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German Pages 276 [284] Year 2013
Thomas Höwing Praktische Lust
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 113
Thomas Höwing
Praktische Lust
Kant über das Verhältnis von Fühlen, Begehren und praktischer Vernunft
.
ISBN 978-3-11-028618-2 e-ISBN 978-3-11-028630-4 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2011 an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München eingereicht habe. Mein herzlicher Dank gilt dem Erstgutachter, Prof. Dr. Günter Zöller, für die engagierte und exzellente Betreuung der Arbeit sowie seine freundliche Unterstützung in den letzten Jahren. Zugleich bedanke ich mich herzlich beim Zweitgutachter, Prof. Dr. Marcus Willaschek, für zahlreiche wertvolle Anregungen und sein großzügiges Engagement im Rahmen meiner Beschäftigung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität. Der DAAD hat mir ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt am Department of Philosophy der University of California, Berkeley gewährt. Ein besonderer Dank gilt meiner dortigen Betreuerin, Prof. Dr. Hannah Ginsborg. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“. Claudia Blöser, Johannes Höwing, Franz Knappik und Florian Marwede haben durch ihre kritische Lektüre des Manuskripts wesentlich zu seiner Verbesserung beigetragen. Für die freundliche Unterstützung über die letzten Jahre danke ich darüber hinaus Stefano Bacin, Hannes Ole Matthiessen, Giuseppe Motta, Andreas Schwab, Lukas Wallacher, der Familie Ossen sowie nicht zuletzt meinen Eltern und meinem Bruder. *** An einigen Stellen verwende ich Material aus einer Vorarbeit, die als Aufsatz in einem Sammelband zu Kants Tugendlehre erscheinen wird: Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen, in: Sensen, Oliver/ Timmermann, Jens/Trampota, Andreas (Hg.): Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin/Boston: de Gruyter 2013, 25 – 58. Köln, im Dezember 2012
Thomas Höwing
Inhalt Vorwort
V IX
Zitierweise
Siglenverzeichnis Einleitung . Leben, § § § § § §
X
1 16 Begehrungsvermögen und praktische Vernunft Vermögen und Handlung 18 Grundlinien von Kants Theorie des Begehrungsvermögens Die Rolle der Vorstellung beim Begehren 23 Kausalität und Erfolg 31 33 Leben Begehren nach Begriffen 40
. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft § Interpretationsfragen 58 § Subjektive Bedingungen des Lebens 60 § Gegenstands- und handlungsbezogene Lust 68 72 § Lust als Vorstellung einer Übereinstimmung § Zwei Aspekte der praktischen Lust 76
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89 . Lust als subjektive Einheit des Lebens § Die Idee der Zustandserhaltung 91 § Lust und die wechselseitige Beförderung von Gemütsvermögen 99 § Lust und die subjektive Einheit des Lebens 111 § Evaluativer Lustaspekt und ästhetisches Urteil 126 136 . Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung § Vorstellungslust 141 § Lusterwartung und Hedonismus 148 § Probleme der hedonistischen Deutung 153 § Hedonismus und Wohlgefallen am Angenehmen 156 § Die Subjektivität des Wohlgefallens am Angenehmen 160 § Logisch einzelne Begierde und praktische Vorschrift 164 § Evaluative Überzeugungen 168
VIII
Inhalt
§ § §
Evaluative Überzeugung und Lusterwartung 175 Die Quantifizierbarkeit des sinnlichen Gefühls 179 Sinnliche Lust und empirisch-praktische Überlegung
181
188 . Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung § Unmittelbare Bestimmung des Willens 190 § Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft 201 209 § Der Begriff der Triebfeder § Moralisches Urteil und Gefühl 217 § Die Einschränkung der Selbstliebe und das Niederschlagen des 226 Eigendünkels § Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust 233 § Demütigung und Achtung 240 Schluss
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259 Literaturverzeichnis . Primärliteratur 259 . Sekundärliteratur 259 Personenregister
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Sachwortregister
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Zitierweise Mit Ausnahme der unten aufgeführten Texte folgen alle Zitate der AkademieAusgabe von Kants gesammelten Schriften, zuerst hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band 1ff., Berlin: de Gruyter [vormals Reimer] 1902 ff. Zitate werden nach Band-, Seiten- und Zeilenzahl dieser Ausgabe ausgewiesen, z. B. 5:330.31 ff. Anm. = Akademie-Ausgabe, Band V, Seite 330, Anmerkung, Zeilen 31 ff. Auf die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der ersten und zweiten Auflage (A und B) verwiesen, z. B. A 413 = erste Auflage, Seite 413. Alle Hervorhebungen in Kants Texten werden kursiv wiedergegeben. Eigene Hervorhebungen sind durch „H. v. m.“ (Hervorhebung von mir) kenntlich gemacht. Weglassungen von Hervorhebungen sind nicht kenntlich gemacht. Ist der Bezug eines Pronomens unklar, so habe ich in einigen Fällen einen Deutungsvorschlag in eckigen Klammern eingefügt. Auf sonstige Primärliteratur wird nach dem Muster: Autor, Kurztitel, Seiten- bzw. Paragraphenzahl verwiesen, z. B. Wolff, Psychologia Empirica, § 423. Sekundärliteratur wird nach dem Muster zitiert: Autor Erscheinungsjahr, Seitenzahl, z. B. Cohen 2002, 4. In den folgenden Fällen richtet sich der Kant-Text nicht nach der AkademieAusgabe: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg: Meiner 1998 Hagen 21, in: Stark, Werner: Anhang zur Einleitung, in: Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil, hg. von Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner 21998, XLI-XLVI
Siglenverzeichnis Anth Beobachtungen EE Fakultäten Gegenden Gemeinspruch GMS Idee KpV KrV KU Logik MAN MS ND Orientieren Prol Religion Spitzfindigkeit Träume Ton
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft Der Streit der Fakultäten Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Logik Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Die Metaphysik der Sitten Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio Was heißt: Sich im Denken orientieren? Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie
Einleitung 1. Kant führt den Begriff der praktischen Lust in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten ein. Dabei stellt er zunächst einen allgemeinen Satz auf, welcher das Verhältnis von desiderativen und affektiven Zuständen betrifft: „Mit dem Begehren oder Verabscheuen“, schreibt Kant, „ist […] jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt, verbunden; aber nicht immer umgekehrt“ (MS 6:211.10 ff.). Wenn wir etwas begehren oder verabscheuen, dann empfinden wir also immer auch Lust oder Unlust. Allerdings lässt sich Kants Satz nicht umkehren. Wenn wir Lust oder Unlust an einem Gegenstand empfinden, dann ist damit nicht zwangsläufig auch ein Begehren oder Verabscheuen verbunden. Denn nach Kant kann es „eine Lust geben, welche mit gar keinem Begehren des Gegenstandes, sondern mit der bloßen Vorstellung, die man sich von einem Gegenstande macht […], schon verknüpft ist“ (MS 6:211.12 ff.). Bei diesem zuletzt angeführten Fall denkt Kant an die „contemplative Lust“ (MS 6:212.16), die unseren ästhetischen Urteilen über schöne und erhabene Gegenstände zugrunde liegt. Die Lust an einem schönen oder an einem erhabenen Gegenstand beinhaltet für Kant kein Begehren dieses Gegenstandes. Vielmehr ist das Wohlgefallen, das wir am Schönen und am Erhabenen nehmen, „ohne alles Interesse“ an der Existenz des Gegenstandes (KU 5:211.3 f.; vgl. 5:247.10). Wie verhält es sich nun aber mit der Lust, die notwendig mit dem Begehren verbunden ist? Kant spricht in diesem Fall von einer praktischen Lust: „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) nothwendig verbunden ist, praktische Lust nennen: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein“ (MS 6:212.10 – 12). Das Kennzeichen einer praktischen Lust besteht also darin, dass sie kausal mit dem Begehren eines Gegenstandes verbunden ist. Diese kausale Verbindung kann zwei Formen annehmen: Die praktische Lust an einem Gegenstand kann dem Begehren des Gegenstandes als Ursache vorangehen, oder sie kann auf das Begehren als dessen Wirkung folgen (vgl. MS 6:211.15 ff.; KpV 5:9 Anm.). Damit stellt sich natürlich die Frage, welche Fälle des Begehrens und der Lust Kant hier im Auge hat. Erste Anhaltspunkte ergeben sich aus den kurzen Beschreibungen, die Kant im ersten Abschnitt der Einleitung zur Metaphysik der Sitten von den beiden Fällen gibt. Bei der Lust, die dem Begehren als Ursache vorangeht, scheint Kant vor allem an die sinnliche Lust zu denken, die unserem Handeln aus Neigung zugrunde liegt. So bezeichnet er das Begehren, das durch diese Lust bewirkt wird, als eine sinnliche „Begierde“ (MS 6:212.22), die dann zur „Neigung“ (MS 6:212.23) wird,wenn wir den Gegenstand öfter und aus Gewohnheit
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begehren.¹ Dass die Lust dem Begehren als Ursache vorangeht, bedeutet also, dass sie eine wichtige Rolle bei der Entstehung unserer Begierden und Neigungen spielt. – Bei der Lust, die hingegen als Wirkung aus dem Begehren resultiert, scheint Kant vor allem das moralische Gefühl im Blick zu haben. So spricht er von einer „intellectuelle[n] Lust“ (MS 6:212.29), der ein „reines Vernunftinteresse“ (MS 6:213.2 f.; vgl. 6:212.30) entspricht, das seinerseits auf „reine[n] Vernunftprincipien“ beruht (MS 6:212.31). Im Grunde scheint diese Lust also mit dem moralischen Gefühl der Achtung identisch zu sein, das Kant zufolge aus der Anerkennung eines reinen Vernunftprinzips, nämlich des moralischen Gesetzes, resultiert. Tatsächlich führt Kant bereits in der Kritik der praktischen Vernunft aus, dass dieses Gefühl in einem ganz bestimmten Sinn intellektuell ist; es wird, wie Kant schreibt, nicht pathologisch, sondern „lediglich durch Vernunft bewirkt“ (KpV 5:76.16 f.; vgl. 5:75.34).² Kants Beschreibungen der beiden Fälle sind nicht besonders ausführlich. Jedoch zeigen sie, warum er überhaupt von einer praktischen Lust spricht. Letztlich geht es um die Rolle, welche die Lust beim Handeln der Menschen spielt. Dabei unterscheidet Kant zwei elementare Fälle: Beim nicht-moralischen Handeln aus Neigung geht dem Begehren eine sinnliche Lust als Ursache voran; beim moralischen Handeln aus reinen Vernunftprinzipien folgt hingegen eine intellektuelle Lust auf das Begehren als dessen Wirkung. Ein Umstand fällt an dieser Fallunterscheidung besonders auf. Kants Unterscheidung bezieht sich nicht einfach auf verschiedene Funktionen oder Rollen, die ein und dieselbe Lust beim menschlichen Handeln übernehmen kann. Vielmehr muss die Lust ganz spezifische Eigenschaften aufweisen, um jeweils als Ursache oder Wirkung des Begehrens aufzutreten. So handelt es sich bei der Lust, die dem Begehren als Ursache vorangeht, wesentlich um eine sinnliche Lust, wohingegen die Lust, die sich als Wirkung aus dem Begehren ergibt, wesentlich eine intellektuelle Lust ist. Den beiden Varianten der praktischen Lust, könnte man sagen, entsprechen zwei
1 Darüber hinaus legt er indirekt die Annahme nahe, dass das „Interesse der Neigung“ (MS 6:212.27), welches mit der besagten Lust einhergeht, letztlich sinnlich ist, weil hier „Empfindung mit Lust verbunden“ ist (MS 6:213.1). 2 Johnson zufolge stellt sich die nachfolgende Lust bei der Befriedigung einer Begierde ein (vgl. Johnson 2005, 53; für eine Variante dieser Deutung vgl. auch Packer 1989, 434). Engstrom zufolge denkt Kant hingegen an die Selbstzufriedenheit, die aus dem Bewusstsein des eigenen moralischen Handelns und der Tugend resultiert (vgl. Engstrom 2007, 144 und 147). Gegen beide Deutungen spricht allerdings die Tatsache, dass mit dieser Lust ein ‚reines Vernunftinteresse‘ verbunden ist; im Triebfederkapitel wird dieses Interesse ein „reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft“ (KpV 5:79.23 f.) genannt und in einen engen Zusammenhang zum Gefühl der Achtung für das Sittengesetz gestellt.
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grundlegende Formen von Lust, nämlich eine sinnliche und eine intellektuelle Lust. Die wichtigste Frage wird in Kants Beschreibungen allerdings offen gelassen. Warum sollte die praktische Lust immer auf eine der beiden Weisen mit dem Begehren verbunden sein? Schon eine relativ oberflächliche Betrachtung der beiden Fälle zeigt, dass Kants Satz alles andere als selbstverständlich ist. So könnte man sich zum Beispiel fragen, in welchem Sinn die sinnliche Lust unseren Begierden als Ursache vorangeht. Zumindest auf den ersten Blick widerspricht diese Aussage Kants unseren Intuitionen. Wir würden sicherlich eher zu der Auffassung neigen, dass sich diese Lust erst nachträglich, nämlich bei der Befriedigung unserer Begierden, einstellt. Für gewöhnlich empfinden wir Lust, wenn unser Begehren gestillt und auf diese Weise einem Mangel Abhilfe geschaffen wird. Kant scheint nun aber geradezu das Gegenteil zu behaupten: Wenn wir eine sinnliche Lust an einem Gegenstand empfinden, dann führt dies nach Kant erst dazu, dass wir eine Begierde nach dem Gegenstand entwickeln. Dieses Problem verkompliziert sich noch durch eine weitere Aussage Kants, die ebenfalls die Rolle der Lust beim nicht-moralischen Handeln betrifft. An anderen Stellen betont Kant nämlich, dass diesem Handeln nicht nur eine faktische Lust, sondern auch die Erwartung einer zukünftigen Lust zugrunde liegt.³ Wenn wir aus nichtmoralischen Motiven einen begehrten Gegenstand realisieren wollen, dann gehen wir stets davon aus, dass wir anlässlich der Realisierung dieses Gegenstandes auch eine Lust empfinden werden. Es ist jedoch nicht besonders leicht einzusehen, wie sich diese Lusterwartung zur tatsächlichen sinnlichen Lust verhält, die Kant zufolge der Entstehung unserer Begierden als Ursache vorangeht. Auch Kants Aussagen über die intellektuelle Lust, die als Wirkung auf das Begehren folgen soll, sind nicht ohne Schwierigkeiten. Im dritten Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft erklärt Kant zunächst ausführlich, warum das Gefühl der Achtung für das Sittengesetz nicht pathologisch, sondern intellektuell, d. h. durch die Vernunft selbst bewirkt werden muss. Letztlich entsteht dieses Gefühl aus der Anerkennung des Sittengesetzes, die in unseren moralischen Urteilen enthalten ist. Weniger deutlich ist allerdings Kants These, dass diesem Gefühl auch ein vorhergehendes Begehren eines Gegenstandes zugrunde liegt. In welchem Sinn spricht Kant hier von einem Begehren, und wie verhält sich dieses Begehren eines Gegenstandes zu unserer Anerkennung des Sittengesetzes im moralischen Urteil? Eine weitere Schwierigkeit betrifft Kants Beschreibung des moralischen Gefühls
3 Kant spricht davon, dass in diesem Fall „die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.15 ff.; vgl. 5:23.4; 5:23.14 f.; 5:23.29 ff.).
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als eine Lust. So legt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft einigen Wert auf die Feststellung, dass sich das moralische Gefühl der Achtung weder eindeutig als Lust noch als Unlust charakterisieren lässt (vgl. KpV 5:77 f.). Tatsächlich enthält dieses Gefühl auch einen „Schmerz“ (KpV 5:73.5) sowie das Bewusstsein einer Demütigung (vgl. KpV 5:73.32). Damit stellt sich natürlich die Frage, unter welcher Rücksicht sich das Gefühl der Achtung überhaupt als eine Lust beschreiben lässt, die wir noch dazu an einem begehrten Gegenstand empfinden sollen. Im ersten Abschnitt der Einleitung in die Metaphysik der Sitten gibt Kant keine Antwort auf diese Fragen. Stattdessen legt er im gleichen Werk eine weitere Unterscheidung vor, die ebenfalls zwei Varianten von praktischen Gefühlen betrifft. So unterscheidet er in der Einleitung zur Tugendlehre das pathologische und das moralische Gefühl auf folgende Weise: „Das erstere [das pathologische Gefühl – T. H.] ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letztere [das moralische Gefühl – T. H.] das, was nur auf diese folgen kann“ (MS 6:399.25 ff.).⁴ In dieser Aussage geht es offenkundig um eben jene Formen praktischer Gefühle, die auch in Kants Aussagen zur praktischen Lust thematisiert werden, nämlich um das sinnliche und das moralische Gefühl. Kant spricht darüber hinaus auch in diesem Fall von einem ‚vorhergehenden‘ und einem ‚nachfolgenden‘ Gefühl. Allerdings bezieht sich dieses Vorhergehen bzw. Nachfolgen nicht auf ein Begehren, sondern auf die Vorstellung eines Gesetzes und damit auf ein praktisches Prinzip, an dem wir uns beim rationalen Handeln orientieren (vgl. GMS 4:412.27 f.). Das sinnliche Gefühl liegt dem praktischen Prinzip zugrunde, während das moralische Gefühl auf das praktische Prinzip folgt. In der zuletzt angeführten Unterscheidung rekurriert Kant also eigentlich schon auf den Willen und damit auf die praktische Vernunft des Menschen. Denn Kant zufolge ist die Orientierung an praktischen Prinzipien charakteristisch für den Willen, und dieser wird von Kant mit der praktischen Vernunft gleichgesetzt (vgl. GMS 4:412.26 ff.). Wie aber haben wir Kants Aussage zu verstehen, dass die praktische Lust dem praktischen Prinzip entweder vorangeht oder auf dieses Prinzip folgt? Kant zufolge bilden wir praktische Prinzipien in vernünftiger Überlegung aus, und in eben jener Überlegung wenden wir diese Prinzipien auch auf unser Handeln an. Kants Unterscheidung betrifft also das Verhältnis, welches zwischen der Lust und der praktischen Überlegung besteht. Damit stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, wie sich die beiden Unterscheidungen Kants zueinander verhalten.⁵ Zumindest auf den ersten Blick scheinen sie auf unter4 Vgl. MS 6:378.8 ff.; Ton 8:395.32 ff. Anm.; GMS 4:401.25 – 28 Anm. 5 Dass zwischen beiden Aussagen ein enger Zusammenhang besteht, wird zumindest durch eine Randbemerkung Kants nahegelegt, die wir in der Kritik der praktischen Vernunft finden. Dort wirft Kant den Philosophen seiner Zeit vor, dass sie in ihren Definitionen der Lust und des
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schiedlichen Ebenen angesiedelt zu sein. In der ersten Unterscheidung geht es um das Verhältnis der Lust zu desiderativen bzw. motivierenden Zuständen, während die zweite Unterscheidung das Verhältnis der Lust zur praktischen Überlegung und zum rationalen Handeln betrifft. Das exegetische Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, eine Interpretation von Kants Theorie der praktischen Lust zu entwickeln. Schon der kurze Überblick über Kants Beschreibung dieser Lust und ihrer Varianten zeigt, dass hierzu relativ grundlegende Begriffe der Kantischen Psychologie und Handlungstheorie erörtert werden müssen. Was ist Kant zufolge eine Lust und welche spezifischen Formen kann sie annehmen? Wie verhält sich die Lust, die wir an einem Gegenstand empfinden, zum Begehren dieses Gegenstandes? Was überhaupt ist ein Begehren und wie verhält es sich zum Wollen? Und schließlich: In welchem Zusammenhang stehen Lust und Begehren zur praktischen Überlegung und den praktischen Prinzipien, an denen wir uns beim rationalen Handeln orientieren? 2. In der Forschung ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Kant den Gefühlen eine wichtige Rolle beim menschlichen Handeln zuschreibt. Dabei lassen sich zwei Debatten unterscheiden. Eine erste Debatte betrifft die Rolle, welche die sinnliche Lust beim nicht-moralischen Handeln aus Neigung spielt. Kontrovers diskutiert wird hier vor allem eine Aussage Kants, die ich bereits erwähnt habe. Kant zufolge streben wir in unseren nicht-moralischen Handlungen stets nach der Realisierung eines Gegenstandes, von dessen Gegenwart wir eine Lust erwarten. Diese Aussage wirft die Frage auf, ob Kant einen psychologischen Hedonismus des nicht-moralischen Handelns vertritt. Besteht für Kant der Zweck unseres nichtmoralischen Handelns letztlich in der Lust, die wir uns von der Realisierung eines Gegenstandes versprechen? Eine einflussreiche Deutung bejaht diese Frage. Dieser Deutung zufolge vertritt Kant die Ansicht, dass unser nicht-moralisches Handeln letztlich notwendig die Maximierung der eigenen Lust sowie die Minimierung von Schmerz zum Zweck hat. Alle anderen Gegenstände, die wir aus nicht-moralischen Motiven anstreben, werden von uns lediglich als Mittel zur Luststeigerung angesehen.⁶ Allerdings
Begehrungsvermögens eine Vorentscheidung getroffen hätten, die eine fatale Konsequenz für ihre praktische Philosophie gehabt habe. In diesen Definitionen hätten sie, so Kant, „das Gefühl der Lust der Bestimmung des Begehrungsvermögens zum Grunde gelegt“, womit das „oberste Princip der praktischen Philosophie nothwendig empirisch ausfallen“ musste (KpV 5:9.13 ff. Anm.). 6 Die einflussreichste Variante dieser Lesart findet man bei Beck 1960, 92– 102. Auch in der seit dem neunzehnten Jahrhundert geführten Debatte um Werterkenntnis und Wertfühlen spielt diese Lesart eine wichtige Rolle, vgl. vor allem Scheler 82008, 246 – 250. Die Diskussion wird
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scheint diese Deutung aus systematischen Gründen unbefriedigend zu sein.⁷ Denn Kant würde in diesem Fall nicht nur davon ausgehen, dass wir selbst natürliche Zwecke wie Familie oder Freundschaft außerhalb der Moral nur noch als bloße Instrumente zur Lustmaximierung betrachten. Seine ganze praktische Philosophie wäre darüber hinaus auf einer unplausiblen Unterscheidung aufgebaut. Als vernünftige Wesen hätten wir die Wahl zwischen zwei Extremen. Entweder wir verhalten uns egoistisch und gehen nur unserer eigenen Lustbefriedigung nach; oder wir handeln moralisch und nehmen bei der Wahl einer Handlung keine Rücksicht auf unsere eigenen Interessen.⁸ Eine zweite Debatte behandelt die Frage, welche praktische Rolle Kant den Gefühlen in seiner Theorie des moralischen Handelns zuschreibt. Kant setzt sich hier zunächst kritisch mit den Positionen seiner Zeitgenossen auseinander. Erstens argumentiert er gegen die Ansicht, der zufolge der „Probirstein des Guten und Bösen“ (KpV 5:63.16) letztlich in einem Gefühl der Lust und Unlust besteht. Das Kriterium, das unserer Unterscheidung zwischen moralisch gutem und schlechtem Handeln zugrunde liegt, beruht nicht auf einem moralischen Sinn, sondern auf einer rein rationalen Vorstellung (nämlich auf der Vorstellung des moralischen Gesetzes). Kant wehrt sich zweitens gegen die Auffassung, dass uns nur die Aussicht auf ein besonderes Gefühl der Befriedigung – etwa auf eine „Seelenruhe und Zufriedenheit“ (MS 6:377.21) – dazu motivieren kann, unsere Eigeninteressen zurückzustellen und unsere Pflicht zu erfüllen. Trotz all dieser Vorbehalte kommt auch Kants praktische Philosophie nicht ohne ein moralisches Gefühl aus, das er, wie bereits angedeutet, als ein Gefühl der „Achtung für das Sittengesetz“ bezeichnet. Angesichts der erwähnten Vorbehalte stellt sich allerdings die Frage, welche praktische Rolle dieses Gefühl Kant zufolge
seitdem auch unter dem Stichwort ‚Kants Widerlegung des Eudämonismus‘ geführt, vgl. etwa Scheler 82008, 246, sowie Reiner 1974 [1963]. In jüngerer Zeit wurden Varianten dieser Lesart von Irwin 1996, Johnson 2005, Herman 2007, 176 ff., sowie Morrisson 2008, 56 ff., vertreten. 7 Vgl. zum Folgenden Reath 1989a, 43 ff. 8 Reath hat dafür argumentiert, dass sich Kants Aussage über die Rolle der Lusterwartung beim nicht-moralischen Handeln auch in einem nicht-hedonistischen Sinn verstehen lässt (vgl. Reath 1989a). Reath zufolge fungiert die Erwartung einer zukünftigen Lust als eine Art heuristisches Prinzip bei der Wahl unserer eigentlichen Zwecke. Um zu entscheiden, was wir am meisten begehren, gehen wir der Frage nach, wie viel Lust wir bei der Befriedigung einer Begierde empfinden werden. Dieses Verfahren setzt offenkundig nicht voraus, dass wir bloß die Lust um ihrer selbst willen begehren. Es beruht lediglich auf der Annahme, dass wir bei der Realisierung unserer eigentlichen Zwecke auch ein Gefühl der Befriedigung und damit eine Lust empfinden werden. Allerdings hat diese Deutung immer noch den Nachteil, dass der Wahl nicht-moralischer Zwecke ein hedonistischer Kalkül zugrunde liegt, in dem wir erwartete Lustmengen gegeneinander aufrechnen (vgl. hierzu Kap. 4, § 9).
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überhaupt noch übernehmen könnte. Er selbst scheint anzudeuten, dass es eng mit der moralischen Motivation verbunden ist. So entwickelt er seine Theorie der Achtung in einer Abhandlung mit dem Titel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 5:71.27). Doch wie verhalten sich die moralische Motivation und das Gefühl der Achtung genau zueinander? Zumindest auf den ersten Blick ist es schwierig einzusehen, auf welche Weise uns ein affektiver Zustand bei der freien Wahl einer moralischen Handlung unterstützen könnte. Einer kognitivistischen Deutung zufolge motiviert uns daher allein die intellektuelle Anerkennung des Sittengesetzes zu einem genuin moralischen Handeln. Das Gefühl der Achtung stellt sich dann erst nachträglich als eine subjektive Erfahrung dieses Motivationsprozesses ein.⁹ Eine affektivistische Deutung geht hingegen davon aus, dass das Gefühl der Achtung immer noch einen genuinen Beitrag zur moralischen Motivation leisten kann. Es kann uns bei der Wahl der moralisch richtigen Handlungsweise unterstützen.¹⁰ Der Schwerpunkt der beiden Debatten liegt auf der Frage, wie sich Kants Aussagen über die praktische Rolle der Gefühle mit einer plausiblen Konzeption von praktischer Rationalität vereinbaren lassen. Auffällig ist allerdings, dass Kants Konzeption von Lust und Begehren dabei meist nur am Rande erörtert wird. Insbesondere die Frage, was Kant zufolge überhaupt eine Lust ist und welche Formen sie annehmen kann, wird oft gar nicht erst gestellt.¹¹ Nun scheint es schon von der Sache her nicht möglich zu sein, eine Theorie der praktischen Rolle der Gefühle aufzustellen, ohne dabei zumindest eine rudimentäre Beschreibung dieses Phänomens und seiner unterschiedlichen Formen zugrunde zu legen. Dass Kant sich dieser Tatsache bewusst war, zeigt im Grunde schon der kurze Überblick über seine Aussagen zur praktischen Lust. Kant zufolge müssen die beiden Varianten der praktischen Lust jeweils ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen, damit sie mit dem Begehren als Ursache oder Wirkung verbunden sein können. Vielleicht ist Kant nicht ganz unschuldig daran, dass seine Theorie der Lust nur selten Beachtung findet, wenn es um die praktische Rolle der Gefühle geht. So drängt sich bei der Lektüre der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten förmlich der Eindruck auf, dass die Gefühle so gut wie keinen Platz in Kants praktischer Philosophie haben. Die Kritik der praktischen Vernunft zeigt jedoch deutlich, dass dies nicht der Fall ist. In zentralen Partien dieses Werks setzt sich Kant mit der Frage auseinander, welche Rolle die Lust beim nicht-moralischen bzw. moralischen
9 Diese Deutung wurde zuerst von Reath 1989b und Allison 1990, 120 ff., vertreten. 10 Diese Deutung wird vor allem von McCarty verteidigt, vgl. McCarty 1993, 1994 sowie 2009, 167 ff.; vgl. auch Timmermann 2003, 189 ff. 11 Wichtige Ausnahmen bilden die Arbeiten von Engstrom und Morrisson, vgl. Engstrom 2007 und 2010; Morrisson 2008.
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Handeln spielt (vgl. vor allem KpV 5:9 Anm.; 5:21– 26; 5:71– 89). Gleichwohl äußert sich Kant auch hier lediglich in Andeutungen und abstrakten Formeln zu den Voraussetzungen, die von der Seite der Theorie der Gefühle in seine Erklärung der praktischen Rolle der Lust eingehen. Dies ändert sich allerdings mit der Kritik der Urteilskraft. Im Rahmen seiner Analyse der Geschmacksurteile sieht sich Kant genötigt, die Grundlinien seiner eigenen Theorie der Lust explizit zu machen. Es sind vor allem zwei Aspekte dieser Theorie, die zum Verständnis von Kants Begriff der praktischen Lust beitragen. Erstens entwickelt Kant dort eine allgemeine Beschreibung des Zustandes,welcher der Entstehung von Lustzuständen zugrunde liegt. Streng genommen scheint es ihm hierbei allerdings nicht nur um die Entstehung der Lust zu gehen. Vor allem seine Aussagen zum Modellfall des freien Spiels der Erkenntniskräfte und der dadurch bewirkten kontemplativen Lust legen die Annahme nahe, dass wir uns in der Lust auch besonderer Eigenschaften des zugrunde liegenden Zustandes bewusst werden (vgl. KU 5:218 f.26 ff.). Zweitens macht Kant in der Kritik der Urteilskraft deutlich, dass für ihn ein konstitutiver Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Formen der Lust und unserer Wertschätzung lustvoller Gegenstände besteht. So unterscheidet Kant bereits in den ersten Paragraphen dieses Werks die Formen der Lust im Hinblick auf das spezifische „Wohlgefallen“, das wir jeweils am lustvollen Gegenstand nehmen (vgl. KU §§ 2 ff., 5:204 ff.). Dieses Wohlgefallen ist für Kant darüber hinaus sehr eng mit entsprechenden evaluativen Urteilen verbunden, die das Angenehme, das Schöne und Erhabene, sowie das moralisch Gute betreffen (vgl. insbesondere KU 5:266 f.). In dieser Arbeit möchte ich zeigen, dass wir Kants Aussagen über die praktische Rolle der Lust wesentlich besser verstehen können, wenn wir seine allgemeine Theorie der Lust etwas ausführlicher als bisher berücksichtigen. Vor allem den beiden genannten Aspekten dieser Theorie wird dabei eine wichtige Bedeutung zukommen. So werden wir sehen, dass Kants allgemeine Theorie der Entstehung von Lust auch zu einem besseren Verständnis seines Begriffs der praktischen Lust beiträgt. Ich werde dafür argumentieren, dass sich der Ausdruck ‚praktische Lust‘ für Kant letztlich auf eine spezifische Form von Lust bezieht, für welche die praktische Aktivität des Menschen selbst konstitutiv ist. Die praktische Lust ergibt sich aus einer Beförderung von Kräften, die unserer praktischen Aktivität selbst zugrunde liegen. Allerdings ist dieser Zustand einer gesteigerten Aktivität von Kräften für Kant nicht nur kausal mit der Lust verbunden. In der praktischen Lust erleben wir vielmehr den zugrunde liegenden Aktivitätszustand
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als einen, der in besonderer Weise den Bedingungen unserer praktischen Aktivität entspricht.¹² Ein zweiter wichtiger Aspekt von Kants Theorie der Lust betrifft das Wohlgefallen, das wir Kant zufolge in einer Lust an einem Gegenstand nehmen. Dass dieser Aspekt auch für Kants Theorie der praktischen Lust von Bedeutung sein muss, liegt schon aus philosophischen Gründen auf der Hand. Um die praktische Rolle der Lust zu bestimmen, müssen wir zwangsläufig die Frage klären, auf welche Weise sich die Lust zu unserer Wertschätzung eines lustvollen Gegenstandes und zu dem entsprechenden evaluativen Urteil verhält. In dieser Arbeit werde ich die These vertreten, dass die praktische Lust für Kant wesentlicher Bestandteil einer evaluativen Erfahrung ist. In dieser Erfahrung werden wir uns auf eine affektive Weise der Tatsache bewusst, dass uns angenehme Gegenstände bzw. moralisch gute Handlungen unmittelbar (also nicht bloß als Mittel zu anderen Zwecken) gefallen. Diese Kantische Idee des praktischen Wohlgefallens in einer Lust ist natürlich nicht ohne Schwierigkeiten. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass sie sich in einem wesentlichen Punkt von einer kognitivistischen Theorie des Wertfühlens unterscheidet. Kant zufolge liefert uns die evaluative Erfahrung in einer praktischen Lust keine Anhaltspunkte dafür, dass dem lustvollen Gegenstand unabhängig von dieser Erfahrung bestimmte Eigenschaften (also z. B. bestimmte Wertqualitäten) zukommen. Auf die praktische Lust trifft zu, was Kant zufolge für alle Gefühle gilt: Sie ist rein subjektiv und leistet keinen Beitrag zur Erkenntnis eines Gegenstandes. Ihre Funktion ist vielmehr praktisch und auf das Begehren eines Gegenstandes bezogen. In der Erfahrung einer praktischen Lust werden wir affektiv auf jene Gegenstände unserer Vorstellungen aufmerksam, die wir nicht
12 Für Kant besteht also eigentlich eine wechselseitige Verbindung zwischen der praktischen Lust und unserer praktischen Aktivität. Dies lässt sich bereits an der doppelten Rolle ablesen, die dem Begriff des Lebens in Kants Theorie der praktischen Lust zukommt. Wie wir sehen werden, besteht für Kant ein wesentliches Charakteristikum lebendiger Wesen (also von Tieren und Menschen) darin, dass diese Wesen in einem sehr weiten Sinn absichtlich handeln können. Unter dieser Rücksicht bezieht sich der Begriff der praktischen Lust also auf die Funktion, die der Lust in der lebendigen Aktivität des Menschen zukommt. Allerdings beruht Kant zufolge die praktische Lust umgekehrt auf einer lebendigen Aktivität des Menschen. Sie ergibt sich aus einer Beförderung unserer „Lebenskräfte“, also jener Kräfte, die unserer lebendigen Aktivität zugrunde liegen. Diese Wechselbeziehung zwischen unserer praktischen Aktivität und dem praktischen Gefühl wird besonders deutlich an einer Aussage Kants über das moralische Gefühl. Wenn, so Kant in der Metaphysik der Sitten, „die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden“ (MS 6:400.12 ff.).
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bloß als Mittel begehren. Die praktische Lust an einem Gegenstand ist für Kant also tatsächlich sehr eng mit einem motivationalen Zustand verbunden. Allerdings kommt ihr selbst keine motivatorische Kraft, sondern eher eine kognitive Rolle zu. Sie ‚beleuchtet‘ lediglich die Gegenstände, auf die sich unsere motivationalen Zustände ursprünglich richten. Damit übernimmt die praktische Lust gerade beim rationalen Handeln eine wichtige Aufgabe. Diese Aufgabe ist auf der Schnittstelle zwischen praktischer Motivation und praktischer Überlegung angesiedelt. Als rational handelnde Personen müssen wir darüber nachdenken können, was wir eigentlich begehren und worin unsere ‚Strebensziele‘ bestehen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist zweifelsohne die Fähigkeit, uns der Gegenstände bewusst zu werden, auf die sich unser Begehren ursprünglich richtet. Allerdings werden wir uns in der praktischen Lust nicht einfach der Tatsache bewusst, dass wir faktisch dazu angetrieben werden bestimmte Gegenstände zu verwirklichen. Es ist eine der Pointen von Kants Theorie der praktischen Lust, dass uns die Inhalte unserer eigenen Motivationszustände als solche nur in Form eines evaluativen Bewusstseins zugänglich sind. In der praktischen Lust werden wir uns auf eine affektive Weise der Tatsache bewusst, dass uns die Gegenstände unseres Begehrens unmittelbar gefallen. Ich werde allerdings nicht direkt dafür argumentieren, dass Kant der Lust in seiner praktischen Philosophie eine derartige Funktion beim Handeln zuschreibt. Diese These wird sich vielmehr aus meiner Interpretation von Kants Beschreibung der Rolle ergeben, welche die beiden Formen der praktischen Lust jeweils beim nicht-moralischen und beim moralischen Handeln spielen. Im ersten Fall geht Kant meiner Auffassung zufolge davon aus, dass alle unsere sinnlichen Begierden nach Gegenständen in einer sinnlichen Lust entstehen, die wir in Gegenwart dieser Gegenstände empfinden. Dies erklärt sich dadurch, dass wir in dieser Lust dazu tendieren einen Zustand aufrecht zu erhalten, der wesentlich von der Gegenwart des Gegenstandes abhängt. Da wir diesen Zustand nur aufrechterhalten können, wenn wir die Gegenwart des Gegenstandes sicherstellen, entsteht in uns eine Begierde nach dem Gegenstand.¹³ Allerdings besteht zwischen dieser Lust und der Begierde nicht nur eine kausale Beziehung. Darüber hinaus richtet sich unsere Begierde auf eben jenen Gegenstand, den wir in der Erfahrung einer Lust als unmittelbar angenehm, lieblich, erfreulich usw. erlebt haben. Ursprünglich begehren wir diesen Gegenstand daher nicht unter einer bestimmten theoretischen Beschreibung (etwa als eine Rose oder eine Blume).Vielmehr begehren wir ihn als
13 Eine ähnliche Erklärung der dem Begehren vorangehenden Lust hat bereits Engstrom entwickelt, vgl. Engstrom 2007, 140 f., und hierzu Kap. 3, § 2.
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etwas, das uns in der Erfahrung einer Lust unmittelbar (also nicht bloß als Mittel zu anderen Zwecken) gefällt. Wenn diese Deutung zutrifft, dann besteht die praktische Funktion der sinnlichen Lust also tatsächlich darin, uns die Inhalte unserer Begierden als solche bewusst zu machen. Darüber hinaus zeigt diese Deutung, warum die hedonistische Interpretation von Kants Theorie des nicht-moralischen Handelns nicht zutreffen kann. Wenn uns die Gegenstände unserer Begierden bereits in der Lust unmittelbar (also nicht bloß als Mittel) gefallen, so betrachten wir sie schon in dieser Erfahrung nicht als bloße Instrumente zur Lust-Maximierung. Kants These, der zufolge unser nicht-moralisches Handeln auf der Erwartung einer zukünftigen Lust beruht, muss daher einen nicht-hedonistischen Hintergrund haben. Meines Erachtens beantwortet diese These die Frage, auf welche Weise das subjektive Angenehm-Finden eines Gegenstandes in unsere praktische Überlegung eingeht. Kant zufolge geschieht dies in Form von allgemeinen Überzeugungen, die wir im Rekurs auf unsere vergangenen Lusterfahrungen bilden. In diesen Überzeugungen gehen wir davon aus, dass Gegenstände einer bestimmten Art ganz generell angenehm sind, (z. B. dass Rosen lieblich duften). Allerdings sind diese Überzeugungen für Kant ebenso subjektiv wie die ihnen zugrunde liegenden Lusterfahrungen. Dass Rosen für mich im Geruch angenehm sind, hängt letztlich davon ab, dass ich stets eine Lusterfahrung mache, wenn ich eine Rose im Geruch wahrnehme. In einer derartigen Überzeugung setze ich also voraus, dass ich immer eine Lusterfahrung mit einem Gegenstand dieser Art gemacht habe bzw. machen werde. Dies bedeutet aber nicht, dass mein Handeln aus dieser Überzeugung letztlich nur auf diese Lusterfahrung abzielt. Es besagt lediglich, dass die zugrunde liegende Überzeugung nur zutrifft, wenn ich auch die entsprechende Lusterfahrung machen werde. In diesem Sinn liegt unserem nicht-moralischen Handeln also die implizite Erwartung einer zukünftigen Lust zugrunde. Auch im Fall des moralischen Handelns ist die praktische Lust sehr eng verbunden mit einem Motivationszustand. Für Kant folgt die Lust hier auf das Begehren als dessen Wirkung. Bei diesem ‚Begehren‘ denkt Kant meiner Auffassung zufolge wesentlich an die Bestimmung des Willens im moralischen Urteil. Wie wir sehen werden, hat das moralische Urteil nicht nur einen kognitiven, sondern auch einen desiderativen Aspekt. Das moralische Urteil beinhaltet, mit anderen Worten, schon selbst eine motivatorische Kraft, der wir uns allerdings nicht unmittelbar bewusst werden können. Denn wäre dies der Fall, so hätten wir Kant zufolge einen unmittelbaren empirischen Zugang zu unserer Willensfreiheit, und dies ist natürlich nicht möglich. Hieraus ergibt sich für Kant nun ein grundlegendes Problem:Wie können wir durch unser eigenes praktisches Urteil zu einem entsprechenden Handeln motiviert werden, wenn wir uns seiner motivatorischen Kraft noch nicht einmal bewusst sind?
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Kant löst dieses Problem in seiner Theorie des moralischen Gefühls. Hier argumentiert er für die These, dass wir uns der motivatorischen Kraft unseres eigenen Urteils indirekt, nämlich in einem nachträglichen Gefühl, bewusst werden. Dieses Gefühl ergibt sich zunächst aus den Auswirkungen, welche die motivatorische Kraft unseres Urteils auf unseren gesamten Motivationszustand hat. Diese Kraft schränkt das kausale Potential unserer Begierden und Neigungen ein, und hieraus resultiert zunächst ein negatives Schmerzgefühl. In einem weiteren Schritt erhält dieses Gefühl einen evaluativen Gehalt, indem wir es in einer Reflexion erneut auf den Inhalt unseres Urteils zurückbeziehen. Diese Reflexion führt dazu, dass wir es am Ende mit einer ziemlich komplexen Emotion zu tun haben, die für Kant sowohl Selbstdemütigung als auch Achtung für das Sittengesetz beinhaltet. Im Kern werden wir uns in dieser Emotion aber der Tatsache bewusst, dass wir im Lichte unseres eigenen Urteils das genuin moralische Handeln auch auf eine affektive Weise wertschätzen. Aus diesem Grund ist das moralische Gefühl auch nicht vollkommen unabhängig von unserem eigenen moralischen Urteil und der darin enthaltenen Anerkennung des Sittengesetzes. Vielmehr beinhaltet es für Kant das Bewusstsein seiner eigenen rationalen Angemessenheit. Wir sind uns in diesem Gefühl unmittelbar der Tatsache bewusst, dass es im Lichte unseres eigenen moralischen Urteils richtig ist, das moralische Handeln auch auf eine affektive Weise wertzuschätzen. 3. Damit sind die Grundlinien meiner Interpretation dargestellt. Meine eigentliche Untersuchung von Kants Begriff der praktischen Lust gliedert sich in fünf Kapitel. Das erste Kapitel behandelt die drei grundlegenden Begriffe in Kants Theorie der praktischen Lust: die Begriffe des Lebens, des Begehrungsvermögens und der praktischen Vernunft. Dabei wird sich herausstellen, dass sich alle drei Begriffe letztlich auf unsere praktische Aktivität beziehen. So besteht für Kant ein wesentliches Merkmal aller uns bekannten Lebensformen (also von Tieren und Menschen) darin, dass diese über ein Begehrungsvermögen verfügen. Charakteristisch für dieses Vermögen ist die kausale Rolle von Vorstellungen: Bei einem begehrenden Wesen kann die Vorstellung eines Gegenstandes dazu führen, dass das Wesen den Gegenstand durch den Einsatz seiner Kräfte realisiert. Kants Begriff des Begehrungsvermögens bezieht sich also letztlich auf die Fähigkeit eines Wesens, die eigenen Kräfte im Rekurs auf Vorstellungen selbst zu organisieren und in diesem Sinn absichtlich zu handeln. Im Fall des spezifisch-menschlichen Lebens kommen hierbei auch begriffliche Fähigkeiten zum Einsatz – der Mensch verfügt, wie Kant in der Metaphysik der Sitten schreibt, über ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14). Was dies genau bedeutet, zeige ich am Schluss des Kapitels exemplarisch am Modellfall des absichtlichen körperlichen Handelns.
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Im zweiten Kapitel gehe ich dann der Frage nach, worin das charakteristische Merkmal einer praktischen Lust besteht. Zu diesem Zweck diskutiere ich Kants Definition der praktischen Lust in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft (vgl. KpV 5:9.23 ff. Anm.). Das wesentliche Merkmal der praktischen Lust, so meine These, besteht in ihrer kausalen Verbindung zur ursprünglichen Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens. Die praktische Lust stellt sich also immer dann ein, wenn in uns ein Begehren entsteht, d. h. wenn die Vorstellung eines Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält. Während allerdings die sinnliche Lust am Angenehmen der Entstehung einer Begierde als Ursache vorangeht, ergibt sich die moralische Lust als Wirkung daraus, dass in uns ein Begehren entstanden ist. Darüber hinaus gehe ich der Frage nach, wie wir Kants Redeweise von der „Übereinstimmung“ verstehen wollen, die in einer Lust zwischen dem Gegenstand oder der Handlung und den „subjectiven Bedingungen des Lebens“ besteht (KpV 5:9.23 f. Anm.). Ich interpretiere diese Formulierung, indem ich zwischen einem kausalen und einem evaluativen Aspekt einer praktischen Lust unterscheide. Eine praktische Lust ist einerseits ein Lustzustand, der aus einem inneren Vorgang im fühlenden Subjekt resultiert. Andererseits ist die praktische Lust wesentlich eine Lust-an-etwas. In der Erfahrung einer praktischen Lust werden wir uns der Tatsache bewusst, dass uns ein vorgestellter Gegenstand unmittelbar gefällt. Dieses Gefallen hat für Kant im Grunde die Struktur einer Beurteilung. Kant zufolge betrachten oder beurteilen wir hier den Gegenstand vor dem Hintergrund seiner ‚Übereinstimmung‘ mit den Bedingungen unseres Vorstellungslebens. Diese nicht ganz einfache Idee Kants erläutere ich am Schluss des Kapitels anhand seiner Ausführungen zum unmittelbaren Wohlgefallen in der Kritik der Urteilskraft. Eine Untersuchung von Kants Begriff der praktischen Lust sollte auch die Frage klären, was überhaupt eine Lust ist und auf welche Weise sie entsteht. Diese Fragestellung ist Gegenstand des dritten Kapitels. In der Lust, so meine These, werden Kräfte befördert, deren Einsatz eine subjektive Bedingung für die Ausübung eines Grundvermögens des menschlichen Gemüts darstellt. So liegt z. B. der kontemplativen Lust am Schönen eine Beförderung jener Kräfte zugrunde, die konstitutiv sind für die Ausübung des Erkenntnisvermögens in theoretischen Urteilen. Meines Erachtens verhält es sich im Fall der praktischen Lust ähnlich. Hier werden Kräfte gesteigert, welche konstitutiv sind für die Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim absichtlichen Handeln. Darüber hinaus beinhaltet die Lust in beiden Fällen auch das Bewusstsein, dass der zugrunde liegende Aktivitätszustand subjektiv zweckmäßig ist im Hinblick auf die Ausübung des Erkenntnis- bzw. Begehrungsvermögens. In der Lust erleben wir unseren Zustand als besonders passend im Hinblick auf die Bedingungen des Erkennens und Handelns. Was dies genau bedeutet, verdeutliche ich am Beispiel der sinnlichen Lust.
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Kant zufolge resultiert diese Lust aus einer Steigerung jener körperlichen Kräfte, die wir sonst beim körperlichen Handeln einsetzen. Die sinnliche Lust beinhaltet darüber hinaus auch ein ‚Vitalitätsbewusstsein‘ – wir erleben den zugrunde liegenden körperlichen Aktivitätszustand als besonders zweckmäßig im Hinblick auf unser körperliches Handeln. Am Schluss des dritten Kapitels diskutiere ich dann eine Frage, die eng mit Kants Theorie der Lustentstehung zusammen hängt.Wie verhält sich diese Theorie zu Kants Behauptung, dass uns in der Lust die vorgestellten Gegenstände zugleich unmittelbar gefallen? Hier argumentiere ich für die These, dass für Kant der Prozess der Entstehung einer Lust zugleich die Struktur eines ästhetischen Urteils hat. Das ästhetische Urteil richtet sich allerdings nicht auf diesen inneren Prozess, sondern wesentlich auf den Gegenstand jener Vorstellung, die den Prozess in uns ausgelöst hat. Wenn wir anlässlich einer bewussten Vorstellung eine Lust empfinden, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass uns der Gegenstand dieser Vorstellung unmittelbar gefällt. Das Bewusstsein der subjektiven Zweckmäßigkeit übernimmt in diesem Urteil eine besondere Rolle; es fungiert als ein subjektives Kriterium für unser unmittelbares Wohlgefallen am vorgestellten Gegenstand. In den beiden letzten Kapiteln soll es schließlich um das Verhältnis gehen, das Kant zufolge zwischen der praktischen Lust und dem rationalen Handeln besteht. Im vierten Kapitel entwickle ich eine Interpretation von Kants Aussagen über die Rolle, welche die sinnliche Lust am Angenehmen beim Handeln nach materialen praktischen Prinzipien spielt. Hier argumentiere ich zunächst gegen die Ansicht, dass es sich bei dieser Lust lediglich um eine Vorstellungslust oder eine Antizipationslust handelt. Kant zufolge entsteht die Begierde nach einem Gegenstand vielmehr in einer Lust, die wir an der Gegenwart dieses Gegenstandes empfinden. Der Hauptteil des Kapitels ist dann der Frage gewidmet, wie sich diese Lust zu der Lusterwartung verhält, die Kant zufolge ebenfalls unserem Handeln nach materialen praktischen Prinzipien zugrunde liegt. Die Ausbildung der Lusterwartung ist meines Erachtens nötig, um ausgehend von einer Begierde eine praktische Vorschrift zu bilden, nach der wir uns beim Handeln richten. Hierbei spielen, wie bereits angedeutet, unsere allgemeinen Überzeugungen über das Angenehme eine entscheidende Rolle. Eine genauere Analyse der Subjektivität dieser Überzeugungen wird dann zeigen, warum Kant nicht davon ausgeht, dass das nichtmoralische Handeln letztlich auf die Maximierung der eigenen Lust zielt. Gegenstand des fünften Kapitels ist Kants Theorie des moralischen Gefühls und seine Rolle beim Handeln nach formalen praktischen Prinzipien. Im ersten Teil des Kapitels untersuche ich zunächst die Voraussetzungen von Kants Triebfedertheorie. Dabei kommt es mir vor allem darauf an zu zeigen, dass für Kant das moralische Urteil selbst eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsbzw. Willensvermögens beinhaltet. Die Vorstellung des moralischen Gesetzes
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fungiert als ‚Triebfeder‘ des Willens, sofern sie den ausschlaggebenden Faktor für diese Aktualisierung unseres Willensvermögens darstellt. Im zweiten Teil des Kapitels gehe ich dann der Frage nach, auf welche Weise wir uns dieser Aktualisierung unseres Willensvermögens im moralischen Urteil bewusst werden. Wie ich bereits angedeutet habe, können wir uns der desiderativen Kraft unseres eigenen Urteils nur indirekt, nämlich in einem dadurch nachträglich bewirkten Gefühl bewusst werden. In meiner Analyse von Kants Aussagen über die Entstehung des moralischen Gefühls möchte ich vor allem zeigen, dass dieses Gefühl nicht bloß eine psychische Begleiterscheinung unseres moralischen Urteils ist. Vielmehr beruht dieses Gefühl wesentlich auf einer Reflexion, in der ein zunächst noch unbestimmter Schmerz zu einer komplexen moralischen Emotion wird, die Kant als ‚Achtung für das Sittengesetz‘ bezeichnet.
1. Leben, Begehrungsvermögen und praktische Vernunft Der Begriff des Lebens spielt eine zentrale Rolle in Kants Theorie der praktischen Lust. In der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft definiert Kant die Lust im Rekurs auf die „subjectiven Bedingungen des Lebens“ (KpV 5:9.24 Anm.) und in seinen Ausführungen zu den beiden Grundformen der praktischen Lust verweist er immer wieder auf die Kräfte, die konstitutiv sind für lebendige Wesen. So führt Kant etwa in der Kritik der Urteilskraft alle sinnlichen Vergnügen und Schmerzen auf ein Gefühl der „Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte“ zurück (KU 5:278.2 f.; vgl. Anth 7:231.22 f.). In der Metaphysik der Sitten spricht er außerdem von der „sittliche[n] Lebenskraft“, die unserem moralischen Gefühl zugrunde liegt. Wenn die „sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit […] in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden“ (MS 6:400.12 ff.). Ein weiterer zentraler Begriff in Kants Theorie der praktischen Lust ist der Begriff des Begehrungsvermögens. Kant zufolge ist „[m]it dem Begehren oder Verabscheuen […] jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt, verbunden“ (MS 6:211.10 f.). Kant definiert sogar die praktische Lust im Rekurs auf das Begehren: „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) nothwendig verbunden ist, praktische Lust nennen“ (MS 6:212.10 ff.). Dabei unterscheidet Kant die beiden Varianten der praktischen Lust im Hinblick auf das kausale Verhältnis, in dem sie jeweils zu unserem Begehren stehen. Die sinnliche Lust liegt der Bestimmung des Begehrungsvermögens als Ursache zugrunde (vgl. MS 6:211 ff.; KpV 5:22.9 ff.); die moralische oder „intellectuelle Lust“ (MS 6:212.29) folgt hingegen als Wirkung auf die Bestimmung des Begehrungsvermögens. Schließlich charakterisiert Kant die praktische Lust auch im Hinblick auf den Willen und die praktische Vernunft des Menschen. Für den Willen ist Kant zufolge die Orientierung an praktischen Prinzipien charakteristisch (vgl. GMS 4:412.26 ff.; KpV 5:32.11 ff.; 5:60.16 ff.). Kant unterscheidet nun die beiden Formen der praktischen Lust, indem er auf ihr jeweiliges Verhältnis zu diesen Prinzipien verweist. Das Gefühl der Lust und Unlust, welches beim Handeln eine wesentliche Rolle spielt, ist „entweder ein pathologisches oder moralisches Gefühl“ (MS 6:399.25). Im ersten Fall liegt das Gefühl der Vorstellung des Gesetzes zugrunde, während es im zweiten Fall auf diese Vorstellung folgt: „Das erstere ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letztere das, was nur auf diese folgen kann“ (MS 6:399.25 ff.; vgl. 6:378.8 ff.; Ton 8:395 Anm.; GMS 4:401.25 ff.
1. Leben, Begehrungsvermögen und praktische Vernunft
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Anm.). Diese Beschreibung der beiden Formen praktischer Lust rekurriert also im Grunde schon auf die praktische Vernunft des Menschen, denn für Kant ist der Wille identisch mit der praktischen Vernunft (vgl. GMS 4:412.28 ff.; KpV 5:55; MS 6:213). Leben, Begehrungsvermögen und praktische Vernunft sind also drei zentrale Begriffe in Kants Theorie der praktischen Lust. Diese Begriffe hängen nun ihrerseits sehr eng miteinander zusammen. Denn das Leben ist Kant zufolge nichts anderes als „das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“ (KpV 5:9.19 f. Anm.). Der Wille oder die praktische Vernunft ist für Kant hingegen die spezifische Form, die das Begehrungsvermögen beim Menschen annimmt (vgl. MS 6:213.14 ff.).¹⁴ In diesem Kapitel untersuche ich daher zunächst den Zusammenhang, der zwischen den Begriffen von Leben, Begehren und praktischer Vernunft besteht. Dabei ist es allerdings nicht mein Ziel, eine umfassende Explikation dieser grundlegenden Begriffe der Kantischen Handlungstheorie zu geben. Meine Absicht besteht vielmehr darin, jene Aspekte des Kantischen Verständnisses dieser Begriffe herauszuarbeiten, die für seine Theorie der praktischen Lust besonders grundlegend sind. Insbesondere geht es mir nicht darum, in diesem Rahmen eine vollständige Interpretation von Kants Begriff der praktischen Vernunft zu entwickeln. Ich beschränke mich lediglich darauf zu zeigen, wie sich aus Kants Beschreibungen des Begehrens und Lebens ein besseres Verständnis einer elementaren Form von praktischer Vernunft ergibt, die Kant in der Metaphysik der Sitten als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14) bezeichnet. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet Kants Definition des Begehrungsvermögens. Kant zufolge besteht das wesentliche Charakteristikum dieses Vermögens in der kausalen Rolle, die den Vorstellungen eines Wesens zukommen kann. Bei einem begehrenden Wesen kann die Vorstellung eines Gegenstandes dazu führen, dass das Wesen den vorgestellten Gegenstand realisiert (§§ 1– 2). Nach Kant lässt sich das Begehren allerdings nicht einfach aus der bloßen Addition eines kognitiven und eines konativen Faktors erklären. Beim Begehren kann die Vorstellung die Kräfte des begehrenden Wesens vielmehr zielgerichtet ‚kontrollieren‘, nämlich so, dass es den Gegenstand der Vorstellung hervorbringt (§§ 3 – 4). Das Vorliegen eines Begehrungsvermögens ist nun für Kant zugleich das gemeinsame Merkmal aller lebendigen Wesen, die uns empirisch zugänglich sind (also von Menschen und Tieren, § 5). Dabei ist allerdings zu beachten, dass der 14 An der angegebenen Stelle der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwei Aspekte des menschlichen Willens, nämlich Willkür und Wille im engeren Sinn (vgl. MS 6:213.17 ff. sowie 6:226.4 ff.). Wenn ich nicht explizit darauf verweise, verwende ich den Ausdruck ‚Wille‘ in dieser Arbeit aber in dem weiteren Sinn, der beide Bedeutungen umfasst.
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1. Leben, Begehrungsvermögen und praktische Vernunft
Begriff des Begehrungsvermögens nur eine Gattung von Vermögen beschreibt. Denn der Begriff dieses Vermögens lässt offen, auf welche Weise die Vorstellung eines Gegenstandes die Kräfte von Tieren und Menschen kontrolliert. So wird beim tierischen Begehren die Verbindung zwischen der Vorstellung des Gegenstandes und einer koordinierten Kraftanwendung durch den Instinkt hergestellt. Beim Menschen treten hingegen begriffliche Fähigkeiten an die Stelle des Instinkts – im Gegensatz zu den Tieren verfügen wir über ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14). Diese Form von Begehren ist, wie ich zeigen werde, im Grunde identisch mit der technisch-praktischen Vernunft, also mit dem Vermögen nach hypothetischen Imperativen zu handeln. Denn das Begehrungsvermögen nach Begriffen versetzt uns Menschen in die Lage, ausgehend von einem bereits bestehenden Begehren Handlungen zu wählen. Auf diese Weise vermittelt es, ähnlich wie der tierische Instinkt, zwischen der Vorstellung eines begehrten Gegenstandes und der koordinierten Kraftanwendung beim Handeln. Zum Schluss des Kapitels gehe ich der Frage nach, welche Rolle Kant den Begriffen von Gegenständen bei dieser Vermittlung zuschreibt. Hierzu untersuche ich Kants Aussagen über den Begriff eines objektiven Zwecks in der Kritik der Urteilskraft und erläutere diese Aussagen am paradigmatischen Fall des körperlichen Handelns (§ 6).
§ 1 Vermögen und Handlung Der Ausdruck ‚Begehrungsvermögen‘ steht bei Kant nicht einfach für eine Fähigkeit in der heutigen Bedeutung. Kant übernimmt den Vermögensbegriff vielmehr aus der Metaphysik der Schulphilosophen. Dort wird er zusammen mit den Begriffen von ‚Handlung‘, ‚Leiden‘ und ‚Fähigkeit‘ eingeführt, um das Phänomen der Veränderung zu erklären. Baumgarten definiert diese Begriffe auf folgende Weise: Eine Substanz handelt, wenn sie eine Veränderung ihres Zustandes selbst, d. h. durch eigene Kraft, herbeiführt. Sie leidet, wenn die Veränderung ihres Zustandes von einer anderen Substanz, also durch eine fremde Kraft, bewirkt wird.¹⁵ Ein ‚Vermögen‘ (lat. facultas) stellt nun die ‚Möglichkeit zu handeln‘ dar, während die ‚Möglichkeit zu leiden‘ als ‚Empfänglichkeit‘ (lat. receptivitas) oder ‚Fähigkeit‘ (lat. capacitas) bezeichnet wird.¹⁶ Grundlegend für die genannten Begriffe ist also ein kausalitätstheoretischer Gegensatz von Aktivität und Passivität. Ein Vermögen disponiert ein Wesen dazu,
15 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 210, 17:70. 16 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 216, 17:72.
§ 2 Grundlinien von Kants Theorie des Begehrungsvermögens
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zur Ursache einer Veränderung zu werden (d. h. zu ‚handeln’), während eine Fähigkeit bzw. Empfänglichkeit die Disposition darstellt, durch eine äußere Ursache verändert zu werden (d. h. zu ‚leiden’). Dieser Gegensatz ist auch noch in Kants Gebrauch der Begriffe präsent. Der Begriff der Handlung steht, wie Gerhardt gezeigt hat, bei Kant nicht nur für absichtliches Handeln, sondern ganz generell für die „Wirksamkeit einer Kraft“ (Gerhardt 1986, 112).¹⁷ So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: „Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz“ (KrV A 204/B 250).¹⁸ Der Begriff des Vermögens bezieht sich hingegen auf die entsprechende Disposition zur Verursachung bzw. Handlung. So bezeichnet Kant das Vermögen der Materie zur Raumerfüllung als eine „Eigenschaft […], die sich als Ursache auf eine Wirkung bezieht“ (MAN 4:496.12 f.). Den Gegensatz zu den Begriffen von Handlung und Vermögen bilden die Begriffe von Leiden und Fähigkeit bzw. Empfänglichkeit, auf die Kant an zahlreichen Stellen rekurriert, um die Passivität der theoretischen Sinnlichkeit oder des Gefühls der Lust und Unlust herauszustreichen.¹⁹ Vermögen und Fähigkeiten stellen folglich für Kant elementare Typen von dispositionalen Eigenschaften dar, die ein aktives Verändern oder ein passives Verändert-Werden erklären. Obwohl sich bei Kant durchaus Überlegungen finden, die die Begriffe von Handlung und Vermögen auf lebendige Wesen eingrenzen,²⁰ bleibt die tatsächliche Verwendung dieser Begriffe in seinen veröffentlichten Werken nicht auf solche Wesen beschränkt.²¹
§ 2 Grundlinien von Kants Theorie des Begehrungsvermögens Dieser kausalitätstheoretische Ursprung der Begriffe des Vermögens und der Handlung kommt auch in Kants Definitionen des Begehrungsvermögens und des Lebens zum Ausdruck. So ist Kant zufolge Leben das „Vermögen eines Wesens,
17 Vgl. Willaschek 1992, 38 f. 18 Vgl. Gerhardt 1986, 112. Im Gegensatz zu Baumgarten definiert Kant die Handlung allerdings nicht als die Veränderung des Zustandes der Substanz durch die eigene Kraft, sondern als das „Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung“ (KrV A 205/B 250). Diese subtile Änderung in der Bestimmung des Begriffs scheint auf Kants Ansicht zu beruhen, dass nicht alle Substanzen ihren Zustand ändern, wenn sie handeln, vgl. 28:564.25 ff. 19 Vgl. etwa KrV A 19/B 33; A 94; B 153; KpV 5:80.16; KU 5:177.17; MS 6:211.19. 20 Zum Begriff des Vermögens vgl. Refl. 3589, 17:76; zum Begriff der Handlung vgl. Refl. 3579, 17:70; 28:639.35 ff. 21 Dies geht schon aus der zitierten Aussage über das Vermögen der Materie hervor (vgl. MAN 4:496.12 f.). In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von dem sinnlich-bedingten Vermögen der unbelebten Natur (vgl. KrV A 546/B 574); zur Verwendung des Handlungsbegriffs bei Kant vgl. Gerhardt 1986; Willaschek 1992, 35 ff.
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1. Leben, Begehrungsvermögen und praktische Vernunft
nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“ (KpV 5:9.19 f. Anm.). Das kausale Verhalten eines Lebewesens unterliegt also qua Lebewesen besonderen kausalen Gesetzen, nämlich „Gesetzen des Begehrungsvermögens“. In Baumgartens empirischer Psychologie gibt das Gesetz des Begehrungsvermögens die Bedingungen der Aktualisierung dieses Vermögens an.²² Gesetze des Begehrungsvermögens enthalten also die Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens, d. h. sie beinhalten die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit diese Wesen tatsächlich etwas begehren oder verabscheuen.²³ Doch auch aus Kants Definition des Begehrungsvermögens geht die kausalitätstheoretische Bedeutung des Vermögensbegriffs hervor. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen eines Wesens „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV 5:9.21 f. Anm.; H. v. m.; vgl. MS 6:211.6 f.). Das Begehrungsvermögen besteht in der Disposition eines Wesens zu einer besonderen Art von Ursächlichkeit und damit zu einer besonderen Art von ‚Handlung‘ in der Kantischen Bedeutung des Ausdrucks. Kant übernimmt nun zumindest die Bezeichnung ‚Begehrungsvermögen‘ von seinen rationalistischen Vorgängern.²⁴ Seine eigentliche Konzeption dieses Vermögens unterscheidet sich allerdings in mindestens drei Punkten von der Baumgartenschen Theorie. Erstens ist das Begehrungsvermögen für Kant nicht mehr bloß eine Erscheinungsform einer einzigen vorstellenden Grundkraft der Seele. Kant bezeichnet das Begehrungsvermögen vielmehr – zusammen mit dem Erkenntnisvermögen und dem Gefühl der Lust und Unlust – als eines der drei Grundvermögen des menschlichen Gemüts.²⁵ Zweitens besteht für Kant das Ziel des Begehrens nicht mehr darin Vorstellungen hervorzubringen;²⁶ das Begehrungsvermögen ist vielmehr das Vermögen, die Gegenstände von Vorstellungen zu realisieren. Der Ausdruck „Gegenstände dieser Vorstellungen“ (MS 6:211.7; vgl. KpV 5:9.22) in Kants Definitionen des Begehrungsvermögens hat allerdings eine weite Bedeutung, denn er umfasst sowohl Einzeldinge, die durch sinnliche Empfindungen instinktive Reaktionen hervorrufen, als auch die selbstgesetzten
22 Baumgarten nennt drei Bedingungen, die für die Aktualisierung des Begehrungsvermögens jeweils notwendig und zusammengenommen hinreichend sind: Ich begehre etwas, (a) wenn es mir gefällt, d. h. ich es in der Anschauung als vollkommen beurteile und deswegen Lust empfinde, (b) wenn ich es als etwas Zukünftiges vorstelle und (c) wenn ich erwarte, dass es als Folge meines Begehrens in der Zukunft auch existieren wird. Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 665, 15:45 f. 23 Zur Frage, ob auch die praktischen Gesetze für Kant Gesetze des Begehrungsvermögens darstellen, vgl. Willaschek 1992, 84 ff. sowie 305 f. 24 Die folgenden vier Absätze wurden mit Ergänzungen aus Höwing 2013 übernommen. 25 Vgl. KU 5:177; EE 20:205 f.; 28:262; vgl. auch Henrich 1955. 26 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 663, 15:45; Wolff, Psychologia Rationalis, § 495.
