Betroffene über den Wegfall ihres Arbeitsplatzes nicht informiert wurden - sie werden von fremden Vorgesetzten angesprochen und erfahren von verdeckten Vermittlungsaktivitäten. Arbeitgeber verlangen und findige Rechts(-lücken-)Ratgeber bieten eine Fülle von „Alternativen zu Tarifverträgen und Gewerkschaftszwang" (vgl. Lambrich/Trappehl, 2002) - trotz der Vielzahl ethischer Marketingwerkzeuge und -Strategien scheint es einen florierenden Markt für Alternativen zu unternehmerischer Integrität und gesellschaftlicher Verantwortung zu geben. Sobald persönliche Ansprüche und Gruppeninteressen auf dem Spiel stehen, die verfolgten Ziele jedoch trotz der gegenseitigen Abhängigkeit der betroffenen Personen offenbar inkompatibel und die Ressourcen knapp sind, drohen der rücksichtslose Einsatz von Machtmitteln, Mobbingaktivitäten und die Instrumentalisierung von Mitarbeitern (Pfeffer, 1981; Küpper/Ortmann, 1988; Neuberger 1994). Dem Personalmanager mag unter diesen Rahmenbedingungen die Möglichkeit bleiben, im persönlichen Einzelgespräch betroffenen Mitarbeitern Gehör zu schenken, ihnen psychologisch geschickt und aus seiner Erfahrung heraus bei der Auseinandersetzung mit ihrer Situation zu helfen und mit ihnen Lösungswege zu erörtern und zu erproben. Wie frei ist er jedoch tatsächlich, sich gegen einen ethischen Skeptizismus - „why be honest if honesty doesn't pay?" so der Titel eines Beitrags von Bhide und Stevenson 1990 im Harvard Business Review - für die Konsequenzen einer sich nicht in Nutzenkategorien auszahlenden ethischen Willensautonomie zu entscheiden?

Abgewogene nervenärztliche Handlungsmaximen ? Das Prinzip bonum facere - nil nocere in der psychiatrischen Praxis U L R I C H NIEMANN

Was will ich? - fragt der Verstand Worauf kommt es an? - fragt die Urteilskraft Was kommt heraus? - fragt die Vernunft (Immanuel Kant) 1

1. Einleitende Bemerkungen und Hinführung Mit einiger Skepsis wird sich jeder praktizierende Psychiater dem Begriff und den Zusammenhängen der „Abwägenden Vernunft" nähern. Für diese Skepsis gibt es mehrere Gründe und Anfragen: a. Spontan wird jeder Psychiater (gemäß seinem begrifflichen Instrumentarium) in diesem Begriff die affektdynamische Dimension, 1 Aus: I. Kant, Schriften zur Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798), Zweiter Teil, in: I. Kant, 1981, Werke in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 10, Darmstadt, § 38, S. 506, Anm. 7. - Das Zitat findet sich als Randbemerkung in Η (vgl. zur Erläuterung ebd. S. 816). Die logische Struktur dieser drei Fragen entstammt wohl dem Denkmodell des aristotelischen Syllogismus: Der Verstand gibt die allgemeine Regel oder das allgemeine Ziel; danach folgt die Urteilskraft mit der Subsumtion dessen, worauf es in einem bestimmten Fall (spezifische nervenärztliche Therapie) ankommt, sie muss innerhalb des Allgemeinen eine Unterscheidungsleistung vollziehen; dies sind die beiden Prämissen, und der Spruch der Vernunft ergibt sich dann. - Das Zitat wird in diesem Aufsatz natürlich „frei nach Kant" gebraucht, insofern das, was sich nach Kant in einem und demselben Subjekt vollzieht, hier sozusagen auf zwei Subjekte, nämlich Patient und Arzt, „verteilt" wird. - Dies entspricht gerade auch einer „partnerschaftlichen Bewältigung" einer psychischen Erkrankung.

Abgewogene nervenärztliche Handlungsmaximen?

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d. h. schlicht den Bereich des Emotionalen und des Voluntativen vermissen. Sollte diese Einseitigkeit des „Vernünftigen" auf einem verkürzten bzw. einseitigen Menschenbild beruhen? Oder sind in dem Stichwort „Abwägende Vernunft" die Dimensionen des Affektiven und der menschlichen Dynamik schon mit gemeint? b. Ferner wird jeder praktizierende Psychiater schnell den Verdacht haben, dass es sich bei der „Abwägenden Vernunft" lediglich um den Bereich der rational begründeten Diagnose handelt. Dabei kämen aber die Handlungsdimensionen und damit auch Therapie und Prognose (wie oft auch in anderen medizinischen Disziplinen) zu kurz. (Das Schlagwort von der „Uberdiagnostik" hat in der Psychiatrie und Psychotherapie eine reale Relevanz.) c. Abwägende Vernunft lässt ferner spontan an länger dauernde ethisch-philosophische Diskurse denken. Gerade das wird aber sowohl bei neurologischem wie auch bei psychiatrischem Handeln oft nicht möglich sein: Psychisch kranke Menschen (z.B. Epileptiker oder Schizophrene) bedürfen schnell und konkret der ärztlichen Hilfe. Daher fehlt meist Zeit für längere physio- bzw. psychopathologische Erörterungen und auch Zeit für ethische Diskurse, bevor Hilfe (ähnlich wie ζ. B. in der Unfallmedizin) wenigstens initiiert wird. Gerade in der Psychiatrie muss - um Schaden für eigenes und fremdes Leben abzuwenden - häufig schnell gehandelt werden. So sollte ζ. B. bei einem tumorbedingten und sich schnell entwickelnden Hirnödem oder bei einem Psychotiker, bei dem eine plötzliche zerstörerische Handlung erwartet werden muss, eine rasche therapeutische Intervention begonnen werden. Oft zeigt sich dann erst nach der therapeutischen „Aktion", ob das ärztliche Handeln - unter vielen Aspekten - ethisch angemessen, vernünftig und gut war. (Vor diesem Erfahrungshorizont gibt es im interdisziplinären Gespräch zwischen Psychiatern und Philosophen viele „Missverständnisse".) d. Schließlich muss jeder Psychiater in einer Praxis, in der täglich mehr als 80 Patienten behandelt werden, in therapierelevanten Fällen rasche Entscheidungen fällen, in denen das ruhige Abwägen zunächst zu kurz kommt. e. Jeder Psychiater, der sich auch der Tiefenpsychologie und damit dem Unbewussten verpflichtet weiß und der etwas von verdrängten u. U. psychosomatisch krankmachenden - Traumata versteht, wird dem Zusammenhang der „Abwägenden Vernunft" gleichfalls - wenn auch in anderer Weise als ein Neurowissenschaftler - skeptisch gegenüberstehen. Es gilt also unbewusste Zusammenhänge und tiefenpsy-

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chologisches Erleben (z.B. Träume) in entsprechenden Entscheidungsprozessen der „Abwägenden Vernunft" zugänglich zu machen. f. Was die „Prüfung der ethisch relevanten Handlungsmomente" 2 vor allem im Bezug auf die Diagnose angeht, so sei auf folgende „Ungenauigkeit" bei der Erhebung psychopathologischer Befunde und damit bei der psychiatrischen Diagnosenstellung hingewiesen: Bei der Fragestellung - handelt es sich wirklich (schon) um eine Psychose (ζ. B. bei einem jungen Hebephrenen), gibt es in der psychiatrischen Diagnostik „so etwas", das „Praecox-Gefühl" (engl.: precox feeling) genannt wird. 3 g. Eine weitere eigentümliche Weise ärztlicher Therapie ist die Therapie „ex juvantibus". Sie ist nur sehr bedingt eine rationale Therapie (ζ. B. wenn sie sich etwa statistisch absichern lässt). Allgemein heißt ex juvantibus: Was der/die Kranke braucht, was seine Lage erfordert. Diese Therapieform „ist immer ein Versuch, mit Störungen fertig zu werden, deren genaues Zustandekommen im Augenblick der Gefahr nicht erklärt werden kann, deren Verlauf aber bedrohlich ist. Diese Therapie spielt ζ. B. in der Intensivmedizin eine Rolle.... Auch die Behandlung von Zielsyndromen in der Wahl von Psychopharmaka gehört hierher: Angst, Hemmung, Traurigkeit, Grübeln, Wahn." 4 Trotz dieser differenzierenden Vorbemerkungen sollte sich jeder Psychiater auf rational begründbare und wissenschaftlich einigermaßen sichere Prinzipien verlassen können, wenn er therapeutisch handelt. 5 Das erfordert die sozialethisch begründete Verantwortung als 2 L. Honnefelder, 1994, Grundlagen der medizinischen Ethik, in: L. Honnefelder/ G. Rager (Hrsg.): Ärztliches Urteilen und Handeln, Frankfurt a.M., Leipzig, S. 135190, S. 187. 3 Das Praecox-Gefühl (H. C. Rümke 1958) dient der Erfassung einer schizophrenen Psychose nicht aus den Einzelsymptomen, sondern aus dem Gefühl und der eigentümlichen Form zwischenmenschlicher Kommunikation, die sich im Umgang mit Schizophrenen herstellen kann. „Dieses Gefühl ist nach Rümke nicht verbalisierbar und stellt sich nur beim Erfahrenen ein. Es handelt sich daher nicht um ein eigenes Gefühl, sondern um nicht bewusstwerdende oder nicht realisierbare Erinnerungen. Dem Praecox-Gefühl kommt daher eine große symptomatologische Bedeutung zu, die einem Symptom ersten Ranges (K. Schneider) entspricht." zitiert nach U. H. Peters, 3 1984, Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, Art. Praecox-Gefühl, München, Wien, Baltimore, S.421. 4 F. Hartmann, 1979, Art. Therapie, in: E. Seidler (Hrsg.): "Wörterbuch medizinischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br., S. 327-335, 333. 5 Allerdings: Was für forensisch-psychiatrische Gutachten (ζ. B. dauernde Sicherungsverwahrung) gilt, kann man - mutatis mutandis - wohl auch für psychiatrische Diagnostik, Therapie und Prognostik generell annehmen: Nach Professor Dr. Nor-

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e m p i r i s c h - w i s s e n s c h a f t l i c h ausgebildeter A r z t . A u c h die N o t w e n d i g keit, die s o z i o ö k o n o m i s c h e n u n d m e d i z i n i s c h e n R e s s o u r c e n in der G e sellschaft g e r e c h t z u verteilen, v e r l a n g t d r i n g e n d n a c h rational b e gründbaren Voraussetzungen und Argumenten.

2. Definitionen Abgewogen:

D a ein m e d i z i n e t h i s c h e r D i s k u r s 6 - g e r a d e in d e r P s y c h i a -

trie - oft erst aus einer „ e x - p o s t P o s i t i o n " m ö g l i c h erscheint, w i r d i m Aufsatztitel

von

„abgewogen"

(also

Vergangenheit)

gesprochen.

G l e i c h w o h l m u s s t e i m v o r l i e g e n d e n Fall die w i c h t i g s t e „ W e i c h e n s t e l l u n g " s c h o n n a c h d e m E r s t i n t e r v i e w gestellt w e r d e n , die freilich „ e x p o s t " kritisch h i n t e r f r a g t w e r d e n m u s s .

bert Nedopil, Gutachter u. a. beim Bundesverfassungsgericht, liegt der Anteil jener (forensisch Straffälligen, Verf.), bei denen eine Prognose schwierig ist — trotz Nutzung heutiger Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung - „tatsächlich bei 5 0 - 6 0 % " (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24.10.2003, S. V-28, „Wie sicher ist ein Gutachten?"). Schon aus diesem Zusammenhang dürfte deutlich werden, wie „relativ" und „ungenau" „Abwägende Vernunft" bei psychiatrischer Diagnostik, Therapie und Prognostik ist. Dazu kommen weltanschauliche irrationale Unwägbarkeiten, welche jedes Glaubenssystem in sich trägt (Stichwort: Mysterium tremendum et fascinosum).Trotzdem muss therapeutisch - nach gesunden Prinzipien - gehandelt werden, besonders nach dem Prinzip „mehr nützen als schaden!" Freilich ist damit auch das Prinzip erster Ordnung, nämlich die Selbstbestimmung der Patientinnen mit zu berücksichtigen. Schließlich sollte jeder Psychiater die affektdynamische Dimension bei seinen therapeutischen Maßnahmen so berücksichtigen, dass auch Gemüt und Wille eines Patienten im engeren wie im weiteren Sinne „krank" sein kann. Daher verschiebt sich in der praktischen Psychiatrie oft die Dimension: „Der Wille des Patienten ist oberste Norm" zum richtig verstandenen „Heil" (salus) der Patienten und Patientinnen. Die Autonomie eines Patienten festzustellen und daraus dann die richtigen therapeutischen Schlüsse zu ziehen, ist auch eine immer wieder zu lösende Aufgabe eines jeden Psychiaters. Diese Aufgabe wäre weitgehend durch das Prinzip „mehr nützen als schaden" abzudecken. 6 Vgl. E. Amelung, 1992, Ethisches Denken in der Medizin, Berlin, Heidelberg, New York; J. v. Troschke, 1983, Arztliche Entscheidimgskonflikte. Medizin in Recht und Ethik, Stuttgart; U. J. Niemann, 1990, Anspruch - Widerspruch - Hoffnung. Anmerkungen zur Identität und Aufgabe eines Theologen in der Ethik-Kommission, in: R. Toellner (Hrsg.), Die Ethik-Kommission in der Medizin, Stuttgart, New York, S. 101-117; H.-M. Sass, 1991, Güterabwägung in der Medizin, Berlin, Heidelberg, New York; E. Schockenhoff, 1993, Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz; U. J. Niemann, 2003, Wert- und Sinnvorgaben als notwendige Bedingungen für wirksame Psychotherapie? in: A. Lanfermann (Hrsg.), Auf der Suche nach dem Leben begegnet Dir Gott, Mainz, S. 112-121.

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Vernunft: Angesichts der rationalistisch-belasteten Begriffsgeschichte wird unter Vernunft - in diesem Beitrag - die unterscheidend menschliche, d. h. diskursiv und lebensgeschichtliche Funktion des überindividuell gültigen Ordnens und Beurteilens von psychodynamischen und psychopathologischen Phänomenen nach dem Prinzip ersten Ranges: „Bonum facere - nil nocere" (kurz: Mehr nützen als schaden) und damit auch die praktische Normsetzung für das therapeutische Wollen, Entscheiden und Handeln eines Psychiaters verstanden. Nervenarzt: Die nervenärztliche Sichtweise versucht einen sog. ganzheitlichen Blick auf den kranken Menschen. D. h. sie nimmt die Dimensionen des Somatischen, des Psychischen, des Sozialen und des „Finalen" (von lat. finis = Grenze und Ziel) in den Blick. Besser: Die Wert- und Sinndimension ist in der Psychiatrie immer mit zu berücksichtigen, weil es im nervenärztlichen Handeln sowohl um die Gegensatzpaare richtig - falsch als auch um gut - schlecht bzw. böse geht.7 Das bonum facere (mehr nützen) wird dem älteren nil nocere vorgezogen, weil die bloße Verhinderung des Schlechten eine negative Lebenseinstellung (bewusst bzw. unbewusst) beinhalten könnte.

3. Fallvignette einer osteuropäischen Migrantin als Paradigma für psychiatrisches Entscheiden und Handeln Dieses Fallbeispiel ist signifikant für einen Nervenarzt, der von einer verzweifelten Frau um Hilfe gebeten wird, weil sie sich als Migrantin mit ihrem besonderen Sinn- und Werthorizont - sowohl von den meisten Psychiatern als auch von vielen Seelsorgern missverstanden und allein gelassen fühlt. nem katholischen deutschen Geistlichen und von einem osteuropäischen Priester zum Psychiater und Seelsorger geschickt, weil man mit ihr nicht zurecht komme. Sie sei schwierig, anspruchsvoll und aggressiv - und das innerhalb und außerhalb des Beichtstuhls. Sie wolle unbedingt das richtige exorzistische Gebet. Dazu seien aber beide Seel7 Vgl. U. J. Niemann, 2000, Begegnung im ganzheitlich-menschlichen Rahmen: Pastoralmedizin gestern und heute, in: H.-J. Bochnik/W. Oehl (Hrsg.), Begegnungen mit psychisch Kranken. Gelingen und Verfehlen ärztlicher Personenorientierung, Sternenfels, S. 255-271, 260f.

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sorger nicht in der Lage. Es gäbe auch keine Chance, die Erlaubnis des zuständigen Ortsbischofs zum offiziellen Exorzismus zu bekommen. 8 Zum therapeutischen Erstgespräch: Die Frau kommt pünktlich zum Gespräch. Sie ist sauber und einfach gekleidet; das Gesicht ist gepflegt und die Haare sind sorgfältig geordnet und hellblond gefärbt. Sie berichtet über starke innere Unruhe, große Angst, Depressivität und massive Schlaflosigkeit. Sie sei schon bei einem Psychiater in Behandlung, der ihr angstlösende Antidepressiva und Tranquilizer verordnet habe. Obwohl sie - von sich aus - schon die doppelte Menge eingenommen habe, komme sie nicht zur Ruhe und schon gar nicht zum inneren Frieden. Sie habe den unwiderstehlichen Drang, mehrfach am Tag zu masturbieren. Psychiater und mehrere Beichtväter würden sie sprachlich und inhaltlich nicht verstehen und hier sei es auch nicht besser.9 Seit 12 Jahren sei sie in Deutschland, habe vor 11 Jahren einen deutschen Mann geheiratet, sei aber inzwischen geschieden und Alleinerzieherin einer 10jährigen Tochter. Die deutsche Staatsangehörigkeit habe sie noch nicht erreicht. Zur auslösenden Situation: Ihre Tochter sei in einer deutschen Pfarrei zur „Ersten Heiligen Kommunion" gegangen. Sie selbst habe seit 30 Jahren zum ersten Mal wieder gebetet und habe auch zusammen mit ihrer Tochter am Weißen Sonntag die Eucharistie empfangen. Vorher habe sie noch zur Beichte gehen wollen, habe aber keine Absolution bekommen, weil sie dem osteuropäischen Beichtvater von drei Abtreibungen berichtet habe. Danach sei sie zu einem deutschen Priester gegangen, der sie absolviert habe. Der habe offensichtlich keine Probleme damit gehabt. 35 Jahre lang habe sie in einem atheistischen und kommunistischen System gelebt. Sie sei Spitzensportlerin gewesen, in den Olympiakader einberufen worden und sei von Funktionären (auch mit 8 Vgl. J. Böning, 2001 ,Der Weg von der Epilepsie zur „Besessenheit" derA. M. aus Klingenberg, in: Besessenheit und Hysterie. Weinsherger Gespräche zur Geschichte der Seelenheilkunde, Weinsberg; U. J. Niemann, 1983, Die Besessenheit der Anneliese Michel (Klingenberg) in interdisziplinärer Sicht, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 25 Nr. 3/4, S. 129-194; U. J. Niemann, 1999, Exorzismus oder/und Therapie? in: Stimmen der Zeit 124, Η. 11, S. 781-784; M. Probst/ K. Richter, 2002, Exorzismus oder Liturgie zur Befreiung vom Bösen, Münster; G. Siegmund, 1981, Der Exorzismus der Katholischen Kirche, Stein am Rhein. 9 So habe ihr ein Priester gesagt: „Bei Ihnen spielen die Hormone verrückt! Gehen Sie zum Gynäkologen!" - Ein Beichtvater habe gemeint, sie habe wohl eine „ekklesiogene Neurose". (Ein Urteil, das - angesichts 35-jähriger Beeinflussung durch ein kommunistisch atheistisches System - fast makaber bzw. zynisch wirkt. Hier ist ein Vertrauensschaden entstanden, der Missbrauchsfolgen ähnelt.).

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Dopingmitteln) sehr verwöhnt worden. Mit einigen habe sie auch geschlafen. Diese hätten dann die Abtreibungen bezahlt. Zwischen dem 4. und dem 8. Lebensjahr sei sie von Bruder und Onkel mehrfach missbraucht worden. Sie habe keine Kontakte mehr zur Familie in Osteuropa. Jetzt gehe es ihr seit dem Weißen Sonntag 2002 sehr schlecht. Sie habe Panikattacken, könne nicht schlafen, nichts essen und sei tief im Innersten sehr unruhig. Sie höre Stimmen, die ihr große „sexuelle Schweinereien" sagen würden und welche sie auch ζ. B. auffordern würden, in der Kirche laut zu schreien und auf die Priester dort zu schimpfen. Ferner leide sie sehr unter der „großen Lust", sich mehrfach am Tag selbst zu befriedigen. Sie könne mit ihrer Tochter nicht beten, ohne dass sie innerlich sehr wütend und ärgerlich werde. Deshalb tue ihr ihre Tochter leid. Diese habe es auch schon gemerkt und sei manchmal ganz traurig über ihre Mutter. Einmal sei sie ganz „außer sich" gewesen. Sie habe ihre Tochter angeschrien und geschlagen. Danach sei sie ganz müde und traurig geworden und dann eingeschlafen. Ihre Tochter habe ihr das später erzählt: „Du warst ganz anders als sonst; ich habe dich nicht mehr erkannt; es war schrecklich". Sie selbst habe von diesem Ausnahmezustand später nichts mehr gewusst.

4. Psychischer Befund nach dem Erstinterview Die Patientin ist allseits orientiert und im Bewusstsein klar; überwache Reaktionsweisen. Die Psychomotorik ist vor allem in Gestik, Sprechantrieb und Lautstärke gesteigert. Bisweilen scheint sie zu reden und erst später zu denken. Danach korrigiert sie sich selten. Im ganzen ist das Denken jedoch klar und geordnet, allerdings ist zu merken, dass die deutsche Sprache nicht ihre ursprüngliche Artikulationsweise ist, um ihr Denken auszudrücken. Daher ist der Sinn ihrer Aussagen häufig nicht mit dem von ihr Gemeinten stimmig. Affektiv wirkt die Patientin schnell reizbar und fühlt sich - auch bei wohlwollenden Interventionen - im Gespräch bald angegriffen und fast in einer permanenten Verteidigungshaltung. Dann wirkt sie leicht maniform-gereizt und überdreht. Geringe feinstrukturiert-affektive Schwingungsfähigkeit. Leicht überdurchschnittliches Intelligenzniveau. Keinerlei Hinweise auf hirnorganisch bedingte Krampfanfälle oder eine exogene bzw. endogen bedingte Psychose. Derzeit keine Suizidalität.

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Was die diagnostische Einordnung der Persönlichkeitsstörungen der Patientin angeht, so fällt (im Interview wie auch nach der Fremdanamnese der Tochter) auf, dass die Patientin eine deutliche Tendenz hat, impulsiv - ohne Berücksichtigung der Konsequenzen - zu sprechen und zu handeln. Ausbrüche von Arger und Wut wechseln schnell mit sanfteren affektiven Ausdrucksformen ab: Mangelnde Impulskontrolle. Ferner neigt die Patientin zu Dramatisierungen bezüglich ihrer eigenen Person und zu übertriebenen Ausdrucksformen ihrer Gefühle. Schließlich zeigt sie etwas übertriebene Zweifel und sachlich unbegründete Vorsicht bis zu massiv artikulierter Ängstlichkeit. - Deutliche Rigidität bei strikter Befolgung von (vorkonziliaren) Konventionen (ζ. B. Mundkommunion).

5. Vorläufige Diagnosen Posttraumatisches Belastungssyndrom (vor allem aus Kindheit, Vorpubertät, Pubertät und Adoleszenz) mit gemischter Störung von Gefühlen (Angst und Depression) und Sozialverhalten: I C D 10: F 43,25. 10 Gelegentliche dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) im Sinne von Trance- und Besessenheitszuständen nach Vollzug von Exorzismen in einem osteuropäischen Land: I C D 10 = F 44.3. 11 Emotional instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ mit weiteren histrionischen und anarkastischen Strukturelementen: I C D 10: F 60. 30. 12

10 W H O (Hrsg.), 2000, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10, Kap. V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, 4. durchges. u. erg. Aufl., S. 169ff. W H O (Hrsg.), 2002, Lexikon zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen, Bern, Göttingen, Toronto-Seattle. 11 W H O , 2000, S. 178. 12 W H O , 2000, S. 229 ff. Vgl. H. Saß, 2003, Diagnostische Kriterien, DSM-IV-TR., Göttingen, Bern, Toronto, Seattle; H.-J. Jaster, 1997, Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, Stuttgart, New York;, G. Heuft, 1998, Praxis der Qualitätssicherung in der Psychotherapie, in: W. Senft (Hrsg.), Das Manual zur Psy-BaDo, Stuttgart, New York; M. Berger, 2 2004, Psychische Erkrankungen, Klinik und Therapie, München, Jena; T. v. Uexküll, 6 2003, Psychosomatische Medizin, München, Jena; W. M. Pfeiffer, 2 1994, Transkulturelle Psychiatrie, Stuttgart, New York.

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6. Fragmente der religiösen Phänomene bei der Migrantin aus Osteuropa In ihrem Bemühen für ihre Tochter und für sich eine neue identitätsgemäße Religiosität zu finden, ist die Frau extrem verunsichert und aufgrund ihrer besonderen Lebensgeschichte verängstigt. Sie muss aber vor ihrem Kind (und bei der Arbeit und in der kirchlichen Öffentlichkeit) die „starke Frau" und Mutter sein, welche ihr religiöses Leben selbst nach eigenen Vorstellungen gestaltet. Daraus ergeben sich deutliche Ambivalenzen gegenüber kirchlichen Personen, welche mit scheinbarer Autorität auftreten: Priester, Beichtväter, Exorzisten. Sie wünscht sich einerseits Halt und Stütze bei geistlichen Menschen, andererseits will sie ihre eigenen religiösen Vorstellungen durchsetzen. Diese Vorstellungen kommen aber einerseits aus der Zeit, in der das kleine osteuropäische Mädchen im katholischen und religiösen Milieu zum Erstkommunionunterricht ging. Andererseits sind diese gemüthaften Reminiszenzen überdeckt und nivelliert von kritisch-intellektueller (kommunistischer) Kritik und Dialektik. So wirkt sie in ihrer Kritik an kirchlichen Autoritätsträgern schon wie eine „kleine Päpstin" bzw. „Pharisäerin" (F. Mauriac). Andererseits wiederum möchte sie einen gewissen „liberalen Flair" leben, den sie in den letzten 10 Jahren in einer konsumistischen und liberalistischen Gesellschaftsform in der B R D kennengelernt hat. So steht sie gleichsam zwischen zwei „Feuern" und findet sich weltanschaulich und seitens ihrer Sinn- und Wertorientierung nicht zurecht: Sie sucht eine eindeutige Haltung gegenüber ihren religiösen Sehnsüchten und versucht sich dann in das autoritär-suggestive Gebet des „Großen Exorzismus" zu flüchten. Sie erhofft sich ein plötzlich reinigendes Wunder, hat aber von ihrer Natur her, d. h. von ihrer Persönlichkeitsstruktur, ihrem Temperament und ihrer Lebenssituation, kaum Geduld zur Nachreifung auf sittlichem und religiös-kirchlichem Niveau. Diese Frau braucht lange religiöse Reifungsprozesse, bevor sie ihren inneren Frieden mit sich selbst, mit ihrer Tochter, mit der Kirche und mit Gott finden kann. 13 13 Die These der notwendigerweise längeren psychischen und seelischen Nachreifung wurde im Juli 2003 fast einstimmig gestützt von einem international besetzten Podium von „Fachleuten aus dem Befreiungsdienst" (Deutschland, Frankreich, Kroatien, Osterreich, Polen), welchen diese Fallgeschichte als „casus conscientiae" vor-

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7. Rat und Entscheidung Nach dem Erstinterview wurde der Patientin geraten, sich in ihrem Heimatland um ein ihr gemäßes exorzistisches Gebet zu bemühen. Eine gleichzeitige psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung in ihrer Muttersprache schloss die Patientin selbst kategorisch aus: „Alle Psychoanalytiker sind ohnehin Atheisten." Ergebnis: Die Patientin reiste innerhalb von 4 Wochen in ihr Heimatland. Dort fand sie - nach zwei vergeblichen Versuchen - einen Exorzisten in einem Wallfahrtsort.

8. Diskussion der vorstehenden Entscheidung aus psychiatrischer, spirituell-theologischer und ethischer Sicht 14 8.1 Vorbemerkungen Zwar sollte die Patientin selbst entscheiden, ob sie den Exorzismus über sich beten lassen will (Cave: Wegen der angenommenen Willensfreiheit der Patientin Widerspruch in sich!). - Andererseits ist sie aber ganz abhängig von den soziokulturellen und kirchlich-autoritären (bischöflichen) Strukturen des entsprechenden westeuropäischen bzw. osteuropäischen Landes. Ihre Freiheit bzw. „Autonomie" zur Heilung ist von vornherein deutlich eingeschränkt. Die beteiligten Personen und Gegebenheiten (Hausärzte, Internisten, Psychiater, deutsche und osteuropäische Seelsorger, diverse Beichtväter, die Arbeitgeber, geschiedener Ehemann, nicht zuletzt die 10-jährige Tochter und die Vorschriften des Ortsbischofs und der Bischofskonferenzen) können nichts zur Entscheidung beitragen, vor allem weil sie sich nicht in den „Zustand" der betroffenen Frau hineindenken und hineinfühlen können. Der Konflikt könnte dadurch gelöst werden, dass sich die Patientin entweder nur einem deutschen Nervenarzt (mit entsprechenden pharmakotherapeutischen und psychotheragestellt wurde. Über die Frage, ob diese Patientin „mehr" Seelsorge oder „mehr" Psychotherapie „brauche", konnte keine Einigung erzielt werden. 14 Vgl. L. Honnefelder, 1994, S. 185 f: „Wie lautet die im vorliegenden Fall gebotene Entscheidung?"

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peutischen Möglichkeiten) anvertraut oder dass sie in ein osteuropäisches Land reist, um dort den noch praktizierten „Großen Exorzismus" an sich vollziehen zu lassen. Zwischenlösungen beständen darin, dass die Patientin in Deutschland unter Anleitung selbst um Befreiung betet und gleichzeitig nervenärztlich betreut wird. Diese Zwischenlösung hatte die Patientin — mindestens ein halbes Jahr - schon in mehrfacher Weise versucht, sie war dabei aber immer mehr enttäuscht, verunsichert und letztlich dadurch noch „kränker" geworden. Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Patientin sind durch ihre wechselnden psychopathologischen Zustandsbilder erheblich eingeschränkt: Die variierenden Bewusstseinszustände, ihre Ängste, ihre „Depressionen", die affektdynamisch wechselnden Befindlichkeiten, die mangelnde Impulskontrolle rufen nach der Fürsorge anderer, d. h. konkret von kundigen Seelsorgern und Psychotherapeuten. Schadensvermeidung bzw. Schadensverminderung gilt für die „Kundigen" sowohl in Bezug auf die Patientin als alleinerziehende Mutter als auch für ihre 10-jährige Tochter.15 Die erweiterte Fürsorgepflicht „des Kundigen" ergibt sich aus der besonderen krankheitsbedingten Hilflosigkeit der Betroffenen. Was das Vertrauen zwischen den „Kundigen" und der Patientin angeht (vgl. Prinzipien 2. Ordnung 16 ), so handelt es sich für die Patientin wie für den Arzt - nach den gemachten Erfahrungen - um einen sehr sensiblen Bereich. Nach dem Erstinterview vereinbarte der Verfasser mit der Patientin strikte Diskretion als Psychiater und Psychotherapeut. Die angetragene Rolle als Seelsorger, Priester und Beichtvater lehnte der Verfasser mit dem Hinweis ab, er könne - vor allem angesichts der Vorerfahrungen der Patientin - keinerlei Rollendiffusion zulassen.17 Aus dem Bewusstsein einer ganzheitlichen Verantwortung für Mutter und Kind und aus bisheriger Erfahrung mit Menschen, welche sich vom Bösen und von Krankheit überwältigt fühlen, versuchte der Referent - nach dem Erstinterview - den Bereich der Seelsorge und das 15 Vielleicht gilt auch eine Schadensvermeidung für die „Sache des Glaubens und der Kirche", wenn etwa in osteuropäischen Ländern noch immer „mittelalterliche Methoden" der Krankheitsbewältigung angewandt werden? Aber könnte das nicht auch als „westeuropäische Arroganz" ausgelegt werden? 16 Vgl. Honnefelder, 1994, S. 186. 17 Für diese Veröffentlichung wurden etliche Zusammenhänge verfremdet und damit anonymisiert. Ferner wurde mit der Patientin die Form der Veröffentlichung besprochen. Sie gab dazu ihr Einverständnis, „wenn andere Frauen und ihre Berater durch meine Erlebnisse und Erfahrungen lernen" würden.

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Beichtforum an zwei osteuropäische Priester abzugeben. Das misslang in beiden Fällen.18

8.2 Sachliche, fachliche und ethische Gründe für den Rat und für die Entscheidung der Patientin, zum exorzistischen Gebet in ihr Heimatland zu fahren19 Prinzip: Die multikausale Verursachung der oben beschriebenen Krankheitssyndrome erfordert eine multidimensional begründete Entscheidungsfindung. Dabei sollte sich die Patientin für ihre Entscheidung die Frage stellen: „Willst du wirklich gesund werden?"20 Der ratgebende Arzt sollte sich fragen: Wie kann ich in dieser (verwickelten) Situation Mutter und Kind mehr nützen als schaden? Denn jeder „Lösungsansatz" hat seine Vor- und Nachteile. Dem ratgebenden Nervenarzt sollte es um eine differenzierte Güterabwägung gehen.

8.21 Gründe „für" den Rat, zum exorzistischen Gebet in das Heimatland zu fahren21 Allgemeinärztliche Aspekte: Die sprachliche und menschliche Verständigung mit ärztlichen und kirchlichen „Anbietern" ist im Heimatland besser. Dadurch wird sich die Patientin eher verstanden und angenommen fühlen. Manche Leistungen der „Anbieter" sind auch für die Patientin - abgesehen von der weiten Fahrt - preisgünstiger. Psychiatrische Aspekte: Die affektive, spezifisch ethnische (slawische) Eigenart samt ihrer besonderen Verquickung mit natürlich-religiösen Elementen kann ein heimischer Psychiater und Psychotherapeut besser erfassen und auch besser adäquat therapeutisch umsetzen. Die sprachlichen und kommunikativen Umstände (z.B. Kontakte mit den Arzthelferinnen) sind von vornherein als günstiger zu beurteilen. 18 Angeblich sei der eine Seelsorger ihr zu „autoritär" gewesen und habe sie „angepfiffen". Den anderen Seelsorger konnte die Patientin nicht ernst nehmen, weil er kein römisches Collar getragen habe. 19 Vgl. Honnefelder, 1994, S. 186. 20 Vgl. J o h 5,6: Der Gelähmte am Teich Betesda. 21 Hier folgt d. Vf. L . Honnefelder und seinem Schema der ethischen Urteilsbildung: Honnefelder, 1994, S. 186: „Geben Sie die ethischen Gründe an, die für Ihre E n t scheidung sprechen!"

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Auch die Wirkungen von Psychopharmaka kann ein osteuropäischer Nervenarzt - aufgrund seiner besonderen Erfahrungen mit den spezifischen biologisch-ethnischen Gegebenheiten - besser abschätzen. Kulturelle und „ethnische" Aspekte·. Stil (z.B. Kleidung), Atmosphäre (z.B. in Gaststätten), Kunst (z.B. Denkmäler) des Heimatlandes schaffen eine gewisse Vertrautheit, innere Ruhe (Geborgenheit) und vielleicht auch einen gewissen „Stolz". Diese prägenden Elemente fehlen in der Fremde. Die besonderen kulturellen und folkloristischen „Ausstrahlungen" haben insbesondere für die seelischen und religiösen Erlebniswelten der Betroffenen große Bedeutung. Ethische Aspekte: Die Patientin hatte sich schon vor dem Rat des Nervenarztes fast für die Reise in ihr Heimatland entschieden. Sie war allerdings in ihren Gefühlen deutlich ambivalent, weil sie die materiellen Kosten scheute und nicht wusste, wie (autoritär) kirchliche Stellen mit ihr umgehen würden. Der Beratende und (aufgrund der ausgeprägteren Erfahrung für die größeren Zusammenhänge) Kundigere stand vor der Frage, was der Patientin für die Bearbeitung ihrer Symptomatik, ihrer körperlichen und seelischen Schmerzen und ihrer Beschwerden besser helfen würde und wie damit größerer Schaden abgewendet werden könnte. Nach I. Kant muss die „Urteilskraft" fragen: „Worauf kommt es an?"22 Moraltheologische und theologisch-spirituelle Aspekte: Die besonderen Glaubensvorstellungen und die von einem „magischen" Verständnis der „Gnade" (vor allem der Sakramente der Taufe, der Eucharistie und der Buße) geprägten Zusammenhänge waren bei der zu fällenden Entscheidung für genau diese Patientin (und ihre Tochter) mit zu berücksichtigen. Zwar sind diese Parameter empirisch nicht fassbar und schon gar nicht prognostisch kalkulierbar. Dennoch sind diese individuell geprägten spirituell-theologischen Zusammenhänge höchstwahrscheinlich bei dieser Patientin „innerlich" wirksam. Jedenfalls zeigt das der psychopathologische und psychosomatische Zustand der Patientin unmittelbar nach Beichte und Kommunion anlässlich der Erstkommunion der Tochter. Hier wird der Zustand offenbar, der die alten „Besessenheitskriterien" teilweise erfüllt: ζ. B. Hass und Zorn gegen „Heiliges" und entsprechende Personen. Ferner: Das Lautwerden von Wut, Zorn und ungeziemenden Gedanken und Wünschen.

22 Vgl. A n m . l .

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Pastoralmedizinische Aspekte: Pastoralmedizin bzw. Pastoralpsychiatrie hat die Aufgabe, ethische Prinzipien (ζ. B. „Mehr nützen als schaden", Patientenautonomie, aber auch individuelle bewusste und unbewusste religiöse Uberzeugungen etc.) im praktischen Alltag, d. h. im Beruf und Privatleben zu gewichten und zu helfen, diese umzusetzen. Die ethischen Prinzipien sollten sich als Imperative in der Lebenspraxis „vernünftig" und „gut" erweisen. In unserem Fall sprechen die Erfahrungen der Patientin und ihrer Tochter mit den behandelnden Ärzten (Psychiatern), den Seelsorgern und den Priestern dafür, nach anderen Lösungswegen als bisher zu suchen. Dabei wären weitere krankmachende Faktoren auszuschließen. Das bedeutet dann konkret die „Behandlung" in Form des exorzistischen Gebetes im Heimatland. Dieser „Lösungsweg" ist zum Teil in dem Sinn „mittelalterlich", als er die Menschen gewöhnlich nicht auf einen autonomen und selbstverantwortlichen Weg führt, sondern sie eher unreif und infantil erhält.23 Trotzdem ist - angesichts der Persönlichkeit, des geistig-seelischen Reifezustandes und der augenblicklichen „Krankheit" (vgl. Diagnosen s. o.) - diese (vorläufige) Lösung anzuraten, weil dadurch höchstwahrscheinlich der akute (krankhafte) Zustand verbessert werden kann. Als Konsequenz der verschiedenen angeführten Aspekte ergibt sich als Rat des Seelsorgers und Nervenarztes für die Patientin, die ihr adäquate Behandlung („Gebet zur Befreiung vom Bösen") in ihrem Heimatland zu suchen.

8.22 Gründe „gegen" den Rat und „gegen" die Absicht der Patientin, zum exorzistischen Gebet nach Osteuropa zu fahren 24 Allgemeinärztliche Aspekte: Immerhin ist die Patientin elf Jahre in Deutschland und hat seit sechs Jahren einen „festen" Hausarzt, von dem sie sich aber nicht verstanden fühlt. Mit der Tochter geht sie - seit deren Geburt - zu einem Kinderarzt. Zu diesem hat sie Vertrauen; er 23 Dieser Aspekt dürfte auch im Hinblick auf eine Erziehung zur Demokratie auszuweiten sein. Die Suche nach einer gemeinsamen kulturellen und ethischen „Sprache" dürfte ein wichtiger Faktor für das Zusammenwachsen der europäischen Völker sein: „Wandelt E u c h durch ein neues Denken!" 24 Hier folgt d. Vf. L. Honnefelder und seinem Schema der ethischen Urteilsbildung: Honnefelder, 1994, S. 186: „Geben Sie die ethischen Gründe an, die gegen Ihre E n t scheidung sprechen!"

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hat aber keine Zeit für ihre Probleme - wie die Patientin selbst einsieht. - Mit „blöden" deutschen Arzthelferinnen in beiden Praxen hat sie schon etliche Differenzen gehabt. - Durch ihr festes Arbeitsverhältnis als Kellnerin ist sie mit ihrer Tochter in einer Betriebskrankenkasse versichert. Sie weiß aber nicht, ob die BKK in Osteuropa - auf entsprechende Anforderungen hin - Leistungen für eventuelle Krankheiten übernehmen würde. Psychiatrische Aspekte·. Was eine psychiatrische bzw. psychagogische Begleitung durch einen deutschen Psychiater angeht, so könnte man eigentlich von der Patientin erwarten, dass sie in der Lage wäre, sich - nach entsprechenden Erprobungen - auf die Gegebenheiten einer deutschen Nervenarztpraxis einzustellen. Schließlich hat sie ihren Wohnsitz in Deutschland und passt sich im übrigen - ganz selbstverständlich - an deutsche Verhältnisse an (Wohnverhältnisse, Autoverkehr, Konsum, Leistungen der Kommunen etc.). Andere Migrantinnen bzw. Nichtsesshafte kommen auch mehr oder weniger gut mit deutschen psychologischen und psychiatrischen Leistungsanbietern zurecht. Daher wäre es nur schwer einzusehen, wenn die Patientin unbedingt eine Betreuung durch einen Psychiater bzw. einen psychologischen Therapeuten in ihrem Heimatland erwarten wollte. Kulturelle und ethnische Aspekte: Auch wenn sich die Patientin vor allem was Kindergarten- und Schulsystem, Konsum und sozialstaatliche Versorgung angeht - an deutsche Verhältnisse gewöhnt hat, ist sie kulturell und ethnisch kaum integriert. Allerdings könnte sie, um diese Defizite auszugleichen, sich mehr den spezifisch osteuropäischkulturellen Angeboten (etwa des Generalkonsulates bzw. der privaten und freien Organisationen von Exilantlnnen) widmen. Freilich ist die Patientin, als alleinerziehende und in Vollzeit arbeitende Frau, für diese Initiativen zeitlich und psychophysisch sehr eingeschränkt. Ethische Aspekte: Hier ist wichtig, welche Beziehung die 10-jährige Tochter - auf längere Sicht - zu ihrem leiblichen Vater haben will. Derzeit lehnt sie Besuche ab, weil sie mit der neuen Ehefrau und deren Kind nicht zurecht kommt und ihrer Mutter nicht weh tun will; doch oft hält diese Ablehnung über die Adoleszenz hinaus nicht an. Gegen die Entscheidung, häufiger nach Osteuropa zu fahren, ist das ambivalente Verhältnis zwischen Mutter und Tochter anzuführen: So gibt zwar die Mutter zu Hause den „Ton an", aber das Mädchen beherrscht besser die deutsche Sprache und muss in dieser Hinsicht der Mutter oft helfen. - Ein lOjähriges Mädchen, das gerade auf eine höhere Schule gewechselt hat, wochenweise allein zu lassen, wäre - in vielerlei

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Hinsicht - fragwürdig bzw. sogar schwierig auf Dauer zu verantworten. Moraltheologische und spirituelle Aspekte: Eine nervenärztliche Betreuung, welche auch die religiös-bewussten und religiös-unbewussten Uberzeugungen und inneren geistlichen Regungen der Patientin ernst nimmt, zusammen mit einer religiös-spirituellen Begleitung durch einen in der Seelsorge bei Migrantinnen erfahrenen Priester könnte eigentlich eine ausreichende nervenärztlich-psychagogische und spirituell-seelsorgliche „Versorgung" gewährleisten. Dann wären häufigere Reisen nach Osteuropa (zum Befreiungsgebet bzw. zum Exorzismus) nicht erforderlich. Pastoralmedizinische Aspekte: Durch eine - in enger Absprache zwischen Nervenarzt und Seelsorger umfassende - „Therapie" (Begleitung) sollte es eigentlich möglich sein, kostenaufwendige Reisen sowie für Mutter und Tochter massive psychophysisch-überfordernde Anstrengungen zu vermeiden. Die entsprechenden Konsilien und Kooperationen zwischen den „Fachvertretern" sollten in Deutschland eigentlich gefunden werden können. Das würde allerdings für alle Beteiligten ein hohes Maß an praktischer Empathie, Toleranz, Engagement und vor allem vermehrten Zeit- und Kraftaufwand erfordern. Als Konsequenz der sechs angeführten Aspekte - gegen Reisen zur Therapie nach Osteuropa - ist eine psychotherapeutische, pharmakotherapeutische und seelsorgliche Betreuung zwar möglich, bedarf aber einer besonderen Kooperationsfähigkeit und -Willigkeit der betroffenen und beteiligten „Helferinnen".

8.23 Letztlich entscheidende Gründe „für" zeitweilige Fahrten nach Osteuropa zum Befreiungsgebet vom Bösen25 Da die eben genannten Erfordernisse de facto nicht erfüllt sind, geben die pastoralmedizinischen Aspekte und die individuellen geistlich-spirituellen Zusammenhänge den Ausschlag für Rat und praktische Unterstützung des Befreiungsgebetes mit entsprechenden Fahrten nach Osteuropa. Im Vordergrund aller therapeutischer Maßnahmen steht die akute Notwendigkeit, die starken und diversen Ängste zu mindern und einen 25 Hier folgt d. Vf. L. Honnefelder und seinem Schema der ethischen Urteilsbildung: Honnefelder, 1994, S. 186: „Welche Gründe können Sie den Gegengründen entgegenhalten?"

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regelmäßigen Schlafrhythmus zu erreichen. Mit nervenärztlichen und seelsorglichen Mitteln in Deutschland waren bisher diese Behandlungsziele nicht zu erreichen. Angesichts der akuten psychovegetativen Symptomatik und der besonderen seelisch-spirituellen und psychophysischen Situation ist derzeit nur im Heimatland an eine Besserung der Symptomatik zu denken und - nach Wahrscheinlichkeitskriterien erreichbar. Die in den ersten zehn Lebensjahren erworbenen seelischen und psychophysischen Ressourcen sollten durch eine religiös-spirituelle Aktivierung im Heimatland mobilisiert werden. Ferner dürften die kulturell-religiösen Umstände (ζ. B. sprachliche und religiöse Ausstrahlung von Menschen und Räumen) „heilende" Wirkungen haben.

9. Bisheriger Verlauf der „therapeutischen" Maßnahmen Nach zwei vergeblichen Exorzismusversuchen 26 erfuhr die Patientin in Osteuropa fünfmal (innerhalb eines halben Jahres) den Großen Exorzismus. Jeweils vorher wurde sie zum Empfang des Bußsakramentes angeleitet (fremder Beichtvater). Während des vier Tage lang dauernden Befreiungsgebetes (zwei Stunden pro Tag Gebet mit dem Exorzisten) wurde die Patientin Tag und Nacht von einer Ordensschwester betreut. Sie betete regelmäßig mit der Schwester und schlief mit ihr in einem Zimmer. Während der Fahrten nach Osteuropa wurde die zehnjährige Tochter von einer Freundin der Mutter betreut bzw. sie übernachtete bei Schulfreundinnen. Nach Deutschland zurückgekehrt, war die Patientin bei jedem Mal zunächst ruhiger, ausgeglichener und konnte deutsche und polnische Gottesdienste besuchen. Mit zunehmender Belastung durch Kindererziehung und Berufsleben (als Kellnerin und Putzfrau) wurde sie wieder unruhiger, ängstlicher und aggressiver - besonders gegen deutsche kirchliche Verhältnisse. Nächtliche Agitiertheit und Schlaflosigkeit stellten sich wieder ein. Das aktuelle psychopathologische Zustandsbild ist durch Übellaunigkeit, Aggressionen gegen kirchliche Institutionen und Entwertung von Seelsorgern und Therapeuten gekennzeichnet. 26 Angeblich wurden von den beteiligten Geistlichen Distanzregeln verletzt.

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10. „Was kommt heraus?" (I. Kant 27 ) oder: „Wer auf Dauer und im Ganzen heilt, hat Recht!" Die „therapeutischen" Fahrten der Patientin nach Osteuropa zum sog. Großen Exorzismus können nur einleitende Schritte (eine Art „Initialzündung") auf dem Weg einer umfassenderen, die Autonomie der Patientin wahrenden „Therapie" sein. Dazu sind Empathie, Toleranz, „Kollegialität", Konsequenz, Kooperationsfähigkeit und -Willigkeit bei Patientin, Kind und allen beteiligten „Helferinnen" gefragt. Das bedeutet für alle Beteiligten, dass schwierige und umfassende kulturellspirituelle Integrationsaufgaben zu bewältigen sind.

27 Vgl. A n m . l .

Über vermeintlich aussichtslose Fälle. Gedanken zur Sterbepraxis W I L H E L M VOSSENKUHL

Die Statistiken, die Auskunft über die Sterbepraxis in einigen Ländern Europas geben, verzeichnen seit mehr als einem Jahrzehnt eine zunehmende Zahl von aktiv und passiv geleisteter Sterbehilfe. Immer mehr Patientinnen und Patienten bitten um den Tod, der ihre Leiden abkürzen soll. Sie haben nicht nur den Wunsch, sondern auch einen wohlbegründeten Anspruch darauf, in Würde zu sterben. Nicht immer ist allerdings klar, ob dieser Wunsch richtig verstanden wird. Der Wunsch möglichst schmerzfrei zu sein, kann ζ. B. leicht mit dem Wunsch, das Leiden abzukürzen, verwechselt werden. Das, was anderen als unerträglich oder menschenunwürdig erscheint, müssen die Betroffenen selbst nicht notwendig so wahrnehmen, wenn ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt wird. Es muss uns mit Sorge erfüllen, dass offenbar aus Erwägungen darüber, was menschenwürdig und zuträglich ist, immer mehr Patientinnen und Patienten getötet werden, die nicht um den Tod baten und auch nie Auskunft darüber gaben, ob sie Sterbehilfe beanspruchen wollten. Die Statistiken verzeichnen diese Fälle als ,Tötungen ohne Verlangen'. Mir geht es in diesem kurzen Beitrag zu einem Band, der Friedo Ricken ehren und an seine Verdienste als Philosoph, Hochschullehrer und Ethiker erinnern soll, nun aber nicht darum, ob jene Praxis und die Sterbehilfe als solche ethisch gerechtfertigt sind. Ich will lediglich der Frage nachgehen, ob der Tod allgemein und in jedem einzelnen Fall die Dringlichkeit hat, die er für unheilbar Kranke aus der Perspektive der anderen Menschen zu haben scheint. Diese Frage beantwortet sich nur scheinbar von selbst, weil es den Gesunden so scheint, als ob den aussichtslos Leidenden geholfen würde, wenn ihre Tage, Wochen und Monate am Ende ihres Lebens abgekürzt und nicht verlängert würden. Es erscheint vielen, vielleicht sogar allen Menschen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen so, dass Lebensverlängerung um ihrer selbst willen unsin-

Über vermeintlich aussichtslose Fälle. Gedanken zur Sterbepraxis

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nig und unwürdig ist. Gleichzeitig weiß aber niemand mit Gewissheit, wann für andere, die keine Aussicht auf Genesung mehr haben, der richtige Zeitpunkt für den Tod gekommen ist. Die Erfahrung mit besonders aussichtslos erscheinenden Krankheitsfällen, auf die ich zurückgreifen werde, lehrt, dass die Abkürzung des Lebens keineswegs zwingend oder die einzig verbleibende Option sein muss. Es ist offenbar die Isolation und der Mangel an Kommunikation, unter denen die Schwerkranken und Sterbenden ganz besonders leiden. Isolation und mangelnde Kommunikation sind zwar keine Krankheiten, sie machen das Leben von Kranken aber ebenso unerträglich wie das von Gesunden. Deswegen plädiere ich in diesem Beitrag für die Pflicht zu kommunizieren und sich anderen zuzuwenden, seien sie krank oder gesund.

1. „Niemand ist eine Insel" In seiner XVII. Meditation in Gedichtform stimmt der englische Kleriker und Dichter John Donne eine humanistische Hymne an: niemand sei eine Insel, die Menschheit stamme von einem einzigen Autor, und der habe alles in einem einzigen Band geschrieben. Jeder Mensch sei mit der ganzen Menschheit verbunden. Wenn dem einen die Totenglocke läute, wisse der andere, dass auch er sterben müsse. Wenn jemand sterbe, gehe jedem Lebenden etwas verloren. Es verwundert, dass im 17. Jahrhundert, während noch immer Katholiken in England von Anglikanern verfolgt und allein aufgrund ihrer Treue zur römischen Kirche wegen Hochverrats hingerichtet werden, ein Mann der anglikanischen Hierarchie den Gemeinplatz, dass niemand eine Insel sei, in fromm und humanistisch klingende Verse kleiden konnte, gerade so, als herrsche Friede und Toleranz. Wenn man dazu bedenkt, dass John Donne selbst ursprünglich Katholik war und dann loyaler Anglikaner in bischöflichen Diensten wurde, bekommt die Inselmetapher einen gewissen Hintersinn. Dann stört es auch nicht, dass vor wenigen Jahrzehnten Johannes Mario Simmel einen seiner zahlreichen Romane, in dem es auch ziemlich zugeht und schwer menschelt, mit „Niemand ist eine Insel" betitelte. Simmel hat ganz offensichtlich den kitschigen Klang dieses Titels zu schätzen gewusst. Dass niemand eine Insel sei, ist ein schöner Gedanke, aber ohne Zweifel auch ein kitschiges Sprachbild, das man kaum ernst nehmen kann. Den intersubjektiven Kern dieses Gedankens kann man allerdings sozialwissenschaftlich und sozialpsychologisch bestätigen. Niemand

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wird den Gedanken bezweifeln wollen, nicht einmal diejenigen, die einen methodologischen Solipsismus vertreten. Denn auch der Gewinn maximierende Akteur im globalen Wettbewerb braucht die anderen, um etwas gewinnen zu können. Wo soll er seine Gewinne sonst hernehmen, wenn nicht von den anderen? Deswegen benötigt die Behauptung, dass niemand eine Insel sei, keine besondere Begründung. Es ist einfach so. Zu denken gibt einem die Zeile von John Donne nicht, weil sie schwer zu begründen wäre, sondern weil sie im menschlichen Leben offenbar nicht immer gilt. Immer mehr Menschen werden so behandelt, als seien sie Inseln, weil sie in sich eingeschlossen sind und sich z.B. nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen können. Die Neurowissenschaftler sprechen vom Locked-In-Syndrom. Wer nicht mehr kommunizieren kann, weil er gelähmt ist, erscheint in unseren Augen durchaus wie eine unerreichbare Insel. Ähnlich verhält es sich mit Schwerkranken, die ihr Bewusstsein verloren und im Koma liegen. Wir neigen dann dazu, mit solchen Menschen Mitleid zu haben, ihr Leiden für unerträglich und ihren Tod für ein Erlösung zu halten. Dies sind keine Vermutungen. Schon im Jahre 1990 wurden in Holland - wie der Remmelink-Report1 angibt - 1000 und im Jahre 19952 900 Patienten ohne ausdrückliches Verlangen getötet. Diese aktive Sterbehilfe ohne Verlangen wurde von den befragten Ärzten unterschiedlich begründet. Die meisten ( 6 7 % ) sagten, jede medizinische Maßnahme sei aussichtslos geworden. Fast die Hälfte ( 4 4 % ) meinte, es habe keine Aussicht auf Besserung gegeben. Einige (38 % ) beriefen sich darauf, dass die nächsten Angehörigen es nicht mehr ertragen konnten. Über ein Drittel der Ärzte ( 3 6 % ) rechtfertigten schließlich das Töten ohne Verlangen mit der „geringen Lebensqualität" der Patienten.3 Nach deutschem Recht ist diese Art aktiver Sterbehilfe nicht erlaubt. Es geht nun aber nicht darum, diese Praxis anzuprangern oder gar Verständnis dafür zu zeigen. Man kann nur froh sein, dass diese Art aktiver Sterbehilfe hierzulande weder vom Gesetz erlaubt noch von irgendjemandem ernsthaft gefordert wird. Was die Zahlen und die Begründungen der holländischen Ärzte dokumentieren sollen, ist die Behandlung von Menschen als Inseln, die 1 Gordijn, 1997, Euthanasie in den Niederlanden - eine kritische Betrachtung. Berliner Medizinethische Schriften, Heft 19, Fn. 1. 2 N a c h Angaben von van der Wal und van den Maas, in: Gordijn, 1997, und F. S. Oduncu, W. Eisenmenger, 2002, Euthanasie - Sterbehilfe - Sterbehegleitung. Eine kritische Bestandsaufnahme im internationalen Vergleich, in: MedR, S. 3 2 7 - 3 3 7 . 3 Angaben nach Oduncu/Eisenmenger, 2002, S. 328.

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unerreichbar wurden und aufgegeben werden. Dass die Tötungen ohne Verlangen vorgenommen wurden, widerspricht zwar einerseits der Patientenautonomie, entspricht aber andererseits der Tatsache, dass diese Patienten ihren Willen nicht mehr äußern konnten. Wir würden hierzulande erwarten, dass in solchen Fällen, in denen Patienten ihren Willen nicht mehr äußern können, nur dann Sterbehilfe geleistet werden darf, wenn eine Patientenverfügung vorliegt. Solche Verfügungen sind in unserer Rechtsprechung inzwischen höchstrichterlich anerkannt und können von Ärzten als verbindlich angenommen werden. Sie regeln, wie die Sterbehilfe zu leisten ist, wenn der Patient sich nicht mehr selbst äußern kann. Töten ohne Verlangen, aktive Sterbehilfe ohne ausdrücklichen Wunsch der Patienten legt nahe, dass wir die Zeile, dass niemand eine Insel sei, nicht mehr nur als kitschig klingenden Gemeinplatz hören. Offenbar sollten wir die Zeile John Donnes weniger als Behauptung, sondern vielmehr als verbindliches Gebot verstehen lernen. Niemand sollte in der Tat als unerreichbare Insel behandelt werden, wenn es um Leben und Tod geht. Einen Anlass über den Wandel der unstrittig erscheinenden Behauptung, dass niemand eine Insel sei, zu einem ernsthaften Gebot, niemanden so zu behandeln, als sei er eine Insel, nachzudenken, geben nicht nur die eben erwähnten Tötungen ohne Verlangen. Bei ihnen wissen wir nichts weiter über die genauen Umstände der Schwerkranken und der ärztlichen Entscheidungen. Vielleicht hatten jene Arzte nach ihrem eigenen Urteil keine andere Wahl als anzunehmen, dass ihre Patienten unerreichbare, verschlossene Inseln waren. Natürlich kann man dann immer noch darüber streiten, ob das Töten ohne Verlangen die einzig denkbare Option in all den vielen Fällen war. Wir sollten aber nicht spekulieren und keine Mutmaßungen über Gründe für Töten ohne Verlangen anstellen.

2. Vermeintlich unzugängliche Patienten Wir müssen auch nicht über solche Gründe mutmaßen, weil es wissenschaftliche Fakten gibt, die uns über die Frage belehren, wie es mit Patienten steht, die scheinbar unerreichbare Inseln sind. Es sind die Erfahrungen und Forschungsergebnisse eines Neurowissenschaftlers mit dem Locked-In-Syndrom. Der Tübinger Neuropsychologe Niels Birbaumer behandelt und untersucht seit vielen Jahren Patienten, die an A.L.S., an amyotrophischer Lateralsklerose leiden. 1995 erhielt er für

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diese Forschungen einen Leibniz-Preis der D F G , und im Januar des Jahres 2003 widmete ihm die Zeitschrift The New Yorker4 einen großen Artikel. Es bedarf also keiner besonderen Mühe, Birbaumers Arbeiten zu kennen. Besser bekannt ist A.L.S., diese unheimliche und unheilbare Krankheit unter dem Namen Lou-Gehrig-Syndrom, benannt nach dem amerikanischen Baseballer gleichen Namens, mit dessen Tod im Jahre 1941 - er war erst 38 Jahre alt - diese Krankheit bekannt wurde. Aufmerksamen Lesern des Sportteils einer überregionalen süddeutschen Zeitung5 ist in jüngster Zeit vielleicht eine Notiz aufgefallen, in der davon die Rede ist, dass der italienische Anti-Doping-Staatsanwalt Raffaele Guariniello einem Dopingskandal auf der Spur ist. Auffallend viele Fußballer von fünf Fußballklubs auf dem Apennin, aber auch von anderen Clubs in Italien sind Opfer des Lou-Gehrig-Syndroms geworden. Man vermutet, dass diese Krankheit die Spätfolge eines Dopingmittels ist, das offenbar Fußballern verabreicht wurde. Immerhin zählt Guariniello zwischen 1960 und 1997 420 merkwürdige Todesfälle unter Profisportlern, 45 von ihnen seien Opfer von A.L.S. Der weltweit bekannteste Patient, der am Lou-Gehrig-Syndrom leidet, ist übrigens der Cambridger Physiker Stephen Hawking. Zumindest bei ihm handelt es sich wohl nicht um die Spätfolge eines Dopingmittels. A.L.S. ist eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems. Sie führt zu Muskelschwund und am Ende zu völliger Lähmung. Die Patienten können dann nicht mehr durch Sprache und Bewegungen kommunizieren, haben aber, wie Niels Birbaumer betont und durch seine Forschungen nachweist, ein mentales Leben. Sie haben Gedanken und Empfindungen, und Birbaumer ist überzeugt, dass es möglich ist, mit ihnen zu kommunizieren. Er glaubt es nicht nur, sondern hat dafür auch den Nachweis erbracht. Seit Jahren arbeitet er an Brain-Computer-Interface (B.C.I.) Systemen, also an Systemen, welche die Hirntätigkeit von Patienten auf Computerbildschirmen visualisierbar macht.6 Der Weg, den Birbaumer verfolgt, klingt wie Magie. Er will die mentale Tätigkeit des menschlichen Gehirns ohne den Einsatz der Sprachwerkzeuge und des Bewegungsapparats erkennbar machen. Dazu wählt er den am wenigsten invasiven Weg. Elektroden werden am Schädel fest4 Ian Parker, 2003, Reading Minds, If a person cannot move, talk, or even blink, is it possible to communicate with his brain?, The N e w Yorker 20, S. 5 2 - 6 3 . 5 Süddeutsche Zeitung Nr. 113 (17./18. Mai 2003), S.41 (Mysteriöse Sterbefälle). 6 Ν . Birbaumer, Ν . Ghanayim e. a., 1999, A Spelling Device for the Paralysed, in: Nature, S. 398, 297f. Und: C . Braun, Ν . Birbaumer, The Thought-Translation Device, in: H . Cohen, B. Stemmer (Eds), Fragments of the Mind and Brain, Marquette, MI.

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gemacht und die Signale, die sie von der Hirntätigkeit aufnehmen, werden ausgewertet und auf einem Bildschirm sichtbar gemacht. Die Patienten wissen von Anfang an, was mit ihnen geschieht. Sie arbeiten bewusst mit und üben die Gedanken, mit denen sie die Bewegung der Signale auf dem Bildschirm beeinflussen können. Birbaumer nennt die Technologie, die er entwickelt hat, Thought Translation Device (T.T.D.), also Gedanken-Übersetzungs-Mittel. Er entwickelte diese Technologie seit seiner Dissertation, in der er sich schon mit den „slow cortical potentials" (S.C.P.) beschäftigte. Diese langsamen kortikalen Potentiale sind Signale, die in der Regel für Millisekunden auftreten, aber alle Arten menschlicher Aktivitäten begleiten. Sie treten ganz unspezifisch mit Bewegungen, aber auch mit Gefühlen auf, sind also nicht bestimmten Bewegungen oder Gefühlen zugeordnet. Deswegen sind diese Signale als ein allgemeiner Ausdruck der Tätigkeit des Gehirns zu verstehen. Ein Lieblingsbuch Birbaumers ist Dalton Trumbos Roman Johnny Got His Gun aus dem Jahre 1938. Trumbo schrieb den Roman als Kriegsopfer. Er hatte seine Beine, seine Arme und sein Gesicht verloren, war blind und taubstumm, konnte aber durch das Nicken seines Kopfes morsen und auf diesem Weg kommunizieren. Trumbos Buch vermittelte Birbaumer die Gewissheit, dass auch Menschen mit so schweren Schädigungen ein mentales Leben haben. Ein anderes Beispiel für Birbaumer ist der französische Journalist Jean-Dominique Bauby, der unmittelbar vor seinem Tod im Jahre 1997 das Buch Die

Taucherglocke und der Schmetterling

(The Diving Bell and the Butter-

fly) veröffentlicht hatte. Bauby litt nach einem Schlaganfall 1995 am Locked-In-Syndrom. Er konnte nur noch sein linkes Augenlid bewegen. Bauby schildert, wie er eines Tages aufwachte, während ihm ein Arzt sein rechtes Augenlid mit Nadel und Faden zunähte. Er habe schon sanftere Arten des Aufwachens erlebt, schreibt Bauby. Dann schildert er die Methode, mit der er lernte, mit der Bewegung seines linken Augenlids das Alphabet zu benutzen, auf diese Weise zu kommunizieren und schließlich sein Buch zu schreiben. Es geht hier nicht um dieses Buch oder das von Trumbo, sondern um die ethischen Folgerungen, die sich aus Birbaumers Forschungen ergeben. Niemand, der noch am Leben ist, sollte als unzugängliche Insel oder als unwiederbringlich verschlossen gelten. Das ist das eine; das andere ist, dass Birbaumer als ethische Quintessenz seiner Arbeit die Einsicht betrachtet, dass die Lebensqualität von Menschen, die an dem Locked-In-Syndrom und A.L.S. leiden, von ihnen selbst genau dann

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nicht als unerträglich eingeschätzt wird, wenn sie kommunizieren können. Auch außerordentlich reduzierte Kommunikation in Form einer Schnittstelle zwischen Hirn und Computer (B.C.I.) scheint das Leben jener schwerstgeschädigten Patienten nach ihrer eigenen Einschätzung lebenswert zu machen. Sie selbst teilen dies - nach einem langen Lernprozess einer schwierigen Kommunikation - nicht nur mit, sondern wollen von der Möglichkeit, ihren Zustand durch Sterbehilfe zu beenden, nichts wissen. Birbaumer wandelte sich unter dieser Erfahrung vom Befürworter zum Gegner der Euthanasie. Er würde aber keinem seiner Patienten den Wunsch zu sterben ausreden wollen. Keiner seiner Patienten hat bisher diesen Wunsch geäußert. Dies sagt mehr als jedes theoretische Argument gegen aktive Euthanasie.

3. Ein kommunikativer Imperativ Die Tatsache, dass Birbaumers Patienten ihr Leben schätzen, gibt uns zu denken. Wenn es die Kommunikation mit anderen Menschen und sei es nur über einen Computer auf reduziertestem Niveau ist, die Menschen ihr Leben lebenswert macht, sollte es wohl einen kommunikativen Imperativ geben, eine Verpflichtung, auch dann mit Menschen zu kommunizieren, wenn sie unerreichbar, unansprechbar und unzugänglich zu sein scheinen. „Kommuniziere!" kann dieser Imperativ heißen, und zwar mit und ohne Worte, oder auch „Behandle jede Person wie einen Lebenden und nicht wie einen Toten!". Denn wenn wir andere Menschen - besonders natürlich Schwerkranke - schon wie Tote behandeln, ist es nicht weit zur Tötung. Der Imperativ gilt aber nicht nur für unsere Haltung Schwerkranken gegenüber. Wen immer wir wie einen Toten behandeln, wird sich erbärmlich fühlen, unabhängig davon, ob er gesund oder krank ist. Die Qualität seines Lebens wird sehr schlecht sein, egal wie nahe oder fern er dem Tod ist. Mit diesem Gedanken wendet sich unser Blick von Patienten, die unter dem Locked-In-Syndrom leiden, zu all denen, die ebenfalls schwerkrank sind, aber den Wunsch haben, zu sterben. Es wäre sicher kurzschlüssig zu behaupten, dass es ihnen lediglich an Kommunikation und Zuwendung mangelt und sie ansonsten gerne so lange wie möglich leben wollten. Ganz und gar nicht übereilt ist es aber, davon auszugehen, dass diese Patienten ein Bedürfnis nach Kommunikation haben. Es sollte deswegen zumindest bei jedem einzelnen Patienten geprüft werden, ob er unter einem Mangel an Zuwendung leidet, bevor ihm gehol-

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fen wird, seinen Sterbewunsch zu erfüllen. Die Zahlen der Tötungen ohne Verlangen, die ich anfangs erwähnte, sprechen eher dafür, dass diese Prüfung nicht stattfindet. Die Eile, Schwerkranke zu töten, bevor ihnen Zuwendung geschenkt wird, befremdet. Wir sollten uns nun vom Gedanken an Schwerkranke und deren Lebensqualität lösen, um ein wenig über den eben vorgeschlagenen Imperativ nachzudenken. In gewisser Weise müssen wir uns sogar aus der Umklammerung durch den Gedanken an Schwerkranke und Sterbende befreien, um die Wirkungsweise jenes Imperativs zu verstehen. Der kommunikative Imperativ wird nämlich gegenüber Schwerkranken kaum wirksam werden können, wenn er nicht Teil des normalen Verhaltens ist. Es ist zu spät, wenn wir erst im Angesicht derer, die das Ende ihres Lebens vor Augen haben, einen kommunikativen Imperativ einfordern. Zu spät ist es deshalb, weil wir ihn so rasch gar nicht erlernen, erwerben und ausüben können. Wenn wir nun aber davon ausgehen können, dass wir diesen Imperativ heute in unserer Sterbekultur vermissen, bedeutet dies nichts Gutes. Es bedeutet nämlich, dass der kommunikative Imperativ wohl auch denen nicht zugute kommt, die den Tod noch gar nicht vor Augen haben, sondern ganz gut leben könnten, wenn die anderen sich so verhalten würden, dass sie sich als Angehörige der menschlichen Gemeinschaft fühlen würden. Wenn dies so ist, werden wohl viele Menschen, die noch ein Leben vor sich haben, so behandelt, als wären sie unzugängliche Inseln oder schon tot. Wenn es solchen Menschen aus irgendwelchen Gründen schlecht geht, wird es ihnen zumindest schlechter gehen als nötig. Es wird ihnen an Zuwendung und Kommunikation mangeln. Sie werden an dieser sozialen Mangelkrankheit leiden und den Eindruck haben, dass sich niemand für sie interessiert, dass sie nicht einmal wahrgenommen werden. Wenn wir wollen, wissen wir, wer diese Menschen sind. Es sind ja gerade nicht Schwerkranke und Sterbende, vielleicht nicht einmal Arbeitslose oder Obdachlose, sondern Kollegen und Nachbarn, also Menschen von nebenan, die irgendwie den Anschluss verloren haben und nicht mehr Fuß fassen können. Das Unerklärliche, Trostlose und gleichzeitig Absurde solcher Biographien hat der russische Dichter Daniii Charms im August 1936 mitten im stalinistischen Terror in Leningrad zu Papier gebracht: Fälle Eines Tages aß O r l o w zuviel Erbsenpüree und starb. U n d Krylow, der davon hörte, starb auch. U n d Spiridonow starb von allein. U n d Spiridonows

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Frau fiel vom Büfett und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter geriet an die Flasche und wurde Landstreicherin. Und Michailow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Räude. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegraphisch vierhundert Rubel und wurde so hochnäsig, dass er aus dem Dienst flog. Alles gute Menschen, die nicht Fuß fassen können. 7

Diese kurze, absurde und gleichzeitig komische Geschichte führt uns vor Augen, dass es merkwürdig schief und unpassend wäre, mit einem abstrakten ethischen Argument Tatsachenbehauptungen über Defizite menschlichen Verhaltens und deren Folgen aufzustellen. Dafür sind schon die „Fälle" des normalen Lebens zu ernst. Andererseits kann es natürlich auch nicht darum gehen, die Defizite an Zuwendung und Kommunikation mit der Aura des Absurden und Komischen zu verniedlichen. Daniii Charms lenkt den Blick auf Tatsachen, die man nicht leicht erkennen kann, weil sie einem lediglich als komische „Fälle" vorkommen, die keinen Bezug zur wirklichen Welt haben. Eigentlich sind es lauter merkwürdige, isolierte Wesen, in gewisser Weise Inseln, die zum Rest der Welt die Beziehung verloren haben. Sie sterben oder verlieren sonst wie den Anschluss. Aus der Distanz, die Daniii Charms zur Welt jener „guten Menschen", in der nichts in Ordnung ist, aufbaut, traut man ethischen Argumenten wenig zu, wird zumindest vorsichtig. Wenn es aber doch so wäre, dass der kommunikative Imperativ am so genannten normalen Verhalten nicht ablesbar ist, könnte man daraus den Schluss ziehen, dass dieser Mangel nicht nur Folgen für Schwerkranke und Sterbende hat.

4. Ein ethisches Argument Dann hätten wir es mit einer begründeten Vermutung, mit einer ethischen Hypothese zu tun, die aus einem ethischen Argument folgt. Natürlich muss das Argument plausibel sein und für sich selbst sprechen. Das Argument ist einfach und wird den Leserinnen und Lesern Wittgensteins nicht fremd vorkommen: Regeln können im Ernstfall nur dann befolgt werden, wenn sie blind befolgt werden können. Man kann dieses Argument auch ausführlicher beschreiben: nur wenn uns ein Verhalten in Fleisch und Blut übergegangen ist, können wir es auch dann 7 Daniii Charms, 1990, Zwischenfälle,

Berlin: Verlag Volk und Welt, S. 15.