§ 2 Grundlinien von Kants Theorie des Begehrungsvermögens
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Zwecke, welche durch freies Handeln realisiert werden sollen (wie z. B. Artefakte, Sachverhalte oder bestimmte Tätigkeiten). Im Gegensatz zu Baumgarten definiert Kant das Begehrungsvermögen drittens auch nicht mehr als ein bloßes Strebevermögen.²⁷ Diese Änderung fußt vermutlich ebenfalls auf kausalitätstheoretischen Überlegungen. Für Kant ist eine Bestrebung (lat. conatus oder nisus) nämlich nicht mehr wesentliches Charakteristikum, sondern lediglich besonderer Zustand einer Kraft, in welchem diese durch eine entgegengesetzte Kraft an ihrer vollen Entfaltung gehindert wird.²⁸ Entsprechend verwendet Kant den Ausdruck ‚Bestrebung‘ bloß für solche Formen des Begehrens, denen ein inneres Hindernis entgegensteht (also z. B. für ‚tatleere‘ Wünsche und Sehnsüchte).²⁹ Das wesentliche Charakteristikum eines Begehrungsvermögens ist Kant zufolge nun die kausale Rolle, welche der Vorstellung eines Gegenstandes zukommen kann. Bei einem Wesen, das über ein Begehrungsvermögen verfügt, kann die Vorstellung eines Gegenstandes dazu führen, dass dieses Wesen den vorgestellten Gegenstand realisiert.³⁰ So betont Kant in der Metaphysik der Sitten, dass die „Causalität der Vorstellung […] in Ansehung ihres Gegenstandes im Begriff des Begehrungsvermögens unvermeidlich gedacht werden muß“ (MS 6:357.6 ff.; vgl. 20:445). Kant spricht allerdings meist davon, dass beim Begehren das vorstellende Wesen selbst (und nicht dessen Vorstellung) zur Ursache des vorge27 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 663, 15:45; Wolff, Psychologia Rationalis, § 495. 28 Vgl. Refl. 3585, 17:73.15 ff.; 28:434; 28:515; 28:565; 28:640 f. 29 Vgl. etwa Hagen 21, XLIII, Zeile 9; MS 6:356.23 ff.; zu Kants Konzeption des Wunsches vgl. Höwing 2013. 30 Schon Jacob Sigismund Beck hat Kants Definition des Begehrungsvermögens in der Metaphysik der Sitten auf diese Weise gedeutet: „Eine Vorstellung stellt erstens Etwas vor; wenn ihr aber zweytens noch obenein die Causalität zukommt, ihr eignes Object hervor zu bringen, dann ist sie ein Begehren“ (Beck 1798, 4). Engstroms Deutung geht in eine ähnliche Richtung: „[…] [D]esire […] is simply the operation of a certain type of representational power. And since this operation is a representation (or representing) through which an effect is produced, in that through the representation the object represented is made actual, we can characterize desire in general as efficacious representation“ (Engstrom 2009, 27; vgl. Engstrom 2007, 114 ff.). Engstroms Formulierung legt allerdings die Annahme nahe, dass das Begehrungsvermögen eine eigenständige Vorstellungskraft („representational power“) ist, die eine genuine Form von Vorstellungen produziert. So unterscheidet Engstrom in einem früheren Aufsatz desiderative Vorstellungen, die ihr Objekt hervorbringen, von theoretischen Vorstellungen, die von ihrem Objekt hervorgebracht werden (vgl. Engstrom 2007, 115 ff.). Beck hingegen geht davon aus, dass aus einer Vorstellung ein Begehren wird, wenn ihr eine kausale Rolle zukommt. Die Vorstellung ist hier zugleich desiderativ und deskriptiv (und zwar in dem einfachen Sinn, dass sie etwas vorstellt). Beide Deutungen haben wohl einen wahren Kern. Einerseits ist Beck recht zu geben, dass beim Begehren eine deskriptive Vorstellung zugleich desiderativ ist; doch dies schließt nicht aus, dass das Begehren Kant zufolge eine genuine Form darstellt, wie sich eine Vorstellung auf ihr Objekt beziehen kann (vgl. § 3 dieses Kapitels).
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stellten Gegenstandes wird.³¹ Die „Causalität der Vorstellung“, von der im Zitat die Rede ist, stellt dabei diejenige Eigenschaft dar, die das begehrende Wesen zur Ursache des vorgestellten Gegenstandes machen kann.³² So bestimmt eine Nachschrift das Begehrungsvermögen auch als „caußalitaet der Vorstellung in Ansehung ihres Objects“ (29:1012 f.).³³ Allerdings hält sich Kant nicht übermäßig streng an diese Unterscheidung zwischen der Ursache des vorgestellten Gegenstandes und der Kausalität der Vorstellung. So schreibt er etwa in der Ersten Einleitung, dass die Vorstellungen beim Begehren „als Ursach der Wirklichkeit dieses Objects betrachtet“ werden (EE 20:206.12).³⁴ Dass die Vorstellung eines Gegenstandes beim Begehren zu dessen Realisierung führen kann, besagt natürlich nicht notwendig, dass ein begehrendes Wesen Gegenstände schon allein dadurch realisiert, dass es sie vorstellt (wie etwa im Fall von Zauberei). Kant geht vielmehr davon aus, dass Menschen und Tiere in der Regel weitere Kräfte und Vermögen einsetzen müssen, um vorgestellte Gegenstände zu realisieren. In der Kritik der Urteilskraft spricht er in diesem Zusammenhang von „mechanischen“ bzw. „nicht psychologischen“ Kräften (KU 5:177.38 f. Anm.), die bei bestimmten Begierden nicht ausreichen, um den begehrten Gegenstand hervorzubringen. Diese Anmerkung zeigt auch, dass für Kant der paradigmatische Fall eines auf Begehren beruhenden Handelns die körperliche Bewegung ist – die Kräfte, die durch ein Begehren mobilisiert werden, sind ‚mechanisch‘ bzw. ‚nicht-psychologisch‘. Das Verhältnis, das zwischen dem Begehren und diesen körperlichen Kräften besteht, wird von Kant nun an anderer Stelle auf folgende Weise beschrieben: Die Vorstellung eines Gegenstandes führt beim Begehren zur ‚Bestimmung‘ der Kräfte des Subjekts.³⁵ Werden diese Kräfte nicht an ihrer Entfaltung gehindert, so kommt es zu einer äußeren Handlung,
31 „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [nämlich des Wesens – T. H.], durch seine Vorstellungen [durch die Vorstellungen des Wesens – T. H.] Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV 5:9.19 ff. Anm.). Es liegt aufgrund dieser Textstelle nahe, das Pronomen ‚seine‘ auch in jenen Definitionen des Begehrungsvermögens auf ‚Wesen‘ zu beziehen, in deren Kontext der Ausdruck ‚Wesen‘ nicht vorkommt, vgl. MS 6:211.6 und Kants Selbstzitate der beiden Stellen in KU 5:177.31 Anm. sowie MS 6:356.14. 32 Sie ist dies in dem gleichen Sinn, wie die Bewegung der Finger die Eigenschaft ist, die einen Menschen zur Ursache der Buchstaben macht, vgl. 29:893. 33 Vgl. ähnlich 15:457, Refl. 1021. Kant spricht in zwei Definitionen des Lebens auch von der „caussalitaet der Vorstellungskraft“ (15:465, Refl. 1034; vgl. 15:469, Refl. 1050) oder von der „causalitas repraesentativa“ (15:469, Refl. 1048). 34 Vgl. 29:891.5 ff.; KU 5:178.19 ff. Anm.; MS 6:357.5. 35 Kant spricht in diesem Zusammenhang von der „Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung“ (KpV 5:9.26 f. Anm.).
§ 3 Die Rolle der Vorstellung beim Begehren
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durch welche das Subjekt im erfolgreichen Fall den Gegenstand der Vorstellung realisiert.
§ 3 Die Rolle der Vorstellung beim Begehren Damit ist Kants Theorie des Begehrungsvermögen in ihren Grundzügen dargestellt, und im Folgenden möchte ich einige wesentliche Aspekte dieser Theorie etwas genauer betrachten. Ich beginne mit der Frage, welche Rolle die Vorstellung des Gegenstandes beim Begehren spielt. Man kann diese Frage präzisieren, indem man zwischen dem Vorstellungsinhalt und dem Vorstellen – also der Tatsache, dass wir etwas vorstellen – unterscheidet. Welche der beiden Aspekte meint Kant, wenn er in seiner Definition von der Vorstellung des Gegenstandes spricht? Hier könnte man zunächst folgende Antwort geben: Zwar ist unbestritten, dass ein begehrendes Wesen Gegenstände vorstellen können muss, doch daraus folgt noch nicht, dass dem Vorstellungsinhalt als solchem eine kausale Rolle zukommt. Vielmehr ist bei einem begehrenden Wesen das Vorstellen – also die Tatsache, dass es etwas vorstellt – mit einer Art Antrieb verbunden. Ein begehrendes Wesen stellt etwas vor und dabei fühlt es einen Drang oder einen blinden Impuls. Tatsächlich geht die Deutung, die L. W. Beck von Kants Konzeption des Begehrungsvermögens gegeben hat, in die Richtung dieser Antwort. Beck zufolge ist es die Addition eines kognitiven und eines konativen Faktors, die zusammen das Begehren erklären.³⁶ Das begehrende Wesen fühlt einen ursprünglich blinden Antrieb, ist aber zugleich in der Lage, sich ein Ziel dieses Antriebs vorzustellen und kann sich aufgrund dessen so verhalten, dass es dieses Ziel realisiert. Allerdings ist fraglich, ob eine derartige Deutung Kants Beschreibung des Begehrungsvermögens gerecht wird. Denn sie kann zwar erklären, warum das bloße Vorstellen bei einem begehrenden Wesen zu einer Veränderung in der Welt führen kann. Allerdings ist damit noch nicht gezeigt, warum dieses Wesen dazu in der Lage sein sollte, durch die Ausübung seiner Kräfte die Welt so zu verändern, dass es den vorgestellten Gegenstand realisiert. Hierzu reicht es nicht aus, dass ein begehrendes Wesen sich einen Gegenstand als Ziel seines ursprünglich blinden Antriebs vorstellt. Das begehrende Wesen muss seine Kräfte vielmehr in einer Weise ausüben, die vom Inhalt der Vorstellung abhängt; es muss seine Kräfte so ausüben, dass es den Gegenstand seiner Vorstellung realisiert. Ein Wesen, welches Gegenstände begehren kann, ist folglich dazu in der Lage, ausgehend von den Inhalten seiner Vorstellungen die eigenen Kräfte selbst zu organisieren. Dass die
36 Vgl. Beck 1960, 90 f., 216 f.
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Vorstellung eines Gegenstandes beim Begehren eine kausale Rolle erhält, bedeutet also eigentlich, dass der Vorstellungsinhalt einen Einfluss auf die Kräfte des Subjekts gewinnt. Unter dieser Rücksicht ist der Begriff eines blinden Impulses (oder eines entsprechenden Drangs oder Antriebs) zur Erklärung von Kants Konzeption des Begehrens also missverständlich. Eher schon sollte man davon sprechen, dass der Inhalt der Vorstellung die körperlichen Kräfte regulieren oder kontrollieren kann. Das Begehren stellt für Kant eine grundlegende Form dar, wie ein lebendiges Wesen sich selbst zu organisieren vermag. Ich werde an einem späteren Punkt die Frage aufgreifen, was es genau bedeutet, dass der Inhalt einer Vorstellung die Kräfte eines lebendigen Wesens ‚kontrolliert‘ (vgl. § 6 in diesem Kapitel). An dieser Stelle möchte ich stattdessen einen Einwand diskutieren, den man einer derartigen Konzeption von Begehren machen könnte. So könnte man davon ausgehen, dass der Vorstellungsinhalt die körperlichen Kräfte eines begehrenden Wesens nur dann kontrollieren kann, wenn das Wesen auch dazu in der Lage ist, sich bewusst auf die Inhalte seiner Vorstellungen zu beziehen. Wir können uns aber Kant zufolge zumindest Wesen denken, die zwar einen Gegenstand begehren, sich aber nicht bewusst auf die Inhalte ihrer Vorstellungen beziehen können (etwa bestimmte Tiere). Folglich ist, so der Einwand, auch die Annahme verfehlt, dass beim Begehren der Vorstellungsinhalt die Kräfte des begehrenden Wesens kontrolliert. Es lohnt sich, diesen Einwand etwas ausführlicher zu diskutieren, weil sich hieraus auch ein besseres Verständnis von Kants allgemeiner Theorie des Begehrens ergibt. Eine Antwort auf diesen Einwand hängt zunächst davon ab, was Kant darunter versteht, dass ein Wesen in einem elementaren Sinn etwas vorstellen kann. Dass es für Kant Wesen geben könnte, welche zwar Vorstellungen haben, sich aber nicht bewusst auf den Inhalt dieser Vorstellungen beziehen können, zeigt seine Behauptung, dass Tiere zwar Vorstellungen, aber kein Bewusstsein haben.³⁷ In der frühen Metaphysik Herder (1762– 64) finden wir etwa die rätselhafte Aussage, dass Tiere über eine „praevisio ohne Bewusstsein“ verfügen (28:72.23).Tiere sind also in der Lage, sich Gegenstände in der Zukunft vorzustellen – eine Fähigkeit, die ohne Zweifel für das Begehren eine wichtige Voraussetzung darstellt. Allerdings stellt sich die Frage, auf welche Weise eine solche Fähigkeit „ohne Bewusstsein“ ausgeübt werden könnte. Tatsächlich wird in der gleichen Nachschrift außerdem noch behauptet, dass Tiere zwar nach Willkür handeln können, sich aber „nicht die Beweggründe vorstellen [können]“ (28:99.24 f.).³⁸ 37 Zu diesem Problem und zum Folgenden vgl. Naragon 1990, 7– 11; vgl. auch Mohr 1991, 110 ff., sowie Wunderlich 2005, 135 ff. 38 Vgl. 28:92. Weitere Stellen aus späteren Nachschriften werden bei Naragon angegeben, vgl. Naragon 1990, 8 f.
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Kant gesteht den Tieren auch in späteren veröffentlichten Schriften meist lediglich dunkle Vorstellungen zu, also jene Vorstellungen, derer wir uns nach Leibniz nicht bewusst sind.³⁹ Eine für unsere Zwecke aufschlussreiche Aussage Kants über das Vorstellen der Tiere finden wir in der Logik. Dort werden sieben Grade des „objectiven Gehaltes unserer Erkenntnis überhaupt“ (Logik 9:64.29) unterschieden. Für die vorliegende Frage reicht es aus, die ersten vier Grade näher zu betrachten: „Der erste Grad der Erkenntniß ist: sich etwas vorstellen; Der zweite: sich mit Bewußtsein etwas vorstellen oder wahrnehmen (percipere); Der dritte: etwas kennen (noscere) oder sich etwas in der Vergleichung mit andern Dingen vorstellen sowohl der Einerleiheit als der Verschiedenheit nach; Der vierte: mit Bewußtsein etwas kennen, d. h. erkennen (cognoscere). Die Thiere kennen auch Gegenstände, aber sie erkennen sie nicht“ (Logik 9:64 f.32 ff.).
Wenn wir mit Naragon Kants Unterscheidung der Grade so interpretieren, dass jeder höhere Grad des objektiven Gehalts der Erkenntnis die jeweils niedrigeren Grade voraussetzt,⁴⁰ ergibt sich folgendes Bild: Tiere können etwas vorstellen (erster Grad), es mit Bewusstsein wahrnehmen (zweiter Grad) und auch Unterschiede zwischen den vorgestellten Inhalten machen, d. h. diese Inhalte kennen (dritter Grad). Tiere können allerdings diese Inhalte nicht „mit Bewußtsein“ kennen, d. h. sie können sich nicht der Unterschiede bewusst werden, die zwischen den vorgestellten Dingen bestehen (vierter Grad). Im Einzelnen führt Kants Aussage über die Grade des objektiven Gehalts der Erkenntnis zu einer Fülle von Problemen.⁴¹ Für unsere Zwecke sind vor allem die folgende Aussagen Kants von Interesse. Zunächst beziehen sich Tiere nach Kant in einem schwachen Sinn tatsächlich bewusst auf die Gegenstände ihrer Vorstellungen, denn sie können die vorgestellten Gegenstände mit Bewusstsein wahrnehmen und diese auch voneinander unterscheiden.⁴² Allerdings fehlt ihnen in einem anspruchsvolleren Sinn die Fähigkeit zum bewussten Vorstellen. Denn sie
39 Vgl. etwa Anth 7:135 und Naragon 1990, 9 Anm. 23. 40 Vgl. Naragon 1990, 11. 41 So stellt sich die Frage, wie es möglich sein soll, etwas ganz ohne Bewusstsein vorzustellen; es ist also fraglich, ob die erste Ebene nicht bereits die zweite Ebene voraussetzt (vgl. Naragon 1990, 11). Des Weiteren ist nicht klar, ob ein Wesen, welches sich Dinge bewusst vorstellen kann, nicht auch dazu in der Lage sein muss, diese Dinge voneinander zu unterscheiden, und aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, dass die zweite Ebene die dritte Ebene voraussetzt. Steve Naragon beschließt übrigens seine Untersuchung von Kants Aussagen zum Vorstellen ohne Bewusstsein mit dem Fazit, dass nicht klar ist, welche Meinung Kant in diesem Punkt vertreten wollte, vgl. Naragon 1990, 11. 42 Vgl. Naragon 1990, 11.
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können die vorgestellte Gegenstände zwar voneinander unterscheiden, jedoch ohne sich des Unterschiedes zwischen diesen Gegenständen bewusst zu werden. Wie ist dies möglich? In der Kritik der reinen Vernunft finden wir eine Anmerkung Kants zum Unterschied zwischen dunklen und klaren Vorstellungen, in der sich Kant etwas ausführlicher zur Differenz zwischen bloßem Unterscheiden und dem Bewusstsein von Unterschieden äußert: „Klarheit ist nicht, wie die Logiker sagen, das Bewußtsein einer Vorstellung; denn ein gewisser Grad des Bewußtseins, der aber zur Erinnerung nicht zureicht, muß selbst in manchen dunkelen Vorstellungen anzutreffen sein, weil ohne alles Bewußtsein wir in der Verbindung dunkeler Vorstellungen keinen Unterschied machen würden, welches wir doch bei den Merkmalen mancher Begriffe (wie der von Recht und Billigkeit, und des Tonkünstlers, wenn er viele Noten im Phantasieren zugleich greift,) zu tun vermögen. Sondern eine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht. Reicht diese zwar zur Unterscheidung, aber nicht zum Bewußtsein des Unterschiedes zu, so müßte die Vorstellung noch dunkel genannt werden“ (KrV B 414 f. Anm.).
Kant zufolge muss selbst in dunklen Vorstellungen ein geringer Grad von Bewusstsein anzutreffen sein, welcher aber noch nicht impliziert, das wir uns des Unterschiedes bewusst sind, der zwischen diesen Vorstellungen bzw. deren Inhalten besteht.⁴³ Denn nur so lässt sich erklären, dass wir zwischen den Inhalten von dunklen Vorstellungen unterscheiden können, ohne in der Lage zu sein, uns diesen Unterschied bewusst zu machen. So unterscheidet etwa der improvisierende Organist, welche Töne miteinander harmonieren und welche nicht, obwohl er seine ‚Phantasien‘ meist nicht nachträglich zu Papier bringen kann (vgl. zu diesem Beispiel Anth 7:136.3 ff.). Dunkle Vorstellungen sind für Kant also nicht als solche zu charakterisieren, derer wir uns nicht bewusst sind oder die wir nicht von anderen unterscheiden. Dunkle Vorstellungen sind solche, bei denen wir uns des Unterschiedes zu anderen Vorstellungen oder der vorgestellten Inhalte nicht bewusst sind.⁴⁴
43 Kant scheint in diesem Zusammenhang nicht zwischen Vorstellungen und den vorgestellten Gegenständen bzw. Vorstellungsinhalten zu differenzieren. So heißt es in der Anthropologie: „Das Bewußtsein seiner Vorstellungen, welches zur Unterscheidung eines Gegenstandes [!] von anderen zureicht, ist Klarheit“ (Anth 7:137.24 f.). 44 Dies geht auch aus Kants Charakterisierung des Gegensatzes, der klaren Vorstellung, hervor: „Sondern eine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht“ (KrV B 415 Anm.). – Die generelle Kritik, die Kant an der zitierten Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft an der Vorstellungstheorie seiner Vorgänger übt, besteht darin, dass Bewusstsein nicht das Kriterium zur Unterscheidung von klaren und deutlichen Vorstellungen ist, vgl. Wunderlich 2005, 141 f. Wunderlich zufolge zeigt die Stelle darüber hinaus,
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Das Beispiel vom improvisierenden Organisten scheint zu zeigen, dass es für Kant einen plausiblen Sinn von ‚unterscheiden‘ gibt, bei dem wir nicht voraussetzen, dass wir uns auch eines Unterschiedes bewusst sind. Schon in der frühen Schrift über „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“ (1762) hat Kant diesen Sinn von ‚unterscheiden‘ zu entwickeln versucht: „[E]s ist ganz was anders Dinge von einander unterscheiden und den Unterschied der Dinge erkennen. Das letztere ist nur durch Urtheilen möglich und kann von keinem unvernünftigen Thiere geschehen. Folgende Eintheilung kann von großem Nutzen sein. Logisch unterscheiden, heißt erkennen, daß ein Ding A nicht B sei, und ist jederzeit ein verneinendes Urtheil, physisch unterscheiden, heißt, durch verschiedene Vorstellungen zu verschiedenen Handlungen getrieben werden“ (Spitzfindigkeit 2:59 f.34 ff.).
Wenn ein Wesen Dinge unterscheiden kann, so folgt nicht zwingend, dass es auch dazu in der Lage ist, den Unterschied der Dinge zu erkennen. Denn dass ein Wesen Dinge unterscheiden kann, muss nicht bedeuten, dass es die Dinge logisch voneinander unterscheiden, d. h. urteilen kann, „dass ein Ding A nicht B sei“. Es kann auch bedeuten, dass es durch Vorstellungen lediglich zu unterschiedlichen Handlungen „getrieben“ wird und die Dinge in diesem Sinn physisch unterscheiden kann. So kann der Hund den Braten nicht logisch, sondern lediglich physisch „vom Brote“ unterscheiden. Er unterscheidet beide durch sein Begehren: „Der Hund unterscheidet den Braten vom Brote, weil er anders vom Braten, als vom Brote gerührt wird (denn verschiedene Dinge verursachen verschiedene Empfindungen), und die Empfindungen vom erstern ist ein Grund einer andern Begierde in ihm als die vom letztern, nach der natürlichen Verknüpfung seiner Triebe mit seinen Vorstellungen“ (Spitzfindigkeit 2:60.4 ff.).
Wenn der Hund in der Lage wäre, den Braten logisch vom Brot zu unterscheiden, so könnte er sich der Tatsache bewusst werden, dass die Empfindungen, welche er vom Braten bzw. von Brot hat, spezifische Unterschiede aufweisen. Er könnte sich, wie Kant in der Anmerkung formuliert, „der Übereinstimmung oder des Widerstreits desjenigen, was in einer Empfindung ist, mit dem, was in einer andern befindlich ist, bewußt“ sein (Spitzfindigkeit 2:60.35 f. Anm.). Doch der Hund unterscheidet den Braten vom Brot lediglich dadurch, dass er durch die entsprechenden Empfindungen zu unterschiedlichen Begehrungen und Verhaltensweisen getrieben wird.
dass für Kant das Gedächtnis nicht mehr, wie noch für Wolff, eine Bedingung für Bewusstsein darstellt, vgl. Wunderlich 2005, 143.
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Wesentlich für unsere Zwecke ist nun die Tatsache, dass Kant an den angeführten Stellen das Vermögen einer elementaren inhaltlichen Repräsentation an das Begehren und die dadurch ausgelösten spezifischen Verhaltensweisen eines Tieres bindet. Die Vorstellungen haben für das Tier nur unter der Rücksicht einen unterschiedlichen Inhalt, dass sie mit unterschiedlichen Begierden verbunden sind, die es zu unterschiedlichen Verhaltensweisen antreiben.⁴⁵ Folgen wir Kants Ausführungen in der Logik und der Kritik der reinen Vernunft, so ist für diese Form der inhaltlichen Repräsentation zwar in einem schwachen Sinn Bewusstsein erforderlich; doch dieses Bewusstsein reicht nicht aus, damit sich das Tier der Unterschiede bewusst wird, die zwischen den vorgestellten Inhalten bestehen. Diese Überlegungen führen nun zu einer Antwort auf den ursprünglichen Einwand gegen die Idee, dass beim Begehren der Vorstellungsinhalt die Kräfte eines Wesens kontrolliert. Wir können uns tierische Wesen denken, die sich nicht in einem anspruchsvollen Sinn bewusst auf die Inhalte ihrer Vorstellungen beziehen können. Hieraus folgt allerdings noch nicht, dass bei diesen Wesen nicht auch der Inhalt ihrer Vorstellung eine kausale Rolle annimmt, d. h. die Kräfte des Wesens kontrolliert. Denn hierzu reicht ein geringer Grad von Bewusstsein aus, der es derartigen Wesen ermöglicht, die Gegenstände ihrer Vorstellungen physisch voneinander zu unterscheiden. Die Vorstellungsinhalte unterscheiden sich für derartige Wesen nur unter der Rücksicht, dass sie zu jeweils verschiedenen Begehrungen und Handlungen führen. In solchen Wesen besteht die eigentliche Funktion von Vorstellungen also im Grunde nur darin, die Kräfte dieser Wesen jeweils so zu kontrollieren, dass diese Wesen durch ihre Verhaltensweisen die vorgestellten Gegenstände hervorbringen.
45 In diesem Zusammenhang ist die allgemeine Anmerkung zur „Untersuchung der thierischen Natur“ (Spitzfindigkeit 2:60.31 f. Anm.) aufschlussreich, die Kant an seine Überlegung anfügt: „Es ist in der That von der äußersten Erheblichkeit, bei der Untersuchung der thierischen Natur hierauf acht zu haben. Wir werden an ihnen [den Tieren – T. H.] lediglich äußere Handlungen gewahr, deren Verschiedenheit unterschiedliche Bestimmungen ihrer Begierde anzeigt. Ob in ihrem Innern diejenige Handlung der Erkenntnißkraft vorgeht, da sie sich der Übereinstimmung oder des Widerstreits desjenigen, was in einer Empfindung ist, mit dem, was in einer andern befindlich ist, bewußt sind und also urtheilen, das folgt gar nicht daraus“ (Spitzfindigkeit 2:60.31 ff. Anm.). Wir nehmen an den Tieren, wie Kant sich ausdrückt, lediglich ‚äußere Handlungen‘ wahr, „deren Verschiedenheit unterschiedliche Bestimmungen ihrer Begierde anzeigt“. Aus dieser Tatsache folgt nicht, dass die Tiere in dem genannten Sinn logisch zwischen den Inhalten ihrer Vorstellungen, also z. B. dem Braten vom Brot, unterscheiden können. Das Tier könnte, mit anderen Worten, auch bloß dazu in der Lage sein, die Dinge physisch voneinander zu unterscheiden. Dies bedeutet, dass das Tier durch verschiedene Vorstellungen zu unterschiedlichen Begehrungen und Verhaltensweisen angetrieben wird.
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Aus dieser Antwort ergibt sich nun auch ein besseres Verständnis von Kants allgemeiner Theorie des Begehrungsvermögens. Ein derartiges Wesen würde sich nämlich auf den Inhalt seiner Vorstellungen nur dadurch beziehen, dass dieser Inhalt mit einem spezifischen Begehren verbunden ist,welches das Wesen zu einer spezifischen Verhaltensweise antreibt. Das Begehrungsvermögen ist – mit anderen Worten – eine grundlegende Form, wie sich ein vorstellendes Wesen auf die Gegenstände seiner Vorstellungen beziehen kann. Tatsächlich deutet Kant in der Ersten Einleitung an, dass dies nicht nur für jene Wesen gilt, die sich nur in einem sehr eingeschränkten Sinn der Inhalte ihrer Vorstellungen bewusst sind (also z. B. für die Tiere). Im Rahmen seiner Begründung für den Pluralismus der drei Vermögen des menschlichen Gemüts weist Kant darauf hin, dass das Begehren auch beim Menschen eine gegenüber dem Erkennen eigenständige Form der ‚objektiven Vorstellungsbeziehung‘ beinhaltet. Während die Vorstellungen beim Erkennen „blos aufs Object und die Einheit des Bewußtseyns derselben bezogen“ werden, beinhaltet das Begehren eine „objective[] Beziehung“ der Vorstellungen, bei der diese „als Ursach der Wirklichkeit dieses Objects betrachtet“ werden (EE 20:206.9 ff.). Die Vorstellung wird beim menschlichen Begehren auf das vorgestellte Objekt bezogen, sofern sie – vermittelt durch eine spezifische äußere Handlung und natürlich nur im erfolgreichen Fall – zur Wirklichkeit dieses Objekts führt. Diese Idee Kants ist schwierig, und ich werde im sechsten Abschnitt des Kapitels ausführlicher auf sie eingehen. Hier möchte ich nur andeuten, welche Überlegungen ihr meines Erachtens zugrunde liegen. Im Gegensatz zu den Tieren beinhaltet das menschliche Begehren zunächst den Einsatz von anspruchsvollen begrifflichen Fähigkeiten. So kann der Mensch etwa die Gegenstände erkennen, die er begehrt, und diese Fähigkeit hilft ihm, wenn es z. B. darum geht, die richtige Handlungsalternative zu deren Realisierung zu wählen. Allerdings hat Kant zufolge dieser in einem anspruchsvollen Sinn bewusste Bezug auf den Inhalt der Vorstellung beim spezifisch menschlichen Begehren eine Funktion, die weit über das bloße Erkennen des Gegenstandes hinausgeht. Dies zeigt ein Gedankenexperiment, das Kant in einem anderen Zusammenhang in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten anstellt (vgl. GMS 4:395.12 ff.).⁴⁶ Wir können uns, so das Experiment, ein Vernunftwesen denken, das wie wir Menschen alle Gegenstände erkennen kann, die es begehrt. Aber im Gegensatz zu uns Menschen würde dieses Wesen nicht über praktische Vernunft verfügen, sondern wäre nur zu Handlungen aus Instinkt fähig. Die Vernunft, führt Kant an der Stelle aus, würde diesem „Geschöpf“ zwar dazu dienen, „über die glückliche Anlage seiner Natur Be-
46 Vgl. Höwing 2013.
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trachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu sein“. Doch sie hätte keinerlei Einfluss auf sein Begehrungsvermögen, denn die Natur hätte hier „nicht allein die Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und beide mit weiser Vorsorge lediglich dem Instincte anvertraut“ (GMS 4:395.16 ff.). Das Gedankenexperiment scheint zunächst zu bestätigen, dass sich Kant zufolge auch das spezifisch menschliche Begehren nicht aus der bloßen Addition eines konativen und eines kognitiven Faktors erklären lässt. Wenn ein begehrendes Wesen einfach nur zusätzlich zum Begehrungsvermögen über die Fähigkeit verfügt, die begehrten Gegenstände in einem anspruchsvollen Sinn zu erkennen, so folgt daraus nicht zwingend, dass es diese Fähigkeit auch beim Begehren und Handeln einsetzen kann. Hierzu muss es vielmehr – wie wir Menschen – mit einer spezifischen Form von Begehrungsvermögen ausgestattet sein, die Kant an der Stelle der Grundlegung als ‚praktische Vernunft‘ und in der Metaphysik der Sitten als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14) bezeichnet.⁴⁷ In diesem Fall kommt den Begriffen, die das Wesen von den begehrten Gegenständen hat, nicht nur eine theoretische Rolle zu; das begehrende Wesen ist nicht bloß dazu in der Lage, sich theoretisch durch Begriffe auf die Gegenstände seiner Vorstellungen zu beziehen. Vielmehr erhalten die Begriffe hier neben ihrer theoretischen auch eine kausale Funktion im Hinblick auf die Bestimmung der Kräfte des Wesens und die Realisierung des begehrten Gegenstandes. So kann ein Wesen, das über ein Begehrungsvermögen nach Begriffen verfügt, aus seiner Erkenntnis des begehrten Gegenstandes praktische Regeln ableiten, die bestimmen, was es zur Realisierung dieses Gegenstandes tun muss.⁴⁸ Darüber hinaus ist es dazu in der Lage, den Gebrauch seiner Kräfte beim Handeln faktisch an diesen Regeln zu orientieren.
47 Engstrom entwickelt einen ähnlichen Gedanken: Ein Begehren nach Begriffen ist Engstrom zufolge nur dann eine spezifische Form von Begehren, wenn den Begriffen auch die für das Begehren charakteristische Rolle zukommt: „Distinctions between forms of desire and between the specific faculties of desire corresponding to them must […] rest, not on differences in the ways desires represent their objects, but on differences in the ways they are efficacious“ (Engstrom 2009, 29). Das wesentliche Charakteristikum des Begehrens nach Begriffen ist Engstrom zufolge eine Art von Denken, der zugleich die für das Begehren charakteristische kausale Wirksamkeit zukommt („efficacious thinking“, Engstrom 2009, 29). 48 Ich beschränke meine Ausführungen hier auf das technisch-praktische Handeln. Meiner Auffassung zufolge beschreibt Kants Definition des „Begehrungsvermögens nach Begriffen“ (MS 6:213.14) in der Metaphysik der Sitten lediglich eine elementare Form von praktischer Vernunft, nämlich das Vermögen nach hypothetischen Imperativen zu handeln, vgl. Höwing 2013 und § 6 dieses Kapitels. Auch den moralisch-praktischen Begriffen, d. i. den Begriffen des an sich Guten, kommt aber eine kausale Rolle im Hinblick auf ihren Gegenstand (dem durch das moralische Handeln realisierten objektiven Zweck) zu.
§ 4 Kausalität und Erfolg
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Beim menschlichen Begehren ist das Vermögen begrifflicher Erkenntnis folglich nicht einfach eine zusätzliche Fähigkeit, sondern eher ein Aspekt der besonderen Form von Kontrolle, die der Inhalt der Vorstellung beim Begehren auf die Kräfte des Menschen ausübt. Diese Überlegungen erklären nun auch Kants Bemerkung in der Ersten Einleitung, der zufolge das menschliche Begehren eine gegenüber dem Erkennen eigenständige Form der Vorstellungsbeziehung beinhaltet. Tatsächlich scheint Kants Bemerkung auf einer Analogie zu beruhen, die zwischen dem Erkennen und dem absichtlichen Handeln besteht. Im Fall des Erkennens geht Kant zufolge die Beziehung der Vorstellung auf ihr Objekt bekanntlich auf eine Handlung des Subjekts zurück (nämlich auf die Synthesis des Mannigfaltigen einer Anschauung durch die Einbildungskraft), und diese Handlung wird durch den Begriff des Gegenstandes kontrolliert, der zugleich als Schema und damit als Regel für diese Handlung fungiert. Im Fall des absichtlichen Handelns verhält es sich ähnlich. Hier beruht die objektive Vorstellungsbeziehung ebenfalls auf einer Handlung (nämlich auf dem Gebrauch unserer Kräfte, durch den der Gegenstand realisiert werden soll), und diese Handlung wird durch den ‚Begriff des begehrten Gegenstandes‘ kontrolliert, und zwar in dem Sinn, dass wir aus unserer Erkenntnis des Gegenstandes eine Regel ableiten, an der wir den Gebrauch unserer Kräfte beim Handeln orientieren können. In beiden Fällen wird die Vorstellungsbeziehung durch eine Handlung des Subjekts hergestellt, und der Begriff des Objekts enthält zugleich die Regel, die den Gebrauch der Kräfte bei dieser Handlung kontrolliert. Im ersten Fall ist das Ziel dieser Handlung eine Erkenntnis des vorgestellten Objekts, im zweiten Fall geht es hingegen darum, durch die Handlung das Objekt der Vorstellung zu realisieren.
§ 4 Kausalität und Erfolg Ich werde diese Analogie und die ihr zugrunde liegende Überlegung zur Rolle praktischer Begriffe am Schluss des Kapitels noch ausführlich thematisieren (vgl. Kap. 1, § 6). An dieser Stelle möchte ich auf einen anderen Aspekt von Kants Theorie des Begehrens eingehen. Was bedeutet es, dass einer Vorstellung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle zukommt? Hier kann zunächst eine Unterscheidung hilfreich sein, die aus der Schulphilosophie stammt, nämlich die Unterscheidung zwischen einer immanenten und einer transienten Handlung.⁴⁹ In Bezug auf das Begehren könnte man auch von einer immanenten und einer
49 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 211, 17:71.
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transienten Kausalität der Vorstellung sprechen. Wenn wir etwas begehren, dann verändern wir zunächst einmal uns selbst oder unseren inneren Zustand. Unter dieser Rücksicht ist die kausale Rolle einer Vorstellung beim Begehren also in jedem Fall immanent. Die Vorstellung führt beim Begehren in jedem Fall zu einer inneren Handlung – Kant spricht wie im Fall der inneren Denkhandlung von einem Actus. ⁵⁰ Eine solche Selbstveränderung beim Begehren hat für Kant vermutlich auch wesentlich körperliche Aspekte, die uns allerdings nicht immer bewusst sein müssen.⁵¹ Dass die Vorstellung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält, bedeutet also nicht unbedingt, dass wir auch die Welt außer uns verändern. Zuweilen führt die Vorstellung beim Begehren aber dann doch zu einer transienten Handlung, also dazu, dass wir die Welt außer uns verändern. Hier lassen sich zwei Fälle unterscheiden: Im ersten Fall verändern wir zwar etwas in der Welt, doch es gelingt uns nicht, den Gegenstand zu realisieren. Im zweiten Fall realisieren wir hingegen diesen Gegenstand durch unsere äußere Handlung. Aus Kants Definition des Begehrungsvermögens geht hervor, dass lediglich der zuletzt genannte erfolgreiche Fall maßgeblich für die Beschreibung des Begehrungsvermögens ist. Denn wie bereits erwähnt ist Kant zufolge das Begehrungsvermögen nicht einfach das Vermögen die Gegenstände von Vorstellungen zu begehren oder die Realisierung dieser Gegenstände bloß anzustreben. Das Begehrungsvermögen versetzt uns vielmehr dazu in der Lage diese Gegenstände durch unser eigenes Handeln erfolgreich zu realisieren.⁵² Im Grunde hat Kants Verweis auf die kausale Rolle einer Vorstellung also schon einen normativen Kern. Zwar lässt sich das Begehrungsvermögen zunächst als eine einfache dispositionale Eigenschaft eines Wesens zu kausaler Veränderung (,Handlung’) betrachten. Unter dieser Rücksicht unterscheidet es sich noch nicht von dem Vermögen der Materie zur Raumerfüllung. Allerdings ist das Begehrungsvermögen eine sehr spezielle dispositionale Eigenschaft. Denn die für das Begehren eigentümliche Leistung bedarf der Ergänzung durch Kräfte – im 50 So ist der Wunsch ein „Actus“ (MS 6:213.19) der Willkür bzw. des Vermögens nach Belieben zu tun oder zu lassen; vgl. KU 5:177 f. Anm.; MS 6:357. Zur inneren Denkhandlung vgl. z. B. KrV B 137; zum vorkritischen Gebrauch von ‚actus‘ vgl. Gerhardt 1986, 102. Der Darstellung der Metaphysik K3 zufolge werden die Vorstellungen beim Begehren generell „als Handlungen betrachtet“ (29:1012.33). 51 Unsere starken, aber unerfüllten Begierden „beweisen dadurch, daß sie das Herz ausdehnen und welk machen und so die Kräfte erschöpfen, daß die Kräfte durch Vorstellungen wiederholentlich angespannt werden, aber das Gemüth bei der Rücksicht auf die Unmöglichkeit unaufhörlich wiederum in Ermattung zurück sinken lassen“ (KU 5:178.24 ff. Anm.). 52 Vgl. Kants Gebrauch des Ausdrucks ‚Ursache‘ in der Definition des Begehrungsvermögens in MS 6:211.7 sowie Höwing 2013.
§ 5 Leben
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paradigmatischen Fall der körperlichen Bewegung sind dies die körperlichen Kräfte eines Wesens. Diese Kräfte können nun mehr oder weniger angemessen sein für die Ausübung des Begehrungsvermögens. So können sich unsere Kräfte ganz generell in einem schlechten Zustand im Hinblick auf die Ausübung des Begehrungsvermögens befinden, wenn wir etwa durch eine Krankheit geschwächt sind. Zuweilen reichen unsere Kräfte aber auch nicht aus, um einen ganz bestimmten Gegenstand zu realisieren, wenn wir uns etwa zuviel vorgenommen haben. Das Begehrungsvermögen ist also ein Vermögen höherer Ordnung, welches immer an unseren Kräften ausgeübt wird, und diese müssen sich sowohl generell in einem guten Zustand befinden als auch für die spezifischen Zwecke des Begehrens angemessen sein und auf angemessene Weise eingesetzt werden. Ein Wesen, welches über ein Begehrungsvermögen verfügt, ist folglich im Unterschied zur unbelebten Materie dazu in der Lage, seine eigenen Kräfte unter den Bedingungen von Erfolg einzusetzen. Tatsächlich scheint Kants Beschreibung des Begehrungsvermögens eine grundlegende Antwort auf die Frage zu geben, in welchem Fall wir eine kausale Aktivität überhaupt als erfolgreich oder als erfolglos bezeichnen. Hier müssen wir die Aktivität zumindest so betrachten, als ob die Vorstellung ihrer Wirkung dieser Aktivität zugleich als Ursache zugrunde liegt.
§ 5 Leben „Leben“, heißt es in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft, „ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“ (KpV 5:9.19 f. Anm.).⁵³ Damit stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Unterschied zwischen den Begriffen des Lebens und des Begehrungsvermögens gibt. Wenn wir die Bedeutung des Kantischen Handlungsbegriffs berücksichtigen, so ist das Handeln nach Gesetzen des Begehrungsvermögens nichts anderes als eine Aktualisierung dieses Vermögens.⁵⁴ Für die Identität der beiden Begriffe spricht 53 Die Fragestellung dieses Abschnitts habe ich bereits auf ähnliche Weise in Höwing 2013 entwickelt. 54 Man mag darüber streiten, ob jede Bestimmung des Begehrungsvermögens, also auch der Wunsch, ein „Handeln“ nach Gesetzen des Begehrungsvermögens ist oder ob das „Handeln nach Gesetzen des Begehrungsvermögens“ nur die transiente Handlung meint. Doch die gleiche Frage stellt sich natürlich in Bezug auf die Definition des Begehrungsvermögens. Auch diese Definition legt die Annahme nahe, dass nur die transiente Handlung (das ‚Verursachen‘ der Gegenstände des Begehrungsvermögens) eine Ausübung dieses Vermögens darstellt. Kant geht aber eindeutig davon aus, dass auch Wünsche und Versuche Ausübungen des Begehrungsvermögens sind, vgl. Höwing 2013.
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darüber hinaus die Definition des Lebens in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten: „Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben“ (MS 6:211.7 ff.). Dies scheint zu besagen, dass ein lebendiges Wesen dazu in der Lage ist, sich und die Welt nach Maßgabe seiner Vorstellungen bzw. seinen Vorstellung entsprechend zu verändern. So lesen wir in der Nachschrift Metaphysik Volckmann: „Leben heißt eigentlich ein Vermögen haben conform seinen Vorstellungen Handlungen auszuüben“ (28:449.2 f.; vgl. 28:594.17 f.; H. v. m.). Auch hier scheint ‚Leben‘ bloß ein anderer Ausdruck für ‚Begehrungsvermögen‘ zu sein. Das Leben ist nichts anderes als das Vermögen, die Ausübung seiner eigenen Kräfte am Inhalt der Vorstellung zu orientieren. Für eine Identität der beiden Begriffe spricht ferner Kants Ansicht, dass nur solche Wesen leben, die auch über ein Begehrungsvermögen verfügen; folglich leben Pflanzen nicht, sondern bloß Tiere und Menschen.⁵⁵ Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Reflexionen und Nachschriften, in welchen Begehren-Können und Leben explizit gleichgesetzt⁵⁶ oder ihre Definitionen einfach vertauscht werden.⁵⁷ Dieser Befund wäre nicht besonders beunruhigend, wenn sich nicht auch für eine Differenz der beiden Begriffe gute Gründe anführen ließen. So scheint für Kant auch das bloße Denken als „innere Thätigkeit“ (MAN 4:544.12) eine Form des Lebens darzustellen. Ferner könnte man sich fragen, warum Kant den Lebensbegriff nur mit dem Begehrungsvermögen und nicht zumindest auch mit den anderen beiden Grundvermögen des menschlichen Gemüts (also dem Erkenntnisvermögen und dem Gefühl der Lust und Unlust) in Zusammenhang bringt. So spricht Kant in der Kritik der Urteilskraft bekanntlich von einer Belebung der Erkenntniskräfte im freien Spiel, die in wesentlichen Punkten vom Begehren unabhängig sein soll.⁵⁸ Darüber hinaus macht er in der Anthropologie das Leben vom Gefühl der Lust und Unlust abhängig, wenn er das Leben des Tieres als „conti-
55 Vgl. KU 5:464 Anm.; MS 6:443; KU 5:374 f.; Höwing 2013. – Kant setzt sich auch in den vorkritischen Schriften sowie in Vorlesungen ausführlich mit der Frage auseinander, ob Tiere leben vgl. Träume 2:330 f.; 28:115 f.; 28:448 f.; 28:594; 28:679 f. 56 Das Begehrungsvermögen ist „eine Art Caussalität (im inneren oder äußeren Verhaltnis) durch Vorstellungen Ursache zu seyn wodurch das Subject derselben als ein lebend Wesen von dem was nicht durch Vorstellungen Ursache ist unterschieden und als blos leblos bezeichnet wird“ (20:445.3 ff.; vgl. 15:465.5 f., Refl. 1034). Vgl. auch folgende Aussage in der Metaphysik L2: „Lebende Wesen haben ein Begehrungsvermögen, dies kann man zur Definition von den lebenden Wesen machen“ (28:587.20 f.; vgl. 28:679 f.36 f.). 57 Vgl. folgende Definitionen des Lebens: „Die Caußalität der Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihrer Gegenstände ist also das Leben“ (29:894.17 f.; vgl. 15:465, Refl. 1034; 15:469, Refl. 1048, 1050). In der Metaphysik K2 lautet die Definition des Lebens: „Leben heisst durch eigne Vorstellungen Ursache von Handlungen sein“ (28:762.30 f.). 58 Vgl. KU 5:219.4; 5:222.24.
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nuirliches Spiel des Antagonismus“ von Lust und Schmerz bezeichnet (Anth 7:231.24).⁵⁹ In diesem Zusammenhang sind nun Kants Ausführungen zum Lebensbegriff in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft aufschlussreich. Dort entwickelt Kant den Begriff des Lebens auf etwas andere Weise, nämlich in Absetzung von der Trägheit der Materie: „Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Princip zum Handeln, einer endlichen Substanz, sich zur Veränderung, und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder Ruhe als Veränderung ihres Zustandes zu bestimmen“ (MAN 4:544.7 ff.).
Diese Ausführungen Kants zum Lebensbegriff unterscheiden sich schon auf der Oberfläche deutlich von der Definition des Lebens in den praktischen Schriften. Zunächst fällt auf, dass Kant den Begriff des Lebens hier offenkundig nicht psychologisch bestimmt. So fehlt der Rekurs auf das Handeln nach Vorstellungen sowie auf das Begehrungsvermögen. Kants Definitionen legen vielmehr die Ansicht nahe, dass der Begriff des Lebens, ähnlich wie die Begriffe von Vermögen und Handlung, ursprünglich einfach der Begriff einer besonderen Form von kausaler Wirksamkeit ist. Auffällig ist ferner, dass Kant mehrere Definitionen des Lebensbegriffs gibt. Diese Definitionen richten sich offenkundig nach dem Grad der Allgemeinheit, welche die Beschreibung des lebendigen Wesens aufweist. So lebt eine Substanz genau dann, wenn „sie sich aus einem inneren Princip zum Handeln“ bestimmen kann. Dies bedeutet für die endliche Substanz, dass sie sich aus einem inneren Prinzip verändern kann. Im Hintergrund dieser Spezifikation des Lebensbegriffs scheint die Annahme zu stehen, dass die Aktivität eines unendlichen bzw. notwendigen Wesens keine Selbstveränderung beinhalten kann; ein solches Wesen hat keine wechselnden Zustände.⁶⁰ Ist die endliche Substanz nun materiell, so hat sie – als möglicher Gegenstand äußerer Sinne – räumlich wahrnehmbare, also äußere Zustände. Folglich beinhaltet das Leben der materiellen Substanz das Vermögen, aus einem inneren Prinzip heraus ihre Lage im Raum zu verändern und sich in diesem Sinn selbst zu bewegen. Gemeinsam ist allen drei Definitionen der Rekurs auf ein inneres Prinzip der Kausalität. Ein Lebewesen ist für Kant eine Substanz, deren kausale Wirksamkeit wir nicht, wie im Fall der unbelebten Materie, vollständig im Rekurs auf äußere, also räumlich bestimmte Ursachen erklären können. Leben ist vielmehr eine Form
59 Vgl. auch Kants Redeweise vom „Lebensgefühl“ (KU 5:204.8) sowie seine Aussage, dass der Mensch ohne das moralische Gefühl sittlich tot wäre (MS 6:400.9 ff.). 60 Vgl. ND 1:412; 28:564.25 ff.; 28:1104.15 ff.
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von Kausalität, deren Erklärung auch auf innere Prinzipien bzw. Ursachen rekurrieren muss.⁶¹ Kant scheint hier bewusst offen zu lassen, was dies allgemein bedeutet. Denn Kant zufolge kennen wir lediglich zwei konkrete Formen eines Handelns aus einem inneren Prinzip bzw. einer Zustandsveränderung aus einem inneren Prinzip: „Nun kennen wir kein anderes inneres Princip einer Substanz, ihren Zustand zu verändern, als das Begehren und überhaupt keine andere innere Thätigkeit als Denken mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen. Diese Bestimmungsgründe aber und Handlungen gehören gar nicht zu den Vorstellungen äußerer Sinne und also auch nicht zu den Bestimmungen der Materie als Materie“ (MAN 4:544.10 ff.).
Was es bedeutet, dass eine Substanz aus einem inneren Prinzip handelt bzw. ihren eigenen Zustand verändert, können wir lediglich in Bezug auf uns selbst beantworten, indem wir – wie Kant an anderer Stelle schreibt – darauf achten, was uns
61 Fugate zufolge ist Kants Begriff des Lebens hauptsächlich von Crusius beeinflusst, vgl. Fugate 2008, 593 ff. Tatsächlich weist der Begriff aber auch große Ähnlichkeit zum schulphilosophischen Begriff der spontanen Handlung auf. Diese wird von Baumgarten auf folgende Weise definiert: „ACTIO a sufficienti principio, quod agenti internum est, dependens est SPONTANEA“ (Baumgarten, Metaphysica, § 704, 17:131.25 f.). In einer der entsprechenden Sektion in Baumgartens Metaphysik zugeordneten Reflexion heißt es ähnlich: „Das Leben ist das Vermögen, aus einem inneren Principio einen Zustand (seinen oder eines andern) anzufangen“ (17:313.14 f., Refl. 3855). „Das Leben ist selbstthatigkeit“ (15:248.10, Refl. 574). „Leben“, heißt es in der Metaphysik L1, „ist das innere Princip der Selbstthätigkeit. Lebende Wesen, die nach diesem innern Princip handeln, müssen nach Vorstellungen handeln“ (28:247.30 ff.). Auf ähnliche Weise grenzt die Metaphysik Volckmann die Lebewesen von der bloßer Materie ab: „Eine innerlich wirkende Kraft in einem Wesen nennt man Leben, unser eigner Zustand ist status repraesentativus, demnach können wir uns bey einem lebenden Wesen immer eine vim repraesentativam vorstellen, bewegende Kräfte können nicht anders als durch äußere Ursachen würken, sie sind daher auch nur äußerlich bestimmt […], soll es aber lebend seyn, so hat es ein Vermögen aus einem innern princip zu handeln, und dies princip ist ein Subject das vires repraesentativas hat. Leben heißt eigentlich ein Vermögen haben conform seinen Vorstellungen Handlungen auszuüben. Ein Thier nennen wir lebend, weil es Vermögen hat zu Folge seinen eignen Vorstellungen selbst seinen Zustand zu verändern“ (28:448 f.33 ff.; vgl. ähnlich Metaphysik L2, 28:594.12 ff.). – Gleichwohl geht es Kant bei der Definition des Lebens in den Metaphysischen Anfangsgründen nicht notwendig um ein absolut oder schlechthin spontanes, d. h. transzendental freies Handeln oder gar um die Fähigkeit, im moralischen Sinn ‚selbstbestimmt‘ zu handeln. Dass wir die kausale Aktivität von lebendigen Wesen als solchen nicht allein im Rekurs auf äußere, d. h. räumliche Ursachen erklären können, schließt zumindest nicht aus, dass die Veränderung dieses Wesens immer eine Ursache haben muss, vgl. Willaschek 2010.
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der innere Sinn „darbietet“.⁶² Kant nennt hier zwei innere Prinzipien bzw. Handlungen, die wir auf diese Weise entdecken: Das Begehren ist ein inneres Prinzip der Zustandsveränderung, während das Denken eine innere Tätigkeit ist. Diese Beschreibung des Unterschieds zwischen Begehren und Denken lässt sich vermutlich zurückbeziehen auf die von Kant zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen der Lebendigkeit einer Substanz als solcher und der Lebendigkeit einer endlichen materiellen Substanz. Durch das Begehren können wir unseren äußeren Zustand verändern, d. h. uns selbst im Raum bewegen. Das Denken ist hingegen innerliche Tätigkeit, also ein ‚Handeln aus einem inneren Prinzip‘, welches keine Veränderung zumindest unseres äußeren Zustands beinhaltet.⁶³ Die Frage, wie sich Begehren und Leben zueinander verhalten, mag man also in einem ersten Ansatz auf folgende Weise beantworten. Kant verwendet in seinen praktischen Schriften einen spezifischen Begriff des Lebens. Das Begehren ist – neben dem Denken – lediglich eine uns empirisch bekannte Gestalt des Lebens einer endlichen materiellen Substanz. ‚Leben‘ und ‚Begehrungsvermögen‘ sind folglich nicht einfach intensional identische Begriffe. Vielmehr ist das BegehrenKönnen ein Charakteristikum des Lebens, das uns empirisch zugänglich ist. Offen bleibt bei einer solchen Antwort allerdings die Frage, warum Kant in seinen praktischen Definitionen des Lebens nicht auch das Denken oder das Erkennen als ein Merkmal des Lebendigen anführt. Außerdem könnte man sich fragen, ob nicht die Belebung des Gemüts im freien Spiel der Erkenntniskräfte, die Kant zufolge weitgehend unabhängig von der Ausübung des Begehrungsvermögens stattzufinden scheint, ebenfalls eine Instanz des Lebens ist. Gerade hier liegt ein tiefes Problem für Kants Konzeption der Lust am Schönen. Wenn erstens die Lust ganz generell in dem Bewusstsein der Beförderung unseres Lebens bestehen soll und wenn zweitens das freie Spiel der Erkenntniskräfte keinen Fall einer derartigen Aktivität darstellt – wogegen ja schon Kants Redeweise von der ‚Belebung‘ dieser Kräfte spricht –, dann ist auch nicht mehr zu sehen, warum dieses Spiel zu einer Lust führen sollte.
62 Vgl. KrV B 321: „[…] was kann ich mir für innere Akzidenzen denken, als diejenigen, so mein innerer Sinn mir darbietet? nämlich das, was entweder selbst ein Denken, oder mit diesem analogisch ist“. Zur Interpretation der Stelle vgl. Pollok 2001, 421 ff. 63 Diese Interpretation von Kants Beschreibung des Begehrens würde dazu passen, dass für Kant der paradigmatische Fall eines auf Begehren beruhenden Handelns die körperliche Bewegung ist (vgl. § 2 dieses Kapitels). Im Hinblick auf Kants Aussage über das Denken stellt sich allerdings die Frage, ob Kant nicht noch mehr sagen will. So könnten wir davon ausgehen, dass das Denken eine mögliche Eigenschaft lebendiger Wesen ist, die unabhängig davon ist, ob diese Wesen sich selbst in ihrer Aktivität verändern oder nicht (also endliche oder unendliche Substanzen sind). Doch eine solche Interpretation würde voraussetzen, dass das Denken für Kant keine Veränderung des inneren Zustandes beinhaltet, was fraglich ist.
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Eine Diskussion dieses Problems würde hier zu weit gehen, weil sie eine ausführliche Untersuchung der kantischen Theorie des Erkennens und der Theorie der ästhetischen Reflexion erfordern würde.⁶⁴ An dieser Stelle möchte ich mich auf die Frage beschränken, warum Kant den Begriff des Lebens in seinen praktischen Schriften auf das Begehrungsvermögen eingrenzt. Hier lassen sich nun zwei mögliche Erklärungen denken. Eine erste, aber in meinen Augen problematische Erklärung lässt sich vielleicht aus einer ganz bestimmten Lesart der bereits angeführten Stelle aus den Metaphysischen Anfangsgründen gewinnen.Wir kennen, schreibt Kant dort, kein anderes inneres Prinzip der Zustandsveränderung als das Begehren und keine andere innere Tätigkeit als das Denken – „mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen“ (MAN 4:544.13 f.). Nicht nur Denken und Begehren, sondern auch Gefühl, Begierde und Willen können als abgeleitete Gestalten des Lebens aufgefasst werden. Die Formulierung, in der Kant diesen Zusammenhang ausdrückt – „mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen“ – ist nicht ganz einfach zu verstehen. Sie wird von Pollok so interpretiert, dass das Begehren „hinsichtlich des Begriffs der Lust bzw. der Unlust in „Begierde“ […] oder „Willen“ […] weiterbestimmt werden [kann]: bei der Begierde geht die Lust dem Prinzip des Begehrungsvermögens voraus, bei der Handlungsbestimmung durch den Willen folgt die Lust auf die Bestimmung durch das moralische Gesetz“ (Pollok 2001, 428 Anm.).
Pollok zufolge geht es Kant hier also letztlich darum, die zwei Hauptformen des Begehrens zu unterscheiden, nämlich die sinnliche Begierde und das vernünftige Wollen.⁶⁵ Diese plausible Interpretation beantwortet nun allerdings noch nicht die Frage, welche Rolle das Denken in diesem Zusammenhang spielt. Kants Formulierung („mit dem, was davon abhängt […]“, MAN 4:544.13) scheint sich auf beides zu beziehen: Begehren und Denken. Man könnte nun Polloks Interpretation auf
64 Zu diesem Problem vgl. Makkreel 1990, Kap. 5, 88 ff.; Fugate 2008. 65 Pollok zufolge erwähnt Kant an der Stelle das Gefühl der Lust oder Unlust, um auf das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Begierde und Wille hinzuweisen. Tatsächlich scheint Kant an der besagten Stelle nicht einfach zu sagen, dass (a) Gefühl der Lust oder Unlust, (b) Begierde sowie (c) Wille von Begehren und Denken abhängen. Denn in diesem Fall würde sich die Frage stellen, warum Lust oder Unlust vom Begehren oder Denken abhängen sollten. Kants Verwendung unterschiedlicher Konjunktionen – „Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen“ – deutet ebenfalls darauf hin, dass hier nicht einfach gleichberechtigte Elemente nebeneinander gestellt werden. Alternativ zu Pollok scheint mir allerdings noch folgende, in der Sache aber ähnliche Deutung des Textes möglich: Kant zufolge sind uns Begehren und Denken in zwei komplexen Zuständen zugänglich, nämlich (a) in einer auf dem Gefühl der Lust oder Unlust beruhenden Begierde und (b) im vernünftigen Wollen.
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folgende Weise modifizieren: Die beiden Grundformen des Lebens, nämlich das Denken und das Begehren, kennen wir empirisch nicht einfach isoliert, sondern nehmen sie in zwei komplexen inneren Zuständen wahr, nämlich (a) in der sinnlichen Begierde oder (b) im vernünftigen Wollen. An beiden Zuständen sind, wie Kant später in der Ersten Einleitung betont, alle drei Grundfunktionen des menschlichen Gemüts – also Erkennen, Fühlen und Begehren – beteiligt (vgl. EE 20:206 f.). Aus dieser Interpretation würde sich nun eine erste Erklärung der Tatsache ergeben, dass das Leben in Kants praktischen Schriften vom Begehrungsvermögen abhängig gemacht wird. Dieser Erklärung zufolge wären uns Denken, Erkennen und Fühlen nicht in einem vom Begehren abgelösten Bewusstsein gegeben, sondern immer in die beiden elementaren desiderativen Einstellungen (Begierde und Wollen) inkorporiert. In diesem Fall würde Kant in den praktischen Schriften das Leben also gar nicht auf das Begehren-Können eingrenzen. Denn Denken und Fühlen wären dieser Deutung zufolge Aspekte des Lebens, weil sie überhaupt nur in komplexen desiderativen Zuständen (Begierde oder Wollen) auftreten können.⁶⁶ Aus diesem Grund ist diese Erklärung jedoch – zumindest auf den ersten Blick – auch als problematisch einzustufen. Denn es ist fraglich, ob Kant davon ausgegangen ist, dass Denken, Erkennen und Fühlen immer in desiderative Zustände inkorporiert sind. Kants Behauptung, dass die Lust aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte unabhängig vom Begehren des Gegenstandes entsteht, scheint zumindest prima facie für eine Auffassung zu sprechen, der zufolge es auch nichtdesiderative Zustände gibt, in welchen wir uns der lebendigen Aktivität unserer Erkenntniskräfte bewusst sind. Die zweite Antwort auf die Frage, warum Kant in den Definitionen des Lebens aus seinen praktischen Schriften das Denken nicht berücksichtigt, wäre zumindest nicht so folgenschwer wie die erste. Sie ergibt sich aus der Beobachtung, dass Kants Definitionen des Lebens in den Metaphysischen Anfangsgründen davon abhängen, unter welcher Beschreibung wir ein Wesen als lebendig charakterisieren wollen. Auf einer sehr allgemeinen Beschreibungsebene können wir ein Wesen qua Substanz, qua endliche Substanz oder qua materielle Substanz als lebendig charakterisieren. Auf einer konkreteren, empirischen Ebene können wir darüber hinaus davon sprechen, dass ein denkendes oder ein begehrendes Wesen lebt. Kants Ausführungen in den Metaphysischen Anfangsgründen legen also nicht
66 In diese Richtung geht die Interpretation, die Dörflinger von Kants Begriff des Lebens in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft vorgeschlagen hat. Dörflinger zufolge wird das Leben dort als eine auf dem Begehren beruhende rationale Aktivität definiert: „Leben ist das Vermögen, aus einem inneren Prinzip, dem Begehren, sich zum Denken als einem inneren Handeln nach Gesetzen zu bestimmen“ (Dörflinger 2000, 34).
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nur die Annahme nahe, dass das Merkmal des Lebendigen von der Beschreibung des lebendigen Wesens abhängt. Es lassen sich darüber hinaus auch zwei Beschreibungsebenen unterscheiden. Eine allgemeine Beschreibungsebene ist kausalitätstheoretisch und a priori, eine konkretere Beschreibungsebene ist psychologisch und empirisch. Auf der kausalitätstheoretischen Ebene führt Kant nun drei verschiedene Beschreibungen an. Wir können vom Leben der Substanz, der endlichen Substanz und der materiellen Substanz sprechen. Ganz ähnlich könnten wir nun aber auch auf der zweiten psychologischen Ebene verschiedene Beschreibungen lebendiger Wesen unterscheiden. Die Menschen leben Kant zufolge, sofern sie denken und begehren. Dies gilt aber nicht für alle Lebewesen, die uns empirisch zugänglich sind. Obwohl wir die genannten Eigenschaften direkt nur durch den inneren Sinn wahrnehmen, gibt es Kant zufolge durchaus gute Gründe für die Annahme, dass die Tiere zwar keinen Verstand, aber immerhin ein Begehrungsvermögen besitzen. Das Begehrungsvermögen stellt für Kant folglich die Eigenschaft dar, welche für alle Lebewesen charakteristisch ist, die wir aus der Erfahrung kennen (nämlich für Menschen und Tiere). Hieraus ergibt sich nun auch eine Erklärung der Tatsache, dass Kant den Begriff des Lebens in seinen praktischen Schriften auf das Begehrungsvermögen eingrenzt: Der Lebensbegriff, den Kant dort definiert, abstrahiert von allen spezifischen Merkmalen der Lebensformen und gibt lediglich den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ an, auf den sich die Gesamtheit des uns empirisch zugänglichen Lebens bringen lässt.
§ 6 Begehren nach Begriffen Die zuletzt vorgestellte Erklärung von Kants Lebensbegriff ist auch hilfreich, um seinen Begriff des Begehrungsvermögens besser zu verstehen. Der Begriff des Begehrungsvermögens folgt nämlich einer ähnlichen Logik wie der Begriff des Lebens, weil er lediglich die gemeinsamen Merkmale einer Gattung von Vermögen beschreibt. Kants Theorie des Begehrungsvermögens lässt, mit anderen Worten, offen, welche spezifische Form das Begehren-Können im Fall der Menschen oder der Tiere annimmt. Dies zeigt sich an der Begründung, die sich Kant zufolge für die Annahme ins Feld führen lässt, dass auch die Tiere leben und nicht bloß, wie in der Auffassung des Descartes, „Maschinen sind“ (KU 5:464.27 Anm.). Wir denken uns, führt Kant in der Kritik der Urteilskraft aus, den Grund der Handlungen der Tiere als ein „Analogon der Vernunft“, womit wir anzeigen wollen, „daß der Grund des thierischen Kunstvermögens unter der Benennung eines Instincts von der Vernunft in der That specifisch unterschieden, doch auf die Wirkung (der Bau der Biber mit
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dem der Menschen verglichen) ein ähnliches Verhältniß habe“ (KU 5:464.17 ff. Anm.; vgl. 28:594.17 ff.).
Aus der ähnlichen Form der Wirkungen können wir nun „ganz richtig nach der Analogie schließen, daß die Thiere auch nach Vorstellungen handeln (nicht, wie Cartesius will, Maschinen sind) und ungeachtet ihrer specifischen Verschiedenheit doch der Gattung nach (als lebende Wesen) mit dem Menschen einerlei sind“ (KU 5:464.25 ff. Anm.).
Kants Begründung für unsere Annahme, dass auch Tiere lebendige Wesen sind, zeigt unter anderem, dass das Begehrungsvermögen bzw. das Leben bei Tieren und Menschen niemals als solches, sondern immer in einer spezifischen Form vorkommt. Um unsere Annahme zu begründen, dass auch Tiere lebendige Wesen sind,verfahren wir nicht einfach so, dass wir bei ihnen ein Vermögen zu entdecken meinen, das wir auch haben. Vielmehr beruht unser Schluss auf einer Analogie. Die spezifische Form der kausalen Wirksamkeit der Menschen (das vernünftige Wollen) hat – ungeachtet der Unterschiede – eine Gemeinsamkeit mit der spezifischen Form der kausalen Wirksamkeit der Tiere (dem instinktgeleiteten Begehren), und diese Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um eine kausale Wirksamkeit „nach Vorstellungen“ handelt. Der Begriff des Begehrungsvermögens ist also – wie der empirische Begriff des Lebens aus Kants praktischen Schriften – der Begriff eines Genus von Vermögen. Der tiefere Grund dafür, dass der Begriff des Begehrungsvermögens in diesem Sinn unbestimmt bleibt, ist in Kants Definition dieses Begriffs zu suchen. Ein Wesen vermag, wie wir gesehen haben, einen Gegenstand zu begehren, wenn es in der Lage ist, die Ausübung seiner Kräfte am Inhalt einer Vorstellung zu orientieren. Eine solche Erklärung lässt nun aber noch offen, auf welche Weise die Vorstellung des Gegenstandes die Kräfte des begehrenden Wesens kontrolliert. Die Vorstellung eines Gegenstandes scheint für sich genommen überhaupt nicht hinreichend zu sein, um jene Handlungen oder Verhaltensweisen hervorzubringen, die den Gegenstand der Vorstellung realisieren. Eine Kontrolle der eigenen Kräfte durch die Vorstellung des Gegenstandes setzt vielmehr eine Instanz voraus, die zwischen der Vorstellung des Gegenstandes und dem Handeln vermittelt. Eine solche Instanz versetzt das Wesen in die Lage, Handlungen zu wählen, die einen vorgestellten Gegenstand realisieren. Die Beschaffenheit dieser Instanz macht für Kant – in der zitierten Passage – den artbildenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen aus. Es ist der Unterschied zwischen einem Handeln aus Vernunft und aus Instinkt.
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Die Unterscheidung zwischen den beiden spezifischen Formen des Begehrens ist also der geeignete Ort, um die Frage aufzugreifen, was es genau bedeutet, dass der Inhalt einer Vorstellung die Kräfte eines begehrenden Wesens ‚kontrolliert‘. Nun hat bereits die Diskussion zum Zusammenhang zwischen Vorstellen, Bewusstsein und Begehren gezeigt, dass eine solche Untersuchung im Hinblick auf das tierische Begehren ziemlich rasch an ihre Grenzen stößt. Hier stellt sich vor allem die Frage, wie es möglich ist, dass der Inhalt einer Vorstellung das Verhalten eines Tiers kontrolliert, ohne dass das Tier sich diesen Inhalt in einem anspruchsvollen Sinn bewusst vorstellt. Eine plausible Antwort hat sich aus Kants Ausführungen zum physischen Unterscheiden ergeben. Das Tier fühlt angesichts unterschiedlicher Vorstellungen (z. B. den unterschiedlichen Empfindungen, die durch einen Braten oder ein Brot ausgelöst werden) den Drang, sich auf jeweils unterschiedliche Weise zu verhalten (z. B. springen und fressen oder, im Fall des Brots, nichts tun). Die Verbindung der Vorstellung mit einer koordinierten Kraftanwendung wird hier, mit anderen Worten, durch den Instinkt hergestellt.⁶⁷ Was bedeutet es nun im Fall des menschlichen Begehrens, dass der Inhalt einer Vorstellung die Kräfte des Menschen kontrolliert? Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Menschen Kant zufolge mit einer spezifischen Form von Begehrungsvermögen ausgestattet sind, die Kant in der Metaphysik der Sitten als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14) bezeichnet (vgl. § 3 dieses Kapitels). Dass wir über ein solches Vermögen verfügen, bedeutet nicht nur, dass wir in der Lage sind, die begehrten Gegenstände in einem anspruchsvollen Sinn zu erkennen. Das bereits erwähnte Gedankenexperiment Kants in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zeigt vielmehr, dass es ein Wesen geben könnte, welches zwar die Gegenstände seiner Vorstellungen erkennen kann, gleichwohl aber nur zu Handlungen aus Instinkt fähig ist. Dass wir im Unterschied zu diesem Wesen über ein Begehrungsvermögen nach Begriffen verfügen, bedeutet folglich, dass unsere begrifflichen Fähigkeiten nicht nur eine kognitive, sondern auch eine kausale Rolle beim Begehren spielen. So können wir darüber nachdenken, auf welche Weise wir handeln sollten, um einen begehrten Gegenstand hervorzubringen. Beim menschlichen Begehren wird folglich die Verbindung zwischen der Vorstellung des Gegenstandes und einer koordinierten Kraftanwendung in einer Handlung durch begriffliche Fähigkeiten hergestellt. Im Folgenden möchte ich nun einige Aspekte dieser Idee eines „Begehrungsvermögens nach Begriffen“ anhand von Kants eigenen Aussagen etwas 67 Ich verwende den Ausdruck „Instinkt“ hier in einem ähnlichen Sinn wie Korsgaard, der zufolge er sich auf die Verbindung bezieht, die beim Tier zwischen der Vorstellung eines Gegenstandes und dem dadurch ausgelösten Antrieb zu einer bestimmten Verhaltensweise besteht (vgl. Korsgaard 2009, 111).