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ausüben, wenn es uns schwer fällt. Von Aristoteles wissen wir, dass ethisch gutes Verhalten habitualisiert sein muss, wenn es exzellent sein will. Der Grund ist der, dass die kognitive Komponente an diesem Verhalten, also der bewusste, durch Nachdenken gestützte Entschluss, nur im Lernprozess selbst, nicht aber, wenn es darauf ankommt, also nicht erst im Ernstfall eine entscheidende Rolle spielen darf. Wenn im Ernstfall der bewusste, abwägende, reflektierende Entschluss für die Befolgung einer Regel entscheidend wäre, käme sie nicht nur zu spät. Das Verhalten wäre schlecht, weil es ungeübt, ungelenk und damit sicher missverständlich wäre. Niemand kann nur einmal freundlich, offen und verständnisvoll sein. Niemand kann nur einmal gut handeln. Gutes Handeln will geübt sein. Es geht hier nur um das alltägliche Verhalten, das Regeln folgt, nicht um jedes ethisch relevante Verhalten, schon gar nicht um längerfristige Entscheidungen, die natürlich Ergebnis des Nachdenkens und Abwägens sein und nicht blind erfolgen sollten. Sich anderen Menschen zuzuwenden, mit ihnen zu kommunizieren, unabhängig von ihrem Aussehen, ihrem Zustand, Geschlecht und Alter, muss immer leicht fallen können, wenn man es auch dann können will, wenn es einem schwer fällt. In diesem Sinn muss dieses Verhalten in Fleisch und Blut übergegangen sein. Regeln können aber nur blind befolgt werden, wenn sie hinreichend lange und intensiv erlernt wurden. Wir kennen das von den Regeln der Grammatik und der Mathematik. Am besten können wir solchen Regeln folgen, wenn wir sie befolgen können, ohne es zu wissen. Die wenigsten Sprecher einer Sprache können etwa sagen, welchen grammatikalischen Regeln sie gerade in ihrer eigenen Muttersprache folgten. So sollte es allgemein bei den Regeln menschlicher Kommunikation sein. Der kommunikative Imperativ sollte so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass man nicht mehr weiß, dass man ihn befolgt. Wenn wir ihn erst mühsam aus unserem Verhaltensrepertoire herauskramen müssen, kommen wir zu spät und verpassen unseren Einsatz. Wir können uns dann schlicht nicht so verhalten, dass andere den Eindruck haben, dass wir uns ihnen zuwenden und Interesse an ihnen zeigen.

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5. Sterben, das im Leben beginnt Der gedankliche Weg vom Locked-In-Syndrom zum allgemeinen sozialen Desinteresse - der Weg um den kommunikativen Imperativ herum sozusagen - mag wie ein Umweg, zumindest wie eine allzu große, zumindest aber umständliche Gedankenkurve erscheinen. Tatsächlich ist der Weg recht kurz, jedenfalls kürzer als wir denken. Denn der Rückweg dieses Gedankens beschreibt den realen Weg dessen, was im Leben tatsächlich häufig passiert, und dieser Weg ist kurz. Menschen werden auf zunächst ganz harmlos erscheinende Weise zu unzugänglichen Inseln und können sich schon bald, auch ohne schwerkrank zu werden, nur noch als Abgeschlossene fühlen und verhalten. Wir machen sie zu Abgeschlossenen, wenn wir den kommunikativen Imperativ nicht eingeübt haben und ihnen nicht helfen, sich wieder aufzuschließen. Niemand, der einmal verschlossen war, kann sich allein daraus befreien. Bei den Menschen mit dem Locked-In-Syndrom fällt uns das auf, bei den anderen, die sich so bewegen und geben, als wäre alles in Ordnung, fällt uns das nicht so leicht auf. Diese Hinweise sollten die allgemeine Verunsicherung nun aber nicht vergrößern. Häufig haben wir, wenn wir Mitmenschen begegnen, den Eindruck, es handle sich um komische Fälle, zumindest um kommunikativ aussichtslose Fälle. Dann sollten wir zunächst besonders vorsichtig sein mit den ersten Schritten bei der Einübung des kommunikativen Imperativs. Wir sollten uns diese Chance, uns den Imperativ zur Regel zu machen, aber auf keinen Fall versäumen. Sonst verpassen wir vielleicht die Gelegenheit, jemals zu lernen, wie wir Menschen, die aufgrund ihrer Isolation der Gefahr ausgesetzt sind, verfrüht und zu Unzeit zu sterben, helfen können. Ihr Sterben beginnt mitten in ihrem normal erscheinenden Leben neben dem unseren. Wir bemerken dies nicht, weil wir unser Leben nicht mit ihnen führen. Am Ende macht uns der Mangel an Aufmerksamkeit für diese Menschen selbst zu einer Art aussichtsloser Fälle, obwohl wir im Unterschied zu den Menschen, die Daniii Charms beschrieb, längst erfolgreich Fuß gefasst haben.

3. Teil: Abwägende Vernunft im Kontext von Religion

Die Rolle der Überlegung in der existenziellen Entscheidung. Ein philosophischer Blick auf die Wahlregeln des hl. Ignatius von Loyola GERD HAEFFNER

Für das Abwägen verschiedener Handlungsmöglichkeiten gegeneinander ist Vernunft nötig. Zunächst drängen verschiedene Handlungsmöglichkeiten einfach an und drängen sich auf. Sie drängen, indem sie sich abwechselnd nach vorne drängen, bis der Wille einer von ihnen erliegt, oder indem sie gleichzeitig auftreten und dadurch den Willen blockieren. Um ihr Gewicht erwägen und gegenseitig abwägen zu können, muss sich erst eine Art von Waage, d. h. eine Instanz des Abwägens in der Seele bilden: das vernünftig urteilende Ich muss sich selbst erst setzen und seine Möglichkeiten, bildlich gesprochen, unter und vor sich bringen. Nur so gibt es eine Präsentation der Handlungsmöglichkeiten in Distanz und dadurch in einer Gleichzeitigkeit, die den Willen nicht verwirrt, sondern ihm seine Freiheit lässt bzw. diese erst ins Spiel bringt. Zu einer solchen Instanz kommt es, wenn sich der Wille mindestens formal der Vernunft unterwirft, d. h. dem Verfahren, in dem Handlungsalternativen auf objektive Gründe und praktische Grundsätze hin durchsichtig gemacht werden. Das ist die Idee einer Entscheidung, die auf einer vernünftigen Abwägung gründet. Es ist eine leuchtende Idee und ein hohes Ideal. Die Frage ist freilich, wie viele unserer Entscheidungen faktisch diesem Muster folgen. Hier ist es vernünftig, aus den Beobachtungen seiner selbst und der Analyse der anderen die Lage eher skeptisch einzuschätzen. Ich denke dabei gar nicht in erster Linie an die Tatsache, dass das Leben meistens in den festgelegten Bahnen der sozialen Üblichkeiten und Regeln sowie der individuellen Gewohnheiten fast automatisch verläuft, dass für eine Entscheidung gar kein Bedarf entsteht. Viel wichtiger ist, dass, auch wenn mit der Frage „Was soll ich (denn nun) tun?"

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ein solcher Bedarf aufbricht, noch gar nicht gesichert ist, dass die Lösung durch eine rationale Überlegung zustande kommt und kommen kann. So stellt sich die Aufgabe, die Bedingungen zu erkennen und zu sichern, unter denen allererst eine Lösung möglich wird, die den Namen einer rationalen Entscheidung verdient. Eine Wesenskomponente der Rationalität ist ein hinreichendes Maß an Durchsichtigkeit. Relativ durchsichtig ist ein Abwägen dann, wenn es gelingt, verschiedene Mittel (Wege) zu bewerten unter der Fragestellung, inwiefern sie ein Ziel zu befördern fähig sind, das uns bzw. mir schon als anzustrebendes feststeht. Und, wenn es, wie meistens, mehrere mögliche Wege zum Ziel gibt, werden die Verhältnisse noch durchsichtiger, wenn die Relation der Mittel zum Ziel so vorbestimmt ist, dass jene untereinander in eine eindeutige Reihenfolge gebracht werden können. Freilich ist dies in der Praxis nur selten der Fall: am ehesten im Bereich der Technik, aber schon bedeutend weniger im Feld des sozialen Wissens und Handelns. Entsprechend leidet die Durchsichtigkeit. Mehr noch: Es steht ja nicht nur die abstrakte Relation von Mitteln zu einem Ziel in Frage. Vielmehr geht es immer auch um die verschiedenen „Kosten", die der Einsatz dieser und jener Mittel fordert: physische und seelische Anstrengung, finanzielle Kosten, Mühen der Einigung mit anderen. Diese Kosten und Mühen sind nicht mehr abstrakt fassbar; sie sind meine und deine; was aber dem einen mühsam ist, ist dem anderen leicht, und die Mühe, die man gestern noch gerne auf sich nahm, will oder kann man heute nicht mehr aufbringen. Auch erweist es sich oft als unmöglich, die Kosten der verschiedenen Ebenen miteinander quantitativ zu vergleichen. Und in jedem Falle kann die Betrachtung der verschiedenen Kosten dazu führen, dass ein Ziel modifiziert oder ganz aufgegeben wird. So werden mit den Mitteln auch die Ziele, die vorher festzustehen schienen, wieder zur Disposition gestellt. Wie jedoch steht es mit der Durchsichtigkeit, wenn auch das zu erreichende Ziel erst zu bestimmen ist, wenn ich nicht weiß, „was ich tun soll"? „Tun" meint hier nicht das Handeln unter einem Wollen, sondern meint dieses selbst: man weiß nicht, was man will und was des Wollens wert wäre. Es scheint, dass dem vernunftgeleiteten Uberlegen hier der Boden entzogen ist. Denn sein Medium ist das Allgemeine, wobei das Individuelle nur als Anwendungsfall, nicht aber als einmaliges faktisches „ich" in seiner Situation in Frage kommt. Und die Methode des vernunftgeleiteten Uberlegens ist die Findung des Weges zur Erreichung eines gewählten Ziels, nicht aber die Findung individueller

Die Rolle der Überlegung in der existenziellen Entscheidung

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Weisen der Selbstbestimmung. So scheint unweigerlich die zufällige Setzung an die Stelle einer Entscheidung zu treten, die in rationaler Abwägung gründet. Dass sich im Nachhinein, zum eigenen und sozialen Gebrauch, schon einige Gründe finden lassen, um diese „Entscheidung" als vernünftig oder jedenfalls nicht unvernünftig zu rechtfertigen und zu verstehen, ist eine andere Sache. Nachträgliche Rationalisierung bleibt jedoch etwas anderes als das Hervorgehen aus durchsichtigen Gründen. Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit auf diese Art von persönlichen Ziel-Entscheidungen lenken. Sie versuchen, der Problemempfindung zu entsprechen, die sich ausspricht in Fragen wie „Was soll ich eigentlich tun?" oder „Wie kann mein Leben meines werden?" oder „Was soll/will ich aus meinen Leben machen?" Was immer Anlass und konkreter Gegenstand solcher Entscheidungen sein mögen, - sie werden so gefällt, dass darin zugleich bewusst auch eine Entscheidung über die Handlungsmaximen oder gar die grundsätzliche Orientierung einer Lebensführung getroffen wird. Wichtig ist, dass das bewusst geschieht, d. h. mit Bewusstsein und Absicht. 1 Wenn das gegeben ist, dann handelt es sich um eine existenzielle Entscheidung, deren Horizont das ganze Leben oder, wie man auch sagt, das eigene Selbst selbst ist. Solche Entscheidungen haben ihre Zeit. Die Situation, in der sie nötig und möglich sind, muss heranreifen, denn das Subjekt hat sich nicht derart in der Hand, dass es über seine tieferen Einstellungen und damit über sich einfach verfügen könnte wie über einen äußeren Besitz. Die Frage ist, inwiefern zu einer solchen existenziellen Entscheidung Überlegung gehören könne. Diesem Problem soll im Folgenden etwas nachgegangen werden, und zwar im Anschluss an die klassische Anleitung zu einer existenziellen Wahl, wie sie Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbuch gegeben hat. Der Zweck, dem die „Geistlichen Übungen", die „Exerzitien", des hl. Ignatius von Loyola dienen, ist nicht in erster Linie eine Vertiefung der Frömmigkeit, sondern die Absicht, Entscheidungen zu ermöglichen, durch die das Leben fundamental in Ordnung kommt und eine feste Richtung gewinnt. Was das Thema der existenziellen Entscheidung betrifft, so findet man in den Exerzitien vor allem zwei wichtige methodische Hinweise. 1 Denn faktisch, aber ohne Bewusstsein davon, vollzieht sich in jeder Entscheidung von größerem Gewicht tendenziell, wenngleich unabsichtlich, auch eine Entscheidung über das Ganze.

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Der erste Hinweis bezieht sich auf eine Methode, die es ermöglichen soll, dass eine Entscheidung im vollen Sinn frei ist. „Freiheit" meint hier weder bloß eine minimale Willensfreiheit noch die Freiheit von äußeren Zwängen. Beides ist vorausgesetzt. Gemeint ist vielmehr eine hinreichende Freiheit gegenüber inneren Festlegungen, insofern diese das objektive Werturteil und die affektiv-willentliche Identifikationsfähigkeit mit dem erkannten Guten merklich beeinträchtigen oder gar verhindern. Gegenüber seinen Neigungen muss der Mensch, wenn er für das objektiv Gute frei sein will, für die Zeit der Entscheidung eine gewisse Indifferenz erreichen. Dass der Besitz einer solchen Selbsthabe alles andere als selbstverständlich ist und, wenn überhaupt, nur mit großer Umsicht und Anstrengung erreicht werden kann, ist klar. Andererseits ist diese Bedingung nichts Exotisches: sie ist die Vorbedingung für jede wirklich moralische Entscheidung. Der zweite Hinweis besteht in einer Methode, jenseits der Ebene der allgemeinen sittlichen Einsichten und Haltungen zu erfassen, was je meine individuelle Selbstbestimmung sein soll. Die sittlichen Prinzipien werden zwar keineswegs außer Kraft gesetzt, aber da sie in sich allgemein sind und in allgemeinen Formulierungen gelernt wurden, reichen sie nicht hin, das Individuum in seiner Einmaligkeit zu bestimmen. Diese ist ja etwas Anderes und Ursprünglicheres als die Besonderheit, die sich ergibt, wenn die allgemeinen sittlichen Bestimmungen (Gebote, Verbote, Ideale) auf ein Subjekt angewendet werden, das nur durch die Elemente der faktischen Situation individuiert wird. Diese Besonderheit ist nur ein Grenzfall der Allgemeinheit. Die Individualität einer Person aber ist etwas Ursprüngliches, Prä-Logisches. Die Frage ist dann, wie das Objekt einer ursprünglich individuellen Selbstbestimmung in den Blick kommt und wie es angeeignet wird. Diese beiden Hinweise müssen nun näher betrachtet werden. Dabei versuchen wir, von der zeitgebundenen Form und von der religiösen Prägnanz der Exerzitien in einem gewissen Maß abzusehen, um die innere Logik der Entscheidung, um die es geht, in einer philosophischen Sprache fassen zu können.

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1. Die Indifferenz Einen extremen Ausdruck hat die Haltung der Freiheit, die für eine lautere und gültige Entscheidung erfordert ist, in dem Text gefunden, den Ignatius als „Anfang und Basis" (principio y fundamiento) dem Corpus der Exerzitien vorausgestellt hat. Um eine wirklich gute und freie Entscheidung zu treffen, muss man sich zuerst darüber klar sein, was der letzte Sinn des Lebens ist, und dann sich klar machen, dass demgegenüber alle anderen Dinge nur Mittel, nicht selbst Ziel, sein können. Aus dieser theoretischen Einsicht ergibt sich logisch die praktische „Folgerung, dass der Mensch sie soweit zu gebrauchen hat, als sie ihm zu seinem Ziele hin helfen, und soweit zu lassen, als sie ihn daran hindern". Ignatius illustriert diese Einsicht mit extremen Beispielen: „ D a r u m ist es n o t w e n d i g , u n s allen e n d l i c h e n D i n g e n g e g e n ü b e r g l e i c h m ü tig ( i n d i f e r e n t e s ) z u m a c h e n , [...] d e r g e s t a l t , d a s s w i r u n s v o n u n s e r e r S e i t e G e s u n d h e i t n i c h t m e h r als K r a n k h e i t b e g e h r e n , R e i c h t u m n i c h t m e h r als A r m u t , E h r e n i c h t m e h r als E h r l o s i g k e i t [ . . . ] " . 2

Die natürliche Rangordnung der Werte ist keineswegs so. Sie ist so in unsere Psyche eingegraben, dass wir sie nicht ein für alle Mal umstürzen können. Sie wird sich immer wieder motivierend bzw. demotivierend durchsetzen. Und auch nach dem gewöhnlichen Urteilen gilt es als Torheit, Reichtum nicht der Armut und Gesundheit nicht der Krankheit vorzuziehen, und in abstracto ist das ja auch so richtig. Auf der anderen Seite aber kann die Vernunft, doch wenigstens theoretisch ein Dreifaches erkennen, was mit dem Ignatius-Text übereinstimmt: - Erstens, dass Güter wie Reichtum, Ehre und Gesundheit, auch zusammengenommen, nicht eo ipso schon ein Leben sinnvoll machen.3 2 Ex. Nr. 23. Ignatius von Loyola, 12 1999, Die Exerzitien. Übertragen von Hans U r s von Balthasar, Einsiedeln: Johannes. Ich zitiere, manchmal mit leichten Abwandlungen, aus dieser Übersetzung, mit den N u m m e r n , nach denen der Exerzitientext gegliedert ist. Der spanische Text, der als Urfassung gelten kann, findet sich ζ. B. in: Ignace de Loyola, 1986, Texte autographe des Exercices Spirituels et documents contemporains (1526-1615), presentes par fidouard Gueydan, Paris: Desclee de Brouwer. 3 Auf den ersten Blick scheint es zwar Alten wie Modernen so zu sein. Aber: wird man sagen, dass ein von Krankheit geprägtes, ein kurzes und an Mitteln armes Leben deswegen schon sinnlos sei? U n d umgekehrt: Können nicht Menschen, die alles haben, ihr Leben als sinnlos empfinden, wenn es des Warum bzw. der letzten geistig-personalen Erfüllung ermangelt?

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Zweitens, dass man in Situationen geraten kann, in denen sich die emotionale Fixierung auf ein langes, gesundes Leben oder auf Ruhm als Behinderung der besseren und nobleren, ja u . U . einzig sittlich richtigen Entscheidung erweist. Dieser mögliche Gegensatz ist ζ. B. auch vom platonischen Sokrates klar ausgesprochen worden: Wenn man gezwungen ist zu wählen, ob man ungerecht Leiden zufügt, um eigenes Leiden zu vermeiden, oder ob man, um kein Unrecht zu tun, lieber eigenes Leiden in Kauf nimmt, dann ist das Letztere zu wählen (Gorgias 469 c).

Drittens, dass jemand, der nicht nur zwischen verschiedenen Mitteln wählen kann, um diese allseits geschätzten Ziele zu erreichen, sondern darüber hinaus fähig wäre, eine gewisse Unabhängigkeit ihnen selbst gegenüber zu gewinnen, ein höheres Maß an Freiheit besäße als der gewöhnliche Mensch. Dieses Maß an Freiheit in Bezug auf unsere Selbstbestimmung haben wir zunächst einmal nicht. Aber wir können uns ein Stück davon erwerben. Eine allgemeine Ermöglichung dazu liegt eben in unserer Ausstattung mit Vernunft: man kann einsehen, dass die aufgezählten drei Punkte wahr sind, mag auch die eigene Sensibilität sich gegen diese Umwertung der Werte sträuben. Sich zu bemühen, wahre gegen „scheinbare" Güter vernünftig abzuwägen, ist dabei unumgänglich. Ignatius setzt voraus, dass derjenige Mensch, der Exerzitien machen will, sich prinzipiell für die Seite der Vernunft entscheiden möchte. So besteht der erste Schritt auf die größere Freiheit hin darin, dass man die genannten Sachverhalte sich immer wieder in ihrer inneren Vernünftigkeit vor Augen führt und in ihrer Evidenz auf sich wirken lässt, und zwar im Gegenzug gegen die Tendenz, sich davon nicht stören zu lassen und den Gedanken daran lieber wegzudrängen. Schon diese rationale Überlegung muss erkämpft werden gegen widerstrebende emotionale Einstellungen. Dies gilt noch viel mehr für den zweiten Schritt, den der konkreten Anwendung auf den Einzelnen. Hier kommt es darauf an, dass die gute Absicht wirklich handlungsbestimmend werden kann. Da in diesem Feld der emotionale Widerstand gegen die Erlangung der eigensten Freiheit und damit die Gefahr des Selbstbetrugs gar nicht überschätzt werden kann, bietet Ignatius einige Übungen an, durch die sich das Ich im konkreten Entscheidungsfall gegen jene Widerstände stärken kann, indem es der Vernunft die Unterstützung von emotionalen Triebfedern verschafft. Die im konkreten Fall ungünstigen Emotionen sollen durch günstigere, die ich auch in mir habe, besiegt werden, und dies alles im Dienst dessen, was vernünftig einsehbar

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ist. Ignatius denkt hier ähnlich wie Spinoza4: die Wirkung von herabziehenden Emotionen kann nicht direkt durch die Vernunft neutralisiert werden, sondern nur wiederum durch Emotionen, in einem Einsatz, der durch die Vernunft geleitet wird. Mittel der Ichstärkung sind bestimmte Übungen, durch die das Ich für einige Augenblicke Distanz zur seinen Wünschen und damit Freiheit gewinnen soll. Eingesetzt werden dabei die Kräfte der Phantasie und der Vernunft, in deren Wechselspiel sich der Wille begibt und so an sich arbeitet. Eine Wirkung haben solche Übungen natürlich nur, wenn sie öfter wiederholt werden. Vorausgesetzt ist dabei immer die echte Bereitschaft, sich auf ihre innere Logik einzulassen. Die eine Übung arbeitet mit dem Affekt des Wohlwollens, um den Affekt des Kleinmuts zu überwinden: Ich stelle mir einen Menschen in meiner Lage vor, dem ich das Beste wünsche, - wie würde ich hoffen, dass er sich entscheidet? Das tue ich dann selbst (Ex. 185). Die zweite Übung arbeitet mit dem Affekt der Selbstachtung, um die Affekte der Lustlosigkeit und Faulheit zu überwinden: Ich antizipiere das totalisierende Urteil, das ich im Rückblick auf mein Leben haben werde, und frage mich, ob ich mich dann besser oder schlechter fühlen werde, wenn ich jetzt meine Wahl in einem bestimmten Sinn treffe statt im gegenteiligen. Und wobei ich mich besser fühle, das tue ich (Ex. 186f). Die dritte Übung arbeitet mit dem Affekt der Furcht, um die Affekte der Feigheit und Trägheit zu überwinden: Man macht sich klar, was sich ergibt, wenn man zwar weiß, dass man eine bestimmte Sache aufgeben müsste, sich aber dauernd darum herumdrückt, den entscheidenden Schritt dazu zu tun, bis es zu spät dazu ist (Ex. 150). In einer vierten, atemberaubend mutigen Übung bietet man, um sich selbst zu überwinden, Gott an, er soll einem wirklich nehmen, wovon innerlich sich zu lösen man selbst zwar als nötig empfindet, ohne aber den rechten Willen dafür aufbringen zu können, ζ. B. die Ehre oder einen bestimmten Besitz (Ex. 157). Was wir bisher, in einer philosophisch nüchternen Sprache, das Gute oder den wahren Wert genannt haben, nennt Ignatius den „Willen Gottes". Nun ist die Einsichtigkeit der Wertbeziehungen, die im „Prinzip und Fundament" der Überlegung dargeboten werden, im Kern nicht daran gebunden, dass man schon an Gott glaubt. Welchen Sinn hat dann die Rede vom „Willen Gottes" ?5 Ich denke, dass sie sich bis zu 4 Ethik IV, 14. 5 Sie kann sogar gefährlich sein, wenn man diesen Willen als willkürliche Gehorsams-

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einem gewissen Grad philosophisch verstehen lässt, wenn man nicht in dogmatischer Weise jede Erwähnung Gottes aus dem Kontext der Handlungstheorie ausgeschlossen hat. Auf dem jetzigen Stand unserer Gedankenentwicklung lassen sich drei Gründe angeben, warum es sinnvoll oder gar nötig ist, Gott ins Spiel zu bringen. Der erste Grund ist dieser: Der Mensch, der sich bemüht, den Weg zur größeren Freiheit zu gehen, merkt bald, dass es unendlich schwer, ja vielleicht unmöglich ist, allein und aus eigener Kraft voranzukommen. Da er aber zugleich wohl weiß, dass der Gedanke der Freiheit zum Guten nicht nur eine persönliche Marotte, sondern ein objektiv gültiges Ideal ist, das über allem faktischen Wollen steht, legt sich ihm der Gedanke und der Wunsch nahe, es möge, ja müsse eine über aller menschlichen Kraft stehende Instanz geben, die ihm bei seinem Streben zu Hilfe kommt: Gott, die Quelle alles Guten. Ohne ein Vertrauen auf diese Instanz würde der gute Wille wohl bald zusammenbrechen. Umgekehrt kann dieser durch jenes nicht ersetzt werden, was Ignatius in einem mündlich überlieferten Ausspruch so formuliert hat: „Vertraue so auf Gott, als ob für den Erfolg deiner Unternehmungen alles von dir und nichts von Gott abhinge; mühe dich aber so darum, als ob du nichts und Gott alles bewirken würde". 6 Der zweite, mit diesem Zitat schon angedeutete Grund liegt darin, dass in dem Prinzip „aus eigener Kraft", wenn es nicht durch sein Gegenprinzip ergänzt wird, schon der Wurm der Unfreiheit, nämlich der möglichen Zentrierung auf das Ich statt auf das Gute, am Werk sein kann und meistens auch ist. Diese Umkehrung der Gewichte, auf die letztlich alles ankommt, 7 kann nicht ich-hafte Leistung sein. Sie wird, insofern sie gelingt, als Geschenk von oben erlebt, als Gnade. Um sie darf also auch gebetet werden. Der dritte Grund beruht auf dem Sachverhalt, dass ein Mensch, der sich mit Idealen bzw. sittlichen Pflichten als einer Bedingung seiner Selbstliebe im Modus des puren Noch-nicht identifiziert, in der Gefahr forderung versteht, die einen aus dem Dunkel heraus trifft, und nicht in erster Linie als das, was im praktisch-sittlichen Urteil aufscheint. 6 „Haec prima sit agendorum regula: Sic D e o fide, quasi rerum successus omnis a te, nihil a D e o penderet; ita tarnen iis operam omnem admove, quasi tu nihil, Deus omnia solus sit facturus" (Scintillae Ignatianae [...], quae per singttlos anni dies distribuit P. Gabriel Hevenesi, Braunsberg 1712, zum 2. Januar). 7 „Es bedenke ein jeder, dass er in allen Dingen des Geistes soweit gefördert werden wird, als er herausspringt aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und seinem Eigennutz" (Ex. 189).

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steht, sich von sich zu entfremden, ja einer Strategie des Selbsthasses zu verfallen. Um dieser Gefahr entgegenzusteuern, muss sich der strebende Mensch schon dann als unbedingt bejaht glauben können, wenn sein Streben noch keine guten Früchte getragen hat. Als Quelle solchen Bejaht-Seins aber kommt für den strebenden, seiner Schwäche deutlich bewussten Menschen nicht seine eigene, natürlich-sinnliche Selbstliebe in Frage; denn deren Reichweite ist gerade durch die Vernunft empfindlich eingeschränkt. In Frage kommt vielmehr nur jene Instanz, die sich hinter der sittlichen Forderung selbst profiliert; aber nicht als solche, sondern dem zuvor als Instanz, die ein bedingungsloses Ja „spricht", in dem Sein, Gnade und Vergebung beruhen. Es ist das Ja Gottes als des Schöpfers und Erlösers. Das ist m.E. der Grund, warum Ignatius zwischen die Überlegungen des „Fundaments" und die Methoden der wirklichen Entscheidungsfindung ein „Zwiegespräch" mit dem gekreuzigten Gott stellt. Dort vernimmt der Mensch, der sich nach diesen Überlegungen mehr als sonst seiner „Sünde" bewusst geworden ist, die Worte: „das tat ich für dich" (Ex. 53), und dann erst beginnt er zu überlegen, „was ich für Christus getan habe, was ich für Christus tue und was ich für Christus tun soll" (Ex. 53)8. M. a.W.: Die Bezugnahme auf Gott bedeutet hier, ganz abstrakt gesagt, dass das gebende Prinzip grundlegender ist als das fordernde. 9 Es ist deutlich geworden, welche Rolle bei Ignatius die Vernunft als Maßstab und als Überlegung in der Ausrichtung des Willens auf eine lautere, wirklich freie und sachgemäße existenzielle Entscheidung hin spielt. Damit ist aber die Frage, wie erkannt werden könne, worin diese selbst hier und jetzt für mich bestehen solle, noch nicht berührt. Dieser Frage müssen wir jetzt nachgehen.

8 Diese Fundierungsordnung erhellt auch aus der Tatsache, dass alle Übungen der Exerzitien eingerahmt sind von der Überlegung des „Fundaments" (Ex. 23) einerseits und der Kontemplation der göttlichen Liebe (Ex. 230-237) andererseits, die sich gegenseitig beleuchten, wobei das primum quoad se (vgl. Aristoteles, Met. 2) jedoch in der Betrachtung über die Liebe liegt. 9 Auch Kant würdigt (mit seinem Postulat Gottes als der Quelle von Verpflichtung und Hoffnung) die Tatsache, dass der Mensch die sittliche Forderung aufs Ganze nur ernstnehmen kann und darf, wenn er glauben darf, dass sie nicht die Instanz ist, die sein Sein negiert. Aber bei Kant liegt dieser Grund ganz in der Zukunft, nicht in der Gewesenheit, und ist nicht eigentlich gegeben, sondern nur wiederum dem sittlichen Glauben aufgegeben.

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2. Die individuelle Berufung Wir kommen nun zur Selbstbestimmung des Individuums als solchen, die also nicht mehr allein im Horizont der allgemeinen und allgemein verpflichtenden Wertordnung steht, die freilich für mich hier und jetzt zu konkretisieren ist, sondern im Horizont einer davon nicht ableitbaren, exklusiv individuellen Möglichkeit und Notwendigkeit. „Es ist hier die Frage nach den letzten Möglichkeiten der Vertrautheit mit sich selbst. (.Berufung', .Schicksal', .Gnade'). [...] Es gibt Situationen, in denen ich Erfahrungen erlebe, die mir [/] verborgen sind (.Schicksal', .Fügung'). Sie können mir absolut unverständlich sein. Trotzdem kann ich mich selbst in dieser Situation auf das klarste verstehen." 10

Etwas, was einem als unbeliebige Möglichkeit zugeschickt und zugemutet wird, kann man frei ergreifen oder lassen, verpassen oder vertun. So zu tun, als ginge einen diese Möglichkeit nichts an, als sei sie eine der zahllosen Möglichkeiten, die sich einem so bieten, geht nicht, da diese Möglichkeit in gewisser Weise nichts als man selbst ist. Schicksal und mehr noch Berufung sind von vornherein, ihrer Grundstruktur (Form) nach, etwas Persönliches und insofern Einmaliges. Dass sie es der Form nach sind, heißt, dass sie nicht auch dem Gehalt nach einmalig sein müssen. Denn so groß kann die Zahl der Lebensstile, Projekte und Aufgaben, abstrakt genommen, gar nicht sein, dass jedes davon unvergleichlich wäre. Auch in den Exerzitien geht es ja, dem Gehalt nach betrachtet und von außen charakterisiert, um allgemeine Alternativen: um ein Leben in der Nachfolge Christi, welches wiederum repräsentiert ist in den Regeln der Orden, oder aber „in der Welt", und hier wiederum in verschiedenen Weisen. Aber dass etwas davon einem Menschen zur ganz persönlichen Aufgabe und zur Berufung wird, während andere gar nicht angesprochen werden, das ist der Punkt, auf den es ankommt. Die Frage ist nun, wie so eine individuelle Berufung erkannt wird. 11 Voraussetzung dafür ist normalerweise, dass man bereit ist, sie zu erkennen und ihr zu folgen, wenn sie ergeht, d. h. dass man die Umkehrung, um die es im ersten Schritt ging, soweit vollzogen hat, dass eine 10 Martin Heidegger, 1993, Grundprobleme der Phänomenologie. Freiburger Vorlesung vom WS 1919/20 ( H G A 58. hrsg.v. Hans-Helmuth Gander, Frankfurt a.M.: Klostermann), S. 259-260. 11 Ob Gott eine ganz persönliche Berufung für jedermann oder nur für einige Menschen bereit hält, ist Stoff für Diskussion.

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durchsichtige und von lauteren Motiven bestimmte Wahl möglich geworden ist. Sonst wird man einen solchen persönlichen „Ruf" gar nicht vernehmen können. Aber das ist nur die dispositionelle Voraussetzung, noch nicht die Erkenntnis selbst. Wie ereignet sie sich, so, dass eine echte Selbstwahl möglich wird? Ignatius unterscheidet drei Typen von Situationen („Zeiten"), in denen „eine gesunde und gute Wahl getroffen werden kann" (Ex. 175-177). Das Kriterium ihrer Unterscheidung ist der größere und geringere Grad der Unmittelbarkeit, in der eine mögliche Berufung als meine erlebnismäßig evident wird. „Die erste Zeit ist, wenn Gott unser Herr den Willen so bewegt und an sich zieht, dass eine ihm ergebene Seele, ohne zu zweifeln oder auch nur zweifeln zu können, dem folgt was gezeigt wird, wie beispielsweise bei der Berufung des Matthäus oder des Paulus". 12 „Die zweite Zeit ist, wenn Klarheit und Einsicht genug empfangen wird, von der Erfahrung in Tröstung und Trostlosigkeit her und aus der Erfahrung der Unterscheidung der verschiedenen Geister." In der dritten wird der Wählende, anders als in der zweiten, nicht von verschiedenen „Geistern" hin- und her gerissen, sondern bleibt darauf verwiesen, „von seinen natürlichen Fähigkeiten in Freiheit und Ruhe Gebrauch zu machen", indem er die allgemeine Zielordnung des „Fundaments" erwägt, auf einen Wahlgegenstand mit vernünftigen Gründen und Gegengründen anzuwenden versucht und dann „ein Leben oder einen Stand innerhalb der Grenzen der Kirche" ins Auge fasst, diese Absicht im Gebet Gott vorträgt und schließlich, wenn ein innerer Friede sein Projekt bestätigt, handelnd realisiert. Nach der Meinung der meisten heutigen Kommentatoren der Exerzitien stellt Ignatius die zweite Wahlzeit ins Zentrum des Interesses. Die erste muss, wie die Beispiele zeigen, gar nicht im Kontext von Übungen stehen, in denen man sich durch die Konfrontation mit der Logik des „Fundaments" und mit der exemplarischen Gestalt Jesu auf 12 Matthäus: Mt 9,9; Paulus: Apg 9,3-6. Hierher gehört wohl auch, als ein weiteres Beispiel, das Erlebnis, das Ignatius in seiner „wild-asketischen" Zeit von seinem unerschütterlichen Vorsatz abbrachte, kein Fleisch zu essen: „Da geschah es einen Tages in der Frühe [...], dass ihm eine Fleischspeise so deutlich erschien, wie wenn er sie mit leiblichen Augen sehen könnte, und zwar ohne dass irgendein Verlangen danach sich zuvor in ihm geregt hätte. Zugleich damit Uberkam ihn eine nachdrückliche 'Willenszustimmung, von nun an wieder Fleisch zu essen." Er konnte an der Bedeutung der Erscheinung nicht zweifeln, und dies auch später nicht, als er alle Möglichkeiten, dass es sich um eine Versuchung gehandelt habe, prüfend durchdacht hatte. (Ignatius von Loyola, 1977, Der Bericht des Pilgers, übersetzt und erläutert von Burkhart Schneider, Freiburg i. Br.: Herder, Nr. 27). Hervorhebungen von G. H.

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eine Wahl vorbereitet. Sie kann sich freilich auch in diesem Kontext ereignen. Aber das scheint eher selten zu sein. Die dritte Wahlzeit ist ein Ersatz für die zweite. Nicht dass Ignatius das rationale Abwägen von Gründen an sich gering schätzte.13 Doch ist anzumerken, dass es, wenn es um eine Lebensentscheidung geht, in der Sphäre des im Allgemeinen Richtigen bleibt und die personale Tiefe der Seele nicht ins Spiel bringt, und dass diese Sphäre noch nicht die der unmittelbaren Beziehung zwischen dem persönlichen Gott und der Seele ist. Das Proprium der zweiten Wahlzeit aber - und das Proprium der ignatianischen Entscheidungslehre überhaupt - besteht darin, mit Hilfe gewisser Unterscheidungsregeln zu lernen, wie man durch den Widerstreit der inneren Bewegungen hindurch seinen eigenen Weg findet. Dabei ist gesagt, dass die Emotionen nichts prinzipiell zu Überwindendes, zu Zähmendes sind, auch wenn es Situationen gibt, in denen das nötig ist. Personale Existenz ist wesentlich emotional. Wird man mit existenzieller Wahrheit oder wesentlichen Zumutungen konfrontiert, so wird die Antwort heftig emotional sein: Abwehr, Freude, Hass usw. - und dies nicht selten in ambivalenter Weise. Bleibt die Reaktion von rationaler Kühle, so kann man sicher sein, dass entweder die Wahrheit oder die Konfrontation mit ihr nicht wesentlich war. Im höchsten Maße existenziell aber ist alles, was mit dem wirklichen Gottesbezug zu tun hat, sei es, dass Gott einem nahe kommt, sei es, dass man selbst ernsthaft versucht, ihn zum Herrn über sein Leben zu machen. Beides weckt Stimmungen, durch die die Seele in Bewegung gerät, und zwar in verschiedenen Weisen, die es zu verstehen und mit denen es umzugehen gilt. Diesen zwei Projekten gelten die sog. Regeln zur Unterscheidung der Geister, die Ignatius teils in eigener Erfahrung gefunden, teils aus der geistlichen Tradition entnommen hat: „Regeln, um einigermaßen die verschiedenen Bewegungen zu erklären und zu erspüren, die in der Seele sich verursachen; die guten, um sie aufzunehmen, die schlechten, um sie zu verwerfen" (Ex. 313-327) und „Regeln zu dem Zweck, die Geister noch genauer zu unterscheiden" (Ex. 328-336). Unterscheiden, Identifizieren, Erklären und Beurteilen unter praktischen Regeln: 13 Das Gegenteil ist der Fall. Selbst in den Exerzitien hat, wie gezeigt, die vernünftige Überlegung (comideratio) ihren festen Platz. In der Ausbildung der Jesuiten steht die Kultur des Intellekts sehr hoch. Wer in den Orden eintreten will, sollte mannigfache Eigenschaften haben, die natürlich nie alle vorhanden sein können; aber auf eine dürfe niemals verzichtet werden: dass der Betreffende ein gesundes Urteilsvermögen (sanum iudicium) mitbringe.

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es sind klassische Aufgaben der Vernunft, die hier ein neues Feld erobert. Die Regeln selbst sind aus Erfahrungen gewonnen, die im Licht der Glaubensüberzeugungen interpretiert wurden. Die drei wichtigsten dieser Glaubensüberzeugungen lauten: dass der Mensch von Gott und auf Gott hin geschaffen ist, - dass Gott selbst im Innersten seiner Seele wirkt bzw. wirken kann, - und vor allem, dass es „Gott und seinen Engeln in ihren Anregungen eigen ist, wahre geistliche Freude und Fröhlichkeit (alegria y gozo) zu geben" (Ex. 329). Solche Freude, nicht etwa das Erleben von Angst oder Übermächtigung, ist also das Zeichen der Anwesenheit Gottes. Die Erlebnisse - gewissermaßen das Material der Erfahrungen - sind die wechselnden passiven Modi der Seele, in denen sie von guten und schlechten Kräften (guten und bösen „Geistern" 14 ) bewegt wird. Indem man in den Erlebnissen bestimmte Korrelationen entdeckt und nach deren Ursachen zu fragen lernt, bildet sich Erfahrung. Das schlichteste Beispiel dafür ist die Überlegung des jungen Ritters Ignatius, der, im Kampf verletzt, sich auf dem Krankenbett stundenlang seinen wechselnden Phantasien hingab. 15 Es waren teils Phantasien ritterlichen Minnedienstes, teils religiösen Heldentums. Beide faszinierten und befriedigten ihn gleichermaßen. Aber wenn er, müde geworden, davon abließ, „fand er sich" nach den Ersteren „wie ausgetrocknet und missgestimmt", während er nach dem Abschluss der Letzteren „zufrieden und froh blieb". Als ihm dieser Unterschied eines Tages endlich auffiel, schloss er daraus, dass die bleibende Befriedigung wohl echter sein müsse als diejenige, der eine Art von „Kater" folgte, und folglich auch das ihr entsprechende Phantasiebild einer Lebensform. 16 Und entschlossen zog er die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis. Eine Erfahrung zweiter Stufe steht an, wenn der, der ernsthaft danach strebt, sein Leben zu bessern, von einer widrigen Stimmung (desolacion) überfallen wird, wie ζ. B.

14 Ignatius geht natürlich, wie seine ganze Kultur, von der Existenz von guten und bösen Geistern (Engeln und Teufeln) aus. Wir würden heute vielleicht eher von Stößen aus dem Unbewussten sprechen. Gewahrt werden muss bei jeder Ubersetzung allerdings ein Zweifaches: erstens, dass das bewusste Ich sich als Objekt und Adressat dieser Kräfte empfindet, die es nicht einfach sich zurechnen kann, und zweitens, dass diesen Kräften jeweils eine Tendenz zum Heil oder Unheil eigen ist. 15 Der Bericht des Pilgers (Anm. 12), Nr. 8. 16 Einen Unterschied im Erleben selbst, etwa den zwischen Vergnügen und Freude, macht er im Rückblick nicht ausdrücklich. Man kann aber annehmen, dass ihm, mindestens später, auch dieser deutlich wurde.

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Gerd Haeffner „Verfinsterung der Seele, Verwirrung in ihr, Hinneigung zu den niedrigen Dingen, U n r u h e verschiedener Getriebenheiten und Anfechtungen, die zum Mangel an Glauben, an Hoffnung, an Liebe bewegen, wobei sich die Seele ganz trag, lau und traurig findet und wie getrennt von ihrem Schöpfer und H e r r n " ( E x . 317).

An sich ist dergleichen nach dem angeführten Prinzip der Güte Gottes nicht zu erwarten. Die Trostlosigkeit muss also erklärt werden, was Ignatius in Ex. 322 tut, indem er sie entweder auf die Fehler des Menschen zurückführt oder als pädagogische Maßnahmen des göttlichen Erziehers verständlich macht. Noch wichtiger als diese hypothetischen Erklärungen sind praktische Regeln, wie man sich in trostlosen Situationen verhalten solle, denn die Gedanken, die einem in solchen Situationen kommen, sind nicht vertrauenswürdig (Ex 318). Es gilt also, solche Stimmungen auszuhalten, seine in besserer Verfassung getroffenen Vorsätze beizubehalten und den Mut nicht sinken zu lassen, bis die Belastung vorbei ist. Eine Erfahrung dritter Stufe bezieht sich auf den Unterschied zwischen dem, was bis in den Kern gut ist, und dem, was nur an der Oberfläche gut zu sein scheint. Wundersame Eindrücke oder geistliche Glücksgefühle, die einen überkommen, sind mehrdeutige Phänomene; sie müssen nicht von Gott, sondern können auch vom „Feind der menschlichen Natur" stammen. Hier ist also kritische Prüfung angebracht, bevor man sich ihnen überlässt, denn Täuschungen in diesem Feld sind häufig. Beim ersten Erleben ist die Natur der Regung nicht erkennbar. Man muss auf die Ereignisse achten, die dieser Regung folgen, so kann man sie im Nachhinein beurteilen und vermuten, dass Regungen dieses Typs im Allgemeinen eher Vertrauen oder Misstrauen verdienen. Ein Kriterium der Unechtheit ist es, wenn die Handlungen oder Zustände, zu denen man durch solche Regungen geführt wird, schlecht sind: ζ. B. Minderung der Demut und Nächstenliebe, Vernachlässigung der Pflichten oder Ruinierung der eigenen Gesundheit, - m. a. W. Dinge, die kein vernünftiger Mensch gut heißen kann. Man kann also vermuten, dass das betreffende „geistliche" Erleben ein Trick des Verführers war. Aber selbst echter, lauterer Trost, den Gott schenkt, kann durch den menschlichen Umgang damit pervertiert werden: sei es, dass man daraus schließt, man sei ein fabelhafter Mensch, - oder sei es, dass im „Nachglühen" des Trosterlebnisses Überlegungen und Pläne auftauchen, die man für göttliche Eingebungen hält, die aber in Wirklichkeit auf das Konto des eigenen irrenden Denkens oder aber versucherischer Instanzen gehen, die sich dazwischen geschoben haben.

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Bei alledem hält Ignatius daran fest, dass Gott, als Schöpfer, in der Seele unmittelbar wirken kann.17 Positives Kriterium dieser Unmittelbarkeit ist die consolation: eine spezifische Weitung und Erfüllung der Seele: „[...] jede Zunahme v o n H o f f n u n g , Glaube und Liebe, und jede innere Freudigkeit (leticia), die den Menschen zu den himmlischen D i n g e n ruft und zieht und z u m eigenen Heil seiner Seele, indem sie ihn besänftigt und befriedet ( q u i e t a n d o y pacificando) in seinem Schöpfer und Herrn" (Ex. 316).

Das negative Kriterium der Unmittelbarkeit und damit der Vertrauenswürdigkeit der Tendenz, in die dieses Erleben treibt, ist, dass dafür keine intentionale Zwischeninstanz (Vorstellungen, Gedanken, die durch meine eigene bewusste Aktivität oder durch den Einfluss von „Geistern" gebildet wurden) als Ursache in Frage kommt (Ex. 330).18 Ignatius geht nun davon aus, dass die Willensrichtung, die sich, bezüglich einer bestimmten, zu treffenden Entscheidung, in der Seele dann bildet, wenn sie auf Gott hin ganz offen ist und wenn Gott in ihr wirkt, zugleich das Werk Gottes und die freieste Tat des Menschen ist. Es ist nicht so, dass der menschliche Wdle durch diese Offenheit und dieses göttliche Wirken seiner eigenen Natur entfremdet wird und seine Autonomie verliert. Das Gegenteil ist der Fall. Der Mensch kommt nur dadurch in jene Ubereinstimmung mit sich, aus der seine Selbstbestimmung wie eine reife Frucht herauswächst, dass er in die Ubereinstimmung mit dem schöpferischen Grund gelangt, aus dem er sich übergeben ist. Anders „hat" er sich nicht in dem Maße, das für eine Verfügung über sich nötig ist; er selbst entgleitet sich beim Versuch, über sich zu entscheiden. Es ist deutlich, dass im Zusammenhang einer solchen Entscheidungsfindung Gott in einem viel persönlicheren Sinn eine Rolle spielt als das im Zusammenhang mit der allgemeinen Orientierung im „Fundament" der Fall war. Dort blieb Gott fast ganz im Hintergrund, ge17 Das betont zu Recht Karl Rahner, 1958, Die Ignatianische Logik der existentiellen Erkenntnis: Über einige theologische Probleme in den Wahlregeln der Exerzitien des heiligen Ignatius, in: ders., Das Dynamische in der Kirche, Freiburg: Herder (Quaestiones disputatae 5), S. 74-148. 18 Zu diesem „Trost ohne [endliche] Ursache" vgl. Bakker, Leo, 1970, Freiheit und Erfahrung. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen über die Unterscheidung der Geister bei Ignatius von Loyola, Würzburg: Echter, S. 87-118; Gouvernaire, Jean, 1991, Quand Dieu entre α l'improviste. L'enigme de la consolation sans cause, Paris: Desclee de Brouwer.

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wissermaßen vertreten durch das Licht der Vernunft und durch die Gunst der Erde (vgl. Ex. 60). Nun aber konnte der Mensch persönliche Erfahrungen mit Gottes persönlichem Dasein und Handeln machen. 19 Erst jetzt, im Kontext einer tiefen Freiheits- und Identitätserfahrung, gewinnt das Wort „Gott" für ihn seine volle Bedeutung.

3. Zwei Formen abwägender praktischer Vernunft Es ist deutlich geworden, dass im geistlichen Leben, wie es Ignatius in den Exerzitien lehrt, die abwägende praktische Vernunft eine wichtige Rolle spielt. Diese Rolle unterscheidet sich freilich von der, die sie für gewöhnlich hat. Die Rolle, die die abwägende praktische Vernunft meistens hat, kann mit folgenden Sätzen des Ignatius charakterisiert werden, in denen „Vernunft" auf einen rein prozeduralen Sinn reduziert zu werden scheint: „Erwägen durch Überlegen der Gründe (considerar raciocinando), wieviele Vorteile und Nutzen mir erwachsen, wenn ich die angebotene Position annehme; dann umgekehrt erwägen die Nachteile und Gefahren [...] Gleicherweise auf der anderen Seite verfahren: nämlich die Vorteile und den Nutzen [...] und umgekehrt die Nachteile und Gefahren, wenn ich sie nicht annehme. Nachdem ich so überlegt und die vorgestellte Sache nach allen Seiten hin erwogen habe, zusehen, wohin sich die Vernunft jeweils mehr hinneigt (se inclina); und so soll nach der stärkeren vernunfthaften Regung (mocion rational) [...] die Entscheidung über die vorgelegte Sache getroffen werden" (Ex. 181-182).

Für Ignatius ist der prozedurale Sinn von Vernunft freilich sofort zu ergänzen durch den normativen Sinn von Vernunft. Die von mir zunächst an den Pünktchen bewusst verkürzte Beschreibung, ist in ihren ursprünglichen Status zurückzuführen, indem nach der Erwähnung der „vernunfthaften Regung" diese gleich in den Gegensatz zu einer sinnlichen Regung gesetzt wird. Ignatius denkt also an eine Entscheidung, die nicht allein von Interessen geleitet ist, sondern auch und primär von sittlichen Idealen, die er zudem in einem religiösen Sinn vertieft, wenn er als Maßstab für das, was als Vor- und Nachteil anzusehen ist, im Sinn 19 Diese Erfahrung wird in den Exerzitien vorbereitet durch die Betrachtung der A n wesenheit Gottes in der Lebenseinstellung Jesu, wie sie in seinem Leben und Leiden zum Ausdruck kommt.

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des „Fundaments" den „Lobpreis Gottes und das Heil meiner Seele" anführt, und wenn er empfiehlt, Gott zu bitten, „den Willen zu bewegen". Dennoch: all diese Zusätze ändern im Wesentlichen nicht den Status des Subjekts, das damit beschäftigt ist, in völliger Ruhe und allein für sich die Gründe für und gegen eine Handlungsmöglichkeit gegeneinander abzuwägen, in der Hoffnung, dass sich die Waage der Vernunft vor seinen Augen eindeutig auf eine der beiden Seiten neige. Es ist die Struktur der Entscheidung in der dritten Wahlzeit. Wir haben gesehen, dass die Entscheidung in der zentralen, der zweiten Wahlzeit ganz anders vor sich geht. Aber auch hier gibt es Platz für ein Erwägen und Entscheiden. Nur geht es hier nicht um Gründe für und gegen bestimmte Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf ein vorgestelltes Ziel, sondern um den rationalen Umgang mit den emotionalen Reaktionen, die man in sich erlebt, wenn man in der Vorstellung probeweise gewisse mögliche Identifikationen durchspielt. Die Rationalität dieses Umgangs bleibt ganz im Dienst des desiderium; letztlich dient alle Objektivation, Distanzierung und kausale Hinterfragung von Emotionen nur der Klärung der Frage, welchen Gefühlen und welcher zentralen Gestimmtheit man sich hingeben darf und kann. Der Kontext, in dem Ignatius diese Entscheidungslehre entwickelt, ist nun gewiss nicht das alltägliche Bewusstsein von jedermann. Dennoch kann man sich fragen, ob er nicht das, was auch in gewöhnlichen Entscheidungen vor sich geht, besser getroffen hat als es die gewöhnliche Theorie des „rational choice" tut. Emotionen liegen anthropologisch tiefer als Gründe. Wer sie, um der Rationalität der Begründungsverfahren willen, ausklammert, nimmt sich die Möglichkeit, das Feld der Vernunft auf einen Umgang mit dem Emotionalen auszuweiten, und dieses als Manifestation des jeweiligen personalen Daseins und nicht nur als Gegenposition zum rationalen Denken und Beherrschen ernst zu nehmen. Ohnehin lässt sich das Emotionale nicht ausklammern. Die Gründe für und gegen sind, speziell bei Entscheidungen im persönlichen Bereich, jene Gründe, die einem eingefallen sind, wobei es ja, seelisch gesehen, kein Zufall ist, was einem kommt und was nicht. Und das Gewicht, das die Gründe für mich haben, ist das Gewicht, das ich ihnen im Augenblick beizumessen fähig bzw. willens bin. Und so ist auch die „Neigung" der Vernunft, auf die der Uberlegende ja nicht mehr als hoffen kann, etwas, was sich nur in den seltensten Fällen der Selbstbestimmung aus objektiven Gründen ergeben wird. Faktisch entscheidet man

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ja auch oft weniger nach Gründen, sondern nach dem Gefühl, das sich einstellt, wenn man sich probehalber mit einer Handlungs- oder Lebensmöglichkeit identifiziert: Wie fühlt sich das an? Passt das zu mir? usw. Dabei kommt es freilich darauf an, welche Erlebnisse und Bildungsprozesse die Fähigkeit des gefühlsmäßigen Urteils geprägt haben. So ist es denkbar, dass manche der Regeln, die Ignatius für eine gute Wahl angibt,20 in entsprechend adaptierter Form auch für Kontexte, in denen es nicht um das Letzte, um das Gottesverhältnis, sondern nur um Entscheidungen im Vorletzten geht, eine große Hilfe für die Abwägung von existenziellen Möglichkeiten bedeuten.

20 Ex. 169-189; dazu die erste Hälfte der Regeln zur Unterscheidung der Geister (Ex. 313-327).

Religion und Aufklärung. Oder vom Kanon des Glaubens und vom Kanon der Vernunft MAXIMILIAN FORSCHNER

1. Zur philosophischen und theologischen Bedeutung von „Kanon" Das Wort „Kanon" ist mehrdeutig. Wenn von Kanon die Rede ist, denkt der Musikfreund heute zunächst an einen Kettengesang. Ein Pädagoge mag eine Liste mustergültiger Bücher vor Augen haben, die man Schülern oder nach Bildung Strebenden zur Lektüre empfiehlt. Der christlich Gebildete denkt an die Bibel als abgeschlossene Sammlung heiliger Schriften, der Katholik vielleicht auch noch an die offene Liste der Heiligen, die von Rom zur Verehrung zugelassen und empfohlen sind. Wer in antiker Philosophie kundig ist, erinnert sich, dass Epikurs System in Kanonik, Physik und Ethik gegliedert war. Und wer Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft bis zu Ende studiert hat, der weiß, dass auf die transzendentale Elementarlehre noch eine transzendentale Methodenlehre folgt, deren erstes Hauptstück von der Disziplin bzw. Zensur und deren zweites Hauptstück vom Kanon der reinen Vernunft handelt. Kant ist dem Sprachgebrauch der philosophischen Tradition verpflichtet. In philosophischen Zusammenhängen wird das Wort „Kanon" in den „dogmatischen" Systemen des Hellenismus im Sinne einer Richtschnur der Erkenntnis bzw. eines Kriteriums der Wahrheit bzw. eines Maßstabs rechten Vernunftgebrauchs verwendet. 1 Epikurs verlorengegangene Schrift mit dem Titel Kanon enthielt „die Zugangsweisen 1 Vgl. etwa Epiktet Diss. I, 28, 28.30.

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zur wissenschaftlichen Behandlung der Dinge" 2 und war insbesondere mit der Etablierung und Erläuterung seiner drei Wahrheitskriterien αισθησις (Wahrnehmung), πρόληψις (natürliche begriffliche Vorwegnahme) und πάθος (Empfindung) befasst. In diesem Sinne verwendet auch noch Kant das Wort. Der theologische Sprachgebrauch ist davon verschieden und doch vergleichbar. Im frühen Christentum (etwa bei Irenaus von Lyon) kommt das Wort vor in den Verbindungen ό κανών της αληθείας, ό κανών της πίστεως, ό κανών της έκκλησίας.3 Κανών της πίστεως wird im Lateinischen (etwa bei Tertullian) mit regula fidei wiedergegeben. Gemeint war damit zunächst das inhaltliche Gefüge der christlichen Lehre, und zwar der wesentliche Kern der apostolischen Botschaft als normativer Grundbestand des wahren Glaubens. 4 Er sollte materialer Maßstab sein für die abwägende Vernunft und Urteilskraft des Gläubigen in aktuellen Fragen des rechten Glaubens: An ihm war alles zu messen, was sich im einzelnen als christliche Lehre, als Interpretation hl. Schriften oder als christliche Uberzeugung und Handlungsweise anbot. 5 Beim Metropoliten Athanasius aus Alexandrien, in seinem 39. Osterbrief aus dem Jahre 367, begegnet dann erstmals ein anderer, zu seiner Zeit wohl bereits gängiger Sprachgebrauch, der den Begriff des Maßstabs vom inhaltlich Wesentlichen zum formal bzw. methodisch Maßstäblichen verschiebt: „Kanon" nämlich im schlichten Sinn der exklusiven und verbindlichen Liste aller Schriften, die in der Kirche als Texte göttlicher Offenbarung anerkannt und in Geltung sind. Dieser Sprachgebrauch konnte sich natürlich erst etablieren, als die Grenzen des Corpus der hl. Schriften des Christentums mehr oder weniger genau gezogen und weitgehend anerkannt waren. 6 Und diese Anerkennung und Grenzziehung war Ergebnis eines längeren Prozesses. Die Theologie des Lateinischen Mittelalters und der frühen Neuzeit nimmt diesen methodologischen Begriff des Kanons auf und erweitert und präzisiert den Begriff der regula fidei. Gemeint sind nun mit regulae fidei nicht mehr der unüberholbare und maßgebende Kernbestand der wahren christlichen Lehre, sondern jene das Urteil des Gläubigen bindenden und orientierenden, seiner subjektiven Urteils2 3 4 5 6

Diogenes Laertius X, 30. Vgl. G. Wanke, 1980, Kanon, in: TRE Bd. VI, S. 1. Vgl. J. Quasten, 1963, Regula fidei, in: LThKl. Aufl. Bd. VIII, S. 1102 f. Vgl. F. F. Bruce, 1988, The Canon of Scripture, Downers Grove, 111., S. 18. Vgl. Bruce, 1988.

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kraft externen Instanzen und ihre Ordnung, die die wahre Lehre verbürgen und sichern: Bei Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert mehr implizit, beim größten nachtridentinischen Theologen, bei Francisco Suärez zu Beginn des 17. Jahrhunderts dann explizit, differenziert und bestimmt etwa die Hl. Schrift, die Universalkirche, die Tradition, das allgemeine Konzil, der Papst. 7 Dem philosophischen und theologischen Sprachgebrauch gemeinsam ist der Bezug des Kanons zur Wahrheit. Von Kanon spricht nur und auf einen Kanon bezieht sich nur, wer menschlichem Erkennen und menschlichem Glauben zutraut, Wahres zu erfassen, zu besitzen, zu tradieren. Ein Kanon ist allemal gegen Skepsis gerichtet; und ein Kanon hat immer die Funktion, das menschliche Urteil zu leiten bzw. der menschlichen Urteilskraft bei der Unterscheidung von Wahrem und Falschem im Blick auf bestimmte Probleme und Fragen als Maßstab, Probierstein, Leitfaden bzw. Richtschnur behilflich zu sein. Ich werde mich im Folgenden mit dem Begriff des philosophischen Glaubens im Sinne eines reinen Vernunftglaubens und dem religiösen Glauben im Sinne eines Offenbarungsglaubens befassen und mit der unterschiedlichen Form und Rolle, die im einen und im anderen Fall ein Kanon spielt. Dabei geht es nicht darum, die eine Form des Glaubens gegen die andere auszuspielen. Der Vergleich soll am Ende lediglich klar und deutlich zeigen, wo für eine philosophisch geleitete Aufklärung in einem offenbarungsreligiösen Kanonverständnis der Stein des Anstoßes liegt: nämlich in der bindenden Leitung (, der Entlastung oder Bevormundung) der abwägenden Vernunft und Urteilskraft des Einzelnen durch externe menschliche Autorität. Meine Bezugsautoren sind Kant und Rousseau einerseits, Thomas von Aquin und Francisco Suärez andererseits.

2. Der Kanon eines reinen Vernunftglaubens (Immanuel Kant) Beginnen wir mit dem Kanon der Vernunft und fragen zunächst beim Weisen aus Königsberg nach einem Leitfaden durch das Labyrinth der Sache. 7 Vgl. De f i d e , disp. V und IX-XI. R. P. Francisci Suärez Opera Omnia, 1858, ed. C. Berton, Paris, Bd. 12, Tractatus de fide theologica, in 24 disputationes, S. 1-597.

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Kanon ist für Kant ein Maßstab bzw. ein Probierstein zur Prüfung des Werts oder Unwerts einer Erkenntnis. Von Erkenntnis spricht Kant im Blick auf Sätze bzw. Urteile, mit denen wir behaupten, dass etwas der Fall ist. Eine Erkenntnis besitzt als Erkenntnis Wert, wenn der entsprechende Satz wahr ist, und Unwert, wenn er falsch ist. Ein Kanon ist also ein Mittel der Beurteilung, ein Mittel zur Prüfung des Wahrheitswerts einer Aussage. Für Sätze, die weder wahr noch falsch sind, gibt es auch keinen Kanon. Und wer grundsätzlich der Meinung ist, wir könnten nichts Wahres erkennen, wird auch keinen Gedanken auf einen Kanon verschwenden. Was Kant in der Kritik der reinen Vernunft interessiert, ist nicht eine beliebige Frage; es ist die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik, nach der Möglichkeit von Erkenntnissen über die Wirklichkeit, deren Wahr- oder Falschsein nicht über den Probierstein der Sinneserfahrung entscheidbar ist. Hierüber liegen metaphysische Skeptiker und metaphysische Dogmatiker in einem endlos scheinenden Streit. Dieser Streit ist nach Kant im Kern ein Streit der menschlichen Vernunft mit sich selbst; und zwar ein Streit über Fragen, die ihr niemals gleichgültig sein können. Um diesen Streit zu einem sinnvollen Ende zu führen, bedarf die skeptische Tendenz unserer Vernunft eines Kanons und ihre dogmatische Tendenz der Zensur. Doch Kanon und Zensur erwartet, erbittet oder akzeptiert eine mündig gewordene menschliche Vernunft nicht von außen. Die Mittel zur vernünftigen Lösung des Streits, der ihr ja selbst entspringt, kann und muss sie auch aus sich selbst gewinnen. Kant sieht den Weg der Versöhnung der Vernunft mit sich selbst und damit auch der möglichen Rettung der Metaphysik in einer radikalen (Selbst-)Kritik, d.h. in der reflexiven Schätzung des gesamten Vernunftvermögens, in einer peniblen, die Bedingungen der Möglichkeit eruierenden Prüfung und Klärung der Tauglichkeit der menschlichen Vernunft zu erfahrungsunabhängigen Erkenntnissen. Diese Kritik soll zwischen Dogmatismus und Skepsis vermitteln. Sie zielt auf die Etablierung eines Kanons, d. h. auf die Rechtfertigung eines Gefüges von Grundsätzen, deren Beachtung den Menschen auf gesichertem Weg zu möglichen richtigen nichtempirischen Erkenntnissen führt. Doch sie zielt in eins damit auf die Begründung eines Leitfadens der Zensur, nämlich auf den Beweis, dass mit diesen Grundsätzen Grenzen gezogen sind, die die rein theoretische Beantwortbarkeit von Fragen einer bestimmten Art schlechterdings ausschließen. Mit anderen Worten, die Kritik zielt auf einen Kanon des nichtempirischen rieh-

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tigen Vernunftgebrauchs,8 der einer teils unsicheren, teils anmaßenden und darin mit sich selbst zerfallenen Vernunft den unerschütterlichen Maßstab positiver Orientierung ebenso wie negativer Selbstdisziplinierung liefert. So gesehen hat die Kritik (auch in theoretischer Hinsicht) eine demütigende, die Hybris der theoretisch-spekulativen Vernunft brechende und eine erhebende, das Vertrauen in ihre wahre Leistungsfähigkeit stärkende Funktion. Es gilt hier natürlich nicht den gesamten Gang der Kantischen Kritik, sondern nur ihr Ergebnis zu vergegenwärtigen. Die allgemeine oder formale Logik liefert einen Kanon für Verstand und Vernunft überhaupt, insofern die Beachtung ihrer Regeln die formale Korrektheit des Denkens sichert. Doch da sie von allem Gegenstandsbezug abstrahiert, ist mit ihr nichts über den Realitätsgehalt unseres Denkens ausgemacht. Die kritische Arbeit der transzendentalen Logik liefert in der transzendentalen Analytik den apriorischen Kanon des gegenstandsbezogenen Verstandesgebrauchs, die Grundbegriffe und Grundsätze, die für alle Erkenntnis raumzeitlicher Gegenstände konstitutiv sind, den Verfassungsrahmen sozusagen, innerhalb dessen sich menschliches Erkenntnisbemühen mit Aussicht auf Erfolg bewegen kann und bewegen muss. Der Horizont möglicher Erfahrung ist durch die wesenhafte RaumZeitstruktur unserer Sinnlichkeit und durch die ihr angepasste wesenhafte Struktur unseres Denkens bestimmt. Für Gegenstände, die den Horizont menschlicher Erfahrung übersteigen, gibt es keinen korrekten theoretischen Vernunftgebrauch, der zu richtiger Erkenntnis führen kann. Hier endet alles Spekulieren dialektisch, d. h. in widersprüchlichen Behauptungen mit ähnlich starker Plausibilität. Die transzendentale Dialektik deckt die Gründe auf, warum dies so ist. Und mit diesen Gründen gibt sie der Vernunft auch das Instrumentarium der Selbstdisziplinierung und Selbstzensur an die Hand, um ihre eigenen spekulativen „Ausschweifungen zu bändigen, und die Blendwerke, die ihr daherkommen, zu verhüten".9 Alle spekulative Vernunft zielt, so Kant, auf Unbedingtes als Endglied oder Ganzes einer Reihe von Bedingungen eines Bedingten, bezogen auf die unabweisbaren Vernunftinteressen letztlich auf drei Gegenstände bzw. Sachverhalte: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein Gottes. Es lässt sich zeigen, dass, was immer man über diese Sachverhalte zu entdecken glaubt, dies für die konkrete For8 Vgl. KrV A 796 Β 824. 9 KrV A795 Β 823.

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schung ohne Bedeutung und Nutzen ist: Man kann sich nicht auf Gott berufen oder die Freiheit des Willens bemühen, wenn es gilt, einen konkreten Vorgang zu erklären. Gleichwohl haben wir an diesen metaphysischen Sachverhalten ein unabweisbares Interesse. Das dauerhafte Interesse unserer Vernunft an diesen Sachverhalten, das sich vom permanenten Scheitern bloß theoretischer Bemühungen nicht abtöten lässt, muss anders als theoretisch motiviert sein, muss, wie Kant sich ausdrückt, „im Praktischen" gründen. Das unerschütterliche Fundament, von dem her Kant den Kanon reiner Vernunft im Blick auf die genannten theoretisch unentscheidbaren Sachverhalte gewinnt, ist das moralische Selbstverständnis: Wir sind uns bewusst, unter moralischen Gesetzen zu stehen. Und diese moralischen Gesetze stellen Forderungen an uns mit dem Anspruch absoluter Verbindlichkeit. Ein solcher kategorischer Anspruch kann nicht in der natürlichen oder kulturellen Vorgabe empirischer Ziele und den erfahrungsgestützten Regeln ihrer Realisierung gründen. Der Anspruch der Moralität ist nicht identisch mit dem Anspruch der Beachtung von Klugheitsregeln zum Zwecke der individuellen oder kollektiven Lebenserhaltung und Lebenssteigerung. Er ist nur als Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft für den Gebrauch der eigenen Freiheit verständlich zu machen. Es geht in ihm um ein kategorisches „Du sollst", in dem sich der (sowohl erhebende wie demütigende) Anspruch unserer eigenen nichtempirischen Vernunft an unser verführbares und gebrechliches faktisches Vernünftigsein zu Wort meldet. Die moralischen Gesetze nun, genauer: mein Bewusstsein, moralisch verpflichtet zu sein und mein Wille, dieser Verpflichtung gerecht zu werden, „erlauben einen Kanon" (KrV A 800 Β 828), d.h. sie liefern mir einen sicheren Probierstein zur Beantwortung jener fundamentalen spekulativen Fragen, die theoretisch unbeantwortbar sind: Ich muss bestimmte Sachverhalte annehmen: meine eigene Freiheit, die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, um mein moralisches Selbstverständnis sinnvoll erscheinen zu lassen, auf Dauer zu stellen und ihm Wirksamkeit zu verleihen. Und die Quelle des Kanons dieses reinen Vernunftglaubens, das (demütigende und erhebende) Bewusstsein des moralischen Gesetzes, lässt von vornherein einen Vorwurf unwirksam erscheinen, den die christlich-paulinische Tradition gegen die Hybris einer auf die eigene Erkenntnis- und Bildungsfähigkeit setzende „heidnische" Philosophie erhoben hat. Praktische Vernunft gibt dem Menschen als höchstes Gut zwei Ziele in einer bestimmten Verbindung vor: Moralität und Glückseligkeit;

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wir sollen moralisch sein, wir wollen glücklich sein. Vernunft fordert, wie Kant sich ausdrückt, dass das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich verbunden ist; d. h. sie verlangt nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dass es dem moralisch Guten, der der Glückseligkeit bedarf und ihrer würdig ist, auch tatsächlich gut geht. Für eine solche Entsprechung bietet die empirische Welt keine Gewähr: Weder die Natur noch die Menschenwelt spielen nach Erfahrungsgesetzen notwendigerweise beim Einzelnen einer Entsprechung von Moralität und Glückseligkeit in die Hände. Dem Guten geht es, wenn überhaupt, dann „in dieser Welt" nur zufälligerweise gut. Die einzig passende Antwort der Vernunft im Interesse moralischer Selbsterhaltung ist die Annahme einer intelligiblen Welt, in der diese Entsprechung gesichert ist; „[...] s o w e r d e i c h u n a u s b l e i b l i c h ein D a s e i n G o t t e s u n d ein k ü n f t i g e s L e b e n g l a u b e n , u n d i c h b i n sicher, d a ß d i e s e n G l a u b e n n i c h t s w a n k e n d m a chen k ö n n e , weil d a d u r c h meine sittlichen G r u n d s ä t z e selbst u m g e s t ü r z t w e r d e n w ü r d e n , d e n e n ich n i c h t e n t s a g e n k a n n , o h n e in m e i n e n e i g e n e n A u g e n verabscheuungswürdig zu sein".10

Zur Uberwindung der Skepsis, zur Versöhnung der menschlichen Vernunft mit sich selbst, zur Erhaltung eines moralischen Selbstverständnisses bedarf es des Glaubens an das Ideal des höchsten ursprünglichen Guts, nämlich eines Gottes, in dem höchste Intelligenz, moralische Vollkommenheit und höchste Seligkeit verbunden sind und der allein als Grund der Weltordnung die Entsprechung von Moralität und Glückseligkeit (in einer anderen als der empirischen Welt) sichern kann.11 Das moralische Selbstverständnis, das man nicht aufgeben kann, ohne sich selbst zu verachten, der (vernünftige) Wille also, ein moralisches Subjekt zu sein, liefert nach Kant den Kanon zu einem reinen Vernunftglauben, der spekulative, theoretisch unauflösbare Kontroversen zugunsten bestimmter metaphysischer Dogmen entscheidet, die 10 KrV A 828 Β 856. 11 „Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer, sofern sie der Moralität genau angemessen ausgeteilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte." KrV A 811 Β 839.

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die Moralität des Menschen in den Horizont einer sinnvollen Weltordnung einbetten.

3. Der Kanon des religiösen Glaubens (Thomas von Aquin, Francisco Suärez) Kant spricht im dritten Abschnitt des Kanons der reinen Vernunft vom Meinen, Wissen und Glauben. Er behandelt diese epistemischen Einstellungen in einer Weise, die einer breiten schulphilosophischen Tradition verpflichtet ist und letztlich über die spanische Spätscholastik auf die Glaubenstraktate der Hochscholastik zurückgehen. Ich gehe auf den Glaubensbegriff eines Thomas von Aquin und Francisco Suärez ein, um die Nähe und Differenz der Aufklärungsposition des Kanons eines reinen Vernunftglaubens zur Kanonik eines offenbarungsreligiösen Glaubens deutlich zu machen. 12 Thomas von Aquin handelt in der Quaestio 14 seiner Quaestiones disputatae de veritate und in der Pars Ila-IIae qu. 1-16 der Summa Theologiae ausführlich vom Glauben. Der Spätscholastiker Francisco Suärez verfasst im Rahmen von Vorlesungen an der Universität Coimbra in den Jahren 1609-15 einen Traktat De fide, der Thomas' Gedanken kommentierend weiterführt, über mehr als 2 Jahrhunderte der bedeutendste katholische Text zu diesem Thema wird, aber auch im protestantischen Bereich breiteste akademische Beachtung findet. Thomas nähert sich einer definitionsartigen Bestimmung des Glaubens über eine Augustinische Formel: „credere est cum assensione cogitare, Glauben heißt mit Zustimmung denken" {De veritate qu. 14 a. I). 13 Das cogitare umfasst unspezifisch die grundlegenden Verstandesleistungen der Begriffs- und der Satzbildung, mit der assensio ist die den Glauben einschließende kognitive Einstellung des Subjekts zum Inhalt der Sätze angesprochen. Glauben heißt für Thomas ganz elementar: Von etwas überzeugt sein, etwas für wahr halten. Wahr zu sein ist eine Eigenschaft von Aussagen. Sie zu bilden, zu verstehen, ihr Wahr- oder Falschsein festzustellen und zu behaupten kann nur ein Wesen, das über Verstand verfügt, 12 Vgl. zum Folgenden auch M. Forschner, 2002, Autorität und Aufklärung oder vom „kindlichen" zum reinen Vernunftglauben: Rousseau und das (spät)scholastische Glaubensverständnis, Münster u. a., S. 67-85. 13 Vgl. Augustinus, De praedestinatione sanctorum, cap. 2, 5 (Migne, PL 44, 963).