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deutlicher entwickeln. Zuallererst geht es mir darum zu zeigen, dass diese Idee nicht einfach identisch ist mit Kants umfassendem Begriff von praktischer Vernunft, (also von dem Vermögen das eigene Handeln an hypothetischen und kategorischen Imperativen zu orientieren). Tatsächlich geht es Kant an der Stelle in der Metaphysik der Sitten, an der er den Ausdruck „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (MS 6:213.14) im Sinne dieser Idee verwendet, um eine besondere Form von praktischer Vernunft, nämlich um die technisch-praktische Vernunft (also um das Vermögen nach hypothetischen Imperativen zu handeln). Es ist diese Form von praktischer Vernunft, die beim Menschen an die Stelle des tierischen Instinktes treten kann, indem sie ihn – ähnlich wie der Instinkt – in die Lage versetzt, Handlungen nach Maßgabe eines bereits bestehenden Begehrens zu wählen. Dies zeigt eine genauere Betrachtung des Kontextes der Stelle in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, an welcher Kant den Begriff des „Begehrungsvermögens nach Begriffen“ einführt.⁶⁸ Dort heißt es: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen“ (MS 6:213.14– 17).
Kant erwähnt den Ausdruck „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ zunächst in der Definition eines anderen Vermögens, nämlich des Vermögens nach Belieben zu tun oder zu lassen (fortan abgekürzt: VBTL). Bereits Baumgarten hatte in seiner empirischen Psychologie von einem ‚Vermögen nach Belieben zu begehren oder zu verabscheuen‘ gesprochen und diesen Ausdruck bedeutungsgleich mit ‚Willkür‘ gebraucht.⁶⁹ Baumgarten zufolge handelt es sich dabei um das Vermögen einer bedingten Wahlfreiheit. Ein Wesen verfügt über dieses Vermögen, wenn es die Wahl einer Handlungsalternative von bereits bestehenden sinnlichen Antrieben oder rationalen Präferenzen – also von seinem „Belieben“ – abhängig machen kann.⁷⁰ Auch Kant verbindet mit dem VBTL ein Vermögen der Wahl von Handlungen; so führt er unmittelbar nach der zitierten Definition des VBTL die Unterscheidung zwischen Wunsch und Willkür ein.⁷¹ Im Unterschied zu Baumgarten geht es Kant allerdings um ein Vermögen der rationalen Wahl – das VBTL ist Kant zufolge
68 Die folgenden vier Absätze sind leicht überarbeitet aus Höwing 2013 übernommen worden. 69 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 712, 17:134.17 f. 70 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 712, 17:134. 71 Kant zufolge liegt das Vermögen der Willkür vor, wenn „es [das VBTL – T. H.] mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist“ (MS 6:213.17 f.).
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wesentlich ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“. Aufschlussreich für das Verständnis dieses Ausdrucks sind nun Kants Ausführungen in der veröffentlichten Einleitung der Kritik der Urteilskraft. Dort charakterisiert Kant den Willen nämlich ebenfalls als eine Ursache, die „nach Begriffen“ wirkt (KU 5:172.5 f.). Darüber hinaus unterscheidet er in diesem Zusammenhang zwei Arten von Begriffen – die Naturbegriffe und den Freiheitsbegriff –, aus denen sich zwei unterschiedliche praktische Prinzipien ergeben: technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien. Dies legt zunächst folgende Erklärung des Ausdrucks „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ nahe: Ein Wesen kann genau dann nach Begriffen begehren, wenn es aus Begriffen der Natur und der Freiheit praktische Regeln bzw. Prinzipien ableiten kann, an denen es sein Handeln orientiert. Ein Mensch kann folglich nach Begriffen begehren, weil er sein Handeln an hypothetischen und kategorischen Imperativen orientieren kann, die sich aus den Naturbegriffen oder dem Freiheitsbegriff ergeben. Ein Begehrungsvermögen nach Begriffen scheint also zunächst identisch zu sein mit der praktischen Vernunft im umfassenden Sinn. Im Kontext der Einleitung in die Metaphysik der Sitten verwendet Kant den Ausdruck „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ allerdings in einem engeren und zugleich elementareren Sinn. Der Begriff eines solchen Vermögens soll hier ja zunächst einfach erklären, worin ein ‚Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen‘ und die Willkür besteht. Es ist leicht zu sehen, dass der Ausdruck zuviel voraussetzen würde, wenn mit einem „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ schon das Vermögen verbunden wäre, sein Handeln an kategorischen Imperativen auszurichten und in diesem Sinn frei zu handeln. So würde in diesem Fall nicht nur Kants Begriff einer nicht-freien, tierischen Willkür in sich widersprüchlich (vgl. MS 6:213.30 – 32). Eine solche Interpretation würde auch zu der merkwürdig klingenden Konsequenz führen, dass ein Wesen Handlungen nach Belieben ausführen oder unterlassen kann, sofern es unter dem Anspruch kategorischer Imperative steht. Dies scheint Kants Auffassung eines kategorischen Imperativs entgegenzustehen, der, wie Kant an anderer Stelle betont, „dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegentheils frei läßt“ (GMS 4:420.9 f.; H. v. m.).⁷² Der
72 Streng genommen ist auch die zuvor angeführte Passage aus der veröffentlichten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft nicht ganz eindeutig in der Frage, ob ein Begehrungsvermögen nach Begriffen auch die moralisch-praktische Vernunft beinhaltet. Die Aussage Kants, in dieser Charakterisierung werde „unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Causalität des Willens die Regel giebt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei“ (KU 5:172.12 f.), scheint zunächst dafür zu sprechen. Betrachtet man allerdings den Kontext, so ist Kants Aussage differenzierter. Denn Kant argumentiert hier gegen jene Philosophen, die fälschlicherweise „das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe für einerlei“ (KU 5:171.26 f.)
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Aspekt einer bedingten Wahlfreiheit, der bei Baumgarten mit der Redeweise vom Tun oder Unterlassen ‚nach Belieben‘ verbunden ist, legt eher folgende Lesart nahe: Kant zufolge ist ein Wesen, das über ein VBTL verfügt, in der Lage, in Abhängigkeit von vorliegenden Begehrungen („nach Belieben“) Handlungsalternativen auszuwählen und dabei vernünftige Überlegung einzusetzen.⁷³ Wenn dies stimmt, dann lässt sich die Frage, was ein Begehrungsvermögen nach Begriffen ist, auf folgende Weise beantworten. Um in Abhängigkeit von bestehenden Begehrungen unter verschiedenen Handlungsalternativen rational auswählen zu können, muss ein Wesen nicht nur erkennen können, was es begehrt. Es muss darüber hinaus aufgrund von praktischen Prinzipien entscheiden können, welche Handlungsalternative den begehrten Gegenstand realisiert. Die praktischen Prinzipien, die das VBTL-Wesen bei dieser rationalen Handlungswahl einsetzt, vermitteln folglich nur zwischen bestehenden Begehrungen und der Wahl einer Handlungsalternative. Dies deutet darauf hin, dass es sich bei diesen praktischen Prinzipien noch nicht um moralisch-praktische, sondern lediglich um technisch-praktische Prinzipien handelt. Denn die praktische Vorschrift, in der eine Handlung „als Mittel zu einer andern Absicht geboten“ wird (GMS 4:416.6), ist für Kant ein hypothetischer Imperativ und damit ein technisch-praktisches Prinzip. Ein VBTL-Wesen verfügt also über ein Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern es (a) erkennen kann, was es begehrt, und (b) aus dieser Erkenntnis hypothetische Imperative ableiten kann, die bestimmen, welche Handlungsalternative es wählen soll, um den begehrten Gegenstand zu realisieren.⁷⁴
genommen hatten. Anschließend scheint Kant nun nicht seine eigenen, sondern die Überlegungen der kritisierten Philosophen darzustellen. Diesen Philosophen zufolge ist der Wille als Begehrungsvermögen „eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt“, und alles, was durch den Willen bewirkt werden kann oder muss, ist „praktisch-möglich (oder nothwendig)“ (KU 5:172.4 ff.). Doch dieser Beschreibung des Willens liegt, so Kants Kritik, ein zweideutiger Begriff des Praktischen zugrunde. „Hier wird“, wie Kant kritisch anmerkt, „nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Causalität des Willens die Regel giebt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei. Der letztere Unterschied aber ist wesentlich“ (KU 5:172.11 ff.). Kants Kritik besteht also im Grunde darin, dass seine Vorgänger das Technisch-Praktische und das Moralisch-Praktische in einem Begriff des Willens miteinander vermengt haben. 73 Vgl. Baum 2005, 37 f.; Herman 2007, 237– 241. 74 Engstrom zufolge ist das Charakteristikum des Begehrens nach Begriffen eine Form von praktischem Denken, für das ein selbstreferentielles Bewusstsein der eigenen Wirksamkeit konstitutiv ist (vgl. Engstrom 2009, 28 ff.). Da diese Form von Bewusstsein grundlegend ist für Absichten, handelt es sich bei einem Begehrungsvermögen nach Begriffen um das elementare Vermögen etwas zu beabsichtigen, d. h. durch Denken zu spezifizieren, was man tun wird (vgl. Engstrom 2009, 33). Dieses Vermögen unterliegt für Engstrom Bedingungen von Zweck-MittelRationalität, welche die Ausführbarkeit der Handlung und die Realisierbarkeit des Zwecks durch
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Diese Betrachtung von Kants Definition des VBTL in der Metaphysik der Sitten zeigt also, dass Kant das spezifisch menschliche Begehrungsvermögen nach Begriffen im Grunde mit der technisch-praktischen Vernunft identifiziert. Dies scheint zunächst zu bestätigen, dass für Kant die technisch-praktische Vernunft nicht einfach nur eine Art von Erkenntnisvermögen ist. Die technisch-praktische Vernunft befähigt uns nicht nur dazu theoretische Überzeugungen auszubilden, die den kausalen Zusammenhang zwischen unserem Handeln und der Realisierung eines begehrten Gegenstandes beschreiben. Vielmehr ist diese Form von Vernunft selbst ein Begehrungsvermögen und damit Aspekt eines für das menschliche Begehren charakteristischen kausalen Prozesses. Orientiert man sich an Kants Definition des Begehrungsvermögens, so lässt sich dieser kausale Prozess – freilich stark verkürzt – für den Fall eines Handelns nach hypothetischen Imperativen auf folgende Weise beschreiben: Zunächst entsteht in uns eine Begierde, d. h. die Vorstellung eines Gegenstandes erhält die für das Begehren charakteristische kausale Rolle. Sie treibt uns dazu an, den vorgestellten Gegenstand zu realisieren, wobei allerdings unbestimmt bleibt, was wir zur Realisierung des Gegenstandes unternehmen müssen. In einem nächsten Schritt können wir durch vernünftige Überlegung bestimmen, auf welche Weise wir handeln müssen, um diesen Gegenstand hervorzubringen. Der hypothetische Imperativ, den wir auf
die Handlung betreffen (vgl. Engstrom 2009, 33 ff.). Allerdings manifestiert sich nach Engstrom dieses Vermögen nicht in hypothetischen Imperativen. Wir können uns – so Engstroms Argument – ein Wesen denken, das zwar nach Begriffen begehren kann, dessen Handeln jedoch durch sinnliche Begierden determiniert wäre. Da die Vernunft in einem solchen Wesen keine ‚Wirksamkeit‘ für dessen Handeln hätte, könnte dieses Wesen auch nicht nach Imperativen handeln (vgl. Engstrom 2009, 42). – Eine ausführliche Kritik von Engstroms Argument müsste sicherlich die Frage erörtern, worin sich Engstrom zufolge die Wirksamkeit des praktischen Denkens von der Wirksamkeit praktischer Vernunft unterscheidet; schließlich ist Engstrom zufolge auch das praktische Denken ein Ausdruck von Spontaneität (vgl. Engstrom 2009, 29 f.). Problematisch scheint mir aber vor allem die These zu sein, dass es für Kant eine Zweck-MittelRationalität ‚unterhalb‘ der praktischen Vernunft gibt – also eine Art von praktischem Verstand (vgl. Engstrom 2009, 46 Anm.). Hiergegen spricht erstens, dass Kant zufolge überhaupt nur die Vernunft die kognitiven Ressourcen für ein Zweck-Mittel-Denken bereitstellt: „[D]ie Beurtheilung des Verhältnisses der Mittel zu Zwecken gehört […] zur Vernunft“, die „allein vermögend ist, die Verknüpfung der Mittel mit ihren Absichten einzusehen“ (KpV 5:58 f.34 ff.). Zweitens lassen sich nach Kant die kognitive Funktion instrumenteller Rationalität (also die praktische Anwendung von theoretischen Realisierbarkeitsüberzeugungen) und ihre normative Dimension (also die Orientierung an den entsprechenden Imperativen) nicht voneinander trennen. Dass wir unsere theoretischen Überzeugungen bezüglich der Realisierbarkeit von Handlungen und Zwecken auf unser Handeln anwenden können, bedeutet nach Kant letztlich nichts anderes, als dass wir dazu in der Lage sind, uns in diesem Handeln nach hypothetischen Imperativen zu richten, vgl. EE 20:197 ff.; KU 5:172 f.
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diese Weise bilden, ist nun Kant zufolge ebenfalls eine Form von Begehren, d. h. eine Vorstellung, der die für das Begehren charakteristische Rolle zukommt. Allerdings ist dieses Begehren komplexer als unsere ursprüngliche Begierde; denn der Imperativ treibt uns dazu an, den begehrten Gegenstand durch ein bestimmtes Handeln hervorzubringen. Eine solche Konzeption des Begehrungsvermögens nach Begriffen erklärt nun auch, was es in einem elementaren Sinn bedeutet, dass der Inhalt einer Vorstellung die Kräfte beim spezifisch menschlichen Handeln kontrollieren kann. Der Imperativ, den wir in vernünftiger Überlegung bilden, ist zugleich eine Handlungsregel, d. h. er treibt uns dazu an, unsere Kräfte auf eine koordinierte Weise einzusetzen, um den Gegenstand hervorzubringen. Diese Handlungsregel ist nun aber nicht unabhängig von der ursprünglichen Vorstellung des begehrten Objekts. Vielmehr ergibt sie sich wesentlich aus dieser Vorstellung, und zwar in dem Sinn, dass sie aus den theoretischen Überzeugungen abgeleitet ist, die wir im Hinblick auf die Realisierbarkeitsbedingungen des begehrten Gegenstandes haben. Unter dieser Rücksicht lässt sich folglich die technisch-praktische Überlegung als ein Prozess beschreiben, in welchem der Inhalt einer Vorstellung beim menschlichen Begehren sukzessive einen Einfluss auf die Kräfte des Menschen erhält.⁷⁵ Man könnte sich nun die Frage stellen, warum Kant eigentlich davon spricht, dass wir in diesem Fall Gegenstände nach Begriffen (und nicht etwa nach Regeln oder Imperativen) begehren. Um welche Art von Begriffen handelt es sich und worauf beziehen sich diese Begriffe? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst hilfreich, noch einmal die Analogie zwischen theoretischer und praktischer Vorstellungsbeziehung zu betrachten, die ich am Ende des § 3 dieses Kapitels skizziert habe. Der Grundgedanke dieser Analogie bestand darin, dass dem Begriff des Objekts in beiden Formen der Vorstellungsbeziehung eine ähnliche Rolle zukommt: Der Begriff des Objekts stellt zugleich eine Regel vor, nach der wir uns richten müssen, um die Vorstellung auf ihr Objekt zu beziehen. So geht Kant in
75 Die Konzeption des Begehrungsvermögens nach Begriffen, die wir in Kants Definition des VBTL finden, ist noch aus anderen Gründen philosophisch gehaltvoll. Erstens zeigt sie, dass für Kant die technisch-praktische Vernunft nicht bloß die Fähigkeit zum instrumentellen Handeln ist. Sie ist darüber hinaus die elementare Fähigkeit spezifische Handlungen nach Maßgabe von bereits gesetzten Zwecken zu wählen. Letztere Fähigkeit ist etwa auch beim moralischen Handeln erforderlich, wenn es darum geht zu entscheiden, auf welche Weise wir unserer Pflicht unter spezifischen Umständen am besten nachkommen. Wenn wir zweitens berücksichtigen, dass der paradigmatische Fall eines auf Begehren beruhenden Handelns die Anwendung unserer Kräfte bei der körperlichen Bewegung ist, so wird deutlich, dass die technisch-praktische Vernunft konstitutiv ist für das Bewusstsein unserer Identität als leibliche Akteure. Dass wir über technisch-praktische Vernunft verfügen ist der Grund dafür, dass wir ein Bewusstsein von der Einheit in der Mannigfaltigkeit unserer körperlichen Kräfte haben.
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seiner Theorie des Erkennens bekanntlich davon aus, dass wir im Begriff des Objekts einerseits den Gegenstand oder eine seiner Eigenschaft denken; andererseits stellt der Begriff des Objekts auch eine Regel vor, nach der wir verfahren müssen, um in der Synthesishandlung das Mannigfaltige der Anschauung zu verbinden. Ähnliches ließe sich über den praktischen Begriff eines Objekts sagen. Hier denken wir zum einen das Ziel oder den Zweck unseres Begehrens, nämlich den Gegenstand, der realisiert werden soll. Zum anderen enthält dieser Begriff eine Regel, nach der wir das Mannigfaltige unserer Kräfte bei der Realisierung des Gegenstandes koordinieren müssen. Dass Kants Theorie praktischer Begriffe tatsächlich eine derartige Annahme zugrunde liegt, zeigen seine Ausführungen zum Begriff eines objektiven Zwecks in der Kritik der Urteilskraft. Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich daher diese Ausführungen etwas genauer betrachten. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss ich allerdings drei einschränkende Bemerkungen voranschicken. Erstens geht es mir im Folgenden nicht um die Rolle, die Kant den Begriffen des Zwecks und der Zweckmäßigkeit in seiner Analyse von ästhetischen und teleologischen Urteilen zuschreibt. Vielmehr möchte ich zeigen, dass die vergleichsweise ausführlichen Erläuterungen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft von diesen Begriffen gibt, auch zu einem besseren Verständnis der Funktion von praktischen Begriffen beim menschlichen Handeln führt.⁷⁶ Zweitens beschränke ich mich auf die Rolle, die dem Begriff eines objektiven Zwecks innerhalb der dargestellten Konzeption eines Begehrungsvermögens nach Begriffen zukommt; es geht also nur um das Handeln nach hypothetischen Imperativen.⁷⁷ Dabei interessiert mich drittens auch nur ein besonderer Fall menschlichen Handelns, nämlich die absichtliche körperliche Bewegung. Ich habe schon angedeutet, dass dieser Fall eine paradigmatische Rolle in Kants Theorie des Begehrens spielt. Eine Betrachtung dieses Falls ist aber auch im Hinblick auf die eingangs angedeutete Analogie zwischen tierischem Verhalten und menschlichem Handeln erhellend, und sie wird nicht zuletzt noch eine wichtige Rolle bei der Deutung von Kants Theorie der sinnlichen Lust spielen (vgl. Kap. 3, § 3). Im § 10 der Kritik der Urteilskraft definiert Kant nun zunächst den Zweck ganz allgemein als „Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem
76 Zum praktischen Hintergrund von Kants Theorie des Zwecks und der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft vgl. Recki 2001, 100 ff. 77 Im Gegensatz zu seinen Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft spricht Kant in der Metaphysik der Sitten von einem ‚objektiven Zweck‘, um einen Zweck zu bezeichnen, den wir aus moralischen Gründen annehmen sollten. So spricht er in der Einleitung der Tugendlehre vom „Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objectiv-nothwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird“ (MS 6:380.23 ff.; vgl. 6:387; 6:389).
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(der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird“ (KU 5:220.1 ff.). Dieser Definition zufolge ist der Begriff eines Zwecks also im Grunde eine Vorstellung, der die für das Begehren charakteristische kausale Rolle zukommt. Der Begriff des Gegenstandes kann dazu führen, dass der Gegenstand des Begriffs existiert. Kants abstrakte Definition des Zwecks legt auf diese Weise zunächst die bereits angeführte, aber irreführende Annahme nahe, ein Wesen verfüge genau dann über einen Zweck, wenn es einen Gegenstand begehrt und darüber hinaus auch eine begriffliche Vorstellung von dem Gegenstand hat, d. h. ihn in einem anspruchsvollen Sinn erkennen kann. Dass dies nicht die richtige Lesart ist, zeigt die von Kant wenig später eingeführte Definition des objektiven Zwecks – Kant spricht interessanterweise auch vom Begriff des Guten.⁷⁸ Der Begriff des objektiven Zwecks ist nämlich Kant zufolge weit mehr als bloß die begriffliche Vorstellung eines begehrten Gegenstandes. Er ist, wie Kant schreibt, eine Vorstellung „der Möglichkeit des Gegenstandes selbst nach Principien der Zweckverbindung“ (KU 5:221.9 f.) oder, wie er noch präzisiert, der „Begriff von der Beschaffenheit und innern oder äußern Möglichkeit des Gegenstandes durch diese oder jene Ursache“ (KU 5:221.12 f.). Der Begriff eines objektiven Zwecks enthält also zunächst einmal, wie jeder theoretische Begriff auch, allgemeine Angaben über die Gegenstände, die unter ihn fallen. Tatsächlich macht der Begriff eines objektiven Zwecks darüber hinaus noch eine ganze Reihe von Angaben, die nicht nur die Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern auch und vor allem seine interne Konstitution (,innere Möglichkeit’) oder aber die Bedingungen seiner Realisierbarkeit durch unterschiedliche Ursachen (,äußere Möglichkeit’) betreffen. Darüber hinaus handelt es sich aber natürlich auch um den Begriff eines Zwecks, d. h. die genannten Annahmen bezüglich der Beschaffenheit sowie der inneren oder äußeren Möglichkeiten sollen eine kausale Rolle bei der Realisierung des Gegenstandes selbst spielen. Diese Bestimmungen sind sehr abstrakt, und daher lohnt es sich, die Anwendung von Kants Aussagen über den objektiven Zweck auf konkrete Fälle zu betrachten. Bevor dies möglich ist, müssen wir allerdings noch eine weitere Unterscheidung beachten, die bereits in den angeführten Definitionen des objektiven Zwecks enthalten ist. Kant zufolge lassen sich nämlich zwei Formen eines objektiven Zwecks unterscheiden, je nachdem ob der Zweckbegriff Angaben über die innere oder über die äußere Möglichkeit des Gegenstandes macht (vgl. KU 5:227). Im ersteren Fall spricht Kant vom ‚inneren‘, im zweiten vom ‚äußeren‘ objektiven Zweck. Der Begriff eines inneren objektiven Zwecks macht also Angaben über die interne Konstitution eines Gegenstandes, während der Begriff eines äußeren ob-
78 Vgl. KU 5:221.10.
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jektiven Zwecks Angaben über die kausalen Bedingungen der Realisierbarkeit eines Gegenstandes macht. Dabei wird der entsprechende Gegenstand jeweils so betrachtet, dass diese Angaben eine kausale Rolle bei dessen interner Konstitution bzw. bei dessen Realisierung spielen. Im Fall des inneren Zwecks wird also der Gegenstand so betrachtet, dass die Vorstellung seiner internen Konstitution dem Gegenstand selbst zugrunde liegt. Was dies genau bedeutet, lässt sich anhand von Kants Definition der inneren Zweckmäßigkeit entwickeln, die Kant auch als ‚qualitative Vollkommenheit‘ bezeichnet. Um sich „eine objective Zweckmäßigkeit an einem Dinge vorzustellen“, muss der „Begriff von diesem, was es für ein Ding sein solle, voran gehen; und die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in demselben zu diesem Begriffe (welcher die Regel der Verbindung desselben an ihm giebt) ist die qualitative Vollkommenheit eines Dinges“ (KU 5:227.16 ff.).⁷⁹
Wenn wir uns die objektive innere Zweckmäßigkeit eines Dings vorstellen, dann subsumieren wir das Ding nicht nur unter einen Begriff, d. h. wir verbinden nicht nur das Mannigfaltige seiner Merkmale in der Anschauung nach der in diesem Begriff gedachten Regel. Vielmehr sehen wir diese Regel zugleich als eine Art Konstruktionsprinzip an, das der Verbindung des Mannigfaltigen „an ihm [nämlich an dem Ding selbst – T. H.]“ (KU 5:227.19) zugrunde liegt. Der Begriff eines inneren Zwecks ist – in Kants Worten – nicht einfach nur der Begriff der inneren Möglichkeit eines Gegenstandes, sondern auch selbst der Grund dieser inneren Möglichkeit (vgl. KU 5:227.13). Passende Beispiele für die Beurteilung einer inneren Zweckmäßigkeit stellen nun bestimmte Formen von absichtlichem Handeln dar. Wenn wir etwa einer Gruppe beim Fußballspielen zusehen, so sind die im Begriff des Fußballspiels gedachten Regeln nicht nur das Prinzip, anhand dessen wir den kausalen Prozess als eine spezifische Handlung (als Fußballspielen) identifizieren. Diese Regeln liegen zugleich der internen Konstitution – Kant würde sagen: der inneren Möglichkeit – der Handlung selbst zugrunde, und zwar in dem Sinn, dass die beteiligten Personen ihre Handlung als solche erst erzeugen, indem sie sich in ihren Bewegungen nach diesen Regeln richten. Dieses Beispiel für die innere Zweckmäßigkeit illustriert zugleich den Grundgedanken der Analogie, die Kant zufolge zwischen einem praktischen und einem theoretischen Begriff besteht. Ähnlich wie ein theoretischer Begriff enthält der praktische Begriff des Gegenstandes – hier: der praktische Begriff des inneren Zwecks – zugleich eine Regel, nach der wir uns richten müssen, um den Begriff auf
79 Bei der Identifikation der objektiven inneren Zweckmäßigkeit mit der qualitativen Vollkommenheit folge ich Tonelli 1957/58, 155 – 157.
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den Gegenstand zu beziehen. Im Fall des praktischen Begriffs geht es allerdings nicht bloß darum, den Gegenstand des Begriffs in der Anschauung darzustellen. Vielmehr dient die Regel darüber hinaus dazu, den Gegenstand des Begriffs hervorzubringen. Das Beispiel vom Fußballspielen zeigt nun, was dies genau bedeutet. Hier konstituieren die Regeln, die unserer Identifikation dieser Handlung als Fußballspielen zugrunde liegen (also die Regeln des Fußballs), zugleich die Handlung des Fußballspielens selbst. Denn um diese Handlung zu erzeugen, müssen wir uns in unseren Bewegungen an diesen Regeln orientieren. Zugleich vertiefen Kants Ausführungen zur inneren Zweckmäßigkeit sowie das Beispiel vom Fußballspielen den angeführten Grundgedanken in einem wichtigen Punkt. Wenn wir ein Ding unter einen theoretischen Begriff subsumieren, dann verbinden wir Kant zufolge das Mannigfaltige seiner Merkmale in der Anschauung nach der in diesem Begriff gedachten Regel. Ähnlich verhält es sich nun im Fall des praktischen Begriffs eines inneren Zwecks. Hier bezieht sich die im Begriff gedachte Regel ebenfalls auf das geordnete Verbinden eines Mannigfaltigen – allerdings nicht auf die Verbindung eines Mannigfaltigen der Anschauung, sondern auf die Verbindung des Mannigfaltigen an dem Ding selbst (vgl. KU 5:227.19). Diese Parallele mag zunächst etwas erzwungen erscheinen, lässt sich aber ebenfalls am Beispiel vom Fußballspiel auf recht einfache Weise aufzeigen. Wir erzeugen die Handlung des Fußballspielens, indem wir uns in unseren Bewegungen, und dies bedeutet: in der Anwendung unserer körperlichen Kräfte an den Regeln des Fußballspielens orientieren. Die im Begriff des Fußballspielens gedachten Regeln helfen uns also nicht nur dabei, eine bestimmte Handlung als Fußballspielen zu identifizieren. Zugleich erzeugen sie die Handlung des Fußballspielens, indem sie uns anzeigen, wie das Mannigfaltige unserer körperlichen Kräfte angeordnet werden muss, damit wir überhaupt Fußball spielen. An dieser Stelle könnte der Verdacht aufkommen, dass sich die genannten Parallelen zwischen theoretischen und praktischen Begriffen nur für einen bestimmten Typ von praktischen Begriffen ziehen lassen, nämlich für Begriffe von Handlungen, durch die kein externer Zweck realisiert werden soll (wie z. B. unsere Begriffe vom Fußballspielen, Musizieren oder Spazierengehen). Lässt sich der Grundgedanke von Kants Analogie auch auf praktische Begriffe anwenden, die sich auf einen der Handlung externen Zweck beziehen? Um diese Frage zu beantworten, sind Kants Ausführungen zum Begriff eines äußeren objektiven Zwecks aufschlussreich. Kant spricht in diesem Fall auch vom Begriff des Wozu-Guten oder des Nützlichen, und er nennt die entsprechende Zweckmäßigkeit die Nützlichkeit (vgl. KU 5:226.31 f.; 5:207.16 f.). Der Begriff eines äußeren objektiven Zwecks enthält nun, wie bereits angedeutet, nicht nur Angaben über die allgemeine Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern auch und vor allem über die „äußer[e] Möglichkeit des Gegenstandes durch diese oder jene Ursache“ (KU 5:221.13). Der Begriff
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eines äußeren objektiven Zwecks beinhaltet also Annahmen, welche die kausalen Bedingungen der Entstehung oder Erzeugung eines Gegenstandes betreffen. Dabei sollen diese Annahmen selbst eine kausale Rolle bei der Entstehung oder Erzeugung des Gegenstandes spielen; sie sollen dazu führen, dass der Gegenstand auf eine bestimmte Weise hervorgebracht wird. Schon aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass der paradigmatische Fall einer äußeren Zweckmäßigkeit für Kant nichts anderes ist als ein vernünftiges Handeln nach hypothetischen Imperativen.⁸⁰ So weist Kant in den beiden Fassungen der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft darauf hin, dass diese Imperative wesentlich auf theoretischen Überzeugungen basieren, welche die externen Realisierbarkeitsbedingungen eines Gegenstandes betreffen. Wir bilden diese Imperative, indem wir die angesprochenen Überzeugungen auf unser willkürliches Handeln anwenden, d. h. indem wir uns fragen, was wir im Lichte dieser Überzeugungen selbst zur Realisierung des begehrten Gegenstandes beitragen können. In den Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant die hypothetischen Imperative unter dieser Rücksicht auch als ‚technische‘ Sätze bzw. Imperative oder auch als ‚technisch-praktische‘ Prinzipien. Derartige Sätze betreffen nur „die Möglichkeit eines vorgestellten Objects (durch willkührliche Handlung)“, und sie sind daher nur „Anwendungen einer vollständigen theoretischen Erkenntniß“ (EE 20:198.3 ff.). Sie sind, wie Kant im gleichen Zusammenhang schreibt, „nichts weiter, als die Theorie von dem, was zur Natur der Dinge gehört, nur auf die Art, wie sie von uns nach einem Princip erzeugt werden können, angewandt, d. i. die Möglichkeit derselben durch eine willkührliche Handlung, (die eben so wohl zu den Naturursachen gehört), vorgestellt“ (EE 20:196.8 ff.). Einen praktischen Begriff eines äußeren objektiven Zwecks zu haben bedeutet also nicht nur, eine begriffliche Vorstellung von einem begehrten Gegenstand zu haben, (wobei unbestimmt bliebe, auf welche Weise dieser Gegenstand realisiert werden soll). Vielmehr bezieht sich dieser Begriff auf einen Gegenstand, der nach einer Handlungsregel hervorgebracht werden soll, die sich ihrerseits aus theoretischen Überzeugungen bezüglich der Realisierbarkeitsbedingungen des Gegenstandes ergibt. Hieran sieht man schon, dass auch Kants Bestimmung des Begriffs eines äußeren Zwecks auf dem Grundgedanken seiner Analogie zwischen theoretischen und praktischen Begriffen beruht. Denn der Begriff eines äußeren Zwecks bezieht sich nicht nur auf einen begehrten Gegenstand, sondern enthält 80 Dies zeigt sich äußerlich schon daran, dass Kant im Kontext seiner praktischen Philosophie dieselben Termini zur Charakterisierung des Handelns nach Prinzipien der Selbstliebe gebraucht. Eine Handlung, die diesen Prinzipien entspricht, beurteilen wir Kant zufolge als ‚wozugut‘ oder als nützlich, vgl. KpV 5:58 f.
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zugleich die Regel, an der wir unser Handeln orientieren müssen, um diesen Gegenstand hervorzubringen. Beide Komponenten des äußeren Zweckbegriffs hängen eng miteinander zusammen: Die Handlungsregel ergibt sich aus unseren theoretischen Überzeugungen bezüglich der Beschaffenheit und äußeren Möglichkeit des begehrten Gegenstandes. Man mag also auch hier von einer doppelten Funktion des Begriffs eines äußeren Zwecks sprechen. In diesem Begriff denken wir uns einerseits das Ziel oder die Erfolgsbedingung unseres Handelns, welche letztlich in der Existenz des begehrten Gegenstandes besteht. Zum anderen gibt dieser Begriff aber auch die Regel an die Hand, an der wir uns beim Handeln orientieren müssen. Kant scheint darüber hinaus davon auszugehen, dass auch der Begriff eines äußeren Zwecks eine Vorstellung der Einheit eines Mannigfaltigen ist. Dies folgt jedenfalls aus den allgemeinen Aussagen zur objektiven Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft: „Die objective Zweckmäßigkeit“, so Kant im § 15, „kann nur vermittelst der Beziehung des Mannigfaltigen auf einen bestimmten Zweck, also nur durch einen Begriff, erkannt werden“ (5:226.24 ff.; H. v. m.). Im Unterschied zum rein theoretischen Begriff geht es allerdings dabei nicht nur um das Mannigfaltige der Anschauung, sondern zugleich um das Mannigfaltige in der Handlung, durch die das Objekt hervorgebracht wird. Auch diese zunächst etwas gezwungen erscheinende Annahme lässt sich am Beispiel des absichtlichen Handelns aufzeigen: Wenn ich etwa in 20 Minuten im Kino sein will, dann kann ich im Lichte meiner eigenen theoretischen Überzeugungen nicht mehr zu Fuß gehen, sondern muss das Fahrrad nehmen. Die Anordnung des Mannigfaltigen in meiner Bewegung von einem Ort zum anderen – etwa Lenken, in die Pedale treten, Schauen usw. – ergibt sich folglich aus meinen Überzeugungen über die Beschaffenheit und die allgemeinen Bedingungen der Realisierbarkeit meines äußeren Zwecks (in 20 Minuten im Kino zu sein). Mit Kant könnten wir sagen: Der Begriff meines äußeren Zwecks liegt der Anordnung des Mannigfaltigen meiner körperlichen Kräfte beim Handeln zugrunde, und zwar in dem Sinn, dass meine theoretischen Überzeugungen bezüglich seiner Realisierbarkeitsbedingungen nicht nur die Art der einzusetzenden Kräfte, sondern auch die Struktur ihres Einsatzes bestimmen. Die Rolle, die der Begriff eines objektiven Zwecks innerhalb von Kants Theorie des Begehrens nach Begriffen spielt, lässt sich in einem wesentlichen Punkt mit unserem heutigen Begriff der Absicht vergleichen. Der Begriff der Absicht weist ebenfalls nicht nur eine Zielkomponente, sondern auch eine Handlungskomponente auf. So würden wir etwa den Wunsch, die Vergangenheit ungeschehen zu machen (vgl. KU 5:177 f. Anm.), zwar mit Kant als Begehren und vielleicht sogar als Vorstellung eines ‚subjektiven‘ Zwecks bezeichnen. Bei diesem Wunsch handelt es sich aber noch nicht um einen objektiven Zweck oder eine echte Handlungsab-
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sicht. Denn hier bleibt unklar, was wir vernünftigerweise tun könnten, um den begehrten Gegenstand zu realisieren. Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass Kants Begriff eines objektiven Zwecks in einem ganz bestimmten Sinn ein normativer Begriff ist. Zwischen einem irrealistischen Wunsch und dem ‚Ideal‘ eines objektiven Zweck liegt ein breites Spektrum an desiderativen Zuständen, bei denen wir mehr oder weniger gut zu wissen glauben, wie wir den begehrten Gegenstand hervorbringen. Manchmal haben wir z. B. nur eine ungefähre Idee, wie wir einen begehrten Gegenstand realisieren können, oder wir sind uns unsicher, was unsere Erfolgsaussichten angeht. Derartigen Versuchen liegen ebenfalls Zweckvorstellungen zugrunde, die das Ideal des Begriffs eines objektiven Zwecks aber natürlich nicht ganz erreichen. Zum Schluss des Kapitels möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Ergebnis natürlich nur für die hier entwickelte Konzeption eines Begehrungsvermögens nach Begriffen gilt. Es geht, mit anderen Worten, nur um die Rolle, die dem praktischen Begriff eines objektiven Zwecks beim Handeln nach technischpraktischen Regeln zukommt. Tatsächlich wäre noch sehr viel zu tun, um von hier aus eine umfassende Interpretation von Kants Begriff der praktischen Vernunft zu entwickeln. So werden wir vor allem bei der Untersuchung von Kants Theorie des moralischen Gefühls sehen, dass sich das moralische Wollen in wichtigen Punkten von einem bloßen Begehren nach Begriffen unterscheidet (vgl. Kap. 5, § 3). Zwar ist auch dieses Wollen für Kant eine Form von Begehren,⁸¹ doch der entsprechende kausale Prozess des Begehrens ist hier offenkundig anders strukturiert als bei einem bloßen Begehren nach Begriffen. Denn wir begehren in diesem Fall nicht zuerst einen Gegenstand und bestimmen dann, was wir zu dessen Realisierung unternehmen. Eher schon fällt beides für Kant in der reinen praktischen Willensbestimmung unmittelbar zusammen. Wenn wir ein moralisches Urteil fällen, so entscheiden wir Kant zufolge, wie wir handeln müssen, und ‚bestimmen‘ dem Willen dabei zugleich einen Gegenstand. Darüber hinaus verkompliziert sich auch Kants Theorie des objektiven Zwecks, wenn wir zusätzlich zum Begehren nach Begriffen auch das moralische Wollen betrachten. Denn das Ideal eines objektiven Zwecks wird in diesem Fall anspruchsvoller als im Fall eines bloßen Begehrens nach Begriffen. Um einen objektiven Zweck zu haben, müssen wir hier nicht nur in einem technischen, sondern auch in einem moralischen Sinn die ‚Möglichkeit des Gegenstandes nach Prinzipien der Zweckverbindung‘ kennen (vgl. KpV 5:57 f.). Wir müssen, mit anderen Worten, nicht nur wissen, was wir zur Realisierung des Gegenstandes unternehmen können, sondern auch, was wir
81 So identifiziert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die reine praktische Vernunft mit dem oberen Begehrungsvermögen, vgl. KpV 5:22 ff.
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hierzu überhaupt unternehmen dürfen. Schließlich werden wir im fünften Kapitel sehen, dass sich auch der moralische Begriff eines objektiven Zwecks auf die Anordnung eines Mannigfaltigen nach einer Regel bezieht – allerdings in einem etwas anderen Sinn. Denn Kant zufolge geht es hier nicht um die Anordnung eines Mannigfaltigen von Kräften beim Handeln, sondern um die Anordnung des Mannigfaltigen der zugrunde liegenden Begehrungen (vgl. KpV 5:65.23 ff. sowie Kap. 5, § 6). Ein Begriff der reinen praktischen Vernunft ist also im Grunde ein praktischer Begriff höherer Ordnung, da er sich nicht unmittelbar auf Handlungen, sondern eher auf die zugrunde liegenden Begehrungen bezieht.
2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft In der Einleitung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwei grundlegende Varianten der Lust. Während die praktische Lust notwendig mit der Ausübung des Begehrungsvermögens verbunden ist, ergibt sich die kontemplative Lust aus der Ausübung des Erkenntnisvermögens, d. h. aus dem Zusammenspiel unserer Vorstellungskräfte anlässlich einer gegebenen Vorstellung.⁸² Die praktische Lust tritt nun ihrerseits in zwei Varianten auf, nämlich als sinnliche Lust und als intellektuelle Lust. Der Unterschied zwischen diesen beiden Varianten praktischer Lust ergibt sich für Kant aus dem kausalen Zusammenhang, in dem die praktische Lust jeweils zur Ausübung des Begehrungsvermögens steht. Die praktische Lust geht dem Begehren entweder als Ursache voran, oder sie folgt darauf als dessen Wirkung (vgl. MS 6:212.10 ff.). Im ersten Fall handelt es sich um eine sinnliche Lust am Angenehmen. Kant spricht an anderer Stelle auch von einem Vergnügen (oder, im negativen Fall, von einem Schmerz),⁸³ und er bezeichnet das hierauf beruhende Begehren als eine Begierde (vgl. MS 6:212.22). Im zweiten Fall, in dem sich die Lust als Wirkung aus einem bereits bestehenden Begehren ergibt, handelt es sich hingegen um eine moralische bzw. intellektuelle Lust. Hier hat Kant vor allem das moralische Gefühl der Achtung für das Sittengesetz im Blick, das als Wirkung der moralischen Willensbestimmung auftritt (vgl. KpV 5:80.29 ff.). In diesem Kapitel sollen nun Kants Aussagen über die Charakteristika der praktischen Lust etwas genauer untersucht werden. Ein geeigneter Ausgangspunkt hierfür stellt die Definition der Lust dar, die Kant in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft gibt (vgl. KpV 5:9.23 ff. Anm.). Denn diese Definition umfasst noch nicht den Begriff der kontemplativen Lust, sondern gibt – passend zum 82 In der Metaphysik der Sitten spricht Kant davon, dass die kontemplative Lust an der „Vorstellung allein haftet“ (MS 6:212.16). Dies lässt sich so verstehen, dass die Lust hier aus der Aktivität der „Vorstellungskräfte“ (KU 5:217.19) resultiert, also jener Kräfte, die konstitutiv dafür sind, dass wir eine Vorstellung bzw. eine Erkenntnis von einem Gegenstand haben (vgl. KU 5:217.26 ff.; 5:287.6 ff.; sowie Kap. 3). – Ein Grenzfall von Kants Unterscheidung zwischen praktischer und kontemplativer Lust bildet das Wohlgefallen am Dynamisch-Erhabenen. Denn hier ist das Begehrungsvermögen Kant zufolge mindestens indirekt beteiligt (vgl. KU 5:247.23 ff.). Dabei kommt es allerdings nicht zu einer Ausübung dieses Vermögens. Wir betrachten den dynamisch-erhabenen Gegenstand zwar als „furchtbar“, ohne uns allerdings faktisch vor ihm „fürchten“ (vgl. KU 5:260 f.). 83 Für die Identifikation der vorhergehenden Lust mit der sinnlichen Lust am Angenehmen bzw. mit dem Vergnügen vgl. KpV 5:22.9 ff.; 5:58.10 ff.; KU 5:207.6; 5:210.3 f.; Anth 7:230.13 f. Kant spricht meist dann von einem Vergnügen, wenn er darauf hinweisen will, dass die dem Begehren vorhergehende Lust am Angenehmen sinnlich ist.
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Thema der Kritik der praktischen Vernunft – lediglich die gemeinsamen Merkmale der beiden Arten von praktischer Lust an. Die Definition soll, wie Kant selbst anmerkt, die Frage unentschieden lassen, „ob die Lust dem Begehrungsvermögen jederzeit zum Grunde gelegt werden müsse, oder ob sie auch unter gewissen Bedingungen nur auf die Bestimmung desselben folge“ (KpV 5:9.29 ff. Anm.). Dies versucht Kant durch eine transzendentale Definition der Lust zu gewährleisten, die „aus lauter Merkmalen des reinen Verstandes, d. i. Kategorien, zusammengesetzt [ist], die nichts Empirisches enthalten“ (KpV 5:9.32 f. Anm.). Kant bindet in dieser Definition die praktische Lust wesentlich an die Aktivität, die seinen praktischen Schriften zufolge für Lebewesen als solche charakteristisch ist. Die Lust ist die „Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens“ (KpV 5:9.23 f. Anm.; H. v. m.). Weil Kants Definition nicht ganz einfach zu verstehen ist, unterscheide ich im ersten Abschnitt des Kapitels drei Interpretationsfragen, die meiner Diskussion als Leitfaden dienen werden (§ 1). Im zweiten Abschnitt beginne ich dann mit der Frage, wie wir Kants Redeweise von den „subjectiven Bedingungen des Lebens“ (KpV 5:9.24 Anm.) verstehen sollen. Meine Antwort wird sein, dass Kant in dieser Formulierung auf das gemeinsame Merkmal der beiden Formen der Lust verweist. Beide Formen der praktischen Lust hängen kausal mit der Tatsache zusammen, dass eine Vorstellung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält. Kants eigene Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ verweist allerdings zugleich auf einen wichtigen Unterschied, der im Hinblick auf dieses Merkmal zwischen den beiden Lustformen besteht. Im Fall der sinnlichen Lust werden wir durch die Vorstellung lediglich dazu angetrieben, das Objekt der Vorstellung zu realisieren – es bleibt also unbestimmt, ob und auf welche Weise wir handeln, um dieses Objekt hervorbringen. Die moralische Lust stellt sich hingegen ein, wenn uns die Vorstellung zugleich zu einem spezifischen Handeln antreibt, wodurch ein Objekt hervorgebracht werden kann (§ 2). Im dritten Abschnitt des Kapitels betrachte ich dann die Frage, warum Kant in seiner Definition davon spricht, dass in der Lust ein Gegenstand oder eine Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen sollen. Ich argumentiere für die These, dass Kant hier auf einen weiteren wichtigen Unterschied hinweist, der zwischen den beiden Formen der praktischen Lust besteht. Dieser Unterschied betrifft den Inhalt der beiden Formen der praktischen Lust, also dasjenige, woran wir jeweils Lust haben. Vom Standpunkt der praktischen Philosophie aus betrachtet ist jede sinnliche Lust eine Lust an einer Sache, während sich die moralische Lust auf die praktische Aktivität des Menschen bezieht (§ 3).
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Im vierten Abschnitt interpretiere ich schließlich Kants sehr schwer zu entschlüsselnde Redeweise von der „Übereinstimmung“ (KpV 5:9.23), die in der Lust zwischen Gegenstand oder Handlung und den subjektiven Bedingungen des Lebens bestehen soll. Dabei versuche ich zu zeigen, dass es Kant hier nicht einfach nur um das Bewusstsein eines inneren Vorgangs geht, der sich anlässlich einer Vorstellung einstellt (wie etwa um das Bewusstsein der Beförderung unserer lebendigen Aktivität). Kants Redeweise von der ‚Übereinstimmung mit subjektiven Bedingungen‘ deutet vielmehr darauf hin, dass wir in der Lust die vorgestellten Inhalte (also Handlungen oder Gegenstände) auf eine bestimmte Weise beurteilen. Bei dieser Beurteilung spielen allerdings innere Vorgänge eine gewisse Rolle; schließlich verweist Kants Redeweise von den subjektiven Bedingungen des Lebens wesentlich auf den inneren Vorgang, in welchem eine Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. Folglich betrachten oder beurteilen wir in der Lust Gegenstände und Handlungen vor dem Hintergrund unseres subjektiven Vorstellungslebens (§ 4). Diese Idee einer Beurteilung in der praktischen Lust soll dann im fünften Abschnitt des Kapitels etwas genauer expliziert werden. Dort unterscheide ich zunächst zwei Aspekte einer praktischen Lust. Eine praktische Lust ist einerseits ein Lustzustand, d. h. ein Bewusstseinszustand, der mit einem inneren Vorgang im menschlichen Gemüt verbunden ist. Dies ist der kausale Aspekt der praktischen Lust. Kants Definition zufolge ist eine praktische Lust aber auch wesentlich eine Lust-an-etwas, und dies ist der evaluative Aspekt einer praktischen Lust. Diesen zuletzt genannten Aspekt der praktischen Lust hat Kant meines Erachtens im Auge, wenn er in der Kritik der Urteilskraft davon spricht, dass wir in einer Lust ein unmittelbares Wohlgefallen an einem Gegenstand oder einer Handlung nehmen. Seine Aussagen in der Kritik der Urteilskraft zeigen auch, wie die beiden Aspekte der Lust miteinander zusammenhängen. Die Fähigkeit Lust- und Unlustzustände zu haben befähigt uns dazu, vor dem Hintergrund dieser Zustände die Gegenstände der zugrunde liegenden Vorstellungen voneinander zu unterscheiden (§ 5).
§ 1 Interpretationsfragen Nach Kant lässt sich der Begriff der praktischen Lust nicht erklären, ohne auf die charakteristische kausale Aktivität von lebendigen Wesen zu verweisen. Dies zeigt Kants Definition der Lust in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft: „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung
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in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)“ (KpV 5:9.23 ff. Anm.).⁸⁴
Kant zufolge gibt es also einen wesentlichen Zusammenhang zwischen einer praktischen Lust und den subjektiven Bedingungen lebendiger Aktivität. Worin dieser Zusammenhang und die fraglichen Bedingungen bestehen, erschließt sich allerdings auch nach wiederholter Lektüre nur schemenhaft. Kants Definition ist in der Tat ungeheuer kompliziert und führt zu einer ganzen Reihe von Interpretationsfragen, von denen ich hier nur drei diskutieren werde.⁸⁵ Kant beschreibt die Lust hier als die Vorstellung der Übereinstimmung von zwei Elementen: Gegenstand oder Handlung einerseits und subjektive Bedingungen des Lebens andererseits. Die erste Interpretationsfrage betrifft nun das erste Element dieser Übereinstimmungsrelation. Bei der Charakterisierung dieses ersten Elements differenziert Kant zwischen dem Gegenstand und der Handlung, und es stellt sich die Frage, welche Bedeutung diese Unterscheidung für den Begriff praktischer Lust hat. So könnten wir davon ausgehen, dass Kant nur der Vollständigkeit halber darauf hinweist, dass wir nicht nur an Sachen, sondern auch an Aktivitäten Lust haben.Wir könnten allerdings auch die Auffassung vertreten, dass Kant hier schon einen Unterschied zwischen zwei grundlegenden Formen von praktischer Lust beschreibt, die man als Lust am Gegenstand und als Lust an einer Handlung bezeichnen könnte.
84 Im Folgenden zitiere ich die Definition in der Regel ohne die im Text enthaltenen Hervorhebungen. 85 Auf eine Frage, die ich nicht explizit diskutieren werde, möchte ich hier nur hinweisen. Kant charakterisiert die Lust in dieser Definition als „Vorstellung“ (KpV 5:9.23), spricht aber in späteren Schriften von einem „Zustand“ (EE 20:230.11), einem „Bewußtsein“ (KU 5:220.9) oder von der „Wirkung der Vorstellung“ (MS 6:212.35 Anm.). Möchte Kant in der fraglichen Definition behaupten, dass die Lust eine Vorstellung sui generis ist? Ich tendiere zu der Auffassung, dass dies nicht der Fall ist. Die Lust ist ebenso wenig eine Vorstellung wie das „Ich denke“, mit dem sie als Bewusstsein lebendiger Aktivität schon eher verglichen werden kann (vgl. Kap. 3, § 1). Diese Analogie zwischen dem Selbstbewusstsein und der Lust kommt sprachlich darin zum Ausdruck, dass beides die Vorstellungen ‚begleiten‘ kann (vgl. z. B. KpV 5:58.15 f.; KU 5:288.12; EE 20:226.2; 20:230.10; zum „Ich denke“ vgl. KrV B 131 f. und hierzu die Erklärung von Mohr 1991, 116 f.). Wenn Kant also die Lust als eine Vorstellung bezeichnet, handelt es sich wohl um eine abkürzende Redeweise. So identifiziert er z. B. in der Kritik der Urteilskraft die Lust mit dem „Bewußtsein der Causalität einer Vorstellung“, um gleich im Anschluss die Unlust als „Vorstellung“ zu bezeichnen (KU 5:220.9 – 14). In der Definition der Kritik der praktischen Vernunft scheint Kant den folgenden Sachverhalt ausdrücken zu wollen: Die Lust begleitet die Vorstellung eines Gegenstandes oder einer Handlung genau dann, wenn sich anlässlich dieser Vorstellung das Bewusstsein der Übereinstimmung des vorgestellten Gegenstandes oder der vorgestellten Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens einstellt.
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Die zweite Interpretationsfrage betrifft das zweite Element der Übereinstimmungsrelation, also die ‚subjektiven Bedingungen des Lebens‘. Hier ist es zunächst der Ausdruck selbst, dessen Bedeutung sich nicht von selbst erschließt. Kant scheint sich dessen bewusst gewesen zu sein, denn er fügt eine Erläuterung an, die leider selbst äußerst interpretationsbedürftig ist. Kant verweist in dieser Erläuterung zunächst auf die kausale Rolle, die einer Vorstellung beim Begehren im Hinblick auf ihren Gegenstand zukommt, d. h. auf das „Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects“ (KpV 5:9.25 f. Anm.; vgl. Kap. 1, § 2). Darüber hinaus ergänzt er in einer anschließenden Klammer eine Formulierung, die sich offenkundig auf den Prozess bezieht, den eine solche Vorstellung bei einem begehrenden Subjekt in Gang setzen kann. Die Vorstellung kann „die Kräfte des Subjects zur Handlung“ bestimmen, um das vorgestellte Objekt zu realisieren (KpV 5:9.26 f. Anm.). Damit stellt sich nicht nur die Frage, wie sich die beiden Formulierungen in und vor der Klammer zueinander verhalten. Zudem lässt sich ganz grundlegend fragen, was Kants Erläuterung überhaupt zum Verständnis des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ beiträgt. Schließlich stellt sich drittens die Interpretationsfrage, was es bedeuten könnte, dass ein Gegenstand oder eine Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmt. Diese Frage zielt letztlich auf ein Verständnis dessen, worin die praktische Lust als solche besteht, oder genauer: worauf sie sich bezieht. Tatsächlich scheint es sich bei der Lust nicht nur um ein bloß introspektives Bewusstsein zu handeln, wie etwa bei dem bloßen Bewusstsein einer gesteigerten inneren Aktivität oder Vitalität.Vielmehr spielen der Gegenstand oder die Handlung – man könnte sagen: die vorgestellten objektiven Inhalte – in der Lust ebenfalls eine gewisse Rolle; denn diese Inhalte und nicht bloß die entsprechenden Vorstellungen sollen mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen.
§ 2 Subjektive Bedingungen des Lebens Ich beginne meine Diskussion mit der zweiten Interpretationsfrage nach der Bedeutung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘. Kant setzt diese Bedingungen vor der Klammer mit dem „Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects“ gleich (KpV 5:9.25 f. Anm.). Dieser Ausdruck scheint zunächst bloß das Begehrungsvermögen selbst zu beschreiben. Denn dieses Vermögen besteht ja gerade darin, dass die Vorstellung
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eines Objekts zur Wirklichkeit dieses Objekts führen kann (vgl. Kap. 1, § 2).⁸⁶ Tatsächlich finden sich in Vorlesungsnachschriften Aussagen, in denen Kant die Lust als „die Uebereinstimmung […] mit unserem Begehrungs Vermögen“ (29:894.25 ff.) zu charakterisieren scheint. Es wäre allerdings merkwürdig, wenn Kant tatsächlich davon ausginge, dass die subjektiven Bedingungen des Lebens genau dann gegeben sind, wenn das Subjekt über ein Begehrungsvermögen verfügt. Denn zunächst betrifft Kants Formulierung das kausale Vermögen einer einzelnen Vorstellung. Dies legt die Annahme nahe, dass sich Kant hier nicht einfach auf das Begehrungsvermögen bezieht, welches ja nicht einzelnen Vorstellungen, sondern eher dem vorstellenden Wesen zukommt. Darüber hinaus scheint es auch wenig Sinn zu machen, das Begehren-Können als eine subjektive Bedingung des Lebens zu bezeichnen. Denn das Leben von Tieren und Menschen ist, wie wir bereits gesehen haben, im Grunde identisch mit ihrem BegehrenKönnen (vgl. Kap. 1, § 5). Eine plausible Lösung dieses Problems ergibt sich aus den Überlegungen, die ich im ersten Kapitel zu Kants Konzeption des Begehrungsvermögens vorgestellt habe. Dort hatte sich gezeigt, dass Kant zufolge die erfolgreiche Ausübung des Begehrungsvermögens maßgeblich ist für die Beschreibung dieses Vermögens (vgl. Kap. 1, § 4). Eine erfolgreiche Ausübung des Begehrungsvermögens besteht darin, dass wir durch unsere Vorstellungen und ein entsprechendes Handeln die vorgestellten Objekte verursachen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass wir nur dann ein Objekt begehren, wenn wir es auch realisieren. Für die faktische Ausübung des Begehrungsvermögens reicht es aus, dass der Vorstellung ein gewisses kausales Potential zukommt, durch welches das Subjekt zur Realisierung des vorgestellten Objekts angetrieben wird. Wir können nun diese letztere Funktion der Vorstellung als eine subjektive Bedingung des Lebens bezeichnen, d. h. als eine Bedingung, die für die faktische Ausübung des Begehrungsvermögens erfüllt sein muss. Die subjektiven Bedingungen des Lebens bestehen darin, dass der Vorstellung eine kausale Rolle im begehrenden Subjekt zukommt.⁸⁷ Die Vorstellung muss das Subjekt dazu antreiben, auf die Realisierung des Objekts hinzuwirken. Dies muss nicht dazu führen, dass das Subjekt dann auch etwas Bestimmtes unternimmt, um das vorgestellte
86 Dies hat schon der junge Schleiermacher bemerkt: „[…] Lust heißt, wenn man gleiches statt gleichem sagt nach seiner [Kants – T. H.] Definition: Vorstellung von der Uebereinstimmung des Objekts mit dem Begehrungsvermögen“ (Schleiermacher, Jugendschriften 1787– 1796, 130). 87 Longuenesse deutet den Ausdruck ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ auf ähnliche Weise: „What Kant calls the ‚subjective conditions of life‘ are thus none other than the conditions under which the faculty of desire becomes active in striving to generate its objects“ (Longuenesse 2006, 197).
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Objekt zu realisieren. Die Vorstellung sollte lediglich ein gewisses kausales Potenzial besitzen, um auf das Subjekt und seine Kräfte Einfluss nehmen zu können.⁸⁸ Im Gegenzug könnten wir dann von objektiven Bedingungen des Lebens sprechen und damit jene Voraussetzungen meinen, die – über das kausale Potential der Vorstellung hinaus – erfüllt sein müssen für ein erfolgreiches Handeln, durch welches das vorgestellte Objekt realisiert wird. So sollte das begehrende Wesen zum Beispiel über geeignete Kräfte verfügen und diese Kräfte dann beim Handeln auch auf eine bestimmte Weise einsetzen (nämlich so, dass es den Gegenstand realisiert).⁸⁹ Damit sind allerdings noch nicht alle Fragen zu Kants Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ beantwortet. Denn in einer anschließenden Klammer ergänzt Kant seine Erläuterung durch eine weitere Formulierung. Während er vor der Klammer das angesprochene kausale Potential einer Vorstellung thematisiert, spricht Kant in der Klammer davon, dass die Kräfte des Subjekts „zur Handlung“ (KpV 5:9.26 f. Anm.) bestimmt werden, um das Objekt der Vorstellung hervorzubringen. Dies führt natürlich zu der Frage, wie sich die beiden Teile seiner Erläuterung zueinander verhalten.⁹⁰ Wie verhält sich die
88 Vielleicht erklärt diese Überlegung auch, warum Kant von einem „Vermögen der Causalität einer Vorstellung“ (KpV 5:9.25 Anm.) spricht. Vieles spricht dafür, dass der Ausdruck ‚Vermögen‘ hier in einem stärkeren Sinn verwendet wird als etwa in ‚Begehrungs-vermögen‘. Denn bei einem Wesen, welches über ein Begehrungsvermögen verfügt, kommt in diesem schwachen Sinn jeder Vorstellung ein kausales Vermögen im Hinblick auf die Realisierung ihres Gegenstandes zu. Jede Vorstellung, die es hat, kann die für das Begehren charakteristische kausale Rolle annehmen. Aber dies scheint Kant in seiner Definition der Lust nicht im Sinn zu haben. Denn andernfalls würden alle vorgestellten Gegenstände (oder Handlungen) mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen. 89 Diese Redeweise von ‚objektiven Bedingungen des Lebens‘ würde auch Kants Idee einer objektiven Vorstellungsbeziehung beim Begehren entsprechen, die ich im ersten Kapitel diskutiert habe (vgl. EE 20:206.11 und Kap. 1, §§ 3 und 6). Die Vorstellungen beziehen sich beim Begehren unter der Rücksicht auf die vorgestellten Objekte, dass sie spezifische äußere Handlungen notwendig machen, durch welche dann im erfolgreichen Fall das Objekt realisiert wird. Die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen ist also offenkundig normativ. Die subjektiven Bedingungen des Lebens sind die Bedingungen der faktischen Ausübungen des Begehrungsvermögens, während die objektiven Bedingungen des Lebens die normativen Bedingungen darstellen, welche neben einer bloßen Ausübung dieses Vermögens für erfolgreiches Begehren erfüllt sein müssen. Die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen des Lebens entspricht, wie wir im fünften Kapitel sehen werden, der Unterscheidung zwischen einem objektiven Bestimmungsgrund und einem subjektiven Bestimmungsgrund bzw. der Triebfeder des Willens (vgl. Kap. 5, § 3). 90 Auf einer eher syntaktischen Ebene stellen sich in diesem Zusammenhang zwei Probleme: (a) Wie interpretieren wir das „oder“ (KpV 5:9.26), welches die Formulierung in der Klammer einleitet? Hier kann eine explikative Lesart (,oder genauer’) von einer disjunktiven Lesart (,oder
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Tatsache, dass der Vorstellung des Objekts das angesprochene kausale Potential zukommt, zu der „Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es [das Objekt – T. H.] hervorzubringen“ (KpV 5:9.26 f.)? Auf diese Frage gibt es zwei mögliche Antworten. Erstens könnten wir davon ausgehen, dass Kant in der Klammer lediglich das vor der Klammer Ausgeführte noch einmal expliziert. Kants Aussage wäre dann: Wenn einer Vorstellung des Subjekts ein kausales Potential im Hinblick auf die Realisierung des Objekts zukommt, dann bedeutet dies im Grunde, dass diese Vorstellung auch einen Einfluss auf die Kräfte des Subjekts ausübt. Umgekehrt setzt die Bestimmung der Kräfte augenscheinlich die Kausalität einer objektbezogenen Vorstellung voraus. Denn andernfalls würde es sich bei einer solchen Bestimmung gar nicht um eine Ausübung des Begehrungsvermögens und folglich auch nicht um eine subjektive Bedingung des Lebens handeln. Wir könnten also annehmen, dass die Formulierung in der Klammer lediglich eine explikative Funktion hat und dass wir das die Formulierung in der Klammer einleitende „oder“ (KpV 5:9.26) im Sinn von ‚oder genauer‘ lesen sollten. Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass in der Klammer von einer „Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung“ (KpV 5:9.26 Anm.; H.v. m.) die Rede ist. Dies scheint zu besagen, dass das Subjekt hier zu einer spezifischen
aber’) unterschieden werden. (b) Wie bezieht sich die Formulierung „oder der Bestimmung der Kräfte …“ (KpV 5:9.26 f.) syntaktisch auf den Text vor der Klammer? Wenn wir die Formulierung an den möglichen Stellen in der Hauptdefinition einsetzen, so erhalten wir sechs alternative Definitionen der Lust: Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, … (A) d. i. mit der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. (B) d. i. mit dem Vermögen der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. (C) d. i. mit dem Vermögen der Kausalität der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. (D) d. i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. (E) d. i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. (F) d. i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen. Angesichts der Allgemeinheit von Kants Definition der Lust halte ich es aber für aussichtslos, diese syntaktischen Fragen direkt und ohne inhaltliche Interpretation anzugehen. Die Deutung, für die ich im Folgenden argumentiere, legt folgende Antwort auf diese beiden Fragen nahe. Erstens müssen wir das ‚oder‘ disjunktiv lesen, und zweitens sollten wir die Formulierung in der Klammer im Sinne der Lesart (E) verstehen.
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Handlung angetrieben wird, um das vorgestellte Objekt hervorzubringen. Dieser Einwand führt zu einer zweiten Deutung, der zufolge die Formulierungen vor und in der Klammer unterschiedliche Sachverhalte beschreiben. Einerseits wird das Subjekt zur Realisierung des Objekts der Vorstellung angetrieben, wobei offen bleibt,wie das Subjekt handelt (Formulierung vor der Klammer). Andererseits wird es nicht nur zur Realisierung eines Objekts, sondern darüber hinaus auch zu einem spezifischen Handeln angetrieben (Formulierung in der Klammer). Dieser zweiten Deutung zufolge wäre also das ‚oder‘, welches die Formulierung in der Klammer einleitet, nicht explikativ, sondern disjunktiv zu lesen. Die Entscheidung über die Angemessenheit dieser Deutung hängt sicherlich von der Antwort auf die Frage ab, warum Kant diese beiden Sachverhalte ausgerechnet in seiner Definition der praktischen Lust unterscheiden sollte. Tatsächlich ergibt sich eine sinnvolle Erklärung, wenn man Kants Analyse des menschlichen Begehrens etwas näher betrachtet. Kant zufolge lassen sich nämlich zwei elementare Formen des menschlichen Begehrens unterscheiden. Erstens gibt es den Fall, in dem die Vorstellung das Subjekt zur Realisierung eines vorgestellten Gegenstandes antreibt, ohne dass damit schon notwendig ein Antrieb zu einem spezifischen Handeln verbunden ist. Bei diesem Fall handelt es sich um eine Begierde, die Kant zufolge bei einer materialen Willensbestimmung vorausgesetzt wird (vgl. KpV § 2, 5:21.17 ff.). In einer Begierde begehren wir zunächst einfach nur einen Gegenstand (z. B. ein Eis), ohne dass wir dabei notwendig schon zu einem spezifischen Handeln angetrieben werden (z. B. ins Eiscafé zu gehen). Die sinnliche Begierde beinhaltet also nicht notwendig auch eine ‚Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung‘. In der Regel treibt uns die Vorstellung in einer Begierde zunächst einmal nur dazu an den Gegenstand zu realisieren, wobei offen bleibt, auf welche Weise dies geschehen soll. Erst in einem weiteren Schritt denken wir darüber nach, was wir zur Realisierung des Gegenstandes unternehmen wollen. Die Vorstellung des begehrten Gegenstandes erhält, mit anderen Worten, erst einen Einfluss auf unsere Kräfte, wenn wir einen entsprechenden hypothetischen Imperativ bilden. Dieser Imperativ leitet uns dazu an, unsere Kräfte beim Handeln so einzusetzen, dass wir den Gegenstand realisieren (vgl. Kap. 1, § 6).⁹¹
91 Dass Kant selbst diesen Sachverhalt genau gesehen hat, zeigen seine Bemerkungen zur materialen Willensbestimmung in der Kritik der praktischen Vernunft. Wenn, so Kant im zweiten Hauptstück, der Begriff des Guten dem moralischen Gesetz zugrunde liegen würde, dann könnte er nur „der Begriff von etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Causalität des Subjects zur Hervorbringung desselben, d. i. das Begehrungsvermögen, bestimmt“ (KpV 5:58.12 ff.). Wenn das Gute identisch wäre mit dem Angenehmen, so wäre es die Vorstellung eines
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Kant kennt zweitens aber auch den Fall, in dem das Begehren notwendig mit dem Antrieb zu einem spezifischen Handeln verbunden oder sogar mit diesem Antrieb identisch ist. Bei diesem Fall handelt es sich um die formale bzw. moralische Willensbestimmung. Auch das moralische Wollen stellt für Kant eine Ausübung des (oberen) Begehrungsvermögens dar (vgl. KpV 5:22.27 ff.; 5:24.35 ff.). Wie in der Begierde erhält also auch beim moralischen Wollen die Vorstellung eines Objekts die für das Begehren charakteristische kausale Rolle. Allerdings kann die Ausübung des Begehrungsvermögens in der moralischen Willensbestimmung nicht so strukturiert sein, dass wir hier zuerst einen Gegenstand begehren und dann überlegen, was wir zu dessen Realisierung unternehmen können. Denn die moralische Willensbestimmung ist formal, d. h. ihr liegt keine bereits bestehende Begierde nach einem Gegenstand zugrunde. Sie beruht nicht auf einem hypothetischen, sondern auf einem kategorischen Imperativ. Die Frage nach der Struktur der moralischen Willensbestimmung ist schwierig, und ich werde sie im fünften Kapitel noch genauer erörtern (vgl. Kap. 5, §§ 1 und 3). An diesem Punkt genügt es darauf hinzuweisen, dass für Kant in der moralischen Willensbestimmung beides unmittelbar zusammenfällt: Die Vorstellung eines Objekts erhält die für das Begehren charakteristische Rolle, und zugleich werden die Kräfte des Subjekts zu einer spezifischen Handlung bestimmt. Dies ergibt sich, wie wir sehen werden, aus Kants Aussagen über das praktische Urteil, das der moralischen Willensbestimmung zugrunde liegt. In einem solchen Urteil entscheiden wir zunächst, dass eine spezifische Handlungsart (eine Maxime) den formalen Anforderungen des moralischen Gesetzes entspricht (oder widerspricht). Kant zufolge fungiert das moralische Gesetz in einem solchen Urteil als ein formales Kriterium der Handlungswahl, also als „formaler Bestimmungsgrund der Handlung“ (KpV 5:75.20 f.). Darüber hinaus ist das moralische Gesetz aber auch „materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen“ (KpV 5:75.22 f.). Diese Aussage Kants ist nicht ganz einfach zu entschlüsseln. Die Grundidee scheint jedoch relativ eindeutig zu sein: Indem wir das moralische Gesetz im moralischen Urteil als formales Kriterium der Handlungswahl einsetzen, richten wir unseren Willen zugleich auf einen Gegenstand aus (nämlich auf das an sich Gute). In der moralischen Willensbestimmung fallen folglich die Bestimmung der Kräfte zur Handlung und das Begehren eines Gegenstandes unmittelbar zusammen. Die Vorstellung des Guten erhält die für das Begehren charakteristische
Objekts, welche das Subjekt zu dessen Realisierung antreibt. Hier bleibt also offen, zu welcher spezifischen Handlung das Subjekt angetrieben wird.