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das Sätze bilden kann. Glauben ist deshalb als Disposition und Akt des Geistes wesentlich dem intuitiv und diskursiv operierenden, bejahenden und verneinenden Intellekt, nicht dem Gefühl oder Streben zuzurechnen. Gleichwohl ist Glauben eine besondere Art des Fürwahrhaltens. Wir halten etwas für wahr aus unterschiedlichen Beweggründen und auf verschiedene Weise. Es gibt Dinge, die halten wir für wahr, weil der Sachverhalt unmittelbar oder über argumentative Schritte vermittelt „zwingend" einleuchtet. Es gibt aber auch Dinge, die halten wir für wahr und überzeugend nicht aufgrund eigener „zwingender" Einsicht, sondern weil wir es in der einen oder anderen Hinsicht gut, angemessen und nützlich finden, sie für wahr zu halten. Dann ist es nicht das dem Verstand eigene Objekt, nämlich der einleuchtende Sachverhalt, sondern eine dem Verstand äußere Instanz, der Wille, der den Verstand zu einer Uberzeugung bringt. (Ein hierfür einschlägiger Fall ist der eben behandelte Vernunftglaube Kants). Auch die Weise des Fürwahrhaltens fällt verschieden aus. Thomas unterscheidet die Einstellungen des Zweif eins, des Meinens und des festen Überzeugtseins. Das Zweifeln (dubitare) ist charakterisiert als Fluktuieren des Geistes zwischen den Teilen einer Kontradiktion, wenn ihm Gründe für eine Entscheidung fehlen oder gleichgewichtig für oder gegen die Teile zu sprechen scheinen. Der Zustand des Meinens (opinari) ist gegeben, wenn der Verstand zwar der einen Seite einer Alternative zuneigt, aber zugleich noch (mehr oder weniger explizit) befürchtet, das Gegenteil könne wahr sein. Beide Dispositionen unterscheiden sich vom völligen Überzeugtsein von etwas (totaliter adhaerere alicui rei). Dieses kann nun verschieden bedingt sein: Einmal durch intuitive Einsicht, wenn der Sachverhalt unmittelbar einleuchtet, etwa im Fall von Sätzen, deren Wahrheit allein anhand der Bedeutung der in ihnen verwendeten Termini ersichtlich ist. Thomas spricht hier vom intelligere. Zum anderen kann die feste Uberzeugung über Vermittlungsschritte aus „diskursivem" Erkennen aufgrund etwa eines schlüssigen Beweises resultieren; dies ist der Zustand des scire. Schließlich kann sie vom Willen abhängen, der den Verstand, ohne dass der Sachverhalt intuitiv oder diskursiv erkannt ist, dazu motiviert, etwas fest für wahr zu halten im Blick auf Gesichtspunkte des zielhaft Guten, des Nützlichen und des Schicklichen. Und genau dies ist die Einstellung des Glaubens. Thomas' Analyse nimmt hier, ausführlicher und präziser, die Aussagen Kants (in einer Hinsicht) vorweg: Im diskursiv vermittelten Wissen bewirkt der Gang der Gedanken die Zustimmung; in ihm ist die Zustimmung der natürliche, vollendende Abschluss des forschenden

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und argumentierenden Gangs der Gedanken. Solche Verhältnisse sind im Glauben nicht gegeben. Der Glaube hat als Einstellung des Verstandes etwas Unvollkommenes und Vorläufiges an sich. Der Verstand ist hier nicht an dem ihm eigenen Ziel der Erkenntnis des Sachverhalts angelangt. Warum aber, so muss man sich fragen, ist Glauben für Thomas gleichwohl ein festes Uberzeugtsein und vom bloßen Meinen oder gar Zweifeln wesentlich verschieden? Der entscheidende Unterschied findet sich für Thomas (wie für Kant) in der Legitimationsquelle des Glaubens. Doch diese liegt nun nicht wie etwa bei Kant in der Vernunft des Glaubenden selbst, genauer im Bewusstsein des moralischen Gesetzes, sondern in der auf die (überzeugende) Autorität Anderer bezogenen Struktur des Glaubens. In der Einstellung des Glaubens transzendiert der Einzelne die eigene Vernunft und Urteilskraft. Glauben beinhaltet für Thomas, anders als Zweifeln und Meinen, eine dreistellige Relation: Jemand glaubt jemandem etwas. 14 Man glaubt etwas, weil jemand (Anderer) es sagt, weil er uns aufgrund bestimmter Eigenschaften für die Wahrheit des Gesagten bürgt und weil uns das Gesagte zu glauben gut, passend und nützlich erscheint. Die Beziehung zu einer externen personalen Autorität ist der Einstellung des Glaubens ebenso wesentlich wie die Beziehung zum für uns Guten, Passenden und Nützlichen. Diese Einstellung des Glaubens ist dem Einzelnen in seiner praktischen Alltagsorientierung in vielfacher Hinsicht unentbehrlich und selbstverständlich. Sie ist in einer theistischen Offenbarungsreligion zentral. Sie ist dagegen einem philosophischen Selbst- und Weltverhältnis, wie es durch die sokratische Tradition etabliert wurde, fremd. Beansprucht und verlangt dieses doch, alle Geltungsansprüche durch eigene Vernunft zu prüfen und zu beurteilen und sie nur dort ohne Vorbehalt, ohne skeptische Reserve, mit überzeugter Sicherheit zu erheben und zu befolgen, wo sie in eigener vernünftiger Einsicht verankert sind. Der Alltagsglaube und der religiöse Glaube sind dreistellig, der philosophische Glaube ist zweistellig. Hierin liegt denn auch der wesentliche Unterschied von Thomas' zu Kants Glaubensbegriff, dem, wie gezeigt, allein die Autorität der eigenen sich moralisch-praktisch verstehenden Vernunft den Kanon für die Annahme theoretisch unbeweisbarer Sätze liefert. 14 „Et ista est dispositio credentis, ut cum aliquis credit dictis alicuius hominis, quia videtur decens et utile." De ver. qu. 14. a. 1 c.

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Im Falle des religiösen Glaubens ist es für Thomas, in gewisser Weise über menschliche Autoritäten vermittelt, letztlich die Autorität Gottes, die den Glaubenden dazu bringt, etwas für wahr zu halten, was sich seiner Einsicht (noch) entzieht. Darin liegt auch der Grund, warum die Zustimmung des religiösen Glaubens für Thomas subjektiv fester und gewisser sein kann als die Zustimmung aufgrund natürlicher Einsicht und Erkenntnis, obgleich das Geglaubte an objektiver Evidenz weit hinter dem Eingesehenen und Bewiesenen zurückbleibt. 15 Es ist genau dieser Bezug zu einer anderen menschlichen oder göttlichen Autorität, der im reinen Vernunftglauben der Aufklärung abhanden kommt bzw., von philosophischer Einstellung angeleitet, bewusst negiert und durch die Autorität der eigenen Vernunft ersetzt wird. Zwischenmenschliches Glauben ist vom religiösen Glauben zu unterscheiden. Thomas geht den entscheidenden Schritt zum Verständnis der Struktur des religiösen Glaubens über eine Erläuterung einer Formel des Hebräerbriefs (XI, 1): „fides est substantia rerum sperendarum, argumentum non apparentium, / der Glaube ist die Substanz der Dinge, die es zu hoffen gilt, das Uberzeugungsmittel für Dinge, die uns nicht vor Augen liegen". Was ist mit dieser Formel gemeint? Im religiösen Glauben ist das Uberzeugtsein von einem Willen motiviert, der auf ein übernatürliches Lebensziel ausgerichtet ist: die visio beatifica, die ewige Erkenntnisund Liebesgemeinschaft des Menschen mit Gott. Das Gute, auf das der religiöse Glaube bezogen ist, ist das Endziel des menschlichen Lebens. Dieses Ziel ist nicht das Ziel der Philosophen, ein mit menschlichen Kräften erkennbares und realisierbares Glück. Die Realisierung des im religiösen Glauben erstrebten Ziels übersteigt die Kräfte des Menschen, es sprengt den Rahmen seines Erkennens und sinnvoll-realistischen Strebens. Es ist uns allein, wie Thomas erklärt, durch die göttliche Großzügigkeit zugesagt. 16 Es vermag aber auch allein unserem Verlan15 D e n n die prima Veritas, d. h. G o t t bzw. das sich den Menschen eröffnende göttliche Wort ist es, das im G l a u b e n d e n die Z u s t i m m u n g des G l a u b e n s bewirkt; und dieses ist eine weit stärkere U r s a c h e f ü r die Festlegung unserer Einstellung als das Licht unserer natürlichen Vernunft .. „certitudo d u o potest importare: scilicet firmitatem adhaesionis; et q u a n t u m ad hoc fides est certior omni intellectu et scientia, quia p r i m a Veritas, quae causat fidei assensum, est fortior causa q u a m lumen rationis, q u o d causat assensum intellectus vel scientiae. Importat etiam evidentiam eius cui assentitur; et sic fides non habet certitudinem, sed scientia et intellectus [...]" De ver. qu. 14 a. 1 ad 7. 16 „ A l i u d est b o n u m hominis naturae humanae p r o p o r t i o n e m excedens, quia ad i p s u m

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gen zu entsprechen. Damit dieses Ziel, die plena dei cognitio, überhaupt unser natürliches Streben (als realistisches Ziel) ansprechen, unsere natürlichen Kräfte mobilisieren und auf sich ziehen kann, bedarf es einer anfanghaften Vorwegnahme, eines „Vorkostens" oder, mit einem anderen Bild des Thomas gesprochen, einer samenhaften Präsenz dieses Ziels in uns. Und diese kognitive Vorwegnahme, diese samen- bzw. keimartige Präsenz des übernatürlichen Ziels in diesem Leben ist der (religiöse) Glaube (als substantia rerum sperendarum, gemeint ist: als „Vorschein" der Dinge, die wir hoffen dürfen). Wir erfassen in ihm, wenngleich nur anfanghaft und in Bildern und Gleichnissen, die heilsgeschichtlichen und endzeitlichen Dinge, die unser natürliches Erkennen übersteigen, ex infuso lumine,17 d. h. in einem Licht, das gnadenhaft geschenkt ist und die Aufklärungskraft unseres natürlichen Verstandes hinter sich lässt. Das Licht dieser Aufklärung durch den (religiösen) Glauben ist von anderer Art als das Licht der natürlichen Vernunft. Und es bezieht sich auf Sachverhalte anderer Art als letztere. Und wir sind im Licht des Glaubens vom Bestehen der übernatürlich-heilsgeschichtlichen Sachverhalte überzeugt; unsere Vernunft stimmt jemandem in diesen Dingen zu, weil sie von Gott zugesagt sind; im Glaubenden wird also durch die Autorität des (bezeugenden und zusprechenden) Anderen die Zustimmung bewirkt.18 Religiöser Glaube ist für Thomas zweifellos eine Kenntnis von Sachverhalten, die wir von uns aus nicht erkennen könnten, die aber zu kennen und fest für wahr zu halten nötig ist, um an ein übernatürliches Ziel zu gelangen. Doch damit ist nicht alles, ja, wohl noch nicht alles Wesentliche gesagt. Denn im Vordergrund der Glaubenseinstellung steht für Thomas das skepsisfreie, das vorbehaltlose Vertrauen auf eine Person oder auf Personen und ihr Wort.19 Religiöser Glaube ist für Thoobtinendum vires naturales non sufficiunt, nec ad cogitandum vel desiderandum; sed ex sola divina liberalitate homini repromittitur". q. 14 a . 2 c . 17 „Unde oportet huiusmodi cognitionis supernaturalis aliquam inchoationem nobis fieri; et haec est per fidem, quae ea tenet ex infuso lumine, quae naturaliter cognitionem excedunt". q. 14 a . 2 c . 18 „[...] ratio assentit alicui ex hoc quod est a deo dictum; et sie ex auetoritate dicentis efficitur assensus in credente." q. 14 a. 2 ad 9. 19 „Quia vero quicumque credit, alieuius dicto assentit, principale videtur esse, et quasi finis in unaquaque credulitate ille, cuius dicto assentitur: quasi autem secundaria sunt ea, quae quis tenendo vult alicui assentire./Wer glaubt, stimmt dem Wort von jemandem zu. Deshalb ist offensichtlich das wichtigste und gleichsam das Ziel in jeder

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mas wesentlich die vertrauensvoll bejahende Antwort des Menschen gegenüber einem sich selbst eröffnenden und ihm das endgültige Heil anbietenden und zusagenden Gott. Und christlicher Glaube hat für ihn seine personale Struktur wesentlich in der anerkennenden Beziehung des Gläubigen zur Person Jesu Christi, zur vermittelnden Personengemeinschaft der Kirche und zum autoritativen Wort Gottes in der Hl. Schrift.20 Die entscheidende Frage an dieses religiöse Glaubenskonzept ist natürlich, auf welche Weise sich Gott dem Menschen personal eröffnet, wie der Mensch sicher sein kann, dass er der Autorität Gottes und nicht bloß der bestimmter Menschen vertraut. Die übliche Antwort lautet: „ D i e Offenbarung Gottes gelangt zum Glaubenden entweder unmittelbar, wie an Moses, die Propheten und die Apostel, oder mittelbar durch Zeugen, die von Gott durch Wunder und übernatürliche Eigenschaften, wie es die einzigartigen Kennzeichen der wahren Kirche sind, als glaubwürdig bezeugt werden". 2 1

Diese Auskunft scheint unbefriedigend zu sein. Wenn der religiöse Glaube der veritable Anfang, ein echtes Vorkosten der visio beatifica sein soll, dann möchte man annehmen, dass die personale Selbsteröffnung Gottes dem Glaubenden gegenüber in irgend einer Weise auch unmittelbar erfolgen muss. Menschliche Zeugenschaft und Zeugnisse ebenso wie Wunder sind allemal ambivalent und unsicher. Ihnen gegenüber ist eine gewisse Skepsis, jedenfalls ein Restvorbehalt angebracht. In der Tat wird die europäische Aufklärung, zum Teil zumindest, genau diese Forderung erheben: Wenn schon (heilsnotwendiger) Glauben aufgrund von Zeugenschaft, dann sollte, ja müsste die Autorität Gottes für alle unmittelbar das zu Glaubende bezeugen. Wir werden sehen: Rousseau klagt explizit und mit Nachdruck für sich und für alle Menschen eine direkte Selbstoffenbarung Gottes ein. Darauf gibt Thomas vorweg zur Antwort: „Wie allerdings geschaffenes Sein von sich aus nichtig und Mängeln ausgesetzt ist, wenn es nicht vom ungeschaffenen Sein gehalten wird; so ist alle geschaffene Wahrheit Mängeln ausgesetzt, wenn sie nicht durch die ungeschaffene Wahrheit im Wahren gehalten wird. So würde weder eines MenGläubigkeit jener, dessen Wort man zustimmt. A n zweiter Stelle aber stehen die Dinge, durch deren Fürwahrhalten jemand jemandem zustimmen will". S. Th. II-II, q. 11. a.lc. 20 „sie ergo qui recte fidem Christianam habet, sua voluntate assentit Christo in his qui vere ad eius doctrinam pertinent". Ebd. 21 Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. (1932) Bd. IV, 520f. (A. Landgraf).

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sehen noch eines Engels Zeugnis zuzustimmen unfehlbar zur Wahrheit führen, wenn nicht in ihnen ein Zeugnis des sprechenden Gottes gesehen wird." 2 2

Menschen zeugen für Gott, aber Menschenzeugnis (das der Apostel, der Hl. Schrift und der Kirche) wird im Akt des Glaubens als Gottes Wort betrachtet und muss als solches betrachtet werden. Doch genau dem vermag die philosophische Aufklärung nicht zu folgen. Thomas sagt im Fidestraktat nichts weiter über die Eigenart dieses Zeugnisses und die logische Struktur dieses considerare; er schweigt sich darüber aus, wie der Gläubige im Wort der Hl. Schrift und im Wort der die Schrift verkündenden und auslegenden Kirche Gott selbst als Autor dieses Wortes erfahren, ihn identifizieren und seiner Autorität vertrauen kann. Hier nun hilft die Differenzierungs- und Interpretationsleistung des Francisco Suärez etwas weiter. Er bedient sich zur Klärung und Beantwortung der Frage, wie Gott im (menschlichen) Wort der Schrift und der Kirche selbst als Autor dieses Wortes erfahren werden kann, einer Thomasunterscheidung zwischen einer revelatio ex parte objecti und einer revelatio ex parte potentiae:13 Etwas kann offenbar werden dadurch, dass es sich selbst unverhüllt zeigt, oder dadurch, dass jemandem die Augen geöffnet werden, derart, dass er im menschlichen und menschlich erscheinenden Zeugnis Gott sich bekunden sieht. In nachapostolischer Zeit werden die Menschen über Gott durch Menschen und menschliche, wenn auch vom Hl. Geist inspirierte Zeugnisse belehrt: durch die Hl. Schrift, die Gemeinschaft und die Leitung der Kirche. 24 Es sei nicht notwendig, dass eine für den Akt des Glaubens hinreichende Vorlage des Glaubensinhalts von Gott unmittelbar erfolge; notwendig sei allerdings, dass die göttliche Kraft in ihr unmittelbar und auf beson22 „Sicut autem esse creatum, quantum est de se, vanum est et defectibile, nisi contineatur ab ente increato; ita omnis creata Veritas defectibilis est, nisi quatenus per veritatem increatam rectificatur. U n d e neque hominis neque angeli testimonio assentire infallibiliter in veritatem duceret, nisi quantum in eis loquentis Dei testimonium consideratur." De ver. q. 14 a. 8c. (Hervorhebung M. F.). 23 Suärez, De fide, disp. III sect. III, 6: „Declaratur hoc ex divo Thoma, 1 p., quaest. 106, art. primo ubi dicit spiritualem illuminationem interdum fieri ex parte objecti, interdum vero ex parte potentiae [...]." 24 Suärez, De fide, disp. IV sect. I, 4: „(Augustinus dixit) Sicut Deus immediate creavit unum hominem, at ab illo ac per illum produeti sunt ceteri successione continua, ita in fide per se instruxisse D e u m quosdam homines, a quibus alii docerentur. Et ita communis ratio prudentiae est, ut homines per homines doceantur." Suärez, 1858, S. 113.

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dere Weise dazwischentrete,25 und zwar in Form einer besonderen Gnadenhilfe, die „das Herz" des Hörenden (und Lesenden) derart öffne26, dass es in dem, was von Menschen verkündet wird, etwas evidentermaßen Glaubwürdiges sieht, etwas, was von Gott selbst gesagt wird.27 Dabei soll etwas als Wort Gottes evident werden, ohne dass Gott selbst sich direkt enthüllt. Suarez betont: Nur dem, dem Gott unmittelbar „das Herz" öffnet, ist das von Menschen Bezeugte und Verkündete als Wort Gottes evident. Nur ein gnadenhaft geöffnetes Herz vermag in dem, was andere Menschen gesagt haben und sagen, ein testimonium loquentis dei zu sehen. Gleichwohl liefere sein auf übernatürliche Weise wahrnehmungs- und urteilsfähig gemachtes „Herz" dem Einzelnen noch keinen hinreichend zuverlässigen Kanon der Glaubenswahrheit. Es bedürfe der Stütze und des Halts äußerer kanonischer Instanzen, die dem Gläubigen auf autoritative Weise eine sichere Orientierung seines Urteils bieten. Nach Suarez gibt es in nachprophetischer und nachapostolischer Zeit keine unmittelbar-personale Begegnung zwischen Gott und Mensch in diesem Leben. Diese eindeutige und ausschließliche Betonung der revelatio ex parte potentiae, in der der Mensch auf übernatürlich gnadenhafte Weise befähigt wird, in einem menschlichen Wort und Zeugnis Gottes Wort und Zeugnis, nicht aber Gott selbst unmittelbar zu erfahren, ist bedeutsam. Sie weist einerseits eine rein natürliche Begründung der religiösen Glaubenseinstellung zurück. Sie schiebt andererseits jedem schwärmerischen Anspruch von Einzelnen oder Grup25 Suarez, De fide, disp. IV sect. I, 5: „Dico secundo: quamvis necessarium non sit ut sufficiens propositio fidei a Deo immediate fiat, necessarium saltern est ut divina virtus in ea proxime et specialiter intercedat." Suarez, 1858, S. 113. 26 Suarez, De fide, disp. IV sect. I, 6: „Alio modo contingit fidem jam sufficienter praedicatam et introductam, singulis praedicari et quasi applicari, et tunc non sunt necessaria exteriora signa divinae virtutis; necessarium autem est ut divina virtus interius adjuvet et cooperetur, ut unusquisque sufficienter percipiat propositionem fidei et de ilia convenienter judicet; nam totum hoc est valde supernaturale, quod sine peculiari auxilio gratiae praestari non potest. Et hoc insinuatum est Acta. 16, cum de quadam foemina dicitur: Cui Deus aperuit cor, ut intenderet his quae dicebantur a Paulo, quasi hoc fuerit necessarium ut crederet." Suarez, 1858, S. 114. 27 Suarez De fide, Disp. IV, sect. II, 3 u. 4: „[...] voluntas credendi, quae ad fidem supernaturalem sufficit, est etiam supernaturalis, et ex speciali Dei auxilio; ergo per se est voluntas studiosa et honesta; ergo supponit prudens judicium circa objectum suum [...] credulitas autem fidei talis esse debet, ut sit immunis ab omni falsitate [...] Dico secundo: ut propositio objecti fidei sit sufficiens, necessarium est ut id quod proponitur fiat evidenter credibile, tamquam dictum a Deo, ac subinde ut certum et infallible [...]" a.a.O.

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pen auf eine unmittelbare übernatürliche Gottbegegnung in diesem Leben einen Riegel vor. Sie bindet schließlich das subjektiv gnadenhaft erleuchtete Herz des einzelnen Gläubigen an ein objektives, historisch bestimmtes und umgrenztes, von einer Gemeinschaft getragenes autoritatives menschliches Zeugnis, das als regulafidei, als Kanon gläubiger Urteilskraft fungiert: Gemeint sind jene nichtsubjektiven kanonischen Instanzen, durch die die wesentlichen, d.h. die heilsnotwendigen Glaubensinhalte jenen, die nicht unmittelbare Adressaten einer göttlichen Wortoffenbarung sind, unfehlbar erfassbar werden sollen, beim Jesuiten Suärez die Hl. Schrift, die Universalkirche, die Tradition, das allgemeine Konzil, der Papst.28 Was hat es mit diesen objektiven kanonischen Instanzen näherhin auf sich? Das Konzil von Trient hatte die Festlegung des Schriftkanons an die Spitze der Konzilsbeschlüsse gestellt.29 Für den Umfang des Kanons berief es sich gegen die Reformatoren auf die breite Tradition, wie sie von Athanasius im 39. Osterbrief und vor allem von Augustinus in De doctrina christiana II, 26-29 festgeschrieben war. Doch mit den Reformatoren war man sich einig, dass die Verfassung, Sammlung und Anerkennung (eines Corpus) von Texten als menschliches Zeugnis göttlicher Offenbarung die Anerkennung der in ihnen enthaltenen wesentlichen Botschaft voraussetzt. Die Anerkennung einer Liste von Texten als kanonisch basiert auf dem Vorhandensein der autoritativen Geltung einer Glaubenslehre, deren gemeinsame, kontinuierliche und authentische Annahme eine (kontinuierliche) Gemeinschaft von Gläubigen stiftet. Dieses verbindende und verbindliche inhaltliche Glaubensgut fungiert sachlich und zeitlich als ursprüngliche regula fidei. Doch auch dieses Glaubensgut kann seine Rolle als inhaltlicher Kanon nur spielen auf der Basis seiner theoretischen und praktischen Anerkennung durch die Glaubensgemeinschaft. Die authentisch gelebte und als solche erfahrene Gemeinschaft der Gläubigen im Glauben bildet die personale Autoritätsbasis des religiösen Glaubens des Einzelnen. Ein Kanon als geschlossene Liste heiliger Texte, aber auch die von katholischer Seite betonten übrigen formalen kanonischen Instanzen sollen Kontinuität und Identität einer derart gegründeten Gemeinschaft

28 Vgl. disp. V, I X - X I . 29 Vgl. H. Jedin, 1957, Geschichte des Konzils von Trient II, Freiburg i. Br., S. 44-76; H. Haag, 1965, Die Buchwerdung des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift, in: Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, hrsg. v. J. Feiner u. M. Löhrer, Bd. 1, Einsiedeln u. a., S. 289-427, 379.

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sichern: durch Bewahrung der Botschaft vor Vergessen, vor Verfälschung, vor Verkürzung sowie vor Überfrachtung oder Verfremdung durch Unwesentliches und Nicht-authentisches. Sind die Grenzen der Hl. Schriften einmal etabliert, kann das Corpus nun seinerseits die Rolle einer regulafidei spielen, nämlich Status und Funktion einer Hl. Schrift als Kanon, durch den christliches Lehren, Bezeugen und Leben angewiesen, geregelt und überprüft wird. Die Funktion eines äußeren Kanons des Glaubens für den Einzelnen ist an die Gegebenheit einer authentischen Gemeinschaft der Gläubigen im Glauben gebunden. Das überzeugend erfahrene Leben in dieser Gemeinschaft lässt seine die abwägende Vernunft und Urteilskraft des Einzelnen entlastende, orientierende und bindende Rolle sinnvoll erscheinen. Die Auflösung, die Nichterfahrbarkeit oder die nur noch scheinhafte Präsenz einer solchen Gemeinschaft setzt im Einzelnen die Kritik an der Kanonik des Offenbarungsglaubens frei.

4. Die Kritik der Kanonik eines Offenbarungsglaubens durch J.-J. Rousseau Immanuel Kant ist in seinem Konzept eines reinen Vernunftglaubens eminent von J.-J. Rousseau beeinflusst. Die Lektüre von Rousseaus Emile hat ihn nach eigener Auskunft zutiefst beeindruckt. Da Rousseau seine Argumente gegen die Kanonik eines Offenbarungsglaubens direkter und offener formuliert als Kant in seiner Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,30 und da Rousseau ganz bewusst sich in die philosophische Aufklärungstradition der Sokratik und Piatons stellt, nehme ich für die Darstellung der Aufklärungskritik des Vernunftglaubens am Offenbarungsglauben auf ihn Bezug. Rousseau publizierte seinen philosophischen Bildungsroman Emile 1762 in Paris und Amsterdam. Noch im selben Jahr verurteilten das Pariser Parlament und die Sorbonne aus taktisch-politischen Gründen und auf Betreiben des Pariser Erzbischofs Christophe de Beaumont (*1703, "("1781) das Buch und erwirkten einen Haftbefehl gegen seinen Autor. Dasselbe tat unmittelbar danach auch die calvinistische Republik Genf, deren Bürger Rousseau war. Den Stein des Anstoßes bildete das

30 Zu Kants Kritik des Offenbarungsglaubens vgl. Friedo Ricken, 2003, losophie,

Stuttgart: Kohlhammer, S.206ff.; S.227ff.

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„Glaubensbekenntnis des Savoyardschen Vikars", eine ursprünglich wohl selbständige religionsphilosophische Abhandlung, die Rousseau ins 4. Buch seines Bildungsromans eingefügt hatte. Auf Rousseaus Begründung des Vernunftglaubens im ersten Teil des Glaubensbekenntnisses gehe ich hier nicht ein; nur auf seine Kritik des Offenbarungsglaubens im 2. Teil. Auch wenn diese Kritik -wohl aus Zensurgründen- lediglich in die Empfehlung eines „ehrfurchtsvollen Zweifels" und eines pragmatischen Sichhaltens an die äußere Bekenntnis- und Kultpraxis der Tradition mündet,31 ist das Ziel ihrer Argumentation doch eindeutig. Sie besteht im Kern darin, dass sie in moderner Begrifflichkeit des allgemeinen, gesunden Menschenverstandes, des schlichten, lauteren, aufgeklärten Herzens und der Freiheit und Gleichheit aller Menschen Piatons Kritik an den Homerischen und Hesiodschen Göttergeschichten gegen die geoffenbarte jüdisch-christliche Heilsgeschichte wendet, einem moralisch gereinigten natürlichen Vernunftglauben das Wort redet und in der Jesus-Geschichte nur noch das Leben und Schicksal eines einzigartigen und beispielhaften, die Grenzen des Menschenmöglichen erreichenden homme de la nature inmitten einer depravierten Gesellschaft zu sehen vermag.32 In all diesen Punkten ist sie für das Glaubensverständnis der Aufklärung beispielhaft. Klar ist, dass Rousseaus Reflexionen nicht mehr von der Erfahrung einer authentischen Glaubensgemeinschaft ausgehen oder ausgehen können. Sein Emil wird als Kind nicht mit Religion konfrontiert und als Jugendlicher keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft integriert; er soll instand gesetzt werden, „die zu wählen, zu der ihn der richtige Gebrauch seiner Vernunft führen muß". 33 Und der richtige Gebrauch der Vernunft, der, von einem väterlichen Lehrer beschützt und angeleitet, über eigene Erfahrungen an und mit der Natur der Dinge eingeübt wird, führt ihn nicht zu einer Glaubensgemeinschaft und entsprechend nicht zu einem Offenbarungsglauben. Als primäres Beispiel einer Offenbarungsreligion dient Rousseau das Christentum. Seine Kritik richtet sich sowohl gegen die regula fidei im inhaltlichen als auch im methodisch-formalen Sinn. 31 O.C. IV, S. 625: un doute respectueux, dt. S. 626. Ich zitiere Rousseau nach der französischen Ausgabe J.-J. Rousseau, Oeuvres completes, fidition publiee sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Bibliotheque de la Pleiade (= O. C.), den deutschen Text des Emile nach der Reclam-Ausgabe von Martin Rang, Stuttgart 1968. 32 Vgl. hierzu v. a. O. C. IV, S. 626, dt. S. 627. 33 O . C . IV, S. 558, dt. S. 535.

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(a) Was die Kritik des Glaubensgehalts betrifft: Für Rousseau stellt der größte Teil der Geschichten und bindenden Dogmen des Christentums ein Geheimnis dar, das bestenfalls keine gemeinschaftsstiftende und praxisorientierende Funktion besitzt, schlimmstenfalls eine die Transparenz, die Wahrhaftigkeit, die Brüderlichkeit und Freiheit zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion deformierende Rolle spielt. Eine deformierende Rolle spielt die Offenbarungsreligion mit ihren verbindlichen Glaubensgeheimnissen zwangsläufig, wenn sie das Verhältnis von Erwachsenen, Freien und Herrschenden zu Unmündigen prägt. Das beste, was der mündige Mensch hinsichtlich eines erheblichen Teils dieser Mysterien erreichen kann, sei, zu begreifen, dass sie unbegreiflich sind. 34 Als solche seien sie für eine vernünftige Praxis aber auch ohne Bedeutung. 35 Für Kinder oder unmündige Menschen sei die Verkündigung unverständlicher Mysterien und die Verpflichtung ihres Glaubens auf sie gleichwohl schlecht. Wenn man Dogmen wie das der Trinität 36 im Katechismus die Kinder lehre, so heiße dies, dass man sie zu manipulierbaren und unehrlichen Erwachsenen heranbilden möchte. Denn sobald man die Menschen daran gewöhnt habe, Worte zu sagen, deren Sinn sie nicht verstehen, sei es leicht, sie alles sagen zu lassen, was man will. 37 Und es besage nichts anderes, „als daß man ihnen frühzeitig das Lügen beibringt". 38 Ein bedenkenloser Umgang im Kindesalter mit mythischen Geschichten und leeren Worten verführe zu Heuchelei im Erwachsenenleben, zu einer Praxis, in der Religion als Maske und Fassade des Gottesgnadentums der Herrschenden und der Wohlanständigkeit der Beherrschten diene, 39 hinter der sich die Eigeninteressen von beiden Seiten besser verfolgen ließen. 40 Die Gottesvorstellungen der Offenbarungsreligionen seien von den Mythenvorgaben privater und öffentlicher Vormünder und von kindlicher Einbildungskraft, nicht vom freien Verstand geprägt. Sie spiegeln in Rousseaus Augen Herrschaftsstrukturen, dienen Interessen und haben Projektionscharakter; sie sind anthropomorph und soziomorph. 34 35 36 37 38 39 40

O. C. IV, S. 554, dt. S.530. O. C. IV, S. 568 f., dt. S. 549 f. Vgl. O. C. IV, S. 1000, Lettre ä C. de Beaumont. Ο. C. IV, S. 552, dt. S. 527. O. C. IV, S.554, dt. S.530. O. C. IV, S. 1142, Lettre a Μ. de Franquieres. O. C. IV, S. 560, dt. S.538.

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Der Heranwachsende, der seine kindlichen Vorstellungen abstreift, gewinne dann leicht den Eindruck, dass Himmel und Hölle als Preis für Wortspielereien oder Phantasmagorien ausgesetzt seien, dass man, um an Gott zu glauben, auf den Verstand, den er uns gegeben, verzichten müsse. Auf der anderen Seite sei ein ins Erwachsenenleben übernommener Glaube an leere und unsinnige Formeln und wundersame Geschichten eine leichte Beute der sophistischen Philosophie. Mit der Trivialisierung und Breitenwirkung ihrer Aufklärungsarbeit gerate mit einem derartigen Glauben des unmündigen Volkes auch der vernünftige Glaube an Gott in Gefahr, mit allen fatalen Konsequenzen für die gelebte Moral. (b) Rousseaus Kritik am methodisch-formalen Kanonbegriff wendet sich gegen alle autoritativen menschlichen Instanzen, die beanspruchen, authentische und exklusive Zeugen, Zeugnisse oder Organe einer besonderen göttlichen Offenbarung zu sein. Und die Kritik beruft sich auf die elementare Norm der egalite der Menschen, deren Verletzung das Gottesbild verzerre und die Menschen zu Unrechtem Verhalten verführe. Was sie unter diesem Gesichtspunkt anzuerkennen bereit wäre, ist die Autorität eines Gottes, der sich allen Menschen unmittelbar selbst offenbart. (bl) Der Anspruch, von Gott einer besonderen geschichtlichen Offenbarung gewürdigt zu sein, entspringe dem verdächtigen Wunsch einzelner Menschen und Menschengruppen nach Bevorzugung.41 Dieser Anspruch erniedrige Gott, weil er auf ihn parteiliche menschliche Vorlieben projiziere. Und er mache, was das schlimmste sei, die Menschen, die diese besonderen Dogmen für wahr, verbindlich und heilsnotwendig halten, anmaßend, intolerant und grausam.42 Der Anspruch der Heilsnotwendigkeit sei grausam, weil der Gläubige den Ungläubigen, soweit er an seinem Schicksal Anteil nimmt, mit allen Mitteln zum Glauben zu bringen versuche, mit Worten, und wenn diese nicht wirken, mit Zwang und Gewalt. Er sei blutdürstig, weil der Gläubige den Ungläubigen, soweit er ihn als Bedrohung seines Glaubens wahrnimmt, mit allen Mitteln zu bekämpfen geneigt sei und den Krieg gegen ihn zum heiligen Krieg erkläre. (b2) In unserem überschaubaren Kulturkreis konkurrieren drei große Offenbarungsreligionen um die heilsnotwendige Wahrheit: das Judentum, das Christentum, der Islam. Es sind Buchreligionen, deren 41 Vgl. O. C. IV, S. 608, dt. S. 605. 42 Vgl. O. C. IV, S. 607, dt. S. 603.

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Offenbarungsgut in alten Sprachen verfasst ist und deren Ursprung auf ferne Zeiten zurückgeht. U m die Geltungsansprüche der drei großen Offenbarungsreligionen, die in kanonischen Schriften, Lehren (und Institutionen) fixiert sind, nach Gesichtspunkten unparteilicher Vernunft zu prüfen, bedürfte es eminenter historisch-philologischer Gelehrsamkeit, subtiler systematisch vergleichender Religionskritik und penibler Geschichtsforschung. Und jeder mündige Mensch stehe unter dem verpflichtenden Anspruch des Selbstdenkens, müsse sich um die Sicherheit und Unparteilichkeit eines eigenen Urteils bemühen. Jeder müsste also die Mühe der Forschung selbst auf sich nehmen43 Die Einlösung dieser Verpflichtung wäre nicht nur für die Praxis absurd. Wenn es eine Offenbarungsreligion gibt, die heilsnotwendig ist, dann müssten die testimonia, die die göttliche Herkunft der Botschaft bezeugen, sicher, manifest und allen in gleicher Weise zugänglich sein; andernfalls hätte der Gott dieser Religion ungerechte und tyrannische Züge. 44 Weder die in längst nicht mehr gesprochenen Sprachen verfassten Hl. Schriften der großen Offenbarungsreligionen, noch ihre Geschichte, noch ihre Institutionen erfüllten für einen unparteilichen Blick die Kriterien für derart manifeste Zeugnisse. (b3) Offenbarungsreligionen stützen sich auf autoritative menschliche Vermittlung göttlicher Botschaft und göttlicher Heilsgaben. Doch genaugenommen stehe der Gedanke, dass Gott den Menschen über vermittelnde menschliche Instanzen eine heilsnotwendige Botschaft und göttliche Gnaden zukommen lässt, dem unabweisbaren Anliegen des Menschen nach Gleichbehandlung, nach Direktheit und Transparenz der Gottesbeziehung, nach Schutz vor Verführung durch andere entgegen. „ A h a ! Menschen also werden mir sagen, was G o t t gesagt hat. Ich hätte G o t t lieber selber gehört, das hätte ihn nichts weiter gekostet, und ich wäre vor aller Verführung sicher gewesen. Er schützt dich davor, indem er die Sendung seiner Boten bezeugt. Wie denn? D u r c h Wunder. U n d w o sind diese Wunder? In den Büchern. U n d wer hat diese Bücher geschrieben? Menschen. U n d wer hat jene Wunder gesehen? Menschen, die sie bezeugen. Was! Immer menschliche Zeugnisse! immer Menschen, die mir berichten, was andere Menschen berichtet haben! Wie viele Menschen zwischen G o t t und m i r ! " 4 5

43 O. C. IV, S. 623, dt. S.624. 44 O. C. IV,S.609f., dt. S.606. 45 O. C. IV, S. 610, dt. S.607f.

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Die höchsten und wesentlichen Vorstellungen über Gott kommen, so Rousseau, dem Menschen nicht aus autoritativer Vermittlung durch andere, sondern allein aus seiner Vernunft. 46 Sie allein könne und müsse ihm den Kanon rechten Glaubens liefern. Rousseau möchte die natürliche Religion hinsichtlich des Verstandes auf wenige abstrakte philosophische Gedanken beschränkt sehen, die jedermann einsichtig werden können, die wie in Piatons Nomoi den göttlichen Ursprung der Weltordnung zum Inhalt haben und wie bei Kant der Stabilität eines aufgeklärten moralischen Selbstverständnisses dienen. Hinsichtlich des Gefühls sind es (gerade nicht zwischenmenschliche, auch autoritätsgeprägte Beziehungen, sondern) eine intensive Naturbeobachtung und die meditative Besinnung auf die Stimme des Gewissens, die eine über Gottes Werke vermittelte, empfindungsstarke, wenn auch nicht eigentlich personal zu nennende Gotteserfahrung freisetzen. 47 „ H a t G o t t n i c h t alles u n s e r e n A u g e n , u n s e r e m G e w i s s e n , u n s e r e r U r t e i l s kraft gesagt? Was könnten uns die M e n s c h e n mehr sagen? Ihre O f f e n b a r u n g e n e r n i e d r i g e n G o t t nur, d a sie i h m m e n s c h l i c h e L e i d e n s c h a f t e n b e i l e gen".48

Rousseaus Vikar bekennt sich zu einer rein natürlichen Religion, sein Glaube ist ein rein philosophischer Glaube; vom Kern der überkommenen religiösen fides und der Autorität ihrer Kanonik für die abwägende Vernunft und gläubige Urteilskraft des Einzelnen ist nichts geblieben. Rousseaus Autobiographie der Confessions, in deutlicher kontrastiver Anspielung auf Augustinus geschrieben, gibt uns eindeutig zu erkennen, dass er niemals eine veritable Gemeinschaft der Gläubigen im Glauben als personale Autoritätsbasis religiösen Glaubens erfahren hat. Voltaire schrieb in einem Brief vom 14. Juni 1762 an Damilaville von der kühnsten Kritik, die jemals gegen das Christentum gerichtet wurde, und er meinte Rousseau. 49 Voltaire sagte nichts darüber, was die 46 47 48 49

O. C. IV, S. 607, dt. S. 603. O. C. IV, S. 578, dt. S. 563. O. C. IV, S.607, dt. S.603. „C'est un fatras d'une sötte nourrice en quatre tomes, avec une quarantaine de pages contre le christianisme des plus hardies qu'on ait jamais ecrites; et, pour une inconsequence digne de cett tete sans cervelle et de ce Diogene sans coeur, il dit autant d'injures aux philosophes qu'a Jesus Christ; mais les philosophes seront plus indulgents que les pretres." Brief vom 14. Juni 1762 an Damilaville, zitiert nach P. fimile Regnault (S.J.), Paris 1882, Christophe de Beaumont, Archeveque de Paris (1703-1781), 2 Bde., Bd. II, S . 5 7 f .

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Kühnheit von Rousseaus Kritik ausmacht; ich habe versucht, sie genauer zu benennen. Dabei war mein Interesse nicht, den Kanon des Vernunftglaubens gegen den Kanon des Offenbarungsglaubens auszuspielen; ich wollte nur die Differenz von beiden so klar wie möglich zum Ausdruck bringen.

Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung". Rationalität im Religionskonzept Ludwig Wittgensteins ANDREAS KORITENSKY

1. Einleitung In der Wittgensteinforschung haben sich zwei Interpretationsrichtungen herausgebildet, die die Frage nach der Rolle der Rationalität für Wittgensteins Religionskonzept unterschiedlich beantworten. Die eine geht davon aus, dass die privaten irrationalen Aussagen zu Religion und Kultur, die Wittgensteins Nachlass durchziehen, von seiner kritisch-rationalen Sprachphilosophie getrennt werden können. 1 Es sind vor allem Passagen, in denen Wittgenstein die Religion mit der Subjektivität (WWK S. 117) oder Gefühl (MS 132 S. 167, MS 168 S. 1) in Verbindung bringt oder einen Gegensatz zwischen Religion und Rationalität zu behaupten scheint (LC S. 59, MS 134 S. 9). Auf der anderen Seite steht das mit dem Namen D. Z. Phillips verbundene relativistische Konzept autonomer Sprachspiele, die ihre Maßstäbe der Rationalität selbst erzeugen. 2 Beide Positionen erscheinen unbefriedigend sowohl 1 Vgl. Glock, 2001, S. 195-220. - Die Manuskripte (MS), Typoskripte (TS) und Diktate (D) aus Wittgensteins Nachlass sind zitiert nach der Bergen Electronic Edition: Ludwig Wittgenstein, 2000, 'Wittgenstein 's Nachlass, Bergen Electronic Edition, Oxford: Oxford University Press. Nur für den Tractatus logico-philosophicus (TLP) und die Philosophischen Untersuchungen (PU) wurden aus praktischen Gründen die Titel und die von Wittgenstein stammende Paragrapheneinteilung weiterverwendet. (LC): 1966, Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology an Religious Belief, hrsg. von Cyril Barrett, Oxford: Blackwell. (LWL): 1980, Lectures Cambridge 1930-1932, hrsg. von Desmond Lee, Totowa: Roman and Littlefield. (WWK): 41993, Wittgenstein und der Wiener Kreis (Werkausgabe Band 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2 Diese These, die D. Z. Phillips immer wieder umkreist, ist am klarsten ausgesprochen bei Malcolm, 1977, S.212.

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hinsichtlich der Lösung des Problems von Rationalität und Religion als auch als Interpretationen der Texte Wittgensteins. Ausgehend von einer Textgruppe in MS 110, die Wittgenstein im Juni und Juli 1931 zu Papier gebracht hat und die teilweise als Bemerkungen zu Frazers Golden Bough ediert wurden, soll hier ein anderer Weg beschritten werden. Diese Notizen, die sich mit der szientistischen Deutung primitiver Religiosität durch den schottischen Ethnologen J. G. Frazer befassen, waren als Einleitung zu einem „neuen Buch" gedacht, enthalten also wichtige Hinweise auf das Gesamtkonzept der Philosophie Wittgensteins, das er in diesem Zeitraum neu bestimmt.

2. Die kritisierte Rationalität: Wittgensteins Kampf gegen den Szientismus Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer Im Gegensatz zum Tractatus zielt Wittgensteins späteres Denken nicht auf die Errichtung eines philosophischen Gebäudes, sondern auf die Offenlegung der wahren Grundlagen der Sprache (PU 118), die im (alltäglichen) Leben der Menschen zu finden sind (PU 129). Dass die Menschen die Tendenz haben, sie trotz ihrer allgemeinen Zugänglichkeit zu übersehen, hat seinen Grund in eingefleischten Denkgewohnheiten. Daher muss es der erste Schritt der Philosophie sein, deren „Physiognomie" herauszuarbeiten (MS 110 S. 230). Diesem Konzept bleibt Wittgenstein bis in die Endfassung der Philosophischen Untersuchungen (1944-46) treu. Inwiefern ist nun das Opus Magnum Frazers ein typischer Ausdruck dieser falschen Denkgewohnheiten? Frazer versucht in seinem Werk zu zeigen, dass sich in den Mythen und magischen Praktiken rund um den Globus die Denkweise einer einfachen Erklärung der Natur zum Zweck ihrer Beherrschung verbirgt. Die Religion ist die Modifikation dieser Theorien, indem sie die Naturmächte als eigenwillige Götter interpretiert und so das Scheitern magischer Handlungen erklärt. Durch die modernen Naturwissenschaften werden schließlich die Stadien von Magie und Religion überwunden. Als die dritte, auf zwölf Bände angewachsene Fassung des Golden Bough in den Jahren 1912— 1936 erscheint, ist diese positivistische und szientistische Deutung der Religion in der Religionswissenschaft längst überholt. Es dürften vor allem drei Gründe sein, warum Wittgenstein dennoch auf dieses Werk

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zurückgreift. (1) Wittgenstein geht es um die grundsätzliche Perspektive. Dazu reicht eine holzschnittartige Skizze, die den Grundgedanken zusammenfasst, wie es später das „Augustinische Bild der Sprache" in PU 1 leisten soll, das übrigens nur wenige Tage nach den Bemerkungen zu Frazer eingeführt wird (MS 111 S. 15 f.). (2) Frazers Buch erfreute sich im England der 1930er Jahre immer noch einer hohen Popularität, weil es die Überlegenheit der Kolonialmacht über die „primitiven" Völker zu rechtfertigen schien und außerdem einen religionskritischen Zug aufwies. Im Golden Bough kommt also eine verbreitete Denkgewohnheit zum Ausdruck. (3) Gleichzeitig schätzt Wittgenstein Frazers Darstellung der magisch-religiösen Bräuche, weil sie der positivistischen Deutung zum Trotz, deren eigentliches Wesen durchscheinen lassen (MS 110 S. 180).

Die wissenschaftliche Methode Wittgenstein kritisiert die Anwendung des Konzepts der (wissenschaftlichen) Theorie im Kontext der Religion in zweierlei Hinsicht: (a) Religiöse Anschauungen haben nicht den Charakter von Theorien (MS 110 S. 178,181). (b) Religion kann darüber hinaus auch nicht durch eine Theorie adäquat erfasst werden (MS 110 S. 178-180). Zunächst ist daher zu klären, was Wittgenstein unter einer Theorie bzw. (theoretischen) Erklärung versteht. (1) Wittgenstein verweist zunächst auf den hypothetischen Charakter der wissenschaftlichen Methode (MS 110 S. 180f.). Mit dem Konzept der Hypothese beginnt seit 1929 das Sprachmodell des Tractatus' aufzubrechen.3 Die Hypothese tritt neben den Elementarsatz. Während letzterer unmittelbar ein Phänomen benennt und daher verifiziert bzw. falsifiziert werden kann, ist die Hypothese eine Prognose, die eine Reihe von (auch in der Zukunft) möglichen Aussagen über Phänomene zusammenfasst. Daher können sie bestenfalls wahrscheinlich sein. In den Naturwissenschaften nehmen sie in der Regel die Form von mathematischen Funktionen an. Für Wittgenstein ist die Hypothese die basale Aussageform der Naturwissenschaft, in der sie ihre Gesetze niederlegt. Mit der Hypothese kann der Wissenschaftler den engen Bereich des unmittelbar Gegebenen überschreiten. Nun gibt Wittgenstein sehr 3 Wichtige Textpassagen hierfür sind: PB, 225-238; WWK, S. 99-01, 159-162, 210f.

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bald die Konzeption der elementaren Basissätze auf, da nahezu jede Aussage über die Welt das unmittelbar Wahrgenommene überschreitet und damit im strengen Sinne hypothetisch ist (MS 110 S. 258). Trotzdem behält Wittgenstein die Unterscheidung von Beschreibung, die auf das Konkrete ausgeht, und hypothetischer Theorie bei, wobei aber nicht mehr die äußere Satzform die Bedeutung bestimmt, sondern an der Funktion im Leben abgelesen werden muss. Die wissenschaftliche, hypothetische Erklärung steht daher aufgrund ihrer Allgemeinheit nach wie vor in einer größeren Distanz zur Wirklichkeit und kann bestimmte Aspekte nicht erfassen. (2) Auf dieser Linie liegt auch das Bild der wissenschaftlichen Methode, das sich in den Entwürfen zum Vorwort der Philosophischen Bemerkungen findet (MS 109 S. 204-208., 211f.). Wissenschaftliches Denken wird dort als fortschreitend und aufrauend charakterisiert, indem es immer komplexere Strukturen zusammenaddiert. Diese Komplexität ist quantitativ zu verstehen und nicht als Eindringen unter die Oberfläche. Dies setzt eine gewisse Gleichförmigkeit der Elemente voraus, wie sie Wittgenstein selbst im Tractatus postuliert hat. Qualitative Unterschiede oder gar Nuancen in der Bedeutung der Sprache, die auf einen tieferen Sinn verweisen, würde deren „Bautauglichkeit" verhindern. Das bedeutet aber, dass die Wissenschaften gezwungen sind, eine eigene Sprache zu entwickeln, bzw. die Alltagssprache so umzudeuten, dass sie diese Nuancen nicht mehr enthält. Nicht nur die hypothetischen Erklärungen als Endprodukt der Wissenschaften, sondern bereits deren sprachliche Grundlagen sind von Abstraktion und einer Abwendung vom Konkreten geprägt (D 309 S. 26). (3) Nun scheint die wissenschaftliche Methode für bestimmte technische Ziele aufgrund ihrer Erfolge ja durchaus legitim zu sein (siehe ζ. B. die Rolle der Hypothese in PU 23). Wittgenstein nennt sie eine Bereicherung (MS 143 S. 142). Allerdings hat sie die Tendenz, einen Absolutheitsanspruch zu erheben, der ihr nicht zukommt, (a) Sie wird dann auf Phänomene angewandt, für die sie nicht geschaffen wurde, wie im Falle von Frazers Religionsinterpretation (Theorie der Religion), (b) Indem die wissenschaftliche Methode zur exaktesten Form der Welterfassung proklamiert wird, greift sie auf das Feld der Weltanschauung über (MS 131 S. 186f.). Wittgenstein kritisiert nicht nur Frazer, sondern auch Theologen (LC S. 57f.), die die religiösen Anschauungen in diese (zu engen) Formen gießen wollen (Religion als Theorie).

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Rationalität als szientistische Grundhaltung Die eben beschriebene Tendenz zum Absolutheitsanspruch scheint aber keine zufällige „Verirrung" zu sein, sondern in der Natur der Sache zu liegen. Unter Rationalität ist eben nicht nur ein Bündel von bestimmten Denkmethoden zu verstehen, sondern auch eine Geisteshaltung, durch die diese Methoden legitimiert werden. Wittgenstein spricht hier in expliziter Analogie zur Ästhetik von einem „style of thinking" (LWL S. 103 f.). Dadurch möchte er die irrtümliche Selbsteinschätzung des Szientismus korrigieren, dass sich alle Aussagen aus letzten (selbstevidenten) Prinzipien ableiten lassen. Dabei handelt es sich aber faktisch um ein Postulat, weil diese Letztbegründung der Wissenschaft weder durchgeführt noch durchführbar ist. Das Denken hat keinen Anfang, wohl aber, wie noch zu zeigen sein wird, eine Wurzel im menschlichen Leben. Die Fiktion des letzten Grundes ist wichtiger Bestandteil des Denkstils der Physik. Die eigentliche Wurzel dieses Stils ist eine grundlegende Ausrichtung des Menschen auf die Welt (MS 109 S.200f., MS 139a S. 18). Sie ist durch den Wunsch, die Welt theoretisch zu erfassen geprägt, so dass man von der Haltung der Neugier sprechen könnte. Diese Fragehaltung wird durch die Antworten, d. h. die theoretischen Erklärungen, identifiziert, die die Frage auflösen. Hier macht sich jedoch als Problem bemerkbar, dass die szientistische Weltsicht eine ganze Kultur durchdringt und prägt (MS 183 S. 81). Alle Fragen des menschlichen Lebens werden nun nach dem einen Modell interpretiert und zu beantworten versucht. Bereits in T L P 6.52 hat Wittgenstein in diesem Fall eine Unterscheidung angemahnt. Genau an dieser Stelle setzt auch die Kritik an Frazers Umgang mit der Religion an. Frazer übersieht den eigenständigen Problemhorizont der Religion, dem die religiösen Antworten korrespondieren.

3. Das Verhältnis von Rationalität und Religion Die Unmöglichkeit, Religion rational zu begründen „Kein geringer Grundf,] d. h. überhaupt kein Grund[,] kann es gewesen sein[,] was gewisse Menschenrassen den Eichbaum verehren ließ, sondern nur das, daß sie und die Eichen in einer Symbiose vereinigt waren[,] also nicht aus Wahlf,] sondern wie der Floh und der Hund miteinander entstanden (Entwickelten die Flöhe einen Ritus, er würde sich auf den Hund beziehen)" (MS 110 S. 298)

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Wenn selbst der wissenschaftlichen Weltanschauung die rationale Letztbegründung versagt bleiben muss, dann verwundert es nicht, dass Wittgenstein dieses Projekt für die Religion ebenfalls zurückweist (vgl. auch LC S. 57-59). Er geht dabei offensichtlich davon aus, dass die Befürworter einer rationalen Glaubensbegründung die starke These vertreten, die wirklichen Grundlagen des Glaubens auf diese Weise offen zu legen. Gegen ein solches Vorhaben kann Wittgenstein die faktische Disproportionalität von prinzipiell widerlegbarer rationaler Begründung und der Festigkeit des Glaubens ins Feld führen. Damit ist jedoch die Frage nach einer Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube noch nicht endgültig negativ entschieden. Im letzten Kapitel wird die Frage erörtert werden, inwiefern eine rationale Methode das Verstehen der Religion ermöglichen kann, ohne in eine Theorie der Religion zu verfallen. Der Versuch der rationalen Begründung ist für Wittgenstein Hinweis auf eine Fehlinterpretation des Glaubens (Religion als Theorie). Diese Kritik trifft auch die Versuche, die Rationalität als Produkt des an sich grundlosen „religiösen Sprachspiels" aufzufassen. Wie die zitierte Passage aus MS 110 zeigt, gibt es durchaus einen „Boden", eine „Wurzel" des Religiösen. Es ist das Leben in seinem konkreten Umfeld, das eine religiöse Form annimmt. Dabei entstehen Religion und Rationalität zugleich, so dass man am ehesten von einem Interdependenzverhältnis von Religiosität und Rationalität in der Lebensform sprechen kann. Dies zeigt sich im Fortschreiten des Gedankengangs in MS 110.

Eine „Urgeschichte" der Religion „Man könnte sagen[,] nicht ihre Vereinigung (von Eiche und Mensch) hat zu diesen Riten die Veranlassung gegeben, sondern, in gewissem Sinne, ihre Trennung. Denn das E r w a c h e n des Intellekts geht mit einer Trennung von dem ursprünglichen Boden[,] der ursprünglichen Grundlage des Lebens vor sich. (Die Entstehung der Wahl.) (Die F o r m des erwachenden Geistes ist die Verehrung.)" (MS 110 S. 2 9 8 f.)

(1) „ Die Trennung vom ursprünglichen Boden " - das Problem des Lebens. Hatte Wittgenstein in den unmittelbar vorausgehenden Abschnitten (MS 110 S.297f.) die Religion mit spontanen, instinktiven Handlungen verglichen, so präzisiert er hier diese These durch den Einbezug der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen („Entstehung der Wahl"). Religion hat ihren Raum gerade dort, wo das instinktive Dahinleben

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durchbrochen und der Mensch bewusst und reflektierend seiner Welt entgegentritt. Sie erscheint zunächst als staunende Grundhaltung (MS 109 S.201), durch die der Mensch einer „geheimnisvollen" Dimension in der Welt gewahr wird (MS 110 S. 198). Es ist jedoch nicht die Welt an sich, die bedeutungsvoll ist oder wird. Diese wird vielmehr zum Spiegel der Sinnfrage des menschlichen Lebens. Dieses Problem des Lebens hat ein doppeltes Gesicht. Auf der einen Seite erscheint es als eine bedrohliche Offenheit, die es zu füllen gilt. Auf der anderen Seite ist es das Problem selbst, das dem Leben Sinn verleiht (MS 118 S. 17). Es kann daher nicht einer definitiven Lösung zugeführt werden, die es zum Verschwinden bringt. Das Problem des Lebens ist dem Menschen immer wieder neu aufgegeben (MS 108 S.207) und wird im Lebensvollzug „gelöst". Um die entsprechende Lebens- und Handlungsweise finden zu können, bedarf der Mensch eines rationalen Steuerungsorgans, das ihm erstens erlaubt, die Conditio humana zu durchdringen und zweitens in praktische Handlungsrichtlinien umzusetzen. (2) Reflexion der Conditio humana und der sprachliche Ausdruck des Religiösen. Eine wichtige Bedingung der ersten Funktion ist das Finden von geeigneten Ausdrucksformen, in denen sich die Sinndimension reflektieren lässt. Die Untersuchungen zu Frazer dienen dem Zweck, Parallelen zwischen mythischer Erzählung und den Strukturen der gesamten Sprache herauszuarbeiten (MS 110 S.256). Wie ist dieses Verhältnis genau zu bestimmen? Cassirer hat zwei Varianten der Beziehung der Mythologie zur Sprache benannt. Während Schelling die Sprache als verblichene Mythologie auffasse, mache Friedrich Max Müller die Mehrdeutigkeiten der Sprache für die Entstehung solcher Erzählformen verantwortlich. 4 Wittgenstein verschränkt beide Perspektiven miteinander: (a) „Mythische" Strukturelemente finden sich in der Sprache sowohl auf der Ebene der grammatischen Formen als auch in der Existenz bestimmter Begriffe wie „Seele" oder „Gott" (TS 213 S.433435). Außerdem ist die Sprache selbst nur ein Moment des religiösen Ausdrucks, der seinen primären Ort nach Wittgenstein in (rituellen) Handlungen hat (MS 110 S. 199, WWK S. 117). Insofern muss der Sprache die Grundhaltung des Staunens vorausliegen, (b) Umgekehrt gewinnt diese Grundhaltung aber erst im Ausdruck ihre Gestalt und das Medium, das zur Reflexion notwendig ist, wie insbesondere Wittgensteins Gedanken zum Verschwinden dieser Ausdrucksformen in der Moderne zeigen (MS 109 S. 204-212). Die gewissermaßen „mythogen" 4 Vgl. Cassirer, 1994, S. 28 f.

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strukturierte Sprache ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für die Reflexion der Conditio humana in religiösen Erzählungen. (3) „ Verehrung" - Kriterien des Religiösen. Im Vortrag über Ethik erscheint der Ausdruck des existentiellen Staunens in religiöser Terminologie wie die sekundäre Deutung eines an sich neutralen Phänomens (MS 139a S. 14f.). Diese Zurückhaltung hat zwar auch ihren Grund in der Tatsache, dass Wittgenstein sich der Religion nur langsam angenähert hat, eröffnet aber zugleich auch die Frage, wo Religion anfängt und wo sie endet, (a) Ist die Religion mit dem existentiellen Staunen bereits unmittelbar gegeben oder erscheint sie erst in der Verehrung durch das Hinzutreten des reflexiv-rationalen Moments und des Ausdrucks? Durch die enge Verzahnung von Grundhaltung und Anschauung lässt sich die Frage kaum beantworten. Am Beispiel des Hoffens zeigt Wittgenstein, dass es Charakteristika des menschlichen Lebens gibt, die sich im Laufe des Lebens herausbilden, also bestimmte Voraussetzungen haben und trotzdem spontan erscheinen. Wir können nicht einmal den genauen Zeitpunkt benennen, an dem sie zum ersten Mal auftreten (MS 135 S. 162f., MS 144 S. 1). Verehrung nimmt Gestalt erst mit der Fähigkeit zur Reflexion und bestimmten Anschauungen an (MS 139a S. 15), die ihr aber so eng verbunden sind, dass man den Eindruck gewinnt, die Haltung habe sie bereits implizit enthalten. Insofern könnte man schon der Grundhaltung einen religiösen Zug zusprechen. Von der Beantwortung der Frage nach der Priorität von Haltung oder Anschauung hängt die Zuschreibung der Funktion der Rationalität für die Religion ab. Die organische Metaphorik, auf die wir für die Darstellung dieser Zusammenhänge zurückgreifen müssen, lässt nicht zu, hier einen linearen Begründungszusammenhang anzunehmen, wie er Wittgenstein gelegentlich unterstellt wird, indem das religiöse „Sprachspiel" zur Begründung seiner Rationalität gemacht wird. Religion wird aber auch nicht zur „Gefühlssache", sondern steht in dreifacher Weise in Beziehung zur rationalen Reflexion, die einerseits die Grundhaltung erst hervorruft, andererseits den Ausdrucksprozess begleitet, aber auch von ihm bestimmt wird, (b) Auch bei der Frage, wo die echte Religion endet und der Aberglauben beginnt, treffen wir auf die eigentümliche Verzahnung von Religion und Rationalität. Da der Reflexionsprozess, in dem sich die Religion entwickelt, gerade die Ablösung vom Instinktiven und damit von einem determinierten, „natürlichen" Ergebnis ist, ist er auf Uberprüfungsinstanzen angewiesen. Das heißt, je weiter die Religion sich entfaltet, ihr Reflexionsprozess voranschreitet, desto

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dringender wird die Notwendigkeit einer kritischen Kontrollinstanz. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie Wittgenstein die Untersuchung der primitiven religiösen Formen für seine Kritik der Metaphysik gebraucht (MS 110 S. 177, MS 143 S. 6). (4) Metaphysikkritik und, religiöse Reflexion. Er stellt die Metaphysik dazu in die direkte Nachfolge der magisch-mythischen Weltsicht, deren Begriffe, z.B. den der „Seele", sie aufgreift und untersucht. Sie scheint daher mit den gleichen Inhalten befasst, von der gleichen Beunruhigung ausgelöst und durch die Ablösung von den instinktiven Grundlagen des Lebens geleitet. Allerdings unterscheidet sie sich von der religiösen Perspektive in zweierlei Hinsicht, (a) Da die Ablösung vom Leben auch eine Ablösung vom natürlichen Ausdrucksverstehen impliziert, muss sich der Mensch den Zugang zu deren Bedeutung wieder verschaffen. Als problematisch stellt sich dabei die „mythogene", einfache Sprachstruktur heraus. Der Metaphysiker erkennt zwar, dass diese Ausdrucksweise ihren „Gegenstand" nicht einfach in einer Theorie abbildet, versucht sie dann aber in diese Richtung zu „verbessern". Die Metaphysik ist damit eine Form der konstruktiven Mythenkritik, die deren Ausdrucksweisen durch „Sublimierung" weiterführen will (TS 213 S. 434f.). Sie bleibt auf der einen Seite in der magisch-mythischen Sprachstruktur gefangen, auf der anderen erkennt sie aber nicht deren wirkliche Bedeutung und Funktion, (b) Wittgenstein beschreibt den Auslöser für diese Suche mit der gleichen Metaphorik wie das religiöse Staunen. Der Metaphysiker bemüht sich um die Lösung des gleichen Problems, wenn auch mit inadäquaten Mitteln. Daher bleibt das existentielle „Unbehagen" nach jedem Lösungsversuch bestehen. Der Szientismus ist dann so etwas wie ein radikaler Befreiungsschlag der Metaphysik, indem er die existentiellen Wurzeln als Illusion verdrängt. Wie muss nun eine angemessene religiöse Reflexion aussehen, wenn die Metaphysik an dieser Aufgabe gescheitert ist? (a) Wie die Metaphysik richtig erkannt hat, ist die Bildebene des Ausdrucks nicht das Wesentliche der Religion. Wir müssen in ihr das erkennen, was sich in Staunen und Verehrung ausdrückt, seine Ausdrucksformen (auch das religiöse Leben) aber immer übersteigt. Um dazu in der Lage zu sein, braucht der Mensch kein zusätzliches theoretisches Wissen über einen „unsichtbaren Kern der Religion", sondern muss erstens selbst die Perspektive des Staunens einnehmen. Es geht also um einen Willensakt (TS 213 S. 406). Dieser Perspektivwechsel, den Wittgenstein für die Philosophie im Allgemeinen fordert, schärft zweitens den Blick für das Konkrete, das Individuelle und „Alltägliche", das vor unseren Augen liegt.

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Es darf nicht sofort unter ein Allgemeines subsumiert und damit abstrahiert werden. In diesem Blick für das Konkrete sieht Wittgenstein aber auch die Grundhaltung der Religion, weil sich gerade in der konkreten Lebenswelt die Sinndimension eines konkreten Lebens erschließt (MS 109 S. 202, MS 183 S. 72). (b) Von hier führt der Weg zur religiösen Ausdrucksweise zurück. Das Konkrete muss in einer Beschreibung dargestellt werden, die seiner Eigenart gerecht wird. Für die Religion bedeutet das, dass ein religiöser Symbolismus nur durch einen anderen adäquat erfasst und erläutert werden kann (MS 110 S. 181). Eine solche Ubersetzung ist vor allem dann notwendig, wenn religiöse Ausdrucksweisen ihrem Zweck nur unzureichend oder gar nicht gerecht werden. Hier schreitet Wittgenstein oft selbst zu einer religiös motivierten Mythenkritik (MS 118 S. 117-119, MS 119 S.76f). (5) Religion und Vernunft. Welche Rolle der Vernunft bei der „Bekehrung" des Willens zukommt, wird im nächsten Kapitel noch zu überlegen sein. Hier soll zunächst die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Form sie innerhalb der Religion annimmt. Anstelle eines ausgefeilten Konzeptes der Rationalität, das leicht zur Hypostasierung verleiten würde, sind verschiedene Tätigkeiten des Denkens in unserer „Urgeschichte" angedeutet oder impliziert, die man teils der „theoretischen", teils der praktischen Vernunft im klassischen Sinn zuordnen könnte, wobei sie eng miteinander verzahnt sind, (a) Bereits das Erkennen der Sinndimension, die am Anfang der Religion und dem „Erwachen des Geistes" steht, hat eine rationale Komponente, wenn diese auch nicht diskursiv ist. (b) Dieses Erkennen ist aber kein weltenthobenes mystisches Erleben, sondern ist an konkreten Erscheinungen der Natur oder bestimmten Lebenssituationen festgemacht. Es ist das konkrete Leben, die konkrete Lebenswelt, die transparent wird. Religion ist für Wittgenstein daher eine zuhöchst realistische Perspektive auf Leben und Welt, weil sie die Dinge so sieht, wie sie sind (MS 183 S.72, MS 109 S.202, MS 131 S. 186f.). Das bedeutet keineswegs, dass die Sinndimension Bestandteil der Welt ist (MS 110 S. 198). Aber sie offenbart sich nur dort. Dieses Vertrautsein mit dem Konkreten hat Aristoteles Erfahrung genannt und als wichtige Voraussetzung der Klugheit beschrieben.5 (c) Diesem eher rezeptiven, verarbeitenden Vermögen steht die kritische Funktion der Vernunft zur Seite. Insofern sie in unserem Fall Anschauungsformen auf ihre Funktionstüchtigkeit für das Leben 5 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 981 a 15f. und Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1143 bl3f.

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überprüft, gehört sie bereits zur praktischen Rationalität, (d) Besonders im Vortrag über Ethik streicht Wittgenstein den Wertcharakter des Sinnproblems heraus (MS 139a S. 7-11, auch L C S. 70). „Gelöst" wird es durch die Transformation in eine bestimmte Art und Weise zu leben (MS 118 S. 17), ohne dadurch aufgelöst zu werden. Der Sinn tritt von außen an den Menschen heran und entzieht sich der Reduktion auf Handlungen. Die Fähigkeit, die erfahrene Sinnforderung in konkrete Handlungsanleitungen und Handlungen umzusetzen, müssen wir uns wohl als eine Art religiöser Klugheit vorstellen. Aristoteles hat für die ethische Klugheit betont, dass sie, da sie sich im Bereich des Kontingenten bewegt, vielfach ihre Folgerungen nicht darstellen kann. Der Kluge stütze sich auf sein Augenmaß, das er durch Erfahrung gewonnen habe („ek tes empeirias omma"6). Für die Religion nennt Wittgenstein ein Medium, dessen sich die „religiöse Klugheit" bedienen kann, indem sie das existentielle Problem und seine Lösung anschaulich macht. Es ist die bildhafte Form, in der sie ausgedrückt werden kann. Es handelt sich dabei nicht um mehr oder weniger blumige Abbilder der religiösen Wirklichkeit (MS 139 a S. 15 f.), sondern um eine Art von Leitbildern, die dem Menschen die richtige Perspektive und damit die Orientierung im Leben ermöglichen. Vernunft und Wille werden also beide zugleich angesprochen. Das können Heiligenleben (MS 183 S. 73 f.) sein oder Bilder wie das Jüngste Gericht (LC S. 58). Insbesondere die Möglichkeit zur Mythenkritik zeigt, dass diese Ubersetzung in Bilder dem Bereich der Rationalität nicht entzogen ist.

4. Konsequenzen für die Methodik der Religionsphilosophie Das vorangegangene Kapitel war der Analyse einer kurzen „Urgeschichte" oder Urszene der Religion gewidmet. Es stellen sich nun einige Fragen an Wittgensteins Vorgehen, die die Rolle der Rationalität im Umgang mit der Religion beleuchten: In welchem Verhältnis steht diese Phänomenologie zur Religion, wenn der Rekurs auf eine Metaebene ausgeschlossen ist? Wodurch ist die Urgeschichte eigentlich legitimiert und welche Funktion hat sie für die Untersuchung der Religion? Vor diesem Hintergrund wird das Woher der religiösen Leitbilder noch deutlicher werden. 6 Aristoteles, Nikomachische

Ethik, 1143 b 13 f.

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Die „Urgeschichte" als Urbild der morphologischen Methode Cassirer hat im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen anhand der Untersuchung umfangreichen ethnologischen Materials versucht, das „mythische Denken" zu rekonstruieren. Dass sich Wittgenstein auf die Skizze einer „erfundenen Urgeschichte" beschränken kann, hat seinen Grund im methodischen Ansatz. Während Cassirer aus den mythischen Bildern transzendentalphilosophisch auf die sich in ihnen ausdrückenden Denkformen schließt, bedient sich Wittgenstein einer Methode, die er Goethes Morphologie entlehnt hat (MS 110 S. 2 5 6 - 2 5 8 ) . Die Grundidee dieses Konzeptes, das Goethe im Laufe der Jahre immer wieder modifizierte, wendet sich gegen die abstrakte, statische Klassifizierung und linear mechanistische Methode der Naturwissenschaften. Stattdessen sollen die Vielfalt, Individualität und Dynamik der natürlichen Phänomene mit der Idee der Einheit der Natur versöhnt werden. Goethe hoffte, dass es möglich sei, „Urphänomene" zu finden, die konkret und anschaulich sind, zugleich aber auch das Prinzip des Ganzen der Natur offen legen. Einige Schwierigkeiten bereitet die Art und Weise, wie man zu Urphänomenen gelangt. Da deduktive und induktive Methode der Vielfalt und Individualität der Phänomene nicht gerecht werden, insofern sie auf abstrakte Prinzipien als Ausgangs- oder Zielpunkt angewiesen sind, hoffte Goethe, dass beide Methoden miteinander verschmolzen werden können. Ein Urphänomen wird entdeckt, wenn wir die Phänomene der Natur in übersichtlicher Reihenfolge durchlaufen. Das setzt aber bereits voraus, dass wir das Ganze und sein Prinzip kennen. Obwohl Goethe nie ein solches Urphänomen präsentiert hat, zeigt sich Wittgenstein interessiert an der Methode: „Und so deutet das C h o r auf ein geheimes Gesetz" möchte man zu der Frazerschen Tatsachensammlung sagen. Dieses Gesetz, diese Idee, kann ich nun durch eine Entwicklungshypothese darstellen oder auch, analog dem Schema einer Pflanze durch das Schema einer religiösen Zeremonie oder aber durch die Gruppierung des Tatsachen-Materials allein, in einer „übersichtlichen" Darstellung. (MS 110 S.256)

Die drei hier mit einer Zeile aus Goethes „Metamorphose der Pflanzen" eingeführten Methoden, die der Entwicklungshypothese, des Schemas und der Gruppierung, sind nicht streng unterschieden. Sie kreisen um zwei Grundideen, dem Primat des Phänomens und der Idee eines „Leitbildes" in Analogie zum Urphänomen: (1) „,Man suche nichts hinter den Phänomen; sie selbst sind die Lehre.' (Goethe)" (MS

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134 S. 78). Mit diesem Zitat aus den Maximen und Reflexionen (§488) weist Wittgenstein jeden Rekurs auf eine begründende Metaebene in der Philosophie zurück. Die religiösen Ausdrucksweisen sind in ihrer konkreten individuellen Form das „Primäre", d.h. ihrem Gegenstand einzig angemessen und irreduzibel. Wenn Wittgenstein in diesem Zusammenhang von der Ordnung durch eine Entwicklungshypothese spricht, ist daher kaum die an Frazer kritisierte reduktive historische Erklärung gemeint. (2) Schon die Gruppierung in einer übersichtlichen Darstellung „allein" setzt ein Prinzip der Anordnung voraus. Im Fall der Entwicklungshypothese nimmt sie die Form der Genese an. Welche Rolle dabei das Ursprungsphänomen spielt, wird durch die Methode des Schemas deutlich. Dieses ist keine Abstraktion, sondern als rituelle Handlung selbst eine jener konkreten Tatsachen, die es darstellen soll. In MS 111 (S. 118-120) erläutert Wittgenstein die Funktion solcher „Urbilder". Sie sind nicht allgemeine Prinzipien, unter die etwas subsumiert wird, sondern dienen einem asymmetrischen, erläuternden Vergleich. D.h. der Untersuchungsgegenstand wird unter der Perspektive dieses Ur- oder Vorbildes betrachtet. Es strukturiert den Untersuchungsgegenstand - Wittgenstein benutzt in diesem Zusammenhang das Bild des Präsidenten einer Versammlung - , es kann ihn aber nicht ersetzen. In späteren Jahren wird Wittgenstein diese Urbilder Sprachspiele nennen.7 An ihnen wird ein weiterer wichtiger Zug der Konzeption des Vergleichs mit Urbildern deutlich. Sprachspiele zeichnen sich durch Einfachheit aus, aber nicht weil sie kleine Teileinheiten der Sprache wären, was Wittgenstein explizit zurückweist (D 310 S. 8, MS 115 S. 125). Sie sind auch nicht durch Abstraktion von der konkreten Sprache gewonnene Verallgemeinerungen (PU 130), sondern „Modelle" von vollständigen Sprachen mit der dazugehörigen Lebensform und Lebenswelt. Ihre Legitimation erhalten sie durch ihre Funktion, die z.B. im Falle des bekannten Bauarbeitersprachspiels (PU 2) darin besteht, dass wir unter dieser Perspektive gewahr werden, welche Faktoren beim Benennen von Gegenständen eine Rolle spielen können. Einem Sprachspiel können weitere Formen zugefügt werden (PU 8), wodurch zum einen 7 Die genaue Entwicklung der Methode kann hier nicht nachgezeichnet werden. Es sei daher nur darauf verwiesen, dass Wittgenstein bereits vor 1932 den Begriff des Sprachspiels anhand der Goetheschen Morphologie erläutert (Waismann 1974, S. 118-128) und dass er seine Sprachspielkonzeption in P U 130-132 an seiner Kritik an Spenglers Goetherezeption ausrichtet (MS I I I S . 118-120).