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kausale Rolle, indem die Kräfte zu einer spezifischen Handlung bestimmt werden.⁹² Es spricht also vieles dafür, dass Kant in seiner Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ zwei Fälle unterscheidet: (1.) Die Vorstellung kann eine kausale Rolle im Hinblick auf die Realisierung des vorgestellten Objekts erhalten. Dies bedeutet, dass das Subjekt einfach dazu angetrieben wird, das Objekt zu verwirklichen; es bleibt hier unbestimmt, wie das Subjekt handelt. (2.) Die Vorstellung des Objekts kann aber auch die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhalten und zugleich die Kräfte des Subjekts zu einer Handlung bestimmen. In diesem Fall treibt die Vorstellung das Subjekt dazu an, den vorgestellten Gegenstand durch ein spezifisches Handeln hervorzubringen. Im ersten Fall handelt es sich um eine sinnliche Begierde, die Kant zufolge der materialen Willensbestimmung zugrunde liegt. Im zweiten Fall handelt es sich hingegen um eine moralische Willensbestimmung, die unmittelbar mit einem moralischen Urteil verbunden ist. Diese Überlegungen legen die Annahme nahe, dass Kant in seiner Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ schon die Unterscheidung zwischen den entsprechenden Gefühlen, also zwischen der sinnlichen Lust am Angenehmen und der moralischen Lust am Guten, andeutet. Im ersten Fall ist die Lust damit verbunden, dass das Begehrungsvermögen in einer Begierde zur Realisierung eines Gegenstandes bestimmt wird. In diesem Fall handelt es sich, wie wir im vierten Kapitel noch genauer sehen werden, um die sinnliche Lust am Angenehmen, die Kant zufolge der Begierde sowie der materialen Willensbestimmung zugrunde liegt (vgl. KpV 5:21.21 ff.; 5:22.9 ff. und hierzu Kap. 4). Im 92 Zwei Anmerkungen hierzu: Erstens setzt meine Überlegung voraus, dass sich die Eigenschaften des moralischen Urteils auf den kausalen Prozess der Willensbestimmung, also der Aktualisierung des oberen Begehrungsvermögens, übertragen lassen. Im fünften Kapitel werde ich dafür argumentieren, dass für Kant die moralische Willensbestimmung letztlich identisch ist mit dem moralischen Urteil, genauer: mit der praktischen ‚Urteilshandlung‘, in der wir entscheiden, ob eine Maxime verallgemeinerbar ist oder nicht (vgl. Kap. 5, § 3). Meiner Interpretation zufolge aktualisiert sich das (obere) Begehrungsvermögen in dieser Urteilshandlung, d. h. die Vorstellung des Guten erhält in dieser Urteilshandlung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle. – Zweitens liegt eine gewisse Zweideutigkeit in der Formulierung, dass in einem Urteil die Kräfte zu einer spezifischen Handlung bestimmt werden. Tatsächlich bleiben auch im moralischen Urteil viele Eigenschaften der beurteilten Handlung unbestimmt (z. B. in dem Urteil, demzufolge wir jemandem in einer bestimmten Situation helfen sollten). Mir geht es hier in einem sehr weiten Sinn um ein spezifisches Handeln, der sich aus der Abgrenzung zur sinnlichen Begierde ergibt. Wir können einen Gegenstand sinnlich begehren, ohne überhaupt nur daran zu denken, was wir zu seiner Realisierung unternehmen müssten (z. B. wenn wir uns wünschen, noch einmal jung zu sein). Im Unterschied zu derartigen Begierden lässt das moralische Urteil niemals ganz unbestimmt, auf welche Weise wir handeln sollen.
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zweiten Fall stellt sich die Lust ein, wenn wir durch das moralische Urteil dazu angetrieben werden, auf eine spezifische Weise zu handeln und uns in diesem Handeln zugleich auf die Realisierung eines Gegenstandes (des an sich Guten) auszurichten. Hierbei handelt es sich um eine moralische Lust am Guten, nämlich um das Gefühl der Achtung für das Sittengesetz, welches sich aus der moralischen Willensbestimmung ergibt (vgl. KpV 5:78.22 ff. und Kap. 5).⁹³ Diese Deutung von Kants Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ ist auch aufschlussreich im Hinblick auf das gemeinsame Merkmal der beiden Formen praktischer Lust. Bei beiden elementaren Fällen des menschlichen Begehrens – also der sinnlichen Begierde und der moralischen Willensbestimmung – handelt es sich jeweils um eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens, d. h. um einen Vorgang, in welchem die Vorstellung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erst erhält. ⁹⁴ Beide Formen der praktischen Lust stehen für Kant folglich in einem kausalen Zusammenhang zu einer ursprünglichen Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dieser Zusammenhang in beiden Fällen eine unterschiedliche Form annehmen muss. So geht Kant zufolge die sinnliche Lust am Angenehmen der Bestimmung des Begehrungsvermögens als Ursache voran. Diese Lust, so werden wir im dritten Kapitel sehen, ist mit einem inneren Vorgang verbunden, durch den die Vorstellung eines Gegenstandes die für das Begehren charakteristische Rolle erst erhält (vgl. Kap. 3, § 3). Im Gegensatz dazu folgt die moralische Lust am Guten als Wirkung auf die Bestimmung des Begehrungsvermögens. Kant zufolge ergibt sie sich aus der Bestimmung unseres Willens im moralischen Urteil, d. h. aus der Tatsache, dass eine Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle erhalten hat (vgl. Kap. 5, §§ 3 ff.).
93 Dass Kant auf das moralische Gefühl verweist, wenn er in der Definition der Lust von der „Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung“ spricht, wird auch durch eine Aussage in der Kritik der Urteilskraft nahe gelegt. Das Schlechthin-Gute, beurteilt als „Object des moralischen Gefühls“, wird von Kant dort mit der „Bestimmbarkeit der Kräfte des Subjects durch die Vorstellung eines schlechthin-nöthigenden Gesetzes“ gleichgesetzt (KU 5:267.2 ff.). 94 Ich spreche von einer ursprünglichen Aktualisierung des Begehrungsvermögens, um den Fall der materialen Willensbestimmung auszuschließen. Hier entscheiden wir Kant zufolge, auf welche Weise wir handeln sollten, um einen begehrten Gegenstand zu realisieren. Wir bilden also eine praktische Vorschrift, d. h. einen hypothetischen Imperativ, der Kant zufolge ebenfalls eine Form von Begehren darstellt (vgl. Kap. 1, § 6). Doch dabei handelt es sich nicht um eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens, weil die Vorstellung des Gegenstandes bereits in der zugrunde liegenden Begierde die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhalten hat. Die materiale Willensbestimmung ist also eher eine nachgeordnete Phase in dem Prozess der Aktualisierung unseres (unteren) Begehrungsvermögens. In diesem Prozess erhält die Vorstellung des Gegenstandes sukzessive Einfluss auf unsere Kräfte.
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
§ 3 Gegenstands- und handlungsbezogene Lust Dass die Unterscheidung zwischen den beiden Formen der praktischen Lust in Kants Definition der Lust eine wichtige Rolle spielt, legt nun auch eine Untersuchung der ersten Interpretationsfrage nahe. Diese Frage bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Handlung, die Kant in seiner Definition trifft. Die praktische Lust ist Kant zufolge die „Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens“ (KpV 5:9.23 f. Anm.; H. v. m.). Ich habe schon im ersten Abschnitt des Kapitels angedeutet, dass die Differenzierung zwischen Gegenstand und Handlung zwei Deutungen zulässt. Zunächst könnte Kant hier nur am Rande darauf verweisen, dass wir nicht nur an Sachen, sondern auch an Aktivitäten Lust haben. Dies müsste aber nicht bedeuten, dass es sich hierbei schon um unterschiedliche Formen von Lust handelt. So geht Kant davon aus, dass sich die sinnliche Lust am Angenehmen nicht nur an Sachen (z. B. an einem Eis), sondern auch an eigenen Aktivitäten (z. B. am Glücksspiel, an der Jagd oder an der Kultivierung unserer Talente) einstellen kann. Kant zufolge findet man auch „an bloßer Kraftanwendung, an dem Bewußtsein seiner Seelenstärke in Überwindung der Hindernisse, die sich unserem Vorsatze entgegensetzen, an der Cultur der Geistestalente u. s. w. Vergnügen“ (KpV 5:24.3 ff.). Diese Formen der Lust an der eigenen Aktivität werden „mit Recht feinere Freuden und Ergötzungen“ genannt, „weil sie mehr wie andere in unserer Gewalt sind, sich nicht abnutzen, das Gefühl zu noch mehrerem Genuß derselben vielmehr stärken, und indem sie ergötzen, zugleich cultivieren“ (KpV 5:24.6 ff.). Kant bezieht sich hier auf die Unterscheidung zwischen den sogenannten groben und feinen Gefühlen, die er noch seinen Ausführungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) zugrunde gelegt hatte (vgl. Beobachtungen 2:207 f.). Diese empirisch-psychologische Unterscheidung zwischen eher bedürfnisorientierten und kultivierenden Gefühlen scheint für den kritischen Kant allerdings keinerlei philosophische Bedeutung mehr zu haben – Kant spricht an einer Stelle sogar vom „nichtssagenden Beiwort eines feinern Gefühls“ (KU 5:266.13 f.). An der zuvor zitierten Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant die feineren Freuden an unserer Aktivität denn auch als Beispiel für seine These an, dass das sinnliche Gefühl immer „von einerlei Art“ ist (KpV 5:23.16). Auch das Vergnügen, das wir an einer kultivierenden Beschäftigung (etwa an der Lektüre eines lehrreichen Buchs) empfinden, ist wesentlich sinnlich. Wir könnten die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Handlung in Kants Definition der Lust also auf folgende Weise interpretieren: Kant weist hier am Rande darauf hin, dass wir sowohl an Gegenständen als auch an eigenen Aktivitäten eine Lust haben können, ohne dass dies für die philosophische Unter-
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scheidung zwischen unterschiedlichen Lusttypen eine besondere Bedeutung hätte. Nun wäre es allerdings merkwürdig, wenn Kant gerade in einer transzendentalen Definition der Lust auf den philosophisch belanglosen, weil empirischen Unterschied zwischen feinem und grobem Gefühl verweisen würde. Die Definition der Lust ist schließlich, wie Kant selbst betont, „aus lauter Merkmalen des reinen Verstandes, d. i. Kategorien, zusammengesetzt, die nichts Empirisches enthalten“ (KpV 5:9.32 f. Anm.). Ein noch wichtigerer Grund für eine andere Lesart ergibt sich aber aus folgender Überlegung. Kant verwendet den Begriff der Handlung in seiner Definition der Lust in einer ganz bestimmten Bedeutung, die diesem Begriff in seiner Konzeption des Begehrungsvermögens zukommt. Eine Handlung ist im Rahmen dieser Konzeption nicht einfach irgendeine Aktivität.Vielmehr handelt es sich um diejenige praktische Aktivität, durch die wir ein begehrtes Objekt hervorbringen. Legt man diese Bedeutung des Handlungsbegriffs zugrunde, so ergibt sich zunächst, dass es eigentlich gar keine sinnliche Lust an einer Handlung geben kann. Dies zeigt Kants Beschreibung der Rolle dieser Lust in den §§ 2 und 3 der Kritik der praktischen Vernunft. Hier geht Kant davon aus, dass die sinnliche Lust am Angenehmen der Entstehung einer Begierde zugrunde liegt, die ihrerseits bei der materialen Willensbestimmung vorausgesetzt wird (vgl. KpV 5:21 f.). Die sinnliche Lust an einem Gegenstand führt dazu, dass wir den lustvollen Gegenstand begehren und in Folge dessen einen Handlungsplan ausbilden, dessen Einhaltung den begehrten Gegenstand realisieren soll. Berücksichtigt man die Rolle, die der sinnlichen Lust in diesem Modell des Handelns zugeschrieben wird, so ist es tatsächlich irreführend, von einer sinnlichen Lust an einer Handlung zu sprechen. Die sinnliche „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) liegt vielmehr der Wahl einer Handlung zugrunde, welche den lustvollen Gegenstand erneut verwirklichen soll. Diesem Modell zufolge ist die sinnliche Lust wesentlich eine Lust an einem begehrten Gegenstand, und die Handlung dient nur dazu, diesen Gegenstand zu realisieren.⁹⁵ Natürlich bedeutet dies nicht, dass es überhaupt keine sinnliche Lust an Aktivitäten geben kann (z. B. am Glücksspiel oder an der Jagd, vgl. KpV 5:23.22 ff.). Die sinnliche Lust an einer Aktivität kann dazu führen, dass wir einen Handlungsplan annehmen, dessen Befolgung uns ermöglicht, der lustvollen Aktivität erneut oder öfter nachzugehen (also uns z. B. erneut „an den Spieltisch zu setzen“, KpV 5:23.26 f., oder regelmäßiger auf die Jagd zu gehen, vgl. KpV 5:23.24). Aus 95 Hier geht es mir nur darum, dass die sinnliche Lust bei Kant stets eine Lust an dem begehrten Gegenstand und nicht an der entsprechenden Handlung ist. Eine ausführlichere Interpretation von Kants Aussagen über die praktische Rolle der sinnlichen Lust in den §§ 2 und 3 gebe ich im vierten Kapitel.
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dieser Beschreibung folgt schon, dass die Handlung nicht gleichzusetzen ist mit der lustvollen Aktivität. Eher schon ist die Handlung dasjenige, was wir unternehmen, um der lustvollen Aktivität erneut nachzugehen. Vom Standpunkt der praktischen Philosophie aus betrachtet ist folglich auch die sinnliche Lust an einer Aktivität stets eine Lust an der Existenz eines Gegenstandes, den wir begehren, und nicht an einer Handlung, die wir zur Realisierung des begehrten Gegenstandes wählen.⁹⁶ Hier scheint auch der tiefere Grund dafür zu liegen, dass Kant diese Lust auch als „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9; H. v. m.) bezeichnet. Sinnliche Lust, könnte man sagen, ist niemals Lust an einer praktischen Aktivität, weil gerade dies ihrer Rolle in der Praxis zuwiderlaufen würde. Anders verhält es sich im Fall der moralischen Lust am Guten. Kants Beschreibungen des moralischen Gefühls der Achtung sind kompliziert, und es ist sicherlich schwer auszumachen, auf was sich dieses Gefühl – als ein positives Gefühl – in erster Linie bezieht. Deutlich genug ist allerdings, dass sich das moralische Gefühl der Achtung niemals auf Sachen, sondern allenfalls auf moralische Handlungen, die zugrunde liegende Willensbestimmung, die handelnde Person sowie das moralische Gesetz bezieht. Achtung, schreibt Kant an einer berühmten Stelle im Triebfederkapitel, geht schon im alltäglichen Verständnis „jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen“ (KpV 5:76.24). Diese Achtung vor Personen hat, wie Kant etwas später bemerkt, allerdings letztlich immer einen „moralischen Grund“, der mit dem „Bewußtsein einer Pflicht“ zusammenhängt (KpV 5:81.31 ff. Anm.). Dieses moralische Gefühl der Achtung (im engeren Sinn) ist in jeder Vorstellung einer Pflicht enthalten. Pflicht aber ist eine „Handlung, die nach diesem Gesetze mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung objectiv praktisch ist“ (KpV 5:80.25 f.). Das Gefühl, welches sich hieraus ergibt, ist bekanntlich nicht einfach eine Lust. Vielmehr beinhaltet es einerseits „Unlust an der Handlung“ (KpV 5:80.35), anderseits aber auch ein positives Gefühl der Selbstbilligung des eigenen moralischen Handelns (vgl. KpV 5:81.2 f.). Das sittliche Gefühl ist, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft zusammenfasst, ein „Wohlgefallen an einer Handlung um ihrer moralischen Beschaffenheit willen“ (KU 5:292.3 ff.).⁹⁷
96 Zwar kann die Aktivität, durch die wir einen lustvollen Gegenstand hervorbringen, selbst lustvoll sein (wenn ich z. B. zur Theaterkasse gehe um Tickets zu kaufen und mir der Spaziergang dorthin selbst Vergnügen bereitet). Doch selbst dann ist der Spaziergang nicht als Handlung lustvoll, sondern als möglicher Gegenstand meines Begehrungsvermögens. Das Spazierengehen ist unter der Rücksicht lustvoll, dass diese Lust ein Grund für die Annahme eines Handlungsplans darstellt, der es mir ermöglicht spazieren zu gehen (etwa der Maxime, in Zukunft immer zu Fuß zur Theaterkasse zu gehen). 97 Tatsächlich unterscheidet Kant in der Grundlegung zwei entsprechende Formen von Interesse: „das praktische Interesse an der Handlung“ und das „pathologische Interesse am Gegen-
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Diese Überlegungen unterstützen die Annahme, dass der Unterschied zwischen Gegenstand und Handlung in Kants Definition der Lust grundlegend ist für die spezifische Form der praktischen Lust. Die sinnliche Lust am Angenehmen ist wesentlich eine Lust an einem begehrten Gegenstand, während die moralische Lust am Guten wesentlich eine Lust an einer genuin moralischen Handlung ist. Wie bereits in seiner Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ verweist Kant also auch hier auf einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Lustformen. Allerdings betrifft dieser Unterschied nicht den kausalen Zusammenhang, in welchem die Lust jeweils zur Aktualisierung des Begehrungsvermögens stehen kann; es geht nicht darum, ob die zugrunde liegende Vorstellung uns nur zur Realisierung des vorgestellten Gegenstandes oder auch zu einem bestimmten Handeln antreibt. Kants Unterscheidung betrifft vielmehr das Objekt der Lust, d. h. dasjenige, woran wir jeweils eine Lust empfinden. Allerdings scheinen sich beide Unterscheidungen zu entsprechen: Wenn eine Vorstellung uns lediglich dazu antreibt, den vorgestellten Gegenstand zu realisieren, so empfinden wir eine sinnliche Lust an diesem Gegenstand.Wenn uns die Vorstellung jedoch dazu antreibt, den Gegenstand durch eine spezifische Handlung zu realisieren, so empfinden wir eine moralische Lust an dieser Handlung. Kants Verweise auf diese Unterschiede zwischen den Lustformen mögen sich in einer Definition der praktischen Lust merkwürdig ausnehmen. Schließlich sollte es in einer derartigen Definition vorrangig um das gemeinsame Merkmal aller Formen praktischer Lust gehen.Vielleicht ist Kants Vorgehensweise der Kritik geschuldet, die er im gleichen Zusammenhang an der Psychologie seiner Zeit vornimmt. Deren Definitionen des Begehrungsvermögens und der Lust hätten, so Kant, „das Gefühl der Lust der Bestimmung des Begehrungsvermögens zum Grunde gelegt“, womit das „oberste Princip der praktischen Philosophie nothwendig empirisch ausfallen“ musste (KpV 5:9.13 ff. Anm.). Kants eigene Definition soll daher offen lassen, ob die Lust nicht „auch unter gewissen Bedingungen nur auf die Bestimmung desselben [des Begehrungsvermögens – T. H.] folge“ (KpV 5:9.30 f. Anm.). Kants Definition soll also den Blick darauf lenken, dass nicht jede
stande der Handlung“ (GMS 4:413.32 ff. Anm.). – Kant beschreibt das moralische Gefühl auch als ein Wohlgefallen am Guten – genauer: an einem „schlechterdings und in aller Absicht Gute[n]“ (KU 5:209.7 f.). Über das Gute und Böse heißt es nun aber in der Kritik der praktischen Vernunft: „Das Gute oder Böse wird […] eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person bezogen, und sollte etwas schlechthin (in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte“ (KpV 5:60.19 ff.).
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
praktische Lust sinnlich sein und dem Begehren vorangehen muss. Dies versucht Kant dadurch zu erreichen, dass er schon in dieser Definition auf die spezifischen Charakteristika einer alternativen Form von praktischer Lust hinweist, die als Wirkung auf die Bestimmung des Begehrungsvermögens folgt.
§ 4 Lust als Vorstellung einer Übereinstimmung Aus meiner bisherigen Untersuchung von Kants Definition der Lust hat sich folgende Deutung ergeben. Ein wesentliches Merkmal der praktischen Lust besteht in ihrem Zusammenhang zur ursprünglichen Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens, also zu der Tatsache, dass die Vorstellung eines Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält. Im Fall der sinnlichen Lust handelt es sich um eine Aktualisierung des unteren Begehrungsvermögens, d. h. um die Entstehung einer Begierde. Die sinnliche Lust geht dieser Aktualisierung als Ursache voran, d. h. sie beruht auf einem inneren Vorgang, in welchem die Vorstellung eines Gegenstandes ihre kausale Rolle erst erhält. Dabei treibt uns die Vorstellung des Gegenstandes lediglich dazu an, den Gegenstand zu realisieren, wobei offen bleibt, durch welche Handlung dies geschehen soll. Entsprechend stellt die sinnliche Lust wesentlich eine Lust am Gegenstand dar (und keine Lust an einer Handlung). Im Fall der moralischen Lust am Guten ergibt sich die Lust hingegen als Wirkung aus einer Aktualisierung des oberen Begehrungsvermögens. In der moralischen Willensbestimmung erhält die Vorstellung eines Gegenstandes (des Guten) eine kausale Rolle, und zugleich wird das Subjekt zu einem spezifischen Handeln angetrieben. Die Lust, die wir aufgrund dieser Tatsache empfinden, bezieht sich dementsprechend wesentlich auf eine Handlung. Aus dieser Deutung geht allerdings noch nicht explizit hervor, warum Kant in seiner Definition der Lust davon spricht, dass in der praktischen Lust der Gegenstand oder die Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen sollen. Wie ist diese Redeweise von der „Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens“ (KpV 5:9.23 f.) zu verstehen? Zur Beantwortung dieser dritten Interpretationsfrage möchte ich zunächst erneut zwei Deutungen unterscheiden. Kants Erläuterung des Ausdrucks ‚subjektive Bedingungen des Lebens‘ legt erstens die Annahme nahe, dass Kant in seiner Definition letztlich die Idee einer Beförderung lebendiger Aktivität im Sinn hat. Die praktische Lust stellt sich ein, wenn eine Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle im Subjekt erhält bzw. erhalten hat. Dies aber scheint nichts anderes zu besagen, als dass die für Lebewesen charakteristische Aktivität – das Begehren – gesteigert wird. Kants Redeweise von der ‚Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven
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Bedingungen des Lebens‘ könnte nun als eine etwas umständliche Formulierung für genau diesen Sachverhalt aufgefasst werden. In der praktischen Lust werden wir darauf aufmerksam, dass anlässlich der Vorstellung einer Handlung oder eines Gegenstandes die für uns als Lebewesen charakteristische Aktivität gesteigert wird.⁹⁸ Diese Deutung von Kants Definition ist insbesondere dadurch motiviert, dass Kant an zahlreichen Stellen die Lust auf eine Beförderung lebendiger Aktivität zurückführt. So spricht er in der Kritik der Urteilskraft bekanntlich von der „Belebung“ der Gemütskräfte, welche die kontemplative Lust am Schönen bewirkt (KU 5:219.4 f.; vgl. 5:222.24). Aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft verweist Kant auf die Idee einer Beförderung des Lebens. Diese Idee spielt eine wichtige Rolle bei seiner Erklärung der Entstehung des moralischen Gefühls im Triebfederkapitel. Kant zufolge ist mit der moralischen Willensbestimmung zunächst ein Schmerz verbunden, weil den Neigungen und der darin enthaltenen desiderativen Aktivität ein Hindernis entgegengesetzt wird.⁹⁹ Dieser Schmerz stellt allerdings auch ein positives Gefühl dar, sofern die Behinderung der neigungsbezogenen Aktivität zugleich als eine Beförderung der vernunftbestimmten Aktivität angesehen wird (vgl. KpV 5:75; 5:79). Das hieraus resultierende positive Gefühl der Achtung verdankt sich also einer indirekten Beförderung unserer vernunftbestimmten Aktivität (Näheres hierzu in Kap. 5, §§ 5 ff.). Kants Ausführungen zum sinnlichen Gefühl in der Kritik der praktischen Vernunft rekurrieren zwar nicht ganz so offensichtlich auf die Idee der Beförderung des Lebens, doch sie lassen sich durchaus im Geiste dieser Idee deuten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Definition der sinnlichen Lust, genauer: der „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“, die Kant im Rahmen seiner Analyse der materialen Willensbestimmung im § 2 gibt. Diese Lust besteht in dem „Verhältniß“ der Vorstellung eines Objekts zum Subjekt, „wodurch das Begehrungsvermögen
98 So bemerkt Allison im Hinblick auf Kants Definition in der Kritik der praktischen Vernunft: „On the basis of texts such as these, it seems clear that Kant understands by pleasure and displeasure something like a sense of the increase or diminution of one’s level of activity, particularly one’s activity as a thinking being“ (Allison 2001, 69). 99 „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag thut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann“ (KpV 5:73.2 ff.). „Diese Einschränkung [der Neigungen auf die Bedingung der Befolgung des Gesetzes – T. H.] thut nun eine Wirkung aufs Gefühl und bringt Empfindung der Unlust hervor, die aus dem moralischen Gesetze a priori erkannt werden kann. Da sie aber blos so fern eine negative Wirkung ist, die, als aus dem Einflusse einer reinen praktischen Vernunft entsprungen, vornehmlich der Thätigkeit des Subjects, so fern Neigungen die Bestimmungsgründe desselben sind, mithin der Meinung seines persönlichen Werths Abbruch thut […], so ist die Wirkung dieses Gesetzes bloß Demüthigung“ (KpV 5:78.27 ff.).
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zur Wirklichmachung desselben [des Objekts – T. H.] bestimmt wird“ (KpV 5:21.22 ff.). Diese nicht ganz leicht zu deutende Charakterisierung der sinnlichen Lust scheint Folgendes zu besagen: Diese Lust stellt sich ein, wenn das ‚Haben‘ der Vorstellung eines Objekts dazu führt, dass das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung des vorgestellten Objekts bestimmt wird. Kant bezieht sich in dieser Definition also auf einen Prozess, der unmittelbar vor der Aktualisierung des Begehrungsvermögens stattfindet und in dem die Vorstellung eines Objekts die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. Dass die Vorstellung diese Rolle erhält, scheint nun zumindest auf den ersten Blick nichts anderes zu bedeuten, als dass die für das Lebewesen charakteristische Aktivität anlässlich einer gegebenen Vorstellung befördert wird. Die Vorstellung führt, mit anderen Worten, zu einer Aktualisierung des Begehrungsvermögens. Wir werden im folgenden Kapitel sehen, dass diese Beschreibung zwar nicht ganz falsch, aber dennoch zu einfach ist. Denn bei der Aktivitätssteigerung, die der sinnlichen Lust zugrunde liegt, spielen auch die körperlichen Lebenskräfte des Subjekts eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 3, §§ 2 f.). So betont Kant in der Kritik der Urteilskraft, dass jedes Vergnügen und jeder Schmerz letztlich „körperlich“ ist (KU 5:277.31), weil beides auf dem Gefühl der „Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte“ beruht (KU 5:278.2 f.). Eine ähnliche Aussage findet sich vielleicht sogar schon in der Kritik der praktischen Vernunft. Vom sinnlichen „Gefühl der Lust“ heißt es dort nämlich, dass „es eine und dieselbe Lebenskraft, die sich im Begehrungsvermögen äußert, afficirt“ (KpV 5:23.17 f.). Auch diese Aussage lässt sich im Sinn einer Beförderung von körperlicher Aktivität verstehen. Anlässlich einer Vorstellung, die wir haben, werden wir uns einer Steigerung unserer (körperlichen) Lebenskraft bewusst, und dies äußert sich darin, dass die Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. Es ist also nicht ganz einfach, die Theorie von der Beförderung des Lebens im Hinblick auf die sinnliche Lust zu explizieren, weil die Beförderung des Lebens in diesem Fall nicht nur mit der Aktualisierung des Begehrungsvermögens, sondern auch mit unseren körperlichen Kräften zusammenhängt. Die Idee der Beförderung des Lebens scheint also tatsächlich eine gewisse Rolle in den lusttheoretischen Aussagen der Kritik der praktischen Vernunft zu spielen. Kant zufolge ist die Aktualisierung des Begehrungsvermögens, zu der es in den beiden Fällen praktischer Lust kommt, wesentlich mit einer Beförderung lebendiger Aktivität verbunden. So beruht die sinnliche Lust auf einem Vorgang der Steigerung unserer (körperlichen) Aktivität, und dieser Vorgang führt dann zu einer Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens. Im Fall der moralischen Lust verhält es sich genau umgekehrt. Die Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens in der moralischen Willensbestimmung führt hier zu einer indirekten Beförderung unserer vernunftbestimmten Aktivität. Ich werde diese beiden Fälle in
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den folgenden Kapiteln noch wesentlich genauer betrachten (vgl. insbesondere Kap. 3, § 3; Kap. 5, § 7). Wichtig an diesem Punkt ist nur, dass die Lust in beiden Fällen auf einem inneren Vorgang der Steigerung lebendiger Aktivität beruht und dass dieser Vorgang seinerseits kausal mit der Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens verknüpft ist. Kants Redeweise vom ‚Gefühl‘ der Beförderung des Lebens (vgl. z. B. KU 5:278.2) deutet nun darauf hin, dass seiner Auffassung zufolge die Lust in einem unmittelbaren Bewusstsein dieser Steigerung unserer lebendigen Aktivität besteht.¹⁰⁰ Allerdings stellt sich immer noch die grundlegende Frage, ob sich Kants Formulierung in seiner Definition der praktischen Lust – also die Charakterisierung der Lust als ‚Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens‘ – einfach nur auf das Bewusstsein einer inneren Aktivitätssteigerung bezieht. Schließlich betrifft Kants Formulierung nicht nur innere Vorgänge, die durch Vorstellungen ausgelöst werden; es geht mindestens auch um die Inhalte dieser Vorstellungen, nämlich um einen Gegenstand oder eine Handlung. Tatsächlich unterscheidet sich die angesprochene Formulierung in diesem Punkt deutlich von den Beschreibungen, die Kant an anderen Stellen von der Lust und ihren Grundformen gibt. An jenen Stellen identifiziert Kant die Lust meist mit einem inneren Vorgang bzw. mit dem Bewusstsein eines inneren Vorgangs, der sich anlässlich einer Vorstellung einstellt. So habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die sinnliche „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) für Kant in einem inneren Vorgang besteht, in welchem die Vorstellung eines Objekts die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält und auf diese Weise das Begehrungsvermögen zur „Wirklichmachung“ des Objekts bestimmt (KpV 5:21.23). Weitere Beispiele finden sich in der Kritik der Urteilskraft. In der Ersten Einleitung bezeichnet Kant die Lust als einen „Zustand des Gemüths, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt“ (EE 20:230.11 f.), und seine anschließende Erläuterung macht deutlich, dass es hier um innere Vorgänge geht, die mit dem Auftreten von Lustzuständen verbunden sind (nämlich um das freie Spiel der Erkenntniskräfte und die Bestimmung des Begehrungsvermögens, vgl. EE 20:230 f.13 ff.). Im § 10 der Kritik der Urteilskraft identifiziert Kant die Lust schließlich mit dem „Bewußtsein“ (KU 5:220.9), welches sich auf die Kausalität bezieht, die einer Vorstellung im Hinblick auf die Erhaltung eines Gemütszustandes zukommt. In all diesen Beschreibungen geht es nicht um die vorgestellten Inhalte, sondern um ein mit dem 100 Dass Kant diese Auffassung vertritt, zeigt sich am deutlichsten in der bereits zitierten Aussage aus der Kritik der Urteilskraft, der zufolge wir uns in der Lust am Schönen der zugrunde liegenden wechselseitigen Belebung von Einbildungskraft und Verstand bewusst werden (vgl. KU 5:219.3 ff. und hierzu Kap. 3, § 4).
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Vorstellen verbundenen inneren Vorgang, dessen wir uns in der Lust bewusst werden. Bei der Definition der praktischen Lust aus der Kritik der praktischen Vernunft liegt der Fall anders. Die Lust ist die Vorstellung einer Übereinstimmung, die zwischen dem Gegenstand oder der Handlung und den subjektiven Bedingungen des Lebens besteht. Vergleicht man diese Formulierung mit Kants anderen Definitionen der Lust, so liegen zwei Schlussfolgerungen nahe. Der Definition aus der Vorrede zufolge geht es in einer Lust zunächst nicht einfach nur um innere Vorgänge, die mit dem Vorstellen verbunden sind. Vielmehr spielen die Objekte der Vorstellungen selbst – die Gegenstände oder Handlungen – eine wesentliche Rolle, sofern sie selbst (und nicht bloß ihre Vorstellungen) mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen sollen. Ferner scheint sich die Redeweise von der ‚Vorstellung der Übereinstimmung mit Bedingungen‘ auch nicht wirklich auf ein unmittelbares Bewusstsein eines inneren Vorgangs zu beziehen. Gemeint ist wohl eher, dass der Gegenstand oder die Handlung ein bestimmtes subjektives Kriterium erfüllen oder unter einer bestimmten subjektiven Rücksicht betrachtet werden. Diese Betrachtungsrücksicht oder dieses Kriterium sind eben jene subjektiven Bedingungen des Lebens, die gegeben sind, wenn es zu einer Aktualisierung des Begehrungsvermögens und – damit verbunden – zu einer Aktivitätssteigerung im begehrenden Subjekt kommt. Diese Beobachtungen legen also eine alternative Antwort auf die angesprochene Interpretationsfrage nahe. In der Lust stellen wir uns vor, dass der Gegenstand oder die Handlung ein bestimmtes Kriterium erfüllen, welches gerade darin besteht, dass die Vorstellung des Gegenstandes oder der Handlung zu einem bestimmten inneren Vorgang – der Steigerung unserer lebendigen Aktivität – führt, der kausal mit der Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens verknüpft ist. In der praktischen Lust betrachten oder beurteilen wir folglich Gegenstände oder Handlungen vor dem Hintergrund unseres subjektiven Vorstellungslebens.
§ 5 Zwei Aspekte der praktischen Lust Im folgenden Abschnitt möchte ich diese Deutung etwas genauer explizieren. Um Kants Redeweise von der ‚Übereinstimmung mit subjektiven Bedingungen des Lebens‘ besser zu verstehen, könnte man sich zunächst versuchsweise die Frage vorlegen, worin eigentlich eine Übereinstimmung einer Handlung mit objektiven Bedingungen des Lebens bestehen würde. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, scheint sich Kants Redeweise von ‚subjektiven Bedingungen des Lebens‘ auf die faktische Ausübung des Begehrungsvermögens zu beziehen (vgl. § 2 dieses Kapitels). Demgegenüber könnten wir aber auch von ‚objektiven Be-
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dingungen des Lebens‘ sprechen und damit die normativen Bedingungen meinen, die für eine erfolgreiche Ausübung des Begehrungsvermögens erfüllt sein müssen. Die Redeweise von der Übereinstimmung einer Handlung mit objektiven Bedingungen des Lebens würde demzufolge besagen, dass die Handlung die normativen Bedingungen der Ausübung des Begehrungsvermögens erfüllt. Nun scheint Kant davon auszugehen, dass die normativen Bedingungen des menschlichen Begehrens bzw. Wollens in den Imperativen formuliert werden, an denen wir uns beim rationalen Handeln orientieren. Unsere Handlungen müssen sowohl hypothetischen als auch kategorischen Imperativen entsprechen, d. h. sie müssen, grob gesagt, dazu geeignet sein, unsere Zwecke zu realisieren, und mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen. Die Vorstellung einer Übereinstimmung der Handlung mit den objektiven Bedingungen des Lebens wäre also letztlich nichts anderes als ein praktisches Urteil, in dem wir eine von uns beabsichtigte Handlung als wozu-gut oder als an sich gut bewerten.¹⁰¹ In einem analogen Sinn lässt sich nun auch die Redeweise von der Übereinstimmung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens verstehen. Lust an einem Gegenstand oder einer Handlung zu haben, bedeutet den Gegenstand oder die Handlung auf eine bestimmte Weise zu beurteilen oder zu betrachten. Im Unterschied zum praktischen Urteil ist das zugrunde liegende Kriterium dieser Beurteilung oder dieser Betrachtung allerdings eine subjektive Bedingung, d. h. eine Bedingung, die bereits durch das faktische Auftreten eines bestimmten inneren Vorgangs im Subjekt gegeben ist. Die vorgestellten Inhalte erfüllen die subjektiven Bedingungen des Lebens, wenn die entsprechende Vorstellung im Subjekt die für das Begehren charakteristische Rolle erhält, womit zugleich ein Bewusstsein der Steigerung lebendiger Aktivität verbunden ist. Wenn diese Deutung stimmt, so ergeben sich wichtige Konsequenzen für den Begriff der Lust. In der Erfahrung einer Lust geht es nicht nur um ein Bewusstsein inneren Vorstellungslebens, sondern mindestens auch um die vorgestellten Inhalte. Die Lust
101 Vieles spricht dafür, dass Kant diese Idee eines Übereinstimmens der Handlung mit objektiven Bedingungen akzeptieren würde. Eine erste Erfolgsbedingung des menschlichen Begehrens besteht darin, dass die Handlung dazu geeignet ist, den begehrten Gegenstand auch hervorzubringen. Die hypothetischen Imperative bestimmen, wie Kant schreibt, „die Bedingungen der Causalität des vernünftigen Wesens, als wirkender Ursache, bloß in Ansehung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben“ (KpV 5:20.15 ff.; H. v. m.). Eine zweite Erfolgsbedingung besteht darin, dass die Handlung mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt. „Der Begriff der Pflicht“, schreibt Kant im Triebfederkapitel, „fordert […] an der Handlung objectiv Übereinstimmung mit dem Gesetze“ (KpV 5:81.10 f.). Dabei wird die Form des Gesetzes, wie Kant schreibt, als „oberste Bedingung aller Maximen angesehen“ (KpV 5:31.13). Dem entspricht auch Kants Redeweise von der ‚objektiven Bedingung‘, die dem praktischen Gesetz zugrunde liegt (vgl. KpV 5:19.10 ff.).
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
hat eine Beurteilungsfunktion. In der Lust werden wir uns bewusst, dass der Gegenstand oder die Handlung ein bestimmtes Kriterium erfüllt, das allerdings bloß subjektiv ist. Es lohnt sich, diese Konsequenzen etwas genauer zu betrachten. Zunächst fällt auf, dass sich die Lust – im Sinn der Definition der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft – auch auf die vorgestellten Inhalte bezieht und in diesem Sinn nicht – wie in den bereits zitierten übrigen Definitionen Kants – bloß mit dem Bewusstsein eines inneren Vorgangs identifiziert wird. Ich denke allerdings nicht, dass wir es hier mit zwei verschiedenen Theorien der Lust zu tun haben. Denn auch die ‚inhaltsbezogene‘ Lust aus der Definition der Vorrede beruht auf einem inneren Vorgang, der, wie Kants spätere Ausführungen im Triebfederkapitel zeigen, wesentlich mit dem Bewusstsein innerer Aktivitätssteigerung verbunden ist. Eher schon handelt es sich um Beschreibungen von zwei unterschiedlichen Aspekten ein und desselben Phänomens. Zunächst ist Lust ein innerer Bewusstseinszustand, den wir zum Ausdruck bringen, wenn wir sagen, dass etwas schmeckt, Spaß macht usw. Dieser Zustand besteht Kant zufolge wesentlich in dem Bewusstsein eines inneren Vorgangs, nämlich einer gesteigerten lebendigen Aktivität, die sich anlässlich einer Vorstellung einstellt. In diesem Sinn eines Lustzustandes spricht Kant meist von ‚Lust‘, und in seiner Beschreibung dieses kausalen Aspekts einer Lust bleibt der Inhalt der Vorstellung, die den inneren Vorgang in Gang setzt, noch unbestimmt. Wenn Kant etwa behauptet, dass in der Lust die Vorstellung „gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben“ bezogen wird, scheint er genau diesen kausalen Aspekt der Lust im Blick zu haben (KU 5:204.7 f.). In der Lust qua Lustzustand geht es nicht um die Inhalte der Vorstellung, sondern um die mit dem Vorstellen verbundene Steigerung lebendiger Aktivität. In einem zweiten Sinn können wir aber auch davon sprechen, dass wir eine Lust an etwas haben. In der Tat habe ich diesen Sinn von Lust in meiner Deutung der Definition der Lust bereits zugrunde gelegt, als ich zwischen der praktischen Lust an einem Gegenstand und der praktischen Lust an einer Handlung unterschieden habe. Wenn ich eine sinnliche Lust an einem Glas Kanariensekt habe, dann bedeutet dies, dass mir der Kanariensekt, den ich gerade trinke, gut schmeckt.¹⁰² Auch hier spielt das Bewusstsein gesteigerter Aktivität eine we-
102 Hierbei handelt es sich nicht um eine allgemeine Präferenz, wie z. B. ‚Kanariensekt ist mein Lieblingsgetränk‘ (zu dieser Form von generalisierten ästhetischen Sinnenurteilen vgl. Kap. 4, § 7). An dieser Stelle geht es mir nur um Fälle, in denen wir uns unmittelbar in der Wahrnehmung eines Gegenstandes bewusst werden, dass wir den Gegenstand angenehm finden, (wenn ich z. B. ein Glas Kanariensekt probieren würde und mir dann bewusst werden würde, dass mir dieses Getränk tatsächlich schmeckt). Um den Unterschied zu sehen, mag man an die Rolle
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sentliche Rolle. Die Tatsache, dass mir etwas gut schmeckt, beruht auf einem entsprechenden Lustzustand, d. h. auf dem Bewusstsein der gesteigerten Aktivität meiner Lebenskräfte. Darüber hinaus geht es mir in der Erfahrung dieser Lust aber auch um den Inhalt der Vorstellung: Ich habe eine Lust am Kanariensekt. Hier besteht also eine Verbindung zwischen dem Inhalt meiner Vorstellung (Kanariensekt) und dem subjektiven Bewusstsein, das sich angesichts der Vorstellung und einer gesteigerten Aktivität einstellt (dem Lustzustand). In diesem Sinn scheint Kant nun in seiner Definition der Lust in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft davon zu sprechen, dass der Gegenstand oder die Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens übereinstimmen. Wir haben eine Lust am Gegenstand oder an der Handlung, sofern wir uns im Gefühl der Tatsache bewusst werden, dass die Vorstellungen dieser Inhalte jeweils mit einem bestimmten inneren Vorgang verbunden sind. Die Redeweise von einer Lust, die wir ‚an etwas‘ haben, entspricht deutlich Kants Redeweise vom ‚Wohlgefallen an etwas‘ in den einleitenden Abschnitten der Kritik der Urteilskraft (vgl. vor allem KU §§ 2– 5, 5:204 ff.). Kant differenziert dort bekanntlich zwischen dem Wohlgefallen, das wir am Angenehmen, am Guten oder am Schönen nehmen können. Der Begriff des Wohlgefallens ist allerdings nicht einfach identisch mit dem Begriff einer Lust-an-etwas. Es geht uns beim Wohlgefallen vielmehr, wie Kant selbst formuliert, ganz allgemein um die „Schätzung der Dinge und ihres Werths“ (KU 5:206.11). Es stellt sich also die Frage, ob sich nicht Formen von Wohlgefallen denken lassen, die keine (oder zumindest nicht notwendig) Lustzustände beinhalten. Kants Ausführungen legen die Annahme nahe, dass ein Wohlgefallen nur dann notwendig einen Lustzustand beinhaltet, wenn es unmittelbar ist, d. h. wenn uns der vorgestellte Gegenstand nicht bloß als Mittel zur Realisierung eines äußeren Zwecks gefällt (vgl. KU 5:207 f.). Dieser Deutung zufolge wäre also das Wohlgefallen am Nützlichen bzw. am Wozu-Guten, (z. B. an einer Handlung, die zur Realisierung unseres Zwecks beiträgt), nur mittelbar und aus diesem Grund auch nicht notwendig mit einer einer Lust ver-
denken, die der Begriff des Fürwahrhaltens in Kants Theorie der theoretischen Überzeugung spielt. Dass ich etwas fürwahrhalte, kann ganz einfach bedeuten, dass ich eine bestimmte Überzeugung habe. In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant allerdings noch in einem anderen Sinn vom Fürwahrhalten: „Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstande, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfodert“ (KrV A 820/B 848). Das Fürwahrhalten ist also jenes Ereignis im Gemüt (eine „Begebenheit in unserem Verstande“), an dem wir bewusst ein theoretisches Urteil fällen.
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
bunden.¹⁰³ Bei der Unterscheidung zwischen dem Wohlgefallen am Angenehmen, Guten und Schönen in der Kritik der Urteilskraft hat Kant jedenfalls vornehmlich die unterschiedlichen Formen des unmittelbaren Wohlgefallens im Blick, und diese sind seiner Auffassung zufolge wesentlich mit unterschiedlichen Lustzuständen verbunden. Das unmittelbare Wohlgefallen an einem Gegenstand kann Kant zufolge entweder direkt auf einem Lustzustand beruhen (wie das Wohlgefallen am Angenehmen), oder einen solchen Lustzustand zumindest beinhalten (wie das Wohlgefallen am Schönen, am Erhabenen oder am Schlechthin-Guten). Es ist nun bemerkenswert, dass Kants Definitionen dieser unterschiedlichen lustbezogenen Formen des Wohlgefallens auf die Gegenstände verweisen, die uns in der Lust gefallen. So heißt es etwa über das Wohlgefallen am Angenehmen: „Angenehm ist das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt“ (KU 5:205.26 f.). Wenn wir eine sinnliche Lust an einem Gegenstand empfinden, so gefällt uns dieser Gegenstand unmittelbar, d. h. wir betrachten diesen Gegenstand als an-
103 Die Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Wohlgefallen entnehme ich folgender Aussage Kants. Beim Guten ist immer „die Frage […], ob es blos mittelbar-gut oder unmittelbar-gut (ob nützlich oder an sich gut) sei; da hingegen beim Angenehmen hierüber gar nicht die Frage sein kann, indem das Wort jederzeit etwas bedeutet, was unmittelbar gefällt. (Eben so ist es auch mit dem, was ich schön nenne, bewandt)“ (KU 5:208.7– 11; vgl. 29:891 f.11 ff.). Kants Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Wohlgefallen lässt sich auf zwei Weisen verstehen. Zunächst könnten wir den Ausdruck ‚unmittelbares Wohlgefallen‘ lediglich negativ verstehen. Etwas gefällt uns unmittelbar, wenn es uns zwar gefällt, aber nicht als bloßes Mittel zu etwas Anderem. Nicht nur das moralisch Gute, sondern auch das Schöne und das Angenehme gefallen uns also unmittelbar, d. h. nicht als bloßes Mittel. Wir könnten aber auch davon ausgehen, dass Kants Unterscheidung mit einer gehaltvollen Aussage verbunden ist. Im Gegensatz zum mittelbaren Wohlgefallen ist das unmittelbare Wohlgefallen notwendig mit einem Lustzustand verbunden. Für letztere Lesart scheint mir folgende Tatsache zu sprechen: Wenn Kant das Wohlgefallen am Guten mit einem Gefühl assoziiert, so ist es das moralische Gefühl der Achtung. Das Wohlgefallen, so Kant zum Beispiel im § 5, bezieht sich „in den drei genannten Fällen auf Neigung, oder Gunst, oder Achtung“ (KU 5:210.15 f.). Im Unterschied hierzu geht Fricke davon aus, dass auch das Wohlgefallen am Nützlichen eine Lust ist, die, ähnlich wie die Achtung für das Sittengesetz, „in einer begrifflichen Einsicht“ gegründet ist (Fricke 1990, 15). Gerade diese Beschreibung scheint mir eher dafür zu sprechen, dass das Wohlgefallen am Nützlichen nicht notwendig eine Lust beinhaltet. Denn wäre dies der Fall, so müssten wir zeigen können, wie eine theoretische oder begriffliche Einsicht zu einem Gefühl führt. Dies ist Kant zufolge aber nur in einem einzigen Fall möglich, nämlich im Fall des moralischen Gefühls (vgl. EE 20:229.27 ff.; vgl. KU 5:211.30 ff.). Schließlich fasst Kant seine Theorie des lustbezogenen Wohlgefallens am Beginn der „Allgemeine[n] Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflectirenden Urtheile“ (KU 5:266.18 f.) auf folgende Weise zusammen: „In Beziehung auf das Gefühl der Lust ist ein Gegenstand entweder zum Angenehmen, oder Schönen, oder Erhabenen, oder Guten (schlechthin) zu zählen (iucundum, pulchrum, sublime, honestum)“ (KU 5:266.20 – 22). Kant verweist hier also nur auf das schlechthin Gute und nicht auf das Nützliche.
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genehm und, in komplexeren Fällen, als „anmuthig, lieblich, ergötzend, erfreulich u. s. w.“ (KU 5:206.3). Das Angenehme, schreibt Kant ebenfalls in der Kritik der Urteilskraft, stellt den „Gegenstand lediglich in Beziehung auf den Sinn“ vor (KU 5:208.2).¹⁰⁴ Kant spricht sogar von einem „Beurtheilungsvermögen in Ansehung des Angenehmen überhaupt“ (KU 5:213.12), dem allerdings „nur generale (wie die empirischen alle sind), nicht universale Regeln“ (KU 5:213.16 f.) zugrunde liegen. Diese sehr schwache Form von Objekt-Referenz im sinnlichen Gefühl ist für Kant durchaus mit der Tatsache vereinbar, dass die Lust am Angenehmen, wie jede Lust, subjektiv ist. Die Objekt-Referenz im sinnlichen Gefühl scheint darüber hinaus auch unabhängig davon zu sein, ob die entsprechenden ästhetischen Urteile privat- oder allgemeingültig sind.Wenn eine Person sagt: „der Canariensect ist angenehm“, so sollte sie lieber sagen: „er ist mir angenehm“ (KU 5:212.12 ff.). Doch dies ändert nichts darin, dass diese Person den Kanariensekt und nicht etwa nur ihren inneren Zustand angenehm findet.¹⁰⁵ Wenn sich bei uns anlässlich der Vorstellung eines Gegenstandes ein Lustzustand einstellt, dann werden wir uns nicht nur eines durch die Vorstellung ausgelösten inneren Vorgangs bewusst. Vielmehr haben wir zugleich eine Lust an dem vorgestellten Gegenstand, d. h. wir betrachten in dieser Lust den vorgestellten Gegenstand auf eine bestimmte Weise. Kants Redeweise vom ‚unmittelbaren Wohlgefallen‘, das wir am Angenehmen, Schönen, Erhabenen und an sich Guten nehmen, deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Betrachtungsweise letztlich um eine evaluative Einstellung handelt. Wenn wir an etwas eine Lust haben, so be-
104 Schon in der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant von den „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als der Materie des Begehrungsvermögens“ (KpV 5:24.37 f.; vgl. hierzu Kap. 4, § 6). 105 Zur Subjektivität bzw. Privatgültigkeit ästhetischer (Sinnen‐)Urteile vgl. Kap. 4, § 5. – Dass ein ästhetisches Sinnenurteil bloß privatgültig ist, bedeutet nicht notwendig, dass der Gegenstand der Vorstellung in diesem Urteil keine Rolle spielt. Vielmehr folgt das Urteil anderen Diskursregeln als ein Erkenntnisurteil oder ein Geschmacksurteil. So berechtigt mich etwa die Tatsache, dass ich etwas angenehm finde, nicht dazu, dieses Wohlgefallen jemand anderem ‚zuzumuten‘ (vgl. KU 5:211 ff.), und es macht zugleich, ähnlich wie im Fall des Wohlgefallens am Schönen, auch wenig Sinn, mit anderen über die Frage zu diskutieren, ob etwas angenehm ist (vgl. KU 5:338). – In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen, die Ginsborg über die Subjektivität des Geschmacks anstellt (vgl. Ginsborg 1998). Ginsborg zufolge ist Kants These von der Subjektivität des Schönheitsgefühls mit der Tatsache vereinbar, dass sich die Schönheit des Gegenstandes in der ästhetischen Erfahrung als eine Eigenschaft präsentiert, die ihm unabhängig von meiner Erfahrung zukommt. „Kant’s claim is not that aesthetic experience fails to present itself phenomenologically as awareness of some quality in the object that is independent of the experience. Rather, it is that the quality apparently perceived in the experience is not in fact independent of it“ (Ginsborg 1998, 461; vgl. 458 ff.; Näheres zu dieser Deutung vgl. Kap. 4, § 5).
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
deutet dies, dass es uns auf eine affektive Weise unmittelbar gefällt, d. h. dass wir es nicht nur als ein bloßes Mittel wertschätzen. Dies scheint selbst dann zu gelten, wenn wir – wie im Fall des angenehmen, aber auch des schönen Gegenstandes – keine vernünftigen Gründe für unsere Wertschätzung des Gegenstandes ins Feld führen können. Wir mögen einen angenehmen Gegenstand, z. B. das Pfeiferauchen, für gesundheitsschädlich halten und es uns vielleicht sogar verbieten, derartigen Beschäftigungen allzu häufig nachzugehen. All dies ändert nichts daran, dass uns der angenehme Gegenstand in der Lust gefällt und dass wir uns in ihr sozusagen über seine Anwesenheit freuen. Man könnte also zusammenfassend sagen, dass für Kant jede Lust zugleich einen kausalen und einen evaluativen Aspekt hat. Einerseits ist jede Lust ein Lustzustand; in der Lust werden wir uns eines zugrunde liegenden inneren Vorgangs bewusst, der wesentlich von der Vorstellung eines Gegenstandes ausgelöst wurde (kausaler Aspekt der Lust). Andererseits handelt es sich bei einer Lust aber auch um eine Lust-an-etwas. In der Lust werden wir uns der Tatsache bewusst, dass uns der vorgestellte Gegenstand selbst unmittelbar gefällt (evaluativer Aspekt der Lust). – Dieser Aspektunterscheidung entsprechend können wir auch zwei Funktionen unterscheiden, die der zugrunde liegenden Fähigkeit, also dem Gefühl der Lust und Unlust, zukommen. Zum einen befähigt uns das Gefühl dazu, anlässlich einer Vorstellung Lust- und Unlustzustände zu haben; zum anderen spielt es eine wichtige Rolle, wenn wir Gegenstände daraufhin beurteilen, ob sie uns unmittelbar gefallen oder nicht gefallen. Tatsächlich scheint Kant selbst an einigen Stellen eine derartige Unterscheidung zwischen zwei Funktionen des Gefühls zu treffen. So beginnt er die Kritik der ästhetischen Urteilskraft mit folgender Aussage: „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Object zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subject und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben“ (KU 5:203.9 ff.).
An dieser Stelle geht es Kant darum zu zeigen, dass das ästhetische Urteil kein Erkenntnisurteil ist. In einem solchen Urteil beziehen wir die Vorstellung nicht auf das Objekt ‚zum Erkenntnisse‘, sondern auf das Subjekt und dessen Gefühl der Lust oder Unlust. Die Vorstellung wird hier, wie Kant wenig später ausführt, „gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen“ (KU 5:204.7 ff.). Die Funktion, die Kant dem Gefühl der Lust und Unlust hier zuschreibt, scheint also darin zu bestehen, dass wir uns im Gefühl anlässlich einer Vorstellung auf unmittelbare Weise der Beförderung oder Behinderung unserer lebendigen Aktivität bewusst
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werden können. Das Gefühl der Lust und Unlust ist ein „Lebensgefühl“, welches ein Bewusstsein der mit dem Vorstellen verbundenen Aktivitätssteigerung ermöglicht. Es ist diese Funktion des Gefühls, auf welcher der Lustzustand beruht. Doch dieses ‚Beziehen-der-Vorstellung-aufs-Subjekt‘ dient als eine Art Vehikel für eine andere Funktion.Wir beziehen die Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust, „[u]m zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht“ (KU 5:203.9). Die Tatsache, dass wir eine Vorstellung auf das Lebensgefühl beziehen können, gründet „ein ganz besonderes Unterscheidungs- und Beurtheilungsvermögen“ (KU 5:204.9 f.). Es geht also nicht nur darum, dass sich anlässlich einer Vorstellung ein Lust- oder Unlustzustand einstellt. Vielmehr dient das Eintreten solcher Zustände anlässlich einer Vorstellung als eine Art Unterscheidungsinstrument für schöne und nicht-schöne Gegenstände.¹⁰⁶ In einem ähnlichen Sinn spricht Kant, wie bereits angeführt, vom sinnlichen Geschmack als einem „Beurtheilungsvermögen in Ansehung des Angenehmen überhaupt“ (KU 5:213.12). Der sinnliche
106 Allison bezeichnet aufgrund der angeführten Stelle das Gefühl der Lust und Unlust ebenfalls als ein „Vermögen der Unterscheidung und Beurteilung“ („faculty of discrimination and appraisal“, Allison 2001, 70). Unter dieser Rücksicht ist das Gefühl für Allison kein rein passives, sondern ein aktives Vermögen: „[…] [F]eeling, so construed, is not a mere receptivity, but an active faculty“ (Allison 2001, 69). Dabei scheint es Allison allerdings in erster Linie um die Lust am Schönen zu gehen, durch die wir Allison zufolge eine Vorstellung daraufhin beurteilen, ob sie zu einer gesteigerten Aktivität unserer Vorstellungskräfte führt: „[…] [W]hat is judged or, better, appraised aesthetically through this faculty is the capacity of a representation to occasion an enhancement or diminution of one’s cognitive faculties in their cooperative activity“ (Allison 2001, 69). – Zwei Anmerkungen hierzu: Erstens bin ich mir nicht sicher, ob Allison recht hat, wenn er das Gefühl qua Beurteilungsvermögen als ein aktives Vermögen bezeichnet. Schließlich betont Kant immer wieder, dass das Gefühl eine passive „Fähigkeit“ bzw. eine „Empfänglichkeit“ ist (vgl. KU 5:177.17– 20; EE 20:208.14 f.; 20:222.9 – 11; Anth 7:153.28; MS 6:211.10 – 12; sowie Kap. 1, § 1). Darüber hinaus wird die Idee eines rein passiven Beurteilungsvermögens auch eher unserer Erfahrung gerecht, der zufolge uns im Gefühl die Gegenstände unserer Vorstellungen ganz unweigerlich gefallen oder missfallen. Ein zweiter Punkt besteht in der schwierigen Frage, ob die Lust am Schönen zur Beurteilung der Vorstellungen oder der Objekte dieser Vorstellungen dient. Die angeführte Stelle legt eher die zuletzt genannte Alternative nahe; es geht darum „zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht“ (KU 5:203.9). Kant scheint aber an mehreren Stellen zwischen beiden Alternativen zu schwanken, wenn er etwa bemerkt, dass wir im Gefühl bzw. im Geschmacksurteil „Gegenstände oder Vorstellungsarten von einander unterscheiden“ (KU 5:210.1– 2; vgl. 5:221.2– 4; 5:223.31). Vielleicht betrifft diese Formulierung aber auch den Unterschied zwischen Naturschönheit und Kunstschönheit: „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge“ (KU 5:311.14 f.). Die Beurteilung des Kunstschönen ist folglich keine Beurteilung eines Gegenstandes, sondern einer Vorstellung. Allerdings ist damit keine mentale Repräsentation, sondern lediglich die Darstellung („Vorstellung“) eines schönen Dinges gemeint (z. B. im Gemälde oder in der Dichtung).
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Geschmack bzw. das sinnliche Gefühl befähigt uns dazu, angenehme und unangenehme Gegenstände voneinander zu unterscheiden. Dass dem Gefühl der Lust und Unlust Kant zufolge tatsächlich beide Funktionen zukommen, zeigt eine sehr allgemeine Aussage Kants über die drei grundlegenden Arten des unmittelbaren Wohlgefallens: „Das Angenehme, das Schöne, das Gute bezeichnen also drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust, in Beziehung auf welches wir Gegenstände oder Vorstellungsarten von einander unterscheiden“ (KU 5:209 f.29 ff.).
Den drei Formen des unmittelbaren Wohlgefallens entsprechen drei unterschiedliche Lustzustände, die Kant als „drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust“ bezeichnet. Den drei Formen des Wohlgefallens – so könnte man diese Formulierung deuten – liegt jeweils eine spezifische Struktur der Beförderung lebendiger Aktivität zugrunde, derer wir uns vermittelst unserer Fähigkeit zu Lust- und Unlustzuständen bewusst werden können. Dies ist allerdings nicht die einzige Funktion, die Kant dem Gefühl der Lust und Unlust an dieser Stelle zuschreibt. Das Gefühl dient darüber hinaus dazu, Gegenstände oder Vorstellungsarten voneinander zu unterscheiden. Auch diese Funktion beschreibt Kant als ein Verhältnis, nämlich als eine Art Betrachtungsoder Beurteilungsrücksicht: Wir unterscheiden, schreibt Kant, Gegenstände oder Vorstellungsarten „in Beziehung auf“ (KU 5:209 f.30 f.) das Gefühl der Lust und Unlust.¹⁰⁷ Man kann diese letztere Funktion des Gefühls der Lust und Unlust mit der Fähigkeit vergleichen, rechts und links voneinander zu unterscheiden.Wie im Fall des Gefühls der Lust und Unlust spricht Kant sinnigerweise vom ‚Gefühl der rechten und linken Hand‘ (vgl. Orientieren 8:134.31 ff.).¹⁰⁸ Dieses Gefühl liegt nun in folgendem Sinn der Unterscheidung zwischen Gegenden im Raum, nämlich zwischen Westen und Osten zugrunde: Wenn ich mich etwa an einem Kompass orientiere, so kann ich die westliche und östliche Seite der Nord-Süd-Achse nur unterscheiden, weil ich „das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen
107 Diese Funktion des Gefühls der Lust und Unlust kommt in einigen anderen Aussagen Kants zum Ausdruck: Wenn der Begriff des Guten (eines begehrten Gegenstandes) dem moralischen Gesetz vorausginge, dann könnte „der Probirstein des Guten oder Bösen in nichts anders, als in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden“ (KpV 5:63.16 ff.). Das Gesetz wäre in diesem Fall „nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes der Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV 5:64.11 ff.). Um ein Geschmacksurteil zu fällen, muss ich „den Gegenstand unmittelbar an mein Gefühl der Lust und Unlust halten“ (KU 5:215.15 f.). 108 Vgl. hierzu Strobach, Art. „Hand, rechte und linke“; Art. „Gegenden im Raum“.
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Subject, nämlich der rechten und linken Hand“ zugrunde lege (Orientieren 8:134.32 f.). Selbst der Astronom muss daher nicht nur darauf achten, „was er sieht“, sondern auch darauf, „was er fühlt“ (Orientieren 8:135.16 f.). Das zugrunde liegende Gefühl von Rechts und Links basiert nun nicht auf einem Bewusstsein inneren Erlebens – es gibt keine inneren Rechts- und Linkszustände. Trotzdem hat es eine Ähnlichkeit zum Gefühl der Lust und Unlust. Es befähigt mich Gegenstände oder „Gegenden“ im Rekurs auf einen „subjectiven Unterscheidungsgrund“ voneinander zu unterscheiden, ohne ihnen objektive Qualitäten zuzuschreiben. So schreibt Kant: „Ich nenne es ein Gefühl: weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen“ (Orientieren 8:134 f.33 ff.). Kants Redeweise vom ‚Gefühl‘ der rechten und linken Hand ist nicht ganz einfach zu explizieren. Sie scheint jedenfalls nicht einfach auf seiner These zu beruhen, dass der Raum eine subjektive Form der Anschauung ist. So weist Strobach darauf hin, dass sich die Redeweise vom Gefühl der rechten und linken Hand schon in der vorkritischen Schrift über den Unterschied der Gegenden im Raum findet, in der Kant offensichtlich noch von der Existenz des absoluten Raums ausgegangen ist.¹⁰⁹ Unabhängig von dieser exegetischen Fragestellung lässt sich der evaluative Aspekt von Lust und Unlust aber durchaus mit der egozentrischen Raumwahrnehmung vergleichen. Im egozentrischen Raum präsentieren sich die Dinge selbst unmittelbar als vor mir, links von mir, rechts von mir, usw. Um eine derartige Wahrnehmung zu haben, muss ich nicht erst meinen objektiven Standort im Raum ermitteln und ihn dann zum objektiven Ort der Dinge in Beziehung setzen (vgl. Evans 1982, 155). Gleichwohl bin ich mir in der egozentrischen Raumwahrnehmung der Tatsache bewusst, dass sich die Dinge nicht unabhängig von meinem eigenen Standort links oder rechts im Raum befinden. Hier ergeben sich nun mindestens zwei Vergleichspunkte zum Wohlgefallen im Gefühl einer Lust. So erlebe ich z. B. im sinnlichen Gefühl einige Dinge unmittelbar als für mich angenehm, ohne dass ich hierzu erst von meinem eigenen Gefühlszustand ausgehen und dann die Dinge als Ursache dieses Zustandes identifizieren müsste. Ich bin mir aber gleichwohl der Tatsache bewusst, dass die Dinge nicht unabhängig von meinem Zustand angenehm oder unangenehm sind. Ein zweiter Vergleichspunkt zwischen egozentrischer Raumwahrnehmung und Fühlen ergibt sich aus der Rechtfertigung, die Kant für seine Redeweise vom „Gefühl der rechten und linken Hand“ gibt: „Ich nenne es ein Gefühl: weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen“ (Orientieren 8:134 f.33 ff.). In der egozentrischen Raumwahrnehmung unterscheide
109 Vgl. Gegenden 2:380.27 f. sowie Strobach, Art. „Gegenden im Raum“.
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
ich die Gegenstände der Anschauung im Hinblick darauf, ob sie sich z. B. links oder rechts von mir befinden. Doch dieser Unterscheidung entspricht kein materialer Gehalt in meiner Vorstellung des Gegenstandes. Mir präsentiert sich das Links-Sein oder Rechts-Sein in der Vorstellung eines räumlichen Gegenstandes nicht im gleichen Sinn wie seine wahrnehmbaren Qualitäten, also etwa seine Farbe oder seine Gestalt. Ähnliches scheint Kant zufolge auch für das Gefühl zu gelten. Im Gefühl kann ich einen Gegenstand angenehm finden, doch im Unterschied zu dessen Farbe oder Gestalt präsentiert sich mir dieses Angenehm-Sein nicht als Qualität des Gegenstandes. Die Idee eines evaluativen Lustaspekts ist allerdings auch mit mindestens zwei Problemen verbunden, auf die ich an dieser Stelle nur hinweisen möchte. Dieser Idee zufolge hat die Erfahrung einer Lust im Grunde die innere Struktur einer evaluativen Beurteilung des Objekts der Vorstellung. Eine Lust an einem vorgestellten Gegenstand oder an einer Handlung zu haben bedeutet, diesen Gegenstand als angenehm, als schön, als an sich gut usw. zu betrachten. Das erste Problem dieser Idee besteht nun in der Frage, wie sich Kant zufolge dieser Urteilsaspekt der Lust zu unserer Lusterfahrung (also zu dem Lustzustand und seiner Entstehung im menschlichen Gemüt) verhält. Bis zu diesem Punkt habe ich lediglich von ‚Aspekten‘ gesprochen, und dies entspricht der Tatsache, dass Kant im Grunde beide Phänomene als Lust bezeichnet. Nun drängt sich aber doch die Annahme auf, dass die Einstellung, die ich als ‚Lust-an-etwas‘ charakterisiert habe, wesentlich komplexer als ein bloßer Lustzustand strukturiert ist. Im Unterschied zu letzterem hat die Lust-an-etwas für Kant eine prädikative Struktur – wir beurteilen etwas als angenehm, als schön usw. Darüber hinaus scheinen auch anspruchsvolle theoretische Fähigkeiten in diese Einstellung einzugehen. Denn in der Regel betrachten wir in der Lust-an-etwas den lustvollen Gegenstand bereits unter einer bestimmten theoretischen Beschreibung (wenn wir z. B. den Kanariensekt im Geschmack angenehm finden). Eine Lösung dieses Problem setzt eine ausführliche Diskussion von Kants Theorie des ästhetischen Urteils voraus, und aus diesem Grund verschiebe ich seine Erörterung auf das folgende Kapitel (vgl. Kap. 3, § 4). Das zweite Problem ergibt sich hingegen aus der Anwendung der Idee eines evaluativen Lustaspekts auf einen speziellen Fall, nämlich auf die moralische Lust am Guten. So könnte man sich fragen, ob diese Lust für Kant überhaupt eine evaluative Rolle spielen kann. Kant selbst scheint dies auszuschließen, wenn er im dritten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft schreibt, dass das moralische Gefühl „nicht zur Beurtheilung der Handlungen“, sondern lediglich zur
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„Triebfeder“ für die Annahme einer moralischen Maxime dient (KpV 5:76.17 ff.).¹¹⁰ Dies führt nun zu der Frage, welche Rolle das Gefühl der Lust und Unlust bei der Unterscheidung zwischen Gutem und Bösem noch übernehmen könnte. Tatsächlich gilt Kants Satz, dass wir Gegenstände oder Vorstellungsarten durch das Gefühl der Lust und Unlust unterscheiden, auch für das Gute; auch dieses bezeichnet ein Verhältnis der Vorstellungen „zum Gefühl der Lust und Unlust, in Beziehung auf welches wir Gegenstände oder Vorstellungsarten von einander unterscheiden“ (KU 5:209 f.30 ff.). Eine genaue Diskussion dieser Frage setzt die Untersuchung des Verhältnisses zwischen der moralischen Beurteilung und dem daraus resultierenden moralischem Gefühl der Achtung für das Sittengesetz voraus (vgl. Kap. 5). Im fünften Kapitel werden wir sehen, dass das moralische Gefühl zumindest eng mit unserer intellektuellen Beurteilung des an sich Guten und Bösen verbunden ist. Kant zufolge resultiert das moralische Gefühl aus der besonderen Form moralischer Gründe. Die Gründe, die wir im Rekurs auf die formale Beschaffenheit einer Maxime ins Feld führen, fungieren nicht einfach nur als Gründe dafür, dass eine Handlung an sich gut oder böse ist. Sie schließen zugleich alle anderen möglichen Gründe aus, die nicht auf die formale Beschaffenheit der Maxime rekurrieren und die wir aber gleichwohl bei der praktischen Beurteilung der Handlung erwägen. Es ist dieser Sachverhalt in der moralisch-praktischen Beurteilung unserer Handlungen, der ein moralisches Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz beinhaltet. Das moralische Gefühl spielt also nicht die Rolle eines Unterscheidungskriteriums. Aber es ist eng damit verbunden, wie das moralische Gesetz als das eigentliche und einzige Kriterium zur Unterscheidung von bösem und gutem Handeln funktioniert. Zum Schluss möchte ich die Ergebnisse meiner Untersuchung von Kants Definition der praktischen Lust zusammenfassen. Kant zufolge hat die praktische Lust, wie jede Lust, sowohl einen kausalen als auch einen evaluativen Aspekt. Betrachtet man zunächst den kausalen Aspekt dieser Lust, so handelt es sich um das Bewusstsein eines inneren Vorgangs, der in einem kausalen Zusammenhang zur Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens steht (also der Tatsache, dass die Vorstellung eines Gegenstandes die für das Begehren charakteristische Rolle
110 Zur Unterscheidung zwischen dem an sich Guten und Bösen – Kant spricht von der „Beurtheilung des an sich Guten und Bösen“ (KpV 5:62.8) – dienen nicht subjektive Lustzustände, sondern die objektiven Begriffe des Guten und Bösen, denen ihrerseits das moralische Gesetz zugrunde liegt (vgl. KpV 5:65 f.). Der „Probirstein des Guten und Bösen“ läge Kant zufolge nur dann in der „Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust“ (KpV 5:63.16 ff.), wenn die moralische Willensbestimmung auf dem Begriff eines Gegenstandes beruhen würde, den wir durch unser Handeln realisieren sollen.
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2. Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft
erhält). Im Fall der sinnlichen Lust besteht dieser Vorgang wesentlich in einer durch die Vorstellung eines Gegenstandes ausgelösten Aktivitätssteigerung (der Beförderung unserer körperlichen Kräfte). Diese Aktivitätssteigerung führt dazu, dass die Vorstellung des Gegenstandes die für das Begehren charakteristische Rolle erhält und wir in einer Begierde dazu angetrieben werden den Gegenstand zu realisieren. Auch die moralische Lust besteht wesentlich in dem Bewusstsein einer gesteigerten Aktivität (der indirekten Beförderung unserer vernunftbezogenen Aktivität). Im Unterschied zur sinnlichen Lust ergibt sich diese Aktivität allerdings als Wirkung aus der Aktualisierung unseres (oberen) Begehrungsvermögens. In der moralischen Willensbestimmung werden wir zur Realisierung des Guten und damit zugleich zu einem spezifischen Handeln angetrieben, und dies führt Kant zufolge zu einer indirekten Beförderung der vernunftbezogenen Aktivität. Der evaluative Aspekt der praktischen Lust („Lust-an-etwas“) ergibt sich hingegen daraus, dass wir das Bewusstsein dieses inneren Vorgangs auf den Inhalt unserer Vorstellung beziehen. Die praktische Lust ist wesentlich eine Lust an einem vorgestellten Gegenstand oder an einer vorgestellten Handlung. Dies bedeutet, dass uns in dieser Lust der Gegenstand oder die Handlung unmittelbar, d. h. nicht bloß als Mittel, gefällt und wir den Gegenstand oder die Handlung in diesem Sinn wertschätzen. Im Fall der sinnlichen Lust empfinden wir eine Lust oder ein unmittelbares Wohlgefallen am Gegenstand und betrachten diesen als angenehm. Im Fall der moralischen Lust nehmen wir hingegen ein unmittelbares Wohlgefallen an der Handlung und betrachten diese Handlung als an sich gut. In beiden Fällen dient uns der innere Vorgang, welcher unserer Lust qua Lustzustand zugrunde liegt, als eine Art subjektives Kriterium oder als eine subjektive Betrachtungsrücksicht. In der praktischen Lust beurteilen wir folglich Gegenstände oder Handlungen nicht im Hinblick auf ihre objektiven Eigenschaften, sondern vor dem Hintergrund unseres subjektiven Vorstellungslebens.
3. Lust als subjektive Einheit des Lebens Im vorangegangenen Kapitel habe ich Kants Definition der praktischen Lust in der Kritik der praktischen Vernunft untersucht. Dabei ging es vor allem um das wesentliche Merkmal einer praktischen Lust sowie um die spezifischen Unterschiede, die zwischen den beiden Formen dieser Lust bestehen. Im Zentrum dieses Kapitels wird nun die Frage stehen, was wir Kant zufolge ganz allgemein über die Lust sagen können. Was ist eine Lust und auf welche Weise entsteht sie? Einen geeigneten Ansatzpunkt zur Klärung dieser Frage stellen die beiden Definitionen der Lust dar, die Kant in der Ersten Einleitung sowie in der Kritik der Urteilskraft präsentiert (vgl. EE 20:230 f.11 ff.; KU 5:220.9 – 12). Diese Definitionen sollen das gemeinsame Merkmal aller Lustformen angeben. Dieses Merkmal besteht darin, dass der Lust ein Zustand zugrunde liegt, der zu seiner eigenen Erhaltung tendiert. In einer Lust, so meine These im ersten Abschnitt dieses Kapitels, tendiert eine lebendige Aktivität, die als solche wesentlich mit dem Vorstellen verbunden ist, zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung (§ 1). Damit stellt sich allerdings die grundlegende Frage, ob und wie sich diese allgemeine Beschreibung der Lust auf die praktische Lust und ihre beiden Formen übertragen lässt. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die allgemeinen Bedingungen angeben, die erfüllt sein müssen, damit eine Aktivität zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert. In der Kritik der Urteilskraft hat sich Kant nicht explizit zu diesem Problem geäußert. Er hat stattdessen die Idee der Zustandserhaltung lediglich auf die Lust am Schönen angewandt, der die wechselseitige Beförderung der Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel und damit ein sich selbst aufrechterhaltender Zustand zugrunde liegt. Die Frage, wie sich die Idee der Zustandserhaltung auf die praktische Lust übertragen lässt, ist also bestenfalls indirekt zu beantworten. Wir müssen ein allgemeines Merkmal des freien Spiels der Erkenntniskräfte ausfindig machen, welches sich auf den Aktivitätszustand in einer praktischen Lust übertragen lässt. Eine derartige Strategie liegt dem Vorschlag von Stephen Engstrom zugrunde, den ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels diskutiere (vgl. Engstrom 2007). Engstrom zufolge besteht das allgemeine Merkmal eines lusterzeugenden Aktivitätszustandes in der Struktur wechselseitiger Beförderung von Kräften oder Vermögen. Während sich in der Lust am Schönen zwei Erkenntnisvermögen wechselseitig in ihrer Aktivität befördern, liegt der praktischen Lust Engstrom zufolge eine wechselseitige Beförderung der Aktivitäten des Erkenntnis- und des Begehrungsvermögens zugrunde. Obwohl ich die Grundstrategie Engstroms überzeugend finde, kann ich diesem Vorschlag aus drei Gründen nicht zustimmen. Es ist nämlich erstens nicht leicht zu verstehen, in welchem Sinn in der praktischen Lust die Aktivität unseres Erkenntnisvermögens als solche befördert
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3. Lust als subjektive Einheit des Lebens
werden kann. Zweitens liegt zumindest der praktischen Lust am Angenehmen nicht nur die Aktivität von Gemütsvermögen, sondern mindestens auch eine Steigerung unserer körperlichen Lebenskräfte zugrunde. Drittens läuft Engstroms Verweis auf die wechselseitige Beförderung Gefahr, die praktische Lust unter der Hand in eine kontemplative Lust zu verwandeln (§ 2). Im dritten Abschnitt entwickle ich daher ausgehend von einer Analogie zwischen der Lust am Angenehmen und der Lust am Schönen eine alternative Antwort auf die Frage, welche Bedingungen eine Aktivität erfüllen muss, die in einer Lust zu ihrer eigenen Erhaltung tendiert. In der Lust, so die Grundidee, werden Kräfte befördert, deren Einsatz zugleich eine subjektive Bedingung für die Ausübung eines Grundvermögens des menschlichen Gemüts darstellt. So liegt etwa der Lust am Schönen die wechselseitige Beförderung von Einbildungskraft und Verstand in ihrem freien Spiel zugrunde; zugleich ist der Einsatz dieser beiden Kräfte eine subjektive Bedingung für die Ausübung des Erkenntnisvermögens in theoretischen Urteilen. Bei der sinnlichen Lust am Angenehmen verhält es sich nun ähnlich. In diesem Fall werden die körperlichen Lebenskräfte des Subjekts befördert, deren Anwendung zugleich eine Bedingung für die Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen (körperlichen) Handeln darstellt. Wesentlich für diesen Aktivitätszustand in einer Lust ist ferner die Tatsache, dass wir ihn nicht absichtlich hervorbringen und in diesem Sinn auch nicht kontrollieren können. Ferner muss dieser Aktivitätszustand auch an sich selbst keine Struktur von Harmonie oder wechselseitiger Beförderung aufweisen. Die Struktur dieses Aktivitätszustandes ergibt sich vielmehr aus dem teleologischen Verhältnis, das zwischen den hierin gesteigerten Kräften und unserer absichtlichen Aktivität in theoretischen Urteilen und beim praktischen Handeln besteht. So werden wir uns in der Lust am Angenehmen eines körperlichen Zustandes der Vitalität bewusst; in der sinnlichen Lust erleben wir diesen Zustand als allgemein zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen Handeln. Dieses Bewusstsein unserer Vitalität richtet sich also letztlich auf die Bedingungen, die für die Erhaltung unseres Lebens – die Erhaltung unserer praktischen Aktivität – erfüllt sein müssen. Aufgrund dieser Tatsache tendieren wir in der sinnlichen Lust unweigerlich dazu, die fragliche Aktivität aufrechtzuerhalten (§ 3). Aus diesen Überlegungen zur Entstehung der Lust wird sich am Schluss des Kapitels auch eine Antwort auf eine der beiden Fragen ergeben, die ich am Ende des zweiten Kapitels noch offen lassen musste. Dort habe ich für die These argumentiert, dass für Kant die Erfahrung einer Lust im Grunde die innere Struktur einer evaluativen Beurteilung des Objekts einer Vorstellung hat (vgl. Kap. 2, §§ 4 f.). Eine Lust an einem vorgestellten Gegenstand zu haben bedeutet nach Kant, dass wir den Gegenstand als angenehm, als schön usw. beurteilen. Damit stellt sich
§ 1 Die Idee der Zustandserhaltung
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allerdings die Frage, wie sich dieser evaluative Aspekt der Lust (also die Lust-anetwas) zu dem entsprechenden psychischen Zustand (also dem Lustzustand) verhält. Im vierten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich eine Antwort auf diese Frage entwickeln, indem ich die vorgestellten Überlegungen zur Entstehung der Lust in Beziehung zu Kants Aussagen über das ästhetische Urteil setze. Denn bei einem ästhetischen Urteil handelt es sich gerade um jene Einstellung, in der wir einen Gegenstand der Wahrnehmung als angenehm, als schön usw. beurteilen. Dabei wird sich zeigen, dass die Zustände, die Kant zufolge eine Rolle bei der Entstehung einer Lust spielen, zugleich die wesentlichen Elemente eines ästhetischen Urteils ausmachen. Das ästhetische Urteil ist für Kant also im Grunde nichts anderes als jener Prozess in unserem Gemüt, bei dem sich anlässlich einer Vorstellung bei uns ein Zustand gesteigerter Aktivität und damit auch ein Lustzustand einstellt (§ 4).
§ 1 Die Idee der Zustandserhaltung Im § 10 der Kritik der Urteilskraft definiert Kant die Lust auf folgende Weise: (L1) „Das Bewußtsein der Causalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjects, es in demselben zu erhalten, kann hier im Allgemeinen das bezeichnen, was man Lust nennt“ (KU 5:220.9 – 12).
Diese Definition der Lust unterscheidet sich schon auf den ersten Blick von der Definition der praktischen Lust in der Kritik der praktischen Vernunft. Zwar rekurriert Kant auch hier auf die Aktivität eines lebendigen Wesens, nämlich auf die kausale Rolle einer Vorstellung. Doch die Kausalität der Vorstellung zielt nicht auf das Hervorbringen eines Objekts oder das Ausführen einer Handlung, sondern auf die Erhaltung des Zustandes, in dem das Subjekt sich befindet. Ferner werden in der Definition L1 die vorgestellten Inhalte nicht thematisiert. Im Unterschied zur Definition der Lust aus der Kritik der praktischen Vernunft geht es hier also nicht um den evaluativen Lustaspekt, d. h. um die ‚Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens‘. Definiert wird vielmehr die Lust im Sinne eines Lustzustandes, d. h. als ein inneres Bewusstsein, das mit dem Vorstellen von Inhalten verbunden ist (vgl. Kap. 2, §§ 4 f.). Damit stellt sich die Frage, ob die Definition L1 überhaupt die praktische Lust umfasst oder ob sie sich nur auf die kontemplative Lust am Schönen bezieht. Hierzu müssen wir offenkundig genauer verstehen, in welchem Sinn Kant in dieser Definition von einem Zustand spricht, in dem das Subjekt erhalten werden soll. So könnten wir z. B. davon ausgehen, dass die Tendenz zur Erhaltung eines Zustandes
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3. Lust als subjektive Einheit des Lebens
unter bestimmten Umständen eng mit der Tendenz zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist. Es wäre zum Beispiel denkbar, dass wir das vorgestellte Objekt hervorbringen müssen, um unseren Zustand zu erhalten. Die Tendenz der Vorstellung zur Zustandserhaltung würde hier also dazu führen, dass die Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. In diesem Zusammenhang ist die Definition der Lust aufschlussreich, die wir im Abschnitt VIII der Ersten Einleitung finden. Denn Kant zufolge soll diese Definition ganz explizit alle Formen der Lust umfassen. Kant möchte eine „Erklärung dieses Gefühls“ geben, „ohne auf den Unterschied zu sehen, ob es die Sinnesempfindung, oder die Reflexion, oder die Willensbestimmung begleite“ (EE 20:230.8 – 10). Der Wortlaut der Definition legt dann aber doch zumindest prima facie die Annahme nahe, dass nur die Lust am Schönen auf einer Tendenz zur Zustandserhaltung beruht: (L2) „Lust ist ein Zustand des Gemüths, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt, als Grund, entweder diesen blos selbst zu erhalten (denn der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst), oder ihr Object hervorzubringen“ (EE 20:230 f.11 ff.).
Im Unterschied zur Definition L1 charakterisiert Kant die Lust in dieser Definition als einen „Zustand“ (EE 20:230.11) und nicht als eine Form von „Bewußtsein“ (KU 5:220.9). Ferner handelt es sich um einen Zustand, in welchem „eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt“ (EE 20:230.12) – eine ziemlich dunkle Beschreibung, die ich später genauer diskutieren werde (vgl. Kap. 3, § 3). An diesem Punkt ist eine andere Beobachtung wichtig: Zwar ist in der Definition L2 nicht explizit von der Kausalität einer Vorstellung die Rede, doch immerhin soll hier das Zusammenstimmen der Vorstellung mit sich selbst der Grund für die Tendenz zur Zustandserhaltung oder zur Realisierung des vorgestellten Objekts sein. Kant unterscheidet also offenkundig zwei Fälle, in denen eine Lust vorliegt. Im ersten Fall geht es bloß um die Erhaltung des Zustandes, und Kants parenthetische Erläuterung macht klar, dass die kontemplative Lust gemeint ist, die aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte resultiert.¹¹¹ Anlässlich einer gegebenen Vorstellung befördern sich Einbildungskraft und Verstand gegenseitig in ihrer Aktivität, und aus diesem Grund erhält sich der Zustand dieser beiden Gemütskräfte selbst. Im zweiten Fall ist das Zusammenstimmen der Vorstellung mit sich selbst hingegen mit der Tendenz des Subjekts verbunden, die darauf zielt, das vorgestellte Objekt
111 Vgl. auch den anschließenden Verweis auf das ästhetische Reflexionsurteil: „Ist das erstere, so ist das Urtheil über die gegebene Vorstellung ein ästhetisches Reflexionsurtheil“ (EE 20:231.2 ff.).
§ 1 Die Idee der Zustandserhaltung
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hervorzubringen. Auch dieser Fall lässt sich eindeutig zuordnen. Gemeint ist die praktische Lust und die damit verbundene ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens.¹¹² Es wäre allerdings voreilig, aus dieser Fallunterscheidung den Schluss zu ziehen, dass die Tendenz zur Erhaltung eines Zustandes im zweiten Fall gar keine Rolle spielt. Kant zufolge geht es nämlich im ersten Fall „blos“ (EE 20:230.13) darum, den Zustand zu erhalten. Dies legt die Annahme nahe, dass es im zweiten Fall auch, aber nicht nur um die Selbsterhaltung des Zustands geht. Wenn diese Deutung stimmt, so kommt es in der praktischen Lust also tatsächlich zu der bereits angedeuteten Verbindung der beiden kausalen Tendenzen einer Vorstellung. Die Antriebe zur Erhaltung des Zustandes und zur Realisierung des Objekts sind in diesem Fall eng miteinander verbunden. Kant selbst legt eine derartige Sichtweise zumindest im Hinblick auf die sinnliche Lust nahe, wenn er in der Anthropologie die Idee der Erhaltung eines Zustandes auf Vergnügen und Schmerz anwendet.¹¹³ Tatsächlich lässt sich auch eine ziemlich einfache Erklärung dafür geben, warum Kant der Auffassung gewesen sein könnte, dass bei der sinnlichen Lust die Tendenzen zur Zustandserhaltung und zur Realisierung des Objekts eng miteinander verbunden sind. Der sinnlichen Lust liegt, wie Kant im § 3 in der Kritik der Urteilskraft erklärt, eine objektive Empfindung zugrunde (vgl. KU 5:205.26 f. sowie 5:206.26 f.). Eine objektive Empfindung beruht nun aber unmittelbar auf einer Affektion durch den Gegenstand und kann aus diesem Grund auch nur in Gegenwart des Gegenstandes aufrechterhalten werden. Wir müssen also die fortdauernde Gegenwart des Objekts sicherstellen, wenn wir die Empfindung erhalten wollen. Die selbsterhaltende Tendenz einer Empfindung führt also unweigerlich dazu, dass die Empfindung die für das Begehren charakteristische Rolle erhält und uns dazu antreibt, das Objekt der Empfindung zu realisieren.¹¹⁴
112 Vgl. auch den anschließenden Verweis auf das ästhetische Sinnenurteil sowie das moralische Urteil: „Ist aber das letztere, so ist es ein ästhetisch-pathologisches, oder ästhetischpractisches Urtheil“ (EE 20:231 f.4 f.). 113 „Was unmittelbar (durch den Sinn) mich antreibt meinen Zustand zu verlassen (aus ihm herauszugehen): ist mir unangenehm – es schmerzt mich; was eben so mich antreibt, ihn zu erhalten (in ihm zu bleiben): ist mir angenehm, es vergnügt mich“ (Anth 7:231.1 ff.; vgl. hierzu Zuckert 2007, 239 ff.). – Diese Definition des Angenehmen weist eine erstaunliche Ähnlichkeit zur Definition L1 auf. Dies spricht meines Erachtens gegen die These von Longuenesse, der zufolge sich die Definition L1 lediglich auf die kontemplative Lust bezieht (vgl. Longuenesse 2006, 198 f.). 114 Eine ähnliche Erklärung findet sich schon bei Engstrom 2007, 140 ff. Allerdings unterscheidet sich Engstroms Deutung in mindestens zwei Punkten von meiner Deutung. Erstens scheint Engstrom zufolge das Begehren keine Folge, sondern eher ein äußerer Aspekt der Tendenz zur Aufrechterhaltung des Zustandes zu sein. So schreibt er über die Lust am Angenehmen:
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3. Lust als subjektive Einheit des Lebens
Aus dieser Überlegung zur sinnlichen Lust ergibt sich zugleich auch eine erste Antwort auf die Frage, was Kant unter einer Tendenz zur Erhaltung eines Zustands verstehen könnte. Zumindest im Fall der sinnlichen Lust geht es Kant zufolge letztlich darum, die Vorstellung selbst (die Empfindung des Objekts) zu erhalten. Dass die Vorstellung und der zu erhaltende Zustand eng miteinander verbunden sind, zeigt aber auch Kants Erläuterung des Falls der kontemplativen Lust am Schönen in der Definition L2. Über diesen Fall heißt es dort in einer Klammer: „[…] der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst“ (EE 20:230 f.13 ff.). Kant spricht hier von einem Zustand „in“ einer Vorstellung; es geht ihm also um einen Aspekt der Vorstellung selbst,¹¹⁵ nämlich um die Aktivität von Einbildungskraft und Verstand in dieser Vorstellung. So ist insbesondere die Aktivität der Einbildungskraft im freien Spiel – das Auffassen des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit (vgl. EE 20:220 f.14 ff.) – konstitutiv für das Vorstellen von Inhalten. Denn ohne diese Aktivität hätten wir, wie Kant in der Transzendentalen Deduktion ausführt, gar keine Vorstellungen, in denen ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit enthalten ist (vgl. KrV A 99). Aus diesem Grund werden die beiden Kräfte, die am freien Spiel beteiligt sind, von Kant häufig als „Vorstellungskräfte“ bezeichnet (vgl. z. B. KU 5:287.7 ff.). Auch der kontemplativen Lust liegt also letztlich die Tendenz zugrunde die (aktivisch verstandene) Vorstellung des Gegenstandes aufrechtzuerhalten. Die angesprochene Erläuterung, die Kant in der Definition L2 vom Fall der kontemplativen Lust gibt, ist noch auch aus einem weiteren Grund bemerkenswert. Dass wir in der kontemplativen Lust zur Erhaltung eines Zustandes tendieren, bedeutet nicht, dass wir einfach passiv in diesem Zustand verharren „[…] [T]he awareness of the representation’s determination of the faculty of desire is an awareness of a self-sustaining tendency (in its outward aspect), which is just what pleasure is, according to Kant’s definition“ (Engstrom 2007, 142). Diese Auffassung ergibt sich unmittelbar aus Engstroms Theorie der Lust am Angenehmen, die ich erst im folgenden Abschnitt diskutieren werde. Zweitens setzt die sinnliche Lust Engstrom zufolge auch nicht unbedingt eine Empfindung voraus; sie kann auch auf einem theoretischen Urteil über die Existenz eines Objekts beruhen (vgl. Engstrom 2007, 122 ff.; 140 f.; 145). Dies soll Fälle erklären, in denen die Lust aus dem Gedanken an die eigene Tätigkeit, insbesondere an den Erfolg dieser Tätigkeit, resultiert (vgl. Engstrom 2007, besonders 122 f. und 145). Es ist allerdings nicht ganz klar, in welchem Sinn eine Lust, die nicht auf Empfindung beruht, noch die Gegenwart des vorgestellten Objekts voraussetzen könnte. Darüber hinaus spricht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft zwar von der „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9), doch dies scheint lediglich zu besagen, dass die Lust hier auf der Empfindung beruht, durch die uns erst „etwas Existirendes gegeben“ wird (KU 5:189.12 f.). Für diese Lesart spricht auch Kants Definition des Wohlgefallens am Angenehmen: „Angenehm ist das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt“ (KU 5:205.26 f.), wobei hier ausdrücklich objektive Empfindung gemeint ist (vgl. 5:206.26 f.). 115 Vgl. Wenzel 2000, 176.
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möchten. In der kontemplativen Lust tendiert vielmehr eine Aktivität zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung. Dass dies für Kant auch in den anderen Fällen der Lust der Fall ist, legt seine Redeweise von der ‚Beförderung des Lebens‘ nahe. Wie wir bereits gesehen haben, betont Kant an mehreren Stellen, dass der Lust stets eine Steigerung der Aktivität in einem lebendigen Wesen zugrunde liegt (vgl. Kap. 2, § 4). Es wäre folglich merkwürdig, wenn die Tendenz zur Zustandserhaltung nicht mit dieser Steigerung einer lebendigen Aktivität verbunden wäre. Im Lichte dieser Überlegungen lässt sich Kants Redeweise von der Zustandserhaltung also auf folgende Weise deuten: Kant zufolge liegt jeder Lust eine für das Vorstellen konstitutive Aktivität zugrunde, die in einer Vorstellung zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert.¹¹⁶ Wenn diese Deutung zutrifft, so ergibt sich auch eine wichtige Schlussfolgerung im Hinblick auf die kausale Rolle, die der Vorstellung in Kants Definition L1 zugeschrieben wird. Dort spricht Kant von „der Causalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjects, es in demselben zu erhalten“ (KU 5:220.9 f.). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Vorstellung und die Tendenz zur Zustandserhaltung einfach als distinkte Ereignisse in bestimmten Fällen notwendig nacheinander im Gemüt auftreten. Dass der Vorstellung eine „Causalität“ im Hinblick auf die Zustandserhaltung zukommt, besagt vielmehr, dass die für die Vorstellung konstitutive Aktivität selbst zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert. Die kausale Verbindung zwischen Vorstellung und Zustandserhaltung ist also kein Fall einer mechanischen Kausalität, bei der wir Ursache und Wirkung klar voneinander unterscheiden können. In letzterem Fall würden wir eher von einer Form von Trägheit sprechen, die sich anlässlich einer Vorstellung einstellt. Anlässlich einer Vorstellung würde sich bei uns die Tendenz einstellen, solange in unserem Zustand zu verharren, bis dieser von außen verändert wird (zur Trägheit materieller Körper vgl. MAN 4:544). Der Aktivitätszustand in einer Lust enthält hingegen Spontaneität, d. h. eine mit dem Vorstellen verbundene lebendige Aktivität. Hier könnten wir mit Kant allenfalls von einer Trägheit des Lebendigen sprechen, womit ein „positives Bestreben seinen Zustand zu erhalten“ gemeint ist.¹¹⁷ Dass ein Zustand zu seiner eigenen Erhaltung tendiert, besagt also letztlich nichts anderes, als dass eine spontane Aktivität, die als solche wesentlich mit dem
116 Vgl. ähnlich Engstrom 2007, 142 ff. 117 Vgl. Kants Abgrenzung von zwei Bedeutungen von ‚Trägheit‘ in den Metaphysischen Anfangsgründen: „Aus eben demselben Begriffe der Trägheit [der Materie – T. H.] als bloßer Leblosigkeit fließt von selbst, daß sie nicht ein positives Bestreben seinen Zustand zu erhalten bedeute. Nur lebende Wesen werden in diesem letzteren Verstande träg genannt, weil sie eine Vorstellung von einem anderen Zustande haben, den sie verabscheuen, und ihre Kraft dagegen anstrengen“ (MAN 4:544.26 ff.).
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Vorstellen von Inhalten verbunden ist, in einer Vorstellung zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert.¹¹⁸ Dass die Lust aus einer lebendigen Aktivität resultiert, zeigt sich auch an Kants Aussagen über die Lust und ihr Verhältnis zum zugrunde liegenden Aktivitätszustand. In der Definition L1 identifiziert Kant die Lust mit dem „Bewußtsein der Causalität einer Vorstellung“ (KU 5:220.9 f.; H. v. m.). Diese Redeweise legt zunächst die Annahme nahe, dass sich die Lust als ein Zustand höherer Ordnung auf einen zugrunde liegenden Vorstellungszustand und dessen Erhaltungstendenz bezieht.¹¹⁹ Allerdings macht Kant diesen Unterschied in der Definition L2 nicht mehr. Im Wortlaut der Definition L2 finden sich tatsächlich keinerlei Anzeichen dafür, dass sich der Lustzustand als Zustand höherer Ordnung auf den zugrunde liegenden Aktivitätszustand bezieht. Im Gegenteil: Kant scheint davon auszugehen, dass die Lust identisch ist mit dem Aktivitätszustand in der Vorstellung. Dies wird vor allem durch die Art und Weise nahegelegt, in welcher Kant die allgemeine Beschreibung der Lust auf den Fall der kontemplativen Lust anwendet. In der Definition wird die Lust zunächst als ein „Zustand“ bezeichnet, „in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt“ (EE 20:230.11 f.), was im Fall der kontemplativen Lust dazu führen soll, dass wir bloß dazu tendieren, diesen Zustand zu erhalten. Kant erläutert diesen Fall nun genauer, indem er in Klammern anfügt: „[…] denn der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst“ (EE 20:230 f.13 f.). Es ist folglich dieser Zustand, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt; denn gerade die wechselseitige Beförderung der Gemütskräfte in diesem Zustand erklärt, warum wir dazu tendieren, diesen Zustand zu erhalten. Der Definition L2 118 Tatsächlich lassen sich Fälle denken, in denen ein Lustzustand aus einer Art von Seelenruhe resultiert, etwa bei der Meditation. Doch die Seelenruhe ist für Kant nicht identisch mit passiver Trägheit. Kant verfügt über einen Begriff von Seelenruhe, der dem Phänomen gerechter wird. So spricht Kant davon, dass das Gemüt bei der Beurteilung des Erhabenen in der Natur „bewegt“ wird, während es „in dem ästhetischen Urtheile über das Schöne derselben [der Natur – T. H.] in ruhiger Contemplation“ ist (KU 5:258.11 f.). Dies steht, wie Makkreel mit Hinweis auf Reflexionen Kants zeigt, nicht im Widerspruch zur Annahme Kants, dass es im freien Spiels zu einer „Belebung“ (KU 5:219.4) der Vorstellungskräfte kommt (vgl. Makkreel 1990, 95 f.). 119 Eine derartige Auffassung vertritt Zuckert, der zufolge sich die Lust als ein Zustand höherer Ordnung auf eine formale Eigenschaft des zugrunde liegenden Zustandes richtet, nämlich auf dessen Zukunftsbezogenheit („future-directedness“, Zuckert 2007, 234; vgl. Zuckert 2002). Tatsächlich wird diese Deutung vor allem durch die Definition L1 nahelegt. Sie scheint allerdings nicht vereinbar zu sein mit der Tatsache, dass Kant zufolge die Definition der Lust transzendental, d. h. aus reinen Verstandesbegriffen zusammengesetzt sein muss (vgl. EE 20:230.11 und die dortige Anm.; KpV 5:9.32 ff. Anm.). Da für Kant die reinen Verstandesbegriffe noch keine Zeitbestimmungen enthalten, kann es in dieser Definition eigentlich keinen Verweis auf eine Zukunftsbezogenheit der Lust geben.
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zufolge ist die Lust also im Grunde identisch mit dem zugrunde liegenden Aktivitätszustand, der zu seiner eigenen Aufrechterhaltung tendiert.¹²⁰ Die Lust ist nach dieser Definition unmittelbar inkorporiert in eine lebendige und daher spontane Aktivität des Vorstellens von Gegenständen. In der Forschung ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Kant zwischen zwei Auffassungen zu schwanken scheint, wenn es um das Verhältnis der Lust zum zugrunde liegenden Aktivitätszustand, insbesondere zum freien Spiel der Erkenntniskräfte, geht.¹²¹ An manchen Stellen suggeriert er, dass die Lust kausal aus dem Aktivitätszustand resultiert, während er an anderen Stellen davon auszugehen scheint, dass sie identisch ist mit diesem Zustand.¹²² Dieses Schwanken hat vermutlich seinen Grund in Überlegungen zum besonderen Charakter der kausalen Verknüpfung, die zwischen der spontanen Aktivität und dem Bewusstsein dieser Aktivität besteht.¹²³ Für gewöhnlich beschreiben wir psychische Prozesse am Modell mechanischer Kausalität – man könnte auch von einem ColaAutomaten-Modell der Kausalität sprechen.¹²⁴ Wenn man in einen funktionierenden Cola-Automaten ausreichend Geld einwirft, so folgen ein paar Sekunden Automatenaktivität, und anschließend liegt die Colaflasche im Ausgabefach. Ähnlich könnte man nun das Zustandekommen eines Lustzustandes erklären: Wir haben eine Vorstellung, auf welche eine Aktivitätssteigerung folgt, was dann den Lustzustand produziert. In diesem Fall wäre die Entstehung eines Lustzustandes ein mechanischer Prozess von der Art, den Kant etwa in der zweiten Analogie der Erfahrung vorrangig im Blick hat. In der Tat legt Kant selbst das Cola-AutomatenModell zur Erklärung der Lustentstehung nahe, wenn er offenkundig im Rekurs
120 Kant scheint im Anschluss an die Definition L2 zu behaupten, dass die Lust nur über ihre Wirkungen definiert werden kann (vgl. EE 20:232.3 ff.). Diese Behauptung wird für gewöhnlich so verstanden, dass die Lust in uns eine Tendenz bewirkt, sie selbst zu erhalten (oder das Objekt hervorzubringen). So fasst Paul Guyer Kants Charakterisierung der Lust auf folgende Weise zusammen: „[…] [P]leasure is a state that produces a desire for its own continuation“ (Guyer 2006, 181 Anm. 43; vgl. Guyer 21997, 70). Wenn nun aber der Definition L2 zufolge die Lust tatsächlich identisch ist mit dem zugrunde liegenden Aktivitätszustand in einer Vorstellung, dann geht es Kant bei dieser Behauptung um einen etwas anderen Punkt. Wir können Kant zufolge nicht die Qualität einer Lust, wohl aber die Wirkung des Zustandes bzw. der Vorstellung beschreiben, die der Lust zugrunde liegen (also etwa die Wirkung des freien Spiels in einer Vorstellung). 121 Vgl. insbesondere Zöller 1991, 817 f. 122 Zöller zufolge schwankt Kants Beschreibung des Verhältnisses von Vorstellungen und Lustzuständen zwischen einer kausalen Theorie und einer Identitätstheorie, vgl. Zöller 1991, 817 f.; zu Kants unterschiedlichen Beschreibungen des Verhältnisses der Lust zum freien Spiel vgl. auch Guyer 21997, 93 ff. 123 Vgl. Guyer 21997, 96. 124 Zu diesem Bild vgl. Chang 2004, 60 f.
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auf die zweite Analogie der Erfahrung behauptet, dass wir über das kausale Verhältnis zwischen einer Vorstellung und einer Lust nur empirische Aussagen machen können.¹²⁵ Nun ist Kant zufolge das Modell der mechanischen Kausalität bekanntlich schon zur Erklärung pflanzlicher Organismen unzureichend. Es ist daher nicht abwegig zu vermuten, dass Kant auch im Hinblick auf psychische Aktivitäten große Zweifel am Erklärungswert dieses Modells hegte.¹²⁶ Ein Grund für diese Zweifel könnte darin liegen, dass vorstellungsbezogene Prozesse für Kant stets eine Form von Spontaneität beinhalten, was wiederum in einigen Fällen dazu führt, dass sich Ursache und Wirkung in dieser Aktivität nicht mehr richtig auseinanderhalten lassen. Natürlich können wir einige Produkte von spontanen Handlungen – vielleicht sogar alle Produkte eines poietischen Handelns – zumindest unter einer bestimmten Rücksicht anhand des Automaten-Modells der Kausalität erklären.Wenn ein Mensch eine Münze in einen funktionierenden ColaAutomaten wirft, so handelt er spontan und bringt ein Produkt hervor, das unabhängig von seinem Handeln betrachtet werden kann. Allerdings scheint dies nicht zu gelten für das unmittelbare Bewusstsein, welches dieser Mensch von seiner eigenen spontanen Aktivität hat. Das spontan handelnde Wesen erzeugt dieses Bewusstsein nicht in demselben Sinn, wie es durch dieses Handeln absichtlich (oder auch unabsichtlich) Veränderungen in der Welt herbeiführt. Das Modell, das wir hier wählen sollten, findet sich in Kants Theorie des (theoretischen) Selbstbewusstseins. Kant zufolge liegt unserem Selbstbewusstsein die Spontaneität des Verstandes zugrunde, und vielleicht können wir sogar sagen, dass dieses Bewusstsein durch die Aktivität des Denkens produziert wird. Aber hier meinen wir nicht, dass sich der Zustand des Selbstbewusstseins sinnvoll von
125 „Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde“ (KpV 5:21.27– 29). Im § 12 der KU heißt es etwas genauer: „Die Verknüpfung des Gefühls einer Lust oder Unlust als einer Wirkung mit irgend einer Vorstellung (Empfindung oder Begriff) als ihrer Ursache a priori auszumachen, ist schlechterdings unmöglich; denn das wäre ein Causalverhältniß, welches (unter Gegenständen der Erfahrung) nur jederzeit a posteriori und vermittelst der Erfahrung selbst erkannt werden kann“ (KU 5:221 f.30 ff.). Allerdings scheint diese These nur für die Lust am Angenehmen zu gelten. Die Lust am Schönen sowie die Lust am Guten beruhen beide – wie Kant ebenfalls im § 12 klar macht – auf „Gründen a priori“ (KU 5:221.29). – Es ist fraglich, ob Kants Rekurs auf die zweite Analogie impliziert, dass das kausale Verhältnis zwischen einer Vorstellung und dem Lustzustand selbst eine Art Mechanismus darstellt. Im Grunde beharrt Kant lediglich darauf, dass wir das faktische Bestehen kausaler Verhältnisse nur durch Erfahrung erkennen können, und dies gilt auch für komplexere Formen der Kausalität (z. B. für teleologische oder psychische Kausalität). 126 Vgl. Guyer 21997, 93 ff.
§ 2 Lust und die wechselseitige Beförderung von Gemütsvermögen
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der Aktivität des Verstandes (dem Denken) trennen ließe. Eher schon ist das Bewusstsein im „Ich denke“ ein Aspekt der Aktivität des Denkens. Es würde, könnte man aus der cartesischen Tradition heraus argumentieren, wenig Sinn machen, wenn ich erst in einem weiteren Schritt jene Aktivität identifizieren müsste, die meinem Bewusstsein im „Ich denke“ zugrunde liegt. Ähnlich verhält es sich nun mit dem Lustbewusstsein und der zugrunde liegenden Aktivität. Wir können zwar mit Recht davon sprechen, dass die lebendige Aktivität das Lustbewusstsein verursacht. Doch das bedeutet nicht, dass das Bewusstsein ein distinktes Produkt dieser lebendigen Aktivität ist. Es handelt sich vielmehr um einen Aspekt dieser Aktivität selbst.
§ 2 Lust und die wechselseitige Beförderung von Gemütsvermögen Wie lassen sich diese Angaben auf die praktische Lust übertragen? In einer ersten Überlegung zur Lust am Angenehmen haben wir bereits eine solche Übertragung vorgenommen. In diesem Fall tendiert eine Empfindung dazu erhalten zu werden; da wir aber die Empfindung nur erhalten können, indem wir das Objekt erneut hervorbringen (d. h. seine Gegenwart sicherstellen), führt diese Tendenz in der Empfindung zu einer Aktualisierung des unteren Begehrungsvermögens. Berücksichtigt man nun die Deutung, die ich im vorangegangenen Abschnitt von Kants Definitionen der Lust gegeben habe, dann berührt diese Übertragung jedoch nur die Oberfläche des Phänomens. Dass wir zur Erhaltung eines Zustandes tendieren, bedeutet im Grunde, dass eine vorstellungsbezogene Aktivität in uns zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert. Worin, könnte man also fragen, besteht im Fall der sinnlichen Lust am Angenehmen die relevante Aktivität, die konstitutiv ist für die zugrunde liegende Empfindung, und wie genau hängt die Tendenz zur Aufrechterhaltung dieser Aktivität mit der Aktualisierung des Begehrungsvermögens zusammen? Eine Beantwortung dieser Fragen ist äußerst schwierig, denn sie setzt voraus, dass wir ganz allgemein sagen können, worin die Bedingungen bestehen, die erfüllt sein müssen, damit eine Aktivität in dem beschriebenen Sinn zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung tendiert. Kant hat sich zu dieser Frage in der Kritik der Urteilskraft nicht geäußert. Die einzigen ausführlichen Äußerungen betreffen den besonderen Fall der kontemplativen Lust am Schönen; hier ist es das freie Spiel der Erkenntniskräfte, das zu seiner eigenen Aufrechterhaltung tendiert. Die Frage, wie sich die Idee der Zustandserhaltung auf die praktische Lust übertragen lässt, ist also bestenfalls indirekt zu beantworten. Zunächst sollte untersucht werden, welche Eigenschaft der Aktivität im Fall der kontemplativen Lust für die Tendenz
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3. Lust als subjektive Einheit des Lebens
zur eigenen Aufrechterhaltung verantwortlich ist. In einem zweiten Schritt muss dann geklärt werden, ob und in welchen Grenzen diese Eigenschaft auch der Aktivität, die der praktischen Lust zugrunde liegt, zukommt. Engstrom hat in seinem Aufsatz „Kant on the Agreeable and the Good“ eine derartige Strategie eingeschlagen und ist dabei zu einem bemerkenswerten Vorschlag zur Beantwortung der Frage gekommen, welche Aktivitätsstruktur der praktischen Lust zugrunde liegt (vgl. Engstrom 2007, vor allem 141 ff.). In diesem Abschnitt möchte ich Engstroms Vorschlag diskutieren, um im nächsten Abschnitt meine eigene Antwort auf diese Frage zu entwickeln. Um die Diskussion nicht unnötig zu verkomplizieren, werde ich mich in beiden Abschnitten hauptsächlich auf den bereits angesprochenen Fall der sinnlichen Lust am Angenehmen konzentrieren. Es sind, wenn ich richtig sehe, hauptsächlich zwei Überlegungen, durch die Engstroms Vorschlag motiviert ist. Erstens scheint es im Fall der kontemplativen Lust gerade die Wechselseitigkeit in der Beförderung von Einbildungskraft und Verstand zu sein, die erklärt, dass hier ein Zustand zu seiner Erhaltung tendiert. Es liegt also nahe, dass auch der praktischen Lust eine Form von wechselseitiger Beförderung unterschiedlicher Kräfte oder Vermögen zugrunde liegt.¹²⁷ Während zweitens in der kontemplativen Lust Kräfte befördert werden, die in einem konstitutiven Zusammenhang zum Erkenntnisvermögen stehen, muss die Aktivitätsbeförderung im Fall der praktischen Lust in einem konstitutiven Zusammenhang zur Ausübung des Begehrungsvermögens stehen. Denn die praktische Lust ist ja, wie Kant in der Metaphysik der Sitten betont, notwendig mit dem Begehren verbunden (vgl. MS 6:212.10 ff. sowie Engstrom 2007, 143). Engstrom nimmt nun diese beiden Überlegungen zusammen, wobei er die Analogie zum freien Spiel der Erkenntniskräfte in einem wichtigen Punkt durchbricht. Im Fall der praktischen Lust geht es Engstrom zufolge nämlich nicht um die wechselseitige Beförderung von Kräften, die einem einzigen Gemütsvermögen zugeordnet sind (wie im Fall von Einbildungskraft und Verstand, die ja beide dem Erkenntnisvermögen zugeordnet sind). Es geht vielmehr um die wechselseitige Beförderung der Aktivitäten zweier Gemütsvermögen selbst, nämlich des Erkenntnisvermögens und des Begehrungsvermögens. In Engstroms Deutung liegt der praktischen Lust eine wechselseitige Beförderung der Aktivitäten von Erkennen und Begehren zugrunde. Er selbst spricht von zwei Vorstellungen, die sich gegenseitig befördern: die theoretische Vorstellung, die auf der
127 So Engstrom über die beiden Fälle kontemplativer und praktischer Lust: „[…] [I]n both cases the pleasure lies in an awareness of a representation’s tendency to sustain its own state of mind, and in both cases this tendency is nothing other than the harmony, or mutual furtherance, of the exercise of distinct mental powers engaged in that representation“ (Engstrom 2007, 143).
§ 2 Lust und die wechselseitige Beförderung von Gemütsvermögen
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Existenz eines Gegenstandes beruht, und die desiderative Vorstellung, die auf die Realisierung eines Gegenstandes gerichtet ist.¹²⁸ Wie sich nun die wechselseitige Beförderung dieser beiden Vorstellungen bei der praktischen Lust Engstrom zufolge einstellt, lässt sich am einfachsten an der Lust am Angenehmen zeigen. Dieser Form praktischer Lust liegt eine theoretische Vorstellung der Existenz des Objekts zugrunde, die zum Begehren des Gegenstandes (also zu einer desiderativen Vorstellung) führt. In diesem Sinn befördert hier die Aktivität des Erkennens die Aktivität des Begehrens, d. h. die theoretische Vorstellung befördert die desiderative Vorstellung. Das Begehren zielt nun aber umgekehrt darauf, das Objekt der Vorstellung zu realisieren, um die Empfindung erneut hervorzubringen. Unter dieser Rücksicht befördert Engstrom zufolge das Begehren das Erkennen; die desiderative Vorstellung beinhaltet die Tendenz, die Gegenwart des Objekts wiederherzustellen, welche wiederum eine Bedingung für die theoretische Vorstellung der Existenz des Objekts ist.¹²⁹ Folglich liegt der Lust
128 „In the case of practical pleasure, […], the relation of mutual furtherance cannot lie between two faculties that belong to the power of theoretical cognition and cooperate in such cognition, for practical pleasure is ‚necessarily connected with desire‘ and so must involve the faculty of desire. The mutual furtherance is rather between the two broad powers of the mind marked out by the different directions of existential dependence in which representation and its object can stand to one another […]: on the one side is the subject’s capacity to represent the existence of things („what is“), and on the other is its faculty of desire, or its capacity to produce, or bring into existence, objects through its representations of them“ (Engstrom 2007, 143 f.). – Anders als meine Analyse (vgl. Kap. 1) unterscheidet Engstrom darüber hinaus zwei Arten von entsprechenden Vorstellungen, nämlich theoretische und desiderative Vorstellungen (vgl. Engstrom 2007, 144). Ich bin mir nicht sicher, ob diese Unterscheidung ausschließlich aus Darstellungsgründen erfolgt oder ob Engstrom tatsächlich zwei numerisch verschiedene Formen von Vorstellungen unterscheidet. Letztere Annahme scheint zumindest teilweise motiviert durch Engstroms systematische Idee, dass Kant – analog zu den zwei Passensrichtungen (,directions of fit’) – zwei Formen unterscheidet, wie Vorstellungen und Gegenstand kausal voneinander abhängen. In jedem Fall halte ich die Annahme von zwei Arten von Vorstellungen hier für irreführend. Wenn wir einen Gegenstand (z. B. ein schönes Auto) sehen und dann den Gegenstand haben wollen, dann stellen wir den Gegenstand nicht zweimal vor. Eher schon erhält die ursprünglich theoretische Vorstellung des Gegenstandes eine praktische Funktion, indem der Inhalt der Vorstellung die Kräfte des Subjekts so zu kontrollieren vermag, dass das Subjekt entsprechende Handlungen zur Realisierung des Gegenstandes unternimmt, vgl. hierzu Kap. 1, §§ 2 ff. 129 So Engstrom über die Lust am Angenehmen: „[…] [I]n this case a theoretical representation gives rise to a sensible desire, which in turn tends, through its efficacy, to bring into existence the object on which the theoretical representation depends“ (Engstrom 2007, 145). „[…] [S]ince the sensible desire […] is reproductive in character, or efficaciously directed to produce the object of the very theoretical representation that produced it, that same determination is at the same time a reciprocal furtherance between the exercise of the theoretical faculty and that of the desid-
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am Angenehmen eine wechselseitige Beförderung von Begehren und Erkennen zugrunde. Ähnlich verhält es sich Engstrom zufolge mit der moralischen Lust am Guten. Dabei denkt Engstrom nicht so sehr an das moralische Gefühl der Achtung, sondern in erster Linie an die moralische Lust, die wir an einer bereits ausgeführten Handlung nehmen (d. h. an das Gefühl der Selbstzufriedenheit).¹³⁰ In diesem Fall führt das praktische Urteil (also die desiderative Vorstellung) dazu, dass wir das vorgestellte Objekt realisieren, (was vermutlich besagt, dass das praktische Urteil dazu führt, dass wir die moralisch gebotene Handlung ausführen). Wenn wir das Objekt realisieren, dann haben wir von dem Objekt aber auch eine theoretische Vorstellung.¹³¹ Folglich fördert hier zunächst die Aktivität des rationalen Begehrens die Aktivität des Erkennens. Umgekehrt führt nun das theoretische Bewusstsein, dass wir moralisch gehandelt haben, zu einer Stärkung unseres praktischen Vermögens. Das theoretische Urteil über unser vergangenes moralisches Handeln bestärkt uns in dem Bewusstsein, selbst zur Ursache der in moralisch-praktischen Urteilen gedachten Objekte werden zu können.¹³² Auf diese Weise fördert die theoretische Erkenntnis, dass wir moralisch gehandelt haben, unser rationales Begehren. Engstrom geht von der Frage aus, welche Angaben über die Aktivität in der kontemplativen Lust wir so verallgemeinern können, dass sie auch für die prak-
erative faculty and for this reason something of which the subject is receptively aware in a feeling of pleasure“ (Engstrom 2007, 145). 130 Engstrom verweist auf die Selbstzufriedenheit, die das Bewusstsein der eigenen Tugend ist (vgl. Engstrom 2007, 144; KpV 5:117 ff.). Engstrom zufolge hat Kant auch derartige nachträgliche moralische Gefühle im Sinn, wenn er in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten behauptet, dass die praktische Lust nicht nur als Ursache, sondern auch als Wirkung eines Begehrens auftritt (vgl. z. B. MS 6:211.15 – 18; 6:212.10 – 14; 6:212.27 ff.). Diese Behauptung deutet Engstrom so, dass hier die Lust auf die Realisierung des begehrten Objekts folgt (vgl. Engstrom 2007, 147). Meiner Auffassung zufolge betrifft Kants Aussage über die nachfolgende Lust eher das moralische Gefühl der Achtung, das sich Kant zufolge aus der Willensbestimmung ergibt. Nur dieses Gefühl begründet das „Vernunftinteresse“, das Kant in der Metaphysik der Sitten mit der nachfolgenden Lust in Verbindung bringt (MS 6:212.30; vgl. Höwing 2013). 131 So Engstrom über die praktische Lust am Guten, die er als ‚praktisch erzeugte praktische Lust‘ („practically engendered practical pleasure“) bezeichnet: „In the case of practically engendered practical pleasure, […] the mutual furtherance is initiated by the desiderative representation of the object, which in this case lies in the practical knowledge of it, and which through its efficacy makes the object actual and thereby makes possible the theoretical representation (theoretical cognition) of the object’s existence“ (Engstrom 2007, 146). 132 „[…] [A] theoretical judgment that such an object has been produced through the efficacy of rational desire will reinforce rational desire’s essential practical understanding of itself as the cause of its object and thereby reinforce rational desire itself“ (Engstrom 2007, 146).
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tische Lust gelten. Ich halte diese Strategie für aussichtsreich und vielleicht sogar für unabdingbar zum Verständnis von Kants Theorie der Lust. Denn nur so können wir verstehen, auf welche Weise sich Kants allgemeine Beschreibung der Lust auf die spezifischen Formen der Lust anwenden lässt. Allerdings denke ich, dass Engstroms Vorschlag in drei Punkten problematisch ist. Der erste Punkt betrifft die Idee einer Beförderung der Aktivität des theoretischen Vorstellens; der zweite Punkt bezieht sich auf die Frage, in welchem Sinn diese Lust rein aus einer Aktivität des Gemüts erklärt werden kann; der dritte Punkt berührt schließlich Engstroms Übertragung der Idee einer wechselseitigen Beförderung von Kräften auf die praktische Lust. Ich beginne mit dem ersten Punkt. Engstrom misst der Tatsache, dass das Begehren für Kant eine Ausübung der Vorstellungskraft voraussetzt, auch für die Konzeption der praktischen Lust eine systematische Relevanz bei. Dies ist natürlich gerade im Fall der sinnlichen Lust plausibel, denn letzterer liegt ja tatsächlich eine theoretische Vorstellung (d. i. eine Empfindung der Existenz eines Gegenstandes) zugrunde, die im Begehren sozusagen wiederhergestellt werden soll. Engstroms Aussagen über die Beförderung der Aktivität des theoretischen Vorstellens bei einer praktischen Lust halte ich jedoch für problematisch. So können wir im Hinblick auf die Lust am Angenehmen fragen, in welchem Sinn die hierauf folgende Begierde und die darin enthaltene Tendenz zur Wiederherstellung einer Empfindung schon eine Beförderung unserer kognitiven Aktivität als solcher darstellt. Hiergegen lassen sich mindestens zwei Einwände formulieren: Erstens befördert das sinnliche Begehren allein das theoretische Vorstellen allenfalls in einem übertragenen Sinn. Zwar enthält es die Tendenz, die theoretische Vorstellung eines Objekts erneut hervorzubringen. Doch diese Tendenz hat als solche noch gar keine kausale Beziehung zu der Vorstellung, die wiederhergestellt werden soll. Denn um die Empfindung wiederherzustellen, müssen wir in der Regel erst etwas unternehmen und die Gegenwart des Gegenstandes sicherstellen. Die Tendenz im bloßen Begehren ist also gar keine faktische Beförderung des theoretischen Vorstellens, weil sie für sich betrachtet noch gar nichts dazu beiträgt, dass wir eine neue Vorstellung haben. Zweitens stellt sich die vielleicht noch grundlegendere Frage, ob das bloße Hervorbringen einer theoretischen Vorstellung mit Kant überhaupt als eine Beförderung der Aktivität des Erkennens angesehen werden kann. Selbst wenn wir die Empfindung durch unser Handeln tatsächlich erneut in uns hervorbringen würden, würde dies nicht zwingend dazu führen, dass die theoretische Aktivität in dieser Empfindung gesteigert wird. Die theoretische Aktivität in der Empfindung könnte schließlich auch gleich bleiben oder sogar vermindert werden. Dieses Problem zeigt sich noch deutlicher an Engstroms Beschreibung der moralischen Lust: Selbst wenn wir zugestehen, dass das Bewusstsein moralisch gehandelt zu
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haben im Kern theoretisch ist, so lässt sich immer noch fragen, warum ein solches Bewusstsein überhaupt eine Steigerung der Aktivität des Erkenntnisvermögens mit sich bringen sollte. In beiden Fällen scheint diese Aktivität nicht mehr oder weniger befördert zu werden als in jedem anderen Fall einer faktisch vorliegenden theoretischen Vorstellung. Es lohnt sich, diesen letzten Punkt etwas genauer zu betrachten. So könnte man Folgendes zugunsten von Engstroms Vorschlag einwenden: Jedes theoretische Vorstellen beinhaltet eine Steigerung der Aktivität des Erkenntnisvermögens als solcher. Doch dieser Gedanke verwechselt das Bestehen einer Aktivität mit deren Steigerung.Wenn ich hintereinander zwei theoretische Vorstellungen V1 und V2 von der Existenz zweier Gegenstände habe – also z. B. einen grünen Vorhang sehe, bevor ich einen Wein probiere –, so beinhaltet der Schritt von V1 zu V2 nicht notwendig eine Steigerung der Aktivität des Erkenntnisvermögens. Die theoretische Aktivität kann ja auch einfach gleich bleiben oder sogar vermindert werden. Diese Überlegung scheint auch nicht dadurch relativiert zu werden, dass wir das Begehren oder das eigene Handeln ins Spiel bringen. So könnten wir Folgendes sagen: Wenn ich den Gegenstand von V2 begehre, den Gegenstand von V1 aber nicht begehre oder sogar verabscheue, dann kommt es beim Wechsel von V1 zu V2 notwendig zu einer Aktivitätssteigerung im theoretischen Vorstellen. (Ich trinke z. B. bei einer Weinprobe noch ein Glas vom vorzüglichen Wein, nachdem ich den ausgesprochen hässlichen grünen Vorhang im Weinlokal betrachtet habe). Doch ist es schwierig zu verstehen, warum die Tatsache, dass ich den Gegenstand von V2 begehre und vielleicht sogar durch eigenes Handeln realisiert habe, eine Steigerung der Aktivität in der theoretischen Vorstellung dieses Gegenstandes bewirken sollte. Hierzu müssten wir zeigen, dass das theoretische Bewusstsein von der Existenz eines begehrten Gegenstandes die Aktivität des Erkennens eher befördert als ein theoretisches Bewusstsein von der Existenz eines nicht-begehrten oder verabscheuten Gegenstandes. Die grundlegende Frage, die sich an diesem Punkt stellt, lässt sich also auf folgende Weise formulieren: Worin würde für Kant eine Beförderung der theoretischen Aktivität des existenzbezogenen Vorstellens bestehen? Die vorgestellten Überlegungen sprechen gegen die Annahme, dass hierzu einfach eine beliebige Vorstellung der Existenz eines Objekts ausreicht. Es ist bei näherer Betrachtung gar nicht so leicht, eine anspruchsvollere Antwort auf diese Frage zu geben, die sich auf Kants Aussagen berufen kann und zugleich Engstroms Vorschlag gerecht wird. Denn die Antwort, die Kant selbst anbietet, scheint die praktische Lust unter der Hand in eine quasi-kontemplative Lust zu verwandeln. So könnten wir sagen, dass sich das Erkenntnisvermögen hier – ähnlich wie im Fall der Lust am Schönen – in einer Art Spiel befindet. Im Gegensatz zum freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand würde sich dieses Spiel nun aber nicht mit den formalen Elementen
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einer Vorstellung befassen. Da es um die theoretische Aktivität des existenzbezogenen Vorstellens geht, würde es vielmehr die materialen Elemente einer Vorstellung, also die Empfindungen, betreffen. Tatsächlich räumt Kant ein, dass es auch ein Spiel der Einbildungskraft gibt, welches eher eine Lust am Angenehmen als am Schönen erzeugt – etwa beim „Anblick der veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers oder eines rieselnden Baches“ (KU 5:243.36 f.). Da nun der Lust am Angenehmen die Vorstellung der Existenz eines Objekts zugrunde liegt, hätten wir also eine Erklärung, was es bedeutet, dass die theoretische Aktivität des existenzbezogenen Vorstellens befördert wird. Doch diese Erklärung ist denkbar ungeeignet, um auf jede praktische Lust ausgedehnt zu werden. Ein freies Spiel stellt für Kant eine Aktivität dar, die zumindest in ihren wesentlichen Zügen mit keiner Begierde oder Absicht verbunden ist (vgl. KU 5:331.19 ff.). Folglich wäre die praktische Lust in diesem Fall eine quasi-kontemplative Lust, was natürlich auf einige, aber eben nicht auf alle Formen dieser Lust zutrifft. Der zweite Punkt meiner Diskussion betrifft Engstroms These, dass der praktischen Lust die Beförderung zweier Gemütsvermögen zugrunde liegt. Tatsächlich argumentiert Kant in der Kritik der Urteilskraft explizit für die These, dass zumindest unsere Lust am Angenehmen nicht auf einer reinen Aktivität des Gemüts beruht, sondern maßgeblich körperliche Veränderungen voraussetzt. Befördert werden hier die Lebenskräfte, die zwar mit der Aktivität des Gemüts verbunden, letztlich aber doch körperliche Kräfte sind. So verteidigt Kant die Behauptung des Epikur, dass „immer Vergnügen und Schmerz zuletzt doch körperlich sei, es mag nun von der Einbildung, oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen: weil das Leben ohne das Gefühl des körperlichen Organs bloß Bewußtsein seiner Existenz, aber kein Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens, d. i. der Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte sei; weil das Gemüth für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst) ist, und Hindernisse oder Beförderungen außer demselben und doch im Menschen selbst, mithin in der Verbindung mit seinem Körper gesucht werden müssen“ (KU 5:277 f.30 ff.; vgl. 5:330 f.29 ff.).
Um Vergnügen und Schmerz zu erklären, reicht es nicht aus, die Aktivität des Gemüts für sich allein zu betrachten. Der Verweis auf die isolierte Aktivität des Gemüts erklärt nämlich lediglich das Zustandekommen eines unbestimmten Existenzbewusstseins, also des Selbstbewusstseins, das von Kant als „Gefühl eines Daseins“ (Prol 4:334.34 Anm.) oder als „unbestimmte empirische Anschauung“ (KrV B 422 Anm.) bezeichnet wird.¹³³ Um zu erklären, wie es zu einem
133 Dass das Selbstbewusstsein für Kant sehr eng mit dem Gefühl (der Lust und Unlust) verbunden ist, zeigt seine Warnung zu Beginn des Paralogismen-Kapitels in der Kritik der reinen
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„Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens“ kommt, müssen wir zusätzlich den Einfluss des Körpers auf diese Aktivität betrachten. Die Begründung, die Kant für diese These gibt, ist allerdings nicht leicht zu verstehen: Das Gemüt ist „für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst)“, und dies scheint zu implizieren, dass sich die Aktivität des Gemüts selbst weder befördern noch behindern kann. Behinderungen oder Beförderungen der Aktivität müssen folglich von außen kommen, aber so, dass der Mensch sie auch wahrnimmt. Sie müssen mithin ihren Grund in körperlichen Veränderungen haben, welche sich ihrerseits im „Gefühl des körperlichen Organs“ manifestieren. Vermutlich geht es dabei um jene Aktivität des Körpers, die für das Zustandekommen einer (äußeren) Empfindung verantwortlich oder aber ganz generell mit dem Vorstellen und Denken „harmonisch verbunden“ ist (KU 5:334.18).¹³⁴ Kants Argumentation ist schwierig und zudem nicht ganz ohne systematische Probleme für seine Theorie der Lust.¹³⁵ An dieser Stelle ist allerdings nur die Beobachtung wichtig, dass die Beförderung der Aktivität, welche der sinnlichen Lust zugrunde liegt, für Kant wesentlich mit körperlichen Veränderungen verbunden ist. Dies zeigt auch die Anmerkung im § 54 der Kritik der Urteilskraft, in der Kant Formen der sinnlichen Lust analysiert, die mit dem ästhetischen Erleben verwandt zu sein scheinen. Da diese Anmerkung auch für meinen eigenen Ansatz von Bedeutung ist, möchte ich sie hier etwas ausführlicher behandeln. Die dort thematisierten Formen der sinnlichen Lust beruhen auf dem schon angesprochenen quasi-kontemplativen Spiel, welches die Materie der Vorstellung und damit die Empfindungen betrifft (vgl. KU 5:331.19). Die Lust, die sich an diesem Spiel einstellt, ist daher auch keine Lust am Schönen, sondern eine sinnliche Lust und ein Vergnügen. Ein solches Spiel „vergnügt, weil es das Gefühl der Gesundheit befördert“ (KU 5:331.20), worunter Kant das in seiner Auseinandersetzung mit
Vernunft: „Das mindeste Objekt der Wahrnehmung (z. B. nur Lust oder Unlust), welche zu der allgemeinen Vorstellung des Selbstbewußtseins hinzu käme, würde die rationale Psychologie sogleich in eine empirische verwandeln“ (KrV A 343/B 401). 134 Dass das Denken körperliche Begleiterscheinungen hat, ist eine Hypothese, die Kant wiederholt äußert. So beruht seine Analyse der Wirkung des komischen Gedankens auf der Annahme, „daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sei“ (KU 5:334.17– 19; vgl. die Beilage zu Sömmerings Organ der Seele, 12:31– 35). 135 Aus Kants Argumentation scheint nämlich zu folgen, dass alle Gefühle von Lust und Unlust (und nicht nur Vergnügen und Schmerz) im Grunde körperlich und damit sinnlich sind. Denn wenn (a) alle Lust auf einer Beförderung des Lebens beruht und (b) diese Beförderung nur auf den Einfluss des Körpers zurückgehen kann, so scheint jede Lust im Grunde körperlich und damit sinnlich zu sein. Diese Idee lehnt Kant aber natürlich vehement ab (vgl. KU 5:330 f.26 ff.; 5:334 f.36 ff.; 5:205 f.29 ff.).
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Epikur bereits erwähnte Gefühl „des körperlichen Wohlbefindens“ versteht (KU 5:331.2). Kant unterscheidet drei Formen eines derartigen Spiels: „Glücksspiel, Tonspiel und Gedankenspiel“ (KU 5:331.25 f.). In allen drei Fällen verursacht der schnelle Wechsel von Vorstellungen oder Gefühlen eine Aktivität im Körper, an der wir dann ein Vergnügen haben. So kommt es im Fall des Glücksspiels bei den spielenden Personen zu einem raschen Wechsel der unterschiedlichsten Affekte (z. B. von Furcht, Hoffnung, Freude, Zorn und Hohn).¹³⁶ Diese sind dabei „so lebhaft, daß dadurch als eine innere Motion das ganze Lebensgeschäft im Körper befördert zu sein scheint, wie eine dadurch erzeugte Munterkeit des Gemüths es beweist, obgleich weder etwas gewonnen noch gelernt worden“ (KU 5:332.1– 4.). Durch den Wechsel der Affekte wird also das „ganze Lebensgeschäft im Körper“ befördert, und aus diesem Grund haben wir Freude am Spielen. Auch Kants Ausführungen zum Ton- und Gedankenspiel zeigen, wie sehr seine Theorie des sinnlichen Vergnügens auf die körperliche Aktivität rekurriert, die mit mentalen Vorgängen verbunden ist. Die Erklärung, die Kant hier von der Entstehung der sinnlichen Lust gibt, nimmt in einem wichtigen Punkt sogar die spätere Theorie der Emotionen von William James vorweg. Denn Kant zufolge bereiten uns nicht etwa die Schönheit einer Harmonie oder die Subtilität eines Witzes ein Vergnügen. Die direkte Ursache des Vergnügens ist vielmehr jene innere körperliche Bewegung, die wir gemeinhin als Ausdruck dieses Vergnügen ansehen: „Nicht die Beurtheilung der Harmonie in Tönen und Witzeinfällen, die mit ihrer Schönheit nur zum nothwendigen Vehikel dient, sondern das beförderte Lebensgeschäft im Körper, der Affect, der die Eingeweide und das Zwerchfell bewegt, mit einem Worte das Gefühl der Gesundheit (welche sich ohne solche Veranlassung sonst nicht fühlen läßt), machen das Vergnügen aus, welches man daran findet, daß man dem Körper auch durch die Seele beikommen und diese zum Arzt von jenem brauchen kann“ (KU 5:332.14 ff.).