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sukzessive neue Aspekte der Sprache beleuchtet werden können, zum anderen die Vergleichbarkeit von Urbild und Abbild sichtbar gemacht wird. Die Schritte der Genese sind dabei methodisch und nicht historisch zu verstehen: „Wie wenn man eine interne Beziehung der Kreisform zur Ellipse dadurch illustrierte^] daß man eine Ellipse allmählich in einen Kreis überführt; aber nicht u m zu behaupten^] daß eine gewisse Ellipse tatsächlich, historisch, aus einem Kreis entstanden wäre (Entwicklungshypothese)[J sondern nur um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen." (MS 110 S.257)

An dieser Stelle unserer Untersuchung der Methode Wittgensteins können wir bereits die ersten Konsequenzen für Wittgensteins Religionsbegriff und dessen Verhältnis zur Rationalität festhalten. Die Urgeschichte ist nicht eine Darstellung der Essenz der Religiosität an sich vor aller Entfaltung in konkrete Religionen, sondern ein Urbild, das unsere Betrachtung der konkreten Religion formiert. Dass es nach dem Modell einer Urszene gestaltet ist, hat seinen Grund in der größeren Einfachheit, den wir den Vorzeiten zuzusprechen geneigt sind (MS 119 S. 74f.). Nimmt der Betrachter diese Perspektive ein, so geht ihm das „Grundprinzip" der Religion auf, wobei unter „Grundprinzip" hier die Erfahrung der Sinnfrage gemeint ist. Die methodische Urgeschichte steht folglich auf derselben Ebene mit im innerreligiösen Bereich auftretenden „Leitmythen", die etwa als Theogonien oft die Form einer Entstehungsgeschichte haben können. Wenn das philosophische und das religiöse „Urbild" Verweischarakter auf die Sinnfrage haben, fragt sich, worin sie sich noch unterscheiden.

Die „Bekehrung" des Willens Auf die letzte Frage könnte man als Antwort erwarten, religiöse Ausdrucksformen seien „natürlich" gewachsen, die philosophischen hingegen „artifiziell" konstruiert und daher „sekundär". Damit stehen wir vor dem Problem, das auch Goethe nur unzureichend lösen konnte, wie wir zu unseren Urbildern kommen. Wenn das Sprachspiel in PU 2 ein solches Urbild ist, scheint die Antwort zu lauten, es sei einfach gesetzt. Tatsächlich finden sich in Wittgensteins Arbeiten vor allem Beispiele für den Abstieg vom Urbild zur Sprache. Wie steigt man aber zum Urbild auf? Der Philosophie geht es nach Wittgenstein nicht darum, das unbekannte Wesen der Dinge zu erforschen, sondern eine „Beunruhigung"

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zu beheben, die Menschen gegenüber eigentlich vertrauten Vollzügen des menschlichen Lebens ergreift. Philosophie ist daher eine Art Wiedererinnerung (MS 112 S. 235 f.), in der es jedoch nicht um (theoretisches) Wissen geht, sondern um Einsichten, wie das Leben zu gestalten und die Welt, in der wir leben, zu sehen ist. Wiedererinnerung kann nicht heißen, dass Wittgenstein die Rückkehr zu einem paradiesischen Zustand der Übereinstimmung von Bewusstsein, Sprache und Leben vor dem szientistischen Sündenfall propagiert. Die religiöse Urszene liegt eben nicht in einer goldenen Vergangenheit, wenn auch die Dominanz der szientistischen Weltanschauung den Zugang zur Sinndimension erschwert. Damit stehen aber der religiöse Mensch und der Religionsphilosoph vor den gleichen Aufgaben. Wiedererinnerung heißt, nicht etwas Außeres und Neues zu entdecken, sondern sich über etwas bereits im Leben Liegendes klar zu werden und es auszudrücken. Es geht hier um einen kontemplativen Akt, der keine gedankliche Anstrengung erfordert, sondern ein Loslassen (TS 213 S.406f.). Den entscheidenden Schritt hat also der Wille zu vollziehen. Vertritt Wittgenstein letztlich einen Dezisionismus oder kann der Wille Gründe für seine Entscheidung anführen? Wittgenstein benennt mehrere Instanzen, die den Willen formieren, (a) Es ist auffällig, dass er immer wieder betont, es gehe ihm darum, den Tatsachen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (MS 110 S. 184, TS 213 S. 414,420, PU 131). Die Notwendigkeit des Perspektivwechsels des Willens wird offenbar als ethische Forderung erfahren. Es gibt also eine grundsätzliche, man könnte fast sagen „ natürliche" Ausrichtung des Menschen auf diese Perspektive, so dass Wittgenstein diejenigen, denen sie ermangelt, als blind erscheinen (MS 118 S. 17). (b) In einer späten Notiz aus dem April 1950 nennt Wittgenstein drei Faktoren, die dem Menschen den religiösen Leitbegriff „Gott" regelrecht aufzwingen: „Erfahrungen, Gedanken, - das Leben" (MS 174 S. 1 f.). Die reflektierte Lebenserfahrung, worunter Wittgenstein nicht religiöse Visionen, sondern ζ. B. Leiden versteht, führen den zu diesem Zeitpunkt bereits todkranken Philosophen zur Einnahme der religiösen Perspektive. Hier stoßen wir also auf ein kognitives Moment, (c) Was sich in dieser Passage dem eher passiv erscheinenden Menschen aufzwingt, gestaltet sich in seiner philosophischen Methode als aktive Einübung in das richtige Sehen (TS 213 S.406f., MS 110 S.58). Diese darf nicht als Uberprüfung einer auf Widerruf übernommenen weltanschaulichen Hypothese interpretiert werden. Es geht ja nicht um die Übernahme von Theorien, sondern um die Einnahme einer Grundhaltung, die ohne Entschiedenheit nicht denkbar ist, eine Tatsache, die Wittgen-

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stein gerade für die Religion immer wieder betont. Diese zirkulär wirkende Situation scheint mir aber typisch zu sein für jede Phänomenologie des christlichen Glaubens, (d) Zumindest für die religiöse Umstellung des Willens erkennt Wittgenstein diesen Sachverhalt an und folgt der Einsicht, dass zwar ein natürlicher Hang zur Religiosität, Reflexion und Erfahrung sowie Einübung und Gewohnheit diesen Prozess prägen und leiten, der Mensch aber den letzten Grund seiner Entscheidung zur Einnahme der gläubigen Haltung als etwas „von außen" Kommendes erfährt, das sich seiner Kontrolle entzieht und daher in der Tradition Gnade genannt wird: „Aber hier [es geht um das Christentum im Gegensatz zu einer „guten Lehre"] muß man von etwas ergriffen und umgedreht werden. Ist man umgedreht, dann muß man umgedreht bleiben." (MS 132 S. 167f.)

Es ist der Verzicht auf eine Metaebene der Erklärung und die Ausrichtung von Philosophie und Religion auf ein gemeinsames Problem, die existentielle Sinnfrage, die diese erstaunliche Angleichung von Philosophie und Religion in Wittgensteins Denken bewirkt. Wenn die Religion aber die natürliche Ausdrucksform der Sinnfrage ist, wozu bedarf es dann der Philosophie? Es dürften vor allem eine propädeutische und eine therapeutische Funktion sein, die Wittgenstein vor Augen stehen. Als Propädeutik führt sie den Menschen zur Sinnfrage und zu den Mitteln des adäquaten Umgangs mit ihr, die durch den Szientismus verloren zu gehen drohen. Als Therapie ist sie reflektive und kritische Instanz der Religion, die den Menschen vor seiner eigenen Tendenz zur „metaphysischen" Fehldeutung schützt.

5. Ergebnis Unsere Untersuchung, welche Rolle Wittgenstein der Rationalität im Bereich der Religion zubilligt, ergibt folgendes Bild: (1) Wittgensteins Rationalitätskritik beschränkt sich zunächst auf die Uberbewertung des szientistisch-theoretischen Denkens. Für die Theologie ist es weder notwendig noch sinnvoll sich vor diesem Rationalitätsbegriff zu rechtfertigen. (2) Die Auseinandersetzung zwischen Szientismus und Religion ist nicht der Widerstreit zweier Theorien über die Welt, auch nicht zwischen (rationaler) Theorie und Emotion oder Praxis, sondern zwischen zwei grundsätzlichen Perspektiven, die Welt zu betrachten, für die sich der Mensch entscheiden muss. (3) Wittgenstein gesteht in sei-

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ner Phänomenologie den reflexiv-rationalen Aspekten eine unverzichtbare Rolle innerhalb der Religion zu, die sich aber nicht als einseitiges Begründungs Verhältnis, weder von der Religion zur Rationalität noch umgekehrt beschreiben lässt. (4) Da Wittgenstein die Religion durch die Erfahrung eines umgreifenden Sinnanspruchs erschließt, dem der Mensch in einem konkreten Leben gerecht werden muss, ohne ihn erschöpfen zu können, nimmt die innerreligiöse Rationalität eine Form an, die dem traditionellen Begriff der praktischen Vernunft ähnlich ist. (5) Mit dem Verzicht auf eine Metaebene in der Philosophie ist ein rationales Erschließen des Phänomens nicht ausgeschlossen. Insofern Wittgenstein seine Philosophie seit dem Tractatus als „Behandlung" der Sinnfrage versteht, auf die er auch die Religion ausgerichtet sieht, gleichen sich Philosophie und Religion einander an. Damit führt Wittgenstein auch die Philosophie wieder aus dem Bannkreis der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. (6) Die Religionsphilosophie Wittgensteins versteht sich als hinführende Rekonstruktion und kritische Funktion der Religion.

Theodizee? Grenzen theologischen Abwägens, Erklärens, Rechtfertigens REINER WIMMER

Man ist gewohnt, vom ,Theodizeeproblem' oder der .Theodizeefrage' zu sprechen. Man unterstellt damit, dass es ein legitimes theologisches oder auch philosophisches Problem gebe, das man als das der Theodizee identifizieren und beschreiben könne. Aber gibt es ein solches Problem überhaupt? Ist klar, was hier das Problem sein kann? Vielleicht ist die gewohnte Rede von einem Problem hier selber problematisch. Oder vielleicht sucht man das Problem an einer falschen Stelle, und es findet eine Fehlidentifikation statt, so dass besagte Rede das eigentliche Problem darstellt. - Aber sehen wir zu! Die folgenden systematischen Erörterungen haben die Unterscheidung zwischen zwei abendländischen Traditionen auf jenem Felde zum Ausgangspunkt, das gemeinhin als das der ,Theodizeeproblematik' gilt. Die eine Tradition, wohl den mainstream repräsentierend, versucht das Programm zu realisieren, das in dem dem Griechischen entlehnten Kunstwort angedeutet ist: Gott wegen der Übel in der Welt mit einer Anklage zu überziehen und zu versuchen, ihn mit den der menschlichen Vernunft zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Dabei wird unterstellt, dass jene Anklage und dieser Rechtfertigungsversuch legitim sind und dass die ins Auge gefassten Vernunftmittel für diesen Verteidigungsversuch bzw. für einen Schuldspruch ausreichen. Diese Tradition sei,Tradition A ' genannt. Sie fächert sich in zwei Linien auf: Die eine Linie ist der Uberzeugung, dass es ihr gelungen sei bzw. dass es grundsätzlich gelingen könne, Gott mit Vernunftmitteln zu verteidigen bzw. zu rechtfertigen (Traditionslinie Al). Die andere Linie hält das Beweisziel und auch die benutzten Beweismittel ebenfalls für legitim, ist jedoch davon überzeugt, dass die überwiegenden Gründe gegen Gottes Rechtfertigung sprechen, woraus dann häufig die atheistische Konse-

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quenz gezogen wird: die Leugnung des Daseins Gottes (Traditionslinie A2). Die andere Tradition, die ,Tradition B' genannt sei, hält ein solches Unterfangen der Rechtfertigung oder auch der Schuldsprechung Gottes für grundsätzlich verfehlt. Auch diese Tradition fächert sich in zwei Linien auf entsprechend den unterschiedlichen Gründen, die für diese Ablehnung ins Feld geführt werden: Die eine ist der Auffassung, dass die Theodizeefrage zwar berechtigt, aufgrund der grundsätzlich begrenzten Erkenntnisfähigkeiten des Menschen jedoch nicht beantwortbar sei (Traditionslinie Bl). Die andere Linie ist davon überzeugt, dass die Theodizeefrage selbst illegitim ist, weil sie fälschlicherweise unterstelle, dass Gott und sein Verhalten mit Maßstäben zu beurteilen seien, über die der Mensch kraft seiner Vernunft verfüge (Traditionslinie B2). B l hält das Erkenntnisziel für berechtigt, die Erkenntnismittel aber für unzureichend; B2 hält das ganze Beweisunternehmen für illegitim. Auf die kürzeste Formel gebracht ergibt sich für diese vier Wege: Für A l kann Gott erfolgreich verteidigt und von der Anklage freigesprochen werden. Für A2 ist die Anklage gegen Gott erfolgreich: Er kann verurteilt werden. Für Bl ist die Anklage zwar legitim; der Prozess kann aber nicht vor dem Gerichtshof der menschlichen endlichen Vernunft geführt werden: Der Richter und die Geschworenen sind inkompetent. Für B2 ist die Anklage selbst unzulässig, weil nachweislich unvernünftig, ja sinnlos: Es kann nicht nur keinen irdischen Gerichtshof, auch nicht den der menschlichen Vernunft, geben, vor dem gegen Gott Anklage erhoben werden könnte, sondern nicht einmal die Rede von einer Anklage gegen Gott ist eine sinnvolle Rede. Zunächst seien wesentliche Gesichtspunkte der Tradition Α vorgetragen und grundlegende Defizite dieser Tradition benannt. Im Anschluss daran werden die Traditionslinien Bl und B2 diskutiert.

1. In philosophischer Sprache hat Epikur das sogenannte .Theodizeeproblem' wohl auf die prägnanteste und kürzeste Formel gebracht, und zwar in Gestalt dieses Tetralemmas: „Entweder will G o t t die Ü b e l beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf

Theodizee? Grenzen theologischen Abwägens, Erklärens, Rechtfertigens

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G o t t nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls G o t t fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht G o t t . Wenn er aber will und kann, was allein sich für G o t t ziemt, woher k o m m e n dann die Übel und w a r u m nimmt er sie nicht w e g ? " 1

Das Tetralemma macht selbstverständlichen Gebrauch von den beiden zentralen Gottesprädikaten des Monotheismus, der uneingeschränkten Güte und der uneingeschränkten Macht, und kombiniert die Möglichkeiten des Zu- und des Absprechens dieser beiden Prädikate. Natürlich ist nur eine der vier möglichen Kombinationen mit dem monotheistischen Gottesbegriff vereinbar, nämlich dass Gott die vollkommene Güte und die Allmacht zuzusprechen sind, so dass die brennende Schlussfrage bleibt: Wie sind, das Dasein des so gekennzeichneten Gottes vorausgesetzt, damit die Tatsachen des Übels und des Bösen zu vereinbaren? Abgewiesen werden von Epikur alle Versuche, das Theodizeeproblem dadurch zu lösen - oder besser: zu beseitigen dass man eines der beiden Gottesprädikate aufhebt, indem man entweder Gottes Allmacht wahrt, aber die Quelle des Übels und des Bösen in Gott selbst verlegt, oder seine Allmacht bestreitet, indem man die Quelle des Übels und des Bösen in eine von ihm unabhängige Instanz verlegt. Der erste Lösungsversuch trägt den Dualismus von Gut und Böse in Gott selbst hinein, der zweite Versuch verlegt ihn in zwei voneinander unabhängige Prinzipien, die miteinander in Konkurrenz treten. Den ersten Lösungsversuch stellen Konzeptionen dar, die das göttliche (und/oder das kosmische) Gleichgewicht in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Gut und Böse sehen. Vielleicht ist es möglich, den ein oder anderen der sogenannten ,vorsokratischen' Philosophen wie Anaximander oder Heraklit in diesem Sinne zu deuten. Den zweiten Versuch verkörpern streng dualistische Religionen oder Weltanschauungen, ζ. B. die Gnosis oder der Manichäismus. Ein dritter Lösungsversuch, der von Epikur noch nicht berücksichtigt wird, ist durch eine Abschwächung oder Entschärfung gekennzeichnet: Das Übel bzw. das Böse wird depotenziert. Durch Augustinus, der vom Manichäismus und Neuplatonismus herkam, wurde in der christlichen Theologie ein Ansatz einflussreich, der das Übel und das Böse in einem bloßen Fehlen des Guten und des Seins sieht: „Non 1 Zitiert bei Laktanz, De ira dei, 13,19-22 (Epicureia, hrsg. von H. Usener, Frgt. 374); dt. nach Gigon 1991, S. 136.

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est malum nisi privatio boni." Und da Sein und Gutsein transzendental aufeinander verweisen und zueinander gehören nach dem scholastischen Grundsatz „Ens et bonum convertuntur", ist alles Sein gut und alles Schlechte ein Mangel an Sein. Dieser Versuch einer Abschwächung oder Entschärfung des Problems erscheint nicht besonders überzeugend, weil er weder die Ursprungs· noch die Wirkmacht des Bösen angemessen berücksichtigt, verdanken sich doch die Entscheidung zum Bösen dem selbstbestimmten Entschluss eines Entscheidungsmächtigen und die böse Tat seiner Handlungsmacht. Näher liegend und überzeugender wäre die Deutung des Bösen als falsche Selbstbestimmung des Willens im Sinne einer Abkehr vom (erkannten) Guten. - Wie auch immer man die christliche Tradition versteht, so bleibt in der Perspektive von Tradition Α zu fragen, wie besagter Mangel an Sein und an Gutsein bzw. jene Abkehr vom Guten in Gottes Sicht zu rechtfertigen sei; denn das Fehlen von Sein und von Gutsein scheint ja in dieser Tradition zumindest dann ein Übel zu sein und zu bleiben, wenn es nicht 1. durch ein entsprechendes Gutes kompensiert wird und wenn es nicht 2. eine notwendige Bedingung für dieses Gute darstellt. In diesem Zusammenhang wird gewöhnlich und zu Recht zwischen physisch und moralisch Gutem bzw. Schlechtem unterschieden (bonum physicum und bonum morale bzw. malum physicum und malum morale). Ein bonum physicum ist ζ. B. das leibliche und seelische Wohlergehen, ein malum physicum ζ. B. eine leibliche oder seelische Erkrankung. Das primäre bonum morale ist der gute Wille, das primäre malum morale der böse Wille. Sekundäre bona moralia sind moralisch gute Zwecksetzungen und Handlungsweisen sowie deren Ergebnisse und Folgen, also Vollzüge und Abläufe, die mit dem Moralgesetz übereinstimmen, sekundäre mala moralia sind Vollzüge und Abläufe, die dem Moralgesetz widersprechen. Natürlich markieren diese Unterscheidungsgesichtspunkte auch kategoriale Unterschiede: zum einen den Unterschied zwischen der physischen und der moralischen Ordnung, zum anderen innerhalb der moralischen Ordnung die Unterscheidung zwischen - in kantischer Ausdrucksweise - der Moralität des Willens und der Legalität des Handelns. Die kategorialen Unterschiede markieren aber auch Rangunterschiede und fundieren so Abwägungs- oder Vorzugsregeln, die im Folgenden eine Rolle spielen: Die moralische Güterordnung hat Vorrang vor der physischen, und innerhalb der moralischen Ordnung hat die Moralität Vorrang vor der Legalität.

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Ich wiederhole Epikurs Schlussfrage: Wenn Gott vollkommen gut und allmächtig ist - nach unserem Verständnis von Gott kommen ihm diese Eigenschaften mit begrifflicher Notwendigkeit zu „woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?" Der erste Schritt einer Antwort unter den genannten begrifflichen Voraussetzungen scheint in folgender Überlegung zu bestehen: Das Übel ist dann und nur dann gerechtfertigt, wenn es ein (logisch oder physisch) notwendiges Mittel oder Stadium zur Realisierung eines kategorial höherstufigen Gutes ist, wenn das Übel also in diesem Sinne lediglich ein relatives Übel ist. Aber es scheint Übel zu geben, die so nicht legitimierbar sind, es scheint also absolute Übel zu geben, wie die offenbar zwecklosen Leiden Unschuldiger, ζ. B. die Qualen kleiner Kinder. Und wie steht es mit dem moralisch Bösen? Ihm gegenüber scheint sich jede direkt intendierte Instrumentalisierung oder Funktionalisierung zu verbieten; denn das moralisch Böse schließt begrifflich das moralisch Gute als seinen primären Zweck aus. Auch scheint ein primär moralisch Böses nicht durch ein primär moralisch Gutes ausgeglichen, kompensiert werden zu können: Der gute Wille ist das schlechthin Gesollte, der böse Wille das schlechthin Verbotene. Eine Abwägung irgendwelcher Art ist hier begrifflich ausgeschlossen. Moralisch legitim erscheint lediglich die Indienstnahme eines ansonsten mit moralisch legitimen Mitteln nicht abwendbaren Bösen zu Gunsten eines physisch Guten. Auf Gott bezogen scheint dies zu bedeuten, dass er das Böse nur zulassen (und in Dienst nehmen) kann, wenn er es nicht mit moralisch legitimen Mitteln verhindern kann. Aber Gott hätte - so scheint es - auch eine Welt schaffen können, in der es nur Wesen gibt, die keine moralische Freiheit besitzen, also zu keiner Entscheidung für oder gegen das Gute, für oder gegen seinen göttlichen Willen fähig sind. Mit der Fähigkeit zu solcher Entscheidung ist begrifflich natürlich nur die Möglichkeit des primär Bösen und des primär Guten, des bösen und des guten Willens nämlich, nicht jedoch schon die eine oder die andere Form seiner Wirklichkeit gegeben; denn ihr guter oder böser Wille liegt ganz in der Verantwortung dieser Wesen. Diese unsere Welt, in der es solche moralische Freiheit zum Guten und zum Bösen gibt, ist offenbar eine grundsätzlich wertvollere, weil kategorial höherstufige Welt als eine Welt ohne diese Möglichkeit. Man wird zwar sagen müssen, dass eine Welt, in der es die Möglichkeit des bösen Willens gibt, nicht jedoch seine Realität, besser ist als eine Welt, in der es böses Wollen wirklich gibt. Aber es ist nicht sinnvoll zu sagen, dass Gott eine Welt hätte schaffen können, in der es nur die Möglich-

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keit des guten und nicht auch die des bösen Wollens gibt; denn es wäre widersprüchlich, wollte Gott Wesen mit moralischer Freiheit schaffen, aber nicht zulassen, dass sie diese auch missbrauchen. Insofern kann Gott keine Welt schaffen, in der es einen guten, nicht aber einen bösen Willen geben kann. Dieses Nichtkönnen Gottes bedeutet aber keine Einschränkung seiner Allmacht, sondern beruht auf der begrifflichen Logik dessen, um das es hier geht, nämlich der moralischen Freiheit. Insofern ist es lediglich eine bildliche, anthropomorphe Sprechweise zu sagen, Gott habe mit der Schaffung von Wesen, denen moralische Entscheidungs- (und Handlungsfreiheit zukommt, seine Allmacht aus freien Stücken eingeschränkt. 2 Könnte Gott aber nicht wenigstens in dem Sinne eine vollkommene Welt schaffen, als in ihr empfindende Wesen keine Übel erfahren (können)? Auch hier müssen wir, analog dem Vorhergehenden, zwischen dem Begrifflichen und dem Faktischen unterscheiden. Sobald einem leiblichen Wesen, wie es bspw. der Mensch ist, neben der Willens- auch die Handlungsfreiheit gegeben ist, kann er handelnd - sei es irrtümlich, sei es vorsätzlich - sich und anderen Wesen Übles zufügen, sofern sie physisch oder psychisch verletzlich sind. Gott hätte allerdings Wesen schaffen können, die nicht verletzlich sind, so dass Übles zu wollen sich nicht auswirken könnte. Erscheint uns eine solche Welt nicht vollkommener als die vorhandene? Hätte Gott - seine Allmacht und Güte vorausgesetzt - eine solche Welt nicht schaffen müssen ? Nun hat er sie aber nicht geschaffen - jedenfalls ist die Welt, in der wir leben, nicht von dieser Art. Epikurs Frage scheint zumindest in Bezug auf die physische Verfassung dieser unserer Welt, in Bezug auf ihre Übel also, bestehen zu bleiben. Oder müssen wir den Gedankengang umkehren? Wenn Gott - unter den aufgezeigten begrifflichen Voraussetzungen und den Grundbestimmungen seines Wesens - gar nicht anders kann, als die beste aller möglichen Welten zu schaffen, dann ist diese Welt - entgegen dem Anschein - die bestmögliche! Es scheint, dass dieser Gedanke jenen Konzeptionen zugrunde liegt, die unsere Welt als die beste aller möglichen Welten begreifen wollen, deren berühmteste die Konzeption von Leibniz ist, die er 1710 in seinen Essais de theodicee sur la bonte de Dien, la liberie de l'homme et l'origine du mal vorlegte. Für Leibnizens Auffassung ist offenbar das Axiom grundlegend, dass jede Schöpfung Gottes, 2 Vgl. z . B . die kabbalistische Lehre vom Zimzum bei Isaak Luria; dazu Scholem, 1973, S. 148 ff., sowie 1980, S. 285 ff.

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insofern sie Schöpfung ist, nicht-göttlichen und damit endlichen Charakters ist. Dieser Begriff der geschöpflich-metaphysischen Endlichkeit wird nun aber von ihm mit der phänomenalen Endlichkeit und Unvollkommenheit dieser Welt gleichgesetzt bzw. diesen ihren Eigenschaften zugrunde gelegt, geht es doch um die Erklärung unserer Erfahrungswelt. Aber diese Gründung der physischen Endlichkeit (und moralischen Unvollkommenheit) der Welt in ihrer metaphysischen Endlichkeit ist begrifflich nicht gerechtfertigt. Höchst problematisch erscheint auch Leibnizens Bewertung der (metaphysischen oder der physischen) Endlichkeit als metaphysisches Übel (malum metaphysicum). Die anderen Arten von Übeln dieser Welt, die mala physica und die mala moralia, erklären sich in Leibnizens System vollständig durch ihre Rückführung auf das malum metaphysicum, und dieses Übel ist, so paradox es klingt, in jenem System ein notwendiges begriffliches Konstituens der unüberbietbaren Vollkommenheit der Welt; denn es soll sich ja um die beste aller möglichen Welten handeln! Eine Konsequenz dieser Erklärung des Bösen als metaphysisch notwendig ist die Aufhebung seiner Voraussetzung, nämlich der Freiheit zu moralischer Entscheidung und moralischer Handlungsweise, und damit die Aufhebung der Möglichkeit von Moralität selbst!

2. Wenden wir uns nun der Traditionslinie Β1 zu! - 1791 veröffentlicht Kant in der Berlinischen Monatsschrift die Abhandlung Über das Millingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.3 In deren erstem Teil zeigt er, „daß alle bisherige Theodicee [...] die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel", die sich aus der Erfahrung der Welt erheben, nicht zu rechtfertigen vermag (S.263; Hervorhebung von mir, R.W.). Im Anschluss daran unternimmt es Kant zu zeigen, dass und warum prinzipiell alle, also auch alle zukünftigen Versuche in der Theodizee scheitern müssen, so dass die Anklage gegen Gott „vor dem Gerichtshofe der Philosophie" zurückzunehmen und der Prozess für immer aufgehoben sei. Zu diesem Zweck trifft Kant die Unterschei3 Im Folgenden wird zitiert nach Band 8 der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, S. 253-272. Zur Analyse von Kants Abhandlung vgl. auch Ricken, 2003, S. 210-215.

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dung zwischen der Kunstweisheit Gottes in der Einrichtung der Welt und seiner moralischen Weisheit in eben dieser Einrichtung. Den ersten Begriff lege uns die spekulative Vernunft, angeregt durch die Erfahrung des Teleologischen in der Welteinrichtung, nahe, den zweiten Begriff die sittliche Idee unserer praktischen Vernunft (ebd.).4 Können wir uns einen Begriff von der Vereinigung der Kunstweisheit Gottes und seiner moralischen Weisheit für diese unsere Welt machen? Kant bestreitet dies: „Von der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnenwelt haben wir keinen Begriff und können auch zu demselben nie zu gelangen hoffen" (ebd.). Für die Begründung dieser Behauptung verweist Kant darauf, dass wir uns keinen Begriff davon machen können, wie miteinander zu vereinbaren sei, dass wir Menschen als Gottes Geschöpfe wie Naturwesen ganz seinem Willen unterworfen, aber als freie Wesen in unseren Entscheidungen so unabhängig von seinem Willen sind, dass wir uns auch gegen ihn zu entscheiden vermögen, also moralisch böse sein können und diese unsere „eigne That doch auch zugleich als die Wirkung eines höhern Wesens anzusehen" haben (ebd.). Diese Auskunft Kants ist von anderer Art, als der von ihm formulierte status quaestionis erwarten ließ; denn dort war von der Vereinbarkeit der Weltordnung mit der (von Gott gebotenen und aufgerichteten) sittlichen Ordnung („moralische Weisheit") die Rede, hier aber geht es um die Vereinbarkeit von göttlichem Handeln, dem sich 4 Kant behauptet von jenem Begriff der Kunstweisheit, dass es ihm „für unser speculatives Vernunftvermögen nicht an objectiver Realität mangelt, um zu einer Physikotheologie zu gelangen" (S. 263, Z. 2 3 - 2 5 ) . Damit widerspricht er aber der in der Transzendentalen Dialektik seiner Kritik der reinen Vernunft geäußerten Kritik an der Möglichkeit physikotheologischer Beweise des Daseins Gottes, wenn er auch unter anderem in der Methodenlehre des zweiten Teils der Kritik der Urteilskraft einräumt, dass die teleologische Betrachtungsweise der Natur den Schluss auf einen weisen Urheber nahelegt. Aber es scheint Kants anders geartete Ankündigung seines Beweisversuchs in der Theodizee-Abhandlung zu genügen, um sein Beweisziel zu erreichen. E r formuliert nämlich zunächst, dass es darum gehe, „mit Gewißheit darzuthun: daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei (ebd., Z. 12-15; Hervorhebung im Original). Schon unsere Erfahrung scheint uns des Dysteleologischen in der Welteinrichtung zu versichern. Allerdings bleibt hier der Gegeneinwand, es sei möglich, dass dieser Eindruck sich lediglich dem ersten Anschein verdanke, der durch eine umfassende, etwa göttliche, Einsicht revidiert werde. Aber hierauf wäre wieder zu replizieren: Genau diese göttliche Sicht des An-sich dieser Verhältnisse ist uns unzugänglich! U n d nichts anderes will Kant zeigen.

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schlechthin alles verdankt, und der freien moralischen Entscheidung des Menschen. Für beide .Probleme' gibt es nach Kant keine theoretische, sondern nur eine moralisch-praktische .Lösung', nämlich „in der Idee einer Welt, als des höchsten [abgeleiteten] Guts" (S.263 Z. 37). Das in Kants Verständnis höchste abgeleitete Gut - das höchste ursprüngliche Gut ist Gott - ist der gerechte Ausgleich von Moralität und Glückseligkeit. Konkret gedacht ist dieses höchste Gut die moralische Welt, d. h. unsere Welt, insofern sie völlig unter den Gesetzen der Moral steht und ihnen angemessen ist.5 Die moralisch-praktische Notwendigkeit, diese Idee der moralischen Welt zu denken - welche Notwendigkeit Kant schon in der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft aufgewiesen hatte - , führt, wie er in der Kritik der praktischen Vernunft zeigt, zum Postulat des Daseins Gottes als des Garanten der Verwirklichung dieser Idee. Kants Überlegungen setzen nicht beim religiösen, sondern beim moralischen Bewusstsein an. Dadurch wird deutlich, dass die Frage nach dem Warum und Woher des Übels und des Bösen in der Welt nicht erst mit einem Glauben an Gott entsteht, sondern immer schon da ist, wenn ein Mensch aus der Tiefe einer leidvollen Erfahrung ruft: Warum? Warum tut man mir dies Böse an? Warum geschieht mir dies Übel? Wie kann ich es tragen? - oder wenn er aus der Tiefe wahren Mitleidens mit dem Leiden anderer Menschen fragt: Warum müssen sie das leiden? Wie kann ihnen geholfen werden? Wie können sie ihr Leid bestehen, ohne zu verzweifeln? Das Leiden am Unrecht, das Verlangen nach Gerechtigkeit ist, nach einem Wort Simone Weils, „das Heilige in jedem Menschen". Sie notiert: „Von der frühen Kindheit bis zum Grabe liegt auf dem Grund des Herzens eines jeden Menschen etwas, das trotz aller Erfahrungen begangener, erlittener und beobachteter Verbrechen unbesiegbar darauf wartet, dass man ihm Gutes und nicht Übles tut. Dies vor allem ist es, was das Heilige in jedem Menschen ausmacht. Das Gute ist die einzige Quelle des Heiligen. Es gibt nichts Heiliges außer dem Guten und dem, was auf das Gute bezogen ist." 6

Das vollkommene und umfassend Gute stellt sich der Mensch in Gott personifiziert vor und postuliert sein Dasein, damit dem unnachlasslichen Verlangen nach Gerechtigkeit Genüge geschehe und die prakti5 Kants Konzeption des höchsten Guts wird systematisch expliziert in Wimmer, 1990. 6 Weil, 1957, S. 13 (eigene Übersetzung).

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sehe Vernunftidee einer moralischen Welt real möglich werde. Der faktische Zustand der Welt gilt hier nicht als Einwand gegen Gottes Dasein, sondern das vernunftgeleitete Verlangen nach dem Guten führt zum vernünftigen Glauben an ihn, wobei der Ausdruck .vernünftig' hier nicht im Sinne einer Theorie, einer theoretischen Erklärung, sondern im Sinne der moralisch-praktischen Einstellung zum Lehen und zur Welt zu verstehen ist. Viele der üblichen philosophischen und auch theologischen Bemühungen um die Theodizee versuchen sich freilich in (theoretischen) Erklärungen, auch wenn ihr Geltungsanspruch, wie bei Richard Swinburne 7 , als nicht besonders stark eingeschätzt wird. Anders solche theologischen Versuche, die die Botschaft der jüdisch-christlichen Bibel ins Zentrum ihrer Erörterungen stellen. So heißt es bei Walter Kern und Jörg Splett: „Auf die Fragestellung des Theodizeeproblems genügt nicht der formalphilosophische apriorische Bescheid, daß das Übel eben vereinbar sein muß mit dem unendlich mächtigen-weisen-gütigen Gott. Es bedarf darüber hinaus der Bemühung um eine inhaltlich-materiale Antwort, also u m eine geschichtliche (geschichtlich erfahrbare), d. h.: um eine theologische Antwort (eine Antwort, die Gott selber gibt). Aber man darf den Charakter der gesuchten .Lösung' nicht verkennen. Sie ist nie nur ,theoretisch'." 8

Von Kern und Splett wird zwar auf „eine inhaltlich-materiale Antwort" Wert gelegt. Sie wird aber in einer „geschichtlich erfahrbaren", von Gott selber herkommenden Antwort gesucht, also in einer konkreten Korrespondenz von Offenbarung und Glaube. Eine solche Entsprechung ist in der Tat „nie nur .theoretisch'" - man muss sogar sagen, sie sei primär praktisch, weil sie auf einer Stellungnahme beruht, die sich unter der eschatologischen Idee einer messianisch erlösten Welt auf das Leben und die Welt im Ganzen bezieht. Hier besteht eine strukturelle Analogie zu Kants moralisch-praktischem Glauben an Gott als den Schöpfer einer moralischen Welt. Die Zurückweisung theoretischer philosophischer und theologischer Erklärungen des faktischen Zustande der Welt und darauf basierender Rechtfertigungen Gottes beruht ersichtlich nicht auf der Behauptung einer absoluten Transzendenz Gottes und seiner angeblich darin gründenden schlechthinnigen Unbegreiflichkeit. Mit Epikur und dem Hauptstrom abendländischer Theologie werden Aussagbarkeit 7 Vgl. Swinburne, 1991. 8 Kern/Splett, 1969, S. 857; vgl. auch Knauer, 1991, S. 81-83.

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und Verständlichkeit der zentralen Gottesprädikate der vollkommenen Güte und der Allmacht vorausgesetzt. Diese Prädikate können aber weder aus einer Erfahrung Gottes noch aus seiner Selbstoffenbarung gewonnen werden; denn die Eigenschaften der göttlichen Allmacht und der göttlichen Güte können in keiner menschlichen Erfahrung gegeben sein; und damit ein Ereignis oder ein Wortgeschehen als Selbstoffenbarung Gottes gedeutet und geglaubt werden kann, muss es zuvor im Lichte dieser Eigenschaften gesehen werden, setzt also den Glauben an das Dasein Gottes schon voraus. Bevor aber die Frage nach Gottes Dasein gestellt werden und der Anspruch oder die Einladung, an ihn zu glauben, begegnen kann, müssen wir schon - und zwar in einem logischen, nicht in einem zeitlichen Prius - über die genannte fundamentale theologische Begrifflichkeit verfügen. In diesem Sinne ist eine philosophische Theologie oder Religionsphilosophie als Analyse des begrifflichen Zusammenhangs von Gottesprädikationen mit Offenbarung und Glaube unverzichtbar. Eine solche Disziplin hat nicht die Aufgabe, Gottesbeweise und Theodizeen zu schmieden - solche Unternehmungen scheitern aus erkenntnistheoretischen Gründen, wie am schlagendsten Kant gezeigt hat - , sondern sie hat den begrifflichen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem Theologie im engeren Sinne, nämlich als Auslegung einer bestimmten Offenbarung und eines bestimmten Glaubens, sich entfalten kann. Dass das Problem des Übels und des Bösen in der Welt nicht theoretisch - weder philosophisch noch theologisch - lösbar ist, beruht also nicht, wie manchmal behauptet wird, auf der angeblich ,absoluten' Unaussagbarkeit (ineffabilitas) oder Unbegreifbarkeit (incomprehensibilitas) oder Unerkennbarkeit (ignoscibilitas) Gottes. Zumindest muss unterschieden werden zwischen der Erkennbarkeit Gottes an sich (quoad se) und für uns (quoad nos): Zwar können wir Gott nicht so kennen, wie er an sich und für sich selbst ist, sondern nur so, wie er sich uns zeigt; und dieses Sich-zeigen muss schon aus begrifflichen Gründen mit der Art und dem Maß unserer Aufnahmefähigkeit korrespondieren. In Bezug auf die beiden genannten zentralen Gottesprädikate der Allmacht und der Güte bedeutet dies einerseits, dass wir sie nicht so denken können, wie sie Gott an sich zukommen; es bedeutet andererseits aber nicht, dass diese Prädikate eigentlich untauglich sind zu seiner Kennzeichnung, dass sie ,in einem ganz anderen Sinne' verstanden werden müssten, um auf ihn Anwendung finden zu können. In welchem Sinne aber? - so fragt man sich; ,ganz anders' - was soll das heißen? Wenn wir diesem ,Ganz-anders' keine Bedeutung, keinen begrifflichen

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Inhalt geben können, dann ist dieser Ausdruck bedeutungslos, hat keine Verwendung. Auf der anderen Seite fällt es nicht schwer einzuräumen, dass unser Verständnis besagter Gottesprädikate inhärent unvollkommen ist und bleibt. Doch darf daraus nicht gefolgert werden, es würde aus diesem Grund ihren Gegenstand notwendig verfehlen. Auch unvollkommene Kennzeichnungen vermögen ihren Gegenstand oft zuverlässig zu bezeichnen und zu identifizieren. Das gelingt bei den beiden Gottesprädikaten zweifellos; denn sie stellen den begrifflichen Kerngehalt dessen dar, was wir unter ,Gott' (im monotheistischen Sinne) verstehen. Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen sei festgehalten: Die Theodizeefrage kann sich nicht auf das Böse in dieser Welt beziehen, weil es schon aus begrifflichen Gründen Gott nicht angelastet werden kann. Auch eine Abwägung von der Art, ob nun das primär moralisch Gute oder das primär moralisch Böse, also das gute oder das böse Wollen, in der Welt überwiege, ist fehl am Platz: Hätte Gott die Welt vernichten sollen - oder anscheinend besser: hätte er sie erst gar nicht erschaffen dürfen - , wenn es in ihr nur tausend oder nur hundert oder nur zehn oder nur einen Gerechten geben würde in einem Ozean von U n gerechten? (Vgl. 1 Mose 18,16-33) Im Namen welchen .moralischen' Gesetzes oder welchen Begriffs vom Guten hätte man ein solches .Sollen' zu formulieren und begreiflich zu machen? Und auf welcher Basis könnte eine Abwägung zwischen gutem und bösem Wollen stattfinden? Bei all diesen Fragen ist noch gar nicht die fundamentale erkenntnistheoretische Schwierigkeit berührt, die moralische Grundqualität unseres eigenen Wollens und die des Wollens unserer Mitmenschen zuverlässig zu beurteilen. 9 Lediglich Abwägungen zwischen physischpsychischem Wohlergehen (.Glück') und physisch-psychischem Übel (.Unglück') erscheinen, zumindest auf den ersten Blick, möglich und sinnvoll, und zwar ganz unabhängig davon, ob das fragliche Wohlergehen oder Übel moralisch zurechenbar ist oder nicht. Und auch die Theodizeefrage erscheint hier auf den ersten Blick nicht absurd: Hätte Gott nicht eine Welt schaffen können, in der es überhaupt keine Übel gibt, weder moralisch zurechenbare noch moralisch nicht zurechenbare, ζ. B. solche, die sich naturgesetzlich bestimmten Abläufen verdanken? Auf diese Frage lautete die oben gegebene Antwort: Nun hat aber 9 Kant zumindest bestreitet grundsätzlich die Möglichkeit, eigene und fremde Moralität zuverlässig zu erkennen. Zur Analyse der zahlreichen Äußerungen Kants in dieser Hinsicht vgl. Wimmer, 1990, S. 132-136.

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Gott eine solche Welt nicht geschaffen - zumindest ist unsere Welt nicht von dieser Art. Somit schien Epikurs Frage zumindest hinsichtlich der physischen Übel dieser Welt berechtigt zu sein. Nun sind in menschlichen Handlungskontexten Folgenabwägungen - in Grenzen - zweifellos möglich, für zu verantwortendes Handeln sogar erforderlich. ,In Grenzen' soll heißen: Der Rahmen der Betrachtung darf nicht zu weit gespannt sein, die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen dürfen nicht überschritten werden; und natürlich ist dieser Rahmen geschichtlich variabel, weil die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten sich nach Zeit und Ort ändern. Zu dieser Unsicherheit und Variabilität des Erkennens tritt jedoch noch eine Unsicherheit und Variabilität des Bewertens hinzu; denn um etwas als .gut' oder »schlecht', als .Glück' oder .Unglück', als .gelungenes' oder .misslungenes Leben' bezeichnen zu können, bedarf es der Maßstäbe der Bewertung und der Möglichkeit ihrer Anwendung sowohl auf den Einzelfall als auch auf intra- und interindividuelle Lebenszusammenhänge. Und über den Charakter solcher Abwägungen wird man sich nicht täuschen dürfen: Sie basieren häufig auf den Maßstäben und Werturteilen der von einer Handlungs- oder Ereignisfolge Betroffenen, wobei die einen diese Folge begrüßen, die anderen sie ablehnen, diese ihre Maßstäbe und Urteile aber über die Zeit nicht konstant bleiben müssen, sondern sich ändern können. - Und wie erhebt man die Erfahrungen und Bewertungen all der Unbekannten oder auch der Toten, die nicht mehr befragt werden können? - Und wie soll man nicht nur die Unglücks- und Leidenserfahrungen, sondern auch die Wohlergehens- und Glückserfahrungen der Menschen quantitativ und qualitativ erheben und dann noch miteinander verrechnen? - Die Aufgabe, unter solchen Umständen halbwegs zuverlässige Urteile über den Gesamtlauf der Welt zu gewinnen, die die Grundlage von Bewertungen und Abwägungen im Dienste der Rechtfertigung Gottes auch nur der physischen Übel in der Welt bilden könnten, erscheint phantastisch. Deshalb darf wohl auch eine nur im Blick auf die physischen Weltübel ins Auge gefasste theoretische Beantwortung der Theodizeefrage als unmöglich gelten. Damit ist aber eine - sei es positive, sei es negative-praktische Antwort nicht ausgeschlossen: das eigene Dasein, die Welt als ganze, die Leiden in ihr für sinnvoll oder für sinnlos zu erklären. Im Sinne einer negativen praktischen Antwort wird in Dantons Tod von Georg Büchner das Leid als „der Fels des Atheismus" bezeichnet: nicht eines theoretischen, sondern eines praktischen, moralisch inspirierten Atheismus.

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„Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten."10 Ahnlich Iwan Karamasows Einwurf: Nicht einmal die Träne eines einzigen Kindes ist durch die noch so grandiose Schöpfungsmaschinerie gerechtfertigt! Simone Weil teilt diese Empörung, macht jedoch einen einzigen, aber entscheidenden Vorbehalt: „Ich schließe mich diesem Gefühl vollständig an. Kein Grund, ganz gleich welcher, den man mir angeben könnte, um die Träne eines Kindes aufzuwiegen, könnte mich dazu bringen, diese Träne hinzunehmen. Keiner, absolut keiner, den der Verstand fassen kann. Ein einziger, der aber nur für die übernatürliche Liebe begreiflich ist: G o t t hat es gewollt. Und aus diesem Grund würde ich eine Welt, die nur Böses wäre und deren Folgen nur böse wären, ebenso hinnehmen wie die Träne eines Kindes. [Et pour ce motif-lä, j'accepterais aussi bien un monde qui ne serait que mal et dont les consequences ne seraient que mauvaises qu'une lärme d'un enfant]." 11

Mit unvergleichlicher Wucht hebt Weil die absolute Inkommensurabilität eines noch so kleinen Übels gegenüber noch so großer Herrlichkeit heraus; sie lehnt bedingungslos jede Form der Abwägung im Dienste immanenter Stiftung eines absoluten Sinns ab. Nichts .rechtfertige' auch nur das geringste Übel, ausgenommen der Wille Gottes; dieser aber rechtfertige' sogar das größte denkbare Übel, nämlich „eine Welt, die nur Böses wäre und deren Folgen nur böse wären"! Aber eigentlich gibt es hier nichts zu begründen oder zu rechtfertigen, nichts mit der Vernunft einzusehen, so dass das ganze Begründungsund Rechtfertigungsvokabular leer läuft; denn nur die übernatürliche Liebe12 vermag Gottes Wollen zu akzeptieren, von welcher Art und welchen Inhalts auch immer es sei. Die deutsche Übersetzung lässt es so erscheinen, als wolle Gott das Böse selbst und als befinde sich die übernatürliche Liebe in vollkommener Übereinstimmung mit diesem Willen Gottes und wolle daher selbst das Böse. Aber weder Gott noch die mit Gottes Willen einige übernatürliche Liebe können das Böse wollen; das ist schon aus begrifflichen Gründen unmöglich und würde deshalb mit dem Wesen Gottes und dem Wesen der Liebe unvereinbar sein. Im französischen Original wird denn auch das Wort ,mal' verwendet, das sowohl .(moralisch) böse' und .(moralisch) schlecht' oder ,übel' als auch ,(außermoralisch) schlecht' oder .übel' - und zwar je10 Büchner, 1973, S. 40. 11 Weil, 1 9 7 0 - 1 9 7 5 , Bd. III, S.49f.; 1991-1998, Bd. III, S. 100. 12 Zum nicht-theologischen Verständnis von .übernatürlich' bei Simone Weil vgl. Wimmer, 2003.

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weils sowohl in adjektivischer als auch in substantivischer Stellung bedeuten kann. Die deutsche Ubersetzung wäre so zu korrigieren, dass das kritisierte Missverständnis entfällt. Diese Radikalität wird unter christlichen Philosophen und Theologen gewöhnlich nicht geteilt. Oliver Wiertz ζ. B. ist der Uberzeugung, dass der christliche Glaube der ohne Glauben erfahrenen Wirklichkeit der Welt nicht zu fremd gegenübertreten darf, das gläubige und das glaubenslose Wirklichkeitsverständnis einander nicht zu sehr widersprechen dürfen: „Die Frage lautet, ob der christliche Glaube an die Liebe und Vollmacht Gottes kohärent und realitätsangemessen ist. Wir haben es hier also mit Problemen auf der (im weiteren Sinne) logischen Ebene zu tun: Ist das christliche Sprechen von Gott konsistent und rational? [...] Es geht in der theoretischen Behandlung des Problems des Übels nur um die Ermittlung einsichtiger Gründe, warum die Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht dem christlichen Glauben widerspricht. [...] Insofern geht es nicht um eine Theodizee, sondern um die Rechtfertigung unserer Vorstellungen von Gott und Welt", d. h. um die Möglichkeit ihrer Verteidigung. 13

Mir scheint, dass der dargelegte philosophische Nachweis der theoretischen Unbeantwortbarkeit der Theodizeefrage (im Sinne von B1 gegen A l und A2) eine ausreichende Begründung dafür darstellt, „warum die Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht dem christlichen Glauben widerspricht". Der präsentierte Nachweis unterstellt aber noch, dass die Frage selbst sinnvoll ist. Ist diese Unterstellung unberechtigt, wie die Traditionslinie B2 behauptet? Eine Antwort wurde mit der Unterscheidung zwischen einem theoretischen und einem lebenspraktischen Verständnis der Frage schon angedeutet: So wie das religiöse Verständnis der Welt und des eigenen Lebens nicht auf empirischen oder metaphysischen Erkenntnissen oder Theorien beruhen kann, weil das Ganze der Welt und des Lebens nicht Gegenstand menschlichen Erkennens sein kann 14 , und so wie die Frage nach Gottes Dasein und Wirken in dieser Welt keine empirische oder metaphysische Frage ist und deshalb auch keine theoretische Antwort erlaubt, sondern, wie Kant, aber auch Wittgenstein 15 , zeigt, eine praktische Frage ist, ebenso ist auch die Theodizeefrage ursprünglich keine theoretische Frage. Sie so zu verstehen, stellt ein theo13 Wiertz, 1996, S. 241 f. 14 Vgl. Wimmer, 1999. 15 Vgl. Wittgenstein, 1965/1989/1991 und 1967, S. 1 1 7 f .

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retizistisches Missverständnis dar. Ihr eigentliches Verständnis erschließt sich nur aus einem lebenspraktisch-existenziellen Kontext heraus und ist auch nur in einem solchen gültig zu beantworten, nämlich mit einer Haltung oder einem Akt des Glaubens, des Vertrauens und der Liebe oder mit einer Haltung oder einem Akt des Unglaubens, des Misstrauens oder der Verzweiflung. Die Frage Epikurs, woher denn die Übel kommen und warum Gott sie nicht beseitigt, wo er doch allmächtig und gut ist, muss demnach vom (theoretischen) Kopf auf die (praktischen) Füße gestellt werden; denn als authentische Frage ist sie keine theoretische, sondern eine existenzielle Frage. Entsprechend ist die Traditionslinie B2 näherhin so zu deuten, dass der Sinnlosigkeitsverdacht, der von ihr auf die Theodizeefrage fällt, seinen Grund in ihrer theoretizistischen Verkehrung und Verkennung hat.

Gott und der gegenwärtige König von Frankreich. Über Kennzeichnungen in der Theologie G E O SIEGWART

,Der Schöpfer der Welt', ,der Erlöser der Menschheit', .dasjenige, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann', ,das höchste Gut', ,der erste unbewegte Beweger', ,die alles bestimmende Wirklichkeit', ,das letzte Ziel allen Strebens', ,das Woher meines Umgetriebenseins', ,der, ohne den nichts ist', ,die uneinholbare Tiefendimension einer jeden positiven alltäglichen Erfahrung': Diese Wendungen - und die Beispielreihe ließe sich von Experten leicht fortsetzen - dienen als Beleg dafür, dass die (natürliche wie die offenbarungsgestützte) Theologie ein Unternehmen ist, in dem Kennzeichnungen sachlich und emphatisch eine Schlüsselrolle spielen. Die Theologie ist überdies ein Vorhaben, das beständig mit der einen oder anderen Variante des Sinnlosigkeitsbedenkens konfrontiert ist: Können überhaupt (Rede)Mittel bereitgestellt werden, die auf dem angezielten Terrain (noch/schon) kognitive Vollzüge ermöglichen? Dieser grundsätzliche Einwand wird insoweit angenommen, als seine Abwehr zum festen Bestand des theologischen Kanons gehört. So lassen sich ζ. B. die Analogielehren als Strategien zur Einführung theologischer Worte verstehen, die den Verdacht anthropomorpher oder bloß metaphorischer Rede ausräumen sollen. Der soeben global angezeigte Vorbehalt wird unter anderem beim Vorkommen von Kennzeichnungen angemeldet.1 Diese Ausdrucksverbindungen bestehen, grob gesagt, aus einem formalen und einem materialen Teil. Der formale Part ist mit dem bzw. den bestimmten Artikeln ,der', ,die', ,das' und ihren grammatischen Varianten gegeben; der materiale umfasst (mit Ausnahme der logischen Operatoren) den jeweili1 Vgl. z.B. Kamlah/Lorenzen, 2 1973, Logische Propädeutik,

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gen Rest. Die (grammatische und semantische) Gestaltung des formalen Teils obliegt aufgrund seiner Bereichsinvarianz der Logik, der jeweilige materiale Rest fällt im vorliegenden Fall in die Zuständigkeit der Theologie. Die Untersuchung ist von folgender Frage geleitet: Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Eigenarten des formalen Kennzeichnungsteils für den Umgang mit den theologischen Worten, die im materialen Kennzeichnungsteil auftreten können? Kurz: Wie kann die Theologie von der Kennzeichnungslogik für den Umgang mit ihren Kennzeichnungen profitieren? Die Antwort erfolgt in drei Schritten: Vorbereitend ist die (Un)Erfüllbarkeit der Einzigkeitsbedingung als Kernproblem der Kennzeichnungen darzutun (1.). D a die eben formulierte Leitfrage repräsentativ an der (von Duns Scotus) so genannten famosa descriptio Erörterung finden soll, ist sodann die Niederschrift und Erläuterung einer Rekonstruktion von Proslogion II angesagt (2.). Endlich kann die Verwendung von Kennzeichnungen in der Theologie - zunächst exemplarisch, sodann allgemein - reflektiert werden (3.).

1. Vorbereitung: Einzigkeit als Achillesferse des Kennzeichnens § 1 Referenz: Man pflegt drei Formen der Bezugnahme zu unterscheiden: Die benennende erfolgt über die Verwendung von Eigennamen/ Individuenkonstanten, die anzeigende ist an die Benutzung von Indikatoren gebunden und die beschreibende findet Realisierung über Terme mit charakterisierendem Gehalt. - Während die in hohem Maße umgebungsgebundenen Indikatoren in der lebensweltlichen Sprache eine überragende Rolle spielen, kommt ihnen in den umgebungsinvarianten Wissenschaftssprachen eine (für die meisten Zwecksetzungen) eher marginale Bedeutung zu; sie können in der Folge vernachlässigt werden. Eigennamen/Individuenkonstanten sind grammatisch nicht weiter zerlegbare Ausdrücke. Von Eigennamen ist in der Regel mit Bezug auf historisch gewachsene Gebrauchssprachen die Rede; von Individuenkonstanten spricht man gewöhnlich im Blick auf explizit konstruierte Sprachen: .Aristoteles' ist ein Eigenname der gebildeten Gebrauchssprache, ,1' stellt eine Individuenkonstante der arithmetischen Sprache dar.

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Eigennamen wie Individuenkonstanten vereinfachen die Bezugnahme, indem sie diese abkürzen. Vereinfachungsbedarf liegt dann vor, wenn viele Mitglieder der Sprachgemeinschaft sich häufig auf ein O b jekt beziehen wollen. Eigennamen/Individuenkonstanten werden demzufolge nicht für beliebige Bezugspunkte bereitgehalten, sondern nur für solche, denen im Zusammenhang der Rede bzw. des redegeleiteten Vollzugs ein ausgezeichneter Stellenwert zukommt: So sind in Gebrauchssprachen Eigennamen ζ. B. für Personen, nicht aber für Personenteile wie Nasenspitzen oder Zehennägel verfügbar. - Die Eigennamen der Gebrauchssprachen stabilisieren ferner die Bezugnahme: Sie sind (weitgehend) frei von der Umgebungssensitivität der Indikatoren und erlauben somit die Nomination aus verschiedenen Perspektiven. Überdies ist - anders als bei deskriptiven Nominatoren - ihre erfolgreiche Verwendung nicht an das je beschriebene Merkmal des Referenzobjekts gebunden. Die Etablierung einer Verwendungspraxis für Eigennamen kann sowohl über das unkommentierte Sich-Einspielen wie auch über eine ausdrückliche Einführung erfolgen. Taufen von Kindern und Schiffen, Namenseinträge in Register, Namensgebungsbeschlüsse von Räten exemplifizieren die zweite Gruppe. Das Sich-Einspielen eines Spitznamens, eines Hundenamens, eines Flurnamens erfolgt durch eine einmal begonnene und dann von vielen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft fortgesetzte Praxis der Bezugnahme; zu diesem Etablierungstyp gehört auch die >Verfestigung< einer Kennzeichnung zu einem Eigennamen. Individuenkonstanten finden Einführung durch eine der Maßnahmen, die die entsprechende explizit konstruierte Sprache vorsieht. Häufig handelt es sich um definitorische Einführungen; so wird z.B. durch die definitorische Setzung von ,1= der-Nachfolger-von(O)' die Individuenkonstante ,1' in ihrer Verwendung in der Arithmetik fixiert. Die beschreibenden Terme oder deskriptiven Nominatoren zerfallen aus der Sicht der Rationalen Grammatik in die funktoralen und die quantoralen. Erstere entstehen aus der Anwendung eines n-stelligen Funktors auf η Terme: So resultieren die funktoralen Terme ,der-Nachfolger-von(O)' bzw. ,die-kürzeste-Verbindung-zwischen-und(Mannheim,Köln)' aus der Anwendung des einstelligen Funktors ,der-Nachfolger-von(..)' auf ,0' bzw. aus der Anwendung des zweistelligen Funktors ,die-kürzeste-Verbindung-zwischen-und(..,..)' auf .Mannheim' und ,Köln'. Die quantoralen Terme, ζ. B. ,die Klasse aller x, so dass χ eine Universitätsstadt ist' oder ,das y, so dass y gegenwärtiger König von Frank-

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reich ist', besitzen einen komplizierteren Aufbau: Die Termquantoren, hier: ,die Klasse aller x' bzw. ,das y\ entstehen aus der Anwendung der Termquantifikatoren, hier: ,die Klasse aller..' bzw. ,das..', auf eine Variable, hier: ,x' bzw. ,y . Der Termquantor wird dann auf eine Formel, pc ist eine Universitätsstadt' bzw. ,y ist gegenwärtiger König von Frankreich', angewendet, in der genau die entsprechende Variable frei ist. Insgesamt bestehen beschreibende Terme aus dem Termquantor und der Termformel. Termquantoren können auch mehrfach binden; ein Beispiel für einen Mehrfachbinder wäre der Relationenquantor in dem Term ,die Relation aus allen geordneten Paaren aus χ und y, so dass χ Vater v o n j ist'. Die quantoralen Terme machen sich über die Termformel das Prädikations- und das mit den Junktoren und Quantoren gegebene Kombinationspotential einer Sprache zunutze. Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass Terme Teilausdrücke von Formeln sind, machen für Sprachen mit variablenbindenden, formelbestimmenden und termerzeugenden Operatoren eine simultan-induktive Definition des Formel· und des Termbegriffs sowie des darauf aufbauenden Substitutionsvokabulars erforderlich. In der Folge Eigennamen-Indikatoren-deskripive Nominatoren nimmt der beschreibende Gehalt zu. Indikatoren und Eigennamen können als Teilterme deskriptiver Nominatoren auftreten: ,der gegenwärtige König von Frankreich' enthält den temporalen Indikator .gegenwärtig' und den Eigennamen .Frankreich'. Autoren können sich nicht nur mit verschiedenen Mitgliedern einer Nominatorenkategorie, sondern auch mit singulären Termen verschiedener Kategorien auf denselben Gegenstand beziehen. 2 § 2 Kennzeichnung: Im Weiteren ist eine Sprache erster Stufe mit Termquantifikatoren unterstellt; der durchgehende Sprachbezug wird hier einfachheitshalber vernachlässigt, aber später wieder aufgerufen ( t §§ 8-10). Die Aufmerksamkeit gilt dem Kennzeichnungsquantifikator, für den das Wort ,das..' gewählt wird; damit findet die durch ,the..' dokumentierte generische Unterscheidungsunlust des Englischen 2 Diese Hinweise erinnern lediglich an einige Stücke aus dem Plausibilitätenbestand zum Referenzthema; ausführlicher dazu z.B. Runggaldier, 1990, Sprachphilosophie, S. 64-75, 100-120. - Carnap, 1972, Bedeutung und Notwendigkeit, § 7f; Carnap, 3 1973, Einführung in die symbolische Logik, §35; Lambert, 1980, Kennzeichnung-, Neale, 1998, Descriptions·, Ostertag, 1998, Introduction, führen (auch) in die nachfolgend skizzierten Kennzeichnungsprobleme ein. Ostertag (Hrsg.), 1998, Definite Descriptions, versammelt diesbezüglich einflussreiche Texte.

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Nachbildung. Sei Δ eine Formel der je unterlegten Sprache, in der allein die Variablen ξ frei ist; dann ist die Wendung ,das ξ Δ' ein Kennzeichnungsterm, kurz: eine Kennzeichnung·, Δ ist dann die Kennzeichnungsformel oder Kennzeichnungsbasis. Die Zeichenverbindungen ,das χ (χ ist gegenwärtiger König von Frankreich)' und ,das y (y ist eine natürliche Zahl & ~3z ζ ist kleiner als}/)' sind demnach Kennzeichnungen mit ,x ist gegenwärtiger König von Frankreich' und ,(y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y)' als Basis. Es sollen ferner die Aussagen der Art ,3ξ Δ' bzw. ,νξ\/ω (Δ & [ω,ξ,Δ] => ω=ξ)' bzw. ,ΐξ Δ' die Existenzbedingung, die Eindeutigkeitsbedingung und die Einzigkeitsbedingung für die genau in ξ offene Formel Δ sein; im übertragenen Sinn ist dann auch von der Existenz-, Eindeutigkeits- und Einzigkeitsbedingung des Kennzeichnungsterms mit der Basis Δ die Rede. Die Aussagen ,3y (y ist eine natürliche Zahl & ~3z ζ ist kleiner als j ) ' , .V^Vm ( ( j ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y) & (u ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als u) => y = u)' und ,1 y (y ist eine natürliche Zahl & ~3z ζ ist kleiner als y)' bilden die Existenzbedingung, die Eindeutigkeitsbedingung und die Einzigkeitsbedingung für die Formel ,(y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y)' und damit im übertragenen Sinn für die Kennzeichnung ,das;y (y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y)'. Die folgende Ubersicht stellt jeweils die allgemeine Formulierung und die gewählte Beispielaussage dar: Existenzbedingung

3ξ Δ 3 y (y ist eine natürliche Zahl & ~3z ζ ist kleiner als y)

Eindeutigkeitsbedingung

V^Vio (Δ & [ω,ξ,Δ] => ω = ξ) V^V« ((y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y) & (u ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als u) => y = u)

Einzigkeitsbedingung

1ξ Δ 1 y (y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y)

An der exemplarischen Eindeutigkeitsbedingung lässt sich zugleich ablesen, dass der Ausdruck ,[..,..,..]' in der allgemeinen Formulierung der Mitteilung des Ergebnisses der Substitutionsoperation dient, im Beispiel der Substitution von ,u für ,y' in ,{y ist eine natürliche Zahl & ~3 ζ ζ ist kleiner als y)'.

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In materialer Redeweise ist nachfolgend auch von der Δ-Eigenschaft die Rede. Die Aussage , ΐ ξ Δ', die Einzigkeitsbedingung für die Δ-Eigenschaft, besitzt folgende häufiger benutzte Varianten: , 3 ξ Δ & ν ξ Υ ω (Δ & [ω,ξ,Δ] => ω=ξ)', ,3ξ (Δ & Vco ([ω,ξ,Δ] => ω=ξ))', , 3 ξ ν ω ([ω,ξ,Δ]«>ω=ξ)'. Die Einzigkeitsbedingung ist, wie sich an der ersten (normalerweise als Definiens eingesetzten) Version direkt erkennen lässt, die konjunktive Zusammenfassung der Existenz- und der Eindeutigkeitsbedingung: Es existiert genau eine Δ-Gegebenheit, wenn und nur wenn wenigstens und höchstens eine Δ-Gegebenheit existiert. Wenn die Existenz- oder die Eindeutigkeitsbedingung widerlegbar ist, gilt dies auch für die Einzigkeitsbedingung. Ist umgekehrt diese widerlegbar, dann trifft das auf die Existenz- oder die Eindeutigkeitsbedingung zu. § 3 Einzigkeit: Mit der Verwendung von Kennzeichnungen sind robuste Intuitionen verbunden, v. a. diese: Ein beliebiges Gebilde ist identisch mit dem Δ-Ding genau dann, wenn dieses und kein anderes Gebilde ein Δ-Ding ist. Dieser als Prinzip der naiven Kennzeichnungstheorie oder auch als Lamberts Law (=LL) bekannte Gedanke lässt sich allgemein so mitteilen: 3 LL

Vco (ω = das ξ Δ ο ([ω,ξ,Δ] & νζ ([ζ,ξ,Δ]

ζ= ω)))

L L leistet - prima facie - gute Dienste: Da 0 identisch mit der kleinsten natürlichen Zahl ist, ist 0 - und nichts sonst - die kleinste natürliche Zahl. Da umgekehrt die 0 - und nur sie - kleinste natürliche Zahl ist, ist sie mit der kleinsten natürlichen Zahl identisch. Gegen diese erfreuliche Bilanz stehen jedoch - secunda facie - Bedenken. Erstens: Man wähle für Δ die Formel ,x ist gegenwärtiger König von Frankreich'. Aufgrund der Reflexivität der Identität ist der gegenwärtige König von Frankreich mit dem gegenwärtigen König von Frankreich identisch. Liest man nun L L nach der vorgenommenen Ins t a l l i e r u n g und Universalquantorbeseitigung von links nach rechts, dann ergibt sich mit der angezogenen Identität, dass der gegenwärtige König von Frankreich ein gegenwärtiger König von Frankreich ist. Mit Partikularquantoreinführung folgt: Es gibt wenigstens einen gegen3 Vgl. Lambert, 2000, Set Theory and Definite Descriptions, S. 4. - Die Formulierungen gehen insoweit (hier und in der Folge) nicht ins Detail, als Variablen- und Parameterbedingungen nicht eigens artikuliert werden; die unterlegte Grammatik- und Logikauffassung findet sich u.a. in Siegwart, 1997, Vorfragen zur Wahrheit, §5, §7, § 17; für die damit zusammenhängende später unterstellte Konzeption von Beweis vgl. ebd. §19f.

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wältigen König von Frankreich - was den politischen Fakten zuwiderläuft. Zweitens: Es ist, ebenfalls aufgrund der Reflexivität der Identität, die ungerade Primzahl mit der ungeraden Primzahl identisch. Liest man L L wiederum in geeigneter Instanziierung und Spezialisierung von links nach rechts, dann ergibt sich mit der gerade angezogenen Identität, dass alle ungeraden Primzahlen mit der ungeraden Primzahl zusammenfallen. Nun sind 3 und 5 ungerade Prinzahlen; damit ist 3 identisch mit der ungeraden Primzahl und 5 ist identisch mit der ungeraden Primzahl. Wegen Rechtskomparativität der Identität ist dann 3 = 5 - und das widerspricht den arithmetischen Fakten! Insgesamt: Enthält eine Sprache L L - sei es als Einführung des Kennzeichnungsquantifikators oder als Konsequenz aus einer solchen - , dann kann man in vielen Fällen wunschgemäß arbeiten, muss aber in anderen mit Widersprüchen rechnen. Das Schema bleibt ohne Probleme, wenn es genau eine Δ-Gegebenheit gibt. Ist dies hingegen nicht der Fall - kein bzw. mehr als ein Gebilde ist bzw. sind Δ - , dann stellen sich Widersprüche ein. In metatheoretischer Betrachtung, formuliert für Sprachen mit unentscheidbaren Aussagen, ergibt sich: Wenn die Einzigkeitsbedingung für Δ unbeweisbar, d. h. widerlegbar oder unentscheidbar ist, ergeben sich mit L L - und damit mit Δ-Kennzeichnungen - Konsistenzprobleme. Kennzeichnungen in einer so und so beschaffenen Sprache, für die die Einzigkeitsbedingung in dieser Sprache beweisbar oder auch erfüllbar ist, sind eigentliche oder auch: echte Kennzeichnungen. Ist hingegen die Einzigkeitskeitsbedingung unbeweisbar oder unerfüllbar, dann liegen uneigentliche oder auch unechte Kennzeichnungen vor. Diese Unterscheidung ist struktureller Natur: (Un)Erfüllbarkeit ergibt sich aufgrund der für die Sprache geltenden semantischen Bestimmungen. Die folgende Distinktion nimmt hingegen Bezug auf faktische kognitive Agenturen (Sprachgemeinschaften, einzelne Mitglieder von Sprachgemeinschaften, Gruppen in einer Sprachgemeinschaft usf.) und Zeitpunkte und ist damit historisch: Eine Kennzeichnung ist für eine Agentur zu einem Zeitpunkt offen bzw. verschlossen, wenn die Agentur zu dem jeweiligen Zeitpunkt Kenntnis bzw. keine Kenntnis davon hat, ob es sich um eine echte oder eine unechte Kennzeichnung handelt. ,Der gegenwärtige König von Frankreich' bzw. ,die kleinste natürliche Zahl' dürfte eine für jeden Leser dieses Textes offene Kennzeichnung sein. ,Der Verfasser der Ilias' ist auch heute noch eine für die Gemeinschaft der Graecisten verschlossene Kennzeichnung. Die Kennzeichnung ,die

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größte natürliche Zahl' ist für einen Arithmetiker eine offene Kennzeichnung; auf einer primitiven Erwerbsstufe der arithmetischen Sprache kann sie für den Lernenden verschlossen sein. § 4 Regulierungsoptionen: In der Folge sollen Etablierungsvorschläge für den Kennzeichnungsquantor sortiert und beschrieben werden, soweit das für die Erörterung von Kennzeichnungen in der Theologie angezeigt ist; die detaillierte begriffliche Ausarbeitung sowie Fragen der Rechtfertigung bleiben ausgeblendet. - Das Einzigkeitsproblem liefert naheliegenderweise die erste Einteilungsrücksicht: Einzigkeitsbeschränkte Ansätze schließen eine Reglementierung für den Fall unbeweisbarer Einzigkeit aus ihrem Geschäftsbereich aus. Demgegenüber beziehen einzigkeitsentschränkte Vorschläge die semantische Versorgung unechter Kennzeichnungen ausdrücklich in ihr Aufgabenfeld ein. Das einzigkeitsentschränkte Vorgehen ist mit der folgenden Etablierungsfrage befasst: Wie lässt sich der Kennzeichnungsquantifikator so regulieren, dass auch bei unerfüllbarer Einzigkeitsbedingung Konsistenz gewahrt bleibt? Salopp: Wie kann man mit unechten Kennzeichnungen unfallfrei umgehen? - In diesem Positionenraum lassen sich zwei Subfraktionen unterscheiden. Dabei fungiert die Inbetriebnahme eines Ersatzreferenten bzw. der ausdrückliche Verzicht darauf als Rücksicht, um ersatzliefernde von ersatzfreien Ansätzen abzuheben. Die jeweilige Wahl des Ersatzreferenten und die begleitenden Überlegungen zu deren >Natürlichkeit< führen zu Feinunterscheidungen im ersten Lager. Die prinzipielle Charakterisierungsidee lässt sich ζ. B. in ein kontextdefinitorisches Schema gießen, das eine hinreichende und eine notwendige Bedingung dafür liefert, dass eine Γ-Eigenschaft auf das Δ-Gebilde zutrifft: Das Δ-Gebilde ist Γ genau dann, wenn: (i) es gibt genau ein Δ-Gebilde, welches Γ ist, oder (ii) es ist nicht der Fall, dass es genau ein Δ-Gebilde gibt, aber der gewählte Ersatzreferent α* ist Γ. Beispiel: Der gegenwärtige König von Frankreich ist genau dann kahl, wenn (i) es genau einen gegenwärtigen König von Frankreich gibt, der kahl ist, oder (ii) wenn es keinen gegenwärtigen König von Frankreich gibt und das gewählte Ersatzobjekt kahl ist. Der Wahrheitsstatus von ,der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl' hängt also davon ab, ob der gewählte Ersatzreferent kahl ist. - Bei dem angedeuteten Verfahren handelt es sich um einen Spezialfall der Methode des Referentialisierens von Formeln, die auch bei der Definition von Individuen- und Funktionskonstanten Anwendung finden kann.

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Die ersatzfreie Option steht vor folgendem Einführungsproblem: Wie lässt sich der Kennzeichnungsquantifikator unter Verzicht auf einen Ersatzreferenten so regulieren, dass auch bei unerfüllbarer Einzigkeitsbedingung Konsistenz gewahrt bleibt? Salopp: Wie kann man mit unechten Kennzeichnungen ohne Sicherung durch Ersatzreferenten unfallfrei umgehen? - Ein (nicht: der) Weg geht über die Folgerungsregeln; er besitzt einen negativen und einen positiven Teil. Die Gestaltung des negativen Teils geht aus von der Beobachtung, dass die Universalquantorbeseitigung, die Partikularquantoreinführung und die Identitätseinführung jene Regeln sind, mit deren Hilfe sich aus Schemata wie LL die unerwünschten Konsequenzen ziehen lassen ( f § 3). Diese Regeln erfahren insoweit Beschränkung, als uneigentliche Kennzeichnungen ausgeschlossen werden. Am Beispiel: Man darf eine Aussage der Art ,θ=θ' in Abhängigkeit von der leeren Menge folgern, wenn θ geschlossener Term, aber keine uneigentliche Kenzeichnung ist. Der positive Teil spezifiziert, was man mit Kennzeichnungen tun darf: Die Eliminationsregel besagt: Man darf in Abhängigkeit von der leeren Menge eine Aussage der Art >Vω(ω=dasξ Δ ο (νξ(Δnormale< theologische Einlassungen haben ein anderes Design. In vielen derartigen Überlegungen finden sich indes Spezialisierungen mit den fachspezifischen Kennzeichnungen sowie kennzeichnungshaltige Lemmata, die von der Erfüllbarkeit der Einzigkeitsbedin-

11 Eine solche Charakterisierung hat u. a. folgende Gesichtspunkte zu bedenken: (i) Nach allgemein geteiltem Vorverständnis stellt die Aussage ,Gott existiert' (oder eine zu ihr (in dieser oder jener Weise) äquivalente Aussage) die These von Gottesbeweis(versuch)en dar (vgl. ζ. B. Morscher, 2 1998, Gottesbeweise, S. 75). Diese Aussage ist jedoch grammatisch und semantisch in beiden Teilausdrücken (extrem!) vieldeutig und oft in beiden Teilausdrücken semantisch defekt. Vermutlich wird man auch nicht jede ihrer Deutungen als Demonstrandum eines Gottesbeweis(versuch)es akzeptieren: Definiert man ,Gott' durch ,die perfekte Tröstungsillusion' und .existiert' durch ,spukt in den Köpfen vieler Menschen', dann ist mit ,Gott existiert' kaum ein Kandidat für einen Gottesbeweis gegeben, (ii) Beweis(versuch)e, Beweisbarkeit und Wahrheit sind stets relativ auf Sprachen zu charakterisieren, (iii) Unter hermeneutischer Rücksicht ist zu fragen, ob man Rekonstruenda, hier: Proslogion II, oder aber Rekonstruenda oder aber beide als Gottesbeweis(versuch)e anspricht. Dieser Gesichtspunkt wird virulent, wenn man den Aspekt des (in diesem oder jenem Sinne) erfolgreichen Gottesbeweises in die Betrachtung einstellt: Wenn ein Rekonstruens ein erfolgloser Gottesbeweis(versuch) ist, kann man dies nicht umstandslos auf das Rekonstruendum übertragen; die Erfolglosigkeit könnte (u. a.) durch ungeeignete Rekonstruktionsrahmen oder dilettantische Rekonstruktionsdurchführung herbeigeführt werden.

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gung abhängen; und insbesondere bei der Definition der Individuenkonstante/des Eigennamens ,gott' übernehmen Kennzeichnungen die Rolle des Definiens. Bei einigen Autoren wird dieses Vorgehen ausdrücklich. „I take the proposition , G o d exists' (and the equivalent proposition .There is a god') to be logically equivalent to .there exists a person without a b o d y (i. e. a spirit) w h o is eternal, is perfectly free, omnipotent, omniscient, perfectly g o o d and the creator of all things. I use , G o d ' as the name of the person picked out b y this description. I understand by G o d s being eternal that he always has existed and always will exist." 1 2

Wie immer es um die beanspruchten Äquivalenzen und die (allzu) liberale Verwendung der Existenzrede stehen mag: 13 Es wird deutlich, dass die Individuenkonstante ,god' eine oder mehrere Beschreibungen abkürzt und insofern als Definiendum zu einem kennzeichnenden Definiens auftritt. Vier Missverständnisse, zwei formale und zwei materiale, sind auszuräumen: (i) Wenn die Definition (weiter: die Einführung) der Individuenkonstante/des Eigennamens ,gott c als unverzichtbarer Zug der (monotheistische Gehalte artikulierenden) Theologie angesetzt wird, ist damit nicht ausgeschlossen, dass diese Disziplin auch mit k-stelligen Gottesprädikatoren, ζ. B. mit dem einstelligen ,..ist Gott', oder mit k-stelligen Funktoren, z.B. dem 1-stelligen ,der-Gott-von..', arbeitet 14 ; für breiter angelegte religionsbezogene Untersuchungen sind diese Redemittel ohnedies angezeigt, (ii) Auch wenn man die betrachtete Individuenkonstante - in Abweichung vom zumeist geübten Vorgehen ohne Rückgriff auf Kennzeichnungen etablieren möchte, kehrt das Einzigkeitsproblem wieder: Dieses bildet die (strukturelle) Kernfrage des Referierens und damit der Bereitstellung von Referenzmitteln aller Art. (iii) Der Ansatzpunkt bei Proslogion II könnte den Verdacht nahelegen, dass das ins Zentrum gerückte Etablierungsproblem nur für jene Familie von Theologien Einschlägigkeit hat, die die Gottesbeweise 12 Swinburne, 1984, The existence of God, S. 8. - Lauth, 2000, Monotheismus, S. 54f, liefert eine klare allgemeine Beschreibung dieses Vorgehens. 13 Zumindest die Existenzrede im Sinne des Partikularquantors („there is") sollte von jener im Sinne eines zweistelligen Existenzprädikats („always will exist") unterschieden werden. 14 Nur am Rande hingewiesen sei auf Ansätze, die ,gott' (aufgrund prinzipieller semantischer Vorbehalte gegen die übliche theologische Rede) als synkategorematischen Ausdruck konzipieren; vgl. zuletzt Lauth, 2000, Monotheismus.

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(oder bestimmte Gottesbeweise oder Gottesbeweise in diesem oder jenen Verständnis von Beweis) in ihrem Programm verzeichnen. 15 Dagegen ist geltend zu machen: Jede (monotheistische) Theologie verwendet die Individuenkonstante/den Eigennamen ,gott'. Als diskursives Vorhaben steht sie in der Pflicht, Fragen nach dem Wie der Verwendung zu beantworten, um damit die zugeordneten Verifikationswege offenzulegen. Wer indes spezifiziert, wie er einen Ausdruck korrekt verwendet wissen will, gibt eine Einführung, hier: eine Definition, desselben. In Sicherung der dazu unerlässlichen Einzigkeitsbedingung hat also jede Theologie einen >Gottesbeweis< zu erbringen. 16 (iv) Die Forderung nach einer expliziten Etablierung wird auch durch den Hinweis auf die überaus vielfältigen und verschlungenen Verwendungstraditionen des Ausdrucks in Religion und Theologie nicht überflüssig - ganz im Gegenteil: Wer Missverständnisse sowie Scheindissense und -konsense vermeiden will, wird anzeigen, welcher Tradition er folgt. Wird zudem der Nachweis erbracht, dass die vorgenommene Einführung sich an diese oder jene Redegepflogenheiten hält, liegt eine explikative Etablierung vor. § 10 Theologische Sprachen: Die Betrachtung von Kennzeichnungen in der Theologie, insbesondere in ihrer Zuspitzung auf die definierende Rolle von Kennzeichnungen, hat auf die Unverzichtbarkeit der Durchführung der zugehörigen Einzigkeitsbeweise geführt: Jede Theologie, die die Individuenkonstante ,gott' definieren möchte, ist auf eine derartige Argumentation verpflichtet. Nun stellen Beweise (Begründungen, Argumentationen) ebenso wie Bestätigungen, Bewährungen und Falsifikationen - erkenntnisphilosophisch betrachtet - insofern sekundäre Vollzüge dar, als zuvor eine Sprache konstruiert (oder erschlossen) werden muss, die als Geschäfts15 Tatsächlich lassen sich die fünf Wege des Thomas von Aquin (S. Th. I q. 2 a. 3), neben Anselms Proslogion die Paradigmata für Gottesbeweise schlechthin, so deuten, dass sie die Einzigkeitsbedingung für die Definition der Individuenkonstante ,gott' liefern: Weil es ζ. B. genau einen ersten unbewegten Beweger gibt, darf man ,gott' durch die Kennzeichnung ,der erste unbewegte Beweger' definieren. In dieser Perspektive ist es nur heuristisch, nicht aber systematisch korrekt zu behaupten, „daß die Gottesbeweise von einer philosophischen Nominaldefinition des Wortes ,Gott' ausgehen und zeigen, daß das Definiens existiert." (Ricken, 2003, Religionsphilosophie,, S.296). 16 Dies gilt auch für eine Religionsphilosophie, die der „Reduktion von Religion auf Metaphysik" (Ricken, 2003, Religionsphilosophie, S. 18), die durch „die starke Betonung der philosophischen Gotteslehre mit ihren Gottesbeweisen" (ebd.) befördert wird, eine entschiedene Absage erteilt.

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Ordnung den Erkenntnisbetrieb dirigiert. Benötigt sind grammatische und (darauf fußend) semantische Festlegungen, die die kognitiven Vollzüge anleiten. Dazu gehört zumindest die Angabe der jeweiligen ersten Prinzipien und die Spezifikation der Folgerungsregeln. Bei synthetisch-operationalen Sprachen - und dazu sollten alle theologischen Sprachen gerechnet werden - tritt u. a. die Angabe von Konstatierungsregeln, d. h. die Angaben zu synthetisch-operationalen Bedeutungen und damit zur Sicherung von Erfahrungsbasen, hinzu. Nur wenn eine entsprechende Geschäftsordnung, eine theologische Sprache, bereitsteht, können die verlangten Einzigkeitsbeweise oder auch -Widerlegungen geführt werden. In solchen Sprachen sind die logischen und (material)analytischen Anteile vergleichsweise unproblematisch: Theologen können hier wie alle anderen Wissenschaftler - aus dem bereitstehenden Reservoir wählen. Will man ζ. B. in obigem Rekonstruens den Folgerungszug von Zeile 16 als korrekt betrachten, wird man sich nicht für eine intuitionistische oder minimale Logik entscheiden, sondern eine klassische vorziehen. Undelegierbar ist hingegen die Etablierung der Eigenausdrücke. Der semantische Zustand dieser Ausdrücke begründet auch die soeben erhobenen strikten Explizitheitsforderungen. Dabei hilft der Hinweis auf die ehrenwerten theologischen Redetraditionen kaum: Weil es ζ. B. keine Schwierigkeiten bereitet, alle Eigenausdrücke der einleitend aufgezählten Kennzeichnungsexemplare als grammatisch und semantisch mehrdeutig und als semantisch defekt aufzuweisen, muss auf deren methodischer Einführung und damit auf die Konstruktion theologischer Sprachen bestanden werden.17 Gesetzt, es gelänge, theologische Sprachen nach den Regeln der Kunst herzustellen, Bezugssysteme also, in denen sich u.a. einschlägige Einzigkeitsdiskurse führen ließen, in denen das Wort ,Gott' und die Mitglieder der Existenzrede grammatisch und semantisch einwurffrei etabliert wären; dann bekäme die Aussage ,Gott existiert (nicht)' und ähnliche einen zugänglichen Sinn (und damit die Atheismuskontroverse einen identifizierbaren Streitpunkt). - Wer nun diese oder jene theologische Sprache akzeptierte, wäre sicherlich auch von allgemeinen πιει 7 Siegwart, 2001, Ist Gott die alles bestimmende Wirklichkeit, S. 2 9 0 - 4 0 1 , substantiiert diese These für die Kennzeichnung ,die alles bestimmende Wirklichkeit' und den zugehörigen Einzigkeitsbeweis; dort wird auch das Phänomen der semantischen Defektheit näher erläutert. - Diese Qualität der theologischen Eigenausdrücke schließt auch die „eschatologische" Strategie aus, theologische Kennzeichnungen als derzeit für uns verschlossene, dereinst aber für jedermann offene zu behandeln.

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thodologischen Gesichtspunkten geleitet. Diese Situation der Wahl eines Bezugssystems wäre aber vielleicht der Ort, an dem die Rede von Abwägungen und Entscheidungen >in freier Gewissheit< einen guten Sinn gewinnen könnte.

Nicht-dualistisches Denken und seine Konsequenzen für die Ethik im Advaita Vedänta und im christlichen Gottesbegriff M I C H A E L VON B R Ü C K

1. Vorbemerkung Religiöse Systeme haben vielfältige Wurzeln und Funktionen. Ein wesentlicher Aspekt ist die Darlegung des Zusammenhangs von kosmischen Abläufen und menschlicher Geschichte sowie Erkenntnis und Handeln. Ob dieser Zusammenhang in eine Gottesvorstellung verdichtet oder in einer allgemeinen Struktur der Wirklichkeit gedacht wird, die makro- und mikrokosmische Abläufe aufeinander abbildet, ist jeweils verschieden. Dass aber Ethik in einem nicht-hintergehbaren letzten Zusammenhang der Wirklichkeit begründet werden muss, wenn sie schwankenden utilitaristischen Erwägungen entzogen sein soll, ist kaum zu bezweifeln. In den Philosophien Indiens ist der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Ethik in höchst unterschiedlicher Weise gedacht. Im Mahäyäna-Buddhismus ist er als Einheit vonprajnä (Weisheit) und karunä (Barmherzigkeit bzw. besser: heilende Hinwendung zu allen Wesen) unverkennbar, im Advaita Vedänta ist der Zusammenhang weniger offenkundig und bedarf eingehender Analyse. Dies ist Gegenstand der folgenden Erwägungen. 1 Anhaften an Objekten bzw. die Begierde (trsnä) ist die Wurzel nicht nur für falsches Handeln, sondern auch für unklares Erkennen. Das trifft, mutatis mutandis, auf die Analysen des Buddhismus und des Vedänta zu. Die Begierde ist ja nicht nur die sinn1 Eine frühere Version dieses Aufsatzes ist veröffentlicht worden: M. v. Brück, 1983, Die vedantische Erfahrung des Einen als Basis für Prinzipien der Ethik, in: Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft (ZMR), S. 163-190.

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liehe Begierde, sondern das Anhaften an Sinneserfahrung wie auch an geistig konstruierten Konzepten. Das Grundproblem ist ein epistemologisches, weil Begierde die Wahrnehmung der Sinne verzerrt: Aus vergangenen Eindrücken, die im Gedächtnis gespeichert sind, wird ein inneres Bild bzw. Konzept konstruiert, das den momentanen Wahrnehmungsakt verfälscht und im Sinne von Vorprägungen, Vorurteilen bzw. Kategorisierungen deutet, die aus anderen vormaligen Zusammenhängen auf das gegenwärtige Ereignis übertragen werden (adbyäsa). Dadurch entsteht der Eindruck von Kontinuität und einem Gedächtnis, das ein aus sich selbst bestehenden Ich projiziert, aber genau dies ist der Fehler. Denn dieses Ich existiert nicht, muss nun aber immer neu stabilisiert werden, damit die Illusion aufrechterhalten werden kann. Dieser Stabilisierung dient weiteres Begehren bzw. die Einverleibung von Objekten. Gelingt dies nicht bzw. wird der Projektionsmechanismus von anderen Subjekten, die das Gleiche tun, gestört, reagiert der Mensch mit Abneigung und Hass. Die Übertragung bzw. Uberdeckung (adhyäsa) ist als Projektion auf das Erlebte ein ganz unvermeidlicher Vorgang, er ist mit der Spaltung in Subjekt und Objekt intrinsisch verbunden. Aber genau indem diese Spaltung aufgehoben und dadurch die wahre nicht-dualistische Natur (advaita) der Wirklichkeit offenbar wird, ist auch das Problem der Ethik gelöst. Die Frage ist nun, was zu geschehen habe, solange der Mensch einerseits in einem dualistischen Bewusstsein befangen ist, andererseits aber nach der Erfahrung der Nicht-Dualität strebt und sich von den Heiligen Schriften, die diese verkünden, inspirieren lässt. Hier entwickelt der Advaita Vedänta eine Ethik, die wiederum auf seiner Wahrnehmungstheorie aufbaut. Wir werden uns in der folgenden Darstellung auf das System £ankaras beschränken, denn dasselbe übt seit mehr als eintausend Jahren dank seiner Geschlossenheit und Klarheit eine starke Anziehungskraft auf die gebildeten Schichten Indiens aus. Es ist nicht zufällig die im Westen am meisten bekannte religiöse und philosophische Lehre, da Sankaras die in der Bhagavad Gltä gelehrte Einheit der Wege des Handelns (karma yoga), der liebenden Hingabe an Gott (bhakti yoga) und der intellektuellen Kontemplation (jnäna yoga), die in der Erfahrung der Einheit der Wirklichkeit gipfelt, philosophisch begründet. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die intuitive Erkenntnis des Einen {jnäna) der eigentliche Höhepunkt spiritueller Vollkommenheit ist. Das Handeln ohne Eigennutz (naiskarmya) sowie die glühende Hingabe an Gott (bhakti) sind aber wichtige und notwendige Elemente auf dem Weg.

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Für Sankaras Denken ist es charakteristisch, dass die Wirklichkeit von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet und gedeutet werden kann: dem absoluten Standpunkt (päramärtbika) und dem relativen Standpunkt (vyävahärika). Diese Methodik ist nicht neu, sondern vom Mahäyäna-Buddhismus entwickelt und in vielen Verzweigungen in die Epistemologie unterschiedlicher Schulen übernommen worden. Der absolute Standpunkt erschließt die Wirklichkeit als unterschiedsloses Eines und lässt dieses Eine in qualitätsloser und damit apersonaler Gestalt erkennen (nirguna brahman). Die phänomenale Erfahrung der Vielheit, der räumlich-zeitlichen Differenzierung usw. ist aufgehoben in die Ruhe des Einen. Da es keinerlei Differenz von Sein und Sollen gibt, ist auch jede ethische Frage aufgelöst. Der relative Standpunkt (vyävahärika) lässt ein bedingtes, d. h. mit Qualitäten versehenes Eines erkennen (saguna brahman). Die Erfahrung der Differenz hat hier durchaus ihr relatives Recht, sie kann aber nicht als die Wirklichkeitserfahrung schlechthin betrachtet werden, was der gewöhnliche Verstand fälschlich meistens tut. Auf Grund der Tatsache, dass die vyävahärika-Ebene als epistemologisch untergeordnet betrachtet werden muss, ergibt sich ein gewisser Akosmismus. Man kann sogar argumentieren, dass bei Sankaras ein neuer Dualismus entsteht, denn die Relativität wird als solche zwar anerkannt, ihre Inferiorität gegenüber der sich selbst offenbarenden Wirklichkeit als Wahrheit (satya) in der päramärtbika-Ebene ist aber nicht zu bestreiten. Genau an dieser Stelle liegt eine wesentliche Differenz zum Mahäyäna-Buddhismus, und zwar sowohl in Gestalt der Mädhyamika-Dialektik als auch der Yogäcära-Schule.2 Da Differenzierung nur auf der vyävahärika-Ebene möglich ist, kann vom umfassenden und letztgültigen Standpunkt (päramärtbika), der in jener spezifischen advaitischen Erfahrung greifbar wird, keine Moralität abgeleitet werden. Denn der jnänin ist über die Unterscheidung von Gut und Böse hinausgeschritten; in seinem Sein/Bewusstsein einen sich die Gegensätze in einer höheren Verwirklichung des Menschenseins, die als umfassende Integration zu beschreiben wäre. Eine auf abgrenzenden Bestimmungen beruhende Gesetzlichkeit wird daher im Advaita ausgeschlossen. 2 Vgl. M. v. Brück, 2000, The Buddhist Concepts of Prajna and Karuna in Relation to the Philosophy of Consciousness as Basis for a Global Social Ethics, in: The 11th International Conference on Buddhist Education and Culture, Taipei: Huafan University Press, S. 4 - 2 3 .

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Unsere Fragestellung ist, ob sich unter der päramärthika-i>etra.chtungsweise Gesichtspunkte für das Handeln des Weisen ergeben, die als ethische Prinzipien auf Grund der advaitischen Erfahrung verstanden werden könnten. Eine solche päramärthika-Ethik ist im advaita-vedäntischen Denken zweifellos vernachlässigt worden.3 Man begnügte sich damit zu behaupten, dass der in der Advaita-Erfahrung lebende jwanmukta (der vollkommen Erlöste, obgleich noch im Körper lebende Mensch) automatisch das Rechte tue, wobei aber die buddhistische Konsequenz, die sich im Bodhisattvayäna niedergeschlagen hat, nicht gezogen wurde. Diese Vernachlässigung hat zu dem bekannten krassen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Theorie und Praxis in der vom Advaita Vedänta bestimmten Religionsgeschichte Indiens beigetragen. Es ist hier nicht möglich, eine solche päramärthika-Ethik in Einzelheiten zu entwerfen. Wir wollen uns auf die Erörterung einiger fundamentaler theoretischer wie praktischer Gesichtspunkte beschränken, indem zunächst die Grundlagen der Erfahrung des Einen in Umrissen dargestellt (2.) und sodann die Konsequenzen für Prinzipien der Ethik (3.) gezogen werden. Weiterhin wollen wir den Unterschied zur Begründung der Ethik aus dem christlichen Gottesbegriff (4.) beleuchten, um schließlich abschließend die Wege für eine mögliche interkulturelle Diskussion (5.) anzudeuten.

3 Vgl. die schwerwiegende Kritik, die A. Koothottil gegen das Verfahren von J. Kattackal erhebt, da dieser das hier zur Diskussion stehende Defizit im Advaita Vedänta herunterspiele (A. Koothottil, 1982, Review of J. Kattackal, Religion and Ethics in Advaita, in: Jeevadhara XII, 71, Sept/Oct, Kottayam/India, S. 395-404). Koothottil bemerkt, dass der Mangel an praktischer Implikation von brahma-jnäna typisch für das vedäntische System sei, was sich vor allem in der verheerenden Einstellung zum Kastensystem zeige (S. 399). Dass Kattackal dies nicht bemerke, liege daran, dass er zwar vyävahärika eine an den üblichen Normen gemessene Ethik beschreibe, dass dies aber keine Konsequenzen für den letztgültigen Standpunkt habe. „In fact, the paramärtha state, the state of enlightenment, should be the basis of genuine religion and ethics, and the ultimate court of appeal in religious and ethical matters." (S.399) Dass Kattackal diese Aufgabe überhaupt nicht gesehen habe, möchte ich bestreiten. Er hat eine paramärthika-Argumentation aber nicht zur Basis seiner Ethik gemacht. Die Ansatzpunkte dafür sollen in diesem Aufsatz in den Blick kommen.

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2. Erfahrung des Einen Der Philosophie des Advaita Vedänta liegt die Nicht-Dualität (advaita) von erfahrendem Subjekt und erfahrenem Objekt, von Gott und Welt usw. zugrunde. Transzendenz und Immanenz schmelzen auf einem Punkt zusammen, der jenseits des gewöhnlichen durch die Sinne vermittelten Bewusstseinsinhaltes liegt. O b dies als eine spezifische Bewusstseins-Erfahrung („mystische Erfahrung") oder begriffliche K o n struktion bzw. als das Zusammenspiel beider zu deuten ist, sei hier dahingestellt. 4 Das personale Zentrum (jiva) jedes Individuums ist in Wahrheit das eine Selbst (ätman), das allen denkbaren Bestimmungen und allen erfahrbaren Besonderheiten der physisch-psychisch-mentalen Bedingungen sowie dem Wandel und der Widersprüchlichkeit des Lebens entzogen ist. Dieser ätman ist nicht verschieden von der einen universalen Wirklichkeit (brahman). Das brahman ist unwandelbar, ewig, aus sich selbst seiend. Es ist das Eine-ohne-ein-zweites (advittya), wahrhaft seiend (sat), reines Bewusstsein (cit) und vollkommene Seligkeit (änanda).5 Das Wesen der makrokosmischen wie der mikrokosmischen Wirklichkeit ist eine Einheit, die nur im illusionären Subjekt-ObjektBewusstsein des Menschen auseinanderfällt. In Wahrheit sind ätman und brahman nicht-zwei, advaita. Der Begriff advaita ist eine negative Bestimmung. Er meint nicht die Affirmation einer monistischen Theorie, sondern ist Negation des Dualismus, wobei sich die Negation sowohl auf die Zweiheit als auch auf den Versuch bezieht, die Welt als Ganzheit im logischen Aufbau von unterscheidenden Begriffen zu erkennen. „ O b w o h l Advaita systematisch erklärt w o r d e n ist und werden kann, ist es streng genommen nicht ein G e d a n k e n s y s t e m oder eine Schulphilosophie. G e m ä ß der Advaita-Tradition steht es für die volle E r f a h r u n g der N i c h t Dualität, die der H ö h e p u n k t aller Systeme des Denkens und Schulen der Philosophie ist. D e r A u s d r u c k Advaita, indem er sich auf das höchste Selbst bezieht, bedeutet die Wahrheit der Nicht-Dualität; und indem er auf die Tradition hinweist, die diese Wahrheit lehrt, kann der A u s d r u c k im Englischen mit non-dualism wiedergegeben werden. Hier muss bemerkt werden, dass die N e g a t i o n , die durch das Präfix ,nicht' bezeichnet ist, sich 4 Vgl. M. v. Brück, 1991, Mystische Erfahrung, religiöse Tradition und die Wahrheitsfrage, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Horizontüberschreitung. Die Pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 81-103. 5 H. Zimmer, 21976, Philosophie und Religion Indiens, Frankfurt: Suhrkamp, S. 407.

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Michael von Brück nicht nur auf die Dualität, sondern auch auf -ismus bezieht. Eines der A n liegen des Advaita ist es zu zeigen, dass die rivalisierenden Ansichten, die philosophische Systeme genannt werden, ihre Grenzen haben, und dass sie dienstbar sind nur insofern, als sie zu etwas führen, was jenseits ihrer selbst liegt. Die totale Erfahrung ist das Ziel. Das höchste Ziel des Advaita ist, den Menschen zu drängen, nicht zu ruhen, bis er diese Erfahrung gemacht hat."«

Die Nicht-Dualität allen Seins ist also Inbegriff der Advaita-Erfahrung.7 Dieses Advaita in einer überrationalen Schau zu erfahren und sich in den daraus folgenden inneren Frieden (sänti) hineinnehmen zu lassen, ist das Ziel. Die Illusion, getrennt von dem Einen zu sein und eine unabhängige Existenz zu führen, schafft Leiden und Ruhelosigkeit. Darum ist die Erfahrung des Einen unmittelbar mit dem Begriff der Erlösung oder Befreiung (moksa) verbunden. Ebenso wie unser Selbst (ätman) nicht verschieden vom brahman ist, so ist es eins mit moksa. Es gibt nichts zu erlangen, was nicht schon immer wäre. Nur muss des Menschen Unwissenheit bezüglich dieser Wahrheit überwunden werden.8 Brahman ist alles und ist in allem. Wer das realisiert, wird zu allem in der gleichen Weise wie brahman, das ja in allem ist, ohne sich dabei zu verändern.9 Man muss erkennen, „dass die göttliche Lebenskraft, die das Weltall durchdringt und jedem Geschöpf innewohnt, das anonyme, antlitzlose Wesen hinter den zahllosen Masken unsere alleinige, inwendige Wirklichkeit ist." 10 Das bedeutet Erfahrung der universalen Nicht-Dualität, Befreiung, mok$a. Im Advaita Vedänta wird brahman weder direkt als die schöpferische noch als die materiale Ursache der Welt verstanden. Vielmehr erscheint das brahman dem in Illusion befangenen Bewusstsein nur als Welt äußerlicher, materialer und leidvoller Phänomene. Das brahman wird aber von diesen Erscheinungen in keiner Weise betroffen. Brahman ist nicht die Ursache der Welt, sondern wird als Ursache der Ursache bezeichnet (yatah) n , d. h. es ist der völlig transzendente Grund des Seins, das sich in hervorgehendem Werden, andauerndem Bestehen und Auflösung (janmädi) darstellt. Gott also ist nicht Materialursache in einem Sinne, aus dem ein pantheistisches deus sive natura abgeleitet 6 7 8 9 10 11

Τ. Μ. P. Mahadevan, 1974, Invitation to Indian Philosphy, New Delhi, S. 367f. Brhadäranyaka Upanifad (BU) II, V, 1 ff. Sankaras, Kommentar zu Taittinya-Upanifad (TU) II, VIII, 5. TU III, X, 3 - 4 ; Sahkaras Komm, zu T U II, VI, 1. Zimmer, 1976, S. 366. Brahma-Sütra (BS) I, I, 2.

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werden könnte. Obwohl er ganz immanent und alles durchdringend ist, muss der ätman gerade als völlig transzendent gegenüber der empirischen Realität begriffen werden. Es handelt sich um immanente Transzendenz oder transzendente Immanenz. Brahman/ätman ist der innere Lenker (antaryämin) in allen kosmischen bzw. menschlichen Lebensvorgängen. 1 2 Weil alle sinnliche Wahrnehmung wie auch das Denken auf der Aktivität dieses inneren Lenkers beruht, kann der Mensch mittels seiner mehrschichtigen Bewusstseinsmöglichkeiten deren eigenen Erkenntnisgrund erkennen, denn dieser ist das fundamentale verborgene Prinzip aller menschlichen Aktivitäten (der Seher im Sehen, der Hörer im Hören, der Denker im Denken usw.) und doch von diesen verschieden. Darum wird er der „ungesehene Seher, der ungehörte Hörer, der ungedachte Denker, der unverstandene Versteher" 1 3 genannt. Das Prinzip ist der Ermöglichungsgrund für die Tätigkeit, die Tätigkeit kann aber aus sich selbst heraus nicht zu ihrem Ermöglichungsgrund kommen, weil sie dann ihre Grenzen übersteigen müsste. Der Mensch kann denken, aber er kann das Denken nicht denken. 14 Es bedarf deshalb einer direkten geistigen Schau, die das an sinnlicher Erfahrung orientierte Bewusstsein übersteigt. Dies ist die advaitische Erfahrung, da sich das Bewusstsein als die eine Wirklichkeit unmittelbar selbst erfährt. D a s brahman ist alles in allem; dort, w o es in seinem attributhaften Aspekt als persönlicher Gott erscheint (saguna brahman), wird Gott überall zu sehen und zu verehren sein, denn alles ist in ihm: yo märhpasyati sarvatra sarvarh ca mayi pasyati.15 Dies gilt unabhängig davon, ob etwas als Lust oder Leid (sukha oder duhkha)16 empfunden wird. Gott steht in und über allem. Das Ewige ist nicht außerhalb, sondern im Zeitlichen. Die schöpferische Kraft des Einen (mäyä) ist verantwortlich für die räumlich-zeitliche Differenzierung im menschlichen Bewusstseinsprozess. Wird diese Vielheit isoliert betrachtet, verfällt der Mensch jener Illusion (avidyä), die das Zeitliche nicht mehr als das in Wahrheit Eine und Ewige erkennen kann. D a s Zeitliche ist Illusion nur dann, wenn wir es für etwas halten, was es nicht ist, d. h. wenn es als die Wirklichkeit schlecht12 13 14 15 16

Vgl. bes. B U III, VII, 4-23. B U III, VII, 20. B U III, VII, 5. B G VI, 30. B G VI, 32.

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hin betrachtet wird. Wenn aber die Welt als das gesehen wird, was sie wirklich ist, ist sie keine Illusion, sondern abhängige Wirklichkeit bzw. die eine Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der bestimmenden und qualitativen wie quantitativen Bedingungen. Durch den rationalen Begriff kann das Eine nicht erreicht werden. Dieses manifestiert sich vielmehr als qualifiziertes Eins (saguna brahman), um schließlich auf einer transrationalen Bewusstseinsebene offenbar zu werden. D a s Eine i s t das Relative, und das Relative i s t das Eine. Dies sind nicht zwei Seiten einer Sache, sondern verschiedene Bewusstseinsebenen, durch die Wirklichkeit erfahren wird. In der dem Advaita zugrunde liegenden Erfahrung wird die Dualität von G o t t und Welt, Realität und Nichtrealität, Befreiung und Indas-Zeitliche-verstrickt-sein aufgehoben zu einer Erfahrung der Gegenwart des Ewigen oder der Ewigen Gegenwart. 1 7 Advaita ist kein Subjektivismus, sondern es wird gelehrt, was Subjekt und Objekt transzendiert: 18 das Eine bzw. Gott, der trotz der mäyä-Bewegung in der Welt die homogene, unbewegte reine Intelligenz und damit allem Wandel transzendent bleibt. 19 Zu dieser reinen Transzendenz, der völlig entschränkten Einheit, die aller Gefahr der Vergötzung endlicher Werte und des ichhaften Festhaltens an eigenen Gedanken und Bildern enthoben ist, versucht der Advaitin als jnänin (Wissender) durchzudringen. Es ist keine intellektuelle Erkenntnis, sondern ein meditatives Einswerden, wie ja in vielen Kulturen „Erkennen" kein abstrakter Akt ist, sondern Partizipation oder sogar eine mehr oder weniger bewusst herbeigeführte unio mystica.20 Darum ist es nun auch möglich, dass trotz des radikalen Apophatismus bezüglich der Aussage über das nirguna brahman eine Anrufung des Höchsten Selbst (paramätman = brahman) möglich ist, die aber bezeichnenderweise mehr hymnischen als logischen Charakter hat: saccidänanda. 17 Im Buddhismus wird dieses Paradox ausgedrückt mit der Ineinssetzung von nirväna und samsära, dem Sein im Zustand der Befreiung und im leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten. 18 B U 11, IV, 14; Τ. Μ. P. Mahadevan, 1975, Gaudapäda. dras, S. 108. 19 B U V, I, 1; vgl. Brahma-Sütra

Α Study in Early Advaita,

Ma-

Bhäsya A n k a r a s (BSB) II, I, 27.

20 Die indogermanische Wurzel * g e n liegt sowohl dem griechischen gignöskö als auch ginomai zugrunde. Auch im semitischen Sprachraum hat etwa die hebräische Wurzel yäda' nicht zufällig die liebende Vereinigung als Inbegriff des Erkennens zum Inhalt.

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Saccidänanda ist Inbegriff des Einen schlechthin. Die Vorstellung hängt zusammen und geht zurück auf die Erfahrung und den Begriff der Macht (sakti).21 Brahman ist demnach die eine Potenz, die aus sich selbst die Formen oder Ebenen der Erscheinung heraussetzt. Die saccidänanda-Formel besagt, dass die eine Wirklichkeit ihrem Wesen nach vollkommene Wirklichkeit, vollkommener Geist und vollkommene Seligkeit ist.22 Das schließt den Begriff der vollkommenen Energie oder Kraft ein, die sich in den drei Bestimmungen ausprägt und darstellt. Die einzelnen Bestandteile der Formel seien kurz analysiert: Sat: Das Eine kann weder begrenzt noch bestimmt noch bezogen sein. Von ihm kann - streng genommen - nicht einmal das Sein als Gegensatz zum Nichts ausgesagt werden. Das Eine ist Sein, es hat nicht Sein. Dies wird gern an einem Beispiel erläutert: Das erste Produkt der mäyä ist akäsa (Raum bzw. Äther), der stofflich gedacht ist, aber gleichzeitig so subtil ist, dass er Ausbreitungsraum für die materielle Objektwelt ist. Äther partizipiert an der Natur des Einen, insofern er ist (asti), manifest ist (bhäti) und anziehend wirkt (priyam). Jedoch ist Räumlichkeit ein besonderes Charakteristikum, das bestimmt und begrenzt ist, darum zur mäyä gehört. Der Raum hat demnach relative Realität, abhängig von brahman. Räumlichkeit (avakäsa) existiert nicht, bevor nicht der Äther manifest geworden ist, und bleibt an diese Manifestation gebunden. Was am Anfang und am Ende unreal ist, kann nicht real in der Mitte sein. Seiendes ist zeitlich, das brahman aber ist überzeitlich. Es ist die konstante Existenz, Manifestation und liebreizende Anziehungskraft (asti, bhäti, priyam bzw. saccidänanda) in der Zeit und den vergehenden Strukturen. Brahman ist in dieser Bestimmung das Substrat der Erscheinungen.23 Die am Beispiel des akäsa demonstrierte „Natur" des Einen im Verhältnis zu den zeitlichen Existenzformen ließe sich an allen Erfahrungsbezügen, d. h. an der gesamten Realität, nachweisen. Der Realitätsbegriff des Advaita Vedänta lehrt, dass das brahman als sat keineswegs ein Abstraktum ist, es ist vielmehr in der Welt, besser: als Welt 21 Deussen, 1883, Das System des Vedänta, Leipzig, S.244ff. 22 O b diese Vorstellung allerdings ohne weiteres mit den Aussagen des Thomas von Aquino über Gott als perfektes Wissen und perfekte Liebe zu vergleichen ist, wie H . Nakamura meint, müsste im einzelnen noch genauer nachgewiesen werden. H . N a kamura, 1975, Parallel Developments. A Comparative History of Ideas. T o k y o / N e w York, S.411. 23 Τ. M. P. Mahadevan, 1976, The Philosophy of Advaita,

N e w Delhi 4, S. 117.

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präsent. Die Erscheinung ist real, insofern sie dieses sat ist; sie ist unreal und unwahr (satya umfasst beide Dimensionen), wenn sie abgelöst von der sie umfassenden Ordnung gedacht wird. Die umfassende Ordnung ist der relativen implizit. Es ist bemerkenswert, dass im Advaita Vedänta eine Explikation des Begriffes sat in saccidänanda nicht möglich ist, ohne auf die Erscheinungen, die durch Name und Form bestimmt sind (näma-rüpa), hinzuweisen. Damit deutet sich eine gewisse Relationalität des Einen und des Vielen an, die aber nicht als Zweiheit missverstanden werden darf. Die Welt ist, so wie sie erscheint, Explikation des einen sat. Sie ist darum advaita in Bezug auf das brahman. Nun wäre es allerdings verfehlt, in dem sat des saccidänanda den Ausgangspunkt für eine abstrakte Onto-Logik sehen zu wollen. Es sei daran erinnert, dass es sich um eine hymnische Formel handelt, die eine Meditationserfahrung aussagen oder induzieren, nicht aber beschreiben möchte. Diese Erfahrung ist die Intuition des Seins, die jenseits des rationalen Bewusstseins, das Unterscheidungen sucht, aufleuchtet. Die Erfahrung des „Ich bin" ist das eine Gewisse und Unwandelbare, wobei aber sofort zu fragen wäre, wer dieses „Ich" ist. Es ist nicht das empirische Ich, sondern der ätman, der als Grund dieses Ich erscheint. Ebenso kann von Gott letztlich nur das „Er ist" ausgesagt werden (asti).24 Die Erfahrung des Grundes unter den empirischen Schichten oder Bewusstseinsebenen des Ich (kosa) ist die Erfahrung der Einen Realität, des Seins selbst, das auch der Grund der Manifestationsformen des Einen als Welt ist. Cit: Brahman ist reines Bewusstsein (cit). Bewusstsein ist nicht Attribut, das ein unabhängiges Sein näher bestimmen würde, sondern sat i s t cit.2S Brahman ist weder Subjekt noch Objekt des Bewusstseins, es hat auch nicht Selbstbewusstsein oder Objektbewusstsein, sondern ist „reines Bewusstsein". Cit kann als Kraft der Einheit des sat gedeutet werden,26 die der Ausdruck des sat ist. Bewusstsein ist das, was die Form oder Gestalt der Vielheit annehmen und doch dabei eins bleiben kann. Durch das Bewusstsein wird die Nichtzweiheit im Einen deutlich (ekam eva advitiyam). Cit ist aber nicht nur der Grund oder die Energie, aus der alle Erkenntnis abzuleiten wäre, sondern es ist der dynamische Aspekt des Einen überhaupt. Es gibt keinen Wandel des Einen, 24 Katha Upanisad (KU) II, III, 12. 25 B U IV, V, 13; BSB III, II, 16. 26 R. Panikkar, 1977, The Vedic Experience, London, S. 669f.

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weil sat dieses cit i s t. Das, was zunächst als Zweiheit von statischer und dynamischer Dimension erscheint, ist im Begriff des saccit eins. Eine berühmte Episode in der Taittiriya-Upanisad erzählt, wie der Sohn Bhrgu seinen Vater Varuna um Unterweisung bittet, damit er das brahman erkenne. Der Vater bezeichnet als Mittel der Erkenntnis des brahman die körperliche Energie (anna), Atemenergie (präna), Auge (caksu), Ohr (srotra), Vernunft (manas) und Rede (väc). Woraus alle Dinge geboren werden, wodurch sie leben, woraufhin sie sich bewegen und wohinein sie eingehen werden, dies ist brahman.27 Es ist die dynamische Kraft des Einen, die mannigfaltig erscheint und sich als Basis aller Energien erweist.28 Das Eine als cit ist ebenso das Prinzip aller sinnlichen Erkenntnis wie des Denkens: „All dies ist in Bewegung gesetzt und gebaut auf Bewusstsein (prajnänetram), Bewusstsein ist brahman."2esc\\rc\bung der Wirklichkeit folgt, ist als Erfahrung der Einheit aller Seinszusammenhänge beschrieben wor90 Dazu: M. v. Brück, 2002, Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß, München.

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den. Diese Erfahrung ist transformativ. Sie zieht den Menschen in einen Prozess der Partizipation hinein, und zwar in ganzheitlicher Weise, d. h. dass der Wille, der Intellekt, die sinnliche Erfahrungen usw. integriert werden. Des Menschen gesamtes Handeln wird gleichsam aus der trinitarischen Selbstbewegung Gottes bestimmt und in sie hineingezogen. Ethik ist damit auf ihre ontonomen Wurzeln in der Erfahrung der Einheit der Wirklichkeit zurückgeführt, auf eine Ethik des Seins, nicht nur des Sollens. Da die heutigen ethischen Aufgaben radikalen Wandel des Denkens und Verhaltens verlangen, wird auch eine radikale Neuorientierung der Grundlagen der Ethik angestrebt werden müssen, d. h. nicht ein verschärfter Imperativ, sondern nur ein erweiterter Indikativ kann das Nötige leisten. Die Intuition der einen Realität auf Grund der advaitischen Erfahrung des ätman kann dieser Neuinterpretation einen entscheidenden Anstoß verleihen. Sie ist nicht nur theoretisches Postulat, sondern bezeichnet einen Lebensweg, der durch meditative und das soziale Geschehen aktiv beeinflussende Praxis die im ätman geschaute kosmische Solidarität verwirklichen will.

Zur Handlungstheorie des Mahayana-Buddhismus Ostasiens JOHANNES LAUBE

1. Vorbereitender Teil 1.1 Der wissenschaftliche Rahmen der Untersuchung Wenn man grob zwischen philosophisch argumentativ begründeten Ethiken und religiös existentiell begründeten Ethiken unterscheidet, gehört die Ethik des Buddhismus zu den sich religiös begründenden Ethiken, freilich mit philosophisch-anthropologischen Implikationen. Der Titel „Zur Handlungstheorie des Mahayana-Buddhismus Ostasiens" lässt zunächst offen, innerhalb welcher Wissenschaft das mahayana-buddhistisch verstandene Handeln untersucht werden soll. Da es viele Wissenschaften gibt, die das „Handeln" reflektieren, und da diese viele verschiedene „Handlungstheorien" hervorgebracht haben, muss die besondere wissenschaftliche Perspektive dieser vorläufigen Untersuchung von den anderen abgegrenzt werden, um vermeidbare Missverständnisse von vornherein auszuschließen. Weil hier das Handeln nach dem Verständnis des MahayanaBuddhismus im Mittelpunkt steht, und zwar als religiös sich begründendes Handeln, bewegt sich diese Untersuchung im Rahmen der Religionswissenschaft, sowohl mit partikulär-buddhistischen religionshistorischen und religionsphilologischen Beschreibungen als auch mit universal-komparativen religionssystematischen Deutungen, Zuordnungen und Abtrennungen.

Zur Handlungstheorie des Mahayana-Buddhismus Ostasiens

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1.2 Arten von „Handlungstheorien" Man unterscheidet gewöhnlich a) die deskriptiven Handlungstheorien in empirischen Wissenschaften wie Psychologie, Verhaltensforschung, Soziologie, Ökonomie usw.; b) die normativen philosophisch-anthropologischen bzw. philosophisch-ethischen Handlungstheorien; c) die rationalen bzw. logischen Handlungstheorien (Entscheidungs- und Spieltheorien); d) die Analytische Handlungstheorie (als Analyse des Sprechens über Handlungen eigentlich „Handlungsmetatheorie"). Handlungstheorien im Sinn philosophisch-anthropologischer bzw. philosophisch-ethischer Reflexion über das Handeln als speziell humanes Tätigsein des Menschen gibt es schon seit Sokrates, Piaton und Aristoteles und auch die empirisch-wissenschaftlichen psychologischen und soziologischen Untersuchungen des Handelns des Menschen haben schon eine zweihundertjährige Geschichte (vgl. die Geschichte der Empirischen Psychologie und der Empirischen Soziologie ab dem 19. Jahrhundert). Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Handeln in den sich mit dem Menschen und seiner Kulturtätigkeit beschäftigenden Wissenschaften in immer neuen Zusammenhängen, seien es apriorische oder aposteriorische, immer mehr differenzierend zu analysieren und zu definieren versucht.1 Setzt man die Subjekt-ObjektAkt-Unterscheidung voraus, sind apriorisch gesehen subjektzentrierte, objektzentrierte, aktzentrierte philosophische Handlungstheorien möglich. Die im Mahayana-Buddhismus implizierte Theorie des Handelns gehört unter dieser Voraussetzung zu den aktzentrierten Handlungstheorien.

1.3 Zum Begriff der „Handlung" allgemein In deutschsprachigen wissenschaftlichen, besonders philosophischen Texten wird „Handeln" im Unterschied zu den bedeutungsbreiteren Begriffen „Wirken" und „Tun" meist enger als bewusste und gewollte 1 Bela von Brandenstein beschreibt „Handlung" phänomenologisch als eine Unterart von „Tätigkeit" und weist auf die Unmöglichkeit hin, „Handlung" logisch formal korrekt durch etwas anderes definieren zu wollen, weil „Definieren" selber eine „Tätigkeit" ist (in: Brandenstein, 1973, Art. Handlung, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe Band 3, München: Kösel, S. 677; Hervorhebung von mir).

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objektgerichtete (intentionale) Tätigkeit eines menschlichen Individuums als eines rationalen Subjekts verstanden. „Tätigkeit" ist traditionell ontologisch gesehen eine Form von „Bewegung". „Bewegung" ist „Veränderung". „Veränderung" ist ein anderes Wort für „Zeit". Wenn wir hier also allgemein von „Wirken", oder speziell beim Menschen von „Tun" bzw. „Handeln" sprechen, ist immer auch von „Zeit" die Rede. 2 Die antike Einteilung der menschlichen Tätigkeiten in ihre Unterarten ist weithin bekannt. Für das heutige Problembewusstsein ist sie zu einfach, dennoch hilfreich, weil sie eine schnelle Übersicht bietet. Innerhalb des Bereichs der „Tätigkeit" des Menschen unterscheidet Aristoteles drei Hauptarten: die theoretische Tätigkeit, die poietische Tätigkeit und die praktische Tätigkeit. Die theoretische Tätigkeit (theoria) hat das Erkennen eines (schon gegebenen) Sachverhalts zum Ziel. Die poietische Tätigkeit (poiesis) hat das Erzeugen eines (noch nicht gegebenen) Werkes zum Ziel. Die praktische Tätigkeit (praxis) hat ihr Ziel in sich selbst, d. h. in der Vollzugstatsache bzw. in der Vollzugsweise der Tätigkeit selbst. Aristoteles beschreibt praxis als individuumzentrisches bewusstes und gewolltes und in diesem Sinn rationales „Wohlhandeln" (eupraxia), welches das „geglückte Leben" (eudaimonia) anzielt. Diese Praxis wird als „Handeln" im ethischen Sinn verstanden. Übrigens liegt der Schwerpunkt der Bedeutung des Begriffes „Handlung" bei den philosophischen und logischen Handlungstheorien auf der „inneren Handlung" (d. h. auf der Vernunft- und Willensbewegung), bei den empirischen Handlungstheorien auf der „äußeren Handlung" (d. h. auf der leiblichen und sozialen Tätigkeit als Ausdruck der inneren Handlung). In dieser Untersuchung geht der Weg der Reflexion von den äußeren religiös-ethischen Handlungen (z.B. sozialen, rituellen, asketischen oder meditativen Handlungen) zu den inneren Handlungen (zu den Gesinnungen, Entscheidungen, Begründungen usw.) bzw. zum Sprechen über sie. Doch bleiben wir noch beim „Handeln" überhaupt! Überspringen wir hier einmal die Entwicklung von Piaton und Aristoteles zur mittelalterlichen, zur neuzeitlichen und zur gegenwärtigen Philosophie und nehmen nur eine am Handeln besonders interessierte gegenwärtige Philosophie als Einführung in das Problembewusstsein bezüglich des Verständnisses des Handelns im Mahayana-Buddhismus: nämlich die 2 Wir achten hier nicht auf den Unterschied zwischen Handeln und Handlung.

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aus der S p r a c h a n a l y t i k h e r v o r g e g a n g e n e H a n d l u n g s a n a l y t i k der A n a lytischen P h i l o s o p h i e . J . C . M a r e k b e s c h r e i b t ihren S t a n d der R e f l e x i o n - f ü r u n s e r e n jetzigen Z w e c k g e n ü g e n d d i f f e r e n z i e r e n d : „In der analytischen Philosophie hat sich seit den letzten drei Jahrzehnten durch die Behandlung philosophischer Probleme der Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie von Fragen der Ethik und der philosophischen Psychologie und infolge einer Tendenz der Pragmatisierung philosophischen Gedankenguts als eine eigene philosophische Disziplin die philosophische Handlungstheorie (.philosophy of action') herausgebildet. Diese hat die menschliche Praxis in zentraler Weise zum Gegenstand, ist aber selber nicht als eine normative Handlungstheorie (Ethik), nicht als eine logische Handlungstheorie (Handlungslogik; Entscheidungstheorie) und auch nicht als eine empirische Handlungstheorie (Soziologie, Psychologie) zu verstehen. Sie befasst sich - im engen Zusammenhang mit ontologischen und metaphysischen Themen (Kausalität, Willensfreiheit, Leib-Seele-Problem, Personalität, Intentionalität, Sinngeltung, Rationalität) stehend - mit erkenntnistheoretisch-methodologischen Problemen, die insbesondere die Explikation von Handlungsbegriffen (bzw. die Deskription von Handlungen) und die Explanation von Handlungen betreffen. Die Beschreibung einer Handlung im engen Sinn zeichnet ein intentionales Verhalten als der Intention entsprechend aus (Intentionalität hier nicht allein psychische Gerichtetheit, sondern auch Zielgerichtetheit). Bloßes Verhalten hingegen enthält kein intentional zu interpretierendes Moment. Wird die Relation zwischen der Intention und dem äußeren Verhaltensmoment nicht nur als eine Sinnbeziehung, sondern auch als eine kausale gedeutet (Kausalismus), so ist die Beschreibung einer Handlung im engen Sinn als ein kausaler Erklärungsansatz des entsprechenden als Explanandum fungierenden äußeren Verhaltens durch Rekurs auf die motivierenden Gründe als Explanans zu deuten, wogegen die Sinnbeziehung durch die Art der Entsprechung zwischen beabsichtigtem und ausgeführtem Verhalten konstituiert wird. Erklärungen von Handlungen wiederum bringen ein Verstehen der Handlung und nicht bloß des äußeren Verhaltens zum Ausdruck und müssen nach dieser kausalistischen Auffassung Prämissen enthalten, die Intentionsstrukturen komplexer Art, etwa eine Zweck-Mittel-Relation, berücksichtigen. Dem Kausalismus [...] steht der Intentionalismus [...] gegenüber, der - metaphysisch gesehen - die Intentionalität respektive das Handeln als eine eigenständige, nicht auf rein natürliche Sachverhalte reduzierbare und nicht in kausalen, gesetzmäßigen Zusammenhängen erfassbare Kategorie versteht und - in methodologischer Hinsicht - die Verbindung zwischen Intention und Handlungsvollzug als eine rein logisch-begriffliche bzw. wertbezogene begreift, die durch den .praktischen Syllogismus' oder die .rationale Erklärung' ausgedrückt werden kann. Der Personalismus [...] dagegen sieht eine Handlung letztlich durch die handelnde Person als solche, als Substanz, und nicht durch Ereignisse, Dispositionen o. ä. verursacht an,

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Johannes Laube benötigt also eine eigene, nicht auf die Kausalrelation zwischen Ereignissen zurückführbare, personale (Handlungs-)-Kausalität." 3

Kommentar: Die Hervorhebungen durch Kursivdruck stammen von mir. Im Text werden die heute am meisten verbreiteten philosophischen Handlungstheorien skizziert: Kausalismus, Intentionalismus, Personalismus (= Substantialismus). Wohin gehört die Handlungstheorie des Buddhismus? Zum Kausalismus, Intentionalismus oder Personalismus?

1.4 Zur Grundtendenz des Verständnisses von „Handlung" im Mahayana-Buddhismus Die Perspektive der Handlungstheorie, die im Falle des Buddhismus in Frage kommt, kann nicht die einer personalistischen religionsphilosophischen Handlungstheorie sein, wenn ihr Subjekt-Begriff den Substanz-Begriff voraussetzt. Sie kann auch nicht die Perspektive der intentionalistischen Handlungstheorie sein, insofern diese den Dualismus von Subjektwelt (Bewusstseinswelt des menschlichen Individuums) und Objektwelt voraussetzt. Der Ausschluss einer personalistischen und auch einer intentionalistischen Handlungstheorie bedeutet aber nicht eo ipso die Annahme der kausalistischen Handlungstheorie (im Sinn der „Explanation" eines linearen Kausalverhältnisses zwischen „Ereignissen" im oben genannten Sinn: vgl. Zitat Marek). Man kann zwar in bezug auf sein Handlungsverständnis von einem eigenen buddhistischen Kausalismus sprechen, muss dann aber den Terminus Kausalismus inhaltlich neu bestimmen. Aber zunächst muss noch die Frage geklärt werden: die Praxis welches Buddhismus ist hier gemeint? Selbstverständlich hat sich der Buddhismus im Laufe von mehr als 2000 Jahren in viele verschiedene Richtungen entwickelt. Gewöhnlich unterscheidet man drei Hauptformen, die sich sowohl geographisch-kulturell wie auch religiös-spirituell relativ deutlich voneinander abgrenzen lassen: den Theravada- (oder Hinayana-)Buddhismus (Srilanka, Südostasien), den Mahayana-Buddhismus (Ostasien) und den Vajrayana-Buddhismus (Tibet). Während der Theravada-(Hinayana)-Buddhismus sich eher als ein „Weg von unten nach oben" mit dem Ideal des Arhat darstellt und das endgültige 3 Vgl. J. C. Marek, 1980, in: Josef Speck (Hrsg.), Handbuch wissenschafts-theoretischer B e g r i f f e , Band 2, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht (UTB 967), S.70f.

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Nirvana dualistisch als von der Diesseits welt getrennte Jenseitswelt versteht, über die keinerlei inhaltlich positive Aussagen gemacht werden können, stellen sich Mahäyäna und Vajrayäna eher als Wege „von oben nach unten" dar, oder besser als Hin- und Rückweg des mitleidenden Bodhisattva, der einen horizontalen (nicht vertikalen!) Kreislauf von Vorangehen und Umkehren, Umkehren und Vorangehen vollzieht, um die leidenden Wesen zur gemeinsamen Erlösung zu führen. Entsprechend wird das endgültige Nirvana vom Diesseits nicht im Sinn einer absoluten Zukunft erwartet und abgetrennt, sondern ist immer schon hier und jetzt gegeben und zugleich aufgegeben. Man kann von einer monistischen oder genauer non-dualistischen Tendenz des Mahäyäna sprechen. Es gibt keine allgemein anerkannte religionsphilosophische Handlungstheorie des Buddhismus. Obgleich Karma „Handeln" heißt, und die Karma-Gesetzmäßigkeit im gesamten Buddhismus gelehrt und gelebt wird, kann die Karma-Lehre nicht als Grundlage einer buddhistischen Handlungstheorie gelten, da sie nur einen Ausschnitt der gesamten Handlungsproblematik darstellt und bei modernen Theoretikern des Mahayana-Buddhismus als Erklärungsform und nicht als ErklärungsInhalt gilt.

2. Hauptteil 2.1 „Ethisches Handeln" im Mahayana-Buddhismus Wenn man die einschlägige nicht-buddhistische Literatur über den Buddhismus durchforstet, findet man das Problem des Handelns meist bloß dem Bereich der Ethik zugeordnet und die Ethik auf folgende Stichwörter reduziert: „Achtfacher Pfad" (Aryästängika-märga: „rechtes Erkennen, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechte Lebensführung im Sinn des Dharma, rechtes Sichbemühen in Richtung des Nirväna, rechtes Im-Gedächtnis-Behalten des Weges, rechtes Sichversenken"), „Karma" („Handeln mit positiven bzw. negativen schicksalhaften Folgen") und „$ila" (Regeln des individuellen sittlichen Lebens: ζ. B. die buddhistischen „Fünf Gebote bzw. Selbstverpflichtungen") sowie „Vinaya" (Regeln des gemeinschaftlichen Lebens einer buddhistischen Ordensgemeinschaft z.B. die 250 Gebote für Mönche). Aber die Hervorhebung von Karma, Sila usw. bedeutet eine Vereinsei-

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tigung der Bedeutung des Handelns im Buddhismus. Was auf den ersten Blick wie „ethisches Handeln" aussieht, entpuppt sich im Laufe der systematischen Reflexion als nicht-ethisches bzw. über-ethisches „nicht-handelndes Handeln" und dieses als die bloße „Für-uns-Sicht" der Selbstverwirklichung der absoluten Wirklichkeit gesehen in ihrer Dynamik, d.h. also aus unserer Perspektive als „Zeit" oder genauer „als Zeiten" (Plural!). Um die Tiefe und Breite dieses Problems des Handelns im Buddhismus ermessen zu können, müssen noch andere Stichworte in Betracht gezogen und nach dem sie umfassenden Begriff systematisch geordnet werden. Während sich in der westlichen Philosophiegeschichte der Begriff des ethischen Handelns aus dem der transindividuellen „Tätigkeit überhaupt" immer deutlicher unterschieden herausentwickelte, hat der Begriff des „ethischen Handelns" im Mahayana-Buddhismus die Tendenz, sich immer eindeutiger mit dem der transindividuellen „Tätigkeit überhaupt" bzw. „Wirksamkeit überhaupt" wieder zu vereinen. Grob gesagt: Je früher ein buddhistischer Text entstand (vgl. die TheravädaTexte und den Text Dhammapada), desto mehr mahnt er individualethisch, je später buddhismusgeschichtlich der Text entstand, desto mehr äußert er sich in mystischen Symbolen der Tateinheit des absoluten und relativen „Wirkens" (vgl. die einheitsmystische Interpretation der rituellen Beziehung des „Großen Sonnenbuddha" jap. Dainichi Nyorai und seiner Verehrer im Shingon-Buddhismus). Es gibt keine systematisch explizierte und universal rezipierte Theorie des Handelns bzw. ethischen Handelns im MahayanaBuddhismus. Gerade anlässlich der Deutung des Handelns bildeten sich die verschiedenen Schulen der chinesischen, koreanischen und japanischen Buddhismusgeschichte! Im Wirklichkeitsverständnis des Mahayana-Buddhismus, das seinem Handlungsverständnis zugrunde liegt, konkurrieren vor allem drei Denktendenzen miteinander: (1) die auf den ersten Blick objektivistische, realistische, atomistische Weltauffassung der Kusha-Schule („Abidharmakosa-Schule"), (2) die auf den ersten Blick absolut-negativistische Weder-nochDialektik der Wirklichkeitsauffassung der Schule des „Mittleren Weges" (Chüdöron oder Churon, Mädhyamika-Schule), (3) die auf den ersten Blick subjektivistische, idealistische, konstruktivistische Wirklichkeitsauffassung der Yuishiki-Schule („NurBewusstsein-Schule", Yogäcära-Schule).

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2.2 „Handeln" nach der Kusha-Schule Die Lehre der Kusha-Schule konzentriert sich einerseits auf die ausführliche Begründung der Negation des Substanzcharakters des Selbst, d. h. eines unabhängigen und beständigen, in diesem Sinn eines „selbständigen" menschlichen Selbst (sie verficht wie die meisten frühen Schulen des Buddhismus die Nicht-Selbst-These: muga, anätman), anderseits konzentriert sie sich auf die ausführliche Demonstration der vom menschlichen Geist unabhängigen Realität des Raumes und der Zeit (mit drei selbständigen Einheiten: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) sowie aller übrigen welthaften Erscheinungen (dharma im Plural, zu denen auch die menschlichen Tätigkeiten bzw. Handlungen gehören). Die dharma als zeitbegrenzte Verbindungen der Seins- und Wirkelemente (go-un, go-shu: fünf skandhas) entstehen und vergehen zwar von Augenblick zu Augenblick neu und anders. Die Verbindungen können aus materiellen und geistigen Elementen bestehen und solchen, die weder stofflich noch geistig sind. Die Verbindungen entstehen, bestehen und vergehen in wechselseitiger Abhängigkeit. Innerhalb dieses Beziehungsnetzes existieren die Seins- und ~Wirkelemente real, d. h. hier: unabhängig von den wechselnden Verbindungen und vom Bewusstsein des individuellen Selbst, das eigentlich Nicht-Selbst (muga, anätman) ist. Selbstverständlich tradiert die Kusha-Schule die Lehre des „Achtfachen Pfades" und die daraus sich ergebenden asketischen, ethischen und meditativen buddhistischen Verhaltensweisen. Aber wenn man das ethische Gute und Böse in Abhängigkeit vom rationalen Handeln eines individuellen menschlichen Selbst als Subjekt (-Substanz) denkt, kommt eine solche immanentistische, ontologistische, rationalistische Betrachtungs- und Bewertungsweise für die Kusha-Schule nicht in Frage. In Frage stehen nur die Erleuchtungsförderlichkeit bzw. Erleuchtungshinderlichkeit des jeweiligen Verhaltens bzw. der das Verhalten bestimmenden Gesinnung, die letztlich „Buddha-Geist" ist. Die Kusha-Schule analysiert alle Erscheinungen, findet in ihnen fünfundsiebzig Wirkeinheiten (Dharma im Plural) und ordnet sie in fünf Gruppen. Zu diesen Gruppen gehören auch die Gruppe der erleuchtungsförderlichen Dharma (diese Gruppe gilt als „das Gute": jap. zen naru mono, Sanskrit: kusala) und die Gruppe der erleuchtungshinderlichen Dharma („das Böse": aku naru mono, akusala). Die Abhandlung Kusha ron (Abidharmakosa-sästra) besteht aus vier Teilen. Der erste Teil behandelt die Frage nach der Seinsweise und

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den Seinsbereichen der Elemente, der zweite Teil untersucht und unterscheidet ihre Erscheinungsweisen, der dritte Teil beschreibt ihre Wirkweisen. Die Frage nach dem „Tun" (go/karma) des Menschen wird im vierten Teil behandelt, und zwar einerseits unter dem Stichwort monastische oder laikale „Lebensregel" (ritsugi/samvara), anderseits aber auch unter dem Stichwort „Weg des Karma" (gödo). Zunächst werden drei Arten des „guten Handelns" (myögyö) und drei Arten des „bösen Handelns" (akugyö) unterschieden, jeweils als Tun des Leibes, des Wortes, des Geistes. Für beide Handlungsweisen (die gute und die böse) werden Zehnerlisten aufgestellt. Die „Zehn bösen Karma-Handlungen" (jü-aku gödö) sind: (1) Töten, (2) Stehlen, (3) Unzucht, (4) Doppelzüngigkeit, (5) Lüge, (6) Verleumdung, (7) Schmeichelei, (8) Gier, (9) Zorn, (10) verkehrtes Sehen. Besonders ausführlich werden die verschiedenen Aspekte des Tötens behandelt, auch das Töten im Krieg. Es wird ζ. B. die Frage behandelt, ob jeder einzelne sich eine Sünde zuziehe und schlechtes Karma verursache, wenn er als Mitglied einer soldatischen Einheit tötet. Die Antwortet lautet: die Gesinnung (das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein des „Tötungsgewtes" sasshin) entscheidet, ob man Sünde (tsumi) und Sündenfolge (Karma, gö) sich zuzieht. 4

2.3 „Handeln" nach Churon Nägärjuna (2./3. Jh.) hat durch sein Denken die Mehrheit der späteren mahayana-buddhistischen Schulen beeinflusst. Die Texte Prajnä-päramitä (jap. Hannya-haramitsu) hatten in Bezug auf die Deutung der Außenwelterscheinungen von den wechselnden Selbstzusammensetzungen der „Fünf Elemente" gesprochen. Nägärjuna setzt dafür das „abhängige Entstehen in wechselseitiger Verursachung (pratitya samutpäda, jap. innen-engi)". Schon in den Predigten des historischen Shäkyamuni Buddha hatte wohl die Vergänglichkeit aller Erscheinungen im Vordergrund gestanden. Frühe Texte, die in den ersten zweihundert Jahren nach Shäkyamunis Tod entstanden, sehen der Sache nach das Wesen der Welt im ständigen Werden und Vergehen, das durch das Gesetz des „abhängigen Entstehens in wechselseitiger Verursachung" be4 Ausführlicheres zum Verständnis des Guten und des Bösen sowie des ethischen Handelns vgl. Johannes Laube (Hrsg.), 2003, Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt, S. 259-355 (Teil: Buddhismus).

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herrscht wird. Nägärjuna hat dieses Gesetz des „abhängigen Entstehens" zur Formel schematisiert, geeignet, um das Denken des Buddhismus über das Wesen der Erscheinungswelt argumentativ zu legitimieren, aber auch geeignet, um die religiöse Praxis des Buddhismus spirituell zu motivieren. Aus diesem Gesetz des abhängigen Entstehens in wechselseitiger Verursachung zog er drei wichtige Schlussfolgerungen. Erstens verneinte Nägärjuna die Anwendbarkeit des Begriffs des „eigenen Wesens (svabhäva)" auf vergängliche Erscheinungen. „Eigenes Wesen" bedeutet nach Nägärjuna ein Sein ganz aus sich selbst und nur durch sich selbst, unabhängig von allem andern. Daraus folgt aber zweitens, dass ein solches eigenes Wesen nicht entstanden ist, weil es nicht verursacht sein kann, und dass es nicht dem Vergehen unterworfen ist, weil sein Bestehen von nichts anderem abhängen darf. Es wäre ewig und unvergänglich. Nägärjuna erklärt nun im Umkehrschluss, dass die Dinge der Erscheinungswelt, weil sie unserer Erfahrung nach dem ständigen Werden und Vergehen unterliegen, kein eigenes Wesen besitzen können. Sie sind wesenlos, d. h. von dieser Seite her gesehen: unwirklich. Die Unwirklichkeit der Erscheinungswelt bedeutet aber nicht, dass sie nicht ist. Sie ist nur nicht aus sich selbst und in sich selbst. Damit tritt der Terminus „Leerheit" (shunyatä) der Erscheinungen in den Vordergrund der Texte. Die Erscheinungen der Welt sind substanzleer, d. h. ohne eigenständiges Wesen. Daher können wir uneingeschränkt weder sagen, dass sie sind, noch dass sie nicht sind. Beide Aussagen sind einseitig und damit unzutreffend. Die Wahrheit liegt in der Mitte, im mittleren Weg des Weder-noch der Leerheit als absoluter Negation (nicht zu verwechseln mit dem mittleren Weg des Sowohl-alsauch der absoluten Synthese!). Diese Dialektik macht aber die Erscheinungswelt, wie wir sie erfahren, überhaupt erst möglich. Es kommt ihr eine gewisse Wahrheit zu, allerdings keine Wahrheit im Sinn der vollkommenen Wirklichkeit, sondern eine bedingte Wahrheit. Und im Sinne der bedingten Wahrheit hat das Weltgeschehen und vor allem auch der buddhistische Erleuchtungs- bzw. Erlösungsprozess, der sich auf die Predigten des Shäkymuni Buddha stützt, seine Gültigkeit. Aber vom Standpunkt der endgültigen Wahrheit aus gesehen, gibt es weder einen Buddha, noch eine Lehre, noch eine Gemeinde, da diese alle der Erscheinungswelt angehören. Noch eine dritte Schlussfolgerung zieht Nägärjuna: Das substanzleere Wesen der Erscheinungswelt bringt ihre „Vielheit" mit sich (prapanca, wörtlich: die „Vorliebe für Unterscheidungen", jap. keron). Auf dieser Vielheit beruhen alle unsere Vorstellungen, die wir uns von der Erscheinungswelt machen, die aber nicht

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auf die höchste Wirklichkeit zutreffen, weil diese von jeder Unterscheidung (ζ. B. Einheit/Vielheit, Allgemeinheit/Einzelheit, Gutheit/Bösheit u. ä.) frei ist. In diesen Zusammenhang gehören auch Nägärjunas Sätze über „Tat und Täter" (vgl. Chüdöron, Kapitel VIII, 11-12 Übersetzung Laube): „Weil der Unerleuchtete Taten hat, wird er Täter genannt. Weil beides zusammenkommt, kommen sie als Tat und Täter zustande. Weil sie (nur) durch ihre Zusammenkunft entstehen, haben sie kein Eigenwesen. Weil sie kein Eigenwesen haben, sind sie substanzleer. Weil sie substanzleer sind, bringen sie nichts hervor. N u r weil der Unerleuchtete dem Gedächtnis und der Vorstellung folgt, spricht er von Tat und Täter. In der primären (d. h. absoluten) Wirklichkeit gibt es keine Tat und keinen Täter. Ahnlich wie Tat und Täter aufgehoben sind, verhält es sich mit dem Erleiden und dem E r leidenden." 5

2.4 Das Handeln nach der Yuishiki-Schule Die Yuishiki-Schule (oder Yogäcära-Schule, die Bezeichnung Yogäcära weist auf die Hauptform der religiösen Praxis dieser Schule hin: Yoga, d.h. hier Meditation) soll im 4./5.Jh. durch den legendären Gelehrten Maitreya begründet worden sein, der oft mit dem erwarteten zukünftigen Bodhisattva bzw. Buddha Maitreya (jap. Miroku) identifiziert wird. Die historisch eher fassbaren Begründer waren die Brüder Asanga (Mujaku) und Vasubandhu (Seshin, beide etwa 400 bis 480). Die Yuishiki-Schule hat ihren Namen von der Kurzfassung ihrer philosophischen Haupthese yuishiki, d. h. „Nur Bewusstsein (oder: nur Vorstellung)", m. a.W. alle welthaften Erscheinungen haben nur Realität als Gegenstände des Bewusstseins bzw. der für sie zuständigen Dimensionen und Funktionen dieses Bewusstseins. Manche Buddhologen sprechen von „Reiner Ideation" statt von „Nur-Bewusstsein". Das Denken im Sinn der Yuishiki-Abhandlungen ist verwandt, aber nicht identisch mit dem Denken des Kegon-Sutra, beide haben im Zen-Denken deutliche Spuren hinterlassen. Insgesamt werden acht Dimensionen des Bewusstseins unterschieden (hasshiki): fünf Bewusstseinsdimensionen für die fünf Sinne (—shiki), die sechste Bewusstseinsdimension für die Einheit der Sinnestätigkeiten (i-shiki), die siebte Bewusstseinsdimension (mana-shiki) für die 5 Vgl. auch die Textsammlung und Textkommentierung von Erich Frauwallner, 1958, Die Philosophie des Buddhismus, 2. unveränderte Auflage, Berlin: Akademie-Verlag.

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Vorstellung vom Bewusstseinssubjekt bzw. vom individuellen Selbst als dem Träger aller Tätigkeiten der Sinne bzw. des Geistes und die achte Bewusstseinsdimension (araya-shiki) als „Speicher" für die „Samen" (shuji, Sanskrit: bija) der stets neu hervorzubringenden Außenweltgegenstände. Außerhalb des Bewusstseins gibt es keine realen Gegenstände, keine reale Welt. Die einzige Realität ist das oben beschriebene mehrdimensionale Bewusstsein. Da aber das Bewusstsein, von dem hier die Rede ist, als Bewusstsein mit acht Dimensionen beschrieben wird, und da das achte Bewusstsein das bei allen vorherigen Bewusstseinsvorgängen stets mitvorgestellte Bewusstseinss«£;e&t (Nr. 7) aufhebt, kann diese Yuishiki-These nicht einfach mit einem Idealismus im Sinne des „absoluten Ichs" Fichtes identifiziert werden. Es kann aber auch nicht mit einem Spiritualismus im Sinn einer Theorie eines einzigen „Weltgeistes" zusammengeworfen werden. Denn das sogenannte „achte Bewusstsein" ist als Plural zu denken. Jeder Mensch hat sein eigenes „achtes Bewusstsein" mit seinem eigenen überkommenen karmischen Erbe (die „Samen"), seinen karmisch relevanten aktuellen Funktionen und seinen selbstverursachten zukünftigen karmischen Wirkungen. Die vielen individuellen „achten Bewusstseine" durchdringen sich wechselseitig und bewirken zusammen die Erscheinungen, die man zusammenfassend als „Welt" bezeichnet. Ihr Zusammenwirken wird manchmal mit dem Ineinanderfließen der Lichtstrahlen vieler Lampen zu einer einzigen Lichterscheinung verglichen, wodurch ein einziger „Licht-Raum" entsteht, an dem alle Lampen beteiligt sind und teilhaben. (Wie das Yuishiki-Denken sich vom Konstruktivismus der Gegenwart unterscheidet, kann hier nicht im einzelnen dargetan werden.) Die Yuishiki-Schule unterscheidet (in diesem Fall im Anschluss an die Kusha-Schule) drei Arten von Tätigkeiten bzw. Zuständen des individuellen Geistes, nämlich (wörtlich übersetzt) das „gute Herz", „das böse Herz", „das moralisch unbeschriebene Herz" (zenshin, akushin, mukishin). Die inhaltliche Bestimmung und Bewertung als „gut" bzw. „böse" wird durch die Beziehung dieser Tätigkeiten bzw. Zustände zum Karma gewonnen. Von „Karma" (gö) spricht man im engen Sinn, wenn eine Nachwirkung einer vergangenen Tat in der Gegenwart bezeichnet werden soll. „Karma" ist also vor allem repräsentativ für die „gegenwärtige Vergangenheit". Die vergangenen Taten hinterlassen Früchte, die zunächst für sich schon erleuchtungsförderlich bzw. erleuchtungshinderlich sind. Aus diesen Früchten gehen aber auch die Samen hervor, die durch entsprechende Umstände und Behandlungs-

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weise in der Gegenwart sich zu neuem erleuchtungsförderlichen bzw. erleuchtungshinderlichen Karma auswachsen können. Vom „moralischen Guten" bzw. „moralischen Bösen" spricht man nur, wenn es sich um die Taten bzw. Zustände der aktuellen Gegenwart handelt. Die Taten bzw. Zustände der Gegenwart hinterlassen wiederum Früchte bzw. Samen für zukünftiges Karma, das wiederum erleuchtungsförderlich bzw. erleuchtungshinderlich sein kann. Mit Rücksicht auf die karmische Vorbereitung der Zukunft durch die Gegenwart gilt die Zukunft als „gegenwärtige Zukunft". Shäkyamuni Buddha selbst hatte noch unter Karma der Vergangenheit zu leiden; aber in seiner Gegenwart verursachte er selbst kein neues Karma durch sein „Handeln". 6

2.5 Das sino-japanische Wortfeld „Handeln" Es kann nicht verwundern, dass in modernen buddhistischen Texten, die sich auf die „kantisch" verstandene ethische Praxis beziehen, die modernen Äquivalente auftauchen: z.B. japanisch köi (Tat, Handlung, Akt) und ködö (Tun, Handeln, Handlung, Verhalten, Aktivität). Köi und ködö spielen aber in ihrer ethischen Bedeutung in den buddhistischen Sutren und Sutren-Kommentaren noch keine Rolle. Statt ihrer herrschen die Termini go („Karma") und gyö vor (gyö: religiöser Dienst, Ritenvollzug, Gottesdienst, Askese, Kasteiung, Übung, Lebenswandel, Verlauf, Reihe, Linie, Zeile). Gyö verstanden als transitives Verb mit nachfolgendem Objekt betont den „Vollzug", die „Ausübung", die „Verwirklichung" des Danachgenannten: ζ. B. in gyö-busshö (expliziter existentieller Vollzug der latenten angeborenen Buddha-Natur bzw. des Buddha-Wesens). Daigyö (auch daigö gelesen) kennzeichnet das „große" Handeln eines Buddha, d. h. sein Erlösungshandeln. Der alle buddhistischen Perspektiven des Handelns umfassende Begriff scheint also gyö zu sein, zumal da mit daigyö auch das Erlösungshandeln eines Buddhas in den Blick kommt. Die zusammenfas6 Die Kusha-Schule unterscheidet veränderliches Karma und unveränderliches Karma. Unveränderliches (gutes bzw. böses) Karma bringen hervor: (1) Akte aus extrem starkem Verlangen nach Erleuchtung bzw. nach diesseitiger Lust, (2) gute oder böse Gewohnheiten als Gewohnheiten, (3) Akte für oder gegen den Buddha, seine Lehre (Dharma), seine Gemeinschaft (Sangha), (4) Akte für oder gegen die Eltern. Nichiren (vgl. Kapitel: Nichiren) erklärt in seinem Brief Kaen jogo sho: „Wahrhaftige Reue hebt sogar das unveränderliche Karma auf, erst recht das veränderliche."