Auch hier ist es das „beförderte Lebensgeschäft im Körper“, welches das Vergnügen auslöst. Der Affekt bewegt „die Eingeweide und das Zwerchfell“. Insbesondere im Hinblick auf den komischen Gedanken ergibt sich hieraus eine an William James erinnernde Pointe: Wir lachen nicht über etwas, weil wir ein Ver-
136 Kants Bemerkung, dass die Affekte hier „jeden Augenblick ihre Rolle wechseln“ (KU 5:332.1) verweist vermutlich auch auf eine soziale Komponente des Gesellschaftsspiels. Was an einem solchen Spiel vergnügt, ist ja nicht zuletzt die Tatsache, dass die Affekte hier schnell von einem Spielenden zum anderen springen.
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gnügen am komischen Gedanken finden. Vielmehr finden wir das Komische vergnüglich, weil wir darüber lachen. ¹³⁷ Dem sinnlichen Vergnügen, das wir an komischen Gedanken nehmen, muss also eine innere Bewegung des Körpers zugrunde liegen. Diese Bewegung wird von Kant in einer eingehenden Analyse des Lachens auf unterschiedliche Weisen beschrieben. Kant rekurriert zunächst auf eine Bewegung (,Schwingung’) in den Organen des Körpers. Im Witz lässt der Verstand in seinem Geschäft plötzlich nach, und die „Wirkung dieser Nachlassung“ wird im Körper gefühlt „durch die Schwingung der Organen, welche die Herstellung ihres Gleichgewichts befördert und auf die Gesundheit einen wohlthätigen Einfluß hat“ (KU 5:332.29 ff.). Eine andere Beschreibung verweist auf „ein Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper“ (KU 5:333.5 f.). Die für das Lachen kennzeichnende „Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ (KU 5:332.35) erfreut nicht an sich und objektiv, sondern bloß dadurch, „daß sie als bloßes Spiel der Vorstellungen ein Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper hervorbringt“ (KU 5:333.4– 6). Die anfängliche Erwartung und ihre anschließende Enttäuschung bringt eine „Bewegung des Gemüths nach zwei entgegengesetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich den Körper heilsam schüttelt“ (KU 5:335.17– 19). All dies zeigt zunächst, dass sich zumindest die sinnliche Lust nicht allein aus der Aktivität der Gemütsvermögen (z. B. des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens) erklären lässt. Vielmehr liegt der Lust am Angenehmen eine Aktivität der Lebenskräfte im Körper zugrunde. Diese Kräfte und ihre Aktivität sind weder rein körperlich noch rein mental – es geht vielmehr um die „Verbindung“ des Menschen mit seinem Körper (KU 5:278.5).¹³⁸ Diese Ausführungen aus der Anmerkung 137 Vgl. die These von James: „My thesis is […] that the bodily changes follow directly the perception of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as their occur is the emotion“ (James 1884, 189 f.). Die grundlegende Idee besteht darin, dass die körperlichen Bewegungen, die wir gemeinhin als Ausdruck einer Emotion ansehen, in Wahrheit die Ursache für die Emotion darstellen. In James eigenem Beispiel: Wir weinen nicht, weil wir traurig sind; vielmehr sind wir traurig, weil wir weinen (vgl. James 1884, 190; zur Theorie von James vgl. Hartmann 22010, 38 ff.; Deigh 2010, 18 ff.). 138 Vor dem Hintergrund von Kants Kritik an der rationalen Psychologie ist es schon erstaunlich, dass Kant etwa im § 56 der Kritik der Urteilskraft unbekümmert über die Interaktion von lebendigem Körper und menschlichem Gemüt spekuliert. Dieses Problem kann in dieser Arbeit naturgemäß nicht eingehend behandelt werden. Ich will nur darauf hinweisen, dass es Kant in seiner Kritik der rationalen Psychologie nicht einfach um das Verhältnis von mentalen Zuständen (Gefühlen, Bewusstsein usw.) zum menschlichen Körper geht. Im Vordergrund steht vielmehr der „alleinige Text der rationalen Psychologie“, nämlich das reine „Ich denke“ (KrV A 343/B 401). Es geht mithin nur um die Frage, ob eine ganz bestimmte Aktivität des Gemüts – das Denken – seiner Natur nach unabhängig vom Körper existiert. Wenn wir dies berücksichtigen, so können wir Kants Aussagen über die körperlichen Aspekte von Vorstellungen, Gedanken und
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im § 54 der Kritik der Urteilskraft legen folglich ganz generell die Annahme nahe, dass wir die Lust am Angenehmen nicht – wie in Engstroms Vorschlag – rein aus einer Gemütsaktivität erklären können. Wir müssen selbst in jenen Fällen, in denen sich die Lust an einem Gedanken (etwa einem Witz) einstellt, auf die Aktivität im Körper verweisen, um ihr Zustandekommen zu erklären. Bevor ich nun die Konsequenzen thematisiere, die sich aus diesen Ausführungen Kants ergeben, möchte ich einen dritten Punkt an Engstroms Vorschlag diskutieren. Dieser Punkt betrifft die Frage, ob sich die Idee einer unmittelbar wechselseitigen Beförderung von Vermögen überhaupt auf die praktische Lust übertragen lässt. In der praktischen Lust befördern sich Engstrom zufolge die Aktivitäten des Erkenntnisvermögens und des Begehrungsvermögens unmittelbar wechselseitig. So führt in der Lust am Angenehmen eine (theoretische) Empfindung zum Begehren, und dieses Begehren beinhaltet eine Tendenz, die Empfindung erneut hervorzubringen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir es hier allenfalls mit einer einseitigen Beförderung zu tun haben. Die theoretische Empfindung führt zwar unmittelbar zu einer Begierde, doch diese Begierde trägt für sich betrachtet noch nichts zur Steigerung der Aktivität des theoretischen Vorstellens bei. Eine faktische Wechselwirkung der beiden Aktivitäten von Begehren und Erkennen würde nur dann zustande kommen, wenn wir tatsächlich als Folge unseres Begehrens erneut eine Empfindung hervorbringen, die diesem Begehren zugrunde gelegen hat. Eine solche Empfindung können wir allerdings nur hervorbringen, wenn wir das Objekt der Empfindung durch eigenes Handeln erneut verwirklichen (oder die Bedingungen für seine Gegenwart sicherstellen). Folglich wäre die Beförderung auch in diesem Fall nicht unmittelbar wechselseitig, weil zwischen die Aktivitäten der beiden Vermögen eine ganz andere Bemühung eingeschaltet werden muss, nämlich unser eigenes Handeln. Aus dieser Überlegung ergibt sich der Verdacht, dass die Idee einer wechselseitigen Beförderung von Vermögen mit einem wesentlichen Merkmal der praktischen Lust unvereinbar ist. Dieses Merkmal besteht letztlich in der Interessiertheit der praktischen Lust, d. h. in der Tatsache, dass hier die Tendenzen zur Zustandserhaltung und zur Hervorbringung des Objekts eng miteinander verbunden sind. Wenn sich zwei Kräfte des Gemüts in einem direkten Sinn wechselseitig befördern, dann bedarf es keiner weiteren Bemühung, um den Aktivitätszustand dieser Kräfte aufrechtzuerhalten. Denn, so könnte man mit Kant sagen, der Zustand einander wechselseitig befördernder Kräfte „erhält sich selbst“ (EE 20:231.2). Die Idee einer wechselseitigen Beförderung von Kräften ist folglich
Einbildungen vielleicht gerade als Ausdruck einer im weiteren Sinn naturalistisch eingestellten empirischen Psychologie auffassen.
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konstitutiv für eine kontemplative und damit für eine nicht-praktische Lust. So spricht Kant davon, dass wir bei der Betrachtung des Schönen „weilen“, und dies scheint zu besagen, dass wir diese Betrachtung ohne weitere Bemühungen aufrechterhalten können. Die Lust aus dem Spiel der Erkenntniskräfte ist, wie Kant im § 11 der Kritik der Urteilskraft schreibt, „auf keinerlei Weise praktisch, weder wie die aus dem pathologischen Grunde der Annehmlichkeit, noch die aus dem intellectuellen des vorgestellten Guten. Sie hat aber doch Causalität in sich, nämlich den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntnißkräfte ohne weitere Absicht zu erhalten. Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproducirt“ (KU 5:222.28 – 34).
Kant verbindet an dieser Stelle die Idee der Tendenz eines Zustandes zu seiner bloßen Selbsterhaltung mit der Idee der Kontemplativität der Lust am Schönen. Die Lust aus dem freien Spiel hat zwar Kausalität in sich, doch diese Kausalität bezieht sich nicht auf das Hervorbringen eines Gegenstandes oder das Ausführen einer Handlung. Stattdessen geht es hier ausschließlich darum, „den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntnißkräfte ohne weitere Absicht zu erhalten“. Dies manifestiert sich im alltäglichen Bewusstsein so, dass wir bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes „weilen“, d. h. diesen Zustand ohne zusätzliche Bemühungen aufrechterhalten können. Kants Erklärung dieses Phänomens scheint letztlich die Idee der wechselseitigen Beförderung der Vorstellungskräfte zugrunde zu liegen. Dass die Betrachtung des Schönen „sich selbst stärkt und reproducirt“, liegt darin begründet, dass sich in dieser Betrachtung – also in der ästhetischen Reflexion – die beiden Vorstellungskräfte Einbildungskraft und Verstand wechselseitig befördern. Meine Diskussion von Engstroms Vorschlag hat also im Wesentlichen drei negative Ergebnisse. Erstens ist es schwierig zu sehen, in welchem Sinn dieser Lust eine Beförderung der theoretischen Aktivität des Erkennens zugrunde liegt. Zweitens handelt es sich bei den Kräften, die in der praktischen Lust am Angenehmen befördert werden, nicht um reine Gemütskräfte; es muss sich vielmehr auch um Lebenskräfte handeln, welche zwar einerseits mit der Ausübung eines Gemütsvermögens (des Begehrungsvermögens) verbunden sind, andererseits aber doch auch konstitutiv für das Lebensgeschäft des Körpers sind. Das dritte Ergebnis betrifft die Struktur, welche die Beförderung von Kräften haben soll. Die Beförderung der Kräfte, welche der praktischen Lust zugrunde liegt, kann nicht die Struktur direkter Wechselseitigkeit haben. Denn in diesem Fall wäre die praktische Lust gar nicht mehr praktisch, weil sich die ihr zugrunde liegende Aktivität ohne weitere Bemühung selbst reproduzieren würde.
§ 3 Lust und die subjektive Einheit des Lebens
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§ 3 Lust und die subjektive Einheit des Lebens Gleichwohl lohnt es sich, an Engstroms Grundstrategie festzuhalten. Welche Aussagen Kants über die Struktur der Aktivitätsbeförderung in der kontemplativen Lust lassen sich so verallgemeinern, dass sie auch für die praktische Lust gelten? Es gilt also eine Eigenschaft zu finden, die einem Aktivitätszustand zukommt, sofern dieser Zustand der Lust überhaupt zugrunde liegt. Aus dem bereits Ausgeführten ergibt sich, dass diese Eigenschaft nicht darin bestehen kann, dass sich hier Kräfte in einem direkten Sinn wechselseitig befördern. Worin aber sollte sie sonst bestehen? Im Folgenden möchte ich eine Antwort auf diese Frage vorschlagen. Dabei beschränke ich meine Überlegungen allerdings auf die Analogie, die zwischen der Lust am Schönen und der Lust am Angenehmen besteht. Eine angemessene Erörterung von Kants Theorie des moralischen Gefühls würde eine ausführliche Interpretation seiner Theorie des moralischen Urteils erfordern, die ich erst im fünften Kapitel entwickeln werde. Dort werden wir allerdings sehen, dass sich die Grundlinien meines Vorschlags auch auf die Entstehung des moralischen Gefühls anwenden lassen (vgl. Kap. 5, §§ 6 f.). Ich beginne mit der Frage, ob wir bei Kant eine nähere Charakterisierung des Zustandes gesteigerter Aktivität finden, welcher der Lust im Allgemeinen zugrunde liegt. Tatsächlich findet sich eine solche Charakterisierung in der Definition L2. Die Lust, schreibt Kant dort, ist ein „Zustand des Gemüths, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt“ (EE 20:230.11 f.). Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich diese Formulierung nicht nur auf die Lust, sondern auch auf den zugrunde liegenden Aktivitätszustand bezieht. Dies zeigt, wie bereits angedeutet, die Art und Weise, wie Kant in der Definition seine allgemeine Erklärung auf die kontemplative Lust anwendet. Bei dieser Lust soll das Zusammenstimmen der Vorstellung mit sich selbst der Grund dafür sein, dass wir zur Aufrechterhaltung dieses Zustandes tendieren. Warum dies so ist, erläutert Kant nun aber nicht im Rekurs auf das Lustbewusstsein, sondern im Rekurs auf die zugrunde liegende Aktivität im freien Spiel: „[…] der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst“ (EE 20:230 f.13 f.). Im Fall der kontemplativen Lust ist also letztlich die wechselseitige Beförderung der Gemütskräfte im freien Spiel der Grund dafür, dass ein Zustand zu seiner Erhaltung tendiert. Diese wechselseitige Beförderung ist mithin eine besondere Form des Zusammenstimmens einer Vorstellung mit sich selbst. Folglich lässt sich der lusterzeugende Aktivitätszustand ganz allgemein als ein Zustand beschreiben, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt. Mit dieser Feststellung ist natürlich wenig gewonnen, solange nicht geklärt ist, was diese Formulierung überhaupt besagt. Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich meines Erachtens aus Kants Charakterisierungen des freien Spiels in der Kritik
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3. Lust als subjektive Einheit des Lebens
der Urteilskraft. Denn Kant spricht in diesem Fall tatsächlich davon, dass die Gemütskräfte im freien Spiel in oder an einer Vorstellung zusammenstimmen. So beschreibt er das Verhältnis der Gemütskräfte im freien Spiel allein im § 9 als ‚Zusammenstimmung‘, ‚Übereinstimmung‘, ‚Harmonie‘ oder als ‚proportionierte Stimmung‘.¹³⁹ Im freien Spiel kommt es folglich in einer Vorstellung zu einer Art von Einheitlichkeit oder Einheit der Aktivität der beiden Vorstellungskräfte – Kant selbst spricht auch von einer „subjective[n] Einheit des Verhältnisses“ von Verstand und Einbildungskraft (KU 5:219.3 f.). Es lohnt sich, der Bedeutung dieser zuletzt angeführten Redeweise einer ‚subjektiven Einheit‘ von Kräften nachzugehen. Als subjektive Einheit ist das Verhältnis der beiden Gemütskräfte zunächst unterschieden von ihrem „objective[n] Verhältniß“ (KU 5:219.9) im theoretischen Urteil. Kant zufolge werden in einem solchen Urteil die Aktivitäten von Einbildungskraft und Verstand durch einen spezifischen Begriff kontrolliert; der Begriff stellt eine „besondere Erkenntnißregel“ dar, welche die Aktivität der beiden Kräfte „einschränkt“ (KU 5:217.23). Da diese kontrollierte Aktivität wesentlich der Bestimmung des Objekts im logischen Urteil dient, bezeichnet Kant das zugrunde liegende Verhältnis der beiden Kräfte als objektiv.¹⁴⁰ Der Begriff vereinigt hier „Verstand und Einbildungskraft in der Beurtheilung des Gegenstandes zu einem Erkenntnisse des Objects“ (KU 5:218.33 f.). Diese Vereinigung scheint letztlich eine Leistung der Urteilskraft darzustellen, denn das Produkt dieser Vereinigung soll die Subsumtion eines Gegenstandes der Anschauung unter einen Begriff sein.¹⁴¹ Da nun das Geschmacksurteil gerade nicht auf einem Begriff von einem Objekt beruht,
139 Kant spricht von einer „wechselseitigen subjectiven Übereinstimmung der Erkenntnißkräfte unter einander“ (KU 5:218.27 f.) und davon, dass Einbildungskraft und Verstand im freien Spiel „unter einander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen“ (KU 5:218.1– 3). Entsprechend bezeichnet er das Verhältnis auch als eine „Harmonie der Erkenntnißvermögen“ (KU 5:218.10 f.); im freien Spiel kommt es zu einer „Belebung“ der beiden Vermögen „zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung einhelliger Thätigkeit“ (KU 5:219.4 ff.). 140 Dieser Gedanke ergibt sich aus der doppelten Funktion, welche Kant dem Begriff zuschreibt (vgl. hierzu auch Kap. 1, § 6). Kant zufolge wird im Begriff nicht nur das allgemeine Merkmal eines Objekts gedacht; der Begriff stellt darüber hinaus die Vorschrift dar, welche die Einbildungskraft befolgen muss, um dieses Merkmal in der Anschauung darzustellen. Im Hinblick auf letztere Funktion des Begriffs spricht Kant vom Schema (vgl. KrV A 138 ff./B 177 ff.). 141 Letztlich geht es also nicht um den Begriff, sondern um das Schema. Dies zeigt die Bemerkung, die Kant in folgender Formulierung in Klammern anfügt: „Wäre die gegebene Vorstellung, welche das Geschmacksurtheil veranlaßt, ein Begriff, welcher Verstand und Einbildungskraft in der Beurtheilung des Gegenstandes zu einem Erkenntnisse des Objects vereinigte, so wäre das Bewußtsein dieses Verhältnisses intellectuell (wie im objectiven Schematism der Urtheilskraft, wovon die Kritik handelt)“ (KU 5:218.32– 36; H. v. m.).
§ 3 Lust und die subjektive Einheit des Lebens
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müssen sich die beiden Gemütskräfte in dem Gemütszustand, der dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, in einem freien Spiel befinden. Dies bedeutet, dass „kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnißregel einschränkt“ (KU 5:217.22 f.). Diese Charakterisierung der subjektiven Einheit der Vorstellungskräfte ist noch rein negativ; diese Einheit wird nicht dadurch hergestellt, dass diese Kräfte in ihrer Aktivität einer Erkenntnisregel folgen. Obwohl nun das Verhältnis der beiden Vorstellungskräfte im freien Spiel nicht objektiv ist, so ist es doch immerhin eine Art von Einheit. Dies wiederum scheint daran zu liegen, dass zwischen dem Zustand der Kräfte im freien Spiel und der Ausübung unseres Erkenntnisvermögens in theoretisch-empirischen Urteilen ein konstitutiver Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang wird von Kant in unterschiedlichen Formulierungen beschrieben. Kant zufolge beziehen die Vorstellungskräfte die Vorstellung im freien Spiel zwar nicht auf eine bestimmte Erkenntnis, aber doch „auf Erkenntniß überhaupt“ (KU 5:217.20). Im freien Spiel stimmen Einbildungskraft und Verstand untereinander zusammen, „wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist“ (KU 5:218.2). Anlässlich einer gegebenen Vorstellung werden hier die Erkenntniskräfte in die „proportionirte Stimmung“ versetzt, „die wir zu allem Erkenntnisse fordern“ (KU 5:219.20 f.). Gerade die beiden zuletzt zitierten Formulierungen zeigen, dass es Kant hier nicht um eine höhere Art von Erkenntnis geht. Dass sich die beiden Vorstellungskräfte auf ‚Erkenntnis überhaupt‘ beziehen, scheint vielmehr zu bedeuten, dass ihr Verhältnis eine allgemeine Anforderung für die gelungene Ausübung des Erkenntnisvermögens in theoretischen Urteilen erfüllt. So spricht Kant auch von einem Verhältnis „der Vorstellungskräfte zu einem Erkenntnißvermögen überhaupt“ (KU 5:219.12 f.). Die Einheit der beiden Kräfte im freien Spiel ist also im Grunde eine Form von teleologischer Einheit, weil das Verhältnis der beiden Kräfte sich überhaupt nur als Einheit beschreiben lässt, wenn man ein gemeinsames Ziel der Ausübung dieser Kräfte im Funktionszusammenhang des Erkenntnisvermögens zugrunde legt. Die Kräfte verhalten sich hier so zueinander, wie es für die gelungene Ausübung des Erkenntnisvermögens in empirisch-theoretischen Urteilen zweckmäßig ist. Aus Kants Ausführungen wird allerdings nicht ganz klar, ob sich dieses Verhältnis immer auch in theoretischen Urteilen einstellt oder ob es sich um ein optimales Verhältnis für die Ausübung des Erkenntnisvermögens handelt. Im § 9 scheint Kant davon auszugehen, dass das Verhältnis eine notwendige Bedingung für theoretisch-empirisches Urteilen darstellt. Jede bestimmte Erkenntnis, heißt es dort, beruht „auf jenem Verhältniß [der Erkenntniskräfte im freien Spiel – T. H.] als subjectiver Bedingung“ (KU 5:218.6 f.). Im § 21 spricht Kant jedoch von einer Stimmung der Gemütskräfte, „in welcher dieses innere Verhältniß zur Belebung (einer durch die andere) die zuträglichste für beide Gemüthskräfte in Absicht auf
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Erkenntniß (gegebener Gegenstände) überhaupt ist“ (KU 5:238 f.; H. v. m.). In beiden Fällen bleibt die Einheit jedoch teleologisch und zugleich subjektiv. Denn sie beruht nicht auf dem Begriff des Objekts, sondern ergibt sich aus der teleologischen Ausrichtung dieser Kräfte auf das Ideal einer gelungenen Aktivität des Subjekts, nämlich auf das gelungene empirische Erkennen in logischen Urteilen. Aufgrund der genannten Eigenschaften der subjektiven Einheit spricht Kant dann im § 11 von der „subjective[n] Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes“ (KU 5:221.22), die das Wohlgefallen am Schönen und zugleich den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmacht.¹⁴² Den Begriff einer subjektiven Zweckmäßigkeit verwendet Kant schon in der Ersten Einleitung, allerdings zunächst im Hinblick auf das transzendentale Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. In diesem Prinzip denken wir uns eine „Zweckmäßigkeit der Natur“, wobei „der Zweck gar nicht im Object, sondern lediglich im Subject und zwar dessen bloßem Vermögen zu reflectiren gesetzt wird“ (EE 20:216.4 ff.). In dieser Formulierung ist schon angedeutet, wie Kant den Begriff der subjektiven Zweckmäßigkeit verstanden wissen will. Etwas ist subjektiv zweckmäßig, wenn es mit den subjektiven Bedingungen der Ausübung eines Vermögens des Subjekts übereinstimmt, d. h. besonders gut zu diesen Bedingungen passt. Dass dem Geschmacksurteil eine ‚subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes‘ zugrunde liegt, bedeutet also, dass sich die Vorstellungskräfte hier in der Vorstellung eines Gegenstandes in einem Zustand befinden, der besonders gut zu den allgemeinen Ausübungsbedingungen des Erkenntnisvermögens passt. Vieles spricht nun dafür, dass diese Grundstruktur einer subjektiven Zweckmäßigkeit einer Aktivität in der Vorstellung eines Gegenstandes nicht nur der Lust am Schönen, sondern letztlich jeder Lust zugrunde liegt. Denn Kant deutet in der Ersten Einleitung und in der Kritik der Urteilskraft an, dass die Lust im Grunde nichts anderes ist als das Bewusstsein einer subjektiven Zweckmäßigkeit. So kritisiert Kant in der Ersten Einleitung Wolff, der die Lust als sinnliche Erkenntnis einer Vollkommenheit definiert hatte. Der Begriff der Vollkommenheit – mit Kant verstanden als objektive Zweckmäßigkeit – hat „mit dem Gefühle der Lust und diese mit jenem gar nichts zu thun“, wohingegen „die Vorstellung einer subjectiven Zweckmäßigkeit eines Objects mit dem Gefühle der Lust so gar einerley“ ist (EE 20:228.30 ff.). An einer früheren Stelle unterscheidet Kant bereits zwei Arten
142 Die Zweckmäßigkeit, die dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, ist nicht nur subjektiv, sondern darüber hinaus auch formal und „ohne allen (weder subjectiven oder objectiven) Zweck“ (KU 5:221.23). Diese Charakteristika sind dafür verantwortlich, dass sich das Wohlgefallen am Schönen von anderen Formen des Wohlgefallens (am Angenehmen und am Guten) wesentlich unterscheidet. Mir geht es an dieser Stelle allerdings vor allem um jene Eigenschaften, die das freie Spiel mit anderen lusterzeugenden Aktivitäten gemeinsam hat.
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einer subjektiven Zweckmäßigkeit (vgl. EE 20:224.29 ff.). Die materiale Zweckmäßigkeit wird dem ästhetischen Sinnesurteil und folglich der Lust am Angenehmen zugeordnet, während die formale Zweckmäßigkeit dem ästhetischen Reflexionsurteil und der Lust am Schönen zugeordnet wird. Der Kontext der Stelle deutet darauf hin, dass sich die Unterscheidung zwischen materialer und formaler Zweckmäßigkeit hier auf die formalen bzw. materialen Aspekte der lusterzeugenden Vorstellung bezieht. Während sich die Lust am Angenehmen wesentlich aus der Materie der empirischen Anschauung (der Empfindung) ergibt, resultiert die Lust am Schönen aus der Form der empirischen Anschauung.¹⁴³ An diesem Punkt könnte man sich die Frage stellen, ob Kant zufolge die subjektive Zweckmäßigkeit wirklich eine Eigenschaft der vorstellungsbezogenen Aktivität oder nicht doch eher eine Eigenschaft der Vorstellung – eine Eigenschaft ihrer Form bzw. ihrer Materie – darstellt. Nun habe ich bereits im vorangegangenen Abschnitt dafür argumentiert, dass für Kant die Aktivität, die der Lust zugrunde liegt, nichts anderes ist als ein Aspekt der Vorstellung selbst. Folglich muss die subjektive Zweckmäßigkeit sowohl der Vorstellung als auch der entsprechenden Aktivität zukommen. Diese Deutung wird auch durch Kants Beschreibung des freien Spiels der Erkenntniskräfte nahegelegt. An einer Stelle im § 9 bemerkt Kant, dass die Vorstellung bestimmte Merkmale aufweisen muss, damit es zu einem Zustand subjektiver Einheit der Gemütskräfte kommt. Die proportionierte Stimmung der Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel wird, so Kant, hervorgebracht durch eine „Vorstellung, die als einzeln und ohne Vergleichung mit andern dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht“ (KU 5:219.17 ff.). Eine empirische Anschauung weist also bereits von sich aus, (d. h. ohne dass wir sie mit anderen Anschauungen verglichen hätten), eine Angemessenheit zu den „Bedingungen der Allgemeinheit“ der Begriffe des Verstandes auf. Folgen wir den Ausführungen in der Ersten Einleitung zur ästhetischen Reflexion, so lässt sich diese Voraussetzung aber auch als eine Eigenschaft der Aktivität der Einbildungskraft bei der Auffassung des Mannigfaltigen der Anschauung beschreiben. Die Handlung der Einbildungskraft bei der Auffassung des
143 In der Kritik der Urteilskraft scheint Kant die Unterscheidung zwischen materialer und formaler Zweckmäßigkeit etwas anders einzuführen. Kant zufolge „können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion bemerken“ (KU 5:220.27 ff.). Die „Zweckmäßigkeit der Form nach“ scheint hier also identisch mit der Zweckmäßigkeit ohne Zweck zu sein, die dem Geschmacksurteils zugrunde liegt (vgl. KU 5:221.21 ff.).
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Mannigfaltigen entspricht in der ästhetischen Reflexion in besonderem Maße den Erfordernissen der Darstellung von Begriffen des Verstandes. Eine solche Sichtweise wird durch Kants Beschreibung der ästhetischen Reflexion in der Ersten Einleitung nahegelegt: „Wenn denn die Form eines gegebenen Objects in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, daß die Auffassung des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der Darstellung eines Begrifs des Verstandes (unbestimmt welches Begrifs) übereinkommt, so stimmen in der bloßen Reflexion Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäfts zusammen, und der Gegenstand wird als zweckmäßig blos für die Urtheilskraft wahrgenommen, mithin die Zweckmäßigkeit selbst blos als subjectiv betrachtet; wie denn auch dazu gar kein bestimmter Begrif vom Objecte erfordert noch dadurch erzeugt wird, und das Urtheil selbst kein Erkenntnisurtheil ist“ (EE 20:220 f.31 ff.).
Zu einer ästhetischen Reflexion kommt es nach Kant, wenn die Form einer empirischen Anschauung dazu führt, dass zwei Handlungen der beim Urteilen maßgeblich beteiligten Erkenntniskräfte miteinander ‚übereinkommen‘: das Auffassen des Mannigfaltigen der Anschauung und das Darstellen eines dem Begriff korrespondierenden Gegenstandes in der Anschauung.¹⁴⁴ Die Idee ist schwierig, scheint aber in etwa Folgendes zu besagen: Um überhaupt eine Vorstellung zu haben, in der ein Mannigfaltiges enthalten ist, muss die Einbildungskraft dieses Mannigfaltige auffassen (also nacheinander durchgehen und zusammennehmen, vgl. KrV A 99). In der ästhetischen Reflexion verfährt nun die Einbildungskraft schon bei dieser Auffassung so, als ob sie das Mannigfaltige angeleitet durch eine Erkenntnisregel zusammenfassen und auf diese Weise einen gedachten Gegenstand in der Anschauung darstellen würde. Die Auffassungshandlung der Einbildungskraft weist also schon von sich aus – und ohne die faktische Regulierung durch eine bestimmte Erkenntnisregel – die typischen Charakteristika einer Darstellungshandlung auf.¹⁴⁵
144 Die Auffassung des Mannigfaltigen des Objekts durch die Einbildungskraft ist eine für das Vorstellen konstitutive Handlung. Die Einbildungskraft muss, wie Kant in der ersten Kritik ausführt, das Mannigfaltige in der Zeit durchgehen, um es in eine Vorstellung, die ein Mannigfaltiges enthält, zu bringen (vgl. KrV A 99). Die Darstellung besteht hingegen darin, dass die Einbildungskraft bei der Zusammensetzung des Mannigfaltigen nach einer Regel – dem Schema – verfährt, um das dem Begriff des Gegenstandes korrespondierende Bild in der Anschauung zu erzeugen (vgl. KrV A 141/B 180). 145 Was es bedeutet, dass die Auffassungshandlung die typischen Charakteristika einer Darstellungshandlung aufweist, ist schwierig zu explizieren. Dies scheint aber weniger an Kants Formulierungen, sondern an der Sache selbst zu liegen. Denn diese Charakteristika sollen der Darstellungshandlung ja unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Regel (also vom besonderen Begriff bzw. dessen Schema) zukommen. Aus diesem sachlichen Grund greift Kant
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Man könnte folglich sagen, dass sich die Zweckmäßigkeit im freien Spiel unter zwei Rücksichten beschreiben lässt. Unter der ersten Rücksicht ist die Form der Vorstellung zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung der Urteilskraft in theoretischen Urteilen. Es ist eine Bedingung für theoretisch-empirisches Urteilen, dass die Form der gegebenen Vorstellung so beschaffen ist, dass in dem von der Einbildungskraft aufgefassten Mannigfaltigen überhaupt der dem Begriff korrespondierende Gegenstand dargestellt werden kann. Diese Bedingung lässt sich nun aber unter einer zweiten Rücksicht auch aktivisch beschreiben. Damit die Urteilskraft einen Gegenstand in der empirischen Anschauung darstellen kann, muss sich die Aktivität der Einbildungskraft in der Auffassung des Mannigfaltigen schon von sich aus nach der allgemeinen ‚Gesetzmäßigkeit‘ des Verstandes richten. Im freien Spiel weist nun aber die Auffassungshandlung der Einbildungskraft schon von sich aus die typischen Charakteristika einer durch den Begriff regulierten Darstellungshandlung auf – ohne dass die Aktivität der Einbildungskraft hier, wie es für die eigentliche Darstellung eines bestimmten Gegenstandes erforderlich wäre, durch einen bestimmten Begriff reguliert ist.¹⁴⁶ Folglich ist das Bewusstsein des subjektiven Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand zugleich ein Bewusstsein der Tatsache, dass eine subjektive Bedingung für die Ausübung des Erkenntnisvermögens bzw. der Urteilskraft in
auch auf scheinbar paradoxe Erklärungen zurück. So spricht Kant davon, dass die Einbildungskraft nicht nach einem bestimmten Gesetz des Verstandes, wohl aber „in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt“ verfährt (KU 5:241.2 f.) oder dass „die Einbildungskraft ohne Begriff schematisirt“ (KU 5:287.16 f.). – Damit ein solches subjektives Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand zustande kommt, muss die Form der Vorstellung in der Tat weit anspruchsvollere Bedingungen erfüllen als bei einem einfachen empirischen Urteil. Denn die Direktion oder Reihenfolge, in der die Einbildungskraft das Mannigfaltige auffasst, ist zufällig und nicht festgelegt. Beim Auffassen des Mannigfaltigen in der Vorstellung eines Gegenstandes (etwa eines Hauses) kann ich in beliebiger Reihenfolge verfahren (vom Dach zu den Fenstern zur Tür oder von den Fenstern zum Dach zu Tür usw.). Damit es nun zu einem freien Spiel kommt, muss die Form so beschaffen sein, dass die Auffassungshandlung in nahezu allen möglichen Direktionen die typischen Charakteristika einer Darstellungshandlung aufweist. Denn andernfalls könnte das Geschmacksurteil keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Wohlgefallens machen, weil ja nicht sicher ist, ob meine Mitmenschen den Gegenstand in derselben Direktion wie ich auffassen. Diese Überlegung verdient eine genauere Diskussion. Vielleicht erklärt sie auch, in welchem Sinn sich die Aktivität im freien Spiel selbst reproduziert. Wir können das Mannigfaltige der Vorstellung eines schönen Gegenstandes in immer neuen Direktionen auffassen, und dieses Auffassen weist stets die typischen Charakteristika einer Darstellungshandlung auf. 146 Der Gegenstand gibt der Einbildungskraft hier „eine solche Form an die Hand […], die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde“ (KU 5:240 f.31 ff.).
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theoretischen Urteilen erfüllt ist. Dass wir die Zweckmäßigkeit im freien Spiel auf diese beiden Weisen betrachten können, reflektiert im Grunde nur die Tatsache, dass die Aktivität, welche der Lust am Schönen zugrunde liegt, nicht sinnvoll von der Vorstellung selbst getrennt werden kann. Im Lichte dieser Überlegungen zum freien Spiel der Erkenntniskräfte können wir nun die allgemeine Frage etwas genauer beantworten, auf welche Weise eine gesteigerte Aktivität nach Kant strukturiert sein muss, die anlässlich einer Vorstellung zu einer Lust führen soll. Damit es zu einer Lust kommt, reicht es erstens nicht aus, dass einfach irgendwelche Kräfte des Subjekts gesteigert werden. Die Kräfte, die in einer Lust gesteigert werden, müssen vielmehr beim Zustandekommen der Vorstellung selbst beteiligt sein; sie müssen konstitutiv dafür sein, dass wir etwas vorstellen. Zweitens sollte ein Zusammenhang bestehen zwischen diesen Kräften und der gelungenen Ausübung eines übergeordneten Grundvermögens des menschlichen Gemüts. Dies bedeutet zunächst, dass die Anwendung dieser Kräfte normalerweise eine Bedingung für die eigentliche Ausübung eines solchen Gemütsvermögens darstellt; so stellt z. B. die Aktivität der Einbildungskraft eine Bedingung für die Ausübung des Erkenntnisvermögens in empirischtheoretischen Urteilen dar. Damit es nun zu einer Lust kommt, müssen die Kräfte darüber hinaus angesichts einer Vorstellung in einen Zustand geraten, der besonders gut zu den Bedingungen einer gelungenen Ausübung dieses Gemütsvermögens passt. So geraten Einbildungskraft und Verstand bei der Vorstellung des Schönen in einen Zustand, der subjektiv zweckmäßig ist im Hinblick auf die gelungene Ausübung des Erkenntnisvermögens in theoretisch-empirischen Urteilen. Drittens sollte die Aktivität, die zu einer Lust führt, zumindest in ihren wesentlichen Zügen nicht durch eine spezifische Regel, d. h. durch den Begriff eines Objekts, kontrolliert werden. Die Aktivität, die einer Lust zugrunde liegt, sollte also, um einen kantischen Ausdruck aufzunehmen, in ihren wesentlichen Zügen frei von der intellektuellen Kontrolle durch das Subjekt sein. So wird die Aktivität von Einbildungskraft und Verstand im freien Spiel Kant zufolge nicht durch den Begriff eines Objekts und die entsprechende Erkenntnisregel eingeschränkt. In einem Aktivitätszustand, der diese drei Bedingungen erfüllt, stimmt demnach eine Vorstellung mit sich selbst zusammen. Die Entscheidung über die Angemessenheit dieser Deutung hängt sicherlich hauptsächlich von der Frage ab, inwieweit sich die angegebene Beschreibung sinnvoll auf die übrigen Formen der Lust übertragen lässt. An dieser Stelle geht es mir vor allem um die sinnliche Lust am Angenehmen. Dieser Lust liegt zunächst nicht die Form, sondern die Materie der Vorstellung, also Empfindung, zugrunde. Wir können also sagen, dass in dieser Lust eine Empfindung mit sich selbst zusammen stimmt. Ein erster Aspekt dieser Zusammenstimmung einer Empfindung mit sich selbst besteht nun darin, dass sich die Kräfte in dieser Empfindung im
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Zustand gesteigerter Aktivität befinden. Ich spreche von Kräften in der Empfindung, weil diese Kräfte in einem ähnlichen Sinn konstitutiv für das Zustandekommen der Empfindung sein müssen, wie die Aktivität von Einbildungskraft und Verstand konstitutiv ist für das theoretische (reflektierte) Vorstellen eines Gegenstandes. Nun habe ich bereits in meiner Diskussion von Engstroms Vorschlag darauf hingewiesen, dass nach Kant der sinnlichen Lust letztlich eine Steigerung der körperlichen Lebenskräfte zugrunde liegt. Folglich liegt die Annahme nahe, dass der sinnlichen Lust eine Steigerung jener körperlichen Kräfte zugrunde liegt, die eine wesentliche Rolle beim Zustandekommen der Empfindung spielen. Dies wiederum kann im Grunde nur bedeuten, dass diesen Kräften eine wesentliche Rolle bei der empirischen Affektion durch den Gegenstand zukommt; diese Affektion beinhaltet eine Wechselwirkung zwischen dem Gegenstand und unseren körperlichen Kräften. Eine erster Aspekt des Zusammenstimmens einer Empfindung mit sich selbst besteht also darin, dass hier die körperlichen Kräfte, die wesentlich an der empirischen Affektion durch den Gegenstand der Anschauung beteiligt sind, bei dieser Affektion in einen Zustand gesteigerter Aktivität geraten. Diese Angaben erschöpfen natürlich noch nicht den Sinn der Aussage, dass eine Empfindung mit sich selbst zusammenstimmt. Berücksichtigen wir die oben gegebene allgemeine Beschreibung der Entstehung einer Lust, so sollte zweitens ein konstitutiver Zusammenhang bestehen zwischen den besagten körperlichen Kräften und der gelungenen Ausübung eines Vermögens des menschlichen Gemüts. Der Einsatz dieser Kräfte muss eine Bedingung für die gelungene Ausübung eines solchen Gemütsvermögens sein. So ist der Einsatz der Vorstellungskräfte (Einbildungskraft und Verstand), die im freien Spiel befördert werden, eine konstitutive Bedingung für die Ausübung unseres Erkenntnisvermögens in theoretischen Urteilen. In einem ähnlichen Sinn könnten wir nun davon sprechen, dass der Einsatz unserer körperlichen Kräfte eine Bedingung für die Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln ist. Bei diesem Handeln müssen wir die körperlichen Kräfte so koordinieren, dass wir durch ihren Einsatz den begehrten Gegenstand hervorbringen (vgl. hierzu Kap. 1, § 6). Der Aktivitätszustand, welcher der sinnlichen Lust zugrunde liegt, lässt sich folglich auf ähnliche Weise wie das freie Spiel der Erkenntniskräfte beschreiben: Die körperlichen Kräfte, deren Steigerung dieser Lust zugrunde liegt, geraten hier in einen Aktivitätszustand, der subjektiv zweckmäßig ist im Hinblick auf die Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln. Eine weitere Bedingung für das Zustandekommen einer Lust besteht also darin, dass es einen teleologischen Zusammenhang gibt zwischen dem Aktivitätszustand unserer Körperkräfte bei der empirischen Affektion und der Rolle, welche diese Kräfte bei der Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln spielen.
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Folgen wir der Analogie zum freien Spiel der Erkenntniskräfte, dann sollte die körperliche Aktivität, die der sinnlichen Lust zugrunde liegt, noch eine dritte Bedingung erfüllen. Diese Bedingung ergibt sich aus der bereits angeführten negativen Beschreibung der subjektiven Einheit der Erkenntniskräfte im freien Spiel. Kant zufolge wird die Aktivität dieser Kräfte im freien Spiel nicht durch den Begriff eines Objekts kontrolliert bzw. durch eine entsprechende Erkenntnisregel eingeschränkt. Eine ähnliche Bedingung sollte folglich auch im Fall der körperlichen Aktivität erfüllt sein, die der sinnlichen Lust zugrunde liegt. Der Aktivitätszustand, in welchem sich die körperlichen Kräfte hier befinden, sollte sich in einem wichtigen Punkt von ihrem Einsatz beim absichtlichen körperlichen Handeln unterscheiden. Im Unterschied zu diesem Handeln sollte sich die der sinnlichen Lust zugrunde liegende körperliche Aktivität weitgehend unabhängig von der intellektuellen Kontrolle des Subjekts einstellen. Diese Überlegungen zeigen, dass sich die Aktivität, die der sinnlichen Lust zugrunde liegt, durchaus in Analogie zum freien Spiel der Erkenntniskräfte beschreiben lässt. Im Folgenden möchte ich nun die in meinen Augen zentralen Aspekte dieser Beschreibung etwas genauer betrachten. Ein erster wichtiger Punkt betrifft die zugrunde liegende Analogie zwischen dem freien Spiel der Erkenntniskräfte und der körperlichen Aktivität in einer sinnlichen Lust. Diese Analogie beruht auf einem einfachen Grundgedanken: Der Aktivitätszustand unserer körperlichen Kräfte in einer sinnlichen Lust verhält sich so zur objektiven Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln, wie sich das freie Spiel in der Lust am Schönen zur objektiven Ausübung des Erkenntnisvermögens beim theoretisch-empirischen Urteilen verhält. In beiden Fällen lässt sich die Struktur der lusterzeugenden Aktivität folglich nicht an sich beschreiben, sondern nur dadurch, dass diese Aktivität auf einen objektiven Gebrauch eines Grundvermögens des menschlichen Gemüts bezogen wird. Im Fall der sinnlichen Lust handelt es sich dabei um das absichtliche körperliche Handeln, d. h. um die gelungene Ausübung des Begehrungsvermögens. Im Fall der kontemplativen Lust handelt es sich um das theoretisch-empirische Urteilen, also um die gelungene Ausübung des Erkenntnisvermögens. Der angeführte Grundgedanke beruht also letztlich auf einer noch tieferen Analogie zwischen der objektiven Ausübung des Erkenntnisvermögens in theoretischen Urteilen und der objektiven Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen Handeln. In der Tat scheint Kant an mehreren Stellen in der Kritik der Urteilskraft auf die zuletzt angeführte Analogie zurückzugreifen, wenn er den kognitiven Urteilsprozess als ein absichtlich-produzierendes Handeln beschreibt. Ein erstes Beispiel für eine solche Beschreibung findet sich im zweiten Teil des § 9 der Kritik der Urteilskraft. Dort beschäftigt sich Kant mit der „mindern Frage“, wie wir uns der subjektiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte im freien Spiel bewusst wer-
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den: „ob ästhetisch durch den bloßen innern Sinn und Empfindung, oder intellectuell durch das Bewußtsein unserer absichtlichen Thätigkeit,womit wir jene ins Spiel setzen“ (KU 5:218.26 ff.). Letztere Option wird von Kant aber sogleich ausgeschlossen, weil das intellektuelle Bewusstsein absichtlicher Tätigkeit nur im theoretischen Urteil angetroffen wird. Es ist bemerkenswert, dass Kant hier das intellektuelle Bewusstsein im empirisch-theoretischen Urteil als ein „Bewußtsein unserer absichtlichen Thätigkeit“ (KU 5:218.30) auslegt, durch das die am Urteil beteiligten Kräfte ins Spiel gesetzt werden. Diese handlungstheoretische Perspektive auf das theoretisch-empirische Urteil wird von Kant auch an einer anderen Stelle eingenommen. Dort spricht Kant davon, dass die Einbildungskraft im theoretischen Urteil eine Erkenntnis geradezu als „Product“ ihrer regelgeleiteten Aktivität hervorbringt: „Wenn aber die Einbildungskraft nach einem bestimmten Gesetze zu verfahren genöthigt wird, so wird ihr Product der Form nach durch Begriffe bestimmt, wie es sein soll; aber alsdann ist das Wohlgefallen, wie oben gezeigt, nicht das am Schönen, sondern am Guten (der Vollkommenheit, allenfalls bloß der formalen), und das Urtheil ist kein Urtheil durch Geschmack“ (KU 5:241.6 ff.).
Um zu prüfen, ob einem Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft zukommt, versuchen wir, die im Begriff gedachte Eigenschaft in der Anschauung des Gegenstandes darzustellen. Hierzu muss die Handlung der Einbildungskraft durch ein Gesetz so kontrolliert werden, dass ihr „Product“ jene formalen Charakteristika aufweist, welche im Begriff gedacht werden. Kant spricht an der Stelle sogar von einem „Wohlgefallen […] am Guten“, welches sich, wie er später ergänzt, angesichts der „Auflösung, die einer Aufgabe Gnüge thut“, einstellt (KU 5:242.17). Dieser handlungstheoretischen Sichtweise auf das theoretische Urteil liegt augenscheinlich ein Grundgedanke Kants zugrunde, den ich bereits im ersten Kapitel ausführlich entwickelt habe (vgl. Kap. 1, §§ 3 und 6). Dort habe ich dafür argumentiert, dass für Kant eine Analogie besteht zwischen der theoretischen und der praktischen Beziehung, die eine Vorstellung auf ihr Objekt haben kann. In beiden Formen der Vorstellungsbeziehung kommt dem Begriff eine ähnliche Funktion zu: Er fungiert jeweils als eine Regel, nach der wir uns in unserer Aktivität richten müssen, um die Vorstellung auf ihr Objekt zu beziehen. So fungiert der Begriff im theoretisch-empirischen Urteil als eine „Erkenntnißregel“ (KU 5:217.23), nach der sich die Einbildungskraft in der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung richten muss, um den gedachten Gegenstand in der Anschauung darzustellen und so die Vorstellung auf das Objekt zu beziehen. Ähnliches gilt aber auch für das absichtliche körperliche Handeln (vgl. hierzu Kap. 1, § 6). In diesem Fall enthält der Begriff des objektiven Zwecks zugleich die Regel, nach der wir uns in der Anwendung unserer körperlichen Kräfte richten müssen, um das Objekt
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hervorzubringen. Dies trifft, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, trivialerweise auf (innere) Zweckbegriffe zu, die sich selbst auf körperliche Handlungen beziehen. So konstituieren die Regeln des Fußballspielens diese Handlung selbst, indem sie uns anzeigen, wie das Mannigfaltige unserer körperlichen Kräfte angeordnet werden muss, damit wir überhaupt Fußball spielen. Doch auch im Fall eines eher instrumentellen Handelns kommt dem Begriff des (äußeren) Zwecks eine derartige Funktion zu. In diesem Fall ergeben sich die Regeln, die der Anordnung unserer körperlichen Kräfte beim Handeln zugrunde liegen, unmittelbar aus den theoretischen Überzeugungen, die wir bezüglich der Realisierbarkeitsbedingungen des begehrten Objekts haben. Es ist diese grundlegende Analogie zwischen dem theoretischen Urteilen und dem absichtlichen Handeln, die auch der hier vorgeschlagenen allgemeinen Beschreibung der lusterzeugenden Aktivität zugrunde liegt. Die lusterzeugende Aktivität ist zwar teleologisch auf eine dieser beiden objektiven Vollzüge bezogen, wird aber nicht durch den Begriff eines Objekts kontrolliert und erfolgt in diesem Sinne unabsichtlich. So liegt dem freien Spiel nicht das „Bewußtsein unserer absichtlichen Thätigkeit“ (KU 5:218.30) im theoretischen Urteilen zugrunde. In dieser Formulierung geht es Kant wohl nicht um die moderne anspruchsvolle Idee von absichtlichem Handeln. Eher soll Kants Ausdrucksweise den Blick darauf lenken, dass das freie Spiel der Erkenntniskräfte keine regelfolgende Aktivität ist, die darauf abzielt ein vorgestelltes Produkt hervorzubringen. Ähnliches gilt nun auch für jene körperliche Aktivität, die der Lust am Angenehmen zugrunde liegt. Diese Aktivität unterscheidet sich vom absichtlichen körperlichen Handeln dadurch, dass sie nicht durch den Begriff eines objektiven Zwecks und eine darin enthaltene Handlungsregel kontrolliert wird.Wie im Fall des freien Spiels handelt es sich also auch hier nicht um eine regelfolgende Aktivität, die darauf abzielt ein (begrifflich) bestimmtes Produkt hervorzubringen. Gleichwohl bleibt auch diese Aktivität immer noch auf das absichtliche körperliche Handeln bezogen. In der sinnlichen Lust werden wir uns der Tatsache bewusst, dass unsere körperlichen Kräfte ganz generell den Erfordernissen einer Ausübung des Begehrungsvermögens beim körperlichen Handeln entsprechen. Diese Überlegungen sind zugegebenermaßen noch sehr abstrakt. Sie lassen sich aber konkretisieren, wenn wir berücksichtigen, dass Kant selbst an einer bereits zitierten Stelle im Hinblick auf das sinnliche Fühlen vom ‚Gefühl der Gesundheit‘ spricht. Kant zufolge beruht jedes sinnliche Vergnügen und jeder Schmerz auf einem „Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens“, und dieses geht, wie wir gesehen haben, letztlich auf das Gefühl der „Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte“ zurück (KU 5:278.2 f.). Dieses Gefühl „des körperlichen Wohlbefindens“ ist aber, wie Kant an anderer Stelle ausführt, letztlich ein Gefühl „der Gesundheit“ (KU 5:331.2). Dass wir uns in der sinnlichen Lust gesund fühlen,
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scheint allerdings nicht zu beinhalten, dass wir uns hier der Tatsache bewusst werden, tatsächlich gesund zu sein. Eine solche Auffassung würde der Aussage Kants widersprechen, dass uns die Lust keinen theoretischen Zugang zu unserem eigenen Zustand verschafft (vgl. MS 6.211 f.22 f.). „Man kann“, bemerkt Kant an anderer Stelle, „sich gesund fühlen (aus dem behaglichen Gefühl seines Lebens urtheilen), nie aber wissen, daß man gesund sei“ (Fakultäten 7:100.2– 4). Kant scheint hier nicht nur zu sagen, dass uns das Gefühl der Gesundheit keinen theoretischen Zugang zu unserem körperlichen Zustand verschafft. Er deutet auch an, dass das Gefühl der Gesundheit eine Art subjektiver Indikator für unseren körperlichen Zustand ist, über den wir alle unabhängig von unserem medizinischen Wissen verfügen. So nehmen wir in der Regel ungewöhnliche Schmerzen zum Anlass einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen. Um ein objektivistisches Missverständnis zu vermeiden, sollte man folglich eher von einem Gefühl der Vitalität sprechen. So sind wir uns etwa bei einem objektiv ungesunden Vergnügen (z. B. beim Pfeiferauchen) intellektuell der Tatsache bewusst, dass wir unserem Körper schaden. Gleichwohl fühlen wir uns natürlich auch hier vital, denn auch diese Lust beinhaltet ja eine Steigerung unserer körperlichen Aktivität. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft den teleologischen Zusammenhang, der zwischen der lusterzeugenden körperlichen Aktivität und der Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln bestehen muss. Um diesen teleologischen Zusammenhang etwas konkreter zu beschreiben, kann man von einem scheinbaren Problem ausgehen: In vielen Fällen scheinen die Kräfte, welche in der sinnlichen Lust gesteigert werden, nicht identisch zu sein mit den Kräften, die wir beim Handeln einsetzen. Dies ergibt sich aus der Beobachtung, dass wir die meisten Aktivitäten, die einer sinnlichen Lust zugrunde liegen, gar nicht willkürlich steuern können. Tatsächlich scheint sich hier eine Disanalogie zu Kants Theorie des freien Spiels aufzutun. Die Vorstellungskräfte, die im freien Spiel gesteigert werden, sind identisch mit den Vorstellungskräften, die beim theoretischen Urteil eingesetzt werden. Dies scheint vor allem daran zu liegen, dass Kant zufolge die Einbildungskraft sowohl unwillkürlich als auch willkürlich (d. h. durch den Verstand) in Tätigkeit versetzt werden kann. Dies aber gilt nicht von den meisten körperlichen Kräften, welche in der sinnlichen Lust befördert werden. Diese Kräfte können wir auch beim absichtlichen Handeln meist nicht kontrollieren. Folglich kann es keinen teleologischen Zusammenhang geben zwischen unserem Vitalitätszustand und der kontrollierten Anwendung unserer Kräfte beim Handeln. Diese Überlegung stellt allerdings nur dann ein Problem dar, wenn wir voraussetzen, dass jene körperlichen Kräfte, die wir nicht bewusst kontrollieren können, beim Handeln keine oder nur eine geringe Rolle spielen. Doch genau diese Annahme trifft nicht zu. Wir setzen bei der Ausübung des Begehrungsver-
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mögens nicht nur jene Kräfte ein, die wir auch kontrollieren können. Tatsächlich zeigt die Erfahrung einer Krankheit, wie sehr sich der Zustand unserer ganzen körperlichen Organisation auf unsere Fähigkeit auswirkt, unsere körperlichen Kräfte beim Handeln zu kontrollieren. Diese Überlegung deutet also eigentlich an, worin Kant zufolge eine wichtige Leistung des sinnlichen Fühlens besteht: Wir werden uns hier einer Behinderung oder Steigerung jener Kräfte bewusst, die wir bei der Ausübung des Begehrungsvermögens zwar einsetzen, aber nicht direkt absichtlich in Tätigkeit setzen. In der sinnlichen Lust haben wir folglich einen gefühlsmäßigen Zugang zu jenen körperlichen Bedingungen der Ausübung unseres Begehrungsvermögens, die wir selbst nicht kontrollieren können. Ein letzter wichtiger Punkt betrifft die Struktur der Aktivität, die der Lust zugrunde liegt. Ein Vorteil der hier vorgeschlagenen Beschreibung besteht darin, dass sie die lusterzeugende Aktivität nicht auf eine bestimmte Struktur festlegt. Wir müssen nicht davon ausgehen, dass jeder Lust notwendig eine wechselseitige Beförderung, eine Harmonie oder ein Gleichgewicht unserer Kräfte zugrunde liegt. So scheint etwa das Vergnügen am komischen Gedanken für Kant aus einer harmonischen Struktur zu resultieren. Es kommt beim Lachen zu einer „Schwingung der Organen, welche die Herstellung ihres Gleichgewichts befördert“ (KU 5:332.30 f.). Doch es lassen sich auch disharmonische Strukturen der Aktivitätsbeförderung denken, wie z. B. jene Fälle, die Kant als Rührung bezeichnet und „wo Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt wird“ (KU 5:226.13 – 15; vgl. 5:245.1– 6). Entscheidend ist nicht die Struktur, die der Kräftebeförderung an sich zukommt, sondern der teleologische Zusammenhang zur objektiven Ausübung des Begehrungsvermögens. Dass in der sinnlichen Lust eine Empfindung mit sich selbst zusammenstimmt, bedeutet folglich nicht zwingend, dass unsere Kräfte hier an sich in eine proportionierte Stimmung geraten (z. B. sich nicht gegenseitig ausgleichen). Die Redeweise von der Zusammenstimmung ist vielmehr in dem abstrakten Sinn eines Zusammenstimmens zu den subjektiven Bedingungen des Vorstellens zu verstehen. Bei einer lustvollen Empfindung geraten unsere körperlichen Kräfte in einen Zustand der Vitalität, welcher für die Ausübung des Begehrungsvermögens – genauer: die kontrollierte Anwendung unserer körperlichen Kräfte in dieser Ausübung – ganz allgemein zweckmäßig ist. Das Verhältnis, in welchem sich unsere Kräfte befinden, lässt sich folglich als ein Zustand ihrer subjektiven Einheit bezeichnen. Damit komme ich zur Ausgangsfrage dieses Abschnitts zurück. Die vorgeschlagene Analogie zwischen der Lust am Angenehmen und am Schönen ermöglicht es uns auch, die Frage zu beantworten, unter welcher Rücksicht der Zustand in der Lust am Angenehmen zu seiner eigenen Erhaltung tendiert. Hierzu müssen wir zunächst berücksichtigen, dass Kant zufolge das Begehren-Können
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identisch ist mit dem Leben (vgl. Kap. 1, § 5). Ein Zustand der subjektiven Einheit unserer körperlichen Kräfte ist folglich nicht nur zweckmäßig für die Ausübung irgendeines Vermögens. Das Bewusstsein eines derartigen Zustandes richtet sich letztlich auf die Bedingungen, die für die Erhaltung unseres Lebens – unsere Selbsterhaltung – erfüllt sein müssen. Dass wir den zugrunde liegenden Aktivitätszustand erhalten wollen, reflektiert also im Grunde nur die Tatsache, dass wir zu unserer eigenen Selbsterhaltung tendieren. In der Tat scheint diese Tendenz ein Aspekt des Bewusstseins einer (materialen) subjektiven Zweckmäßigkeit, also der Lust selbst zu sein. Wenn wir uns der Tatsache bewusst werden, dass ein Zustand zweckmäßig ist für die Erhaltung und Beförderung unseres Lebens, dann setzt dies bereits voraus, dass wir diesen Zustand erhalten wollen; denn andernfalls würden wir diesen Zustand gar nicht als zweckmäßig für die Erhaltung und Beförderung unseres Lebens empfinden. Wir wollen natürlicherweise die Bedingungen herstellen, die für die Ausübung unseres Begehrungsvermögens erfüllt sein müssen. Weil wir nun aber diesen Zustand nur so erhalten können, dass wir das Objekt der Empfindung erneut hervorbringen, deswegen erhält die Empfindung die für das Begehren charakteristische Rolle und treibt uns dazu an, ihr Objekt zu realisieren. Am Schluss dieses Abschnittes möchte ich auf eine wichtige Pointe hinweisen, welche die hier vorgestellte Theorie der sinnlichen Lust hat. Sie zeigt, dass zwischen der sinnlichen Lust und dem absichtlichen Handeln nicht nur ein funktionaler Zusammenhang besteht. Diese Lust ist nicht nur praktisch, sofern sie eine bestimmte Rolle in unserer praktischen Aktivität übernimmt. In einem ganz bestimmten Sinn ist das absichtliche Handeln selbst konstitutiv für diese Form der Lust. Denn wir können den Aktivitätszustand, der dieser Lust zugrunde liegt, nur beschreiben, wenn wir ihn bereits teleologisch auf die objektive Ausübung des Begehrungsvermögens beim absichtlichen Handeln beziehen. Im fünften Kapitel werden wir sehen, dass sich etwas Ähnliches auch über das moralische Gefühl sagen lässt. Auch der Aktivitätszustand, der diesem Gefühl zugrunde liegt, lässt sich nur beschreiben, wenn wir ihn auf die Bedingungen eines gelungenen absichtlichen Handelns beziehen. Allerdings liegt diesem Gefühl keine gesteigerte körperliche Aktivität zugrunde, die in besonderer Weise den Bedingungen des körperlichen Handelns entspricht. Das moralische Gefühl resultiert vielmehr aus einem Zustand desiderativer Aktivität, welche teleologisch auf die objektive Ausübung des Willens beim genuin moralischen Handeln bezogen ist. Im moralischen Gefühl werden wir uns zunächst der Tatsache bewusst, dass wir in unseren Neigungen zu einem Handeln tendieren, welches nicht den Ansprüchen des moralischen Gesetzes entspricht. Unter dieser Rücksicht beinhaltet das moralische Gefühl also eine subjektive ‚Zweckwidrigkeit‘ und damit eine Unlust bzw. ein Schmerzgefühl (vgl. KpV 5:73.5 sowie Kap. 5, § 6). In einem weiteren Schritt werden wir jedoch darauf aufmerksam, dass unser eigenes moralisches Urteil gerade das
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motivatorische Potential unserer Neigungen einschränkt und auf diese Weise die subjektiven Bedingungen für ein genuin moralisches Handeln schafft. Unter dieser Rücksicht beinhaltet das moralische Gefühl also eine subjektive Zweckmäßigkeit und damit ein positives Gefühl.
§ 4 Evaluativer Lustaspekt und ästhetisches Urteil Mit diesen allgemeinen Überlegungen zur Entstehung der Lust ist das eigentliche Ziel des Kapitels erreicht. Zum Schluss des Kapitels möchte ich eine Frage aufgreifen, die ich im zweiten Kapitel offen lassen musste. Dort hatte ich für die These argumentiert, dass für Kant die Erfahrung einer Lust im Grunde die innere Struktur einer evaluativen Beurteilung des Objekts einer Vorstellung hat (vgl. Kap. 2, §§ 4 f.). Diese These ergab sich unter anderem aus der engen Verbindung, welche Kant zufolge zwischen der Erfahrung einer Lust und dem unmittelbaren Wohlgefallen besteht, mit dem wir in dieser Lust den Gegenstand einer Vorstellung betrachten. Eine Lust an einem vorgestellten Gegenstand zu haben bedeutet Kant zufolge, dass wir diesen Gegenstand als angenehm, als schön usw. beurteilen. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie sich dieser evaluative Aspekt der Lust (also die ‚Lust-anetwas’) zu dem entsprechenden psychischen Zustand (also dem ‚Lustzustand’) verhält. So liegt die Annahme nahe, dass die evaluative Einstellung, in der wir einen bestimmten Gegenstand als angenehm, als schön usw. betrachten, wesentlich komplexer strukturiert ist als das bloße innere Bewusstsein in einem Lustzustand. In diesem Zusammenhang ist offenkundig Kants Theorie des ästhetischen Urteils von besonderem Interesse. Denn bei diesem Urteil handelt es sich Kant zufolge gerade um eine Einstellung, in welcher wir einen Gegenstand der Wahrnehmung als angenehm, als schön usw. beurteilen. In diesem Abschnitt wird es also vor allem um die Frage gehen, wie sich das ästhetische Urteil zu dem Lustzustand und dessen Entstehung verhält. Dabei wird sich zeigen, dass die Zustände, die eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer Lust spielen (also die Vorstellung, die gesteigerte Aktivität sowie der daraus resultierende Lustzustand) zugleich die wesentlichen Elemente eines ästhetischen Urteils ausmachen. Das ästhetische Urteil ist also nichts anderes als jener Prozess in unserem Gemüt, bei dem sich anlässlich einer Vorstellung bei uns ein Zustand gesteigerter Aktivität und damit auch ein Lustzustand einstellt. Um Kants Theorie des ästhetischen Urteils richtig einzuordnen, ist es zunächst wichtig sich daran zu erinnern, dass sich der Ausdruck ‚Urteil‘ für Kant nicht auf sprachliche Aussagen oder Sprechakte, sondern auf Bewusstseinszustände be-
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zieht.¹⁴⁷ Allerdings scheint die Verbindung zwischen einem Urteil und der entsprechenden sprachlichen Aussage sehr eng zu sein. So verwendet Kant häufig Ausdrücke, die eigentlich Sprechakte und sprachliche Aussagen betreffen, um die zugrunde liegenden Urteile zu charakterisieren, wie z. B. „sagen“ (KU 5:236.17 ff.), „nenne[n]“ (KU 5:236.19), „erkläre[n]“ (KU 5:215.21), „das Wörtchen: Nicht“ (KrV A 574/B 602) oder „Verhältniswörtchen ist“ (KrV B 141). Ferner sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Kant auch den Ausdruck ‚ästhetisches Urteil‘ nicht in dem uns mittlerweile geläufigen Sinn gebraucht. Ästhetische Urteile betreffen nicht nur das Schöne oder das Erhabene, also die Gegenstände einer ästhetischen Erfahrung in der modernen Bedeutung. Sie können sich für Kant auch auf das Angenehme, also die Gegenstände des sinnlichen Vergnügens, und vielleicht sogar auch auf das moralisch Gute beziehen. Dies liegt daran, dass Kant den Ausdruck ‚ästhetisch‘ in einem etwas anderen Sinn als dem heutigen verwendet. Für Kant bezieht sich der Ausdruck ‚ästhetisch‘ auf die sinnlichen und damit zugleich subjektiven Aspekte des Vorstellens und Urteilens.¹⁴⁸ Die ausführlicheren Beschreibungen, die Kant in der Ersten Einleitung und in der Kritik der Urteilskraft vom ästhetischen Urteil gibt, bestehen für gewöhnlich aus einem negativen und einem positiven Teil. Kant charakterisiert das ästhetische Urteil zunächst negativ, indem er es vom logischen Urteil abgrenzt. Im Unterschied zum logischen Urteil trägt das ästhetische Urteil nichts zur Erkenntnis des beurteilten Objekts bei (vgl. KU 5:228.21 ff.; 5:282.19 f.). Kant artikuliert diesen Punkt allerdings meist, indem er darauf verweist, dass zwei konstitutive Elemente des ästhetischen Urteils – nämlich sein Prädikat sowie sein Bestimmungsgrund – rein subjektiv und nicht-begrifflich sind. Das ästhetische Urteil ist, wie Kant in der Ersten Einleitung schreibt, dasjenige Urteil, „dessen Prädicat niemals Erkenntniß (Begrif von einem Objecte) sein kann“ (EE 20:224.8 – 10; vgl. KU 5:288.32– 35). Charakteristisch für ein derartiges Urteil ist ferner die Tatsache, dass sein Bestimmungsgrund „kein Begriff eines Objects“ (KU 5:231.29; vgl. 5:228.28 f.) ist und „nicht anders als subjectiv seyn kann“ (KU 5:203.15). Ein ästhetisches Urteil ist
147 Vgl. Wieland 2007, 298 f., sowie Recki 2001, 56 ff. 148 Streng genommen enthält diese Bestimmung des Ästhetischen immer noch eine Zweideutigkeit, auf die Kant zu Beginn des Abschnitts VIII der Ersten Einleitung hinweist (vgl. EE 20:221 f.). Unter einer ‚ästhetischen Vorstellungsart‘ können wir die subjektiven und sinnlichen Aspekte einer Erkenntnis a priori verstehen (also Raum und Zeit als die subjektiven Formen der Anschauung). Im Fall des ästhetischen Urteils geht es hingegen um die subjektiven Aspekte einer Vorstellung, die gar nichts zur Erkenntnis eines Gegenstandes beitragen, vgl. EE 20:221 f.; KU 5:188 f. Zum komplexen Begriffsfeld der Ästhetik und des Ästhetischen bei Kant vgl. Wieland 2001, Kap. I.
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folglich ein Urteil, dessen Prädikat und dessen Bestimmungsgrund notwendig rein subjektiv und nicht-begrifflich sind. Diese negative Beschreibung des ästhetischen Urteils wird nun durch eine positive Beschreibung ergänzt, die sich für Kant aus der Natur des Gefühls der Lust und Unlust ergibt. So heißt es z. B. in der veröffentlichten Einleitung über das Gefühl der Lust und Unlust: „Dasjenige Subjective […] an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnißstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust; denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung, obgleich sie wohl die Wirkung irgend einer Erkenntniß sein kann“ (KU 5:189.16 ff.; vgl. 5:203 f.15 ff.). An anderer Stelle charakterisiert Kant das Gefühl der Lust als die „einzige so genannte Empfindung, die niemals Begrif von einem Objecte werden kann“ (EE 20:224.13 f.).¹⁴⁹ Nur das Gefühl der Lust und Unlust weist für Kant also diejenigen negativen Eigenschaften auf, die wesentlich für Prädikat und Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils sind: Es ist rein subjektiv, nicht-begrifflich und trägt nichts zur Erkenntnis des Gegenstandes bei. Hieraus ergibt sich in einer Art Schlussfolgerung für Kant die positive Beschreibung des ästhetischen Urteils.¹⁵⁰ Ein ästhetisches Urteil ist ein Urteil, in dem das Gefühl der Lust (oder Unlust) sowohl als Bestimmungsgrund als auch als Prädikat fungiert.¹⁵¹
149 Das Gefühl unterscheidet sich also nicht nur von Begriffen, sondern selbst von sinnlichen Anschauungen. So handelt es sich bei der „Qualität des Raums“ (KU 5:189.4) zwar ebenfalls um einen subjektiven Aspekt unseres sinnlichen Vorstellens – der Raum ist ursprünglich eine subjektive Anschauungsform. Gleichwohl dient die räumliche Qualität dazu, die vorgestellten Dinge (als Erscheinungen) zu erkennen. Ähnliches gilt auch für die entsprechende (äußere) sinnliche Empfindung. Diese drückt, wie Kant schreibt, „eben sowohl das bloß Subjective unserer Vorstellungen der Dinge außer uns aus“ (KU 5:189.10 f.). Sofern uns jedoch nur durch Empfindungen etwas „Existirendes gegeben wird“, tragen auch diese etwas zur Erkenntnis bei (KU 5:189.12 f.; vgl. EE 20:221 f.). 150 Zur Kritik an dieser Figur einer Schlussfolgerung vgl. Guyer 21997, 66 f. 151 Auch Wieland betont, dass ein Urteil ästhetisch ist, sofern seine Elemente sinnlich und bloß subjektiv sind (vgl. Wieland 2007, 299 ff.; Wieland 2001, 46 ff.). Nicht sicher bin ich mir allerdings, ob ästhetische Urteile, wie Wieland schreibt, „ausschließlich Sinnliches, mithin keine Begriffe unmittelbar als ihre Elemente enthalten“ (Wieland 2007, 301). Wieland begründet diese These unter anderem im Rekurs auf Kants Aussage, dass ästhetische Urteile stets logisch einzelne Urteile sind, d. h. einen Gegenstand der empirischen Anschauung betreffen (vgl. KU 5:215.14 ff.). Allerdings steht dies nicht unbedingt im Widerspruch zur Annahme, dass der Begriff hier immer noch eine gewisse Rolle spielt. An einer Stelle, die ich im Folgenden diskutieren werde, spricht Kant davon, dass im ästhetischen Urteil die Lust mit der ‚Wahrnehmung‘ eines Gegenstandes verbunden wird (vgl. KU 5:288.10 – 14). Dies besagt meiner Auffassung zufolge, dass wir den Gegenstand des ästhetischen Urteils schon mit Hilfe von Begriffen unter einer theoretischen Beschreibung vorstellen.