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sende Kraft des Terminus gyo wird ebenso durch die in den meisten mahayanistischen Schulen (besonders in der Tendai-Schule, an deren Denken wir uns hier orientieren, weil sie die Mutter der vielen Schulen ist, die im Mittelalter in China und Japan entstanden sind) gebrauchte Formel kyö-gyö-shö („Lehre-Übung-Erleuchtung") nahegelegt. Sie wird sozusagen „kontroverstheologisch" zum Maßstab der Unterscheidung der jeweilig betonten „Sutren bzw. Lehren" (kyö), der jeweilig betonten Form der „religiösen Praxis" (gyo) und der jeweilig betonten Form der „Realisation des Ziels (d. h. der sog. Erleuchtung)" (shö) der einzelnen buddhistischen Schulen verwendet.

2.6 „Handeln" im Mahayana-Buddhismus: die zwei Perspektiven eines Wechselverhältnisses Aus der Sicht des Mahayana-Buddhismus gilt das Wechselverhältnis: ohne leidende Wesen kein Buddha, ohne Buddha keine leidenden Wesen. Das „Handeln" gehört nach der Auffassung des MahayanaBuddhismus nicht zur wahren Wirklichkeit oder „Soheit" (tathatä, jap. shinnyo), sondern zur Welt der Veränderung, der Vielheit, der Zeitlichkeit und der Erscheinung-für-uns als „Entstehen und Vergehen in wechselseitiger Verursachung (innen-engi)". Zu dieser Erscheinungswelt gehören auch die auf den ersten Blick voneinander verschiedenen Einzelwesen, die Unerleuchteten und die Erleuchteten. Sie sind durch ihre wechselseitige Beziehung, was sie sind. Sie sind aufeinander angewiesen und stehen - getrennt betrachtet - stellvertretend für je eine einseitige Sicht der wahren Wirklichkeit.

2.7 Das Handeln der leidenden „Wesen" (sattva) Die gewöhnlichen Einzelwesen, die unerleuchteten Einzelwesen, können (im Unterschied zu den „mitleidenden Bodhisattvas und Buddhas") als die „leidenden Wesen" bezeichnet werden, da sie die Negation aller ihrer Lebensstrebungen nicht nur erfahren, sondern wegen der Unausrottbarkeit der angeborenen Leidenschaften ihnen ausgeliefert erscheinen. Die drei schlimmsten Leidenschaften, die leiden machen, sind Begierde, Hass, Verblendung. Sie treiben zu immer neuer Zeugung des Leidlebens. Uber dem Leben des gewöhnlichen Einzelwesens stehen drei Mahnungen:

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Shoho muga - alle Erscheinungen haben kein Selbst (keine Selbständigkeit, kein Eigenwesen) Shogyö m u j ö - alle Tätigkeiten sind nicht beständig N e h a n jakujo - das Nirvana ist ruhig (d. h. ohne Bewegung durch das blinde triebhafte Handeln der Leidenschaften) u n d rein (d. h. ohne Trübung durch das bewusste und gewollte eigensüchtige Handeln). Traditionell spricht man von einer geschlossenen Kette oder einem Rad des sich fortzeugenden Leidlebens mit „Zwölf Ursachen u n d Wirkungen" (juni innen). Jedoch handelt es sich dabei weder u m „Ursachen und Wirkungen" im Sinn ontologistischer Postulate noch im Sinn des handlungsanalytischen „Erklärens" eines „Ereignisses" aus anderen Ereignissen, sondern in einem noch näher zu bestimmenden semiotischen Verständnis. „Ursache" u n d „Wirkung" sind hier stellvertretende sprachliche Zeichen f ü r das dynamische Wechselverhältnis einer dem menschlichen Handeln nicht nur karmisch vorgegebenen, sondern auch ethisch verantwortlich 7 aufgegebenen „Situation". Verteilt auf die zwölf Glieder der geschlossenen Kette des Leidlebens ergibt sich zwar in der Rede darüber eine Reihenfolge, die einem zeitlichen Nacheinander gleicht, die aber eigentlich als gleichzeitiger wechselseitiger Wirkungszusammenhang verstanden werden muss, in dem die scheinbare Priorität der „Ursachen" gegenüber den „Wirkungen" aufgehoben ist. A m unerforschlichen Anfang steht (1) die angeborene Unwissenheit/Unerleuchtetheit (mumyo) als Repräsentant f ü r das Karma der Vergangenheit schlechthin; (2) auf der Grundlage dieser Unwissenheit erheben sich die ersten spontanen prae-individuellen Bewegungen (gyo) eines neuen werdenden Lebens (die „blinden Triebe oder blinden Leidenschaften"), die selber wiederum Karma hervorbringen; (3) die Samen dieses Karma werden im erwachenden individuellen Bewusstsein gespeichert (ishiki); (4) auf der Grundlage der bisherigen Entwicklung entsteht eine Leibesform mit ihrer individuellen Erscheinung (myöshiki); (5) es entstehen die „Fünf Sinnestätigkeiten" u n d das „Sinneszentrum" (roku-un oder roku-shiki); (6) die Sinnesgegenstände (kyö) entstehen und die „Berührung" (settchoku) durch diese Sinnesgegenstände; (7) es k o m m e n Lust- u n d Unlust-Erfahrung, Freude- u n d Schmerzerfahrung (ju) zustande; (8) Begehren (ai) entsteht; (9) es folgt die Anhaftung (Ergreifen und Festhalten, shu). 7 Die besondere Art der „Verantwortung" und „Schuld" im Rahmen dieser mahayana-buddhistischen Ethik können hier wegen der Begrenzung der Seiten nicht näher erläutert werden.

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Die Glieder 1 und 2 repräsentieren die karmischen Wirksamkeiten der Vergangenheit; die Glieder 3-7 repräsentieren das aktuelle gegenwärtige Verhalten als ethisch relevant und bleiben in ihrer Wirkung im Rahmen der Gegenwart, die Glieder 8 und 9 ai und shu Begehren und Anhaften gehören zwar zu den blinden Leidenschaften der Gegenwart: bonnö, aber sie säen schlechtes Karma als Samen für die Zukunft. Auch (10) das gegenwärtige endliche Werdewesen (u, sonzai) als ganzes bedingt karmisch die Zeugung (shö) des nächsten endlichen Lebens (11) und belastet das Altern und Krankwerden (rö-byö) sowie das Sterben (shi) als letzte Speiche des Rads der Zeit (12) mit Karma. Die Glieder 8-12 repräsentieren deshalb die Zukunft. Der Kreislauf beginnt von neuem. Ein nächstes individuelles Leben vollzieht und zeichnet seine eigene epochale Variante dieses Kreislaufs.

2.8 Das Handeln der „erleuchteten Wesen" (Bodhisattvas, Buddhas) Während im Zusammenhang mit dem Leidleben der gewöhnlichen Einzelwesen der Terminus gyö (in: shohö mugyö) zuerst unbestimmt zusammenfassend „alle Tätigkeiten" (d. h. „alle Lebensbewegungen") und dann im Bild des Rads der Zeit „die spontanen unwillentlichen Lebensbewegungen, Instinkt- bzw. Triebfunktionen" (ζ. B. des Embryo im Mutterleib) gemeint sind, gewinnt gyö im Leben der Bodhisattvas und Buddhas vielfältige Bedeutungen, von der körperlichen Askese (kügyö), über den Vollzug von Riten (gyöji) und das ethische Verhalten (gyödö) bis zur sich identifizierenden Meditation über Buddha (gyöbutsu) bzw. über die eigene Buddha-Natur (gyöbusshö) und alles zusammenfassend: shugyö („die Übung meistern, üben, einüben, ausüben"). Ja, die Bedeutung von gyö bewegt sich immer mehr vom Äußeren zum Inneren, von der leiblichen „Übung" zum „Geist der Übung" bzw. zum „übenden Geist" (gyöshin), von der Ausführung eines Gelübdes hin zum „Gelübde-Versprechen-selbst" (gan) eines Bodhisattva oder sogar zu dem allen Tätigkeiten/Handlungen aller Wesen vorausgehenden apriorischen Erlösungs^z7/e« als dem „Urwillen oder Wesenswillen" (hongan, hon-i) eines Buddha (meist: des Buddha Amitäbha, jap: Amida Butsu).

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2.9 Das Große Handeln eines Buddha Die Laufbahn eines Bodhisattva wird gewöhnlich in 52 Stationen beschrieben. Die 52. Station ist die der vollendeten Buddhaschaft. Ein Mahayana-Bodhisattva verzichtet auf das Erreichen der 52. Station, bleibt bei der 51. Station stehen und wirkt von dort aus zur Erlösung aller übrigen leidenden Wesen. Sein Status an der 51. Station wird mit dem des Maitreya-Buddha verglichen. Ahnlich wie Maitreya-Buddha jetzt schon Buddha heißen darf, obgleich die Zeit seines Wirkens in dieser Welt noch nicht gekommen ist, besitzt ein Bodhisattva der 51. Stufe die weise und mitleidige Wirkkraft (toku) eines Buddha. Weisheit (chie) und Mitleid (jihi) sind die Wesensmerkmale eines Mahayana-Buddha und damit auch Mahayana-Bodhisattva. Weisheit und Mitleid sind die Motive des erlösenden „großen Handelns" (daigyö) eines Buddha, das in seiner ganzen Laufbahn vom Urgelübde des Bodhisattva bis zur Vollendung der gemeinsamen Buddhaschaft besteht, der Laufbahn, auf die er die leidenden Lebewesen mitnimmt.

2.10 Handeln als Höben-Handeln Höben heißt im allgemeinen Sanskrit upäya. Häufig wird in Erklärungen des Buddhismus upäya/höben als dieses oder jenes konkrete „geschickte Mittel" verstanden, das ein Buddha oder Bodhisattva zum Zweck der Erlösung eines ganz bestimmten Individuums anwendet (darunter auch wenn notwendend - vom Standpunkt der gewöhnlichen Ethik aus gesehen - ethisch kritisierte Handlungsweisen wie ζ. B. Lüge oder Prostitution). Aber upäya/höben heißt eigentlich: Annäherung, Ankommen, Berühren. Upäya/höben steht für den ganzen Weg vom Ausgangspunkt bis zum Ziel, für das Verfahren und die Mittel zur Erreichung des Ziels. Wichtig sind im mahayana-buddhistischen Zusammenhang aber, dass nicht die unerleuchteten Leidwesen diese höben anwenden, sondern die erleuchteten Bodhisattvas und Buddhas (dass also die Bewegungsrichtung „vom Fortgeschrittenen zum Nachzügler" assoziiert wird) und dass upäya/höben nicht für das Ziel selbst steht, sondern für das Kommen aus der Richtung des Ziels. Das Ziel, die absolute Ordnung (dharma) oder die absolute Soheit (tathatä), bleibt dem Weg und den auf ihm Gehenden gegenüber in jeder Richtung stets jenseits. Aber dem den Weg Gehenden begegnet so das jenseitige Ziel im Höben-Zeichen eines Buddha bzw. zum Buddha gewordenen Bodhisattva.

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Was im Mahayana-Buddhismus zum Bereich des Höben-Handelns gehört, wird im Christentum teils im Bereich der Christologie (der Gottmensch Jesus Christus als „Mittler"), teils im Bereich der Soteriologie (das Problem der „Vermittlung" bzw. der „Anknüpfung" des Erlösungshandelns Gottes an die gegebene erlösungsbedürftige „Situation" des Menschen) und teils im Bereich der Pastoraltheologie (das Problem der Seelsorge für bestimmte Gruppen und Individuen: das „Abholen" in ihrer partikulären Lebenssituation) behandelt. Der Mahayana-Buddhismus (Tendai-Schule) unterscheidet drei Weisheiten (san-hannya): - Jissö-hannya: die Weisheit, die alle Erscheinungsformen der Wirklichkeit sieht (Stichwort: Vielheit) - Kanshö-hannya: die Weisheit, die das wahre Wesen der Wirklichkeit weiß (Stichwort: Einheit) - Hoben-hannya: die Weisheit, die die individuell angepassten Erlösungsverfahren entwickelt (Stichwort: Einzelheit). Ebenso wie die beiden ersten Weisheiten zum Rüstzeug eines Bodhisattva und Buddha gehören, so besonders auch die dritte Weisheit. Denn das Handeln des Bodhisattva oder Buddha spielt sich in der Welt als Vermittlung-(d. h. höben)-der-wahren-Wirklichkeit ab. Übrigens könnte man diese Höben-Weisheit mit der konkreten praktischen Vernunft einer „Situationsethik" vergleichen. Höben wird im Buddhismus einmal im Unterschied zur buddhistischen W e i s h e i t verwendet, zum anderen im Unterschied zur wahren W i r k l i c h k e i t . Im Unterschied zur buddhistischen Weisheit: die buddhistische „Weisheit" (hannya, prajna) bezieht sich auf das Wissen um die wahre Wirklichkeit (shinjitsu, tattva) oder wahre Soheit (shinnyo, tathatä). Diesem Weisheitswissen gegenüber steht das HöbenWissen, das sich auf das Wissen um den „Weg der Erscheinungsweisen" (gon-dö) der Soheit bezieht. In diesem Sinn gehören alle historischen Formen, auch die des Buddhismus zum Höben-Bereich. Man darf nicht vergessen, dass das Unterscheiden selbst stets zur Höben-Welt gehört. Also ist auch die Unterscheidung selbst zwischen der „wahren Wirklichkeit" und ihren „Erscheinungs- bzw. Erlösungsweisen" ein höben. Insofern ethisches Erkennen und ethisches Handeln Unterschiedswissen und dementsprechend Unterschiedshandeln sind, fallen sie in den Bereich von hoben-hannya (oder gon-chi), abgesehen davon dass die Distanz von Sein und Sollen, um deren Aufhebung die ethische An-

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strengung sich bemüht, ein Symptom des Leidlebens der „leidenden Wesen" ist.

2.11 Weisheit und Mitleid als die zwei Grundkräfte des Hoben-Handelns eines Bodhisattva/Buddha Eine Fülle von Textstellen belegen die Auffassung des MahayanaBuddhismus, dass Weisheit und Mitleid die Triebkräfte eines Buddha sind, individuelle Erlösungsverfahren hoben auszudenken, auszusprechen und anzuwenden. Manchmal spricht man von den „zwei Augen eines Bodhisattva/Buddha". Das Weisheitsauge, das in Richtung auf die unterschiedslose Soheit sieht, und das Mitleidsauge, das in Richtung auf die vielen verschiedenen erlösungsbedürftigen Leidenden sieht. Es ist aber falsch zu sagen, dass Weisheit und Mitleid Gegensätze seien und sich Konkurrenz machen. Vielmehr bezeichnen sie die Handlungsweise des Bodhisattva/Buddha, in der der Terminus „Weisheit" für seinen Soheitsbezug und der Terminus „Mitleid" für seinen Individuumsbezug steht. 8

2.12 Mahayana-buddhistisches Handeln als Nichthandeln Das religiöse Ideal des Mahayana-Buddhismus wurde oben als das Ideal des „Bodhisattva" bezeichnet. „Bodhisattva" („Kämpfer um Erleuchtung oder Erleuchtungswesen", japanisch bosatsu) war ursprünglich ein Titel nur des Shäkyamuni Buddha. Im Bereich des MahayanaBuddhismus kann er heute jedes Wesen bezeichnen, das sich auf dem Weg zur Erleuchtung hin bzw. von der Erleuchtung her bewegt. Systematisch gesehen besonders wichtig ist die Figur des Amitäbha Buddha (jap. Amida Butsu oder Amida Nyorai), der als Bodhisattva Dharmakara im Bereich der Menschenwelt asketische, ethische, meditative Kräfte (Verdienste) erwarb und gelobte, sie zugunsten aller erlösungsbedürftigen Leidwesen einzusetzen, die seinen Namen vertrauensvoll anrufen. Amida als Bodhisattva auf dem Weg von der Menschenwelt zur Dharmawelt gilt als Wesen im „Ursachenstand" (in-i) und umgekehrt als Buddha auf dem Weg vom absoluten Dharma zu den Men8 Vgl. zu hoben/upaya: Michael Pye, 1978, Skilful Means: A Concept in Mahayana Buddhism, London.

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sehen gilt er als Wesen im „Wirkungsstand des Fruchtbringens" (ka-i). Im Ursachenstand (in-i) bewirkt Amida seine eigene Erlösung (Hinweg ösö), im Wirkungsstand (ka-i) bewirkt Amida die Erlösung aller anderen (Rückweg gensö), indem er sie an seinem Erleuchtungsleben teilnehmen lässt. Da aber sein eigenes Erleuchtungsleben nicht vollkommen wäre ohne das Erleuchtungsleben der anderen, vollzieht sich ein je neuer Kreislauf von Hinweg und Rückweg Amidas. Der Rückweg des Amida ist der Hinweg der gewöhnlichen Leidwesen. Amida lässt die Leidwesen an seinem Erleuchtungsleben teilhaben. Durch das Geschenk des Amida-Glaubens haben sie Anteil an ihm. Der Gelobende, der Handelnde, der Rufende, der Gebende und sich selbst die Glaubensantwort Bereitende ist Amida allein. Amida als die „andere Kraft" (tariki) ist die v4//ez>zursache und die >l//ursache der Erlösung, des darauf bezogenen Glaubens und des aus dem Glauben fließenden täglichen Lebens (einschließlich des allgemein-ethischen und religiös-ethischen Lebens). Nun wird aber Amida von Shinran nicht bloß als Buddha auf dem Rückweg vom absoluten Dharma beschrieben, sondern als eins mit dem absoluten Dharma, nämlich als das den Leidwesen zugewandte Antlitz des absoluten Dharma. Shinran unterscheidet mit T'an-luan (jap. Donran, 5./6. Jh.) den absoluten Dharma seinem Wesen nach (Dharmatä Dharmakäya: hosshö hosshin, der Dharma pro se) und den absoluten Dharma als Erlösungsbewegung zu uns (Upäya Dharmakäya, hoben hosshin, der Dharma pro me). Daraus folgt: insofern Amida als die allem vorausgehende Erlösungsbewegung des absoluten Dharma die „Ursache" aller in dieser Erlösungsbewegung ablaufenden Lebensäußerungen der Leidwesen ist (einschließlich des allgemeinen und religiösen ethischen Handelns), muss jedes Handeln der Leidwesen als „Anderkraft-Handeln" (tariki-gyö) bezeichnet werden. Dieses ist seinem inneren Wesen nach Nichttuendes Tun (musa no sa, Tun ohne Karma-Subjekt und ohne Karma-Effekt) oder „Nichthandeln" (gyö ni arazu, higyo), obgleich es phänomenal sich als menschliches Handeln darstellt. Dieses „Nichthandeln" wird von Shinran als „ohne menschliches Planen" (hakarai naki) beschrieben, oder „vom Dharma selbst her wie es ist" (jinen höni ni). 9 Dem Autor seien hier zwei eigene Extrapolationen erlaubt, die weitläufige Perspektiven für die weitere systematisch-religionswissen9 Dieses buddhistische Nichthandeln ist vom daoistischen Nichthandeln (chin, wuwei, jap. mu-i) zu unterscheiden.

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schaftliche Forschung aufzeigen können: Erstens, was von Shinran nur auf den Amida des Buddhismus des Reinen Landes angewandt wird, muss konsequent durchgedacht, für jeden Buddha gelten. Und da jedes Wesen grundsätzlich Buddha werden kann, gilt die höbenhosshin-Struktur grundsätzlich für jedes Wesen. Zweitens, eine wenig beachtete Analogie der Buddha-Struktur als höben-hosshin beschreiben die Texte der jap. esoterischen Shingon-Schule mit Hilfe des Ritus-bezogenen Terminus jishö kaji-shin („Eigenwesen-VerleihungAnnahme-Leib" im Unterschied zu hosshö honji-shin „Dharma-Wesen-Urstand-Leib").

2.13 Mahayana-buddhistisches Handeln als nicht-ethisches Handeln Selbstverständlich versteht der Mahayana-Buddhismus phänomenal vom Individuum aus gesehen das Handeln als religiös begründetes ethisches Handeln im Bereich der buddhistischen Gemeinschaft und in der allgemeinen Gesellschaft (wenn man einmal den „Von-selbst"-Charakter des Handelns ganz unberücksichtigt lässt). Das individuelle Handeln gehört zur Welt der Entstehungen und Unterschiede, zur Vielheit und Veränderlichkeit der Hoben-Welt. Aber die Sicht der Welt als Welt der Unterschiede und Entstehungen (engi-mon) ist nach dem allgemein rezipierten Text „Von der Entstehung des Mahayana-Glaubens" (Daijö-kishinron) wiederum nur eine Hoben-Sicht der unterschiedslosen und entstehungslosen Soheit (shinnyo-mon). Letztlich geht es im Mahayana-Buddhismus also weder um eine ethische materiale Werthierarchie und das entsprechende individuelle rationale Werthandeln (vgl. M. Scheler/N. Hartmann) noch um ein formal von jedem anders motivierten Handeln unterschiedenes individuelles rationales Pflichthandeln (vgl. I. Kant), sondern nur um die Selbstverwirklichung des absoluten Dharma bzw. der Soheit selbst als die vielen Individuen. Außerhalb dieser Verwirklichung als die vielen relativen Individuen hat die absolute Soheit keine Wirklichkeit. Das schließt ein: die Unterscheidung in ethisch gutes und böses Handeln im Sinn des immanentistischen historisch-faktischen oder des immanentistischen philosophisch-normativen ethischen Verständnisses spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle (positiv ausgedrückt: das Tun des Bösen ist wie das Tun des Guten ein Sichausdrücken der Soheit, wenn auch durch Verneinung vermittelt: vgl. „Philosophie als Metanoetik"

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von Hajime Tanabe)10. Die „Soheit" „handelt" nicht: die Soheit ist wie sie ist. Selbst die Bezeichnung „ist" ist eigentlich nicht auf sie anwendbar. Phänomenal gesehen handeln die Einzelnen. Ihr Handeln ist aber kein „Ursache-Wirkungshandeln", sondern „Ausdruckshandeln".

2.14 In welchem Sinn sieht der Mahayana-Buddhismus das Handeln des Menschen als Kausalismus? Unter der Voraussetzung, dass die Höben-Welt als Handlungswelt mit der wahren Wirklichkeit nicht in jeder Hinsicht identisch ist, sondern deren pluralistisch und situationsethisch verstandene Vielheit und Einmaligkeit der Hier-und-Jetzt-Selbstformungen darstellt, und unter der Voraussetzung, dass diese Formen dem entsprechen, was die Semiotik als „Zeichen der Kommunikation" versteht, kann die Hoben-Welt semiotisch-pragmatisch gelesen werden. Das heißt: die in den Sutren beschriebenen „kausalen Verhältnisse", die von den einen als lineare Kausalverhältnisse und von den anderen als reziproke Konditionalverhältnisse zwischen den Bodisattva/Buddha auf der einen Seite und den Sattva auf der anderen Seite beschrieben werden, gelten erstens nur in der Höben-Welt und zweitens liegt ihre Sinnspitze nicht in der Behauptung eines physischen, psychischen, rhetorischen, handlungsanalytisch-explanatorischen oder metaphysischen Ursache-Wirkungsverhältnisses in dem Sinn, als ob durch eine vorgegebene selbständige Ursache etwas als abhängige Wirkung hervorgebracht würde, was vorher nicht schon da gewesen wäre. Vielmehr liegt die Sinnspitze der Rede des Mahayana-Buddhismus von einer „Ursächlichkeit" in der Behauptung der je neuen Se/foiformung der absoluten Wirklichkeit selbst (als unablässige Selbstumgestaltung bzw. Autometamorphose). Die je neuen Formen sind nicht zu erklären als je neue Produkte, sondern zu verstehen als je neue individuelle Selbstmitteilungen des Dharma-pro-se, also des Hösshö-hosshin. Die Sinnspitze des Mahayana-Buddhismus ist die Idee (bzw. die Realisation: gyö-shö) des Buddha als höben-hosshin, nein, Plural: der vielen Buddhas jeweils als höben-hosshin für-einander. Die eigentliche „Ur-sache", die als Ur-tatsache verstanden werden muss, zeigt in immer neuen individuellen Formen, was sie „ist", und nicht, was sie „bewirkt" und dadurch „wird", auch wenn der ganze 10 Darüber: J. Laube, 1984, Dialektik der absoluten Vermittlung - Hajime Tanabes Religionsphilosophie, Freiburg, Basel, Wien: Herder.

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Vorgang vom Individuum als „Wirken" und „Bewirktwerden" und in diesem Sinn als „Werden in der Zeit" erlebt wird. Dabei darf diese Urtatsache nicht ihren Zeichen gegenüber präexistent gedacht werden. Sie „ist" „wirklich" nur in ihren Zeichen. Alle Wirklichkeit ist hobenhosshin, d.h. jetzt: Wirklichkeit ist Zeichen-Gemeinschaft.11 Da nun aber für uns die pluralistische Hoben-hosshin-Welt die einzig gegebene ist, ist sie phänomenal gesehen als „unser Handeln" die „vorläufige Wahrheit" und zugleich als „unser nichthandelndes Handeln" (als Hoben-Handeln und somit Selbstausdruck der „Soheit") die „endgültige Wahrheit". 12

11 Selbstverständlich muss der von anderen Zeichentheorien unterschiedene mahayana-buddhistische Sinn von höben-hosshin als Zeichen und Zeichengemeinschaft noch mehr im einzelnen herausgearbeitet werden. Wegen der Begrenzung der Seitenzahl kann das hier nicht geschehen. 12 In der Kyoto-Schule der japanischen Philosophie gibt es eine Diskussion zwischen Kitaro Nishida und Hajime Tanabe über die relativen Seienden als „Ausdruck" (Nishida) bzw. als „Symbole" (Tanabe) des Absoluten als des absoluten Nichts. Tanabe kritisiert Nishidas „Ausdruck" (hyögen) als undialektische identitätsmäßige „Lebensäußerung" des Absoluten ohne jeden Hinweis auf einen Unterschied zwischen dem Absoluten und dem jeweiligen Relativen. Das von Tanabe vorgezogene „Symbol" (shöcho) dagegen drücke in seinem Verständnis genau diese Dialektik von Zweiheit-Nichtzweiheit aus. Das Symbol sei dann nicht Zeichen der identitätsmäßigen Selbstmitteilung des Absoluten, sondern Zeichen seiner dialektischen Selbstwrmittlung. Tanabes Verständnis von Dialektik beruft sich dabei auf die Weder-NochDialektik von Nägärjuna.

Spielräume ethischer Entscheidungsfindung in der Sicht zeitgenössischer Islamisten ROTRAUD W I E L A N D T

Islamisten 1 haben eine Grundüberzeugung gemeinsam: Der Islam ist, so sagen sie, eine „umfassende Ordnung" (arabisch: nizäm sämil) menschlichen Lebens, die dieses in all seinen Bereichen auf bestmögliche Weise regelt. Der Originalterminus für „Ordnung" bedeutet dabei im modernen Sprachgebrauch zugleich „System". Die Formel vom Islam als umfassendem System stammt von Hasan al-Bannä (1906-1949), dem Gründer und langjährigen Oberhaupt der Muslimbruderschaft, der ältesten und bis heute einflussreichsten islamistischen Massenorganisation, die 1928 in Ägypten entstand. Er hat diese Formel im Katalog der „Zwanzig Prinzipien" des Islamverständnisses, auf die sich neu eintretende Mitglieder dieser Organisation bei dem verlangten Huldigungseid gegenüber seiner Person verpflichten mussten,2 an die erste Stelle gesetzt. Inzwischen ist sie im islamistischen Schrifttum zu einem allgegenwärtigen Topos geworden, der vor allem dort Verwendung findet, wo Autoren gegen das Ideal des säkularen Staates und die faktisch bereits eingetretene Säkularisierung politischer Strukturen in islamischen Ländern Stellung beziehen und den Standpunkt begründen möchten, dass der Islam seinem ureigensten Wesen nach stets auch die Politik bestimmen müsse. Der Normierungsanspruch der islamischen Religion erstreckt sich aber, so betonen Islamisten immer wieder, auch auf alle anderen Kontexte, in denen sich menschliches Leben vollzieht, ob es nun um Öffentliches oder Privates, die Wirtschaft oder den Umgang mit der Schöpfung, die Eigentumsverteilung oder die Familien1 Dieser Terminus bezeichnet diejenigen unter den heutigen Muslimen, die einen politischen Islam in dem Sinne vertreten, dass sie einen spezifisch islamischen Staat mit der Scharia als geltendem Recht für ein zwingendes Erfordernis ihrer Religion halten, wo immer er sich durchsetzen lässt. 2 al-Bannä, o. J., S. 7 - 1 1 ; auch abgedruckt in: al-QaradäwT, 1997, S. 15-18.

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strukturen, die Wissenschaft oder die Kunst, den Berufsalltag oder die Freizeitgestaltung, das geltende System ethischer Werte oder die Bekleidungssitten geht. Was die islamische Ordnung in all diesen Bereichen konkret erfordert, ist nach islamistischer Anschauung durch die Scharia vorgegeben. Nun ist es unter Muslimen nicht erst im Zeichen des Islamismus üblich geworden, dem religiös begründeten Recht des Islam einen Geltungsanspruch zuzuschreiben, der weit über die Sphäre des nach europäischen Begriffen juristisch Relevanten hinausreicht: Die Vorschriften der Scharia - die teils explizit im Koran oder im Hadit, der verschriftlichten Uberlieferung von Worten und vorbildhaftem Brauch (sunna) des Propheten, enthalten sind, teils auf deren Grundlage von der Jurisprudenz nach methodischen Prinzipien wie etwa dem Analogieschluss oder der Feststellung des Konsenses ausformuliert wurden - decken bereits in ihrer historisch gewachsenen Gestalt eine Vielzahl verschiedener Lebensbezüge ab, und sie waren im Bewusstsein der Frommen seit alters her mit der Vorstellung verbunden, man müsse sich in all seinem Tun und Lassen möglichst weitgehend an ihnen orientieren. Dieses Ideal ist bei den Sunniten, also der großen Mehrheit der Muslime, auch noch durch eine frühe Entwicklung in der Geschichte der islamischen Theologie verfestigt worden: Denker der mu'tazilitischen Theologenschule, die ihre höchste Blüte in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erlebte, hatten die Existenz eines objektiv Guten angenommen, das der Mensch zumindest in den Grundzügen rational erkennen kann, ohne dass er dafür unbedingt die Offenbarung empfangen haben müsste, und sie hatten postuliert, auch Gott binde sich in seinem Handeln stets an die Verwirklichung dieses Guten, ja müsse dies um seiner Gerechtigkeit willen sogar tun. Unter dem Einfluss von al-As'ari (gest. 935), dem eine solche Sichtweise mit dem Glauben an die Allmacht Gottes unvereinbar schien, setzte sich dann jedoch bei den Sunniten die Auffassung durch, dass grundsätzlich Gutes nur deshalb gut und Böses nur deshalb böse sei, weil Gott es in der Offenbarung dazu erklärt habe.3 Unter diesen Auspizien musste man es im Hinblick auf das jenseitige Heil als um so wichtiger empfinden, in seinem gesamten Verhalten so genau wie möglich Gottes eigenen Maßgaben Folge zu leisten. 3 Zu den diesbezüglichen Positionen der Mu'taziliten und der As'ariten und deren historischem Hintergrund v. a. Fakhry, 1991, S. 32-35 und 40-52; Hourani, 1971, S. 57-108 und 124-134; van Ess, 1997, S. 509-512 und 572-576.

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Das islamische Recht bietet schon so, wie es in den großen Schultraditionen auf uns gekommen ist, ein vergleichsweise dichtes Raster von Anweisungen für die gottgewollte Lebensführung unter den verschiedensten Aspekten. Dabei sieht es bei etlichen Vorschriften für den Fall, dass gegen sie verstoßen wird, keinerlei innerweltliche Sanktionen vor. Solche Vorschriften betreffen z.B. den Kultus oder die Etikette, zu einem erheblichen Teil aber auch die Ethik. 4 Nicht zuletzt auf diesem Gebiet macht die Scharia den Gläubigen bereits nach herkömmlichem Verständnis eine vergleichsweise große Zahl von präzisen Vorgaben. Das gilt sowohl auf der Ebene der moralischen Normen für das Verhalten in speziellen Situationen oder Problemlagen als auch auf derjenigen der übergeordneten Prinzipien: Den vielen verschiedenen Einzelvorschriften lassen sich allgemeinere Grundsätze sozialer, politischer oder richterlicher Gerechtigkeit entnehmen, aber etwa auch Begriffe von Tugenden wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Barmherzigkeit oder Schamhaftigkeit, die den Gläubigen durchgängig eingeprägt werden. Darüber hinaus richteten bereits muslimische Gelehrte des Mittelalters ihr Augenmerk auf die Frage, welche grundlegenden ethischen Intentionen (maqäsid) der göttliche Gesetzgeber mit den vielen einzelnen Regelungen der Scharia denn eigentlich verfolgt habe und worauf darum menschliches Handeln im Zweifelsfalle ebenfalls primär abzielen müsse. Die Analyse dieser Intentionen und damit auch diejenige der teleologischen Ethik, die dem ganzen islamischen Recht zugrunde liegt, hat ein bedeutender Gelehrter der malikitischen Schule, der Andalusier as-Sätibl (gest. 1388), besonders weit vorangebracht. Er urteilte, die gesamte Scharia habe keinen anderen Zweck, als dem Besten der Menschen in diesem und im jenseitigen Leben zu dienen. 5 Als die zentralen Güter, deren Schutz Gott hier auf Erden mittels der Scharia zum Wohle aller sicherstellen wollte, identifizierte er die (sc. wahre) Religion, das menschliche Leben, die Nachkommenschaft, das Eigentum und den menschlichen Verstand. 6 Die klassischen Kompendien islamischer Jurisprudenz bewerten Handlungen aller Art üblicherweise mit einer fünfstufigen Skala, die zwischen „obligatorisch" (fard, wägib) und „verboten" (haräm) noch 4 Zum ethischen Gehalt der Scharia s. v. a. Reinhart, 1983, und Vadet, 1995, S. 147-196. 5 a-§ätibl, o.J., Bd. 2, S.6. 6 Ibid. S. 10. Mit dem Schutz des Verstandes ist die Erhaltung von dessen uneingeschränkter Funktionsfähigkeit gemeint, die Gott z . B . mit dem Verbot des Alkoholtrinkens erreichen wollte.

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die Kategorien „empfohlen, wünschenswert" (mandüb, mustahabb), „erlaubt und dabei wertneutral" (mubäh) und „verwerflich" (makröh) kennt; für erlaubte Akte, die gleichwohl nicht das erwünschte Regelverhalten darstellen, verwenden sie bisweilen zusätzlich die Kategorie „angängig" (gä'iz) im Sinne von „religiös-rechtlich nicht zu beanstanden, wenngleich besser zu vermeiden". Damit ist bereits eine feinere Orientierung für viele Fälle hergestellt, in denen es nicht einfach um die Entscheidung zwischen Tun oder Unterlassen, sondern um die Wahl zwischen mehreren verschiedenen Handlungsalternativen geht, die man grundsätzlich in Betracht ziehen kann, ohne sein ewiges Heil allzu unmittelbar aufs Spiel zu setzen. Was fügen zeitgenössische Islamisten diesen bereits lange vor der Moderne entfalteten Vorstellungen von Ausmaß, Zielrichtung und Genauigkeit der ethischen Normierung menschlicher Lebensführung durch den göttlichen Gesetzgeber noch hinzu? Neu ist bei ihnen durchweg, dass sie die Geltung der von Gott vorgegebenen Maßstäbe einer spezifisch islamischen Moralität für ausnahmslos alle Lebensbereiche auf Schritt und Tritt ausdrücklich betonen zu müssen glauben. Sie tun dies aus dem Bestreben heraus, sich bewusst gegen ein säkularisiertes Verständnis von Staat, Gesellschaft und Kultur abzugrenzen, wie es während der letzten anderthalb Jahrhunderte unter europäischem und nordamerikanischem Einfluss auch in islamischen Ländern um sich gegriffen hat. Säkularisierung setzen sie dabei gewöhnlich mit Verdrängung aller religiös begründeten Wertorientierungen aus dem öffentlichen Leben, ja mit Werteverlust überhaupt gleich. Extremere Islamisten rühmen darüber hinaus dem Islam den singulären Vorzug nach, mit seinen Moralvorschriften insgesamt eine Regelungsdichte herzustellen, die keinerlei wesentliche Zweifelsfälle hinsichtlich der vorzuziehenden Handlungsoptionen mehr offen lässt: Die „umfassende" islamische Lebensordnung ist, so glauben sie, „vollkommen" im Doppelsinn von „unüberbietbar vortrefflich" und „vollständig". Diese Vorstellung vom islamischen „System" kennt dann folgerichtig für eigenständige ethische Entscheidungsfindung des Menschen so gut wie keine Spielräume mehr: Wenn Gott durch den Koran und das Vorbild des Propheten für sämtliche denkbaren Lagen und Kontexte bereits detaillierte Handlungsanweisungen bereitgestellt hat, erübrigt sich jedes Bemühen, durch Abwägen möglicher Alternativen die am ehesten verantwortbare Lösung zu suchen. Dann sind nur noch Gehorsam, Anwendung und Durchführung angesagt. Tatsächlich beruht die Attraktivität, die die Formel vom Islam als umfassen-

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dem und vollkommenem System für heutige Anhänger des Islamismus besitzt, zu einem Großteil gerade auf der Verheißung, dieses System werde alle Unsicherheiten mit einem Schlage beseitigen. Ein hoher Prozentsatz der Mitglieder islamistischer Gruppierungen und ihres Unterstützerkreises kommt aus prekären sozialen Verhältnissen und erst vor kurzer Zeit verstädterten, daher aber auch in den angestammten Werten und Verhaltensmustern stark verunsicherten Bevölkerungskreisen. Unter solchen Umständen wirkt eine solche Aussicht besonders verlockend. Selbst darüber urteilen zu wollen, was in einer konkreten Situation zu tun ethisch besser oder schlechter ist, ist nach dem Dafürhalten der Verfechter eines extremen Islamismus aber nicht nur überflüssig, sondern ein aufrührerischer Akt, mit dem der Mensch, die Unsicherheiten menschlichen Vernunftgebrauchs verkennend, in sündhafte Konkurrenz zum göttlichen Gesetzgeber tritt. Es gilt aus ihrer Sicht, aus dem Vollzug des Gotteswillens Interferenzen bloß menschlichen Denkens so weit wie möglich herauszuhalten. Deshalb dimensionieren sie auch die Interpretationsspielräume für die Offenbarungstexte, in denen sie den Willen Gottes niedergelegt finden, denkbar klein. „Wo es einen Text (nass) gibt, gibt es kein Bemühen um Urteilsfindung mittels der Vernunft (igtihäd).", lautet ein von ihnen häufig beschworener methodischer Leitsatz. Damit ist gemeint: Explizite normative Aussagen von Koran und Hadlt müssen und dürfen überhaupt nicht interpretiert werden, sondern sind ganz einfach unmittelbar und wörtlich zu befolgen. Den Leitgedanken einer möglichst direkten Umsetzung des geoffenbarten Gotteswillens hat besonders nachdrücklich einer der wichtigsten ideologischen Vordenker des zeitgenössischen Islamismus propagiert, der gebürtigen Inder Abü l-A'lä MawdüdT (1903-1979), der 1941 die öamä c at-i isläml gründete, eine später vor allem in Pakistan zu großem Einfluss gelangte straff organisierte Kaderpartei, die sich für die Islamisierung des Staates einsetzte. Er hat in seinen zahlreichen Schriften immer wieder beredt den vermeintlich hemmungs- und grenzenlosen Autonomismus „westlicher" Entwürfe der Lebensführung und politischen Ordnung gegeißelt. Dieser verhängnisvollen Verirrung stellte er als einzig rettende Alternative den Islam gegenüber, der seiner Darstellung nach die weltgeschichtliche Besonderheit aufweist, seinen Anhängern den Weg in ein rein theonomes Dasein zu bahnen, in dem es Unsicherheiten in ethischen Fragen überhaupt nicht mehr geben kann. Im recht verstandenen Islam kommt nämlich nach Mawdüdl in allen

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Angelegenheiten der Moral genau wie in solchen des vom Staat durchzusetzenden Rechts die gesetzgeberische Souveränität (häkimlya) allein Gott zu, 7 während die Gottesstellvertreterschaft (hiläfa) des Menschen auf Erden ausschließlich den Charakter eines Vollstreckungsauftrags hat. Dazu führte er beispielsweise in seinem Buch Ethical Viewpoint of Islam aus: „Es ist die Aufgabe des Menschen, die ihm zugeteilte Mission getreulich und peinlich genau zu erfüllen. Der Verhaltenskodex hat nicht durch ihn formuliert zu werden, vielmehr hat er diesen von Gott zu übernehmen und zu befolgen. [...] Wenn diese Position einmal akzeptiert ist und die Natur der Beziehung zwischen Gott und Mensch klar verstanden worden ist, dann finden sämtliche ethischen Fragen, die den Intellekt der Philosophen seit unvordenklichen Zeiten beschäftigt haben, angemessene Lösungen. Diese Lösungen sind klar, präzis und endgültig."8

Zugleich hob er es als Besonderheit des Islam hervor, dass dieser für das sittliche Verhalten in den verschiedensten Situationen menschlichen Lebens ein allumfassendes und bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein wirksames Regelungssystem biete. So erklärte er etwa im zweiten Kapitel seines weit verbreiteten Buches The Islamic Way of Life,9 das dem Thema „Islamische Moral" gewidmet ist: „Der Moralkodex des Islam erstreckt sich von den kleinsten Einzelheiten des häuslichen Lebens bis zum Bereich des Verhaltens im nationalen und im internationalen Rahmen." 10 . Und er stellte es als weiteren Ruhmestitel islamischer Moralität heraus, dass diese selbst dort, w o sie Prinzipien vertrete, die auch anderwärts anerkannt seien, deren Verwirklichung wesentlich umfassender zur Pflicht mache als jede andere Sittenlehre. Damit „garantiert" die sittliche Ordnung des Islam nach seiner Auskunft dem Menschen „ein Lebenssystem, das frei ist von allem Bösen." 11 Auch von anderen islamistischen Autoren, die sich Mawdüdls Idee von der alleinigen gesetzgeberischen Souveränität (häkimlya) Gottes zu eigen gemacht haben, wird immer wieder mit Nachdruck unterstrichen, die Regelungswirkung geoffenbarter islamischer Normen erstrecke sich bis ins Allerkleinste hinein. So betonte etwa der Ägypter Sayyid Qutb (1906-1966), der große ideologische Anreger des linken Flü7 Näheres zur Bedeutung dieses Konzepts für Mawdudis Staatsverständnis bei Adams, 1983, S. 1 1 5 - 1 1 9 . 8 Mawdüdl, 1967, S. 12 [Kap. IV (a), letzter Absatz], 9 Entstanden aus einer Serie von Rundfunkvorträgen, die 1948 gehalten wurden. 10 Mawdüdl, 1986, S.4 dieses Kapitels (gesondert paginiert). 11 Ibid. S. 5.

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gels der Muslimbruderschaft12 und bis heute eine der von Islamisten am stärksten rezipierten Autoritäten, in seinem Buch Muqawwimät at-tasawwur al-islämt („Die konstitutiven Merkmale der islamischen Konzeption "),13 die Überlegenheit der islamischen Ethik beruhe gerade darauf, dass sie absolut jede Aktivität der Gläubigen umfassend normiere, und zwar mit ausschließlich direkt von Gott vorgegebenen Handlungsdirektiven, die den Menschen bei der Feststellung dessen, was geboten ist, von so risikobehafteten Verfahren wie etwa dem Gebrauch der eigenen Vernunft oder dem Bemühen um Herstellung eines gesellschaftlichen Konsenses - Verfahren, die, wie er meint, niemals eine allgemeine Verbindlichkeit begründen könnten - gänzlich unabhängig machten.14 In anderem Zusammenhang sprach er geradezu davon, dass der Islam mit seinen Vorschriften die totale Beherrschung und Lenkung jeglichen menschlichen Verhaltens bis in die letzten Details hinein beabsichtigt habe: Wenn er die Menschen schon vor dem Kommunismus und anderen schädlichen Einflüssen schütze, so tue er dies „nur, damit ihr gesamtes Leben seiner Verfügung unterstehe, und zwar in der Weise, dass er es gänzlich dirigiert, von einem Ende bis zum anderen ordnet und auf seine Scharia abstimmt, während die Menschen sich in all ihren Angelegenheiten, den kleinen wie den großen, das Urteil von ihm vorgeben lassen [...]·"15 Sein Bruder Muhammad Qutb16, heute ebenfalls ein viel gelesener Autor, der seine Positionen weitgehend teilt, stellt es zudem als die schlechthin vorbildliche urislamische Glaubenshaltung dar, alle von Gott gegebenen Verhaltensvorschriften, ob sie nun das Größte oder das Kleinste betreffen, unterschiedslos genau gleich wichtig zu nehmen, 12 Sayyid Q u t b wurde aufgrund des Vorwurfs, er sei der geistige Urheber eines Attentatsversuchs auf den damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser ('Abdannäsir) gewesen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. 13 1966 abgeschlossen, posthum erschienen. 14 Qutb, S., 1993 b, S. 2 9 4 - 2 9 9 ; ähnliche Aussagen finden sich in seinen Werken auch an vielen anderen Stellen. 15 Qutb, S., 1993 a, S. 76. Die Formulierung zeigt, dass im Bewusstsein des Autors „der Islam" als Subjekt heilsgeschichtlichen Handelns an die Stelle von Gott selbst getreten ist - ein Phänomen, das sich bei Muslimen seit dem frühen 20. Jahrhundert aufgrund eines überschießenden Bedürfnisses, die Überlegenheit der eigenen Religion gegenüber Infragestellungen aus dem modernen Europa zu affirmieren, sehr häufig bemerkbar macht. 16 E r brachte sich nach der Hinrichtung Sayyid Qutbs durch Übersiedelung nach Saudiarabien in Sicherheit und wurde später Professor für Islamstudien an der König'Abdal'azlz-Universität in Djidda.

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sich also, wie er es ausdrückt, beispielsweise die von der prophetischen Sünna angeordnete Benutzung des Zahnstochers mit exakt demselben Eifer angelegen sein zu lassen wie den Einsatz im Dschihad. 17 Innerhalb seines Weltbilds hat also die Frage nach einer Wertehierarchie, aufgrund derer man sich in bestimmten Fällen zwischen mehreren von der Scharia grundsätzlich als gottgefällig eingestuften Handlungsweisen entscheiden müsste, von vornherein keinen Platz. Diese Autoren und etliche andere in etwa gleich Gesinnte legen allerdings dennoch Wert darauf, die islamische Religion nicht als ein starres Korsett erscheinen zu lassen, das ein Entwicklungshindernis bilden könnte. Deshalb attestieren sie dem islamischen System die Stärke, sogar ganz besonders elastisch zu sein, insofern es nämlich den Gläubigen auch Raum für das Finden eigener, zeit- und situationsgerechter Regelungen biete. Doch wie wird dieser Raum konkret umschrieben? Muhammad Q u t b identifiziert ihn mit dem, „in bezug worauf es keinen (sc. geoffenbarten) Text gibt." 18 Erinnert man sich freilich dessen, bis in welche Kleinigkeiten hinein die geoffenbarten Texte seiner Darstellung nach verbindliche Vorgaben machen, dann bleibt von diesem Raum nicht mehr allzuviel übrig. Mawdüdl operiert zum Teil mit der Distinktion von allgemeinen Prinzipien, deren Einhaltung das geoffenbarte Normensystem vorschreibe, und Detailregelungen, die es den Menschen anheimgestellt habe. Dennoch hält er es nicht etwa für legitim, der menschlichen Vernunft die situationsgerechte Entscheidung von Einzelfragen der Ethik und der ethisch bedeutsamen Gesetzgebung zu überlassen: Nach ihm sind zwar z.B. menschliche Gesetzgebungsakte, mit denen Regelungen an veränderte historische Umstände angepasst werden, statthaft und sogar von Gott gewollt, aber nur im Bereich dessen, was nach der klassischen fünfstufigen Bewertungsskala für Handlungen von vornherein in die mittlere Kategorie, nämlich die des „mubäh", des nach geoffenbartem Recht Erlaubten und zugleich Wertneutralen, fällt. 19 Damit können entsprechende Entscheidungen schon nicht mehr ethischer Natur sein, sondern sich höchstens auf Fragen technisch-praktischer Zweckmäßigkeit beziehen. Was die Gewinnung von Klarheit über das ethisch jeweils Geforderte betrifft, misstraut Mawdüdl menschlichem Erkenntnisvermögen 17 Ibid. 57. 18 M. Q u t b , 1991, S. 74. 19 Mawdüdl, 1986, S. 12 [Kap. IV (a), letzter Absatz]; deutsche Übers., 1989, S.34.

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grundsätzlich: Intuition und Vernunftgebrauch sind in ihren Ergebnissen viel zu unsicher, als dass man ihnen ein sittliches Urteil überlassen könnte, von dessen Konsequenzen dann womöglich hier auf Erden das Wohl der Gesellschaft und im Jüngsten Gericht das Bestehenkönnen des Handelnden abhängt. Angesichts des Ernstes dieser Perspektiven darf es für sein Empfinden zu Zweifelsfällen gar nicht erst kommen. Außerdem wäre, würde man sich in ethischen Fragen auf die menschliche Vernunft stützen, „die Verschiedenartigkeit der Interpretationen verwirrend", 20 und damit würde das Chaos drohen. Gebraucht wird statt dessen jeweils eine allen gemeinsame einheitliche Handlungsmaxime, wie sie nur die Autorität der Offenbarung liefern kann. Deshalb müssen ethischen Entscheidungen in jedem Falle geoffenbarte Verhaltensrichtlinien zugrunde gelegt werden, und die Rolle der menschlichen Vernunft, die eine begrenzte Fähigkeit zur Erkenntnis von Gut und Böse besitzt, bestätigt diese bei günstigem Verlauf allenfalls flankierend. 21 Analog dazu darf es dann nach Mawdüdl im islamischen Staat auch keinesfalls mehrere Parteien geben, die über die richtige Auslegung und Durchführung des Gotteswillens diskutieren, sondern nur die „Partei Gottes", zu der alle wahren Muslime zählen. 22 Verschiedene gemäßigt islamistische Autoren der Gegenwart haben jedoch der Ansicht, durch Gottes Gesetzgebung seien jegliche nur denkbaren Zweifelsfragen ethischer wie rechtlicher Art bereits ein für allemal entschieden, energisch widersprochen. Dass sie dies taten, war nicht zuletzt durch ein staatstheoretisches Anliegen motiviert: Ihnen war es darum zu tun, Mawdüdls Leitidee von der alleinigen Souveränität Gottes im Staat zurückzuweisen oder doch zu relativieren und in Abgrenzung gegen seine Anschauungen zu demonstrieren, dass Demokratie und ein Mehrparteiensystem mit dem Islam sehr wohl vereinbar sind. Zu den Vertretern eines solchen demokratie- und pluralismusfreundlichen Schariaverständnisses, das davon ausgeht, dass Menschen auch nach geschehener Offenbarung in Fragen von ethischer und rechtlicher Relevanz immer noch ein erhebliches Maß an eigenen Entscheidungen zu treffen haben und dabei zu durchaus kontroversen Ergebnissen kommen können, gehören außer Räsid al-Gannüsi (geb. 1941), dem langjährige Führer der tunesischen islamistischen Bewe20 Mawdudi, 1 9 6 7 , , S.9, Abschnitt „Knowledge of G o o d and Evil". 21 Ibid. 12f., Abschnitte „Foundations of Morality" und „Source of Moral Values". 22 Dazu Adams, 1983, S. 123.

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gung und späteren Partei an-Nahda, 2 3 u. a. diejenigen beiden Exponenten des zeitgenössischen gemäßigten Islamismus im arabischen Raum, die schriftstellerisch am produktivsten sind und augenblicklich die größte Resonanz finden: die beiden Ägypter Sayh Yüsuf al-QaradäwI (geb. 1926) 2 4 und Muhammad 'Ammära (geb. 1931). 2 5 23 Frühere französische Bezeichnung: Mouvement de la tendance islamique (MTI). al-GannüsT genießt seit 1993 in London politisches Asyl. Zu ihm und seinen Anschauungen s. v. a. A. S. Tamimi, Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islam, Oxford: Oxford University Press, 2001. 24 Sayh Yüsuf al-QaradäwT war als Mitglied der Muslimbruderschaft in jungen Jahren einmal inhaftiert, hat sich allerdings von gewaltbereiten extremeren Islamisten innerhalb dieser Organisation und entsprechenden Tendenzen einiger ihrer Nachfolgeorganisationen distanziert. Er studierte an der al-Azhar-Universität in Kairo, an der er auch den Doktorgrad erlangt hat. 1961 wurde er von dieser Hochschule für einen fünfjährigen Auslandseinsatz im Golfstaat Qatar beurlaubt, beschloss dann jedoch, nicht mehr in sein Heimatland zurückzukehren, nachdem dort Mitte der sechziger Jahre im Anschluss an einen Attentatsversuch gegen Nasser eine Verfolgung und massenweise Verhaftung der Muslimbrüder eingesetzt hatte. In Qatar, wo er noch heute ansässig ist, hatte er leitende Positionen zuerst im religiösen Zweig des Sekundarschulwesens, dann an der Universität der Hauptstadt ad-Dawha inne, zuletzt bis 1990 die des Dekans der Fakultät für Scharia- und Islamstudien. Noch jetzt ist er dort Direktor eines von ihm gegründeten Instituts zur Erforschung der Sünna und der Biographie des Propheten. Im übrigen ist er nicht nur der Verfasser von mehr als vierzig Büchern, sondern auch derjenige unter den intellektuellen Führern des gegenwärtigen Islamismus, der in den modernen Medien mit Abstand am meisten präsent ist und dank ihnen unter Muslimen international die größte Popularität genießt: Er hat jede Woche zwei eigene Fernsehsendungen, eine im Satellitenfernsehen des Staates Qatar, in der er auf schriftlich eingereichte Fragen hin Fetwas (Rechtsgutachten) erteilt, und eine Ein-Mann-Talkshow in dem ebenfalls in Qatar stationierten Sender al-öazlra, der über Satellit auch in anderen islamischen Ländern und in der europäischen und amerikanischen Diaspora gut zu empfangen und sehr beliebt ist; in diese letztere Sendung können Zuschauer mit ihren Fragen direkt hineintelefonieren. Außerdem unterhält Yüsuf al-QaradäwI unter seinem Namen eine ungewöhnlich ausgedehnte eigene Internetpräsentation von professionellem Standard, für die er einen ganzen Stab beschäftigen muss (http://www.qaradawi.net). Auf dieser Homepage ließ er am 12. Januar 2004 verlautbaren, dass ihm nach dem Tod von Ma'mün al-Hudaybl, dem Obersten Führer der Muslimbruderschaft, soeben dessen Nachfolge angetragen worden sei, er dieses Amt aber abgelehnt habe, weil er lieber „allen Muslimen" als einer bestimmten Vereinigung von ihnen gehören wolle. 25 Muhammad 'Ammära ist ein hauptberuflicher Publizist, der an einer der al-Azhar angeschlossenen Präparandenanstalt den Sekundarschulabschluss erreicht, dann an der Universität Kairo studiert und dort mit einer Arbeit über die Staatstheorie der Mu'taziliten promoviert hat. Er hat mehr als fünfzig Bücher und viele Zeitschriftenartikel veröffentlicht, in denen er für die Errichtung eines islamischen und zugleich demokratischen Staates auf der Grundlage eines „aufgeklärten" Islamverständnisses plädierte.

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Wie ermöglichen sich al-QaradäwI und 'Ammära die Annahme menschlicher Entscheidungsspielräume in Belangen der Ethik und der nicht wertneutralen Gesetzgebung? Zunächst einmal dadurch, dass sie wie andere gemäßigte Islamisten die Vorstellung zurückweisen, Koran und Hadlt (Sünna) böten erschöpfende Regelungen für alles und jedes, was sich im Leben des Individuums wie der Gesellschaft und des Staates an Fragen sittlich guten Handelns ergeben kann. al-QaradäwI hielt den Nachweis, dass diese Auffassung ein Missverständnis ist, sogar für so dringlich, dass er einen eigenen Kommentar zum ersten der von Hasan al-Bannä formulierten „Zwanzig Prinzipien" 26 verfasst hat, in dem er eingehend erläuterte, was unter dem von diesem proklamierten „umfassenden Charakter" (sumül) des Islam zu verstehen ist und was nicht. 27 Darin legte er dar, der Islam sei zwar insofern umfassend, als seine geoffenbarten Normen alle Bereiche oder „Dimensionen" des Lebens beträfen, nicht aber in dem Sinne, dass er diese mit solchen Normen bis in die kleinsten Details erschöpfend regeln würde. Letzteres anzunehmen sei „unrichtig" und habe „weder mit der Religion noch mit der Realität etwas zu tun". 2 8 al-QaradäwI und 'Ammära betonen übereinstimmend, in den Texten von Koran und Hadlt seien zumeist nur allgemeine Prinzipien statuiert, aber keine Details; letztere seien im Hinblick auf die jeweiligen Zeitumstände durch die menschliche Vernunft zu konkretisieren. 29 Dabei trauen sie der letzteren im Gegensatz zu Mawdüdl auch in spezifisch ethischen Belangen ein hinreichendes Maß an Urteilskraft zu. Weiter wenden sich al-QaradäwI und 'Ammära wie zahlreiche andere muslimische Autoren, darunter auch Befürworter des säkularen Staates, gegen die Vorstellung, bei rechtlichen und ethischen Problemen enthebe das Vorhandensein einer einschlägigen Norm in grundlegenden Textquellen der Religion die Gläubigen von vornherein stets der Notwendigkeit eines eigenen Vernunfturteils und mache folglich auch schon allem möglichen Dissens über das von Gott Gewollte ein Ende. So erklärt etwa al-QaradäwI: „Das Vorhandensein eines (sc. K o r a n - oder Hadlt-)Textes schließt das B e mühen u m Urteilsfindung mittels der eigenen Vernunft (igtihäd) nicht aus. 26 S. o. im ersten Absatz dieses Artikels. 27 al-QaradäwI, 1997. 28 Ibid. S. 107 und Kontext; Aussagen gleichen Inhalts auch an zahlreichen anderen Stellen seiner Veröffentlichungen. 29 So al-QaradäwI ζ. B. an der in der vorigen Anm. genannten Stelle, desgleichen 'Ammära, 1991, S. 94 und an vielen anderen Stellen seiner Schriften.

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Vielmehr kann es bei neun Zehnteln der Texte oder noch mehr ein solches Bemühen und eine Pluralität von Sichtweisen geben; sogar der edle Koran selbst läßt in bezug auf das, was sich aus ihm ableiten läßt, eine Pluralität von Verständnissen zu [...]·" 30

Und 'Ammära entfaltet noch näher, welche nicht überspringbaren Interpretations- und Konkretisierungsschritte unter Umständen dazu führen können, dass trotz der Existenz einer einschlägigen Schariavorschrift, die auf einem vordergründig ganz klaren Text von Koran oder Hadlt basiert, legitimerweise mehrere verschiedene Vorstellungen davon aufkommen, was zu tun ist: Eine (sc. etwa vorhandene) Bestimmung der Scharia - selbst wenn sie in einem geoffenbarten Text vorkommt, dessen permanente Gültigkeit und Wortsinn definitiv feststehen - schliesst nicht aus, dass es eine Pluralität von Verständnissen des betreffenden Textes geben kann, von daher dann auch eine Pluralität von Arten, aus diesem Text eine N o r m abzuleiten, und eine Pluralität von Systemen der Ausformulierung dieser N o r m in Gesetzesform, einmal abgesehen von der Pluralität der Arten und Weisen, wie diese N o r m , nachdem man sie verstanden, abgeleitet und formuliert hat, auf die jeweiligen Realitäten und Zustände angewandt werden kann, zumal dann, wenn sich diese Realitäten, wie es bei ihnen meistens der Fall ist, je nach den herrschenden Interessenlagen, Sitten und Bräuchen und den veränderlichen Gegebenheiten der Zeit und des Ortes unterscheiden. 31

Bei Yüsuf al-QaradäwI entspringt das Interesse an der Feststellung, dass erstens zu etlichen Fragen, insbesondere Detailfragen, überhaupt keine normativen Texte von Koran und Sünna vorhanden sind und zweitens solche Texte selbst dort, wo sie existieren, zumeist unterschiedliche Beurteilungen des Gebotenen zulassen, hauptsächlich dem Bedürfnis, einem aktuellen Gefahrenpotential entgegenzutreten, das er kritisch beobachtet und als bedrohlich einstuft: Der Anspruch extrem islamistischer Gruppen, für alles und jedes, was getan werden muss, bis ins Kleinste hinein eine eindeutige Weisung unmittelbar von Seiten des göttlichen Gesetzgebers zu kennen, richtet, so hat er befunden, erhebliches Unheil an. Solche Gruppen neigen nämlich dazu, ihr eigenes oft durchaus anfechtbares Verständnis von Aussagen des Koran und des Hadlt kurzschlüssig mit dem Gotteswillen als solchem zu identifizieren und daher absolut zu setzen. Das macht sie für politischen Totalitarismus anfällig und zum Teil sogar gewaltbereit. Sie treten dann gegenüber Andersdenkenden diktatorisch und repressiv auf, ja fühlen 30 al-Qaradäwi, 1994, S. 47f. 31 'Ammära, 1997, S. 77.

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sich mitunter sogar berechtigt, diese zur Durchsetzung ihrer Sicht der Erfordernisse der Rechtgläubigkeit zu töten oder um die körperliche Unversehrtheit zu bringen. Durch solche intoleranten und menschenverachtenden Verhaltensweisen treiben sie, wie al-QaradäwI mit Bedauern registriert, diejenigen Muslime, die bisher noch nicht von den Vorzügen des islamischen Staats überzeugt sind, in die Opposition, statt sie für diesen zu gewinnen. U n d sie erzeugen damit auch innerhalb des islamistischen Lagers, dessen Angehörige derartige Attitüden und Verfahrensweisen vielfach ebenfalls ablehnen, Spaltungen und Konflikte, während es doch angezeigt wäre, dessen Kräfte zum gemeinsamen Kampf für die Reislamisierung von Staat, Gesellschaft und Kultur zusammenzufassen. U m der vereinfachenden Sichtweise extremer Islamisten entgegenzuwirken, die solche Verirrungen begünstigt, hält es al-QaradäwI für notwendig, bei ihnen und allen anderen Muslimen planmäßig ein klareres Bewusstsein dafür zu wecken, wie viele verschiedenartige Gesichtspunkte man berücksichtigen und wie differenziert man sowohl die Texte von Koran und Sünna als auch die Lebenswirklichkeit betrachten muss, um zu einem sachgerechten Urteil darüber gelangen zu können, was in Zweifelsfällen nach Gottes Willen tatsächlich zu tun ist. Der Eindruck, dass die Muslime in der Breite, vor allem aber die Extremisten unter den Verfechtern des islamischen Staates die Komplexität dieser Aufgabe gründlich unterschätzen und für den adäquaten U m gang mit ihr erst noch das nötige methodische Rüstzeug erwerben müssen, hat ihn zu der Diagnose veranlasst, in heutigen Zeiten brauche die islamische Welt einen ganz neuen fiqh. Der Begriff „fiqh" meint im herkömmlichen terminologischen Sprachgebrauch islamische „Jurisprudenz". Wenn al-QaradäwT nach einem neuen fiqh ruft, dann versteht er diesen Begriff jedoch erklärtermaßen nicht so, sondern in der ursprünglich weiteren Grundbedeutung des Wortes, nämlich im Sinne von „Verständnis", das man zu erstreben hat: Was nach seinem Dafürhalten entwickelt werden muss, ist ein neues, wissenschaftlich reflektiertes Bemühen um Verständnis dessen, was nach Gottes Willen unter den gegebenen Bedingungen getan werden soll. 32 Von vorrangiger Wichtigkeit scheinen ihm dabei zwei Formen eines solchen neuen fiqh, nämlich ein „Verständnis der Abwägungen" (fiqh al-muwäzanät) und ein „Verständnis der Prioritäten" (fiqh al-awlawlyät). Er selbst hat bereits ein gutes Stück weit skizziert, wie in die32 al-QaradäwI, 1991b, S. 21-25.

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sen neuen Formen des fiqh seiner Auffassung nach methodisch vorzugehen ist. Beide sind im übrigen, wie er selbst richtig vermerkt, keine gänzlich getrennten Teilgebiete der ihm vorschwebenden neuartigen methodischen Bemühung um das richtige Verständnis des jeweils Gebotenen. Es gibt vielmehr einen Uberschneidungsbereich zwischen beiden. Denn häufig sind, wenn man feststellen will, was in einer gegebenen Situation am vordringlichsten zu tun ist, die Prioritäten nur auf dem Wege einer Abwägung mittels der Vernunft herauszufinden. 33 Der „fiqh der Abwägungen" erfordert nach al-QaradäwI zunächst einmal, dass man sich darüber klar wird, welche masällh, erstrebenswerten Güter, mit bestimmten Handlungsweisen verwirklicht werden können, welche negativen Konsequenzen diese aber eventuell auch nach sich ziehen könnten. Dann müssen dreierlei verschiedene Abwägungsoperationen vorgenommen werden: Als erstes ist zu überlegen, wie sich die verschiedenen Güter, die mit den zur Wahl stehenden Handlungsoptionen erreichbar sind, zueinander verhalten: Welches ist größer, welches kleiner? Welches kommt einem weiteren Personenkreis zugute, welches einem engeren? Welches wirkt sich tiefergehend aus, welches weniger tiefgehend? Welches ist von längerer, welches von kürzerer Dauer? Welches verdient demnach den Vorzug, auf welches verzichtet man besser? Dann müssen nach denselben Kriterien die eventuellen negativen Folgewirkungen der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abgewogen werden, bis man erkannt hat, welche von ihnen eher in Kauf genommen werden können als andere. Und schließlich müssen die zu erreichenden Güter gegen die möglichen negativen Folgewirkungen abgewogen werden mit dem Ziel der Feststellung, bei welcher der verschiedenen Handlungsoptionen das Verhältnis zwischen verwirklichbaren Gütern und eventuell zu gewärtigenden negativen Folgewirkungen am ehesten vertretbar ist: Ist bei der oder jener Handlungsweise der zu erwartende Schaden am Ende größer als das erreichbare Gut? Oder ist er bei ihr nur wenig geringer als dieses, während bei einer anderen Handlungsweise der Erzielbarkeit eines großen Gutes nur ein geringer zu erwartender Folgeschaden oder vielleicht gar keiner gegenübersteht? 34 al-QaradäwI macht darauf aufmerksam, dass die klassischen islamischen Kompendien zu den Prinzipien der Rechtsfindung (usül al-fiqh) - von al-Gazälls Mustasfä bis hin zu as-§ätibls Muwäfaqät - bereits etliche Urteilsregeln für sol33 al-Qaradäwi, 1991b, S.35. 34 Ibid., S. 26.

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che Abwägungsverfahren enthalten, so ζ. B. die folgenden: Geringere Güter müssen im Zweifelsfall den höheren, die von Individuen denen der Allgemeinheit geopfert werden. Langfristig anhaltende oder dauerhafte Güter haben den Vorrang vor kurzlebigen, sicher zu erreichende den vor nur vielleicht erzielbaren. Negative Folgewirkungen sollen möglichst überhaupt vermieden werden sollen. Eine geringe negative Folgewirkung kann jedoch zum Zweck der Erzielung eines großen Gutes in Kauf genommen werden, ebenso eine zeitweilige negative Folgewirkung, wenn dadurch ein lang anhaltendes oder dauerhaftes Gut zu erzielen ist. Negative Folgewirkungen können einzelnen Personen zugemutet werden, wenn dadurch ein Schaden für die Allgemeinheit abgewendet werden kann. Zur Behebung eines Schadens darf kein gleich großer oder noch größerer in Kauf genommen werden, usw.35 Anhand solcher in der Praxis oft nicht einfacher Abwägungen ist, wie al-QaradäwI ausführt, etwa darüber zu entscheiden, ob gute Muslime eine nicht islamistische Partei wählen, sich an einer Regierung von Andersdenkenden beteiligen oder zum Zweck des Gewinns von Berufserfahrung eine Arbeitsstelle in einer nicht zinslos arbeitenden Bank annehmen sollen. Unter „fiqh der Prioritäten" versteht al-QaradäwI vor allem, „daß alles seinem Rang entsprechend behandelt wird, so daß nichts aufgeschoben wird, was vorgezogen zu werden verdient, nichts vorgezogen wird, was aufgeschoben zu werden verdient, das Bedeutsame nicht als geringfügig behandelt und das Geringfügige nicht als bedeutsam behandelt wird." 36 Das heißt: Normative Vorgaben und die durch sie nahegelegten Handlungsweisen müssen nach ihrer Dringlichkeit und ihrem tatsächlichen Gewicht innerhalb des Gesamtbereichs des Gebotenen sortiert werden, damit eine richtige Entscheidung möglich wird. Damit ist zum einen der Zeitfaktor angesprochen: Man hat zu klären, in welcher Reihenfolge den verschiedenen Pflichten Genüge getan werden muss, welche Gefahren sofort abzuwehren, welche Missstände auf der Stelle zu bekämpfen sind und welche erst später, damit der Gotteswille letztendlich in größtmöglichem Umfang erfüllt werden kann. 37 Deshalb ist beispielsweise zu überlegen, ob man sich durch sofortiges punktuelles Einschreiten gegen einen Missstand nicht am Ende um die Chance bringt, eben diesen Missstand generell und dauerhaft unterbin35 Ibid. 28. 36 Ibid. 34. 37 Ibid. 38.

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den zu können. Ein Beispiel für eine solche pragmatische Abwägung der Prioritäten entdeckt al-QaradäwI in der Biographie des Propheten: Muhammad hat zwischen seiner Berufung zum Prophetenamt und der Hidschra noch ein rundes Dutzend Jahre lang in Mekka gelebt. Während dieser Zeit war die Kaaba bekanntlich noch ein polytheistisches Wallfahrtsheiligtum, und natürlich wusste der Prophet besser als irgend jemand sonst, dass Vielgötterei vor Gott die einzige unverzeihliche Sünde und damit das Greuel schlechthin ist. Trotzdem erlaubte er seinen Anhängern, die damals noch sehr gering an Zahl waren, nicht, sofort mit der Axt auf die Götzenbilder der Kaaba loszugehen oder das Schwert gegen die Polytheisten zu zücken; er selbst hat vielmehr sogar das Heiligtum samt den Götzenbildern umkreist, wie das in Mekka Brauch war. Denn er sagte sich, dass er unter den gegebenen Bedingungen durch alles andere sein eigenes Leben und das der ersten Muslime akut gefährden und damit wahrscheinlich die Aussicht auf eine Uberwindung des polytheistischen Kults in Mekka zugunsten des islamischen auf absehbare Zeit hinaus zunichte machen würde. Außerdem hätte die bloße Zerstörung der Götzen auch nichts genützt, solange die Mekkaner innerlich noch nicht reif dafür waren, von ihrem traditionellen Polytheismus Abschied zu nehmen. Also hat er sich lieber zurückgehalten, bis er später von Medina aus über die nötigen Machtmittel verfügte, um die Reinigung der Kaaba von den Götzen erfolgreich in Angriff nehmen zu können, und außerdem die Resistenz der Mekkaner gegen seine monotheistische Predigt zusammengebrochen war.38 Z u m anderen bedeutet „fiqh der Prioritäten" nach al-QaradäwI, dass die verschiedenen Pflichten, die die Gläubigen nach Auskunft der Texte von Koran und Hadlt haben, und die ihnen entsprechenden H a n d lungsoptionen unter dem Gesichtspunkt ihres unterschiedlichen Gewichts und Verbindlichkeitsgrads gegeneinander abgewogen werden müssen. F ü r diesen Typus von Prioritätenfeststellung benutzt er teils auch den gesonderten Begriff des Bemühens um das „Verständnis der Rangfolge der Handlungsweisen" (fiqh marätib al-a'mäl). 3 9 Einer der Kardinalfehler islamistischer Extremisten besteht nach al-QaradäwI darin, dass sie in Gesellschaft und Staat nicht nur alles, was ihrer Auffassung nach der Islam gebietet, gleichzeitig durchsetzen wollen, sondern auch die N o r m e n von Koran und Sünna insgesamt viel zu flächig sehen: Sie unterscheiden nicht zwischen zentralen Prinzipien und kleinen, eher marginalen Einzelheiten. Infolgedessen verwenden sie eine ungeheure Energie auf die Durchsetzung von allerlei eher nebensächlichen Verhaltensvorschriften, ζ. B. solchen, die nur Beklei38 Ibid. S. 34, außerdem 1991a, S.76f. 3 9 al-QaradäwI, 1991b, S.25; 1997, S. 109-113.