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Diese Bestimmung des ästhetischen Urteils zeigt schon, dass ästhetische Urteile für Kant nicht einfach auf einem Gefühl basieren oder etwa ein Gefühl sprachlich ausdrücken. Vielmehr übernimmt das Gefühl Kant zufolge eine konstitutive Rolle im ästhetischen Urteil, indem es als dessen Prädikat sowie als sein Bestimmungsgrund fungiert. Um dies genauer zu verstehen, ist es hilfreich Kants Aussagen über diese beiden Rollen des Gefühls im ästhetischen Urteil zu betrachten. Über die prädikative Funktion des Gefühls äußert sich Kant im § 36 der Kritik der Urteilskraft auf folgende Weise: „Mit einer Wahrnehmung kann […] unmittelbar ein Gefühl der Lust (oder Unlust) und ein Wohlgefallen verbunden werden, welches die Vorstellung des Objects begleitet und derselben [Vorstellung – T. H.] statt Prädicats dient, und so ein ästhetisches Urtheil, welches kein Erkenntnißurtheil ist, entspringen“ (KU 5:288.10 – 14).
Kant geht es an dieser Stelle offenbar um den Prozess, bei dem sich anlässlich einer gegebenen Vorstellung ein Lustzustand einstellt. Es geht, wie Kant formuliert, um das „Gefühl der Lust (oder Unlust)“ bzw. um das „Wohlgefallen“, „welches die Vorstellung des Objects begleitet“ (KU 5:288.10 ff.). Kant charakterisiert diesen Prozess nun aber als eine Art Urteil, in dem das Gefühl der Lust (oder Unlust) statt eines Prädikats mit der Vorstellung eines Objekts – genauer: mit dessen Wahrnehmung – „verbunden“ (KU 5:288.11) wird. Diese Redeweise entspricht nicht nur zufällig dem Synthesis-Vokabular, auf das Kant ganz generell in seiner Theorie der Urteile zurückgreift. So hält Kant wenig später fest, dass Geschmacksurteile synthetisch sind, „weil sie über den Begriff und selbst die Anschauung des Objects hinausgehen und etwas, das gar nicht einmal Erkenntniß ist, nämlich Gefühl der Lust (oder Unlust), zu jener als Prädicat hinzutun“ (KU 5:288.32 ff.).¹⁵² Kant geht also davon aus, dass sich der Prozess der Lustentstehung als ein Urteil beschreiben lässt, in welchem das Gefühl der Lust an die Stelle eines
152 Zur prädikativen Funktion des Gefühls vgl. EE 20:223 f.; KU 5:191.6 ff.; 5:289 sowie Longuenesse 2006, 195 ff., und Aquila 1982, 106 ff. – Aquila zufolge beinhaltet das Vorliegen einer Lust bereits ein ästhetisches Urteil, in dem dieser Lust die Rolle eines Prädikats zukommt (vgl. Aquila 1982, 106 ff.). Allerdings argumentiert Aquila dafür, dass dies nur im Fall des Geschmacksurteils und der Lust am Schönen so sein kann (vgl. 110 ff.). Kant deutet direkt im Anschluss an die zitierte Stelle aus dem § 36 allerdings an, dass das resultierende ästhetische Urteil auch ein ästhetisches Empfindungsurteil sein kann: „Einem solchen [ästhetischen Urteil – T. H.], wenn es nicht bloßes Empfindungs-, sondern ein formales Reflexions-Urtheil ist, welches dieses Wohlgefallen jedermann als nothwendig ansinnt, muß etwas als Princip a priori zum Grunde liegen“ (KU 5:288.14 ff.). In der Ersten Einleitung weist Kant ebenfalls darauf hin, dass das Gefühl im ästhetischen Sinnenurteil als Prädikat fungieren muss (vgl. EE 20:224.2 ff.).
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Prädikats tritt. Die Pointe dieser Aussage lässt sich vielleicht auf folgende Weise entwickeln. Betrachtet man die Lust aus einer eher psychologischen Perspektive, so resultiert sie kausal aus der Vorstellung eines Objekts, d. h. aus einer mit dieser Vorstellung verbundenen gesteigerten lebendigen Aktivität. Allerdings ist dies nicht die Perspektive, die ich einnehme, wenn ich in einen Lustzustand gerate. Ich verhalte mich hier nicht als ein Beobachter eines inneren Prozesses, d. h. ich nehme nicht einfach nur innerlich wahr, dass ich anlässlich einer Vorstellung eine Lust fühle. Meine Einstellung ist vielmehr evaluativ und nach außen – auf den Gegenstand der Wahrnehmung – gerichtet. In der Lusterfahrung gefällt mir der Gegenstand der Wahrnehmung unmittelbar. Diese evaluative Einstellung hat Kant zufolge nun eine prädikative Struktur – man könnte auch von einer als-Struktur sprechen. Ich betrachte in der Lusterfahrung einen spezifischen Gegenstand der Wahrnehmung als schön, als angenehm, als erfreulich usw. Folgen wir der zitierten Aussage über das ästhetische Urteil, so werden die unterschiedlichen Komponenten dieser Einstellung durch die mentalen Zustände erklärt, die im Entstehungsprozess eines Lustzustandes eine Rolle spielen. So ist der Lustzustand für das spezifische Wohlgefallen verantwortlich, das ich mit dem Objekt der Wahrnehmung verbinde, (wenn ich z. B. diese Rose als angenehm im Geruch betrachte, vgl. KU 5:215.25 f.). Die Wahrnehmung des Gegenstandes ist hingegen dafür verantwortlich, dass ich den vorgestellten Gegenstand in der Regel unter einer bestimmten theoretischen Beschreibung vorstelle, (wenn ich z. B. diese Rose als angenehm im Geruch betrachte).¹⁵³ Die Qualifikation der Vorstellung als Wahrnehmung, also als einer Anschauung mit Bewusstsein, hat noch eine weitere Pointe. Damit wir ästhetisch urteilen, reicht es nicht aus, dass einfach eine Vorstellung in uns zu einer Lust führt. Wir müssen darüber hinaus das Objekt der zugrunde liegenden Vorstellung bewusst vorstellen. Damit scheinen Fälle eines unbestimmten Fühlens vom eigentlichen ästhetischen Urteil ausgeschlossen zu werden.¹⁵⁴
153 Wahrnehmung ist eine empirische „Anschauung, deren ich mir bewußt bin“ (Prol 4:300.5), was bedeutet, dass in diese Anschauung schon begriffliche Fähigkeiten eingehen. Der Gegenstand des ästhetischen Urteils wird in der Regel bereits unter einer spezifischen theoretischen Beschreibung wahrgenommen, wie z. B. in dem Urteil: ‚Diese Rose ist angenehm im Geruch‘. Das Verhältnis, das zwischen dieser Beschreibung und dem Wohlgefallen im ästhetischen Urteil besteht, werde ich im vierten Kapitel noch genauer betrachten (vgl. Kap. 4, § 5). 154 Formen unbestimmten Fühlens wie z. B. ein allgemeines körperliches Unwohlsein oder komplexere Stimmungen ließen sich also im Rahmen des kantischen Modells als Gefühle erklären, die sich anlässlich einer nur wenig oder gar nicht bewussten (dunklen) Vorstellung einstellen. Diese Gefühle haben einen unbestimmten evaluativen Gehalt. Auch hier gefällt uns etwas (nicht), jedoch können wir nicht genau sagen, was uns (nicht) gefällt.
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Aus der zitierten Aussage Kants geht allerdings nicht hervor, wie es überhaupt dazu kommt, dass das ästhetische Urteil eine prädikative Struktur hat. Welcher Aspekt des Entstehungsprozesses eines Lustzustandes erklärt die Tatsache, dass ich hier etwas als etwas beurteile? Diese Frage spricht offenkundig ein entscheidendes Problem an, denn zumindest auf den ersten Blick scheint sich eine derartige Struktur gar nicht im Rekurs auf den Entstehungsprozess einer Lust erklären zu lassen. Aus einem derartigen inneren Prozess scheinen sich allenfalls Einstellungen mit einer zeitlichen Wenn-dann-Struktur zu ergeben, wie z. B. die Einstellung: ‚Wenn ich eine Rose im Geruch wahrnehme, dann fühle ich eine Lust‘.¹⁵⁵ Die Lösung für dieses Problem verbirgt sich meines Erachtens in Kants Behauptung, dass das Gefühl der Lust als Bestimmungsgrund im ästhetischen Urteil fungiert. Durch das Lustgefühl wird nicht nur das spezifische Wohlgefallen bestimmt, das wir mit dem Gegenstand verbinden. Es fungiert darüber hinaus als ein subjektives Kriterium, das wir zur Beurteilung des Gegenstandes verwenden können. So haben wir im zweiten Kapitel gesehen, dass diese Idee des ‚Übereinstimmens des Gegenstandes mit einem subjektiven Kriterium‘ schon in Kants Definition der Lust in der Kritik der praktischen Vernunft angedeutet ist. Um nun genauer zu verstehen, auf welche Weise das Gefühl als Kriterium im ästhetischen Urteil fungiert, müssen wir noch einmal das Verhältnis betrachten, das Kant zufolge zwischen der Lust und dem zugrunde liegenden Zustand gesteigerter Aktivität besteht. Die bei weitem ausführlichsten Aussagen über dieses Verhältnis finden wir in Kants Beschreibung des freien Spiels in den §§ 9 – 12 der Kritik der Urteilskraft. Dort scheint Kant explizit dafür zu argumentieren, dass das Gefühl der Lust nicht nur kausal aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte resultiert, sondern zugleich als ein Bewusstsein der subjektiven Einheit der Erkenntniskräfte in diesem Spiel fungiert.¹⁵⁶ Von besonderer Bedeutung ist hier der
155 Eine derartige Analyse ästhetischer (Sinnen‐)Urteile widerspricht offenkundig schon den Beispielen, die Kant für solche Urteile anführt und in denen für gewöhnlich der Gegenstand als angenehm betrachtet wird (wie z. B. in dem Urteil: „die Rose ist (im Geruche) angenehm“, KU 5:215.25 f., oder in dem Urteil: „der Canariensect ist angenehm“, KU 5:212.12 f.). Ferner erklärt sie nicht, warum Kant zufolge das ästhetische Urteil eine prädikative Struktur und nicht etwa eine zeitliche Grund-Folge-Struktur aufweist (zum Unterschied zwischen diesen Strukturen vgl. Logik § 23, 9:104). Schließlich halte ich eine derartige Analyse auch für philosophisch unbefriedigend, denn sie verwandelt das ästhetische Urteil unter der Hand in ein theoretisches Wahrnehmungsurteil über kausale Vorgänge, die ich in meinem Gemüt beobachte. Kant zufolge ist das ästhetische Urteil zwar ein innerer Prozess im Gemüt (wie übrigens auch das theoretischempirische Urteil); doch dieser Prozess ist selbst nicht der Inhalt des Urteils (vgl. hierzu auch Kap. 4, § 8). 156 In der Deutung, die ich im Folgenden von Kants Aussagen über das Verhältnis der Lust zum freien Spiel der Erkenntniskräfte gebe, folge ich im Wesentlichen Allison, dem zufolge sich die
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bereits angesprochene zweite Teil des § 9, in welchem Kant die Frage aufwirft, ob wir uns der subjektiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte im freien Spiel eher durch Empfindung oder intellektuell bewusst werden (vgl. KU 5:218 f.26 ff.). Über ein intellektuelles Bewusstsein dieser Übereinstimmung würden wir Kant zufolge nur dann verfügen, wenn die Einheit der beiden Kräfte objektiv wäre, d. h. sich aus dem Begriff eines Objekts ergeben würde (vgl. KU 5:218.32 ff.). Dies ist aber schon deswegen ausgeschlossen, weil das Geschmacksurteil kein logisches Urteil ist und also nicht auf dem Begriff des Objekts beruhen kann. Hieraus folgt für Kant, dass die „subjective Einheit des Verhältnisses sich nur durch Empfindung kenntlich machen“ kann (KU 5:219.3 f.). Bei dieser Empfindung handelt es sich vermutlich nicht einfach um eine innere Wahrnehmung, sondern um eine Empfindung der Lust (also um subjektive Empfindung, vgl. KU 5:206.26 ff.), durch welche wir auf den Zustand der subjektiven Einheit im freien Spiel aufmerksam werden.¹⁵⁷ Hierauf deutet vor allem die Tatsache hin, dass Kant im § 12 Kant die Lust geradezu mit dem Bewusstsein der formalen Zweckmäßigkeit im freien Spiel der Erkenntniskräfte identifiziert: „Das Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntnißkräfte des Subjects bei einer Vorstellung,wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst, weil es [das Spiel – T. H.] einen Bestimmungsgrund der Thätigkeit des Subjects in Ansehung der Belebung der Erkenntnißkräfte desselben, also eine innere Causalität (welche zweckmäßig ist) in Ansehung der Erkenntniß überhaupt, aber ohne auf bestimmte Erkenntniß eingeschränkt zu sein, mithin eine bloße Form der subjectiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung, in einem ästhetischen Urtheile enthält“ (KU 5:222.20 ff.).
Kant zufolge werden die Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel auf eine Weise belebt, die im Hinblick auf Erkennen überhaupt zweckmäßig ist, (ohne dass es dabei allerdings um eine bestimmte Erkenntnis ginge). Hieraus scheint für Kant zu folgen, dass die resultierende Lust nichts anderes als das „Bewußtsein der formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntnißkräfte“ ist (KU 5:222.21 f.). Diese schwierige Stelle deutet darauf hin, dass wir uns für Kant in der Lust tatsächlich einer wesentlichen Eigenschaft des freien Spiels der Erkenntniskräfte bewusst werden, nämlich der darin enthaltenen subjektiv-formalen Zweckmäßigkeit. Dieses Bewusstsein scheint nun aber im Grunde nichts anderes zu sein als das Bewusstsein der subjektiven Einheit der Kräfte im freien Spiel. So haben wir im letzten Abschnitt gesehen, dass diese Einheit bereits die Struktur einer subjektiven
durch das freie Spiel bewirkte Lust zugleich intentional auf die Harmonie der Gemütsvermögen in diesem Spiel bezieht (vgl. Allison 2001, 53 f.). 157 Vgl. hierzu Guyer 21997, 89 f.; Stolzenberg 2000, 5 f.
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Zweckmäßigkeit hat. Unsere Erkenntniskräfte geraten anlässlich einer Vorstellung in einen Aktivitätszustand, der zweckmäßig im Hinblick auf die gelungene Ausübung des Erkenntnisvermögens überhaupt ist. In der kontemplativen Lust werden wir uns folglich der subjektiven Einheit der Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel bewusst.¹⁵⁸ Dieser Aspekt des Gefühls scheint nun auch dafür verantwortlich zu sein, dass das Gefühl als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils fungiert. Kant zufolge kann „nichts anders als die subjective Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen (weder objectiven noch subjectiven) Zweck, […] sofern wir uns ihrer bewußt sind, das Wohlgefallen, welches wir ohne Begriff als allgemein mittheilbar beurtheilen, mithin den Bestimmungsgrund des Geschmacksurtheils ausmachen“ (KU 5:221.21 ff.). Letztlich ist also die subjektive Zweckmäßigkeit im freien Spiel der Erkenntniskräfte der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils, allerdings nur sofern wir uns dieser Zweckmäßigkeit (im Gefühl der Lust) bewusst sind. Die kriterielle Funktion, die der Lust im Geschmacksurteil zukommt, erklärt sich also letztlich aus der Tatsache, dass wir uns in der Lust einer wesentlichen Eigenschaft des zugrunde liegenden Aktivitätszustandes bewusst werden. Im Lustgefühl nehmen wir den zugrunde liegenden Aktivitätszustand als allgemein zweckmäßig im Hinblick auf die gelungene Ausübung unseres Erkenntnisvermögens wahr, und unter dieser Rücksicht handelt es sich bei diesem Gefühl um das Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes.¹⁵⁹ Das Eintreten dieses Bewusstseins fungiert nun Kant zufolge als eine Art Kriterium („Bestimmungsgrund“) für das Wohlgefallen, das wir im Geschmacksurteil mit der Vorstellung des Gegenstandes verbinden.¹⁶⁰ Die angeführten Aussagen über die subjektive Zweckmäßigkeit und das Geschmacksurteil sind nicht leicht zu verstehen und verdienen sicherlich eine sehr
158 Für eine ähnliche Deutung vgl. Allison 2001, 54 und 127 ff. 159 An diesem Punkt geht es mir nur um die Grundidee einer subjektiven Zweckmäßigkeit. Tatsächlich ist die Zweckmäßigkeit, die dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, nicht nur subjektiv, sondern darüber hinaus auch ohne Zweck und bloß formal. So lautet das ungekürzte Zitat aus dem § 11: „Also kann nichts anders als die subjective Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen (weder objectiven noch subjectiven) Zweck, folglich die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird, sofern wir uns ihrer bewußt sind, das Wohlgefallen, welches wir ohne Begriff als allgemein mittheilbar beurtheilen, mithin den Bestimmungsgrund des Geschmacksurtheils ausmachen“ (KU 5:221.21– 27). 160 Allison macht eine ähnliche Aussage, wenn er schreibt: „[…] [T]he feeling serves as the vehicle through which we perceive the aptness or subjective purposiveness (or lack thereof) of a given representation for the proper exercise of our cognitive faculties“ (Allison 2001, 71).
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viel genauere Betrachtung. An dieser Stelle geht es mir jedoch nicht um Kants Theorie des Geschmacksurteils, sondern eher um die allgemeine Frage, was es bedeutet, dass das Gefühl der Lust im ästhetischen Urteil als Bestimmungsgrund fungiert.Wenn wir die Theorie der Entstehung der Lust berücksichtigen, die ich im vorangegangenen Abschnitt vorgeschlagen habe, so liegt die Annahme nahe, dass sich die Funktion des Gefühls als Bestimmungsgrund in allen ästhetischen Urteilen auf analoge Weise beschreiben lässt. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich dafür argumentiert, dass jede lusterzeugende Aktivität eine ähnliche teleologische Struktur wie das freie Spiel aufweisen muss, nämlich die Struktur einer ‚subjektiven Einheit‘ von Kräften. So liegt der sinnlichen Lust eine Aktivität unserer körperlichen Kräfte zugrunde, die zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim absichtlichen körperlichen Handeln ist. Folglich scheint nichts dagegen zu sprechen, dass die sinnliche Lust – ganz in Analogie zur kontemplativen Lust – auch hier als ein Bewusstsein der subjektiven Einheit unserer (körperlichen) Aktivität fungiert. Diese Annahme entspricht auch der bereits zitierten Aussage Kants, der zufolge „die Vorstellung einer subjectiven Zweckmäßigkeit eines Objects mit dem Gefühle der Lust so gar einerley“ ist (EE 20:228.34 ff.; vgl. KU 5:189.16 – 31). Kant zufolge werden wir uns in einer Lust also der Tatsache bewusst, dass sich unsere Kräfte in einem Zustand befinden, der als allgemein zweckmäßig im Hinblick auf die gelungene Ausübung eines Gemütsvermögens des Subjekts wahrgenommen wird.Wir werden, mit anderen Worten, in der Lust darauf aufmerksam, dass unser Zustand besonders gut zu den Bedingungen unserer lebendigen Aktivität passt. Wenn diese Überlegungen zutreffen, so lässt sich auch die Frage beantworten, in welchem Sinn die Lust als Bestimmungsgrund im ästhetischen Urteil fungiert. Die Lust stellt ein Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit in einer Aktivität dar, und das Eintreten dieses Bewusstseins fungiert im ästhetischen Urteil als eine Art Kriterium (‚Bestimmungsgrund’) für das Wohlgefallen, das wir mit der Vorstellung des Gegenstandes verbinden. Tritt das Bewusstsein anlässlich einer Vorstellung ein, so betrachten wir den Gegenstand unserer Vorstellung in dem ästhetischen Urteil als angenehm, schön usw. Dieser Gedanke erklärt augenscheinlich auch die Tatsache, dass für Kant das resultierende ästhetische Urteil eine prädikative Struktur bzw. eine als-Struktur aufweist. Wenn sich anlässlich einer Vorstellung bei mir ein Lustzustand einstellt, dann beurteile ich den Gegenstand im Hinblick auf die subjektiven Bedingungen meiner eigenen lebendigen Aktivität.¹⁶¹ 161 An dieser Stelle mag man sich die Frage stellen, warum wir im ästhetischen Urteil nicht bloß unseren Aktivitätszustand beurteilen. Warum beurteilen wir etwa im Geschmacksurteil den Gegenstand als schön und nicht einfach nur den Zustand des freien Spiels als subjektiv zweckmäßig? Dieses Problem ist zu schwierig, als dass ich es hier umfassend diskutieren
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Zugleich ergibt sich aus Kants Ausführungen zur Rolle des Gefühls im ästhetischen Urteil auch eine Antwort auf die Frage, welches Verhältnis zwischen der evaluativen Lust-an-etwas und dem Lustzustand besteht. Wenn wir eine Lust an etwas haben, dann fällen wir Kant zufolge ein ästhetisches Urteil, in dem wir den Gegenstand einer Wahrnehmung als angenehm oder als schön betrachten. Dieses Urteil ist für Kant ein Prozess in unserem Gemüt, bei dem sich anlässlich der Vorstellung eines Gegenstandes bei uns ein Zustand gesteigerter Aktivität und damit auch ein Lustzustand einstellt. In diesem Urteil übernimmt nun der Lustzustand eigentlich zwei Funktionen. Einerseits ist er dafür verantwortlich, dass wir ein spezifisches Wohlgefallen mit dem Gegenstand verbinden und ihn in dem Urteil z. B. als angenehm (und nicht als schön) betrachten. Er tritt also im ästhetischen Urteil an die Stelle eines Prädikats. Andererseits fungiert der Lustzustand als ein Kriterium, das der ästhetischen Beurteilung des Gegenstandes zugrunde liegt. In der Lust nehmen wir den Zustand gesteigerter Aktivität in einer Vorstellung als subjektiv zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung eines Gemütsvermögens wahr. Das Eintreten dieses Bewusstseins subjektiver Zweckmäßigkeit fungiert dann als subjektives Kriterium für die ästhetische Beurteilung des vorgestellten Gegenstandes. Es ermöglicht uns, die Gegenstände unserer Vorstellungen vor dem Hintergrund unseres subjektiven Vorstellungslebens zu beurteilen.
könnte. Ich will nur darauf hinweisen, dass Richard Aquila eine ähnliche Frage aufgeworfen hat (vgl. Aquila 1982). Aquila argumentiert dabei für die These, dass sich die Lust am Schönen intentional auf die Form der Vorstellung des Gegenstandes bezieht (vgl. Aquila 1982, vor allem 99 ff.). Andernfalls können wir, so Aquila, nicht erklären, warum wir hier eine Lust an einem Gegenstand empfinden (und nicht bloß einen Gegenstand mit Lust vorstellen, vgl. Aquila 1982, 95). Aquilas Lösung betrifft allerdings nur die Lust am Schönen und lässt also die Frage offen, warum wir auch eine Lust am Angenehmen haben. Ein Lösungsansatz, der auch diese Lust einbezieht, würde sich vielleicht aus folgender Überlegung ergeben: Kant zufolge ist das Lustbewusstsein so eng in die Aktivität des Vorstellens eines Inhalts inkorporiert, dass es unvermeidlich die Art und Weise beeinflusst, wie das vorstellende Subjekt den vorgestellten Gegenstand betrachtet. Denn erstens ist die Aktivität, deren Steigerung der Lust zugrunde liegt, konstitutiv für das Vorstellen eines Inhalts. So wird z. B. durch die Aktivität der Einbildungskraft im freien Spiel – durch das Auffassen des Mannigfaltigen einer Vorstellung (vgl. EE 20:220 f.) – überhaupt erst eine Vorstellung erzeugt, die ein Mannigfaltiges in sich enthält (vgl. KrV A 99). Zweitens ist die auf diese Aktivität folgende Lust für Kant nichts anderes als das unmittelbare Bewusstsein der (subjektiven) Einheit dieser Aktivität. Diese Lust ist folglich auf eine Weise in die Aktivität des Vorstellens inkorporiert, dass es für das vorstellende Subjekt unmöglich ist, sie aus dieser Aktivität wieder herauszulösen und für sich zu empfinden. Aufgrund dieser Tatsache wird die Lust vom Subjekt unweigerlich auf den Inhalt der Vorstellung bezogen.
4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung Kant zufolge ist eine Lust praktisch, wenn sie „mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) nothwendig verbunden ist […]: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein“ (MS 6:212.10 – 14). Schon an dieser Stelle können wir etwas genauer sagen, in welchem Sinn die sinnliche Lust am Angenehmen praktisch ist. Kant zufolge ist diese Lust ‚Ursache vom Begehren‘, d. h. ein kausaler Faktor in jenem Prozess, in dem eine sinnliche Begierde entsteht. Dieser Prozess beginnt mit der empirischen Affektion durch den Gegenstand und endet damit, dass die Vorstellung des Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhält. In der empirischen Affektion geraten unsere körperlichen Kräfte in einen Aktivitätszustand, den wir in der Lust als subjektiv zweckmäßig im Hinblick auf die Ausübung des Begehrungsvermögens empfinden. Wir tendieren nun ganz natürlicherweise dazu, die subjektiven Bedingungen unseres Begehren-Könnens zu erhalten, und deswegen tendiert auch der zugrunde liegende Aktivitätszustand zu seiner eigenen Aufrechterhaltung. Jedoch können wir unseren Aktivitätszustand nur in der Gegenwart des Gegenstandes aufrechterhalten, denn er hängt von der empirischen Affektion durch den Gegenstand ab. Aus diesem Grund erhält die Vorstellung des Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle und treibt uns dazu an, den vorgestellten Gegenstand erneut zu realisieren (oder die Bedingungen seiner Gegenwart sicherzustellen). Die sinnliche Lust ist also praktisch, sofern sie mit der Entstehung einer Begierde verbunden ist. Allerdings können wir noch in einem zweiten Sinn davon sprechen, dass diese Lust praktisch ist. Dieser Sinn ergibt sich aus Kants Beschreibung der Entstehung der sinnlichen Lust, die ich im vorangegangenen Kapitel rekonstruiert habe (vgl. Kap. 3, § 3). Kant zufolge müssen wir bei der Beschreibung des Aktivitätszustandes, der dieser Lust zugrunde liegt, bereits auf das absichtliche Handeln rekurrieren. Die sinnliche Lust ergibt sich aus einem Zustand körperlicher Aktivität, den wir in dieser Lust als zweckmäßig im Hinblick auf die Bedingungen unseres absichtlichen körperlichen Handelns erleben. Zumindest indirekt beruht die sinnliche Lust also auf unserer praktischen Aktivität. Sie beinhaltet das Bewusstsein, dass ein körperlicher Aktivitätszustand in besonderer Weise zu den Bedingungen unseres absichtlichen Handelns passt. Im vorangegangenen Kapitel habe ich ferner gezeigt, dass dieses Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit in der sinnlichen Lust als eine Art Kriterium in unseren ästhetischen Urteilen über das Angenehme fungiert (vgl. Kap. 3, § 4). Wenn sich dieses Bewusstsein anlässlich einer Vorstellung und eines damit verbundenen Aktivi-
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tätszustandes bei uns einstellt, so gefällt uns der Gegenstand unmittelbar und wir finden ihn angenehm, lieblich, erfreulich usw. In den beiden folgenden Kapiteln soll es nun um einen dritten Sinn gehen, in welchem die sinnliche Lust am Angenehmen praktisch ist. Um diesen Sinn zu entwickeln, kann man von der Bedeutung des Ausdrucks ‚praktisch‘ bei Kant ausgehen. ‚Praktisch‘ steht nämlich bei Kant nicht einfach nur für ein Begehren, sondern für das menschliche Begehren nach Begriffen. Hier orientiert sich die für das Begehren charakteristische Aktivität an Regeln, die das begehrende Wesen selbst vorstellt (vgl. GMS 4:412.26 ff.). Aus diesem Grund bringt Kant das Praktische in der Kritik der reinen Vernunft sowohl mit dem Sollen als auch mit der Freiheit in Verbindung. Denn die Regeln oder Imperative, nach denen wir uns im Praktischen richten, enthalten ein „Sollen“, welches „eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen [ausdrückt], die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (KrV A 547/B 575). Die praktische Erkenntnis macht folglich begreiflich, „was dasein soll“ (KrV A 633/B 661) und bezieht sich genau aus diesem Grund auf das, „was durch Freiheit möglich ist“ (KrV A 800/B 828). Dass eine Lust praktisch ist, bedeutet folglich, dass sie in einer notwendigen Verbindung zur praktischen Überlegung sowie zu den praktischen Regeln steht, an denen wir uns beim Handeln orientieren. Kant hat nun für diese Verbindung zwischen der Lust und der spezifisch menschlichen praktischen Aktivität eine sehr einfache Formel gefunden: Die praktische Lust liegt entweder der Vorstellung einer Handlungsregel zugrunde oder sie folgt auf die Vorstellung dieser Handlungsregel. So grenzt Kant schon in der Grundlegung das Gefühl der Achtung vom sinnlichen Gefühl ab, weil die Achtung als „Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird“ (GMS 4:401.27 f. Anm.).¹⁶² Was genau gemeint ist, wird von Kant allerdings erst in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt. Dort unterscheidet Kant zwei Arten von praktischen Prinzipien. Materiale praktische Prinzipien setzen die Begierde nach einem Gegenstand als Bedingung voraus, und diese Begierde beruht ihrerseits auf einer sinnlichen Lust an dem Gegenstand (vgl. KpV 5:21.14– 27). Im Gegensatz dazu bestimmt die Vernunft in dem bloß formalen praktischen Gesetz den Willen „nicht vermittelst eines dazwischen kommenden Gefühls der Lust und Unlust“ (KpV 5:25.7 f.). Die Achtung für das Sittengesetz resultiert erst aus der Vorstellung dieses Gesetzes – sie ist, wie Kant schreibt, eine
162 In späteren Schriften vertieft Kant diese Unterscheidung, wenn er etwa die pathologische Lust als diejenige bezeichnet, welche „vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde“, während die moralische Lust diejenige ist, „vor welcher das Gesetz hergehen muß, damit sie empfunden werde“ (MS 6:378.11 ff.; vgl. 6:399.24 ff.).
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„positive, aber indirecte Wirkung desselben [moralischen Gesetzes – T. H.] aufs Gefühl“ (KpV 5:79.14 f.). In diesem Kapitel gehe ich nun der Frage nach, was es genau bedeutet, dass die sinnliche Lust einem materialen praktischen Prinzip zugrunde liegt. Einen geeigneten Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage stellen jene Partien der Analytik der reinen praktischen Vernunft dar, in denen Kant seine Theorie von materialen praktischen Prinzipien entwickelt (also die §§ 2 und 3, die anschließende Folgerung sowie die Anmerkungen I und II, vgl. KpV 5:21– 26). Kant zufolge ist ein praktisches Prinzip material, wenn es voraussetzt, dass die handelnde Person einen Gegenstand begehrt. Kant behauptet nun im § 2, dass diese Prinzipien empirisch sind, weil die zugrunde liegende Begierde auf einer „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) beruht und wir nur empirisch herausfinden können,welche Vorstellung zu einer Lust führt (vgl. KpV 5:21.27– 29). Nicht wenigen Interpreten zufolge handelt es sich dabei allerdings gar nicht um eine Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes, sondern um eine bloße Vorstellungslust oder eine Vorfreude. ¹⁶³ Eine derartige Sichtweise widerspricht natürlich der Deutung, die ich bereits entwickelt habe, und aus diesem Grund möchte ich sie hier zunächst diskutieren (§ 1). Den Hauptteil meiner Diskussion wird allerdings ein anderes Problem beanspruchen. Kant zufolge setzen materiale praktische Prinzipien nicht nur eine faktische Lust, sondern auch die Erwartung einer zukünftigen Lust voraus. Der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens liegt hier nicht nur in der tatsächlichen „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9), sondern auch in der „Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet“ (KpV 5:22.15 f.). Damit stellt sich natürlich die Frage, wie sich diese Erwartung einer zukünftigen Lust zur faktischen Lust verhält, in der unsere Begierden entstehen. Ist die faktische Lust, die der Begierde vorangeht, nach Kant vielleicht nötig, um die Erwartung einer zukünftigen Lust auszubilden, die dann unserem nicht-moralischen Handeln zugrunde liegt? Um dieses Problem zu lösen, diskutiere ich zunächst eine klassische Deutung, die sich scheinbar wie von selbst aus Kants Aussagen über die Rolle der Lusterwartung beim nicht-moralischen Handeln ergibt. So behauptet Kant nicht nur, dass unserem nicht-moralischen Handeln stets die Erwartung einer zukünftigen Lust zugrunde liegt. Darüber hinaus erklärt er, dass wir die nicht-moralische Handlungswahl stets vom größtmöglichen Grad der Lust abhängig machen, die wir von der Gegenwart eines Gegenstandes erwarten (vgl. KpV 5:23.22 ff.). Derartige
163 Vgl. Alphéus 1981 [1936], 13 – 18, 409 Anm. 12; Reiner 1974 [1963], 318 ff.; Johnson 2005, 51 ff.; Morrisson 2008, 56 ff.
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Aussagen legen die Annahme nahe, dass Kant einen psychologischen Hedonismus des nicht-moralischen Handelns vertritt. Dieser Deutung zufolge argumentiert Kant also für die Ansicht, dass unser nicht-moralisches Handeln letztlich die Maximierung der eigenen Lust sowie die Minimierung von Schmerz zum Zweck hat.¹⁶⁴ Alle anderen Gegenstände, die wir aus nicht-moralischen Motiven anstreben, werden von uns nur als Mittel zur Luststeigerung angesehen. Der systematische Nachteil einer derartigen Position liegt auf der Hand. Kant würde in diesem Fall davon ausgehen, dass wir selbst natürliche Zwecke wie Familie oder Freundschaft außerhalb der Moral nur noch als bloße Instrumente zur eigenen Lustmaximierung betrachten können.¹⁶⁵ Im Zentrum meiner Diskussion wird allerdings nicht dieser systematische Nachteil der hedonistischen Deutung stehen. Vielmehr werde ich dafür argumentieren, dass die hedonistische Deutung in mindestens zwei Punkten mit Kants Aussagen über die praktische Rolle der sinnlichen Lust unvereinbar ist. Erstens ist sie auf eine bestimmte Erklärung des Verhältnisses festgelegt, das zwischen der faktischen Lust, der Lusterwartung und der Entstehung einer Begierde besteht. Dieser Erklärung zufolge müssen wir eine Lusterwartung ausbilden, um überhaupt Gegenstände zu begehren. Hierzu denken wir darüber nach, welche Gegenstände in der Vergangenheit bei uns zu einer faktischen sinnlichen Lust geführt haben. Unserer Begierde liegt also gar keine unmittelbare faktische Lust, sondern lediglich die Erinnerung an eine frühere faktische Lust zugrunde (§ 2). Diese Annahme ist, wie ich zeigen werde, allerdings sowohl aus exegetischen als auch aus systematischen Gründen unplausibel. So wird sie zum Beispiel nicht Kants These gerecht, der zufolge dem Begehren notwendig eine tatsächliche Lust als Ursache vorangeht. Denn beim Nachdenken über unsere vergangenen Lusterfahrungen können wir uns auch irren und gleichwohl eine entsprechende Lusterwartung und eine hierauf beruhende Begierde ausbilden (§ 3). Mein zweiter Kritikpunkt an der hedonistischen Deutung betrifft die damit verbundene Analyse der Wertschätzung lustvoller Gegenstände. Der hedonisti-
164 Vgl. Beck 1960, 92– 102; Scheler 82008, 246– 250; Reiner 1974 [1963]; Irwin 1996; Johnson 2005; Herman 2007, 176 ff.; Morrisson 2008, 56 ff. 165 Reath zufolge fungiert die Erwartung einer zukünftigen Lust als eine Art heuristisches Prinzip bei der Wahl unserer eigentlichen Zwecke (vgl. Reath 1989a). Um zu entscheiden, was wir am meisten begehren, gehen wir der Frage nach, wieviel Lust wir bei der Befriedigung einer Begierde empfinden werden. Dieses Verfahren setzt nicht voraus, dass wir bloß die Lust um ihrer selbst begehren. Es beruht lediglich auf der Annahme, dass wir bei der Realisierung unserer eigentlichen Zwecke auch ein Gefühl der Befriedigung und damit eine Lust empfinden werden. Allerdings hat dieser Vorschlag immer noch den Nachteil, dass der Wahl nicht-moralischer Zwecke ein hedonistischer Kalkül zugrunde liegt, in dem wir erwartete Lustmengen gegeneinander aufrechnen (vgl. hierzu § 9 in diesem Kapitel).
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schen Deutung zufolge betrachten wir selbst die Gegenstände sinnlicher Lust als bloße Mittel zur Lustmaximierung. Dies folgt unweigerlich aus der hedonistischen Grundintuition, der zufolge wir ausschließlich die Lust als intrinsischen Wert ansehen. Im Rahmen der hedonistischen Deutung ist Kant also auf eine ganz bestimmte Theorie der Wertschätzung angenehmer Gegenstände festgelegt. Er müsste davon ausgehen, dass das Angenehme eine besondere Art des Nützlichen ist und uns, wie dieses, als „Mittel zu irgend einer Annehmlichkeit“ gefällt (KU 5:209.6 f.). Doch gerade dies streitet Kant ab, wenn er betont, dass uns die angenehmen Gegenstände in der sinnlichen Lust unmittelbar, d. h. nicht als Mittel zum Zweck, gefallen (§ 4). Diese zuletzt angeführte Ansicht Kants ist meines Erachtens wesentlich für das Verständnis seiner Aussagen über die praktische Rolle, welche die sinnliche Lust und die Lusterwartung jeweils beim nicht-moralischen Handeln spielen. Nach Kant übernimmt die sinnliche Lust hier die Funktion einer evaluativen Wahrnehmung. Sie versetzt uns in die Lage jene Gegenstände zu identifizieren, die wir um ihrer selbst willen begehren. Alle unsere Begierden nach Gegenständen entstehen unmittelbar in einer tatsächlichen Lust. Zwischen der Lust und der darauf folgenden Begierde besteht darüber hinaus ein inhaltlicher Zusammenhang: Die Begierde richtet sich auf eben jenen Gegenstand, den wir in der Lust unmittelbar angenehm finden. Die sinnliche Lust macht uns in diesem Sinn bewusst, auf welche Gegenstände sich unsere Begierden ursprünglich richten. Kants Aussage über die praktische Rolle der Lusterwartung ergibt sich dann aus der Frage, auf welche Weise dieses Angenehm-Finden in die praktische Überlegung eingehen kann. Kant zufolge ist das Angenehm-Finden in einer Lust nämlich in einem starken Sinn subjektiv und nicht-begrifflich. Diese These Kants hat meines Erachtens zwei Aspekte. Zunächst besagt sie, dass das AngenehmFinden unabhängig von der theoretischen Beschreibung ist, unter der ich den angenehmen Gegenstand betrachte. Wenn ich etwa eine Rose im Geruch angenehm finde, so ist mein Wohlgefallen unabhängig davon, ob ich der Auffassung bin, dass es sich um eine Rose, eine Blume oder eine Pflanze handelt. Hiermit hängt ein zweiter Aspekt von Kants These eng zusammen. Kant zufolge ist ein Gegenstand nicht unabhängig von meiner konkreten Lust-Erfahrung angenehm. Dies zeigt sich vor allem an der Tatsache, dass ich mich bei meinem AngenehmFinden nicht auf das Zeugnis anderer verlassen kann.¹⁶⁶ Wenn mich jemand davon überzeugen will, dass Rosen angenehm duften, dann kann ich seiner Aussage nur zustimmen, wenn ich selbst den Gegenstand ‚ausprobiere‘ und eine Lusterfahrung
166 Dieser Gedanke ist inspiriert durch Ginsborgs Analyse der Subjektivität des Geschmacks bei Kant, vgl. Ginsborg 1998 und § 5 in diesem Kapitel.
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mache. Dass ein Gegenstand für mich angenehm ist, hängt, mit anderen Worten, davon ab, dass seine Empfindung in mir zu einer Lust führt (§ 5). Nun reicht dieses subjektive Angenehm-Finden offenkundig nicht aus, um mich zum vernünftigen Handeln zu bestimmen. Um zu entscheiden, was ich zur Realisierung eines angenehmen Gegenstandes unternehmen soll, muss ich wissen, um was für eine Art von Gegenstand es sich handelt. Ich muss mein Angenehm-Finden also mit einer allgemeinen Beschreibung des angenehmen Objekts verbinden und auf diese Weise über meine faktischen Lusterfahrungen hinausgehen (§ 6). Dies geschieht in evaluativen Überzeugungen, denen zufolge ich Gegenstände einer bestimmten Art (z. B. Rosen) ganz generell angenehm finde (§ 7). Diese Überzeugungen sind offenkundig allgemeiner als mein ursprüngliches Angenehm-Finden in einer konkreten Lusterfahrung. Denn sie gelten auch für die Gegenstände jener Erfahrungen, die ich noch gar nicht gemacht habe. In einem schwächeren Sinn sind diese Überzeugungen allerdings immer noch subjektiv. Die Überzeugung, dass Rosen generell angenehm sind, gilt natürlich nur für mich und meine Erfahrungen. Dass sie zutrifft, ist also abhängig davon, dass ich stets auf eine bestimmte Weise reagiere, wenn ich mit Rosen konfrontiert werde. Folglich beinhalten diese Überzeugungen eine implizite theoretische Annahme: Ich setze implizit voraus, dass ich in der Gegenwart bestimmter Gegenstände stets eine Lusterfahrung gemacht habe bzw. machen werde (§ 8). Kants These über die Lusterwartung ergibt sich also nicht aus einer hedonistischen Grundintuition. Vielmehr liegt ihr eine Analyse der Subjektivität unserer evaluativen Überzeugungen über das Angenehme zugrunde. Zum Schluss des Kapitels thematisiere ich zwei Konsequenzen, die sich aus dieser Deutung für Kants Theorie der empirischpraktischen Überlegung ergeben (§§ 9 und 10).
§ 1 Vorstellungslust Im § 2 der Kritik der praktischen Vernunft argumentiert Kant unter anderem für die These, dass materiale praktische Prinzipien empirisch sind. Bei der Begründung für diese These verfährt er in zwei relativ einfachen Schritten (vgl. KpV 5:21.18 – 31). Die Begierde nach dem Gegenstand, die derartigen Prinzipien notwendig zugrunde liegt, setzt erstens eine ‚Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes‘ als Bestimmungsgrund der Willkür voraus. Zweitens können wir nur empirisch erkennen, welche Vorstellungen zu einer Lust führen. Folglich beruht das materiale praktische Prinzip auf einem empirischen Bestimmungsgrund der Willkür und ist deswegen selbst empirisch. Dieses Argument weist eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auf. An dieser Stelle soll es aber vor allem um den ersten Schritt des Arguments gehen, also um
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Kants These, dass jede Begierde eine Lust an der Wirklichkeit des Gegenstandes voraussetzt. Kant zufolge ist bei einem materialen praktischen Prinzip der „Bestimmungsgrund der Willkür […] die Vorstellung eines Objects und dasjenige Verhältniß derselben [Vorstellung – T. H.] zum Subject, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben [Objekts – T. H.] bestimmt wird. Ein solches Verhältniß aber zum Subject heißt die Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes. Also müßte diese als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür vorausgesetzt werden“ (KpV 5:21.21– 27).
Meine Deutung dieser Stelle ergibt sich im Prinzip schon aus den vorangegangenen Kapiteln, und ich wiederhole daher nur, was für die folgende Diskussion wichtig ist. Kant spricht von dem „Verhältniß“ (KpV 5:21.22), das zwischen der Vorstellung eines Objekts und dem Subjekt besteht und durch welches das Begehrungsvermögen zur „Wirklichmachung“ (KpV 5:21.23) des Objekts bestimmt wird. Dies verstehe ich auf folgende Weise: Die empirische Affektion durch ein Objekt der Wahrnehmung führt beim Subjekt zunächst zu einem Zustand gesteigerter körperlicher Aktivität, welcher in der Lust als zweckmäßig im Hinblick auf die subjektiven Bedingungen der Ausübung des Begehrungsvermögens wahrgenommen wird. Folglich tendieren wir in der Lust dazu, diesen Zustand körperlicher Aktivität aufrechtzuerhalten. Da dies wiederum nur in Gegenwart des Gegenstandes möglich ist, führt die Tendenz zur Aufrechterhaltung unseres Zustandes unweigerlich zu einer Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens – das Begehrungsvermögen wird zur Wirklichmachung des Gegenstandes bestimmt. Meine Deutung setzt also voraus, dass es sich hier um eine Lust an der tatsächlichen Gegenwart eines Gegenstandes handelt. Eine ganze Reihe von Interpreten hat nun dafür argumentiert, Kants Aussage über eine dem Begehren vorangehende Lust ganz anders zu verstehen. Dieser Deutung zufolge handelt es sich bei der vorangehenden Lust um eine Vorstellungslust. ¹⁶⁷ Diese Lust ist also eigentlich gar keine „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) – sie ist eine Lust an dem bloßen Gedanken an die Wirklichkeit eines Gegenstandes. Unterschiedliche Varianten einer solchen Lust sind denkbar, etwa ein Vorgefühl, in welchem wir die tatsächliche Lust an der zukünftigen Existenz des Gegen-
167 Den Ausdruck ‚Vorstellungslust‘ entnehme ich Reiner 1974 [1963]. – Ursprünglich hatte Reath Kants These von der vorangehenden Lust so verstanden, dass die Lust Bestandteil der komplexen Entstehungsgeschichte einer Neigung ist, (wie etwa die Lust an den ersten Erfahrungen mit Baseball Teil eines Prozesses ist, an dessen Ende sich eine Begeisterung für Baseball einstellt, vgl. Reath 1989a, 48 f.). Reath hat diese Deutung mittlerweile zugunsten der These von der Vorstellungslust revidiert (vgl. Reath 2006, 57 ff.).
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standes antizipieren,¹⁶⁸ oder aber eine Vorfreude, die nicht notwendig dieselbe Qualität hat wie die Lust an der Existenz eines Gegenstandes. Die Argumente, welche die einzelnen Interpreten für diese Deutung ins Feld führen, sind sich auffallend ähnlich. Reiner zufolge ist die ‚Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes‘, die Kant im § 2 definiert, eine Lust an der bloßen Vorstellung der Wirklichkeit des Gegenstandes.¹⁶⁹ Denn „die fragliche Lust wird ja von Kant definiert als dasjenige Verhältnis der Vorstellung eines Objekts (nicht des Objekts selbst!) zum Subjekt, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung des Objekts bestimmt wird“. Folglich ergibt sich die Lust erst aus „dem Akt der Vorstellung des Objekts (und der Erwartung seiner Wirklichkeit)“.¹⁷⁰ – Johnson zufolge handelt es sich bei der dem Begehren vorangehenden Lust um eine „Lust der Antizipation“ („pleasure of anticipation“, Johnson 2005, 52). Zur Begründung verweist Johnson u. a. auf die Stelle aus der Metaphysik der Sitten, die ich ganz zu Beginn dieses Kapitels zitiert habe. Dort heißt es über die praktische Lust, sie sei „mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) nothwendig verbunden“ (MS 6:212.10 f.). Die Redeweise, dass eine „Vorstellung das Gefühl so afficirt“ zeigt Johnson zufolge, dass wir diese Lust schon an der bloßen Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes empfinden (vgl. Johnson 2005, 53).¹⁷¹ – Auch Morrisson verweist auf Stellen, in welchen Kant die vorangehende Lust mit der Vorstellung eines Gegenstandes in Verbindung bringt. So interpretiert er etwa den Ausdruck „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer
168 Diese Deutung wird von Willaschek erwogen, wenn er fragt, ob es sich bei dieser Lust „um ein intuitives Wissen darüber [handelt], was man fühlen würde, wenn der vorgestellte Zustand wirklich wäre“ (Willaschek 1992, 62). 169 Der Beitrag von Hans Reiner 1974 [1963] geht aus von den Einwänden, die Karl Alphéus in seiner Dissertation zu „Kant und Scheler“ gegen Schelers Kantkritik vorgebracht hatte (vgl. Alphéus 1981 [1936]). Scheler hatte Kant so verstanden, dass jede Begierde mit der Erwartung einer Lust verbunden ist, die sich schon früher einmal als Wirkung eines erfolgreichen Handelns eingestellt hat (vgl. Reiner 1974 [1963], 316). Alphéus hatte hiergegen eingewandt, dass die vorhergehende Lust erstens als das Bewusstsein „einer gegenwärtigen Bewegtheit der Willkür“ (Alphéus 1981 [1936], 136) direkt mit der Begierde verbunden ist. Sie ist zweitens eine Lust an der Fiktion des Gegenstandes (vgl. Alphéus 1981 [1936], 13 – 18; 409 Anm. 12; Reiner 1974 [1963], 316 f.). Reiner gibt in diesem Punkt Alphéus recht, versucht aber zu zeigen, dass Kants Widerlegung des Eudämonismus gleichwohl auf einem klassischen hedonistischen Fehlschluss beruht. Reiner zufolge verwechselt Kant die wertkonstitutive Lust (also die Lust, die wir haben, wenn wir etwas wertschätzen) mit der Lust, die selbst ein Wert unter anderen ist (vgl. Reiner 1974 [1963], 340 f.). 170 Beide vorangegangenen Zitate in Reiner 1974 [1963], 320. 171 Johnson bringt weitere Stellen an, wobei er generell die Aussagen, dass die Vorstellung eines Gegenstandes von Lust begleitet wird oder dass die Vorstellung das Begehrungsvermögen affiziert, im Sinne einer Vorstellungslust oder Antizipationslust versteht, vgl. Johnson 2005, 53 ff.
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Sache“ (KpV 5:22.9), den Kant im § 3 der Kritik der praktischen Vernunft im Hinblick auf die dem Begehren vorangehende Lust verwendet, im Sinne einer Lust, die sich am bloßen Gedanken an die Existenz einer Sache einstellt.¹⁷² Die angeführten Belege für die These von der Vorstellungslust stützen sich folglich auf Aussagen Kants, in denen dieser die sinnliche Lust im Rekurs auf ihr Verhältnis zur Vorstellung des Gegenstandes charakterisiert. Meine erste Kritik an dieser Deutung besteht nun darin, dass sich aus den angeführten Textstellen keine ausreichende Evidenz für die These von der Vorstellungslust ergibt. Denn Kant zufolge stellen sich Lustzustände generell nicht an Gegenständen, sondern an deren Vorstellungen ein. Gerade in dem Abschnitt aus der Metaphysik der Sitten, auf den Johnson seine Interpretation stützt, findet sich eine Stelle, aus der dies hervorgeht. Das Gefühl ist Kant zufolge dasjenige „Subjective der Vorstellung“, das „gar kein Erkenntnißstück werden [kann]: weil es blos die Beziehung derselben [der Vorstellung – T. H.] aufs Subject und nichts zur Erkenntniß des Objects Brauchbares enthält; und alsdann heißt diese Empfänglichkeit der Vorstellung Gefühl, welches die Wirkung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellectuell sein) aufs Subject enthält und zur Sinnlichkeit gehört, obgleich die Vorstellung selbst zum Verstande oder der Vernunft gehören mag“ (MS 6:212.32 ff. Anm.).
In dieser Aussage Kants geht es offenbar nicht nur um eine bestimmte Art von Lustgefühlen, sondern ganz allgemein um die Lust und ihre Subjektivität. Wenn man dies berücksichtigt, so zeigt die Stelle in mehreren Punkten, dass die von Reiner und Johnson angeführten Belege keine ausreichende Evidenz für die These von der Vorstellungslust darstellen. Denn Kant zufolge enthält nicht bloß die Vorstellungslust, sondern jedes Gefühl eine „Beziehung derselben [der Vorstellung – T. H.] aufs Subject“ (MS 6:212.33 Anm.). Diese Aussage erinnert an die von
172 Vgl. Morrisson 2008, 61, 66 f. Morrisson gesteht aber zu, dass Kant zufolge dem Begehren auch eine Lust an der tatsächlichen Existenz eines Objekts vorangeht (vgl. Morrisson 2008, 61, 71 f.). – Die Plausibilität von Morrissons Deutung des Ausdrucks „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9) verdankt sich vielleicht zum Teil der englischen Übersetzung. Beck übersetzt diesen Ausdruck mit ‚pleasure from the conception of the existence of a thing‘, was Morrisson dann im Sinn von „pleasure at the thought of something“ deutet (Morrisson 2008, 61). – Morrisson führt eine weitere Stelle aus der Anthropologie als Beleg für die These von der Vorstellungslust an (vgl. Morrisson 2008, 78 f.). Dort fragt sich Kant, „ob das Bewußtsein des Verlassens des gegenwärtigen Zustandes, oder ob der Prospect des Eintretens in einen künftigen in uns die Empfindung des Vergnügens erwecke“ (Anth 7:231.10 ff.). Kant spricht im Hinblick auf die zweite Alternative zwar tatsächlich von einer „Vorempfindung einer Annehmlichkeit“ (Anth 7:231.15), doch im selben Atemzug verwirft er diese Alternative: „Es lässt sich aber auch schon zum Voraus errathen, daß das erstere allein statt finden werde“ (Anth 7:231.16 f.; H. v. m.).
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Reiner angeführte Belegstelle aus dem § 2, in dem Kant vom „Verhältniß derselben [Vorstellung – T. H.] zum Subject“ spricht (KpV 5:21.22 f.). Die Redeweise von der Beziehung bzw. dem Verhältnis der Vorstellung aufs Subjekt in einem Gefühl ist also nicht so zu verstehen, dass sich alles Fühlen lediglich auf bloßes Vorstellen im landläufigen Sinn (d. h. auf Fiktion oder Antizipation) bezieht. Sie besagt vielmehr: Lustzustände hängen nicht von der Beschaffenheit des vorgestellten Gegenstandes, sondern von unserem eigenen Zustand in der Vorstellung des Gegenstandes ab. Die zitierte Stelle zeigt auch, dass Johnsons Argumentation für die These von der Vorstellungslust irreführend ist. So bezeichnet Kant das Gefühl dort als eine „Empfänglichkeit“ und als ein „Gefühl, welches die Wirkung der Vorstellung […] aufs Subject enthält“ (MS 6:212.34 ff. Anm.). Dies scheint zu besagen, dass das Gefühl keine direkte Einwirkung des Gegenstandes auf das Subjekt beinhaltet (wie etwa der äußere Sinn).Vielmehr stellen sich die Modifikationen des Gefühls immer an Vorstellungen von Gegenständen ein. Die von Johnson zitierte Aussage über den Gegenstand, „dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt“ (MS 6:212.11), deutet aus diesem Grund nicht auf eine Vorstellungslust, sondern eher auf die Subjektivität der Gefühle hin.¹⁷³
173 Drei weitere Punkte seien hier nur erwähnt. Zunächst ist es natürlich merkwürdig, wenn man mit Reiner annimmt, dass die „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) gerade keine Lust an der Wirklichkeit des Gegenstandes sein sollte. Ferner ist unter einer Vorstellung nicht zwingend eine bloße Vorstellung oder eine Einbildung zu verstehen. Auch eine (objektive) Empfindung ist für Kant eine Vorstellung. Schließlich steht Reiners Deutung des Ausdrucks „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ in einer offenkundigen Spannung zu Kants Aussagen über die Genese dieser Lust. Wenige Zeilen später im § 2 spricht Kant von „der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust“ (KpV 5:21.33), was Reiner zufolge besagt, dass diese Lust qua Vorstellungslust auf einer „Beschaffenheit des inneren Sinnes“ beruht (KpV 5:23.9). Doch dass die zuletzt zitierte Aussage über den inneren Sinn die These von der bloßen Vorstellungslust nicht belegen kann, zeigen zunächst Kants allgemeine Aussagen über das (pathologische) Gefühl, welches in jedem Fall „ein auf den inneren Sinne gegründetes Gefühl der Lust“ ist (KpV 5:80.8 f.). Ästhetische Sinnenurteile haben es, so Kant in der Ersten Einleitung, „nur mit dem Verhältniß der Vorstellungen zum innern Sinne, so fern derselbe Gefühl ist, unmittelbar zu thun“ (EE 20:226.12 ff.). Ferner müsste in der Logik von Reiners Deutung eine Lust an der tatsächlichen Existenz des Gegenstandes auf dem äußeren Sinn beruhen und sich folglich – wie die äußere Empfindung – als das direkte Produkt der empirischen Affektion durch den Gegenstand einstellen. Dies ist jedoch u. a. angesichts von Kants Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Empfindung wenig plausibel (vgl. KU 5:205 f.). Außerdem begründet Kant im § 3 seine Aussage, der zufolge die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ auf einer Empfänglichkeit beruht, explizit mit dem Hinweis darauf, dass sie vom „Dasein eines Gegenstandes abhängt“ (KpV 5:22.9 – 12). Auch diese Aussage kann Reiner, wie ich im Folgenden zeigen werde, nicht mehr überzeugend erklären.
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Mein zweiter Kritikpunkt besteht darin, dass die These von der Vorstellungslust einen wesentlichen Punkt von Kants Argumentation im § 3 der Kritik der praktischen Vernunft unterminiert (vgl. KpV 5:22). Erst dort scheint Kant nämlich zu zeigen, dass die Lust, die dem Begehren vorhergeht, eine sinnliche Lust am Angenehmen ist. Diese These ist für Kants folgende Argumentation aus mindestens zwei Gründen wichtig. Erstens ergibt sich aus ihr der Lehrsatz II, dem zufolge alle materialen praktischen Prinzipien unter das Prinzip der Selbstliebe gehören, weil sie die Erwartung einer Annehmlichkeit und damit letztlich die eigene Glückseligkeit zum Bestimmungsgrund des Willens machen. Zweitens ermöglicht sie Kant jene Neukonzeption des sinnlichen Begehrens, die in der anschließenden „Folgerung“ vorgeschlagen wird und der zufolge alle materialen praktischen Prinzipien den Bestimmungsgrund des Willens ins untere (also sinnliche) Begehrungsvermögen setzen (vgl. KpV 5:22.26 ff.). Ein erstes Argumentationsziel des § 3 besteht also darin zu zeigen, dass die Lust, die der Begierde vorangeht, ipso facto eine sinnliche Lust am Angenehmen ist. Dies geschieht in der folgenden Passage aus dem § 3: „Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjects, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eine Beziehung der Vorstellung auf ein Object nach Begriffen, aber nicht auf das Subject nach Gefühlen ausdrückt. Sie ist also nur so fern praktisch, als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.9 – 17).
Kants Argumentation besteht aus mehreren Teilargumenten und hat durchaus ihre Schwierigkeiten. Deutlich genug ist aber die Argumentationsstrategie Kants: Weil die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache […] von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt“, beruht sie auf der „Empfänglichkeit des Subjects“ (KpV 5:22.9 – 12). Sie gehört deswegen wesentlich dem „Sinne (Gefühl)“ an, ergibt sich also nicht aus Begriffen und ist aus diesem Grund eine sinnliche Lust am Angenehmen. So spricht Kant im letzten Satz von der „Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet“ (KpV 5:22.15 f.). Zumindest ein Ziel von Kants Argumentation besteht also darin zu zeigen, dass die Lust, die dem Begehren vorhergeht, ipso facto eine sinnliche Lust am Angenehmen ist. Ich werde weiter unten auf die Probleme in Kants Argumentation, insbesondere auf die zuletzt zitierte Aussage über die erwartete Empfindung der Annehmlichkeit eingehen.Wichtiger an dieser Stelle ist ein anderer Punkt.Wenn wir, wie etwa Morrisson und Reiner, die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9) mit einer bloßen Vorstellungslust identifizieren, so unter-
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laufen wir ganz offensichtlich Kants Argumentationsstrategie. Denn erstens liegt Kants Argument die These zugrunde, dass diese Lust vom „Dasein eines Gegenstandes abhängt“ (KpV 5:22.11 f.), was mit dem Gedanken einer bloßen Vorstellungslust geradezu unverträglich ist. Zweitens können wir in diesem Fall die Begründung, die Kant für diese Aussage gibt, nicht mehr erklären. Betrachtet man den ersten Satz der zitierten Passage genauer (vgl. KpV 5:22.9 – 12), so lässt sich diese Begründung auf folgende Weise wiedergeben: Wenn (A) die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, dann muss sie (B) vom Dasein des Gegenstandes abhängen und folglich (C) auf einer Empfänglichkeit des Subjekts beruhen. Entscheidend in diesem Gedanken ist offenkundig der Schritt von Behauptung (A) zu Behauptung (B). Aus der Tatsache, dass die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache ist, soll folgen, dass sie von der Existenz des Gegenstandes abhängt. Gerade diesen Schritt kann nun die Deutung, der zufolge die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ eine bloße Vorstellungslust ist, nicht mehr erklären. So behilft sich etwa Reiner, indem er eine zweite Lust einführt, die seiner eigenen Deutung zufolge im § 3 gar nicht erwähnt wird. Die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ sei zwar eine Vorstellungslust, hänge aber ihrerseits von einer vergangenen Lust an der tatsächlichen Existenz eines Gegenstandes ab und sei daher indirekt vom Dasein des Gegenstandes abhängig (so wie der Vorgeschmack eines Apfels abhängt vom vergangenen Geschmackserlebnis eines Apfels; vgl. Reiner 1974, 321). Legt man hingegen die Deutung zugrunde, die ich in den vorangegangenen Kapiteln von Kants Theorie der sinnlichen Lust vorgeschlagen habe, so lässt sich der Schritt von der Aussage (A) zur Aussage (B) erklären, ohne eine zweite Lust einzuführen, von der Kant der eigenen Deutung zufolge gar nicht spricht. Die Aussage (A) verstehe ich auf folgende Weise: Dass die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, bedeutet, dass diese Lust dazu führt, dass die betreffende Vorstellung die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. Um nun den Schritt von (A) nach (B) zu verstehen, müssen wir die Idee hinzunehmen, dass dieser Lust die Tendenz zur Erhaltung unseres Zustandes zugrunde liegt. Wenn wir dies berücksichtigen, so folgt aus der Aussage (A), dass wir in der betreffenden Lust den Zustand nur aufrechterhalten können, wenn wir die Gegenwart des Gegenstandes sicherstellen oder den Gegenstand erneut hervorbringen. Denn andernfalls wäre die zugrunde liegende Tendenz zur Aufrechterhaltung des Zustandes gar nicht mit dem Begehren des lustvollen Gegenstandes verbunden – die Lust wäre dann bloß kontemplativ. Hieraus folgt nun aber, dass der Aktivitätszustand, welcher der Lust zugrunde liegt, von der Gegenwart des Gegenstandes und also von dessen Dasein
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
abhängig ist. Folglich setzt auch die Lust, die auf diesem Aktivitätszustand beruht, das Dasein des Gegenstandes voraus.¹⁷⁴
§ 2 Lusterwartung und Hedonismus In den nun folgenden Abschnitten möchte ich ein zweites und grundlegenderes Problem diskutieren. Im § 3 der Kritik der praktischen Vernunft identifiziert Kant den Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens nicht nur mit einer tatsächlichen Lust an der Existenz des Gegenstandes, sondern auch mit der Erwartung einer zukünftigen Lust. Diese Identifikation wird zum ersten Mal in dem komplizierten Argument eingeführt, dessen Grundgedanken ich bereits erläutert habe. Ich zitiere deswegen nur noch einmal den Schluss des Arguments: „Sie [die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache – T. H.] ist also nur so fern praktisch, als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.14– 17).
Aus der Tatsache, dass die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ auf der Gegenwart des Gegenstandes und damit auf einem sinnlichen Gefühl beruht, folgt für Kant nicht nur, dass es sich hier um eine sinnliche Lust am Angenehmen handelt. Für Kant ergibt sich hieraus auch die Konsequenz, dass es letztlich auch die Erwartung einer solchen Lust ist, die das Begehrungsvermögen bestimmt. Das Argument, mit dem Kant die Behauptung über die Lusterwartung als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens einführt, ist nun ganz offensichtlich problematisch. Die Lust, welche dem Begehren vorangeht, ist eine Lust am Angenehmen, weil sie auf empirischer Affektion durch den Gegenstand beruht. Wie erklärt sich nun aber der Schritt von dieser Lust hin zu einer Lusterwartung, d. h. zu der Empfindung der Annehmlichkeit, die wir von der Existenz des Gegenstandes erwarten? Verkompliziert wird die Lage noch dadurch, dass Kant sowohl diese Lusterwartung als auch die dem Begehren vorangehende tat-
174 Die Argumentation lässt sich auch umgekehrt führen. Eine Lust, die vom Dasein einer Sache abhängt, ist notwendig ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache. Kant selbst argumentiert auf diese Weise im § 3 der Kritik der Urteilskraft. Das Wohlgefallen am Angenehmen ist gerade deswegen mit einem Interesse an der Existenz des Gegenstandes verbunden, weil es selbst „die Beziehung seiner Existenz [der Existenz des Gegenstandes – T. H.] auf meinen Zustand, sofern er durch ein solches Object afficirt wird, voraussetzt“ (KU 5:207.4 f.). Auch diese Umkehrung des Gedankens erklärt meine Deutung: Da der zugrunde liegende Aktivitätszustand von dem Dasein einer Sache (von der empirischen Affektion) abhängt, können wir ihn nur aufrechterhalten, indem wir die Sache erneut realisieren.
§ 2 Lusterwartung und Hedonismus
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sächliche Lust als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens bezeichnet. Einerseits soll die Lust aus der Vorstellung der Existenz der Sache „ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache“ (KpV 5:22.9 f.) sein; andererseits ist gerade diese Lust nur praktisch, sofern die „Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.15 – 17).¹⁷⁵ Wie hängen beide Aussagen miteinander zusammen? Bevor ich eine eigene Antwort auf diese schwierige Frage entwickle, möchte ich eine Deutung von Kants Aussage über die Rolle der Lusterwartung betrachten, die lange Zeit eine vorherrschende Rolle in der Forschung zu Kants praktischer Philosophie eingenommen hat. Dieser Deutung zufolge drückt Kants These über die Rolle der Lusterwartung beim Handeln unter materialen praktischen Prinzipien einen psychologischen Hedonismus des nicht-moralischen Handelns aus.¹⁷⁶ Beim nicht-moralischen Handeln geht es uns letztlich nicht um die begehrten Gegenstände selbst, sondern um die Lust, die wir uns von der Gegenwart dieser Gegenstände versprechen. Andrews Reath, der selbst nicht diese Deutung vertritt,
175 Kant scheint auch in der anschließenden Anmerkung I immer wieder zwischen der vorangehenden tatsächlichen Lust und der Lusterwartung zu schwanken. Vgl. zum Beispiel die folgende Passage: „Wenn eine Vorstellung, sie mag immerhin im Verstande ihren Sitz und Ursprung haben, die Willkür nur dadurch bestimmen kann, daß sie ein Gefühl einer Lust im Subjecte voraussetzt, so ist, daß sie ein Bestimmungsgrund der Willkür sei, gänzlich von der Beschaffenheit des inneren Sinnes abhängig, daß dieser nämlich dadurch mit Annehmlichkeit afficirt werden kann. Die Vorstellungen der Gegenstände mögen noch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, selbst Vernunftvorstellungen im Gegensatze der Vorstellungen der Sinne sein, so ist doch das Gefühl der Lust, wodurch jene doch eigentlich nur den Bestimmungsgrund des Willens ausmachen, (die Annehmlichkeit, das Vergnügen, das man davon erwartet, welches die Thätigkeit zur Hervorbringung des Objects antreibt) nicht allein so fern von einerlei Art, daß es jederzeit blos empirisch erkannt werden kann, sondern auch sofern, als es eine und dieselbe Lebenskraft, die sich im Begehrungsvermögen äußert, afficirt“ (KpV 5:23.6 ff.). Im ersten Satz spricht Kant von einer tatsächlichen Lust, die auf einer Affektion beruht, im zweiten Satz hingegen von einer Lusterwartung. – Ein hilfreicher Überblick über die unterschiedlichen Formulierungen, mit denen Kant die vorhergehende Lust bzw. die Lusterwartung beschreibt, findet sich bei Reiner 1974 [1963], 323 ff. 176 Wie Reath gezeigt hat, wurde die Lesart in der englischsprachigen Philosophie schon von Thomas H. Green vertreten, vgl. Reath 1989a, 43 ff., sowie Green 2011 [1886], 139 ff.; Irwin 1984, 39 ff. Die heutzutage immer noch einflussreichste Variante dieser Lesart findet man in Becks Kommentar zur Kritk der praktischen Vernunft, vgl. Beck 1960, 92– 102. Auch in der seit dem neunzehnten Jahrhundert in Deutschland geführten Debatte um Werterkenntnis und Wertfühlen spielt die Lesart eine wichtige Rolle, vgl. vor allem Scheler 82008, 246– 250. Dabei wird sie allerdings unter dem Stichwort ‚Kants Widerlegung des Eudämonismus‘ diskutiert, vgl. Scheler 8 2008, 246, sowie Reiner 1974 [1963]. In jüngerer Zeit wurden Varianten dieser Lesart von Irwin 1996, Johnson 2005, Herman 2007, 176 ff., sowie von Morrisson 2008, 56 ff., vertreten.