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dung oder Barttracht betreffen, und vernachlässigen darüber oft sehr viel wesentlichere Forderungen der Religion. In Wirklichkeit sind jedoch nicht alle für die Gläubigen vorgeschriebenen Arten des Handelns und Verhaltens gleich wichtig, folglich wiegen auch nicht alle Verstöße gegen die entsprechenden Vorschriften gleich schwer. Deshalb ist bei Konflikten zwischen zwei Pflichten abzuwägen, welche relative Bedeutung der einen und der anderen innerhalb der Gesamtheit dessen zukommt, was für Muslime obligatorisch ist.40 Insofern ist es nach al-QaradäwI ζ. B. falsch, wenn jemand Vater oder Mutter dafür tadelt, dass ihm seine Kleidung im Elternhaus nicht sauber gewaschen wurde. Denn es stimmt zwar, dass die Gläubigen verpflichtet sind, auf Reinlichkeit zu achten; die im Koran 41 ausdrücklich genannte Pflicht, sich den Eltern gegenüber pietätvoll zu verhalten und sie nicht auszuschimpfen oder ohne Ehrerbietung anzureden, hat jedoch Vorrang. Ebenso sind Muslime zwar grundsätzlich verpflichtet, Verabredungen einzuhalten; wenn es jemandem aber versehentlich unterlaufen ist, dass er sich just für die Zeit des Freitagsgebets verabredet hat, dann hat er nicht zu der Verabredung zu gehen, sondern zum Freitagsgebet, weil es sich hier um eine Pflicht gegenüber Gott handelt, die höher steht als die, einem Menschen das Wort zu halten.42 Woran entscheidet sich nun, wie wichtig eine bestimmte Pflicht im Vergleich zu einer anderen ist? Soweit Koran und HadTt dazu im Einzelfall keine expliziten Angaben machen, ist nach al-QaradäwI aufgrund von deren Aussagen und der Bewertungen der islamischen Rechtstradition generell davon auszugehen, dass individuelle Pflichten (fard c ayn) vor solchen rangieren, die lediglich immer von einer genügenden Anzahl von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft wahrgenommen werden müssen (fard kifäya), dass aber andererseits Pflichten, auf deren Erfüllung die Gemeinschaft als ganze Anspruch hat, vor solchen kommen, auf deren Erfüllung nur ein Einzelner oder eine kleine Zahl von Individuen Anspruch hat. Deshalb darf sich ein Muslim etwa im Falle des Angriffs eines äußeren Feindes auf sein Land nicht unter Verweis auf seine Pflichten gegenüber den Eltern dem Wehrdienst entziehen. Im übrigen ist bei der Entscheidung zwischen mehreren möglichen Handlungsweisen diejenige zu bevorzugen, die der größeren Personenzahl nützt. Deshalb müssen Muslime im Zweifelsfall bei40 al-QaradäwI, 1991 a, S. 5 6 f „ 108, 114-116. 41 Sure 6,151 und 17,23. 42 Ibid. S. 39 f.

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spielsweise ihren Wunsch nach zusätzlichen Frömmigkeitsübungen freiwilliger Art - die an sich durchaus etwas Gutes sind, aber eben nur für sie allein - zurückstellen, wenn sie in derselben Zeit die Möglichkeit haben, zwei miteinander in Fehde liegende Parteien zu versöhnen. 43 Weiter müssen nach al-QaradäwI die in Betracht kommenden Handlungsalternativen nach dem Kriterium ihres mehr oder weniger verpflichtenden Charakters hierarchisiert werden, damit man die richtige Wahl treffen kann. Es ist also etwa zu prüfen, ob sie nach der klassischen fünfstufigen Bewertungsskala regelrecht obligatorisch oder aber zwar in sich selbst gut und wünschenswert, jedoch - wie ζ. B. supererogatorische Frömmigkeitsübungen - nicht vorgeschrieben sind und daher hinter Wichtigerem zurückgestellt werden könnten, zumal dann, wenn dieses auch noch einer größeren Personenzahl zugute kommt oder besonders eilbedürftig erscheint. Unter diesem Aspekt beklagt es al-QaradäwI einmal als großes Ärgernis, dass es ihm sogar mit jahrelanger Werbetätigkeit nicht gelungen ist, auch nur einen kleinen Bruchteil der Summe zu sammeln, die er eigentlich für einen islamischen Wohltätigkeitsfonds zusammenbekommen wollte, während alljährlich Millionen von Muslimen ihr teures Geld dafür ausgeben, zum soundsovielten Male auf die Wallfahrt nach Mekka zu gehen, obwohl das ja nur einmal im Leben vorgeschrieben ist.44 al-QaradäwI nennt auch noch eine Reihe weiterer Arten von Uberlegungen, mit denen zwar nicht zwei alternative Handlungsoptionen oder Aspekte von solchen gegeneinander abgewogen und auch nicht speziell Prioritäten ermittelt werden, die ein Muslime aber dennoch anstellen muss, um eine richtige Entscheidung darüber treffen zu können, ob er eine bestimmte Norm von Koran oder Sünna befolgen oder statt dessen lieber anders handeln soll: Erwogen werden muss im Vorfeld der Entscheidung etwa, ob die betreffende normative Aussage tatsächlich so, wie sie dasteht, zu dauerhafter Geltung bestimmt ist oder nicht. Für die Unterscheidung dessen, was permanent gültig ist und was sich eventuell ändern kann, rekurriert al-QaradäwI - wie etliche andere muslimische Autoren der letzten Jahrzehnte - auf as-Sätibl und dessen Denkmodell der übergeordneten Intentionen des geoffenbarten Gesetzes (maqäsid as-sari'a). 45 Unveränderlich gültig sind, so erklärt er, die zentralen Güter, die Gott gewahrt sehen, und damit die Ziele, 43 al-QaradäwI, 1991a, S. 129. 44 al-QaradäwI, 1997, S. 112. 45 al-Qaradäwi, 1991a, S. 112 f., 69.

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die er mit den geoffenbarten Normen erreichen wollte, so auch der Schutz von sittlichen Werten oder Tugenden wie ζ. B. Wahrhaftigkeit im Reden, Einhaltung von Versprechen und Verträgen, Verlässlichkeit im Bewahren dessen, was einem von anderen anvertraut wurde, die Bereitschaft, treu zu den eigenen Familienangehörigen zu stehen, Vermeidung von Heuchelei, Verrat, Verleumdung, Neid, Diebstahl und Unzucht und nicht zuletzt das Gebot der Schamhaftigkeit „besonders für die Frau, gleichgültig, ob sie Analphabetin oder gebildet ist, ob sie im ersten oder zwanzigsten oder vierzigsten Jahrhundert lebt." Verändern können sich lediglich Details des Verständnisses der einen oder anderen Tugend, insofern sie eine Angelegenheit des wandelbaren gesellschaftlichen Brauchs ( c urf) sind, wie etwa die Vorstellungen davon, ob eine bestimmte Art zu sprechen, zu gehen oder sich zu kleiden, das Prinzip der Schamhaftigkeit verletzt oder nicht. 46 Im übrigen muss aber in Rechnung gestellt werden, dass sich mit der Veränderung der historischen Rahmenbedingungen auch die Mittel ändern können, die für die Erreichung eines unwandelbar gültigen Ziels am besten geeignet sind. Bei Vorschriften von Koran oder Hadlt hat man zuerst zu fragen, ob sie eigentlich ein Ziel oder das Mittel zu dessen Verwirklichung zum Inhalt haben. Und wenn letzteres, dann ist zu erwägen, ob das genannte Mittel, das zur Zeit der Offenbarung zweifellos das geeignetste war, auch unter den veränderten Umständen der Gegenwart noch das geeignetste ist, um das von Gott vorgegebene Ziel zu erreichen. Das verneint al-QaradäwI etwa in Bezug auf die koranische Maßgabe, Frauen sollten sich außer Hauses zur Kenntlichmachung ihrer Ehrbarkeit und zum Schutz vor Belästigungen ein Stück ihres Obergewandes über den Kopf ziehen. 47 Bei der Entscheidung darüber, ob eine bestimmte in Koran oder Hadlt enthaltene Vorschrift in einem konkreten Fall in die Tat umgesetzt werden soll oder nicht, ist schließlich auch noch zu bedenken, für welcherlei Personen und welche Ausgangslage diese Norm überhaupt einschlägig ist und ob diese wirklich vorliegen. Denn zahlreiche Normen gelten keineswegs absolut, also für jeden und immer, sondern nur relational für ganz bestimmte Personenkreise und Situationen. So gibt es beispielsweise zum Teil unterschiedliche Anforderungen an Männer 46 al-QaradäwI, 1998, S.48f. 47 al-Qaradäwi, 1991 a, S. 113. Die fragliche Koranstelle (Sure 3 3 , 5 9 ) bezieht sich ihrem ursprünglichen Textsinn nach wahrscheinlich auf den speziellen Fall, dass Frauen in freier N a t u r austreten (vgl. die Übersetzung von Rudi Paret).

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und Frauen, Junge und Alte, Starke und Schwache oder Kranke, usw. Die Notwendigkeit, sorgfältig zu erwägen, ob eine Norm für die in Frage stehenden Personen und die gegebene Situation tatsächlich gelten kann, illustriert Yüsuf al-QaradäwI u. a. mit einer hübschen Anekdote über den hochberühmten hanbalitischen Juristen und Staatstheoretiker Ibn Taymlya (gest. 1328), die dessen Schüler Ibn Qayyim al-öawzlya erzählt hat: Zu der Zeit, als D a m a s k u s unter m o n g o l i s c h e r B e s e t z u n g stand, kam der große Gelehrte in Gesellschaft einiger anderer H e r r e n an einer G r u p p e v o n M o n g o l e n vorbei, die betrunken auf der Straße h e r u m l ü m m e l t e n u n d immer n o c h weiter tranken. Seine Begleiter w i e s e n die Trunkenbolde d e s w e gen zurecht. Er dagegen sagte nur: „Laßt sie d o c h ! G o t t hat das Weintrinken verboten, weil es einen v o m G o t t e s g e d e n k e n u n d v o m Ritualgebet abhält. Aber die da hält das Weintrinken v o m Blutvergießen u n d Plündern ab." 48

Damit wird deutlich: Selbst so zentrale Vorschriften wie das koranische Alkoholverbot, dessen herausragende Bedeutung Gott durch Festsetzung einer Kapitalstrafe für den Fall seiner Übertretung unterstrichen hat, gelten nicht bedingungslos. Vielmehr muss auch bei ihnen im Einzelfall noch einmal geprüft werden, ob sie zu den Möglichkeiten der handelnden Personen und der gegebenen Problemlage passen.49 Das Votum Ibn Taymlyas, der für alle sunnitischen Islamisten eine wichtige Bezugsgröße darstellt, hat hier besonderes Gewicht, denn er ist an sich dafür bekannt, dass er die Durchsetzung der Prinzipien des reinen Islam öffentlich mit kompromisslosem Rigorismus einzufordern pflegte. Insgesamt lässt sich festhalten: Yüsuf al-QaradäwI hat über den methodischen Einsatz der abwägenden Vernunft zum Zweck der Wahl zwischen ethisch unterschiedlich zu bewertenden Handlungsoptionen oder auch gesetzgeberischen Alternativlösungen bereits recht detaillierte und präzise Vorstellungen entwickelt, um der vorschnellen Gleichsetzung eines litteralistisch verengten Spontanverständnisses 48 al-Qaradäwi, 1998, S. 50. Nach einem zentralen Prinzip der koranischen Ethik sind die Angehörigen der islamischen Glaubensgemeinschaft nicht nur verpflichtet, für ihre eigene Person das Rechte zu tun, sondern auch, dafür zu sorgen, daß dieses darüber hinaus in ihrem gesamten sozialen Umfeld getan wird. Im Hinblick auf diese Pflicht, „das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten" (al-amr bi-l-ma'rüf wa-n-nahy 'ani 1-munkar; vgl. Sure 3,110 parr.), hätte sich Ibn Taymiya auch selbst schuldig gemacht, wenn das Verbot des Weintrinkens für die Mongolen gegolten hätte, er aber nicht gegen ihren Alkoholkonsum eingeschritten wäre. 49 al-QaradäwI, 1991 a, S. 116, 134-138.

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von normativen Aussagen des Koran oder des Hadlt mit dem Gottgewollten entgegenzuwirken, mit der Anhänger des extremen Islamismus nach seinem Urteil so viel Ungedeih stiften. Und in etlichen Einzelfragen kommt er mit seinem persönlichen Gebrauch dieser abwägenden Vernunft auch zu vergleichsweise beweglichen Lösungen. So verwirft er etwa die extreme Auffassung, dass Frauen ohne Begleitung eines mahram, d. h. ihres Ehemannes oder eines für sie nicht heiratbaren nahen männlichen Verwandten, keine Reisen über größere Distanzen unternehmen dürfen, mit der Begründung, dass das mit dieser Vorschrift des Hadlt intendierte Ziel der Schutz der Frau vor Gefahren war, dieses Ziel aber im Zeitalter der modernen Verkehrsmittel und des Telefons ohne ein solches einschränkendes Verbot ebenso sicher zu verwirklichen ist, indem der Mann seine Frau beispielsweise persönlich zum Flughafen bringt und ihre Abholung am Zielflughafen durch einen mahram organisiert. 50 Außerdem hat sich al-QaradäwI selbst, wie er den Leser wissen lässt, nach Abwägung der Prioritäten ganz bewusst dafür entschieden, dem Einspruch mancher Kritiker zum Trotz Interviews dann und wann auch solchen Zeitungen und Zeitschriften zu geben, deren Inhalte er ansonsten oftmals nicht gutheißen kann oder deren dezidiert säkulare Ausrichtung er missbilligt; denn andernfalls hätte er um der konsequenten Verteidigung des Rufes seiner persönlichen Unbeflecktheit willen ein höheres Gut preisgegeben, nämlich die Möglichkeit, die Leser solcher Presseerzeugnisse, die für ihn zumeist nur über diese erreichbar sind, mit den Forderungen des rechtverstandenen Islam zu konfrontieren und im Sinne derselben bessernd auf sie einzuwirken. 51 Allerdings ist auch zu konstatieren: al-QaradäwIs persönliche Praxis der Erteilung von Fetwas hat mit seiner theoretischen Durchdringung des Problems sachgerechter Verfahren der Entscheidung von ethisch relevanten Zweifelsfragen noch nicht in jeder Hinsicht Schritt gehalten. Es gibt für ihn Tabuzonen, in denen er ohne rationale Begründung die Existenz von Spielräumen für eine Entscheidungsfindung kategorisch leugnet und seine eigene abwägende Vernunft nicht betätigt, selbst wo sich dies aufgrund der von ihm formulierten Gesichtspunkte für eine differenzierte Betrachtung überlieferter Normen eigentlich aufdrängt. Das gilt beispielsweise für seinen Umgang mit der „Kopftuchfrage": Er erregt sich aufs heftigste darüber, dass eine junge Frau 50 al-QaradäwI, 1991a, S.52f. 51 al-QaradäwI, 1991b, S.22f.

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ihn überhaupt um ein Gutachten zu dieser gebeten hat, nachdem sie, wie sie berichtete, im Kollegenkreis der Auffassung begegnet ist, das Bedecken des Haars sei für Musliminnen nicht obligatorisch. Dabei zieht er gar nicht erst in Betracht, dass die Koranstelle aus Sure 24, 31, die ihm als Hauptbeleg für den Kopftuchzwang dient, eventuell auch anders interpretiert werden könnte - obwohl sich unter den verschiedenen mittelalterlichen Deutungen dieser Textstelle, die er sekundär aus dem klassischen Korankommentar von al-Qurtubl (gest. 1272) zitiert und die tatsächlich zumeist seine Position stützen, auch eine von drei frühen Autoritäten vertretene findet, die in die gegenteilige Richtung weist. 52 Außerdem überlegt er nicht, ob das Kopftuchtragen für Musliminnen eine zentrale Pflicht ist oder eine eher weniger wichtige, weil nur die Kleidung betreffende, wie er das in kritischer Wendung gegen den Eifer extremer Islamisten um die religiös korrekte Länge männlicher Gewänder durchaus getan hat. 53 Er prüft auch nicht nach, ob das Kopftuchtragen bei Frauen, das seinem Urteil nach von Gott zur Wahrung weiblicher Keuschheit und zum Schutz der Frau vor Begehrlichkeiten fremder Männer intendiert ist, im Hinblick auf diesen Zweck heutzutage womöglich durch andere, weniger einschränkende Mittel ersetzt werden könnte, etwa durch eine wirksame Erziehung aller beider Geschlechter dazu, in Angehörigen des je anderen Geschlechts nicht primär ein Objekt sexueller Gelüste zu sehen. Ebensowenig fragt er, ob es unter Bedingungen, unter denen muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch gar nicht tätig werden können, eventuell wichtiger sein könnte, dass Schulkinder - die ja immerhin einen größeren noch im Positiven zu beeinflussenden Personenkreis ausmachen überhaupt in den Genuss des Unterrichts einer überzeugt muslimischen Lehrerin kommen, als dass die Lehrerin individuell die Kopftuchpflicht einhält, ob also die zu setzende Priorität im Zweifelsfall eventuell der Verzicht auf das Kopftuch sein könnte. Statt dessen affirmiert al-QaradäwI ganz einfach den verpflichtenden Charakter des Kopftuchtragens und bewertet die Tatsache, dass über ihn überhaupt diskutiert wird, als Indiz dafür, wie wenig in den schlimmen heutigen Zeiten unter Muslimen sogar die hehrsten von allen Gütern vor Infra52 al-QaradäwI, o. J., S. 40. Es geht dabei um die Frage, ob das Haupthaar der Frau zu dem in diesem Koranvers erwähnten „Schmuck" gehört, den sie an der Öffentlichkeit nicht zeigen darf. Drei der Exegeten, darunter das Rechtsschulhaupt al-Awzä'I (gest. 774), verstehen darunter aber nur Augenschminke und am K ö r p e r getragene Schmuckstücke. 53 al-QaradäwI, 1991a, S.56f., 1 1 4 - 1 1 6 .

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gestellung sicher sind. 54 Zur aktuellen Debatte der Bundesrepublik Deutschland um die „Kopftuchfrage" ist also von seiner abwägenden Vernunft kein weiterführender Beitrag zu erwarten. Dennoch bleiben seine Überlegungen zur methodischen Anwendung dieser Vernunft beachtenswert.

54 al-QaradäwT, o. J., S. 3 9 - 4 2 ; s. auch ibid., S. 2 3 - 2 6 , wo er ebenso auf die Fetwa-Frage reagiert, ob es Frauen erlaubt ist, anstatt des knöchellangen „schariagemäßen Kleides" „kurze" Röcke, d. h. R ö c k e mit normaler europäischer Länge zu tragen, wie die Fragestellerin sie häufig bei Lehrerinnen sieht.

Was heißt „Einheit der Kirche" und was dient ihr? PETER N E U N E R

Ökumenische Theologie dient der Einheit der christlichen Kirche. Doch die Einheit, die sie anstrebt, wird zumeist nicht näher umschrieben, der Begriff „Einheit" selbst wird in aller Regel recht unproblematisch verwendet. Wenn heute Unklarheiten hinsichtlich der ökumenischen Zielvorstellungen beklagt werden, gründen diese sicher nicht zuletzt auch in einem Theoriedefizit bezüglich der Vorstellungen von der Einheit.

1. Von der philosophischen Besinnung zum politischen Machtanspruch Philosophisch gesehen bringt Einheit eine dem Sein und dem Seienden notwendige Eigentümlichkeit zum Ausdruck. „Als erst- und immer gewußter und doch nie durch Reflexion adäquat einholbarer [...] Urbegriff" 1 bestimmt „Einheit" zusammen mit dem korrelativen Begriff „Vielheit" die europäische Philosophie seit ihren Anfängen. Seit den Vorplatonikern über Piaton und Aristoteles ist die Eins nicht nur ein Zahlwort bzw. das Maß und Prinzip der Zahlen und der Zählbarkeit, sondern bezeichnet „[...] ein bestimmtes, von A n d e r e m abgegrenztes Seiendes, sei es als Sache oder als Person, ein Individuelles, Einzelnes, Einziges, aber auch ein aus Teilen Eines, Ganzes; es hebt die Identität ,Ein und Desselben' hervor." 2

Mit dem Begriff Einheit verbinden sich sehr unterschiedliche Teilaspekte: „Einzahl im Unterschied zur Mehrzahl, Einzigkeit und Einma1 K. Rahner, Einheit, in: LThK, 2. Aufl. III, Sp. 749. 2 W. Beierwaltes, Hen, in: RAC 14, Sp, 445.

Was heißt „Einheit der Kirche" und was dient ihr?

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ligkeit, Einfachheit, Ganzheit und Totalität, Einheitlichkeit im Sinne von Einheit in der Vielfalt sowie Identität mit sich gegenüber dem anderen". Dabei tendiert die Philosophie darauf hin, die Grundbedeutung von Einheit in der Ganzheit oder der Identität eines Seienden mit sich selbst zu sehen und die anderen Vorstellungen als davon abhängig oder als in ihnen enthalten zu verstehen.3 In der denkerischen Formulierung des christlichen Glaubens wurde die philosophische Einheitsvorstellung vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus fruchtbar. Der Neuplatonismus begründete in seiner Spekulation um die Ganzheit und Identität und damit um die Verstehbarkeit der Wirklichkeit diese in der Einheit ihres Ursprungs hinter der Vielheit der Entfaltung und Erscheinungen. Die Einheit aller Wirklichkeit hängt an einem Ur-Einen als ihrem Grund und Ursprung und wird von ihm gewährleistet. Trotz der Erfahrung des Bösen lehnt Plotin die Existenz mehrerer Ursprünge ab, denn dann wäre die Einheit der Wirklichkeit in Frage gestellt und diese nicht mehr verstehbar. Denn nur was eines ist, kann auch verstanden werden. Dieses Eine als der Ursprung des Ganzen nimmt im Neuplatonismus mehr und mehr die Gestalt Gottes an: Es ist der Ursprung aller Wirklichkeit und der Garant ihrer Einheit und als solcher bewegungslos, unveränderlich, unkörperlich und geistig. Weil dieser Ursprung einer ist und die Wirklichkeit als Ganze in ihm ihren Grund hat, ist auch diese eins und darum intelligibel. Der traditionelle griechische Polytheismus war in dieser philosophischen Spekulation auf dem Weg zum Monotheismus. Aus philosophischen Gründen wurde gefordert, dass es einen einheitlichen Ursprung der Wirklichkeit als Ganzer geben muss, und dieser wurde als Gott verstanden. Vor dem Hintergrund dieser philosophischen Suche nach der Einheit der Welt in der Einheit ihres Ursprungs haben die frühchristlichen Apologeten die Heilige Schrift gelesen und die Aussagen über den einen Gott Jahwe, den Vater Jesu Christi, als Antwort auf diese Fragen verstanden. Sie mühten sich zu zeigen, dass die biblische Offenbarung kennt und benennt, was die Philosophen mehr oder weniger vergeblich suchten. Die Schrift wurde unter der hermeneutischen Voraussetzung dieser philosophischen Konzeption einer relecture unterzogen. Die Einheit der Wirklichkeit und damit ihre Intelligibilität sind nach christlicher Uberzeugung gewährleistet, denn Gott ist einer, er hat alles aus Nichts geschaffen. Das Alte und das Neue Testament beweisen es. 3 J. Halfwassen, Einheit/Vielfalt,

in: RGG 2, Sp. 1169.

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Was die Philosophen suchen und postulieren, ohne es benennen zu können, ist in der christlichen Botschaft geoffenbart. Zahlreiche Zitate aus der Schrift belegen die Einheit Gottes. Die altchristlichen Apologeten konnten etwa aus dem Dekalog, dem Schöpfungsbericht und aus dem alttestamentlichen Schema-Gebet (Dt 6,4-9) die Einzigkeit Gottes, also den Monotheismus herauslesen. Und im Neuen Testament wird diese Einheit des Vaters Jesu Christi ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Worum sich die Philosophen mühten, ist in der Offenbarung erfüllt. Die Suche nach einem metaphysischen Einheitsgrund aller Wirklichkeit als Garant für die Intelligibilität der Welt wurde in der biblischen Botschaft vom einen Gott gefunden. Nizänische Christologie und trinitarische Gotteslehre haben, wie Frido Ricken in einem frühen Aufsatz dargestellt hat 4 , den Neuplatonismus des Arius überwunden. Sicher war es „die soteriologische Botschaft des Neuen Testaments und nicht die Transzendenz-Kosmos-Problematik des mittleren Piatonismus" 5 , die die christliche Trinitätslehre prägten. Aber sie wurde in der Herausforderung formuliert, die biblische Botschaft unter der Fragestellung des Piatonismus neu zu lesen und Einheit und Vielfalt zu einander zu ordnen, um die in Christus gestiftete Einheit von Gott und Mensch und damit die Erlösung aussagbar zu machen. Die Vielfalt wurde angesiedelt in der Dreiheit der Subsistenzen, die Einheit im einen und gemeinsamen Wesen - oder im einzigen Ursprung in der Person des Vaters, wie es die östliche Tradition vornehmlich sah. Der Begriff „Person", wie er in der frühchristlichen Trinitätsspekulation entfaltet wurde, erwies sich als der Schlüssel, durch den die Einheit Gottes mit Vielheit und Selbststand der Subsistenzen vermittelt wurde. Diese Vorstellung von der Einheit Gottes wurde gerade auch wegen ihrer soteriologischen Implikationen zum Modell für das Verständnis der Kirche. Einheit ist Wesenseigenschaft von Kirche, nota ecclesiae. Kirche ist, soweit sie Kirche ist, una sancta, eine und eins. Diese Aussage kann sich bereits auf das Neue Testament berufen, wo die Einheit, um die der johanneische Christus den Vater bittet (Joh. 17,21) 6 , zum Wesen der Kirche gehört. Sie ist eins, weil sie in Gemeinschaft mit Gott steht. Insofern besagt Einheit zunächst nicht eine empirisch erhebbare Wirklichkeit, sondern eine theologische Qualität, die Übereinstim4 F. Ricken, 1969, Nikaia als Krisis des altchristlichen Piatonismus, in: Theologie und Philosophie 44, S. 321-341. 5 Ricken, 1969, S. 339. 6 W. A. Bienert (Hrsg.), 2002, Einheit als Gabe und Verpflichtung. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses zu Johannes 17,21, Frankfurt a. M.

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mung mit der Stiftung Jesu Christi und die Vermittlung seiner Erlösung. Das Wort von der Einheit richtet sich primär nicht auf ein ausständiges Ziel, das Menschen zu verwirklichen hätten, sondern auf den Ursprung der Kirche, ihre Treue zur göttlichen Stiftung. Die Einheit der Christen untereinander, die dann auch zu einer Erfahrungstatsache werden soll, erhält daraus ihre Dringlichkeit, aus der Gabe wird die Aufgabe. Dies ist Thema im Epheserbrief, wo die Gläubigen vor Spaltungen gewarnt werden (Eph 4,4-6) 7 . Wenn in der Kirche Spaltungen auftreten, wird dadurch auch die Einheit mit ihrem Ursprung verdeckt. Aber zunächst ist Einheit der Kirche nicht eine Sache menschlichen Tuns, sondern göttliche Vorgabe. Kirche ist einig, weil sie Kirche ist, d. h. weil sie aus dem Wort Gottes lebt, seine Botschaft hört, weil sie die heiligen Zeichen vollzieht, die Gläubigen tauft und das Herrenmahl feiert. Einheit besagt ihre Wahrheit, ihre Authentizität, ihre Ubereinstimmung mit dem Willen Gottes und der Botschaft Jesu Christi, also ihr Kirchesein. Dabei nahm die Vorstellung von der Einheit schon in der frühen Auseinandersetzung mit der Gnosis mehr und mehr institutionelle und amtliche Strukturen an. In den Ignatiusbriefen wird die Einheit mit dem Bischof zum Zeichen und Mittel, die Einheit der Ortskirche zu wahren, in der Zurückweisung angeblicher, nicht überprüfbarer Traditionen durch Irenäus wird die Anbindung an eine sedes apostolica zum Aufweis rechter Botschaft und rechten Glaubens und damit apologetisch zum Kriterium gegenüber den Irrlehren. Das Bischofsamt erscheint bei Irenäus als Kriterium einer diachronen Einheit der Kirche, während bei Cyprian von Karthago die Gemeinschaft der Bischöfe die (synchrone) Einheit der Universalkirche gewährleistet. Einheit wird mehr und mehr zu einer institutionellen Angelegenheit, die mit der Unterordnung unter den Bischof, später dann unter den Papst zusammenfällt. Auch für dieses Einheitsmodell konnte man sich auf Ansätze aus der griechischen Philosophie berufen: Hatte doch bereits Aristoteles das theologische Buch seiner Metaphysik mit dem Zitat aus Homer geschlossen: „Niemals taugt's, wenn viele regieren, nur einer soll Herrscher sein." 8 Dieses institutionalisierte Einheitsmodell sollte in der weiteren Entwicklung dominieren. Es fand seinen Höhepunkt bei Papst Boni7 Siehe hierzu A . C . M a y e r , 2002, Sprache der Einheit im Epheserbrief mene, Tübingen. 8 Aristoteles, Metaphysik XII, 1 0 , 1 0 7 6 a.

und in der Öku-

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faz VIII. in seiner Bulle „Unam sanctam". In der Auseinandersetzung mit den weltlichen Fürsten, die ebenso wie er den Anspruch erhoben, Haupt der Christenheit und als solche Garanten ihrer Einheit zu sein, erklärte der Papst: „Die eine und einzige Kirche (hat) also einen Leib, ein Haupt, nicht zwei Häupter wie eine Mißgeburt, nämlich Christus und den Stellvertreter Christi, Petrus, und den Nachfolger des Petrus [...]. Wir erklären, sagen und definieren nun aber, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein."9

Einheit der Kirche war zu einem Machtanspruch geworden, sie wurde durch den Gehorsam gegenüber dem Papst gewährleistet. Und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein konnte man sich katholischerseits eine Einigung der Christenheit nicht anders denn als Rückkehr unter den Gehorsam gegenüber dem Papst denken.

2. EinheitsVorstellungen der christlichen Kirchen Gegen dieses Verständnis von Kircheneinheit mussten alle Kirchen, die diesen Anspruch nicht anerkennen wollten, ihre eigenen Einheitsmodelle entwickeln. Am deutlichsten geschah das in der lutherischen Tradition, die in der Confessio Augustana eine Definition der Einheit formulierte: „Denn dies ist gnug (satis est) zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not (nec necesse est) zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichförmige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden." 1 0

Die Kirche und ihre Einheit ist nach lutherischer Uberzeugung überall dort verwirklicht, wo das Evangelium recht verkündet und die Sakramente, d. h. Taufe und Abendmahl, gemäß der Einsetzung durch Jesus verwaltet werden. Wo dies gegeben ist, ereignet sich nach lutherischer Überzeugung Kirche, mit all denen, die dies glauben und leben, kann sich ein evangelischer Christ in Kirchengemeinschaft fühlen und folglich auch Gemeinschaft im Herrenmahl halten. Das satis est hat dabei eine polemische Spitze. Oft wird es im Sinne einer Vergleichgültigung 9 DH 872, 875. 10 „Ad veram unitatem ecclesiae satis est [...]"'· CA VII, BSLK, S. 61.

Was heißt „ E i n h e i t der K i r c h e " u n d w a s dient ihr?

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von Amt und Struktur ausgelegt, so dass in der Konsequenz Einheit eine unsichtbare Größe bleibt, die unbeschadet institutioneller Differenzen im Verborgenen bereits verwirklicht sein kann.11 Institutionellorganisatorische Einigungsbemühungen sind dann unnötig, gegebenenfalls erscheinen sie gar als dem Bekenntnis widersprechend. In der reformierten Tradition verbindet sich die Kirchengliedschaft mit der Lehre von der Prädestination. Nur Gott weiß, wer zu seinen Erwählten und damit zur Kirche gehört. Die wahre Kirche ist unsichtbar, ihre Einheit nicht definitorisch zu umschreiben. Hier auf Erden aber muss die Einheit der christlichen Gemeinde sichtbar werden und konkrete Gestalt annehmen, sie wird nicht zuletzt mittels des Rechts verwirklicht. Jede Gemeinde hat die Einheit in der Verkündigung, in der Feier des Gottesdienstes und der Liturgie, im Amt und in ihrer Kirchenordnung zu gewährleisten. Während Calvin in Genf Abweichungen nicht duldete und die Einheit der christlichen Gemeinde auch mittels staatlicher Gewalt herstellen ließ, war er auf überregionaler Ebene wesentlich toleranter. Es stellte für ihn kein Problem dar, dass zwischen den einzelnen Städten, die die Reformation durchgeführt hatten, das Glaubensverständnis und die kirchliche Ordnung nicht unerheblich voneinander abwichen. Hier sind auch gewichtige Differenzen tolerabel, denn nur Gott kennt seine Erwählten. In der Fortführung dieser Tradition haben die meisten Freikirchen alles Gewicht auf die Ortsgemeinde gelegt, die sich im Gottesdienst versammelt und die Werke der Nächstenliebe vollzieht. Einheit wird am Ort gelebt und wird dort sichtbar, sie ist sogar Kriterium rechter Kirche. Aber sie wird nicht durch übergemeindliche Vereinheitlichung oder Autorität angestrebt. In ihrem „Appeal to All Christian People" (1920) riefen die anglikanischen Bischöfe die Christenheit zur Einheit auf. Als Voraussetzungen dafür nannten sie: 1. den Glauben, dass die Heilige Schrift alles zum Heil Notwendige enthält, 2. die Anerkennung der altchristlichen Glaubensbekenntnisse, 3. die Anerkennung von Taufe und Abendmahl als von Christus eingesetzten Sakramenten, 4. die Anerkennung des historischen Bischofsamtes unter Anpassung an die Bedürfnisse der verschiedenen Gebiete und Völker. Mit jeder Kirche, die diese vier Bedingungen erfüllt, wussten sich die anglikanischen Bischöfe in Gemein11 Z u m e i s t aber wird a u c h in lutherischer Tradition daran festgehalten, d a s s das ordinierte A m t im D i e n s t v o n Wort u n d S a k r a m e n t steht, mit diesen mitgesetzt u n d damit f ü r die rechte G e s t a l t v o n K i r c h e u n v e r z i c h t b a r ist.

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schaft. Alles andere kann dagegen variabel bleiben.12 Hier ist die anglikanische Tradition im Inneren wie nach außen für eine breite Vielfalt offen. „Comprehensiveness" vermag auch Differenzen zu überbrücken, die in anderen Kirchen wohl als inakzeptabel betrachtet würden. Als unabdingbar erachtet der Anglikanismus dagegen, und das führt über die anderen reformatorischen Kirchen hinaus, das historische Bischofsamt: Die bischöfliche Sukzession in ununterbrochener Amtsnachfolge wird als äußeres Zeichen für Kontinuität und Apostolizität gewertet. Damit berührt sich die anglikanische Auffassung mit der Einheitsvorstellung der Orthodoxie. Ihr zufolge ist die Kirche jeweils Ortskirche unter der Leitung des Bischofs. Einheit der Kirche ist wesentlich Einheit mit dem Bischof. Die einzelnen bischöflichen Kirchen sind in hohem Maße selbstständig; sie können sich von anderen Ortskirchen in Sprache, Liturgie und Frömmigkeitspraxis deutlich unterscheiden. Die Gemeinschaft zwischen ihnen wird gewährleistet durch die Einheit der Bischöfe: dadurch, dass bei einer Bischofsweihe andere Bischöfe anwesend sind, dass Bischöfe in der Synode zusammenwirken, dass sie in Konzelebration gemeinsam die Eucharistie feiern. Übereinstimmend mit der Lehre der frühen Kirche wahrt die Kirche nach orthodoxem Verständnis in aller Verschiedenheit ihre Einheit durch die Gemeinschaft der Bischöfe, und das nicht nur synchron, also zwischen den Ortskirchen, sondern auch durch die Geschichte hindurch, diachron. Der Bischof ist Zeuge und Repräsentant der Tradition, die Einheit mit ihm gewährleistet die Einheit mit der Kirche der Apostel. Einheit kann heute dadurch werden, dass die anderen Gemeinschaften zur altkirchlichen Ordnung nach dem Zeugnis der ersten sieben ökumenischen Konzilien zurückkehren. Das Bischofsamt ist dabei konstitutiv. Die nachreformatorische römische Kirche entwickelte ihr Einheitsverständnis in Auseinandersetzung mit den Anfragen der Reformation, vornehmlich in der Zurückweisung aller Tendenzen hin auf Unsichtbarkeit der Kirche und ihrer Einheit. Klassisch wurde dabei die Definition von Robert Bellarmin: „Es gibt nur eine Kirche, nicht zwei, und jene eine und wahre [Kirche] ist ein Zusammenschluß von Menschen, der durch das Bekenntnis desselben christlichen Glaubens und durch die Gemeinschaft derselben Sakramente, unter der Leitung der legitimen Hirten, vor allem des einen Stellvertreters 12 So konnte die anglikanische Kirche volle Kirchengemeinschaft (full communion) mit den Altkatholiken aufnehmen, obwohl die altkatholische Kirche sieben Sakramente anerkennt.

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Christi auf Erden, des römischen Papstes, verbunden ist [...]. Diese Definition hat drei Teile: das Bekenntnis des wahren Glaubens, die Gemeinschaft der Sakramente und die Unterwerfung unter den legitimen Hirten, den römischen Papst. Aufgrund des ersten Teils werden alle Ungläubigen ausgeschlossen [...]. Aufgrund des zweiten Teils werden die Katechumenen und die Exkommunizierten ausgeschlossen, weil die einen zur Gemeinschaft der Sakramente nicht zugelassen, die anderen von ihr ausgeschlossen sind. Aufgrund des dritten Teils werden die Schismatiker ausgeschlossen, die den Glauben und die Sakramente haben, aber sich nicht dem legitimen Hirten unterwerfen [...]. Zugehörig aber sind alle anderen, selbst wenn sie schlecht, verbrecherisch und gottlos sind." 13 Alle Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe, werden durch die Kirche gefördert, aber sie sind rechtlich nicht fassbar und können darum nicht als Kennzeichen der wahren Kirche gelten, sondern allein die genannten, sinnenfälligen und juristisch greifbaren äußeren Zeichen. „Denn die Kirche ist ein so sichtbarer und manifester Zusammenschluß von Menschen wie das Gemeinwesen des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig". 14 Aufgrund dieser Einheitsvorstellung war es nur konsequent, dass die römische Kirche die Ökumenische Bewegung, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jh. konstituierte, zunächst ablehnte. So heißt es in der Enzyklika Mortalium animos von Papst Pius X I . aus dem Jahr 1928: „Es gibt keinen anderen Weg, die Vereinigung aller Christen herbeizuführen, als den, die Rückkehr aller getrennten Brüder zur einen wahren Kirche Christi zu fördern, von der sie sich ja einst unseligerweise getrennt haben." 15 In Abwehr gegenüber der Ökumenischen Bewegung rief man die Christenheit auf, in den Schoß der römischen Kirche zurückzukehren. 1 6 Als Ziel der Einigung war hier allein die Rückkehr nach R o m vorstellbar. Die hier geforderte Gemeinschaft mit Papst und Bischöfen hat dabei nicht nur rechtliche Bedeutung, sondern vor allem eine geistliche Dimension, da sich nach diesem Verständnis im bischöflichen und besonders im päpstlichen A m t die Gemeinschaft der Kirche über Raum und Zeit hinweg ausdrückt und damit ihre Apostolizität gewährleistet wird. 13 R. Bellarmin, Controversiae, zitiert nach tzt D5 (Ekklesiologie II) Nr. 154. 14 A . a . O . 15 Zitiert nach A. Rohrbasser, 1953, Heilslehre der Kirche, Freiburg (Schweiz), S.408. 16 So in der Ablehnung, bei Faith and Order mitzuwirken, und insbesondere die Äußerungen in ,Mortalium animos'.

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3. Einheitsmodelle in der Ökumenischen Bewegung Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Vorstellungen von der Einheit der Kirche kann es nicht überraschen, dass sich die Ökumenische Bewegung auch innerhalb der Mitgliedskirchen des O R K - ganz zu schweigen von der römisch-katholischen Kirche - über die Gestalt der Einheit und damit über das Ziel ökumenischer Bemühungen nicht verständigen konnte. Bereits bei der Gründung von Faith and Order 1927 in Lausanne musste man mit Ernüchterung feststellen, dass sich die Modelle Kirchenbund und Organische Union, die zunächst verhandelt wurden, als nicht kompatibel erwiesen. Bereits zwei Jahre nach der Gründung des O R K erklärte der Zentralausschuss 1950 in Toronto, keine Mitgliedskirche müsse eine bestimmte Lehre über das Wesen der kirchlichen Einheit annehmen. Der Ö R K war lange Zeit genötigt, sich mit der Aussage zu bescheiden, dass er „den Gedanken der Einheit der Kirche vertritt und sich gleichwohl weigert, sich eine bestimmte Lehre von der Einheit der Kirche zu eigen zu machen." 17 Dennoch gab es Fortschritte in der Frage nach der Einheit. Es war vor allem die Gründung der „Church of South India", die für neue D y namik sorgen sollte. In dieser 1947 geschlossenen Kirchenunion war die Einheit aller Christen in der Region wichtiger als die Einheit mit den Mutterkirchen, aus denen die beteiligten Kirchen jeweils hervorgegangen waren. Einheit wurde in Anlehnung an reformierte Vorstellungen als Einheit am Ort verstanden. Dies sollte Frucht bringen. Wiederum in Indien, nämlich bei der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961, konnte der Ö R K erstmals ein Modell der Einheit formulieren, das sich eng an die Erfahrungen der Kirche von Südindien anschloss: „Wir glauben, daß die Einheit [...] sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort, die in Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden." 1 8

Ziel des Einigungsbestrebens sollte sein: Einheit an jedem Ort in organischer Union. Kirchen werden demnach dadurch geeint, dass sie gemeinsam ein Glaubensbekenntnis erarbeiten, Ubereinstimmung erzielen über die Sakramente und über das Amt, dass sie gemeinsam den Dienst der Verkündigung und der Diakonie vollziehen und dass sie sich 17 W. A. Visser't H o o f t , 1966, Ökumenische

Bilanz, Stuttgart, S. 111.

18 W. A. Visser't H o o f t (Hrsg.), 1962, Neu-Delhi

1961, Stuttgart, S. 130.

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eine gemeinsame Struktur geben, die es ihnen erlaubt, nach innen und nach außen als eine Kirche in Erscheinung zu treten. Von dieser ehrgeizigen Zielvorgabe war die Diskussion in den Jahren nach Neu-Delhi bestimmt. Man bemühte sich, diese Vision zu präzisieren und sie praktikabel zu machen. Die Vollversammlung des O R K 1968 in Uppsala entwickelte, nicht zuletzt durch das Konzil in Rom angeregt, die Vision einer „Konziliaren Gemeinschaft". Die Kirchen sollten „auf die Zeit hinarbeiten, wenn ein wirklich universales Konzil wieder für alle Christen sprechen und den Weg in die Zukunft weisen kann." 19 Damit war der Blick eröffnet hin auf die weltweite Ökumene. In Uppsala wurde die Katholizität als Wesensmerkmal der Kirche wiederentdeckt und konsequenterweise das Einheitsmodell von Neu-Delhi erweitert: „So möchten wir der Betonung von .allen an jedem O r t ' hier ein neues Verständnis der Einheit aller Christen an allen O r t e n hinzufügen. Das fordert die Kirchen an allen O r t e n zur Einsicht auf, daß sie zusammengehören und aufgerufen sind, gemeinsam zu handeln." 2 0

Ziel ist hier eine Kirche, die ihre Katholizität dadurch zum Ausdruck bringt, dass, wie man formulierte, die organisch geeinten Ortskirchen untereinander „konziliar" verbunden sind. Dies bedeutete keine Preisgabe des Modells der organischen Union, sondern es sollte das Verhältnis der Ortskirchen zueinander beschreiben. Diese sind selbständig, vielgestaltig, kontextuell von ihrer Kultur und den sozialen Gegebenheiten geprägt. Untereinander sind sie in einem Netz zwischenkirchlicher Beziehungen verbunden, das als „Konziliare Gemeinschaft" bezeichnet wird. „Organische Union, in der getrennte Denominationen eine einzige Körperschaft bilden, ist eine Art Tod, der die denominationeile Identität ihrer Mitglieder bedroht." 21 Die Vollversammlung 1975 in Nairobi hat in die Verfassung des O R K aufgenommen, „die Kirchen aufzurufen zu dem Ziel der sichtbaren Einheit im einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft." 22 Die Hoffnungen, die sich vor allem an der Vollversammlung in Neu Delhi festgemacht hatten, dass durch eine weitere Auffüllung der Ba19 Bericht aus Uppsala 68, Genf 1968, S. 14. 20 Bericht aus Uppsala 68, S. 14. 21 Bericht aus Nairobi 75, Frankfurt 1976, S. 30. In der weiteren Entwicklung wurde der Begriff der Konziliarität dann erweitert und auch auf das Zusammenleben innerhalb der Ortskirchen übertragen. Ursprünglich aber diente er zur Beschreibung des Verhältnisses der Ortskirchen zueinander. 22 A. a. O., S. 327.

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sisformel diese zu einem umfassenden Glaubensbekenntnis würde und durch den Beitritt weiterer Kirchen, vor allem der römischen Kirche, aus dem Rat vielleicht doch die una sancta werde, erwiesen sich als trügerisch. Als man verspürte, dass auf dem bisherigen Weg nicht so geradlinig würde fortgeschritten und über die theologische Arbeit allein die Einigung nicht durchgesetzt werden könnte, begann eine neue Richtung zu dominieren, die schlagwortartig mit dem Begriff „Säkularökumenismus" bezeichnet wird. Einheit der Kirche sollte durch gemeinsames Tun, besonders durch gemeinsames politisches Engagement realisiert werden. „Der Glaube trennt, die Praxis eint", lautete das Schlagwort. Diese Idee war nicht neu. Die Bewegung für Praktisches Christentum, eine der Wurzeln des O R K , hatte sich um Zusammenarbeit im sozialen Bereich und in der Verantwortung für die Welt gemüht. Nun wurde die „Theologie der Revolution" auch in der Ökumene relevant, im Zentrum der Verlautbarungen stand die Forderung nach Gerechtigkeit und der Protest gegen unterdrückerische und ausbeuterische Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen. „ D e r Christ ist darum gerufen, ein radikales N e i n zu den Machtstrukturen zu sprechen, die den Status quo verlängern und um den Preis der Ungerechtigkeit gegenüber seinen O p f e r n stärken. E r muß darum auch entsprechend handeln." 2 3

Die Frage der Einheit der Kirche trat in den Hintergrund und die Weltverantwortung dominierte, gemeinsames Tun erschien bedeutsamer als die Aufarbeitung überkommener Lehrdifferenzen, deren Gegenwartsbedeutung oft kaum noch erkannt wurde. J. B. Metz entwickelte das Konzept einer „indirekten Ökumene". Der Verständigung der Kirchen würde am besten gedient „durch die je eigene Auseinandersetzung der christlichen Kirchen und ihrer spezifischen Traditionen mit einem .dritten Partner', nämlich mit den Problemen und Herausforderungen der Welt von heute". Wenn sich die Kirchen diesen Herausforderungen stellen und „dies tun ohne Rücksicht auf die konfessionellen Differenzen und so handeln, ,etsi non darenturc"24, wächst ihnen eine Einheit zu, innerhalb derer die traditionellen Kontroversen gegebenenfalls „mitgelöst" werden. Doch auch aus ganz anderer Provenienz erhoben sich Rückfragen an das Modell von Neu Delhi und Uppsala. Die traditionellen Konfes23 Kirche und Gesellschaft 1966, zitiert nach R. Frieling, 1992, Der Weg des ökumenischen Gedankens, Göttingen, S.301. 24 J.B. Metz, 1969, Reform und Gegenreformation heute, Mainz, S.33, 37.

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sionen erschienen gegenüber der organischen Union als die eigentlichen Störenfriede, die es zu überwinden galt, damit Einheit werde. Dabei hatten sich die Konfessionskirchen vielfach zu Weltbünden zusammengeschlossen, von denen einige auf eine lange Geschichte und ein imponierendes Werk kirchlicher Einigung zurückblicken konnten. Sie hatten eine jeweils weltweite Gemeinschaft zwischen Kirchen gleichen Bekenntnisses verwirklicht. Sollte diese nun zugunsten neu zu konstituierender Einheit(en) am Ort preisgegeben werden? Wird hier die Einheit nicht geradezu atomisiert? Nicht zuletzt fruchtete die Anschauung des römischen Konzils, das eine lebendige Einheit über staatliche, kulturelle und ethnische Grenzen hinaus vor Augen führte. Vor allem aus lutherischer Sicht wurde Kritik am Modell der organischen Union laut. Widerspricht es nicht dem „satis est" von C A VII, wo eine institutionelle Einigung als nicht nötig bezeichnet wird? In dieser Kontroverse tauchte fast unvermittelt die Vorstellung einer „versöhnten Verschiedenheit" auf, die sich der Lutherische Weltbund bei seiner Vollversammlung 1977 in Dar-es-Salam zu eigen machte. Versöhnte Verschiedenheit will die überkommenen Besonderheiten der Konfessionen bewahren, doch sie sollen ihren trennenden Charakter verlieren. Insofern will versöhnte Verschiedenheit nicht bloße Koexistenz. Es wird nicht der Status quo legitimiert oder die Einheit unsichtbar. Zur Versöhnung gehören, wie der Lutherische Weltbund in Dares-Salam formulierte, die gegenseitige Anerkennung der Taufe und der kirchlichen Amter, die Herstellung eucharistischer Gemeinschaft und die Einheit in Zeugnis und Dienst. Dagegen ist nicht gefordert, dass die Kirchen gewachsene Traditionen aufgeben und eine einheitliche Institution bilden. Einheit soll dadurch werden, dass die Konfessionen trennende Hindernisse und gegenseitige Verwerfungen überwinden, sich gegenseitig anerkennen, nicht aber, dass sie sich in neu zu schaffende Einheiten auflösen. Ziel ist gegenseitige Anerkennung, nicht institutionelle Einheit. Damit änderte sich die ökumenische Fragestellung: Sie lautete nicht mehr, was ist nötig um die Einheit zu erklären, sondern was ist tolerabel für eine gegenseitige Anerkennung als christliche Kirchen? Denn nicht die Einheit, sondern die Trennung sei begründungspflichtig. So lange sich diese nicht als unabweislich und evident erweist, ist die Einheit der Kirche nicht zerstört. In zahllosen Konsens- und Konvergenzpapieren wurde die Uberwindung konfessioneller Kontroversen dadurch angestrebt, dass beide Vorstellungen als nicht gegenseitig ausschließend, sondern als aufeinander bezogen dargestellt werden, so dass sie in einem differenzierten Konsens nebeneinander bestehen können.

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Doch wenn sich unterschiedliche Positionen nicht miteinander versöhnen lassen? Heinrich Fries und Karl Rahner stellten die Frage, ob an Stelle einer (noch) nicht formulierbaren und möglichen Anerkennung gegebenenfalls schon eine „Urteilsenthaltung" hinreichend sein könne 25 . Der Deutsche Ökumenische Studienausschuss (DOSTA) entwickelte in einer Studie über Ökumenische Theoriebildung die Vorstellung von einer „Einheit in Gegensätzen". So wie der biblische Kanon Verschiedenheiten und Gegensätze umschließt, so sollte auch die Ökumene eine Einheit anstreben, in der Gegensätzlichkeiten und Widersprüche ihren legitimen Ort behalten. Ziel seien nicht Konsens oder Versöhnung, sondern „aus Verschiedenem und Gegensätzlichem den einen lebendigen Glauben zu vernehmen" 26 . Oscar Cullmann stellte in der Auseinandersetzung mit H. Fries und K. Rahner die Vorstellung von einer Einheit durch Vielfalt vor 27 , Erich Geldbach sprach von der „Ökumene in Gegensätzen" 28 und Hans-Martin Barth empfahl als Ausweg „Streiten verbindet" 29 : Man solle sich gegenseitig zugestehen, verschieden und gegensätzlich zu sein, und die Einheit im Prozess der Auseinandersetzung selbst suchen. Hier wurde als Lösung bleibender Probleme vorgeschlagen, sich nach dem Motto „We agree to differ" gegenseitig gerade in seiner Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit zu akzeptieren, Differenzen nicht zu überwinden, sondern sie anzunehmen und darin die Gemeinschaft zu erkennen. Konrad Raiser propagierte 1989 einen Paradigmenwechsel in der Ökumenischen Bewegung, demzufolge die Ökumene nicht mehr die Einheit anstreben solle, sondern eine Hausgenossenschaft, wie sich ja auch das griechische Wort oikos, Haus, im Ursprung des Begriffs „Ökumene" findet: „Hausgenossen sind gleichberechtigt und doch verschieden; sie schaffen sich das Haus nicht selbst, sondern werden eingegliedert, .hinzugetan'; auch die Schwachen, die Abhängigen, die Zweifelnden und Nicht-Engagierten gehören zum Haushalt Gottes als vollgültige Hausgenossen. Im einen Haus des Vaters gibt es viele Wohnungen und nicht nur eine verpflich25 H . Fries/K. Rahner, 1983, Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit, F r e i b u r g - B a s e l -

Wien. 26 Deutscher Ökumenischer Studienausschuß, 1988, Theologie der Ökumene - Ökumenische Theoriebildung, in: ÖR 37, S. 205-221, hier S.214. 27 O . C u l l m a n n , 1986, Einheit durch Vielfalt. Grundlegung und Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, T ü b i n g e n .

28 Bensheimer Hefte Nr. 66, Göttingen 1987, S. 129-177. 29 H . - M . Barth, 1983, „Alle eins" oder „Streiten verbindetin:

83, S. 474-477.

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tete Gemeinschaft. Hausgenossenschaft schließt volle Partizipation für alle Mitglieder des Haushaltes ein."30 Hausgenossenschaft verwirklicht sich dadurch, dass jede Ausgrenzung entfällt, trotz aller bleibenden Differenzen. Bei Raiser umschließt Hausgenossenschaft sehr wohl auch die klassischen Aspekte kirchlicher Einigung: Anerkennung der Taufe, Gemeinschaft im Wort und im Herrenmahl, Zusammenarbeit im Auftrag für die Welt. Aber die hier geforderte „Konvivenz", die Gemeinschaft im Leben, nicht in der Lehre, tendiert darauf hin, zu einer offenen Größe, einem „Haus ohne Wände" 31 zu werden. Im Anschluss an Gedanken von E. Levinas wurde nun die Forderung erhoben, Ökumene solle sich damit zufriedengeben, den Andern anders und den Fremden fremd sein zu lassen. Eine gewisse Verständigung wurde innerhalb des ORK durch den Begriff der Koinonia, Gemeinschaft möglich. Er hat zunächst den Vorteil, dass er auch in den Kirchen, die sich im ökumenischen Prozess eher als schwierig erwiesen, besondere Beachtung findet. Dies gilt zunächst für die römische Kirche, die sich im II. Vatikanum der Communio-Ekklesiologie geöffnet hatte. Die Orthodoxie konnte im Modell der Koinonia die altkirchliche Konzeption selbstständiger bischöflich verfasster Ortskirchen einschließlich dem Prinzip der Pentarchie erkennen. Der Anglikanismus versteht sich selbst als Gemeinschaft von Kirchen, als „anglican communion", und die reformatorischen Kirchen bis hin zu den Freikirchen und ihrer Schwerpunktsetzung auf die Ortsgemeinde vermochten hier ihr traditionelles Konzept von der Föderation unabhängiger Kirchen wieder zu entdecken. Trotz dieser Differenzen in der inhaltlichen Füllung war der Begriff „Koinonia" in den verschiedenen christlichen Traditionen heimisch. Er schien geeignet, die legitimen Verschiedenheiten der Kirchen positiv zu werten, so dass sie einer umfassenden Gemeinschaft nicht notwendigerweise entgegenstehen müssen. Das Modell der Koinonia setzte sich vor allem in den Vollversammlungen des ORK 1991, in Canberra 1993 und von Faith and Order 1993 in Santiago de Compostela durch. Dabei hat man sich sehr wohl davon abgesetzt, einfach den Status quo zu legitimieren, Koinonia bedeutet nicht „anything goes".

30 Κ. Raiser, 1989, Ökumene im Übergang, München, S. 160. 31 D. Ritsehl, in: ders.-R Neuner (Hrsg.), 1993, Kirchen in Gemeinschaft schaft der Kirche, Frankfurt a. M., S. 122.

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„Die Einheit der Kirche, zu der wir berufen sind, ist eine Koinonia, die gegeben ist und zum Ausdruck kommt im gemeinsamen Bekenntnis des apostolischen Glaubens, in einem gemeinsamen sakramentalen Leben, in das wir durch die eine Taufe eintreten und das in der einen eucharistischen Gemeinschaft miteinander gefeiert wird, in einem gemeinsamen Leben, in dem Glieder und Amter gegenseitig anerkannt und versöhnt sind, und in einer gemeinsamen Sendung, in der allen Menschen das Evangelium von Gottes Gnade bezeugt und der ganzen Schöpfung gedient wird."

Gemeinschaft ist nicht eine Legitimierung bestehender Trennung, sondern die gegenseitige Anerkennung in Wort, Sakrament und Dienst. Sie umfasst auch das Verhältnis zwischen Kirche und Welt, richtet sich also nach außen und wird in der Bemühung um die Verbesserung der Welt und in der christlichen Diakonie konkret. „ D a s Ziel der Suche nach voller Gemeinschaft ist erreicht, wenn alle Kirchen in den anderen die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche in ihrer Fülle erkennen können." 3 2

Als theologische Begründung wird die trinitarische Einheit in Gott angeführt, die als Bild für die Kirche dient. „Gott will die Einheit für die Kirche, für die Menschheit und für die Schöpfung, weil Gott eine Koinonia der Liebe ist, die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist." 33 Als Bild des trinitarischen Gottes hat die Kirche zum Zeichen der verheißenen Gemeinschaft der Menschheit und durch ihren konkreten Einsatz für die Welt zum Werkzeug für deren Verwirklichung zu werden. Bei aller Bemühung, Koinonia nicht in der Beliebigkeit verschwinden zu lassen, bleibt doch festzuhalten, dass die Vorstellung von der Einheit der Kirche im Verlauf dieser Diskussion im O R K immer offener und weniger verbindlich wurde. Ist dies das Ergebnis wachsender Toleranz und Anerkennung oder doch eher Frucht einer Resignation und Zeichen mangelnder Reflexion auf das, was Einheit der Kirche bedeuten kann?

32 Bericht aus Canberra

91, Frankfurt a. M. 1991, S. 174.

33 Die Botschaft ist veröffentlicht in ÖR 42 (1993), S. 476-479.

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4. Religionssoziologische Konsequenzen Diese Entwicklung des Einheitsverständnisses erfolgte nicht im leeren Raum. Sie muss vielmehr als Antwort auf den Prozess der Individualisierung und Ent-Institutionalisierung von Gesellschaft und Religion verstanden werden, der religionssoziologisch unter dem Begriff „Ausdifferenzierung" zusammengefasst wird. Was er beschreibt, hat eine sehr lange Vorgeschichte und Geschichte. Bis weit ins hohe Mittelalter war die Wirklichkeit als Ganze ein geistlich-weltlicher Kosmos, in dem alle Bereiche menschlichen Lebens aufgenommen waren und ihren Ort hatten, eine in sich geschlossene geistige Welt, in der der Kaiser von Gott legitimiert war und den Schutz der Christenheit garantierte. Er hatte selbstverständlich auch ein religiöses Amt inne. Und die geistlichen Würdenträger übten wichtige Funktionen auch im gesellschaftlich-weltlichen Bereich aus: Sie waren gleichzeitig weltliche Fürsten. Geistlicher und weltlicher Bereich waren noch nicht voneinander getrennt. Es gab nicht eine Kirche und neben ihr einen Staat, sondern die eine Christenheit, in der innerweltliche Dinge ganz selbstverständlich auch eine geistliche Dimension hatten, und religiöse Wirklichkeiten die Gesellschaft bestimmten und prägten. Diese Sicht der Christenheit zerbrach in der Gregorianischen Reform, Canossa ist das Stichwort. Papst Gregor VII. beanspruchte die Überlegenheit des geistlichen Bereichs über den weltlichen, des kirchlichen über den staatlichen. Und damit waren diese beiden Bereiche vom Ansatz her voneinander unterschieden: Die Kirche begann, sich als eine eigene Wirklichkeit herauszukristallisieren, die sich durch ihre Differenz zur Gesellschaft definierte. In der Kirche hatte der Klerus das Sagen, die Laien, insbesondere der Kaiser und die Fürsten, sollten in ihrem Einfluss so weit als möglich zurückgedrängt werden. Sie hatten ihren eigenen Bereich: die Welt, die nun begann, eine nur noch weltliche Welt, eine nicht mehr religiös bestimmte und getragene Welt zu werden. Die Gregorianische Reform führte durch die sicher ungewollte Freisetzung eines weltlichen Bereichs zu einem gewaltigen Modernisierungsschub. Dieser wurde in der Reformationszeit aufgegriffen und verstärkt durch Luthers Lehre von den zwei Reichen. Diese sind die beiden Formen, wie Gott die Welt regiert: auf der einen Seite durch die Fürsten, die das Schwert führen, auf der anderen Seite durch die Kirche, die das Evangelium verkündet und Gnade vermittelt. Diese beiden Formen der Regierung dürfen nicht vermischt oder verwechselt werden, sie sind streng voneinander zu trennen. Der weltliche Bereich ist damit

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eigenständig, unabhängig von religiösen Wirklichkeiten. Damit lebte nun jedermann in zwei Welten: in Staat und Kirche, und diese beiden gerieten immer häufiger in Konflikt. Wie sollte sich der Einzelne orientieren, wenn der Kaiser, dem er sich zum Gehorsam verpflichtet fühlte, exkommuniziert war? Seit der Reformation war auch der religiöse Bereich keine Einheit mehr, sondern begegnete in der Form sich ausschließender und gegenseitig exkommunizierender Kirchentümer. Zwar musste zunächst noch nicht der Einzelne wählen, die Entscheidung über die Konfessionszugehörigkeit traf der Landesherr für seine Untertanen. Aber es wurde für jedermann deutlich, dass nun die Sozialgestalt des Christentums in einander widersprechenden Formen auftrat. Nun war man nicht mehr einfachhin Christ, sondern man konnte es nur noch in einer bestimmten Entscheidung sein. Am Anfang der Reformation stand die bange Frage Luthers: „Wie finde ich einen gnädigen Gott?" Der Mensch erfuhr sich nicht mehr in einer vorgegebenen und ihn tragenden kirchlichen Ordnung und in ihr geborgen, sondern als Einzelner, dem sein Heil erst erschlossen werden muss. Er fühlte sich nicht mehr innerhalb eines vorgegebenen Sinnentwurfs, der Heil verbürgt, sondern ganz persönlich im Unheil, verworfen und der Erlösung bedürftig. In ganz neuer Weise wurde der Einzelne als das religiöse Subjekt entdeckt. Träger religiöser Wirklichkeit war nicht mehr die Kirche, die gottesdienstliche Gemeinde, sondern der einsam vor Gott stehende und um sein Heil zitternde Mensch. Die Kirche konnte das Heil nicht mehr gewährleisten oder es zumindest nicht mehr erfahrbar machen. Noch nicht bei Luther, sehr wohl aber im Gefolge seiner Problemstellung beginnt in der Entdeckung des Einzelnen als Subjekt seines Lebens die Neuzeit. Bis zur Reformation hatte die Religion das Fundament gebildet, durch das die Einheit der Gesellschaft hergestellt wurde. Spätestens seit den Religionskriegen konnte sie diese Funktion nicht mehr erfüllen. Sie führte zu Konflikten und Kriegen, sie musste darum aus der Öffentlichkeit verbannt werden, um das friedliche Zusammenleben der Menschen nicht ständig zu gefährden. Die Entkirchlichung unserer westlichen Welt ist nicht zuletzt eine Konsequenz der Kirchenspaltung. Die neue gemeinsame Basis, die nun die Menschen untereinander verband, war die Idee der Vernunft, die Ratio, die allen Menschen gemeinsam ist. Alle haben Teil an der gleichen Rationalität. Diese ist allgemeingültig, verpflichtend, für jedermann einsehbar und darum kommunikabel, etsi Deus non daretur, selbst wenn es Gott nicht geben sollte. Auf dieser Vernunft baut seit

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Hugo Grotius das gedeihliche Zusammenleben der Menschen in Krieg und Frieden auf 34 . Diese Ausdifferenzierung unterschiedlicher Bereiche in einer immer komplexer werdenden Welt hat auch die Form des Zusammenlebens der Menschen in der Neuzeit fundamental geprägt. Im 19. Jahrhundert bildeten für die meisten Menschen Familie, Wohnbereich, Arbeitsbereich, gesellschaftlicher Kontext und Kirchengemeinde noch eine Einheit. Im landwirtschaftlichen und häufig auch im handwerklichen Bereich wohnte und arbeitete die ganze Familie an einem Ort. Sie war integriert in die Dorfgemeinschaft, die gleichzeitig auch die Gottesdienstgemeinschaft bildete. Diese Einheit der Lebenswelten ist für die Mehrzahl der Menschen heute zerbrochen. Jeder hat seinen Arbeitsplatz, zu dem er fährt, Familie, Arbeits- und Wohnbereich sind unterschieden. Die Sozialkontakte bestimmt zumeist nicht mehr die Nachbarschaft, sondern das persönliche Interesse, der Verein; ein Schulbus bringt die Kinder zur Schule, Kirche ist nicht mehr im Dorf, sondern begegnet als Verbandspfarrei. Nun lebt jedermann zwangsläufig in unterschiedlichen Welten, die keineswegs zusammenpassen, in denen sogar unterschiedliche Kriterien herrschen für Wahr und Falsch, für Gut und Böse. Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich dieser Prozess der Ausdifferenzierung der Wirklichkeit nochmals erheblich beschleunigt. Man bezeichnet die Gegenwart gerne als „Postmoderne". Diese ist nicht einfach die Ablösung der Moderne durch eine neue Epoche, sondern ihre Radikalisierung, gleichsam ihre Rokokophase. Im Zentrum steht weiterhin das Problem der Subjektivität, die nun aber in eine Isolierung des Einzelnen umzuschlagen droht. Klassisch geworden ist die Beschreibung der Postmoderne als das unwiderrufliche Ende aller „großen Erzählungen" 35 und damit als das Zerbrechen der Kommunikation. Während in der Moderne wenigstens noch die Rationalität den Subjekten gemeinsam war und sie miteinander verband, scheint gerade diese in der Postmoderne zutiefst in Frage gestellt. Die Erfahrung, dass technischer Fortschritt in erster Linie dazu verwendet wurde, immer verheerendere Waffen zu entwickeln, dass er aber keineswegs die Mittel bereitzustellen vermochte, die deren Anwendung verhindert hätte, ließ den Fortschrittsoptimismus zerbrechen und führte zu einem verbreite34 H . Grotius, De iure belli acpacis, Prolegomena 11. 35 F. Lyotard, in: R. Weimann (Hrsg.), 1991, Postmoderne - Globale Differenz, furt a. M., S. 294.

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ten Misstrauen gegenüber der Ratio selbst. Das Wort „Wissenschaft" hat viel von seinem Glanz eingebüßt. Die Stimmen derer werden lauter, die die Rationalität verteufeln und fundamentalistischen Strömungen nachlaufen, die „mit dem Bauch" denken und neue Formen der Erkenntnis an die Stelle der Vernunft setzen wollen. Damit ist die Brücke gefährdet, die in der Moderne Subjekte verband und sie miteinander kommunizieren ließ. Rationalität konnte eine einsehbare Ordnung und damit Verbindlichkeit gewährleisten, durch ihre Infragestellung hat der Prozess der Subjektivierung eine ungeahnte Beschleunigung erfahren. Es zerbrechen heute nicht nur überkommene Ordnungen, sondern die Fähigkeit, Strukturen interpersonaler Kommunikation aufzubauen. Jeder ist sich selbst überlassen, muss sein Leben nicht nur selbst, sondern für sich allein aufbauen und hat keine Gewähr, dass andere seine Welt teilen. Die Folge ist eine fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft. In unseren Großstädten ist inzwischen mehr als die Hälfte der Haushalte von Singles bewohnt. Für Religion und Kirchen hat dieser Prozess einschneidende Konsequenzen. Die Aufsplitterung überkommener, verbindlicher Ordnungen hat den Einzelnen vor eine Fülle von Angeboten gestellt, sein Leben zu gestalten und zu deuten. Auch im religiösen Bereich steht jeder in der Situation des Marktes und muss wählen. Fast jeder hat Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die einer anderen oder auch gar keiner Konfession angehören. Verloren haben die Kirchen ihr Monopol in ethischen Fragen. Ihr Wort wird als Minderheitenvotum verstanden, das keineswegs Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erheben kann. Im Augenblick sind sie dabei, ihr Monopol in Sachen Religion zu verlieren. Die östlichen Religionen üben auch im Westen eine gewaltige Faszination aus. Und manchmal könnte man fast den Eindruck gewinnen, die Religion der Postmoderne sei die Esoterik. Jede große Buchhandlung führt ganze Abteilungen für Esoterik; Christentum und Kirche sind dagegen zumeist nicht im Sortiment. Die Postmoderne ist keineswegs säkularisiert, ganz im Gegenteil. Aber jeder kann seine Religion nach Wahl aussuchen und zusammenstellen. Nicht das vorgegebene verbindliche Credo ist gefragt, sondern die freie Mischung und Zusammensetzung nach persönlichem Geschmack. Die Kirchen und ihre Bekenntnisse und ihr Anspruch auf Wahrheit und Verbindlichkeit treffen dagegen auf massives Misstrauen. Religion ist in, sie hat im Gefolge verbreiteter Beliebigkeit und Rationalitätsfeindlichkeit sogar wieder Konjunktur. Aber diese Religion stellt kaum den Anspruch auf Wahrheit und überindividuelle Verbindlichkeit. Sie soll Spaß machen

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und im konkreten Einzelfall helfen. In der Krise stecken nicht Religion und Religiosität, sehr wohl aber die Kirchen und damit auch die verfasste Ökumene.

5. Die ökumenische Herausforderung Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend schwieriger, die überkommenen Zielvorstellungen ökumenischer Gemeinschaft festzuhalten. Differenzen religiöser Uberzeugungen erscheinen heute weithin nicht mehr als Stein des Anstoßes und als Ärgernis, sondern als Normalfall religiöser Existenz. Einheit und Gemeinschaft sind dann nicht anders denkbar, denn als in der Anerkennung unterschiedlichster Praktiken und Vorstellungen. Abweichungen vom Credo der Kirche werden kaum als Glaubenszweifel empfunden, sondern mit der Freiheit eines Christenmenschen begründet. Und selbst Versatzstücke aus asiatischen Religionen und esoterische Praktiken werden bis in die Kerngemeinden hinein rezipiert. Zu überwinden sind demnach nicht die Differenzen in den Glaubensaussagen, sondern die Kritik an ihnen und die gegenseitigen Verwerfungen. Die „versöhnte Verschiedenheit", die heute weithin als ökumenisches Ziel angesehen und propagiert wird, gilt als längst verwirklicht. Angesichts der erfahrenen Einheit erscheinen überkommene Lehrdifferenzen bedeutungslos und sinnlos. Ökumene soll nicht neue Konsenspapiere formulieren, sondern sich an bestehender Vielfalt freuen und sie als Reichtum erkennen und fruchtbar machen. Die herkömmliche Ökumene mit ihrer Bemühung, theologische Differenzen zu überwinden, kann sich angesichts dieses Lebensgefühls nur schwer verständlich machen. Die Forderung nach „voller Einheit" 36 , trifft dann weithin auf Unverständnis. Beim Kirchentag dominierte die Uberzeugung, dass Einheit bereits Wirklichkeit sei. Was sollte noch fehlen, wo man sich doch im Geschehen des Kirchentages selbst, in der Bemühung um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, im gemeinsamen Bekenntnis und Gebet über alle Konfessionsgrenzen hinweg so prächtig verstand? Tatsächlich birgt die Problematik der Zielvorstellung heute neue Belastungen für die Ökumene, derzeit sind „die unterschiedlichen Vorstellungen von der Einheit der Kirche vielleicht das größte Hindernis 36 Diese Forderung erhob Papst Johannes Paul II in der Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (17. April 2003), Nr. 44 und 45.

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für die Einheit der Kirche" 37 . Die evangelische Seite sieht in der katholischen Forderung nach „voller Einheit" und deren Sichtbarkeit im kirchlichen Amt nicht selten das Verlangen einer Rückkehr nach Rom, gegebenenfalls gar von Herrschaftsansprüchen im Sinne eines Bonifaz VIII. und seiner Bulle unam sanctam. Kann es Rom ehrlich meinen mit seinen ökumenischen Beteuerungen, oder sind diese nicht doch nur die Fortsetzung der Gegenreformation mittels ökumenisch klingender Begriffe? Katholischerseits erblickt man dagegen im Verlangen nach Gemeinschaft im Herrenmahl bei bleibender - oder sich gar verstärkender - konfessioneller Abgrenzung oft den Versuch, das lutherische satis est in einer anti-institutionellen Interpretation zum alleinigen Modell der Einheit zu erheben. Dann erscheint die evangelische Vorstellung von einer „versöhnten Verschiedenheit" lediglich als die lutherische Parallele zur katholischen Forderung nach einer „Rückkehr nach Rom". In beiden Fällen wäre das jeweils konfessionsspezifische Einheitsmodell zum alleinigen Maßstab erhoben. Allerdings kommt das lutherische Konzept dem derzeitigen religiösen Empfinden weithin entgegen und kann darum fast populistisch eingesetzt werden, während das katholische angesichts der Individualisierung und Differenzierung der religiösen Welt oft kaum vermittelbar ist. Was ist not zur Einheit der Kirche? Einheit besagt nicht ein Herrschaftsverhältnis oder eine numerische Singularität, sondern die Wahrheit und die Identität einer Wirklichkeit mit sich selbst. Kirche ist dadurch eins, dass sie Kirche ist, und wo immer Kirche sich verwirklicht, dort ist auch ihre Einheit. Diese hängt zunächst an ihrer göttlichen Stiftung und Vorgegebenheit, nicht an ihrer organisatorischen Gestalt. Einheit ist Qualitätsmerkmal, nicht zahlenmäßige Einsheit. Wo immer Kirche verwirklicht wird, ist sie eins, mit all den Konsequenzen die dies impliziert, auch für die Gemeinschaft im Herrenmahl. Das Kirchesein wird in der katholischen Theologie den orthodoxen Kirchen des Ostens nicht abgesprochen, und auch die reformatorischen Gemeinschaften des Westens werden im Konzil als „Kirchen und kirchliche Gemeinschaften" bezeichnet, wobei es das Konzil bewusst offen gelassen hat, die Differenz zwischen „Kirchen" und „kirchlichen Gemeinschaften" inhaltlich zu umschreiben38. Insofern sie Kirchen sind, ist in ihnen die Einheit realisiert, die Kirche zur Kirche macht. 37 So R. Frieling, 1992, S . 2 5 7 .

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Das satis est und das nec necesse est von C A VII, an denen sich in den vergangenen Jahrzehnten so viele Kontroversen entzündet haben, wurden in der Confutatio, der Gegenschrift der Altgläubigen auf die Confessio Augustana 39 , nicht kritisiert. In diesen Aussagen sahen auch die Vertreter der päpstlichen Partei 1530 in Augsburg keinen Verstoß gegen die Lehre von der Kirche und ihrer Einheit. Es ist auch nach ihrer Uberzeugung genug für die Kirche und ihre Botschaft, dass das Evangelium recht gelehrt und die Sakramente stiftungsgemäß gespendet werden. Dies zeigt, dass das satis est von beiden Seiten nicht als Reduktionsformel verstanden wurde, sondern als Aussage über eine Konzentration auf die Mitte, auf das Zentrum der Botschaft, auf das, was sie in ihrem Wesen konstituiert und von ihrem Gegenteil unterscheidbar macht. Abweichungen von der rechten Verkündigung werden durch das satis est von C A VII keineswegs legitimiert und entschuldigt, spielerisches Ausprobieren in konsequenzenloser Beliebigkeit und Konturlosigkeit ist der Reformation völlig fremd. Das satis est besagt die Botschaft von der Rechtfertigung als Mitte und Kriterium des Glaubens, es meint keineswegs ein „anything goes". Wo aber die Botschaft von der Rechfertigung gelehrt und geglaubt und im Sakrament zeichenhaft vollzogen wird, dort ist Kirche verwirklicht. Mehr darf zu ihrer Einheit nicht gefordert werden. Das Wort des Ökumenismusdekrets des II. Vatikanums von der hierarchia veritatum ist ebenso als Konzentrationsformel zu verstehen. Es beschreibt die Mitte, gleichsam die Kurzformel des Glaubens, von der aus sich alle Einzelaussawn entfalten und von denen her sie interpretiert werden müssen. Damit ist nicht gesagt, die Einheit sei unsichtbar und auf institutioneller Ebene dürfe alles bleiben wie es ist, einschließlich der gegenseitigen Verwerfungen. Schon die Vollversammlung des ORK 1975 in Nairobi hat die sichtbare Einheit als Ziel in seine Verfassung aufgenommen. Wie aber wird Einheit der Kirche sichtbar? Zunächst durch Wort und Sakrament, die im magnus consensus gehört und gefeiert werden. Einheit ist Einheit der Ortskirche im Vollzug von Verkündigung, Gottesdienst und Diakonie. Dabei steht sie mit allen Ortskirchen und der Kirche zu allen Zeiten in Gemeinschaft. In der Konsequenz gehört auch die Gemeinschaft im Amt zur Sichtbarkeit der Einheit, denn Wort 38 P. Neuner, 2001, Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, in: M.J. Rainer (Hrsg), „Dominus Iesus", Münster-Hamburg-London, S. 196-211. 39 H. Immenkötter (Hrsg.), 1979, Der Reichstag zu Augsburg und die Confutatio, Münster.

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und Sakrament haben eine personale Zuspitzung. Es bedarf des Dienstes an Wort und Sakrament, dass Kirche Kirche ist und bleibt. Das Amt ist Zeichen der Apostolizität ihrer Botschaft, es symbolisiert die U n verfügbarkeit des Heils, das Gegenüber von Geben und Empfangen, von Verkünden und Hören. Amt zeigt, dass der Glaube empfangen, nicht gemacht wird, dass er geschenkt ist und wir nicht über ihn verfügen können. Als Dienst an Wort und Sakrament und insofern an der Einheit ist das A m t nach katholischer Lehre für die Identität der Kirche unverzichtbar. Aber es ist nicht ein Drittes neben Wort und Sakrament, so dass es durch eine eigene disziplinäre Gewalt über Drinnen und Draußen entscheiden und verfügen könnte. Das kann auch die evangelische Theologie mitvollziehen, wenn sie im recht verstandenen satis est das Amt impliziert sieht. Der Dienst des Amtes wäre missverstanden, wenn der Gehorsam gegenüber Papst und Bischöfen zu einem in sich stehenden zusätzlichen Kriterium für die Einheit der Kirche würde. Wenn es dagegen gelingt, das Amt in der Kirche als Dienst an Wort und Sakrament und insofern an der Einheit erfahrbar zu machen, wird sich der hässliche Verdacht zerstreuen, im Grunde stellten die Katholiken zusätzliche Bedingung des Heils auf und forderten letztlich - gegen alle Beteuerungen - doch die Rückkehr nach R o m . Wenn das Amt zur Einheit der Kirche gehört, bedeutet das nicht, dass auch alle seine Ausgestaltungen verbindlich sind. Sie sind jeweils historisch gewachsen, antworten auf konkrete Herausforderungen, oft auf häretische Sondertraditionen im Umkreis der Gnosis. Die Antworten, die darauf in der Entfaltung der Amtsstrukturen gegeben wurden, waren legitim, sie können auch in der Folge nicht einfach als überholt abgetan werden. Aber damit ist nicht gesagt, dass sie die einzig mögliche und legitime Reaktion darstellen, dass andere Entwicklungen, die sich in der orthodoxen und der westlich-katholischen Tradition nicht durchgesetzt haben, von vornherein die Einheit der Kirche zerstören müssten. Vielmehr gilt: Wenn das Amt der Verkündigung der rechten Botschaft und der Spendung der Sakramente dient, sollte das genug sein für seine Anerkennung. Zusätzliche Bedingung für das Kirchesein und für ihre Einheit ist es nicht. Insofern ist das lutherische satis est unverzichtbar. Die gemeinsame kritische Reflexion auf das, was den Kern der christlichen Botschaft ausmacht, was der Kirche ihre Identität verleiht und sie von ihrem Gegenteil unterscheidet, was also die Kirche eins und eine sein lässt, ist heute angesichts verschwimmender Grenzen mehr denn je gefragt. Wenn das kirchliche Amt in der Vielfalt seiner

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konfessionellen Ausprägungen dieser Aufgabe dient, sollte es möglich sein, es als Dienst an der Wahrheit und damit der Einheit der Kirche anzuerkennen.

Zeugnisse fremder Erfahrung und die Unvertretbarkeit der eigenen Lebensgeschichte Versuch, einen neutestamentlichen Text mit den Augen des Philosophen zu lesen RICHARD SCHAEFFLER

„Was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen haben, was wir geschaut und mit eigenen Händen betastet haben, rings um den L o g o s des Lebens, [...] das bezeugen und verkünden wir euch, [...] damit ihr Gemeinschaft mit uns habt, damit aber unsere Gemeinschaft zugleich die mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus sei." (1 Joh,

1,1-3)

Die Worte, die programmatisch an den Anfang des Ersten Johannesbriefs gesetzt sind, beschreiben nicht nur Charakteristika der christlichen Glaubensverkündigung, sondern, darin eingeschlossen, gemeinsame Merkmale jeden religiösen Sprechens, ja menschlicher Rede überhaupt. Sie können deswegen auch mit den Augen des Philosophen gelesen werden und bieten ihm dann einen Leitfaden, um wichtige Themen und Fragestellungen der Philosophie im Allgemeinen und der Religionsphilosophie im Besonderen zu entdecken.

1. Themen und Probleme einer Philosophie des Dialogs Bei einer solchen philosophischen Betrachtung lassen sich den eingangs zitierten Worten aus dem Ersten Johannesbrief Hinweise auf Themen und Probleme einer allgemeinen Theorie des Dialogs entnehmen: Menschliche Rede spricht von den eigenen Erfahrungen des Sprechers. Auch scheinbar abstrakte Aussagen bleiben durch diese konkrete Lebenserfahrung bestimmt, bis hinein in deren Leibhaftigkeit, kraft derer

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der Sprecher das, wovon er spricht, „gehört, gesehen, mit eigenen Händen getastet" hat. Aber solche Erfahrungen können bezeugt werden, weil die Vielfalt der Wahrnehmungen zugleich ein identisches Thema „umkreist". (Die griechische Vokabelperi, durch die das Thema der jeweils folgenden Rede angezeigt wird, lässt im Unterschied von den deutschen Ausdrücken „von" bzw. „über" jenes Moment des „Umkreisens" erkennen, vermöge dessen unterschiedliche Inhalte des Erkennens sich auf die gleiche Sache beziehen.) Was hier umkreist wird, ist ein „Logos" (im speziellen Fall des Johannes der „Logos des Lebens"). Dieser zeigt einen eigentümlichen Doppel-Aspekt: Er ist der eine Logos der Sache, der sich in der Unterschiedlichkeit der Weisen ausspricht, wie sie dem Erfahrenden begegnet; und er kann deswegen zum Logos des Sprechers werden, durch den dieser sich an einen Hörer wendet. Der Sprecher gibt den Logos der Sache als sein eigenes Wort an den Hörer weiter. Das Ziel dieser Weitergabe ist deswegen zweifältig: Zunächst stiftet das gesprochene Wort eine Gemeinschaft zwischen dem Sprecher und seinen Hörern („damit ihr Gemeinschaft mit uns habt".) Sodann aber soll der Hörer erfassen, dass im Wort des Sprechers ihm zugleich der Logos der Sache weitergegeben wird; in einer Verallgemeinerung des zitierten Wortes könnte man, wenn man den Text rein philosophisch liest, sagen: „damit aber unsere Gemeinsamkeit zugleich die mit der Wirklichkeit sei, von der ich spreche". (Bei Johannes ist es die Wirklichkeit Gottes selbst und seines Sohnes Jesus Christus.) Der Sprecher will nicht nur von sich selber sprechen, obwohl seine Erfahrung auf unverwechselbar individuelle Weise die seine gewesen ist. Deshalb lädt er auch den Hörer nicht nur zur Gemeinschaft mit seiner Person ein, so unentbehrlich diese interpersonale Gemeinschaft auch ist, wenn ein Dialog zustande kommen soll. Dieser Doppelaspekt der Gemeinschaft von Sprechern und Hörern ist auch den Philosophen bekannt: Diese Gemeinschaft soll, nach einem Wort aus Piatons „Siebtem Brief", zur „langdauernden Gemeinsamkeit des Lebensvollzuges" (πολλή συνουσία) werden, die sich „im Umkreisen der Sache selbst" (περί αυτό τό πράγμα) konstituiert. Diese Gemeinsamkeit des Lebensvollzuges aber hat, wie an Piatons Dialogen exemplarisch studiert werden kann, dialogischen Charakter. Hörer werden ihrerseits zu Sprechern und haben dem, der ihnen zuerst den Logos zugesprochen hat, antwortend ihr eigenes Wort zu sagen. Das gilt auch für diejenige Gemeinschaft, von der im Ersten Johannesbrief die Rede ist: Sie besteht aus Menschen, die sich „rings um den Logos des Lebens" zusammenschließen.

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Folgt man auf solche Weise dem Hinweis, der aus der zitierten Stelle des Johannesbriefes zu entnehmen ist, dann stellen sich erste Fragen: Wie wird in der Vielheit der Wahrnehmungs-Inhalte („was wir gehört, gesehen und mit eigenen Händen getastet haben") die Einheit des Logos vernehmbar, der weitergegeben werden kann? Wie verhält sich das Wort, das der Sprecher aufgrund seiner individuellen Erfahrungen spricht, zu jenem Logos der Sache selbst, den der Hörer, der die entsprechenden Erfahrungen nicht gemacht hat, vernehmen soll? Welche Form der Rede ist dazu tauglich, dem Hörer deutlich zu machen, dass der Sprecher nicht von sich selbst, sondern von der Sache sprechen will? Von welcher Art ist die Antwort, die der Hörer auf den ihm weitergegebenen „Logos der Sache" geben kann? W e verhält sich die Gemeinschaft des Sprechers mit seinen Hörern zu jener Gemeinschaft, in der beide sich „im Umkreisen der Sache selbst" nicht nur untereinander, sondern mit dieser Sache verbinden?

2. Erste Hinweise auf Antworten für eine spezielle Theorie des religiösen Dialogs Für eine Theorie des Dialogs im Allgemeinen enthält die zitierte Bibelstelle, wie sich gezeigt hat, wichtige Hinweise auf Themen und Probleme. Für eine Theorie des speziell religiösen Dialogs enthält sie schon erste Antworten auf diese Fragen. Die ersten Worte dieser einleitenden Passage aus dem Ersten J o hannesbrief enthalten die Themen-Angabe: „Was von Anfang an war". Man kann diese Formulierung rein biographisch verstehen. Der Verfasser will das, was er gehört, gesehen und ertastet hat, bis zu seinen frühesten einschlägigen Wahrnehmungen zurückverfolgen. Beachtet man jedoch, dass er sich - mag er nun mit dem Verfasser des JohannesEvangeliums identisch sein oder nicht - in die johanneische Tradition einordnet, dann wird man das „Von Anfang an" des Briefes in eine Beziehung zu dem „Im Anfang" des Evangeliums setzen dürfen. Dies vorausgesetzt, wäre nicht nur vom biographischen Anfang die Rede, sondern vom absoluten Anfang, freilich mit einer bezeichnenden Abwandlung. Das „έν άρχή" des Evangeliums spricht von einem Anfang, der der Schaffung der Welt vorausliegt; das ,,άπ' αρχής" des Briefes von dem, was „von diesem Anfang her" geschehen ist und zum Inhalt menschlicher Wahrnehmung werden konnte. Entsprechend spricht das Evangelium von dem Logos, der vor aller Zeit „bei Gott war", der

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Brief von dem Logos, der als „λόγος ζωής" inmitten der Zeit an die Menschen ergangen ist. Für die oben gestellte Frage, wie in der Vielfalt der akustischen, optischen und haptischen Wahrnehmungen, von denen der Verfasser berichten will, die Einheit eines Logos vernehmbar wird, den er an seine Adressaten weitergeben kann, lässt sich an dem zitierten Text ablesen: Die Vielfalt der Wahrnehmungsinhalte schließt sich zur Einheit zusammen, sofern erkannt wird, dass sie „vom Ur-Anfang her" (άπ' αρχής) jene Bedeutung empfangen, der als ihr Logos verstanden und weitergesagt werden kann. Was „im Anfang war" (έν αρχή ήν) ist im wörtlichen Sinne das „Apriori", das, von diesem Urbeginn her ankommend (άπ' άρχής), alle Inhalte der Wahrnehmung bestimmt und ihnen den Kontext vorzeichnet, innerhalb dessen sie Gültiges sagen und deshalb zu Inhalten objektiv gültiger Erfahrung werden. In der Terminologie der Religions-Phänomenologie gesprochen: Die „Archaiologia", die Rede von den Ursprüngen, ist die adäquate Auslegung, die geeignet ist, religiöse Wahrnehmungen in religiöse Erfahrungen zu transformieren. 1 Inhaltlich ist der Logos, der in der so verstandenen religiösen Erfahrung vernommen wird, der „Logos des Lebens" (λόγος ζωής), weil in den konkreten Inhalten dieser Erfahrung jene Entscheidung des Heiligen (jenes „Nutum" des „Numen") abbildhaft wirksame Gegenart gewinnt, die „im Anfang" geschah und, als Entscheidung für das Leben und gegen den Tod, alles Irdische in seiner Kontingenz hervorgebracht hat. Seiner Form nach hat dieser Logos die zweifache Gestalt des Zeugnisses und der wirksamen Botschaft (μαρτυροϋμεν και καταγγέλομεν): des Zeugnisses von dem, was dem religiösen Sprecher in der leibhaften Konkretheit seines Hörens, Sehens und Tastens widerfahren ist, und der wirksamen Botschaft, in welcher er den Logos seiner Erfahrung dem Hörer bzw. Leser als die auch an ihm wirksame Lebenskraft zuspricht. Dabei ist der Doppel-Ausdruck „bezeugen" und „als Bote verkünden" die grammatische Form, die die Funktion religiösen Redens erkennen lässt. Als Zeuge ist der Sprecher unvertretbar und spricht aus, was in dieser Form kein anderer sagen könnte. Sprachanalytiker pflegen deswegen zu betonen: Das „commitment", das persönliche Eintreten für das Gesprochene, sei für die religiöse Rede konstitutiv. Aber indem der Sprecher das Gehörte, Gesehene und Betastete nicht für sich behält, sondern vor anderen bezeugt, macht er deutlich, dass das, was 1 Vgl. Schaeffler, Richard, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit,

S. 454ff.

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ihm widerfahren ist, nicht nur ihn „meint", sondern einen Anspruch enthält, der sich auch an Andere richtet und ihrem Urteil als Maßstab des Wahren und Falschen dienen soll. So erzählt auch der Zeuge vor Gericht zwar von dem, was er erlebt hat und wovon der Gerichtshof ohne diese Aussage des Zeugen nichts wissen könnte. Aber zugleich „bringt er an den Tag", was seine Hörer, in diesem Falle vor allem die Richter, zum wahren Urteil befähigen soll. Aber indem der Zeuge seine Hörer auffordert, über die in Rede stehende Sache ein wahres, d. h. sachgemäßes Urteil abzugeben, wird er, unbeschadet seiner Unvertretbarkeit, zum selbstlosen Boten, der nicht sich selbst, sondern „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" zur Geltung bringt. Das gilt nicht nur vom forensischen, sondern auch vom religiösen Zeugen und Boten; und es gilt in diesem Zusammenhang sogar in ausgezeichnetem Maße. Der Sprecher gibt als Zeuge den Anspruch der Wirklichkeit, der er begegnet ist, an seine Hörer weiter und spricht damit zugleich des wirkende Wort einer Botschaft aus, die die Hörer zu ihrer Antwort erst fähig macht. Der Bote (άγγελος) gibt nicht nur Kenntnisse weiter, die er durch sein Hören, Sehen und Tasten erworben hat, sondern sagt an (καταγγέλει), was durch ein Leben schaffendes Wort (λόγος της ζωής), das ihm anvertraut ist, an seinen Hörern wirksam werden soll. Fragt man nun nach der Art der Gemeinschaft zwischen Sprechern und Hörern, die durch die Doppelfunktion des religiösen Wortes als Zeugnis und als Botschaft gestiftet wird, dann ist die leitende Intention des Verfassers unserer Bibelstelle darauf gerichtet, diese Gemeinschaft von Sprechern und Hörern nicht als Selbstzweck erscheinen zu lassen, sondern als die Erscheinungsgestalt der Gemeinschaft mit Gott, die beide gemeinsam gewinnen. Will man über die Art, wie die menschliche Gemeinschaft dieser Aufgabe dient, Näheres erfahren, dann muss man sich bei anderen Verfassern neutestamentlicher Schriften umsehen. Dann erhält man eine zweifache Auskunft: In der Einleitung zu seinem Brief an die Römer beschreibt Paulus seine Aufgabe zunächst als ein einseitiges „Festigen" oder „Starkmachen", korrigiert sich aber sogleich und spricht von einem gegenseitigen „Haltgewinnen", „...damit ich euch etwas von der Gnadengabe mitteile und euch festige, d. h. damit wir gemeinsam Halt gewinnen an der Gegenseitigkeit des Glaubens, des euren und des meinen" (Rom 1,1 lf). Und im Ersten Brief an die Korinther prägt er das Stichwort vom „Hausbau". „Ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Haus" (1 Kor 3,13). In späteren Schriften des Neuen Testaments wird dieser Hinweis zum Bild vom „Tempel aus lebendigen Steinen" entfal-

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tet. „Lasset euch gemeinsam aufbauen zur Wohnstätte Gottes im Geiste" (Eph 2,22). „Als lebendige Steine sollt ihr auf ihn [Christus den Grundstein] aufgebaut werden zu einem Haus [Tempel] von geistgewirkter A r t " (1 Petr 2,5). Die Gemeinsamkeit von Sprechern und H ö rern des religiösen Wortes erreicht ihr Ziel nur in der Gegenseitigkeit von Wort und Antwort. Und das „Festwerden" und „Haltgewinnen", das in solcher Gegenseitigkeit zustande kommt, lässt jenen festgefügten Bau entstehen, der als „Tempel", als O r t der Gegenwart Gottes in der Welt, verstanden werden darf. D e r Verfasser des Ersten Johannesbriefes beschreibt die Gemeinschaft des religiösen Sprechers mit seinen Hörern als jene Gemeinsamkeit unter Menschen, die zugleich die E r scheinungsgestalt der Gemeinschaft mit Gott ist, „damit ihr Gemeinschaft mit uns habt, damit aber unsere Gemeinschaft zugleich die mit

dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus sei". Was er auf solche Weise beschreibt, wird von anderen Autoren des Neuen Testaments als Zusammenfügung lebendiger Steine zu einem O r t der göttlichen Gegenwart gedeutet. In der Terminologie der „Allgemeinen Semiotik" lässt sich dieser Befund so ausdrücken: Die Grammatik des religiösen Wortes ist „Archaiologia"; diese macht das Wahrgenommene begreiflich, indem sie darin die Gegenwartsgestalt der alles bestimmenden „Arche" erkennen lässt. Seiner Semantik nach ist das religiöse Wort „Wort des Lebens", weil „im Anfang" die Entscheidung für das Leben und gegen den Tod gefallen ist, und weil „vom Anfang her" diese Entscheidung in immer neuen Gestalten „wiederkehrt". Die Ankunft des Sohnes in unserer Welt schließt diese Reihe der Gegenwartsgestalten dieses „im Anfang" gesprochenen Logos ab und bringt alle früheren Gegenwartsgestalten in ihre Fülle. Seiner Pragmatik nach aber ist das religiöse Wort in seiner Doppelgestalt als Zeugnis und als wirksame Botschaft „Tempelbau", weil die dialogische Gemeinschaft von Sprechern und Hörern den O r t bereitet, an dem „der Name w o h n t " , d. h. an dem das Heilige als gegenwärtig erfahren, wiedererkannt und beim Namen gerufen werden kann.

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3. Neue Perspektiven für eine allgemeine Theorie des Dialogs ? Am Ende des ersten Abschnitts der hier vorgetragenen Überlegungen sind Fragen formuliert worden, die die allgemeine Theorie des menschlichen Sprechens betrafen. Im zweiten Abschnitt wurden aus einer Stelle im Neuen Testament Antworten entnommen, die die spezielle Theorie religiösen Sprechens betrafen. Nun soll gefragt werden, ob diese speziellen Antworten auch neue Perspektiven für eine allgemeine Theorie des dialogischen Wortes eröffnen.

3.1 Von der Vielfalt der Wahrnehmungen zur Einheit des Logos oder: Ein neues Verständnis des Apriori? Die erste der eingangs gestellten Fragen lautete: Wie wird in der Vielheit der Wahrnehmungs-Inhalte („was wir gehört, gesehen und mit eigenen Händen getastet haben") die Einheit desjenigen Logos vernehmbar, der weitergegeben werden kann? Transzendentalphilosophisch gefragt: Wie finden wir von der Wahrnehmung zum Begriff, der geeignet ist, subjektive Erlebnisse in Inhalte objektiv gültiger Erfahrung zu transformieren? Denn nur dieser objektive Bedeutungsgehalt ist es, der anderen, die die entsprechende Erfahrung nicht gemacht haben, mitgeteilt werden kann. Dabei macht der gesuchte Begriff die Wahrnehmung nicht überflüssig, sondern legt sie auf ihren Bedeutungsgehalt hin aus. Es gilt zu sehen, wie die Vielfalt des Wahrgenommenen, gerade in seiner Divergenz, die Einheit eines mit sich selber übereinstimmenden Logos erkennen lässt (διαφερόμενα ομολογεί έαυτω - Heraklit Β 51). Dieser Logos ist es, der zuerst den Sprecher, dann seinen Hörer unter seinen Anspruch stellt. Die religiöse Rede, so hat sich gezeigt, findet diesen Logos in der besonderen Gestalt der „Archaiologia"; das Wahrgenommene „spricht", indem es auf das verweist, was „im Anfang war"; und es kann darauf verweisen, weil alles Wahrnehmbare in dem, was es ist, „von diesem Anfang her" in seinem Wesen und Dasein verstanden werden muss. Das „Vom-Anfang-her" (άπ' αρχής) ist im wörtlichen Sinne das „Apriori" des religiösen Begreifens. Kann aus diesem speziell religiösen Verständnis des „Apriori" etwas für eine allgemeine Theorie des Verhältnisses von Wahrnehmung und Begriff gelernt werden?

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Zunächst und vor allem wohl dies: Die Bemühung, das Wahrgenommene „auf den Begriff zu bringen", muss nicht in jedem Falle darauf gerichtet sein, vom Zeitlichen zum Ewigen aufzusteigen und den Anschein der Kontingenz der Erscheinungen durch Einsicht in ihre Notwendigkeit zu beseitigen. Das ist das Ziel des spezifisch wissenschaftlichen Begreifens: Dieses will zeigen, dass das scheinbar Kontingente in Wahrheit „so ist und geschieht, wie es sein und geschehen muss". Das religiöse Begreifen dagegen findet im Wahrgenommenen die Erscheinungsgestalt einer „im Anfang" gefällten freien Entscheidung einer Willensmacht (das „Nutum" eines „Numen") und wahrt so dem, was sich in der Wahrnehmung zeigt, seine wesentliche Kontingenz. Dann lässt sich fragen: Ist ein solches Begreifen nur im religiösen Zusammenhang möglich? Oder öffnet sich hier auch für eine allgemeine Theorie, die das Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff bestimmen will, eine neue Möglichkeit? Gibt es auch in ganz profanen Zusammenhängen ein Apriori, das erzählt werden kann? Vermutlich wird es sich im profanen Kontext nicht um „Archaiologien" handeln, die von dem berichten, was vor aller erfahrbaren Zeit geschehen ist; wohl aber wird es sich um ein Erzählen handeln, das davon berichtet, wie jene Bedingungen möglicher Erfahrung zustandegekommen sind, die die jeweils konkrete, historisch variable Gestalt unseres Erfahrens bestimmen und deshalb „je früher" sind als diese jeweilige Erfahrungsart. Auch die spezifisch wissenschaftliche Empirie erwiese sich bei solcher Betrachtung als eine bestimmte, historisch konkrete Weise, den „Logos der Dinge" zu vernehmen; und auch das Apriori dieser Art von Erfahrung müsste aus einer erzählbaren Geschichte begriffen werden. Die Wahrheit der Dinge, ihre Maßgeblichkeit für unser Urteil, müsste dann als die vorantreibende Kraft einer solchen Geschichte beschrieben werden. Und es wäre immer die Wahrnehmung in ihrer Kontingenz und Unvorhersehbarkeit, die zwar „auf den Begriff gebracht" werden muss, um verstanden zu werden, die aber zugleich die historische Umgestaltung unserer Begriffe notwendig macht. Es kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, wie eine Theorie aussehen müsste, die das Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff auf solche Weise beschreibt und von daher die Möglichkeit, subjektive Erlebnisse in Inhalte objektiv gültiger Erfahrung zu verwandeln, auf neue Weise bestimmt. Aber der „archaiologische" Begriff der Religion kann einen zweifachen Hinweis geben: dass der wissenschaftliche Begriff nicht der einzig mögliche ist, und wie andere Weisen des Begreifens

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aussehen könnten. Wahrgenommenes „begreifen", würde dann heißen: in dem, was sich dem Hören, Sehen und Tasten zeigt, den Impuls freilegen, der das Subjekt zu einer je neuen Gestalt seines Anschauens und Denkens nötigt. Der „lebendige Begriff" im Unterschied von der „toten Allgemeinvorstellung" schließt das Bewusstsein von seiner eigenen Geschichte ein.

3.2 Das Wort des Sprechers und die „Wahrheit der Dinge" Die zweite der eingangs gestellten Fragen lautete: Wie verhält sich das Wort, das der Sprecher aufgrund seiner individuellen Erfahrungen spricht, zu jenem Logos der Sache selbst, den der Hörer, der die entsprechenden Erfahrungen nicht gemacht hat, vernehmen soll? Transzendentalphilosophisch gefragt: Steht die unvermeidlich individuell bestimmte Weise, wie wir das Wirkliche mit unseren Sinnen erfassen, im Gegensatz zu der objektiven Geltung, die wir für das Wort in Anspruch nehmen, das wir einem fremden Hörer sagen? Nach einem verbreiteten Verständnis ist die Mitteilbarkeit von Erfahrungen darin begründet, freilich auch dadurch begrenzt, dass der Sprecher behauptet, auch der Hörer hätte die gleichen Wahrnehmungen machen können, wenn er zur rechten Zeit am rechten Ort zur Stelle gewesen wäre. Wissenschaftliche Beobachtungen werden gewöhnlich in diesem Sinne mitgeteilt. Der Hörer, der die objektive Geltung dieser Mitteilung kontrollieren will, wird aufgefordert, sich auf den Standort zu begeben, von dem aus der Sprecher seine Beobachtung gemacht hat; dann könne auch er wahrnehmen, was der Sprecher wahrgenommen hat. Nun gilt dies schon für die wissenschaftliche Beobachtung nicht in jedem Fall. Der Bericht über eine Sonnenfinsternis, die sich vor meiner Geburt ereignet hat, verliert nicht dadurch an objektiver Geltung, dass in diesem Falle die Aufforderung ins Leere geht, ich solle den gleichen Beobachtungs-Standort einnehmen, von dem aus der Berichterstatter dieses Ereignis wahrgenommen hat. Ein Augenzeugenbericht von einer Brandkatastrophe verliert seine objektive Geltung nicht dadurch, dass ich, wenn ich mich heute an den Ort des Ereignisses begeben würde, von den Flammen und dem Rauch nichts zu sehen bekäme. Die objektive Geltung einer Aussage steht also nicht in jedem Falle im Gegensatz zur Unersetzlichkeit bestimmter Personen, die den in Frage stehenden Sachverhalt wahrgenommen haben. Die Behauptung, der Hörer eines solchen Berichts hätte die gleichen Wahrnehmungen gemacht, wenn er

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zur rechten Zeit am rechten Ort zur Stelle gewesen wäre, benennt in ihrem „Wenn" eine Bedingung, die nicht realisierbar ist. Um die Bedingungen objektiver Geltung auch für solche Fälle angemessen zu bestimmen, kann es hilfreich sein, solche Formen der Aussage ins Auge zu fassen, für die die Forderung, die Beobachter müssten vertretbar sein, nicht nur faktisch unerfüllbar ist, sondern den Sinn der Aussage prinzipiell verfehlen. Das gilt in ausgezeichnetem Maße für solche Aussagen, die im religiösen Kontext davon sprechen, was der Sprecher „gehört, gesehen und mit eigenen Händen betastet hat". Solche Aussagen sind mit dem Bewusstsein des Sprechers verbunden, dass das Heilige sich zeigt, wem es will, und sich verbirgt, vor wem es verborgen bleiben will. Wo Jesus nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums die Stimme seines Vaters vom Himmel hört, „sagen die Umstehenden: Es hat gedonnert, andere aber sagen: Ein Engel hat zu ihm gesprochen" (Joh 12,28f). Und wenn Petrus in der Apostelgeschichte davon spricht, dass die Jünger mit dem Auferstandenen gegessen und getrunken haben, fügt er hinzu: „Gott hat gegeben, dass er deutlich sichtbar (έμφανής) geworden ist - nicht allem Volke, sondern denen, die er sich zuvor als Zeugen bereitgehalten hat" (Apg. 10,41). Die Fähigkeit, „zu hören, zu sehen und mit Händen zu tasten", ist in solchen Fällen, religiös verstanden, die Folge davon, dass Gott sich in freier Entscheidung solche Zeugen „bereithalten" wollte. Die Behauptung freilich, zu diesen erwählten Zeugen zu gehören, bewährt sich in jenem Ubergang vom Zeugnis (μαρτυρία) zur wirksamen Botschaft (καταγγελία), von der an der zitierten Stelle aus dem Ersten Johannesbrief die Rede ist. Das gleiche Wort, das der religiöse Sprecher spricht, ist individuell unvertretbares Zeugnis und an immer neuen Hörern wirksam werdende Botschaft, weil die Erwählung zum „vorher bereitgehaltenen Zeugen" im Dienste der Berufung steht, für die Vielen zum Mittler eines an ihnen wirksam werdenden Wortes zu werden. Kann aus diesem speziell religiösen Verständnis des Zusammenhangs von individuellem Zeugnis und überindividuell wirksamer „Ansage" etwas gelernt werden, was auch in profanen Zusammenhängen das Verhältnis zwischen dem Logos des Sprechers in seiner unvertretbaren Individualität und dem Logos der Sache in seiner überindividuellen Geltung verständlich macht? Das schon erwähnte Doppel-Verbum „bezeugen und verkünden" kann einen hilfreichen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage geben: Das Wort des Sprechers ist Ausdruck seiner unvertretbaren Individualität und bezeugt zugleich die Maßgeblichkeit, mit der das, wovon er

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spricht, auch dem Hörer gegenübertritt. Das Wort kann diese beiden Funktionen erfüllen, weil der Sprecher selbst unter dem Anspruch des Wirklichen stand und so zum Zeugen wurde und diesen Anspruch auch an solche Menschen weitergibt, denen nicht begegnet ist, was er gehört, gesehen und betastet hat. Und indem er diesen Anspruch des Wirklichen weitergibt, wird er zugleich zu deren selbstlosem Boten, der auch den Hörer zu seiner Antwort auf diesen Anspruch befähigt. Auch in ganz profanen Zusammenhängen ruft der Logos des Sprechers den Hörer zu einer Antwort auf, die dieser selber geben muss, die er aber nur geben kann, weil die Sache, von der der Sprecher spricht, dem Hörer mit Maßgeblichkeit gegenübertritt und ihn deshalb wirksam „in-formieren", zu einer neuen Form seines Anschauens und Denkens fähig machen kann. „Information" ist nicht, wie ein heutiger Sprachgebrauch oft unterstellt, ein „Einspeisen" formloser Daten in ein Programm, das vom Empfänger bereitgestellt wird, sondern jene „Gestaltung" des Anschauens und Denkens, die durch den Anspruch der Sache selbst bewirkt wird und so den Empfänger der Botschaft erst zu seiner Antwort fähig macht. „Nulla res cognoscitur nisi per seipsam". Was den Sprecher mit seinem Hörer verbindet, ist nur in Grenzfällen, wie in der neuzeitlich verstandenen Wissenschaft, die universale Vertretbarkeit der Subjekte. Wohl aber ist es die Identität der Sache, die sie in Wort und Antwort „umkreisen" (um noch einmal die Bedeutung des griechischen Wortes „peri" in Erinnerung zu rufen). Nicht die Identität der Aussagen, sondern ihre dialogische „Symphonia", ihr „Zusammenklang", gerade in ihrer individuellen Differenz, ist das Anzeichen dieses Umkreisens der gemeinsamen Sache. (Das ausgezeichnete Beispiel ist die von den Theologen gesuchte „Symphonia" der Glaubenszeugnisse des Alten und Neuen Testaments.) Und in solchem „Umkreisen" kommt die „Wahrheit der Dinge", ihr Anspruch an alle Sprecher und Hörer, als die „je größere" Wahrheit zur Sprache und wird für jedes Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft auf wirksame, sie umgestaltende Weise gegenwärtig.

3.3 Die Vielfalt der Antworten und die Identität der Sache Mit dem Gesagten haben auch die beiden letzten Fragen ihre Antwort gefunden, die zu Beginn dieser Überlegungen gestellt worden sind. Sie lauteten: Von welcher Art ist die Antwort, die der Hörer auf den ihm weitergegebenen „Logos der Sache" geben kann? Wie verhält sich die

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Gemeinschaft des Sprechers mit seinen Hörern zu jener Gemeinschaft, in der beide sich „im Umkreisen der Sache selbst" nicht nur untereinander, sondern mit dieser Sache verbinden? Der Verfasser des Ersten Johannesbriefs sagt an der eingangs zitierten Stelle nichts darüber, welche Art von Antwort er von seinen Hörern und Lesern erwartet. Es mag darum erlaubt sein, wiederum bei Paulus Umschau zu halten. Dieser spricht in der Einleitung seines Briefs an die Römer von dem „Gehorsam des Glaubens", den er „für den Namen Christi" bei allen Völkern gefordert und gefunden hat (Rom 1,5). Aber dieser „Glaubensgehorsam" (υπακοή πίστεως) - vielleicht besser zu übersetzen „sich unterordnendes Hören im Glauben" erschöpft sich nicht in der unfruchtbaren Wiederholung des Gehörten; das Wort der Predigt will fruchtbringender Same sein. Paulus will auch bei den Römern, ebenso wie zuvor bei „allen Völkern", erproben, „ob ich auch bei euch einige Frucht gewinne" (Rom 1,13). Die Eigenart der Frucht aber, die er durch die Aussaat des Wortes „gewinnen" will, wird aus seiner Anrede an die Korinther deutlich: „Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder von euch einen Psalm, hat ein Wort der Lehre, hat eine Offenbarung, hat ein Wort im Zungenreden, hat ein Wort der Auslegung" (1 Kor 14,26). Der schon zitierte Satz „Ihr seid Gottes Ackerfeld" (1 Kor 3,9) steht in Zusammenhang dieser Rede von der Aussaat des Wortes, das Frucht bringen will. Das Wort, das zum „Glaubensgehorsam" ruft, macht seine Hörer nicht stumm, sondern öffnet ihnen, als wirksam werdende Botschaft, den Mund für eine Vielfalt der Antworten. Diese freilich müssen zusammenklingen, wenn sie dazu dienen sollen, dass die Gemeinde zum „Haus Gottes" aufgebaut werden soll (ibid.). Daran ist die Vielfalt dieser Antworten kritisch zu messen (1 Kor 14,26). Wiederum ist zu fragen: Kann aus dieser Beschreibung des religiösen Wortes ein Hinweis gewonnen werden, der auch in profanen Zusammenhängen deutlich macht, was im Wechselspiel von Wort und Antwort geschieht? Vielleicht wenigstens dies: Auch im profanen Zusammenhang kommt die Sache, von der zu sprechen ist, im Wort des Sprechers nicht abschließend zur Sprache, sondern nur dadurch, dass sie eine Vielfalt der Antworten hervorruft, die so „zusammenklingen", dass sich darin die Kommunikationsgemeinschaft der Sprechenden und Hörenden aufbaut. Und in einem Versuch, die spezifisch religiöse Metapher vom „Tempelbau" philosophisch anzueignen, kann man den Ausdruck wagen: Die Kommunikationsgemeinschaft der Sprechenden und Hörenden wird zum „Ort", an dem die je größere Wahrheit der

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Dinge, die sich dem Versuch abschließenden Begreifens immer wieder entzieht, gegenwärtig und benennbar wird. Dann kommt die Identität der Sache in der „symphonierenden" Vielfalt der Weisen von Wort und Antwort zur Sprache.

4. Fremde Erfahrung und eigene Lebensgeschichte Im Titel der hier vorgetragenen Überlegungen ist von „Zeugnissen fremder Erfahrung und der Unvertretbarkeit der eigenen Lebensgeschichte" die Rede. Das Verhältnis zwischen beiden kann nun genauer bestimmt werden. Was der Sprecher sagt, ist für den Hörer „äußeres Wort" (Verbum externum), das er sich nicht selber sagen könnte. Das liegt nicht nur daran, dass jenes „Hören, Sehen und Tasten", das der Sprecher bezeugt, in seiner sinnenhaften Konkretheit durch seinen individuellen Standort bestimmt ist, auf den der Hörer sich nicht in jedem Falle selber stellen kann, also durch eine konkrete Lebens-Situation, in die der Hörer sich allenfalls in der Phantasie „hineindenken", nicht in der Wirklichkeit seines eigenen Lebens hineinbegeben kann. Es liegt vor allem daran, dass diese Lebens-Situation Teil einer Lebensgeschichte ist, in der sich das Anschauen und Denken des Sprechers herausgebildet hat, und dass der Hörer, aufgrund seiner anders verlaufenen Lebensgeschichte, die identische Sache stets „mit anderen Augen sieht" als der Zeuge sie gesehen hat. Gerade deswegen bleibt das Zeugnis des Sprechers für ihn unersetzlich, statt ihm nur zu bestätigen, „was auch er immer schon sagen wollte". Aber gerade die Begegnung mit der fremden Erfahrung, die ihm durch das „Verbum externum" des Sprechers bezeugt wird, kann und soll für den Hörer zum Teil seiner eigenen Lebensgeschichte werden. Im Zeugnis des Sprechers vernimmt er den Anspruch der Sache auf eine Weise, wie er ihn selbst nicht hätte vernehmen können. Und um auf diesen Anspruch der Sache seine Antwort geben zu können, muss er sich durch sie zur Umgestaltung seines Anschauens und Denkens herausfordern und befähigen lassen. So wird das Zeugnis fremder Erfahrung für ihn zum vorantreibenden Impuls seiner eigenen Lebensgeschichte. Im Wort des Sprechers und in der Antwort des Hörers begegnen sich so zwei Biographien; aber sie begegnen sich auf solche Weise, dass diese Begegnung für jeden der Beteiligten zu einem Teil seiner eigenen Lebensgeschichte wird. Dadurch werden auch diejenigen Weg-Strecken

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der jeweils fremden Biographie, die der Begegnung vorauslagen und sie möglich gemacht haben, aber auch diejenigen, die der Begegnung nachfolgen, für jeden von beiden bedeutsam, wenn der Einzelne die gegenwärtige Stunde der Begegnung mit dem Anderen in ihrer Bedeutung für die eigene Lebensgeschichte erfassen will. Die Identität der Sache, die in der „Symphonie" der Antworten zur Sprache kommt, lässt zugleich die Diversität der Lebensgeschichten zu einer Vielfalt vorantreibender Momente einer gemeinsamen Geschichte werden. Darauf beruht jene „langdauernde Gemeinschaft des Lebensvollzuges im Umkreisen der Sache selbst" (πολλή συνουσία περί αυτό τό πραγμα), von der Piaton gesprochen hat. Aber diese „langdauernde Gemeinschaft des Lebensvollzuges" schließt nicht aus, dass es Fälle gibt, in denen der Sprecher gegenüber seinen Hörern einen bleibenden Vorrang hat. Dieser beruht darauf, dass die Lebensgeschichte des Sprechers, die ihn zu seinen Erfahrungen fähig gemacht hat, nicht nur anders verlaufen ist als die seiner Hörer, sondern dass sie ihn ein einzigartiges, so nicht wiederholbares Verhältnis zu der Sache hat gewinnen lassen, von der er spricht. Weil seine Lebensgeschichte anders verlief als die seiner Hörer, wird das Wort, das er sagt, und die Antwort, die seine Hörer geben, nicht gleich lauten, sondern jene „Vielfalt der Stimmen" erzeugen, die in ein Verhältnis der „Symphonia" gebracht werden müssen, wenn sie die gleiche Sache „umkreisen" sollen. Sofern er aber aufgrund seiner besonderen Lebensgeschichte ein einzigartiges Verhältnis zu der in Rede stehenden Sache gewann, wird das Verhältnis zwischen seinem Wort und der Antwort der Hörer asymmetrisch sein. Die Antwort der Hörer holt in solchen Fällen den Bedeutungsgehalt des Wortes, das der Sprecher ihm zuspricht, nicht ein. Der Hörer wird auch dadurch von der Notwendigkeit und Verpflichtung zur Antwort nicht entbunden. Aber er wird auf das gehörte Wort immer wieder zurückkommen müssen, um sich zu vergewissern, dass er sich in seiner Antwort wirklich auf die gleiche Sache bezieht, von der der Zeuge gesprochen hat. So kann das Wort eines Dichters für die „Lesergemeinde" seiner Werke zum normativen Text werden, auf den sie immer wieder zurückkommt. Im Licht eines solchen Textes deuten diese Leser ihre eigenen Lebenserfahrungen; und im Licht der so gedeuteten eigenen Lebenserfahrungen erfassen sie den Bedeutungsgehalt dieses Textes auf immer neue Weise. Im Austausch dieser zweifachen Deutung: der Erfahrungen im Lichte des Textes, des Textes im Lichte der Erfahrungen, verstehen die Einzelnen einander und schließen sich so zu einer spezifischen

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Kommunikationsgemeinschaft zusammen. Gemeinsame Lektüre und die Vielstimmigkeit des Dialogs, mit dem sie sich um den „Logos" des Textes versammeln, stiften eine gemeinsame Form des Bewusstseins, im wörtlichen Sinne eine gemeinsame „Bildung" (formatio), die sich, über manche Unterschiede der Individuen hinweg, auch in gemeinsamen Überzeugungen und Werthaltungen ausdrückt. Aber diese Lesergemeinde bleibt sich dessen bewusst, dass dieses Wechselspiel der Deutungen den Text nicht überflüssig macht, sondern dessen „Unerschöpflichkeit" nur immer deutlicher hervortreten lässt. Insofern wahrt der Text auch gegenüber allen Deutungen, durch die die Leser sich ihn aneignen und die sie untereinander austauschen, seine „Exteriorität". Er löst sich nicht in ein „Selbstgespräch mit verteilten Rollen" auf, das die Mitglieder der Lesergemeinde untereinander führen. Aber er bleibt das vorantreibende Moment, das in der Geschichte des Auslegens und Verstehens und damit in der Geschichte der Lesergemeinde wirksam ist. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass dies nicht nur für die Lesergemeinde großer Dichter gilt, sondern auch und sogar in höchstem Maße für die Lesergemeinde ausgezeichneter religiöser Zeugnisse. Der Text bleibt „fremdes Zeugnis"; und alle verstehende Aneignung verwandelt das Hören auf ihn nicht in jenes kollektive Selbstgespräch, in welchem die Glieder einer religiösen Gemeinde den Text nur zum Anlass nehmen, sich gegenseitig ihre eigenen Erfahrungen zu bezeugen. (Die Theologen haben dieses kollektive Selbstgespräch zuweilen, etwas zu wohlwollend, „Gemeindetheologie" genannt.) Demgegenüber ist festzuhalten: Der Text, der die so nicht wiederholbaren Erfahrungen seines Verfassers bezeugt, tritt allen Deutungen, zu denen die Gemeinde aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte fähig wird, in einer eigenständigen Normativität gegenüber. Und gerade in der Kraft dieser Eigenständigkeit gegenüber der Gemeinde wird er zum vorantreibenden Moment ihrer Geschichte. Nur aufgrund dieser geschichtlich vorantreibenden Kraft befähigt er die Mitglieder einer religiösen Gemeinde zu einer Antwort, die nur sie selber geben können und die ihnen durch eine bloße Wiederholung des Textes nicht abgenommen werden kann.

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5. „Abwägende Vernunft" im Dialog zwischen Sprechern und Hörern und im Dialog mit der Wirklichkeit „Abwägende Vernunft" und die ihr korrespondierende Tugend der Klugheit charakterisieren nicht nur Friedo Rickens Weise, ethische Probleme zu behandeln, sondern auch seine Person, die durch diesen Band geehrt werden soll. Entsprechend ist die überwiegende Mehrheit der Beiträge ethischen Fragen gewidmet. Auch einige der religionsphilosophischen Beiträge behandeln ethische Fragen, z.B. im Buddhismus und im Islam. Können die hier vorgetragenen Überlegungen zum Verhältnis zwischen fremder Erfahrung und eigener Geschichte etwas zur Behandlung dieses Themas beitragen? Wer bereit ist, Erfahrungen zu machen, muss wissen, worauf er sich dabei einlässt: auf das Wagnis, aus solchen Erfahrungen verändert hervorzugehen. Wer auf das Zeugnis fremder Erfahrung so hört, dass dieses Hören zu einem Teil seiner eigenen Lebensgeschichte wird, muss wissen, was er dabei tut: Er setzt sich diesem Zeugnis als einem Wort aus, das an ihm wirksam werden kann, indem es ihn verwandelt. Das Wagnis der eigenen Erfahrung und der Mut zum Hören auf Zeugnisse fremder Erfahrung setzen so ein Vertrauen voraus, das gerechtfertigt sein will: Wir müssen darauf vertrauen, dass der Anspruch der Sache, der in der eigenen Erfahrung vernommen und im Zeugnis fremder Erfahrung an den Hörer weitergegeben wird, uns auf einen Weg bringt, dessen Verlauf wir nicht vorherberechnen können und von dem wir doch, wenn wir ihn gehen sollen, voraussetzen müssen, dass er uns „nach oben" führen wird: zu wachsender Klarheit und Fülle der Einsicht. U m uns unseren eigenen Erfahrungen auszusetzen und auf die Zeugnisse fremder Erfahrung zu hören, müssen wir uns der „anagogischen" Kraft dieser Erfahrungen und Zeugnisse anvertrauen. Das ist nur möglich, sofern wir diese „nach oben" führende Kraft der Erfahrungen und Zeugnisse als ein ihnen immanentes Bedeutungsmoment, als ihren „Sensus anagogicus", entdeckt haben. Mittelalterliche Theologen haben den „Sensus anagogicus" der Heiligen Schriften ihren „Sensus spei" genannt. Sie scheinen sich nicht dessen bewusst gewesen zu sein, dass sie damit nicht nur ein Bedeutungsmoment von Texten beschrieben haben, sondern ein Bedeutungsmoment der Erfahrungen, von denen diese Texte Zeugnis geben. Abwägende Vernunft ist in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, dieses Vertrauen in den „Sensus spei" von Erfahrungen und Erfah-

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rungs-Zeugnissen zu rechtfertigen und diesen „Sensus spei" von irreleitender Verführung zu unterscheiden. Und so gilt auch im profanen Zusammenhang, was der Apostel von der Antwort der Glaubenden auf die ihnen bezeugte Botschaft sagt: „Seid stets bereit, jedermann Rechenschaft zu geben, der von euch Auskunft verlangt über den Rechtfertigungsgrund der Hoffnung, die in euch ist" (1 Petr. 3,15). Die Fähigkeit zu solcher Rechenschaft ist es, in der alle „abwägende Vernunft" sich zu bewähren hat. Und wenn dieser Band dazu bestimmt ist, den Jubilar wegen seiner abwägenden Vernunft zu ehren, kommt damit zugleich zum Ausdruck, dass ihm in Leben und Lehre diese Bewährung gelungen ist.

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Namenverzeichnis Abaelard, P. 118 Abbä, G. 489 Achilles 3,7,8,9,10,11,12,13,14, 15, 16 Adams, C. J. 134, 172, 720, 723 Adkins, A.W.H. 4 Agamemnon 4,7,10,11,12,13,14, 16 Aias 13, 14 Alexy.R. 461,466 Allen, D. C. 89,225 Alypius 81,82 Amelung, E. 535 'Ammära, M. 724, 725, 726 Anaximander 623 Andresen, C. 681 Andromache 10 Annas, J. 4, 47 Anselm von Canterbury 117, 139, 368, 381,647,648, 650, 654 Apel, K.-O. 521 Archedem 70 Ariston 65 Aristoteles 6, 7,14,17,19,20,21,22, 23, 24, 25, 26, 27,29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 39,41, 43, 44, 45, 46, 48, 49, 51, 53, 54, 55, 56, 58, 59, 60, 103, 110, 111, 114, 115, 116, 122, 135, 136, 142, 152, 159, 165, 168, 189, 191, 202, 205, 210, 214, 223, 224,241, 261, 263, 279, 285, 301, 302, 345, 355, 363, 365, 366, 368, 370, 371, 372, 397, 406, 407, 408, 411, 427, 428, 430, 431, 432, 433, 435, 436, 440, 464, 465, 494, 501, 504, 506, 508, 509, 510, 511, 559, 571, 613,614, 638,693, 694, 738, 741 Arius 740 Artus, W.W. 119

Asanga 702 al-As'ari 716 Athanasius v. Alexandrien 582, 596, 681 Auer, A. 491 Augustinus, A. 78,81,82,83,84,86, 87, 88, 90, 91, 92, 98, 99, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 118, 131, 139, 588, 594, 596, 602, 623, 682 Babcock.W.S. 98 Baker, H. 221,223 Bakker, L. 577 Bakes, M. 79 al-Bannä, H. 715, 725 Barney, R. 62, 63, 70 Barth, H.-M. 750 Barth, H. 99 Bauby, J.-D. 555 Beaumont, C. de 597, 599, 602 Beckmann, M. 528 Beierwaltes, W. 113,738 Bellarmin, R. 744, 745 Benjamins, H. S. 93, 94, 96, 97 Benz, E. 107 Berger, M. 539 Beutler, K. 503 Bhide, A. 531 Bienert, W. A. 740 Birbaumer, N. 553, 554, 555 Birnbacher, D. 415,417,481,482 Bishop, J. 293 Böckenförde, E.-W. 494 Böckle, F. 491 Bodewig, M. 166 Boethius 118 Boettcher, J. W. 459 Bohley, B. 402 Böhm, T. 98

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Namenverzeichnis

Boler, J. 152 Bonaventura 145 Bonifaz VIII 741, 758 Böning, J. 537 Bonner, G. 99 Bormann, F.-J. 4, 450, 456, 459, 465, 470, 493 Bowie, Ν. 461 Brandenstein, Β. von 693 Brandom, R. B. 311,312 Brandt, S. 347, 486 Braun, C. 554 Brecht, B. 503 Bremer, J. 329,330 Brieskorn, N. 181,191 Brink, D.O. 317 Broad, C . D . 457 Browning, R. 110 Bruce, F. F. 582 Bruch, R. 133,223,224,245,475,476 Brück, M. v. 659, 661, 663, 678, 683, 687, 690 Bubner, R. 209 Büchner, G. 633, 634 Buckley, Μ. J. 365 Bydlinski, F. 181 Cacouros, Μ. Ill Callaghan, D. 499 Calmata, G. 497 Calonne, R. 92, 93 Calvin, J. 743 Care, N. S. 463 Carnap, R. 640, 646, 653 Carney, F.S. 98,106 Cassianus, J. 92 Cassiodorus, M. A. 91,92 Cassirer, E. 610,615 Cato 64, 65, 348 Cezar, C . R . 154,156 Chadwick, R. F. 497 Charms, D. 557, 558, 560 Christoffer, U. 494 Chrysipp 64, 70, 73 Cicero, Μ. T. 61,62,64,65,66,69,71, 72,73,74,76,77,80,81,91,221,222, 223, 232, 348, 352, 384, 393, 410, 411,412,436 Claudianus Mamertius 91

Clemens von Alexandrien 680 Coomaraswamy, A. 675 Cooper, J . M . 47,66 Courcelle, P. 107 Craig W. L. 294 Crisp, R. 370,371,430 Crocco, A. 91 Cross, R. 138 Crouzel, H. 93, 95 Crüsemann, F. 418,419 Cullmann, Ο. 750 Cummiskey, D. 236 Cusanus, N. 119, 157, 158, 165, 166, 167, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 176, 177 Cyprian von Karthago 741 Dachler, Η. P. 525 Daniels, Ν. 461, 463 Davidson, D. 287 Den Bok, N. W. 99 Descartes, R. 4, 282 Deussen, P. 667, 674 Di Marco, M. 91 Dihle, A. 99, 104, 106, 108, 109 Diogenes (Stoiker) 70 Diogenes Laertius 68, 69, 72, 582 Dionysius Areopagita 680 Dirlmeier, F. 6 , 1 9 , 2 3 , 2 4 , 2 6 , 3 3 , 3 6 Ditzfelbinger, B. 496 Donne, J. 551,552 Döring, Κ. 404 Drexler, Η. 221,223 Du Roy, Ο. 101 Duffy, J. Ill Dumont, S. 141,142 Duns Scotus, J. 135, 136, 137,138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 638, 647 Dürig, W. 221 Dworkin, R. 460 Edel, A. 497 Effler, R. 152 Eliade, M. 679 Enderle, G. 525 Enderlein, W. 181 Engisch, Κ. 181,183,188 Epiktet 62, 97, 581

Namenverzeichnis Epikur 78, 79, 80, 81, 82, 85, 87, 88, 89, 622, 623, 630 Erler, M. 78,79, 80,82,84,89,90,106 Ernst, S. 117,275,447,472 Ess, J. van 716 Euler, W.A. 119 Euripides 431 Eustratios von Nikaia 110,111,112, 113, 114,115, 116 Fakhry, M. 716 Ferguson, J. 89 Fichte, J . G . 359 Finley, M.I. 12 FinnisJ. 459,466,467 Flückiger, F. 158,160, 161, 162 Foot, P. 370, 430 Forschner, Μ. 221, 351, 581, 588 Fortenbaugh, W. W. 47 Francis, L. P. 462 Frank, R . H . 362,418,501 Frankena, W. 486 Frauwallner, E. 702 F r a z e r J . G. 605,607,608,610,616 Frede, M. 63, 67, 76 Freeman, S. 456, 463 Freud, S. 279,361,363,577 Frieling, R. 748, 758 Fries, H . 750 Fuhrer, T. 81,83,106 Gadamer, H.-G. 221, 223, 447 al-Gannüs! 724 Gauthier, R.A. 47,459 Gawlick, G. 80, 81 Gehrig, L. 554 Geldbach, E. 750 Ghanayim, N . 554 Gigon, O . 623 Gill, C. 4, 6, 9, 12, 14 Gill, D. 7,11 Glendon, M.A. 222,224 Glock, H.-J. 604 Goethe, J.W. von 615,617 Goldman, A. 289, 459 Goller, H . 363, 364, 365, 366 Gordijn, B. 552 Gorgias 17,115,405,568 Görler, W. 80, 81 Gottfried von Fontaines 141

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Gouvernaire, J. 577 Gregor VII 753 Greimann, D. 242, 324 Grisez, G. 467 Gröschner, R. 519 Grosseteste, R. 110 Grotius, H . 755 Grünewald, B. 103, 104 Guardini, R. 496 Guariniello, R. 554 Haag, H . 596 Habermas, J. 316, 329,330,342,403, 483,484, 494,518, 521 Hadot, P. 107 Hadreas, P. 47 Halbig, C. 347 Halfwassen, J. 739 Hampshire, S. 203 Hare, R. M. 203 Harre, R. 296 Harrick, E. 515, 527 Hart, H . L . A. 460,462 Hartmann, F. 534, 712 Haubst, R. 157, 158, 166, 173 Hawking, S. 554 Heeger, R. 497 Heesch, M. 373 Hegel, G.W.F. 237,238,242,245, 246, 247, 248, 249, 250, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 328, 350, 357, 358,359 Hegewisch, A. 525 Heidegger, M. 285, 493, 572 Heinrich von Gent 145 Heinzmann, R. 117, 134 Heitsch, E. 80 Hekaton 66 Hektor 4, 7, 8, 9,10,14, 15, 16 Helena 8,10 Helleghers, A. 499 Heraklit 623,768 Herbart, J. F. 504,505 Hershbell, J. P. 89 Hesiod 79 Heuer, U. 368 Heuft, G. 539 Hill, T. 230, 343 Hinz, T. 526

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Namenverzeichnis

Hirschberger, J. 158, 159, 160, 161, 162 Hobbes, Τ. 186, 222, 427, 437,440 Hoeres, W. 142 Höffe, O. 207,208,209,210,211, 220,402, 430, 440, 444, 445, 453, 460, 480,481 Hollerbach, A. 402 Holz, H. 92, 93 Homann, K. 525 Homer 4, 9, 12, 80, 741 Honnefelder, L. 135, 137, 138, 141, 145, 146, 147, 154, 155, 158, 162, 163, 165, 176, 467, 534, 541, 542, 543, 545, 547 Hooker, B. 299 Horn, C. 104, 106 Horstmann, R. P. 221 Hösle, V. 119,437 Hossenfelder, M. 61 Hourani, G.F. 716 Hume, D. 287,291,347,368,376 Hünermann, P. 496 Hursthouse, R. 370 Hutchings, P. JE. 225,229 Ibn Taymlya 734 Ibsen, K. 222 Ignatius von Loyola 365, 495, 496, 563, 565, 567, 568, 569, 570, 571, 573, 574, 575, 576,577, 578,579, 580 Immenkötter, H. 759 Ingham, Μ. Ε. 138,154 Inwood, Β. 62, 75 Irenaus ν. Lyon 582,741 Irwin, T. 7 Italos, J. 111 Iyengar, B.K.S. 672,678 Iyer, Μ. Κ. V. 673 Jackson, Β. D. 92 Jacobi, Κ. 17,31 Jäger, Μ. 268 James, W. 184,362,367 Janich, P. 268 Jaster, H.-J. 539 Jedin, H. 596 Jeurissen, R. 528 Johannes Damascenus 684 Johannes Paul II 757

Johannes vom Kreuz 683 Johanns, P. 670 Johnson, R.N. 370 Jolif.J.Y. 47 Jonas, H. 490 Jones, Η. E. 225 Kafka, F. 428 Kahn, C. H. 47 Kakar, S. 688 Kalish, D. 646 Kambartel, F. 268 Kamiah, W. 637 Kant, I. 4, 137, 203, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 218, 220, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 239,248, 250, 256, 259, 279, 280, 285,287, 297, 342, 352, 353, 359, 362, 368, 397, 413, 414, 415, 422, 423,427, 431, 433, 437, 440, 441, 446, 464, 476,478, 482, 483, 484, 490, 491, 511,512, 513, 520, 532, 544, 549, 571, 581, 583, 584, 585, 586, 587, 588, 590, 597, 602, 627,628, 629, 631, 632, 635, 712 Kattackal, J. 662,671 Keenoy, T. 525 Keil, G. 296 Kekule, F. A. 262 Kerber, W. 438 Kern, W. 70,72,212,411,461,551, 569, 576, 582, 584, 598, 602, 612, 630, 646, 760 Kernohan, A. 460 Kersting, W. 453 Kleanthes 64 Klein, J. 20,221 Kleinginna, Α. M. 364 Kluxen, W. 136, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 168 Knauer, P. 630 Kobusch, T. 93 Koch, H. 96 Kohlberg, L. 361, 503, 505, 508 Köhler, T.W. 117,119 Komnene, A. 110 Koothottil, A. 662 Korsgaard, C. 228, 229

Namenverzeichnis Krämer, H . J . 84 Kraut, R. 47 Krell, G. 524, 525 Kremer, Κ. 157,166, 167, 170, 172, 176,177 Krimm, B. 363 Kristeller, P. O . 85, 223 Kronman, Α. T. 459 Kuehn, M. 211,212 Kühn, U. 158,164 Küpper, W. 531 Kutschera, F. v. 304,306,314,471, 472, 473, 474, 475, 476, 477, 478, 479, 480, 482 Kymlicka, W. 463 Laktantius, C. F. 84, 89, 623 Lambert, K. 640, 642 Lambrich, T. 531 Landgraf, A. 593 Landweer, H . 374 Lange, C. 367 Lattmann, C. 517, 520 Laube, J. 692, 700, 702 Leibniz, G.W. 554,626 Levinas, E. 284,285,286,751 Lloyd-Jones, H . 12 Lo, P. C. 225 Locke, J. 437 Löffler, W. 267,276, 648 Lohr, C. 111,119 Löhrer, G. 225, 228,231, 236, 596 Lonergan, B. 268 Long, A . A . 61,72 Lorch, M. de Panizza 84, 85, 86, 87, 88, 89 Lorenzen, P. 268, 637 Lottin, O . 117,158 Lychetus 147 Lyons, D. 463 Machiavelli, N . 190,191 Maclntyre, A. 4, 429, 430, 457, 488 Mackie, J. L. 324, 326, 327, 348 Mahadevan, Τ. Μ. P. 664, 666, 667 Malcolm, N . 604 Mandrella, I. 158, 162, 166 Manlius Theodorus 107 Marcus, B. 447, 522

829

Marechal, J. 259, 260,261, 263, 264, 265,266,267,271,272, 273 Marek, J . C . 695,696 Marius Victorinus 107 Maschmann, F. 522 Massarenti, A. 497 Mauriac, F. 540 Mausbach, J. 99,105 Mawdüdl, Abü l-A'lä 719, 720, 722, 723, 725 Mayer, A . C . 741 Mayer, C. 106 Mayo, E. 523 McDowell, J. 351,360,370,430 McGinn, C. 314,315,327 Meister Eckart 682 Meixner, U. 294, 296 Menon 17, 1 8 , 1 9 , 2 0 , 2 1 , 2 2 , 2 7 , 2 8 , 29, 30,31,32, 34, 35,36 Mercken, H.P.F. 110,111 Merkelbach, R. 17,19,28 Metz, J.B. 748 Mezger, E. 183 Michael von Ephesos 47, 63, 78, 84, 110, 111, 158, 343,365, 370, 371, 430, 659,710 Mieth, D. 494 Mill, J. S. 414,415,416,417,424 Mittelstraß, J. 268 Möhle, H . 136, 140, 141, 142, 145, 147, 151, 152, 153, 154, 155 Moltmann, J. 681 Moore, G . E . 224,428 Moreland, J. P. 294 Morscher, E. 648, 654 Motoyama, H . 688 Muck, O . 259,267,268,271,272,275 Mulholland, L. 463 Müller, A. 502 Müller, A.W. 368,369, 377,379,382, 391,394, 398,400 Müller, C. F. 181 Müller, G . M . 84,85, 87 Müller, M. 610 Murdoch, I. 203, 205, 218, 219, 232, 351,434 Nagel, T. 359, 360, 458, 460 Nakamura, H . 667,672,674,676,678

830

Namenverzeichnis

Napoli, G. di 89 Neale, S. 640 Nebridius 81,82 Neckel, S. 375 Neuberger, O. 519,523,524,525,531 Neuner, P. 738,751,759 Niemann, U. J. 532, 535, 536, 537 Nietzsche, F. 282,317 Nozick, R. 458, 459, 460 Nussbaum, M. 46,208, 366, 430 Oduncu, F. S. 552 Odysseus 3,4,5,6,7,8,9,11,12,13, 15 Origenes 91,92,93,94,95,96,97,98, 101, 106,107,108, 109, 680 Ostertag, G. 640 Ottmann, H. 257 Pakaluk, M. 47, 49 Panaitios 64,66,410 Pandeya, R. C. 669 Panikkar, R. 668 Paris 10 Parker, I. 554 Parry, Α. 12 Paton, H.J. 225, 229 Patroklos 10,16 Patzig, G. 520 Pawlowski, H.-M. 181 Peleus 11 Peres, C. 242 Pesch, O . H . 117,158, 159, 160,161, 162, 163, 164, 165, 176 Peters, U . H . 534 Pfeffer, J. 531 Pfeiffer, W.M. 539 Phillips, D.Z. 604,605 Phoinix 12,13 Pico della Mirandola, G. 223 Pieper, J. 377 Pius XI 745 Piaton 6,13,17,18,20,21,23,24,25, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 35, 36, 37, 47, 79, 80, 87,96,97, 109,112, 115, 116, 135, 191, 203, 351, 352, 403, 404, 405, 406, 412, 434, 680, 693, 694, 738, 740, 775 Platzeck, E.W. 119

Plotin 107, 113,114, 115,739 Polemarchos 13 Polydamas 8,9 Popper, K. 269 Porphyrius 107 Posch, G. 291 Pöschl, V. 221,222,223,224 Posidonios 66 Prauss, G. 227 Price, A.W. 47 Pring-Mill, R. 119 Probst, M. 537 Proklos 111,113 Protagoras 20, 403, 404, 418 Psellos, M. 111,113 Puntel, L.B. 299,300,308,313,318, 319 Putnam, H. 204,206,215,218,219 Pye, M. 710 al-QaradäwI, Y. 715, 724, 725, 726, 727, 728, 729, 730, 731, 732, 734, 735, 736, 737 al-Qurtubi 736 Qutb, M. 720, 721, 722 Qutb, S. 721 Quasten, J. 582 Radbruch, G. 424 Raffael 90 Rahner, K. 577, 738, 750 Raimundus Lullus 117,118,119,120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134 Raiser, Κ. 750, 751 Rauscher, Α. 492 Rawls, J. 155,428,437,440,442,450, 451, 452, 453, 454, 455, 456, 457, 458, 459, 460, 461, 462, 463, 464, 465, 466, 519 Regnault, P. £ . 602 Reiman, J. 459 Reinhart, A.K. 717 Rescher, N. 317 Rho, A. da 85, 86, 87, 88, 89, 497 Rhonheimer, M. 430, 467 Richardson, Η. S. 456 Ricken, F. 46,135,152,161,205,220, 224, 227, 230, 231, 236, 238, 239, 241, 287, 314, 343, 345, 352, 353,

Namenverzeichnis 365, 369, 370, 381, 383, 385, 388, 391, 392, 393, 394, 398, 400, 401, 446, 464, 466, 468, 471, 483, 484, 501, 550, 597, 627, 656, 740 Ricoeur, P. 277,278,279,280,281, 282, 284, 285, 286 Ridgeway, C. L. 527 Rieckmann, H . 525 Riedlinger, H . 119 Rippe, K.P. 430 Rist, J. M. 97 Ritsehl, D. 751 Ritter, J. 221,302 Röder, G. 529 Roethlisberger, F.J. 523 Rohrbasser, A. 745 Rolfes, E. 19,21,33,36,427,432 Rosenberg, J. F. 330,343 Rosenkranz, K. 255, 256 Ross, D. 19, 225, 229 Rousseau, J.J. 437,583,588,593,597, 598, 599, 602 Rufinus 92, 95, 97 Ruhnau, J. 373,374 Rumelt, R. P. 529 Runggaldier, E. 287, 640 Sacco,C. 85 Sakamoto, P.-T. 166 Sandel, M.J. 457 Santeler, J. 230,231 Saß, H . 539 Sass, H.-M. 535 as-Sätibl 717, 728, 732 Schaber, P. 430 Schaeffler, R. 267, 762, 765 Schäfer, E. 514,521,529 Scheffler, S. 458, 460, 463 Scheler, M. 224, 365, 490, 712 Schelling, F.W.J. 610 Scherb, J. L. 647,648 Schibli, H . 112,114,115 Schlabach, G. W. 98 Schmid, W. 80 Schmidt, J. 3,237,242 Schmitz, P. 486,494 Schneewind, J.B. 222,430 Schockenhoff, E. 92, 378, 535 Scholem, G. 626

831

Schröer, C. 402, 422, 470 Schüller, B. 486, 491 Schüßler, W. 157 Schuster, J. 49,52,361,368,369,372, 373 Schwartländer, J. 227, 231 Schwanz, A. 203, 463 Sedley, D . N . 61,72 Seeberg, R. 681 Seibt, J. 330 Seisl, P. 528 Seilars, W. 329,330,331,332,333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341,342, 343 Sen, Α. 452, 458 Seneca 64, 66, 75, 80 Senger, Η . G. 165,166 Sertillanges, A.-D. 158 Seuse, H . 682 Sextus Empiricus 73 Siegmund, G. 537 Siegwart, G. 637, 642, 657 Siep, L. 257, 344, 353, 355, 357 Simmel,J.M. 551 Simonetti, M. 92, 93, 94, 95 Slote, M. 370,371,430 Smith, A. 254,336,417,461,463 Smith Goldman, H . 463 Söder, J. 147 Sokrates 3,11,17,18,19,20,21,22, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 34, 36, 79, 80, 83, 87, 104, 250, 252, 344, 404, 405, 568, 693 Sophisten 21,403,404,405,509 Specht, R. 158, 162, 163 Spinoza, B. de 359, 569 Spitzley, T. 98 Splett, J. 374, 630 Sprenger, R. K. 523 Staffelbach, B. 515 Stegmüller, Β. 117,271,326 Stegmüller, W. 117,271,326 Steinmann, H . 517 Stevenson, Η . H . 531 Stoa 61,62,64,65,66,67,68,69,70, 72,73,84,85,88,95,97,98,252,344, 348,410 Stobaeus 62, 67, 68, 69, 70, 73, 75, 76

832

Namenverzeichnis

Striker, G. 70 Strycker, £ . de 80 Suärez, F. 137, 181,182, 183,184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 194, 195, 197, 198, 199, 200, 202,289, 583, 588, 594, 595 Sussmann, D. 228 Swinburne, R. 630, 655 Switek, G. 365 Tauler, J. 682 Tertullian 582,681 Theiler, W. 107 Theognis von Megara 432 Thorn, N . 523 Thomas von Aquin 33,135,136,141, 142, 152, 154, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 168, 174, 176, 189,224, 321, 345, 359, 363, 366, 378, 408, 409, 410, 427, 432, 433, 436, 437, 440, 464, 465, 466, 467, 468, 469, 470, 493, 494, 506, 583, 588, 589, 590, 591, 592, 593, 594, 656, 667 Thompson, E. S. 21 Thukydides 11 Tillich, P. 681,683,684,685 Timmermann, J. 233 Topitsch, E. 275 Trampota, A. 203,216,231 Tränkle, H . 82 Trasymachos 403,404,406,418 Trigg, J. W. 107 Tripathi, P. K. 671 Troschke, J. v. 535 Trumbos, D. 555 Tuck, R. 222 Tugendhat, E. 447 Uexküll, T. v. 539 Ulich, D. 365 Urmson, J. O . 19,492 Vadet, J.-C. 717 Valla, L. 84, 85, 86, 87, 88, 89 Vegio, M. 84, 89 Veithoven, T. van 157 Vimalänanda 679 Vogel, J. 181,183 Vogt, K. 3, 61, 67, 93 Voltaire, F. M. 602

VriesJ.de 269 Wagner, U. 526 Waismann, F. 616 Walker, A . D . M . 47 Walzer, M. 466 Wanke, G. 582 Weber, M. 428, 523 Wegehaupt, H . 222 Weil, S. 22,115,129,210,218,242, 257, 309, 345, 501, 508, 629, 634, 656,657, 665,673, 692, 702, 739, 775 Weimann, R. 755 Weithman, P.J. 456 Wellbank, J . H . 456 Welzig, W. 90 Wetterer, A. 526 Wetz, F.J. 224, 225 Wetzel, J. 99 Whitman, C. 12 WHO 539 Wieland, G. 118,158 Wieland, W. 482 Wiertz, O . 635 Wiggins, D. 315 Wilber, K. 688 Williams, B. 4, 138, 145, 153, 211, 368, 452, 458 Wilson, J. Q . 362 Wimmer, R. 621,629,632,634,635 Wittgenstein, L. 215,276,292,313, 399, 427, 604, 605, 606, 607, 608, 609, 610, 611, 612, 613, 615, 616, 617,619, 635 Wittmann, M. 158,159,160,162,163, 515, 521 Wolbert, W. 231,469 Wolf, J.-C. 39,376 Wolter, A.B. 139,140, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 155, 156 Wood, A. 138,225,228,229,230 Wright, C. 299,315,316 Zenon 64, 65, 70 Zeus 12, 16 Zintzen, C. 85, 88, 90