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hat die klarste und einleuchtendste Beschreibung des psychologischen Hedonismus gegeben, der Kant hier zugeschrieben wird.¹⁷⁷ Reath zufolge betrifft diese Form des Hedonismus letztlich die Objekte der Begierden, die unserem nichtmoralischen Handeln zugrunde liegen. Der psychologische Hedonismus besagt nach Reath, dass „alle Begierden die Lust des Handelnden oder aber ein geeignetes Mittel zu dieser Lust zum Gegenstand haben“.¹⁷⁸ Wenn wir dieser Beschreibung von Reath folgen, so beruht ein derartiger Hedonismus im Grunde auf einer Unterscheidung zwischen zwei Formen von Begierden, die unserem nichtmoralischen Handeln zugrunde liegen. Unsere Begierde nach Lust ist primär in dem Sinn, dass wir die Lust um ihrer selbst willen anstreben. Die Begierden hingegen, die sich auf unterschiedliche Objekte richten, sind sekundär in dem Sinn, dass wir diese Objekte im Grunde ausschließlich als Mittel zur Lustmaximierung begehren. Im Rahmen einer solchen Position ist der Verweis auf die Lusterwartung offenkundig notwendig, um zu erklären, wie wir ausgehend von unserer primären und alles beherrschenden Begierde nach Lust sekundäre Begierden nach einem Gegenstand ausbilden. Um derartige Begierden auszubilden, müssen wir einen Gegenstand identifizieren, von dessen Gegenwart wir uns eine Lust versprechen. Diese Deutung scheint auf den ersten Blick sehr gut zu Kants Aussagen über die praktische Rolle der Lusterwartung beim Handeln nach materialen praktischen Prinzipien zu passen. Neben der bereits zitierten Stelle aus dem § 3 der Kritik der praktischen Vernunft ist es vor allem die Anmerkung I, in der Kant unermüdlich die These wiederholt, dass der materiale Bestimmungsgrund des Handelns unter materialen praktischen Prinzipien letztlich in einer Lusterwartung besteht.¹⁷⁹ So 177 Vgl. Reath 1989a, 46 f. – Die klassischen Vertreter der hedonistischen Deutung gehen leider nicht ausführlich auf die Frage ein, worin überhaupt der psychologische Hedonismus als systematische Position besteht. Einen hilfreichen kritischen Überblick über die unterschiedlichen Varianten des Hedonismus gibt Feldman 2004. 178 Vgl. Reath 1989a, 46: „Psychological hedonism is a thesis about the objects of desires, which leads to a theory of motivation. It holds that all desires are desires for pleasure in the agent, or for the means thereto, where pleasure is construed as a definite feeling or experience. Thus it makes the desire for pleasure the primary motive to human action, to which all other motives can be reduced“. 179 Aus diesem Grund wird schon bei der Beschreibung von Kants mutmaßlichem Hedonismus meist auf die Lusterwartung verwiesen. So lesen wir bei Beck: „Kant’s theory of desire is hedonism. […] Desire is always directed to something – its object – the existence of which is expected to give pleasure“ (Beck 1960, 92). Die Textstelle aus der Kritik der Urteilskraft, die Beck als Beleg für diese These anführt, ist zu diesem Zweck allerdings denkbar ungeeignet. In Becks Übersetzung lautet sie: „To wish for something and to have satisfaction in its existence, i. e., to take an interest in it, are identical“ (Beck 1960, 92). Im Original: „Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d. i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch“ (KU
§ 2 Lusterwartung und Hedonismus
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spricht Kant erneut von materialen Bestimmungsgründen, die man „in einer von irgend etwas erwarteten Annehmlichkeit setzt“ (KpV 5:23.4), oder er bezeichnet den materialen Bestimmungsgrund der Willkür als „die Annehmlichkeit, das Vergnügen, das man davon erwartet, welches die Thätigkeit zur Hervorbringung des Objects antreibt“ (KpV 5:23.14 f.). Darüber hinaus scheint Kant die noch radikalere These zu vertreten, dass unserer Abwägung nicht-moralischer Handlungsmotive letztlich ein hedonistischer Kalkül zugrunde liegt, in dem wir die quantitativen Merkmale von erwarteten Lustzuständen gegeneinander aufrechnen. So heißt es über einen Menschen, der zwischen unterschiedlichen nichtmoralischen Motiven abwägt: „Beruht die Willensbestimmung auf dem Gefühle der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die er aus irgend einer Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche Vorstellungsart er afficirt werde. Nur wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit sei, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschließen“ (KpV 5:23.29 – 33). Die Evidenz für die hedonistische Deutung von Kants Theorie des nichtmoralischen Handelns scheint also zumindest auf den ersten Blick relativ eindeutig zu sein. Schwieriger ist allerdings die Frage zu beantworten, wie sich im Rahmen dieser Deutung Kants Aussage erklären lässt, dass unseren Begierden nach Gegenständen nicht nur eine Lusterwartung, sondern auch eine tatsächliche „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) zugrunde liegt. Wie Morrisson bereits festgestellt hat, bleiben die meisten Vertreter dieser Deutung eine Antwort auf diese Frage schuldig.¹⁸⁰ Gleichwohl ergibt sich schon aus der obigen Beschreibung des psychologischen Hedonismus eine naheliegende hedonistische Antwort auf diese Frage. Dieser Antwort zufolge ist Kants These von der vorhergehenden Lust ein Bestandteil seiner Erklärung des Übergangs von der primären Begierde nach Lust zu einer sekundären Begierde nach dem Gegenstand, von dem wir uns eine Lust versprechen. Um eine sekundäre Begierde nach einem lustvollen Gegenstand auszubilden, müssen wir einen Gegenstand identifizieren, von dem wir uns eine Lust versprechen. Hierzu müssen wir darüber nachdenken, welche Gegenstände uns in der Vergangenheit tatsächlich eine Lust verschafft haben. Die sekundäre Begierde nach einem Gegenstand beruht folglich nicht nur auf einer Lusterwartung, sondern auch auf einer vorangehenden tatsächlichen Lusterfahrung, die zur Ausbildung ebenjener Lusterwartung vorausgesetzt wird. 5:209.10 – 12). Hier geht es folglich gar nicht um sinnliches Begehren bzw. Wünschen oder um die sinnliche Lust, die sich bei der Befriedigung einer Begierde einstellt. Es geht um das Wollen und um das korrespondierende Wohlgefallen am Guten (und also auch um das moralisch Gute). 180 Vgl. Morrisson 2008, 64.
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Tatsächlich scheinen die Vertreter der hedonistischen Deutung auch aus eher exegetischen Gründen zu einer derartigen Erklärung der Rolle der vorangehenden Lust gezwungen zu sein. Denn Kant selbst legt im § 2 die Annahme nahe, dass die tatsächliche Lusterfahrung eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung einer Lusterwartung spielt. Nachdem er nämlich dort die vorangehende „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ (KpV 5:21.25) definiert, fügt Kant eine Aussage an, die augenscheinlich die Ausbildung der Lusterwartung betrifft: „Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde“ (KpV 5:21.27– 29).¹⁸¹ Diese Aussage legt die Annahme nahe, dass die vorangehende „Lust an der Wirklichkeit des Gegenstandes“ eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung einer Lusterwartung spielt.¹⁸² Um einen lustvollen Gegenstand zu identifizieren, müssen wir entscheiden, welcher Gegenstand bzw. welche Vorstellung eines Gegenstandes uns in Zukunft eine Lust verschaffen wird.¹⁸³ Diese Entscheidung fällen wir nun empirisch, d. h. im Rekurs auf unsere vergangenen Lusterfahrungen.Wir denken darüber nach, welche Gegenstände uns in der Vergangenheit – vermittelt durch die jeweilige Vorstellung – eine Lust verschafft haben.¹⁸⁴
181 Im § 12 der Kritik der Urteilskraft führt Kant diesen Punkt noch etwas ausführlicher aus. Nach Kant folgt der Lustzustand als Wirkung auf die Vorstellung eines Gegenstandes. Zwischen der Vorstellung und dem Gefühl der Lust und Unlust besteht daher ein „Causalverhältniß, welches (unter Gegenständen der Erfahrung) nur jederzeit a posteriori und vermittelst der Erfahrung selbst erkannt werden kann“ (KU 5:221 f.33 ff.). 182 Hierfür spricht auch die bereits erwähnte Behauptung Kants, dass die dem Begehren vorangehende Lust nur sofern praktisch ist, „als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.15 – 17). Die tatsächliche Lust spielt eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Lusterwartung und ist unter dieser Rücksicht praktisch. – In diesem Zusammenhang ist die Formulierung aufschlussreich, die Kant zur Beschreibung der Lusterwartung verwendet: Eine Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt vom Gegenstand erwartet, soll das Begehrungsvermögen bestimmen. Diese Formulierung lässt sich vielleicht auf folgende Weise deuten: Eine bereits erfahrene Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt erneut vom Gegenstand erwartet, soll das Begehrungsvermögen bestimmen. Auffällig ist jedenfalls, dass Kant in der Anmerkung I immer wieder auf Varianten dieser Grundformulierung zurückgreift, um die Lusterwartung und ihre praktische Rolle zu beschreiben (vgl. z. B. KpV 5:23.4; 5:23.14 f.; 5:23.29 ff.). 183 Die Entscheidung betrifft die Zukunft, denn es geht um die Frage, ob die Vorstellung des Gegenstandes „mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde“ (KpV 5:21.28 f.; H. v. m.). 184 Tatsächlich deutet Beck eine derartige Erklärung an, wenn er im Rahmen seiner Deutung des § 2 festhält: „[…] [W]hether a feeling of pleasure or pain will arise in the presence of an object can be learned only in the actual experience“ (Beck 1960, 94).
§ 3 Probleme der hedonistischen Deutung
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Im Rahmen einer hedonistischen Deutung von Kants Theorie des nichtmoralischen Handelns lässt sich also eine Antwort auf die Frage geben, wie sich die tatsächliche Lust an der Gegenwart des Gegenstandes zu der Lusterwartung verhält. Diese Antwort verweist letztlich auf eine Art empirische Reflexion, die der Entstehung einer Begierde nach einem Objekt zugrunde liegt. Man könnte auch von einem Induktionsschluss sprechen, in dem wir von empirischen Überzeugungen über vergangene kausale Vorstellung-Lust-Verhältnisse übergehen zu einer Überzeugung, welche ein kausales Vorstellung-Lust-Verhältnis in der Zukunft betrifft. So kann ich etwa von der Überzeugung, dass mir die Geschmacksempfindung eines bestimmten Getränks in der Vergangenheit in der Regel eine Lust verschafft hat, übergehen zu der Überzeugung, dass mir die Empfindung dieses Getränks auch in Zukunft eine Lust verschaffen wird. Dieser Übergang scheint im Rahmen einer hedonistischen Deutung notwendig zu sein, um zu erklären, auf welche Weise wir ausgehend von unserer primären und unqualifizierten Begierde nach Lust sekundäre Begierden nach bestimmten Gegenständen ausbilden. Tatsächlich wird sie aber auch von Kant selbst nahegelegt, wenn er betont, dass wir nur empirisch, d. h. im Rekurs auf vergangene Lusterfahrungen entscheiden können, welche Gegenstände uns in Zukunft eine Lust verschaffen werden.
§ 3 Probleme der hedonistischen Deutung Der wohl entscheidende systematische Nachteil des psychologischen Hedonismus ist wohlbekannt. Der Hedonismus übersieht die Tatsache, dass wir – selbst in einem nicht-moralischen Zusammenhang – Gegenstände oder Sachverhalte begehren können, die wir an sich selbst und nicht nur um der dadurch realisierten Lust willen wertschätzen (z. B. Freundschaft, Familie, bestimmte erfüllende Tätigkeiten wie Fußballspielen usw.).¹⁸⁵ Im nächsten Abschnitt werde ich der Frage
185 Herman 2007 formuliert diesen Nachteil meines Erachtens zu stark: „We want to say: some objects are worth choosing because of what they are: beautiful, expressive of some truth, or in some other way of intrinsic value“ (Herman 2007, 183 f.). Vor dem Hedonismus sind wir dieser Formulierung zufolge nur sicher, wenn wir eine Theorie objektiver Werte vertreten (vgl. Herman 2007, 177). – Auch eine Theorie subjektiver Wertschätzung kann meines Erachtens erklären, dass wir die Gegenstände als solche wertschätzen – und zwar sogar dann, wenn diese Wertschätzung wesentlich auf einer Lust am Gegenstand beruht. Das beste Beispiel hierfür ist Kants Theorie der Wertschätzung des Schönen. So ist Kant zufolge das Wohlgefallen am Schönen wesentlich subjektiv; gleichwohl gefallen uns Kant zufolge schöne Gegenstände unmittelbar und nicht bloß als Auslöser der entsprechenden Lust. Dass sie uns gefallen, bedeutet zwar nichts anderes, als dass die Vorstellungen dieser Gegenstände in uns zu einer Lust führen (vgl. Kap. 3, § 4). Doch hieraus folgt nicht, dass die Gegenstände uns unter der Rücksicht gefallen, dass sie in uns zu
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
nachgehen, ob wir Kant zufolge wirklich die Objekte unserer sinnlichen Begierden bloß um der dadurch realisierten Lust wertschätzen. Zuvor möchte ich allerdings auf die Probleme hinweisen, die mit der hedonistischen Erklärung der Rolle der Lust bei der Ausbildung einer sinnlichen Begierde verbunden sind. Dieser Erklärung zufolge müssen wir erst über vergangene Lusterfahrungen nachdenken, um eine Lusterwartung und eine hierauf beruhende sekundäre Begierde nach einem Objekt auszubilden. Ein erstes Problem dieser Erklärung besteht nun darin, dass Kant zufolge die tatsächliche Lust an einem Gegenstand notwendig jeder sinnlichen Begierde vorangeht. Diese sehr starke Aussage lässt sich nun meines Erachtens nicht mehr im Rahmen der hedonistischen Deutung erklären. Denn im Grunde reicht für die Entstehung einer (sekundären) Begierde allein die Erwartung aus, dass der Gegenstand mir in Zukunft – vermittelt durch eine Vorstellung – eine Lust verschafft. Diese Erwartung kann ich auch ausbilden, ohne dass ich in der Vergangenheit faktisch eine entsprechende Lusterfahrung gemacht habe. So kann ich zu einer derartigen Lusterwartung im Rekurs auf Empfehlungen oder das Ausdrucksverhalten anderer kommen oder mich in meiner Überlegung,welche die kausale Beziehung von Vorstellung und Lust in der Vergangenheit betrifft, einfach irren. Das erste Problem besteht also darin, dass der hedonistischen Erklärung zufolge die Verbindung zwischen der tatsächlichen Lust und der Lusterwartung nicht eng genug ist. Ein zweites Problem stellt die Tatsache dar, dass die hedonistische Deutung das Auftreten einer Lust von der eigentlichen Entstehung einer Begierde trennt. Zwischen der Lust und der Entstehung einer sekundären Begierde nach einem Gegenstand liegt dieser Deutung zufolge ein Prozess der Reflexion, in dem wir erst eine Lusterwartung ausbilden müssen. Nun habe ich bereits im vorangegangenen Kapitel dafür argumentiert, dass nach Kant eine sinnliche Begierde unmittelbar in einer sinnlichen Lust entsteht. In der sinnlichen Lust tendieren wir dazu, einen Zustand aufrechtzuerhalten; da dies nur in Gegenwart des angenehmen Gegenstandes möglich ist, führt diese Tendenz unmittelbar zur Entstehung einer Begierde nach dem Gegenstand. Diese Auffassung Kants ist in meinen Augen nun wesentlich plausibler als die hedonistische Erklärung der Entstehung einer Begierde. Denn Kant zufolge müssen wir nicht erst über innere Vorgänge nachdenken
einer Lust führen. – Umgekehrt ließe sich fragen, ob der Hedonismus notwendig einen Subjektivismus der Wertschätzung von begehrten Objekten beinhaltet. Dem Hedonismus zufolge schreiben wir nur der Lust einen intrinsischen Wert zu, während wir alle anderen begehrten Gegenstände bloß als Mittel zur Lustmaximierung wertschätzen. Diese Unterscheidung zwischen einer intrinsischen und einer instrumentellen Wertschätzung scheint zumindest auf den ersten Blick unabhängig zu sein von der Unterscheidung zwischen einem Subjektivismus und einem Objektivismus der Wertschätzung.
§ 3 Probleme der hedonistischen Deutung
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oder bestimmte Überzeugungen haben, um eine Begierde nach einem Gegenstand auszubilden.Wir müssen überhaupt nichts denken oder glauben, um Gegenstände zu begehren – die tatsächliche Lust an einem Gegenstand reicht hierzu völlig aus.¹⁸⁶ Dem entspricht die Tatsache, dass viele sinnliche Begierden nach Gegenständen in uns ganz unwillkürlich entstehen und dass wir uns eines wohl nicht unbeträchtlichen Teils dieser Begierden noch nicht einmal als solcher bewusst sind. Der hedonistischen Deutung zufolge ist die einzige Begierde, die keine Reflexion voraussetzt, die primäre Begierde nach Lust. Hier ergibt sich nun ein drittes Problem, denn bei näherer Betrachtung scheint Kants Theorie des Begehrens gar keinen Raum zu lassen für eine derartige Begierde. Wie Kant in der an den § 3 anschließenden „Folgerung“ betont, beruht der Bestimmungsgrund des Willens entweder auf dem unteren (sinnlichen) oder aber auf dem oberen (rationalen) Begehrungsvermögen.¹⁸⁷ Kant zufolge ist ein Begehren, welches als Bestimmungsgrund des Willens fungiert, also entweder eine sinnliche Begierde, die als solche auf einer vorhergehenden Lust an der Existenz des Gegenstandes beruht, oder es ist ein rationales Begehren bzw. Wollen, das als solches auf dem moralischen Gesetz beruht. Damit stellt sich die Frage, unter welche dieser beiden Ru-
186 In der Tat ist die Idee problematisch, dass wir nur solche Gegenstände sinnlich begehren, von denen wir uns eine Lust erwarten. So führt sie etwa bei Beck zu einer Inkonsistenz. Beck zufolge ist eine Begierde – solange sie nicht als ein Interesse der Bildung einer Maxime zugrunde liegt – ein blinder Impuls, den wir mit Tieren gemeinsam haben (vgl. Beck 1960, 91). Doch in diesem Fall kann ihr keine empirisch-theoretische Einstellung vorausgehen, die sich auf kausale Verhältnisse bezieht (etwa eine Vermutung, dass zwischen dem Gegenstand und der Lust eine kausale Verknüpfung besteht). – Morrisson, der in diesem Punkt eine ähnliche Deutung wie Beck vertritt, sieht dieses Problem (vgl. Morrisson 2008, 70), argumentiert aber gleichwohl anhand eines Beispiels dafür, dass wir die Lusterwartung benötigen, um eine Begierde auszubilden: „Suppose, for example, that you are eating in a foreign country and your host offers you an unfamiliar appetizer. You politely and unquestioningly accept and enjoy the dish. You are then told that it is, in fact, monkey“ (Morrisson 2008, 68). Dass wir hier keine Begierde nach einem Nachschlag ausbilden, liegt Morrisson zufolge daran, dass die Erwartung einer zukünftigen Lust fehlt. Doch dieses Beispiel lässt sich auch so analysieren, dass die Begierde trotzdem in der tatsächlichen Lust entsteht. So könnte die Vorstellung des Gerichts die für das Begehren charakteristische Rolle wieder verlieren, nachdem ich über die Natur des Gerichts informiert worden bin (oder die für Verabscheuen charakteristische Rolle erhalten, wenn meine Lust einem Ekelgefühl weicht). Ich kann aber auch hin- und hergerissen sein zwischen einer eher moralischen Einstellung und meiner Begierde nach dem Gericht, (was mir, im Gegensatz zu Morrisson 2008, 69, durchaus eine mögliche Erklärung zu sein scheint). 187 „Alle materiale praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen, und, gäbe es gar keine blos formale Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können“ (KpV 5:22.27– 31).
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
briken die primäre Begierde nach Lust eigentlich fällt. Offensichtlich handelt es sich nicht um ein rationales Begehren, das auf dem moralischen Gesetz beruht. Allerdings kann die Begierde nach Lust auch kein sinnliches Begehren darstellen, weil sich daraus eine absurde Konsequenz ergeben würde: Die Begierde nach Lust würde in diesem Fall – wie alle sinnlichen Begierden – wiederum eine Lust am begehrten Gegenstand (also an der Lust selbst) und eine entsprechende Lusterwartung (also eine Erwartung einer Lust aus der Lust selbst) voraussetzen.
§ 4 Hedonismus und Wohlgefallen am Angenehmen Man kann den Hedonismus, den die klassische Deutung mit Kants Theorie des nicht-moralischen Handelns assoziiert, auch als eine psychologische Theorie der Wertschätzung formulieren: Aufgrund unserer psychischen Disposition können wir im Grunde nur unsere eigene Lust um ihrer selbst willen wertschätzen. Alle anderen Objekte unserer Begierden müssen wir hingegen lediglich als Mittel ansehen, derer wir uns bedienen, um Lustzustände in uns zu erzeugen. Mit Feldman lässt sich sagen, dass wir dem psychologischen Hedonismus zufolge selbst die angenehmen Gegenstände oder Zustände, die wir begehren, niemals unmittelbar, sondern nur noch als Mittel wertschätzen können, sofern wir nämlich davon ausgehen, dass sie eine Lust in uns bewirken.¹⁸⁸ Nicht wenige Stellen in Kants Kritik der praktischen Vernunft legen eine derartige psychologische Theorie der Wertschätzung nahe. Wenn wir im Hinblick auf unser eigenes Wohl oder Übel „ein Object begehren oder verabscheuen, so geschieht es nur, so fern es auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird“ (KpV 5:60.11 f.). Wenn es beim Handeln nur um unser Wohl oder Übel ginge, dann würden wir ein Objekt nur unter der
188 Feldman zufolge besteht die zentrale These des Hedonismus darin, dass ausschließlich die eigene Lust als intrinsischer Wert angesehen wird. Folglich werden dem Hedonismus zufolge selbst angenehme Gegenstände oder Zustände lediglich als Mittel zur Lustmaximierung angesehen, vgl. Feldman 2004, 23 f., 35. – Wie Herman überzeugend darlegt beinhaltet der Hedonismus allerdings nicht unbedingt die These, dass wir jede Handlung, die wir wählen, oder jedes Objekt, das wir anstreben, als ein Mittel zur unmittelbaren Lustmaximierung betrachten müssen (vgl. Herman 2007, 184 f.). Einem Beispiel Hermans zufolge muss meine Entscheidung einen Freund oder eine Freundin zu besuchen nicht von der Erwartung einer unmittelbar aus dem Besuch resultierenden Lust getragen sein. Ich kann einfach davon ausgehen, dass mir der Umgang mit Freunden generell Zugang zu den Annehmlichkeiten verschafft, die aus gesellschaftlichem Umgang resultieren. Wie Herman selbst hervorhebt, schließt jedoch auch diese Variante des Hedonismus aus, dass wir den Umgang mit Freunden um seiner selbst willen wertschätzen (vgl. Herman 2007, 184 f.).
§ 4 Hedonismus und Wohlgefallen am Angenehmen
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Rücksicht begehren, dass es ein Gefühl der Lust und Unlust in uns bewirkt. Bei unserer Beurteilung von Handlungen im Hinblick auf Wohl und Übel wird „ein Object der Lust und Unlust“ vorausgesetzt, also etwas, „das vergnügt oder schmerzt, und die Maxime der Vernunft, jene [Lust – T. H.] zu befördern, diese [Unlust – T. H.] zu vermeiden, bestimmt die Handlungen, wie sie beziehungsweise auf unsere Neigung, mithin nur mittelbar (in Rücksicht auf einen anderweitigen Zweck, als Mittel zu demselben) gut sind […]. Der Zweck selbst, das Vergnügen, das wir suchen, ist im letzteren Falle nicht ein Gutes, sondern ein Wohl, nicht ein Begriff der Vernunft, sondern ein empirischer Begriff von einem Gegenstande der Empfindung; allein der Gebrauch des Mittels dazu, d. i. die Handlung […], heißt dennoch gut, aber nicht schlechthin, sondern nur in Beziehung auf unsere Sinnlichkeit, in Ansehung ihres Gefühls der Lust und Unlust“ (KpV 5:62.20 ff.).
Es ist in der Tat schwierig, diese Stelle nicht im Sinn des psychologischen Hedonismus zu verstehen. Unserer Beurteilung von Handlungen liegt letztlich eine primäre hedonische Einstellung zugrunde – Kant spricht von einer „Maxime der Vernunft“, der zufolge wir durch unser Handeln Lust maximieren und Unlust minimieren wollen.¹⁸⁹ Der eigentliche Zweck, den wir dabei in den Blick nehmen, wird von Kant folgerichtig identifiziert mit dem „Vergnügen, das wir suchen“. – Wichtig ist allerdings zu sehen, was Kant an dieser Stelle nicht sagt. Kant zufolge ist der begehrte Gegenstand kein Mittel, das wir einsetzen, um unsere Lust zu maximieren. Zwar wird der Zweck des Handelns mit dem Vergnügen identifiziert, doch dieser Zweck wird im selben Atemzug mit dem „empirische[n] Begriff von einem Gegenstande der Empfindung“ gleichgesetzt (KpV 5:62.28 f.). Der Zweck unseres Handelns besteht demzufolge sowohl in der Lust als auch in dem Gegenstand, der uns die Lust verschafft. Was spricht nun aber gegen die These, dass wir Kant zufolge alle Objekte unserer sinnlichen Begierden, also auch die angenehmen Gegenstände selbst, bloß um der dadurch realisierten Lust willen wertschätzen? Um diese Frage zu beantworten, erinnere ich noch einmal an die beiden Aspekte der Lust, die ich im zweiten Kapitel unterschieden habe (vgl. Kap. 2, § 5). Zunächst können wir von einem Lustzustand sprechen, der sich Kant zufolge als Wirkung aus der Vorstellung eines Gegenstandes ergibt. Im Fall der sinnlichen Lust resultiert dieser Lustzustand aus der empirischen Affektion durch den vorgestellten Gegenstand und setzt daher die Gegenwart des Gegenstandes voraus. Wir können aber auch
189 Weitere Stellen ließen sich anbringen, etwa folgende Aussage aus der Kritik der Urteilskraft: Wenn alles Wohlgefallen ein Wohlgefallen am Angenehmen wäre, dann gäbe es „keine andere Schätzung der Dinge und ihres Werths […], als die in dem Vergnügen besteht, welches sie versprechen“ (KU 5:206.10 – 12).
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
davon sprechen, dass wir eine Lust an etwas haben. Dem entspricht Kants Redeweise von dem unmittelbaren Wohlgefallen, das wir in der sinnlichen Lust an vorgestellten Gegenständen nehmen. In der Lust gefallen uns die vorgestellten Gegenstände unmittelbar, d. h. wir finden diese Gegenstände in dieser Lust angenehm. Im dritten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass diese beiden Beschreibungen letztlich denselben Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven ansprechen (vgl. Kap. 3, § 4). Aus einer eher psychologischen Perspektive beschreiben wir die Entstehung eines Lustzustandes in unserem Gemüt. Allerdings ist dies ist nicht die Perspektive, die wir selbst einnehmen, wenn wir in einen Lustzustand geraten. Unsere eigene Einstellung ist hier eher evaluativ und auf den Gegenstand der Wahrnehmung gerichtet. In der Lust gefällt uns der wahrgenommene Gegenstand unmittelbar, d. h. wir betrachten ihn hier in einem ästhetischen Urteil als angenehm (und in komplexeren Fällen als „anmuthig, lieblich, ergötzend, erfreulich u. s. w.“, KU 5:206.3). Wir können diese Überlegungen auf die sinnliche Lust anwenden, indem wir Kants Verwendung des Ausdrucks ‚Annehmlichkeit‘ berücksichtigen. Kant spricht zunächst einmal davon, dass sich eine Annehmlichkeit qua Lustzustand als Wirkung aus einer Vorstellung ergibt. Die materiale Willensbestimmung hängt Kant zufolge davon ab, dass der innere Sinn „mit Annehmlichkeit afficirt werden kann“ (KpV 5:23.10).¹⁹⁰ Es ist nun Kant zufolge aber nicht so, dass wir einen derartigen Annehmlichkeitszustand registrieren und den vorgestellten Gegenstand dann als Ursache dieses Zustandes wertschätzen. Kant identifiziert vielmehr das Bewusstsein einer Annehmlichkeit mit der Tatsache, dass wir diesen Gegenstand selbst angenehm finden. Dies ergibt sich aus Kants Beschreibung des Unterschieds, der zwischen einer objektiven und einer subjektiven Empfindung besteht: „Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d. i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens […] betrachtet wird“ (KU 5:206.31– 36).
Wir können die objektive Grünempfindung zur Erkenntnis eines Gegenstandes verwenden. Im Gegensatz dazu wird durch die subjektive Empfindung der Annehmlichkeit der Wiese „kein Gegenstand vorgestellt“ (KU 5:206.33 f.). Gleichwohl betrachten wir auch hier den Gegenstand auf eine bestimmte Weise. Die An-
190 In der Kritik der Urteilskraft finden sich ähnliche Aussagen. So unterscheidet Kant den Reiz von der Rührung, in welcher „Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt“ wird (KU 5:226.13 – 15).
§ 4 Hedonismus und Wohlgefallen am Angenehmen
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nehmlichkeit, schreibt Kant, gehört zum „Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens […] betrachtet wird“ (KU 5:206.34– 36).Wenn wir bei der Vorstellung einer Wiese eine subjektive Empfindung der Annehmlichkeit haben, so betrachten wir die Wiese selbst (und nicht bloß einen inneren Zustand) als angenehm. Diese Überlegungen deuten schon darauf hin, dass wir Kant zufolge die angenehmen Gegenstände nicht bloß als Mittel wertschätzen – diese Gegenstände präsentieren sich uns in der Lusterfahrung nicht als neutrale Auslöser einer Annehmlichkeit. Allerdings ließe sich gegen eine derartige Argumentation vielleicht immer noch einwenden, dass sie eine aufklärerische Grundabsicht des psychologischen Hedonismus übersieht. Dieser muss nämlich nicht unbedingt leugnen, dass es uns so scheint, als würden uns die angenehmen Gegenstände unmittelbar und nicht bloß als Mittel gefallen. Die unmittelbare Wertschätzung des Gegenstandes in einer sinnlichen Lust könnte eine unvermeidliche Projektion sein. Wir übertragen das unmittelbare Gefallen an unserem Zustand unvermeidlich auf den vorgestellten Gegenstand selbst. Allerdings spricht zumindest eine Stelle ausdrücklich dagegen, dass Kant unsere Wertschätzung angenehmer Gegenstände auf diese Weise analysiert hat. Eine derartige Analyse würde aus Kants Sicht vielmehr zu einer irreführenden Verwechslung des Angenehmen mit dem Wozu-Guten, also dem Nützlichen, führen: „Daß dieses aber alsdann eine ganz andere Beziehung auf das Wohlgefallen sei, wenn ich das, was vergnügt, zugleich gut nenne, ist daraus zu ersehen, daß beim Guten immer die Frage ist, ob es blos mittelbar-gut oder unmittelbar-gut (ob nützlich oder an sich gut) sei; da hingegen beim Angenehmen hierüber gar nicht die Frage sein kann, indem das Wort jederzeit etwas bedeutet, was unmittelbar gefällt“ (KU 5:208.4– 10).
Wir können Gegenstände oder Handlungen in einem Wohlgefallen als angenehm oder als gut betrachten. Beides ist nicht miteinander identisch, weil uns das Gute entweder unmittelbar oder mittelbar gefällt, während uns das Angenehme immer unmittelbar gefällt. Beim Guten können wir immer fragen, ob es bloß nützlich oder an sich gut ist. Kant erklärt an dieser Stelle, was wir eigentlich meinen, wenn wir etwas angenehm finden. Das Wort ‚angenehm‘ bezieht sich immer auf etwas, das uns unmittelbar, d. h. nicht bloß als Mittel, gefällt. Folglich lässt sich das unmittelbare Wohlgefallen an angenehmen Gegenständen nicht in ein Wohlgefallen am Nützlichen auflösen. Diese Auffassung Kants ist nun mit der hedonistischen Deutung unverträglich. Wäre Kant tatsächlich ein psychologischer Hedonist im Hinblick auf das nicht-moralische Handeln, so müsste er davon ausgehen, dass wir angenehme Gegenstände lediglich als ein Mittel zur Lustmaximierung und folglich als etwas Nützliches wertschätzen.
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
§ 5 Die Subjektivität des Wohlgefallens am Angenehmen In meiner Kritik an der hedonistischen Deutung habe ich bereits darauf hingewiesen, dass diese Deutung die Ausbildung der Begierde nach einem Gegenstand an den falschen Punkt setzt (vgl. § 3 in diesem Kapitel). Der hedonistischen Deutung zufolge entsteht diese Begierde nämlich nicht unmittelbar in der Erfahrung einer tatsächlichen Lust, sondern an einem viel späteren Punkt. Dieser Deutung zufolge müssen wir zuerst über die tatsächlichen Lusterfahrungen nachdenken, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Auf diese Weise bilden wir eine Lusterwartung aus, die dann unserer (sekundären) Begierde nach einem Gegenstand zugrunde liegt. Meiner Auffassung zufolge entsteht die Begierde nach einem Gegenstand nun an einem viel früheren Punkt, nämlich unmittelbar in der sinnlichen Lust, die wir an der Gegenwart eines Gegenstandes empfinden. Damit stellt sich natürlich die Frage, welche Rolle die Lusterwartung im Rahmen dieser Auffassung überhaupt noch spielen könnte. In den folgenden Abschnitten möchte ich die These vertreten, dass Kant zufolge die Ausbildung der Lusterwartung nicht der Entstehung der Begierde vorausgeht, sondern auf diese folgt. Die Lusterwartung ist meiner Auffassung zufolge bereits ein Element der praktischen Überlegung, in der wir bestimmen, was wir zur Realisierung des begehrten Gegenstandes unternehmen sollen. Dabei wird sich auch zeigen, dass Kants These über die praktische Rolle dieser Lusterwartung im Grunde gar keinen hedonistischen Hintergrund hat. Vielmehr ergibt sie sich aus der Frage, auf welche Weise eine ursprünglich subjektive und damit nichtbegriffliche evaluative Erfahrung in einer Lust überhaupt eine Rolle in unserer praktischen Überlegung spielen kann. Ich werde dafür argumentieren, dass die Lusterwartung das Ergebnis eines Reflexionsprozesses darstellt, in welchem wir eine ursprünglich nicht-begriffliche evaluative Erfahrung unter Begriffe bringen. Die tatsächliche Lust kann Kant zufolge also nur in der begrifflichen Form einer Lusterwartung in die praktische Überlegung eingehen. In der Tat scheint Kant genau dies anzudeuten, wenn er an der bereits zitierten Stelle im § 3 der Kritik der praktischen Vernunft ausführt, dass die tatsächliche „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV 5:22.9) nur „so fern praktisch [ist], als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subject von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt“ (KpV 5:22.15 – 17). Um meine These etwas deutlicher zu artikulieren, gehe ich aus vom evaluativen Aspekt der Lust, also jener inneren Einstellung, die wir selbst dem Gegenstand der Wahrnehmung gegenüber einnehmen, wenn wir in einen Lustzustand geraten.Wie ich bereits im dritten Kapiteln gezeigt habe, handelt es sich bei dieser Einstellung letztlich um ein ästhetisches Urteil, in dem wir Kant zufolge einen Gegenstand unserer unmittelbaren Wahrnehmung als angenehm oder als schön
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betrachten (vgl. Kap. 3, § 4). Dort habe ich auch darauf hingewiesen, dass sich Kant zufolge dieses Urteil wesentlich vom logischen Erkenntnisurteil unterscheidet. Denn im Unterschied zu letzterem besteht der Bestimmungsgrund bzw. das Prädikat eines solchen Urteils in einem subjektiven und wesentlich nicht-begrifflichen Gefühl. Im Gegensatz zu einem logischen Urteil ist ein ästhetisches Urteil folglich wesentlich subjektiv und nicht-begrifflich. Im Folgenden geht es mir nun um zwei Aspekte der Subjektivität ästhetischer Urteile, auf die bereits im Rahmen der Forschung zu Kants Theorie des Geschmacksurteils hingewiesen worden ist.¹⁹¹ Ein erster Aspekt der Subjektivität ästhetischer Urteile besteht Kant zufolge darin, dass in diesen Urteilen die theoretische Objektbeschreibung und die evaluative Objektbetrachtung wechselseitig voneinander unabhängig sind. Aus der Tatsache, dass ich einen Gegenstand angenehm oder schön finde, folgt nichts für meine theoretische ‚Erkenntnis‘ des Gegenstandes.¹⁹² Mein Urteil: ‚die Rose, die ich anblicke, ist schön‘,¹⁹³ berechtigt mich nicht zu einer theoretischen Überzeugung, der zufolge der Rose eine ganz bestimmte objektive Eigenschaft zukommt (z. B. eine Vollkommenheit). Denn diesem Urteil liegt ein Gefühl der Lust zugrunde, „wodurch gar nichts im Objecte bezeichnet wird“ (KU 5:204.1 f.). Umgekehrt ist dieses Urteil selbst unabhängig von meinen theoretischen Überzeugungen bezüglich des Gegenstandes, insbesondere aber von der Beschreibung, unter der ich den Gegenstand im Urteil betrachte.¹⁹⁴ So kann ich das Urteil: ‚die Rose, die ich anblicke, ist schön‘ nicht im Rekurs auf mein botanisches Wissen über Rosen rechtfertigen.¹⁹⁵
191 Im Folgenden orientiere ich mich insbesondere an Ginsborg 2008, 65 f.; Ginsborg 1998 sowie Fricke 1990, 7 ff.). 192 Vgl. z. B. folgende Aussage: „Ich habe aber schon angeführt, daß ein ästhetisches Urtheil einzig in seiner Art sei, und schlechterdings kein Erkenntniß (auch nicht ein verworrenes) vom Object gebe: welches letztere nur durch ein logisches Urtheil geschieht“ (KU 5:228.21– 23). 193 Das Beispiel ist von Kant, vgl. KU 5:215.21 f. 194 Dieser letzte Punkt wurde bereits von Ginsborg und Fricke artikuliert (vgl. Ginsborg 2008, 65 f.; Fricke 1990, 7 ff.). Ginsborg zufolge will Kant mit seiner These von der „Nichtbegrifflichkeit“ der Geschmacksurteile „nicht ausschließen, dass wir auf Gegenstände, die wir für schön halten, nicht auch Begriffe anwenden. Ich kann das Objekt vor mir als Rose erkennen und es gleichwohl für schön halten. Kant beharrt lediglich darauf, daß ich mich nicht darauf berufen kann, daß es eine Rose ist, wenn ich rechtfertigen will, daß man dieses Objekt für schön halten müsse“ (Ginsborg 2008, 66). Fricke zufolge setzt „die Beurteilung eines Gegenstandes als schön oder nicht schön keine vorausgehende Bestimmung seiner deskriptiven Eigenschaften voraus“ (Fricke 1990, 8). 195 Vgl. Kants eigene Ausführungen zur freien Schönheit (pulchritudo vaga) im § 16 der dritten Kritik: „Blumen sind freie Naturschönheiten. Was eine Blume für ein Ding sein soll, weiß außer dem Botaniker schwerlich sonst jemand; und selbst dieser, der daran das Befruchtungsorgan der Pflanze erkennt, nimmt, wenn er darüber durch Geschmack urtheilt, auf diesen Naturzweck
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
Im § 8 der Kritik der Urteilskraft weist Kant allerdings noch auf einen zweiten Aspekt der Subjektivität von ästhetischen Urteilen hin.Wir lassen uns Kant zufolge nicht dazu bewegen, einem ästhetischen Urteil zuzustimmen, wenn wir selbst noch keine Lusterfahrung mit dem Gegenstand gemacht haben. Um ein Geschmacksurteil zu fällen, muss „ich den Gegenstand unmittelbar an mein Gefühl der Lust und Unlust halten“ (KU 5:215.15 f.). Ich muss selbst ‚ausprobieren‘, ob ich den Gegenstand schön finde: „Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei: dazu läßt man sich sein Urtheil durch keine Gründe oder Grundsätze aufschwatzen. Man will das Object seinen eignen Augen unterwerfen, gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung abhinge“ (KU 5:215 f.37 ff.).
In der Frage, ob etwas schön ist, sind die „Gründe oder Grundsätze“ (KU 5:216.2) unerheblich, die uns eine Person zugunsten ihres Urteils auflisten mag. Wir müssen den Gegenstand selbst betrachten, anhören etc. und dabei darauf achten, ob wir ihn selbst schön finden oder nicht. Kants Nachsatz – „gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung abhinge“ (KU 5:216.3 f.) – deutet schon darauf hin, dass das Geschmacksurteil in diesem Punkt mit dem ästhetischen Sinnenurteil übereinkommt. In der Tat geht es bei der Beurteilung des Schönen (etwa eines Theaterstücks, das wir uns selbst ansehen müssen) unter dieser Rücksicht ähnlich zu wie bei der Beurteilung des Angenehmen (also z. B. eines Gerichts, das wir selbst probieren müssen).¹⁹⁶ Hannah Ginsborg hat in einem Aufsatz zu Kants Theorie des Geschmacks darauf hingewiesen, dass die angeführte Aussage aus dem § 8 im Grunde auch eine Erklärung der eigentümlichen Subjektivität von ästhetischen Urteilen bietet (vgl. Ginsborg 1998). In einem objektiven Urteil schreiben wir einem Gegenstand eine Eigenschaft zu, die diesem unabhängig von unserer Erfahrung mit dem Gegenstand zukommen soll. Aus diesem Grund können wir uns hier in vielen Fällen auch auf das Zeugnis anderer verlassen – wir können das Urteil akzeptieren, ohne selbst die Erfahrung gemacht zu haben. Beim ästhetischen Urteil verhält es sich anders.
keine Rücksicht“ (KU 5:229.18 – 21). Meine Ausführungen zur Subjektivität der Geschmacksurteile gelten daher auch nur für reine oder „eigentliche Geschmacksurtheile“ (KU 5:223.33). Daneben kennt Kant auch nicht-reine Geschmacksurteile, in denen Schönheit „als einem Begriffe anhängend (bedingte Schönheit), Objecten, die unter dem Begriffe eines besondern Zwecks stehen, beigelegt“ wird (KU 5:229.15 – 17). 196 „[E]s mag mir jemand alle Ingredienzien eines Gerichts herzählen und von jedem bemerken, daß jedes derselben mir sonst angenehm sei, auch obenein die Gesundheit dieses Essens mit Recht rühmen; so bin ich gegen alle diese Gründe taub, versuche das Gericht an meiner Zunge und meinem Gaumen: und darnach (nicht nach allgemeinen Principien) fälle ich mein Urtheil“ (KU 5:285.5 – 10).
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Ein derartiges Urteil kann ich nur dann akzeptieren, wenn ich selbst auch die zugrunde liegende Erfahrung gemacht habe. Dies zeigt, dass mein ästhetisches Urteil in einem sehr starken Sinn subjektiv ist. Die Eigenschaft, die ich hier dem Gegenstand zuschreibe, kommt dem Gegenstand nicht unabhängig von der Erfahrung zu, die ich selbst mit dem Gegenstand mache. An dieser Stelle möchte ich nur auf zwei Vorteile von Ginsborgs Vorschlag hinweisen. Erstens scheint er zu zeigen, inwiefern sich ästhetische Urteile von theoretischen Urteilen über sekundäre Qualitäten unterscheiden. Wie Ginsborg ausführt, können wir unter bestimmten Umständen ein Urteil akzeptieren, dem zufolge ein Gegenstand eine bestimmte Farbe hat, ohne dass wir diesen Gegenstand überhaupt gesehen haben (vgl. Ginsborg 1998, 459). Folglich weisen diese Urteile zumindest nicht die starke Subjektivität von ästhetischen Urteilen auf. Zweitens ist die vorgeschlagene Erklärung der Subjektivität von ästhetischen Urteilen Ginsborg zufolge grundsätzlich vereinbar mit der Tatsache, dass sich die Eigenschaft, die wir dem Gegenstand hier zuschreiben, in der zugrunde liegenden Erfahrung immer noch als eine Eigenschaft darstellt, die dem Gegenstand unabhängig von unserer Erfahrung zukommt.Wichtig ist nur, dass diese Eigenschaft dem Gegenstand faktisch nicht unabhängig von unserer Erfahrung zukommt.¹⁹⁷ Diese beiden Aspekte der Subjektivität ästhetischer Urteile kommen in Kants Behauptung zum Ausdruck, dass es sich bei den ästhetischen Urteilen über das
197 „Kant’s claim is not that aesthetic experience fails to present itself phenomenologically as awareness of some quality in the object that is independent of the experience. Rather, it is that the quality apparently perceived in the experience is not in fact independent of it“ (Ginsborg 1998, 461; vgl. 458 ff.). Ginsborgs Formulierung legt allerdings die Annahme nahe, dass wir uns in der ästhetischen Erfahrung täuschen. Nun könnte man argumentieren, dass Kant zufolge gerade dies bei der Erfahrung des Schönen der Fall ist. Schließlich bemerkt Kant an einer Stelle, dass wir zuweilen „vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes und das Urtheil logisch (durch Begriffe vom Objecte eine Erkenntniß desselben ausmachend) wäre“ (KU 5:211.23 ff.). Meiner Auffassung zufolge geht es an dieser Stelle aber nicht um eine Art Illusion in der ästhetischen Erfahrung, sondern um eine Tendenz im ästhetischen Diskurs, andere von der Richtigkeit unseres Urteils überzeugen zu wollen (vgl. hierzu Höwing 2012, 192 f.). – Ich selbst neige zu der Auffassung, dass sich Kant zufolge zumindest die Annehmlichkeitseigenschaft gar nicht im phänomenalen Gehalt der Lusterfahrung präsentiert. Gleichwohl schreibe ich diese Eigenschaft dem Gegenstand in dieser Lusterfahrung zu, wobei ich mir zugleich der Tatsache bewusst bin, dass die Eigenschaft dem Gegenstand nicht unabhängig von meiner Erfahrung zukommt. Diese Idee ist zugegebenermaßen schwierig und verdient eine ausführlichere Diskussion. Wie ich bereits im zweiten Kapitel gezeigt habe, besteht hier eine gewisse Analogie zur subjektiven Raumwahrnehmung (vgl. Kap. 2, § 5). So kann ich ohne weitere Reflexionsleistung sehen, dass sich die Kaffeetasse selbst rechts von mir befindet. Ich schreibe der Kaffeetasse also das ‚Rechts-von-mir-sein‘ zu, obwohl es sich nicht im phänomenalen Gehalt der Wahrnehmung als Eigenschaft des Gegenstandes präsentiert.
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
Schöne und über das Angenehme um logisch einzelne Urteile handelt.¹⁹⁸ So heißt es im § 8 über die Geschmacksurteile: „In Ansehung der logischen Quantität sind alle Geschmacksurtheile einzelne Urtheile“ (KU 5:215.14 f.; vgl. 5.285.11 f.).¹⁹⁹ Ein ästhetisches Urteil ist einerseits unabhängig von der allgemeinen theoretischen Beschreibung, unter der wir den Gegenstand in diesem Urteil betrachten können. Es ist andererseits abhängig von der partikularen Lusterfahrung, die wir mit dem Gegenstand machen. Dies zeigt sich daran, dass das Urteil die unmittelbare Gegenwart des Gegenstandes in der Wahrnehmung voraussetzt.
§ 6 Logisch einzelne Begierde und praktische Vorschrift Zwischen der sinnlichen Lust und der hieraus resultierenden Begierde besteht nun ein sehr einfacher Zusammenhang: Der Gegenstand, den ich in der sinnlichen Lust angenehme finde, ist derselbe Gegenstand, auf den sich meine Begierde richtet. Wenn ich etwa diese Rose im Geruch angenehm finde, so entsteht in mir eine Begierde nach dieser Rose. Die Subjektivität meines Wohlgefallens am Angenehmen überträgt sich folglich auf die Begierde. Ich begehre den Gegenstand ursprünglich nicht unter einer allgemeinen theoretischen Beschreibung (also nicht als eine Rose, als eine Blume, als eine Pflanze etc.), sondern als etwas, das unmittelbar in der Wahrnehmung angenehm ist. Ganz analog zu Kants Beschreibung des ästhetischen Urteils könnte man folglich von einer logisch einzelnen Begierde sprechen, die in einer Lust entsteht. Der Gegenstand dieser Begierde ist das Angenehme, also etwas, das in der Erfahrung einer Lust als angenehm empfunden wird. Dem entspricht auch Kants Ausdrucksweise in der Kritik der praktischen Vernunft. Im § 2 bezeichnet Kant den Gegenstand der Begierde als „Materie des Begehrungsvermögens“ (KpV 5:21.17). An einem späteren Punkt spricht Kant von den „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als der Materie des Begehrungsvermögens“ (KpV 5:24.37 f.). Die Materie des Begehrungsvermögens ist „etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht“ (KpV 5:25.18 f.). Der materiale Bestimmungsgrund der Maxime des Willens, heißt es an anderer Stelle, setzt „ein Object der Lust und Unlust“ voraus, also „etwas, das vergnügt oder schmerzt“ (KpV 5:62.20 f.). Ursprünglich begehren wir einen Gegenstand nicht als
198 Vgl. hierzu Fricke 1990, vor allem 7– 14. 199 Ähnliches gilt für die Urteile am Angenehmen. Wenn ich urteile: „die Rose ist (im Geruche) angenehm“, so handelt es sich um ein „ästhetisches und einzelnes, aber kein Geschmacks-, sondern ein Sinnenurtheil“ (KU 5:215.25 ff.).
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eine Rose, eine Blume oder eine Pflanze. Wir begehren ihn als ein Etwas, das vergnügt oder schmerzt. Nun stellt sich natürlich die Frage, auf welche Weise eine logisch einzelne Begierde dem rationalen Handeln zugrunde liegen könnte. Um den Gegenstand dieser Begierde durch unser rationales Handeln zu verwirklichen, benötigen wir eine theoretische Beschreibung dieses Gegenstandes.Wir müssen ‚wissen‘,was für einen Gegenstand wir begehren, um eine entsprechende Handlung wählen zu können. Hierzu reicht die logisch einzelne Begierde nicht aus; denn diese Begierde ist, wie das zugrunde liegende Wohlgefallen am Angenehmen, unabhängig von einer bestimmten theoretischen Beschreibung. Bevor ich nun im folgenden Abschnitt eine Antwort auf diese Frage vorschlage, möchte ich dieses Problem noch etwas deutlicher artikulieren. Hierzu lohnt es sich zunächst Kants eigene Aussagen über den Zusammenhang zwischen der sinnlichen Begierde und der praktischen Vorschrift zu betrachten. Kant führt im § 2 aus, dass bei einem materialen praktischen Prinzip „die Begierde nach diesem Gegenstande […] vor der praktischen Regel vorhergeht und die Bedingung ist, sie sich zum Princip zu machen“ (KpV 5:21.18 – 20; H. v. m.). Den Begriff der praktischen Regel hatte Kant in der vorangegangenen Anmerkung zum § 1 eingeführt. Eine solche Regel ist „jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt“ (KpV 5:20.7 f.). Jede praktische Regel besagt also, wie wir vernünftigerweise handeln sollten, und ist aus diesem Grund „ein Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objective Nöthigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird“ (KpV 5:20.9 – 11). Im Unterschied dazu ist eine Maxime eine Regel, die wir uns zum Prinzip gemacht haben und nach der wir dann faktisch handeln. Die praktischen Regeln, an denen wir uns bei der Annahme von materialen Maximen orientieren, sind nun hypothetische Imperative. Diese bestimmen „die Bedingungen der Causalität des vernünftigen Wesens, als wirkender Ursache, bloß in Ansehung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben“ (KpV 5:20.15 f.). Diese Imperative besagen also, welche objektiven Bedingungen meine Kausalität erfüllen muss, damit ich durch mein Handeln – durch die kontrollierte Ausübung meiner Kräfte – bestimmte Wirkungen hervorbringe. Kant hatte in der Grundlegung zwei Arten von hypothetischen Imperativen unterschieden, nämlich die Regeln der Geschicklichkeit und die Ratschläge der Klugheit (vgl. GMS 4:416). Bei Regeln der Geschicklichkeit ist offen, ob wir die Gegenstände, zu deren Realisierung uns diese Regeln anleiten, tatsächlich begehren oder nicht; es geht, wie Kant schreibt, nur darum, ob „die Handlung zu irgend einer möglichen […] Absicht gut sei“ (GMS 4:414.32 f.). Im Gegensatz dazu besagen die Ratschläge der Klugheit, dass eine bestimmte Handlung zu irgendeiner „wirklichen Absicht gut sei“ (GMS 4:414.33). Da wir Kant zufolge mit Sicherheit wissen, dass alle Menschen glücklich
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
werden wollen, setzen diese Regeln immer die Begierde nach Glückseligkeit voraus. Kants Erläuterung des Begriffs der Imperative im § 1 der Kritik der praktischen Vernunft thematisiert diese Unterscheidung nicht mehr explizit. Hypothetische Imperative enthalten zwar als solche „bloße Vorschriften der Geschicklichkeit“ (KpV 5:20.18 f.); doch sie werden von Kant sogleich als ‚praktische Vorschriften‘ charakterisiert, die ein bestimmtes Begehren voraussetzen.²⁰⁰ Wenn wir z. B. jemandem raten: „daß er in der Jugend arbeiten und sparen müsse, um im Alter nicht zu darben: so ist dieses eine richtige und zugleich wichtige praktische Vorschrift des Willens“ (KpV 5:20.29 ff.). Bei dieser Vorschrift wird der Wille jedoch „auf etwas Anderes verwiesen […], wovon man voraussetzt, daß er es begehre“ (KpV 5:20.32 f.). Kant scheint dann genau diese Vorschriften im Blick zu haben, wenn er im § 2 davon spricht, dass in einem materialen praktischen Prinzip „die Begierde nach diesem Gegenstande […] vor der praktischen Regel vorhergeht und die Bedingung ist, sie sich zum Princip zu machen“ (KpV 5:21.18 – 20). Wenn bei mir eine ‚Begierde‘ nach einem ruhigen Lebensabend ohne materielle Sorgen vorliegt, so ist es ceteris paribus vernünftig, dass ich mir die Regel: ‚in der Jugend zu arbeiten und zu sparen‘ zur Maxime mache. In der Anmerkung II beschreibt Kant die Rolle von praktischen Vorschriften noch auf eine andere Weise (vgl. KpV 5:25 f.). Dabei geht er vom Prinzip der Selbstliebe aus. Kant zufolge dienen praktische Vorschriften dazu, vom Prinzip der Selbstliebe zu einem informativen praktischen Prinzip überzugehen. Alle materialen praktischen Prinzipien gehören zwar, wie Kant im § 3 gezeigt hatte, „unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“ (KpV 5:22.7 f.). Allerdings formuliert dieses Prinzip nur die allgemeine praktische „Aufgabe“, die wir in unserem Leben auflösen müssen (KpV 5:25.28). Wir alle wollen in diesem Leben durch eigenes Handeln glücklich werden. Damit ist aber noch nicht bestimmt, worin die Glückseligkeit für mich besteht – der Begriff der Glückseligkeit bestimmt „nichts specifisch, darum es doch in dieser praktischen Aufgabe allein zu thun ist“ (KpV 5:25.27 f.). Um zu einem informativen materialen praktischen Prinzip zu kommen, muss ich folglich bestimmen, was es für mich bedeutet glücklich zu sein. Hierbei spielt das sinnliche Gefühl eine entscheidende Rolle. Denn worin „jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an“ (KpV 5:25.29 f.). Die Glückseligkeit ist nichts anderes ist als das „Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der An-
200 „Die Imperativen selber aber, wenn sie bedingt sind, d. i. nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen, d. i. hypothetische Imperativen sind, sind zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze“ (KpV 5:20.21– 24).
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nehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV 5:22.17– 19). Um von dem allgemeinen Prinzip der Selbstliebe zu einem informativen materialen praktischen Prinzip zu kommen, müssen wir herausfinden, welche Objekte wir überhaupt begehren, und dies zeigt uns gerade die sinnliche Lust an. Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang explizit praktische Vorschriften von „allgemeine[n] Regeln der Geschicklichkeit“ (KpV 5:25.38): „Principien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdenn sind es aber blos theoretische Principien (z. B.wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe). Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet“ (KpV 5:25 f.37 ff.).
In einem gewissen Sinn gibt es also informative „Principien der Selbstliebe“. Doch diese Prinzipien enthalten lediglich „allgemeine Regeln der Geschicklichkeit“. Sie besagen, wie wir bestimmte Produkte, die wir in der Regel zum Glücklichsein benötigen, hervorbringen. Da hier jedoch offen bleibt, ob ich diese Produkte überhaupt begehre, handelt es sich hierbei lediglich um theoretische Prinzipien.²⁰¹ Praktische Vorschriften „gründen“ (KpV 5:26.3) sich nun ebenfalls auf die Selbstliebe (oder auf entsprechende allgemeine informative Prinzipien der Selbstliebe). Allerdings setzen sie zudem einen „Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens“ voraus, der „auf das Gefühl der Lust“ gegründet ist (KpV 5:26.4 f.). Praktische Vorschriften setzen also Begierden voraus, die in einer sinnlichen Lust entstanden sind, und bestimmen, was wir tun müssen, um die begehrten Objekte hervorzubringen. Diese Überlegungen zur Rolle praktischer Vorschriften ermöglichen es nun, das oben aufgeworfene Problem etwas genauer zu formulieren. Dabei können wir von der Frage ausgehen, auf welche Weise wir von der logisch einzelnen Begierde,
201 Hieraus scheint zu folgen, dass das allgemeine Prinzip der Selbstliebe als solches ebenfalls nur theoretisch ist. Das Prinzip der Selbstliebe ist keine praktische Maxime, die wir aufgrund einer praktischen Überlegung erst bilden, dann annehmen und anschließend spezifizieren. Vielmehr ist es eine Maxime, die wir uns selbst a priori zuschreiben müssen, wenn wir philosophisch über die Rationalität unseres Handelns nach spezifischen materialen Maximen nachdenken. Die Idee, dass wir von einem allgemeinen Prinzip der Selbstliebe zu spezifischen materialen Maximen übergehen, ist folglich nicht als Beschreibung unseres faktischen Vorgehens zu verstehen. Sie soll eher verständlich machen, wie ein rationales Handeln nach spezifischen materialen Maximen überhaupt möglich ist.
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
die in einer Lust entstanden ist, zu einer entsprechenden praktischen Vorschrift gelangen. Bei der Beantwortung dieser Frage ist eine grundsätzliche Überlegung zu hypothetischen Imperativen wichtig, die ich schon im ersten Kapitel zu Kants Konzeption eines Begehrungsvermögens nach Begriffen angestellt habe (vgl. Kap. 1, § 6). Ein Wesen, welches nach Begriffen begehrt, kann aus dem Begriff des begehrten Objekts technisch-praktische Regeln ableiten, die bestimmen, wie es seine Kräfte einsetzen muss, um den begehrten Gegenstand zu realisieren. Alle hypothetischen Imperative beruhen folglich auf dem Begriff des begehrten Objekts; sie beruhen auf unseren theoretischen Überzeugungen, welche die Beschaffenheit und die Realisierbarkeitsbedingungen eines Gegenstandes betreffen (vgl. hierzu Kap. 1, § 6). Nun ist unsere Begierde ursprünglich logisch einzeln, d. h. sie ist wesentlich unabhängig vom Begriff des begehrten Objekts. Denn wir begehren den Gegenstand hier nicht unter einer allgemeinen theoretischen Beschreibung, sondern lediglich als etwas, das wir in der Lust unmittelbar angenehm finden. Folglich reicht die logisch einzelne Begierde noch nicht aus, um diejenige praktische Vorschrift zu bilden, nach der wir uns bei der Realisierung des Gegenstandes zu richten haben.
§ 7 Evaluative Überzeugungen Um überhaupt nach einer praktischen Vorschrift handeln zu können, müssen wir folglich über eine theoretische Beschreibung verfügen, unter der wir den Gegenstand begehren. Wir müssen, mit anderen Worten, unsere logisch einzelne Begierde unter Begriffe bringen. Da sich diese Begierde nun letztlich auf etwas richtet, das wir in einer Lust angenehm finden, lässt sich diese Anforderung auch auf folgende Weise formulieren: Wir benötigen eine theoretische Beschreibung, unter der wir den begehrten Gegenstand angenehm finden. Tatsächlich verfügen wir meist über zahlreiche Beschreibungen des Objekts unserer Lust. Wir wissen, dass es sich bei diesem Objekt um eine Pflanze, eine Blume, eine Rose etc. handelt. Doch dieses Wissen genügt nicht. Wir benötigen die für unser Wohlgefallen relevante Beschreibung, d. h. jene Beschreibung, unter der wir das Objekt in dieser Lust angenehm finden. Um von einer logisch einzelnen Begierde zu einer praktischen Vorschrift zu kommen, müssen wir folglich die Wertschätzung, derer wir uns in der Lust an einem Gegenstand unmittelbar bewusst werden, von einer allgemeinen Beschreibung des angenehmen Gegenstandes abhängig machen. Unabhängig von Kants eigener Terminologie könnten wir ein solches Verfahren als eine Art von ‚evaluativer Reflexion‘ beschreiben. In dieser Reflexion interpretieren wir eine logisch einzelne evaluative Wahrnehmung der Form: ‚Dieses K ist angenehm‘ als
§ 7 Evaluative Überzeugungen
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speziellen Fall einer allgemeineren evaluativen Überzeugung, der zufolge Ks generell angenehm sind.²⁰² Was dies bedeutet, lässt sich an einem Beispiel zeigen: Meine evaluative Wahrnehmung, dass dieser Kanariensekt im Geschmack angenehm ist, ist logisch einzeln. Sie kann aber als Fall einer allgemeinen evaluativen Überzeugung angesehen werden, also etwa der Überzeugung, dass mir Likör generell schmeckt. An diesem Beispiel sieht man schon, dass ein derartiges Verfahren einen Interpretationsspielraum lässt. So kann ich meiner Interpretation der genannten Wahrnehmung auch die evaluative Überzeugung zugrunde legen, dass mir süße alkoholische Getränke oder aber bestimmte Sorten von Kanariensekt schmecken. Eine derartige evaluative Reflexion führt also dazu, dass wir den Gegenstand einer ursprünglich logisch einzelnen Begierde nunmehr als Exemplar einer bestimmten Art von Gegenständen auffassen, die uns generell in einer Lust gefallen. Damit verfügen wir über einen Begriff des begehrten Gegenstandes, der es uns ermöglicht, die praktische Vorschrift zu bilden, nach der wir uns bei der Realisierung des Gegenstandes richten müssen. Die Begierde, die dieser Vorschrift zugrunde liegt, ist nunmehr eine konzeptualisierte Begierde – sie zielt nicht mehr auf diesen Gegenstand, sondern auf einen Gegenstand dieser Art. Tatsächlich macht Kant in der Kritik der Urteilskraft eine Andeutung, die genau diesen Sachverhalt anzuzeigen scheint. Das Urteil über das Angenehme drückt, so Kant im § 3, ein Interesse aus, weil es „durch Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenstande rege macht“ (KU 5:207.2 f.; H. v. m.). Die Begierde, von der hier die Rede ist, richtet sich auf einen Gegenstand, welcher von derselben Art ist wie der Gegenstand, der mir in der Lust unmittelbar gefällt.²⁰³ 202 Im Folgenden bezeichne ich die Lusterfahrung als eine ‚evaluative Wahrnehmung‘, sofern wir in dieser Erfahrung einen Gegenstand unmittelbar wertschätzen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir in der Lusterfahrung irgendwelche Werte wahrnehmen, die von unserer Lusterfahrung unabhängig sind. Der Vergleichspunkt zur theoretischen Wahrnehmung besteht vielmehr in der Rolle, welche die Lusterfahrung in der empirisch-praktischen Überlegung spielt. 203 Allison kommentiert: „[…] [T]he reference to ‚objects of that kind‘ reflects the connection between interest and rational representation, that is, a concept of the kind of thing one finds agreeable. Although it may be a particular martini that I find agreeable on a particular occasion, this quality will be attributed to every other similarly constituted martini in relevantly similar occasions, because it is expected that they will produce similar pleasant sensations. And this expectation is based on a concept of the kind of thing a martini is“ (Allison 2001, 91). Allison artikuliert hier eine Intuition, die auch meiner Deutung (sowie der daraus folgenden Erklärung der Rolle der Lusterwartung) zugrunde liegen wird. Gleichwohl ist mir nicht ganz klar, ob Allison die Auffassung vertreten will, dass das ästhetische Sinnenurteil unweigerlich dazu führt, dass wir ähnliche Objekte in ähnlichen Situationen eine Annehmlichkeit zuschreiben. Dies scheint mir nicht der Fall zu sein; um zu der Verallgemeinerung zu kommen, reicht das Sinnenurteil noch nicht aus. Wir müssen erst eine Überlegung anstellen, in der wir unser Angenehm-Finden
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
Es lohnt sich nun, jene Einstellungen genauer zu betrachten, die ich hier versuchsweise als ‚evaluative Überzeugungen‘ bezeichnet habe. Diese Überzeugungen sind Variationen der Grundform: ‚Ks sind angenehm‘, wie z. B. ‚Kalbsgeschnetzeltes ist mein Lieblingsgericht‘, ‚Lieber Rot- als Weißwein‘ oder ‚Actionfilme sind spannend‘.²⁰⁴ Sie beinhalten also sehr allgemeine Aussagen über die
von dem Begriff einer Art von Objekten (Martinis, bittere alkoholische Getränke usw.) abhängig machen. Richtig ist aber: Wenn ich erneut einen Martini trinke und alle für die angesprochene kausale Vorstellung-Lust-Relation relevanten Faktoren dieselben sind wie beim vorangegangenen Martini-Erlebnis, dann werde ich erneut eine Lust an dem Martini empfinden. Doch hieraus folgt nicht, dass eine derartige psychologische Verallgemeinerung auch Bestandteil meines ursprünglichen ästhetischen Sinnenurteils ist, dem zufolge dieser Martini im Geschmack angenehm ist. – Einen ähnlichen Gedanken wie Allison scheint auch Fricke zu entwickeln, der zufolge unser Wohlgefallen am Angenehmen selbst begrifflich ist, sofern es ein Interesse beinhaltet (vgl. Fricke 1990, 16 f.): „Wenn wir ein Interesse an der Existenz eines Gegenstandes haben, begehren wir seine Existenz. Wir stellen ihn dabei als einen Gegenstand vor, dessen Einwirkung bei uns die Empfindung eines Wohlgefallens bzw. einer Lust bewirkt. Mit der Interessenahme an der Existenz eines Gegenstandes ist also immer eine begriffliche Vorstellung von ihm sowie von dem lustvollen Empfindungszustand, den er zu bewirken vermag, verbunden“ (Fricke 1990, 16). Allerdings scheint der Begriff des Interesses, den Kant in der Kritik der Urteilskraft verwendet, nicht so anspruchsvoll zu sein wie derjenige aus seinen praktischen Schriften. Im § 2 wird das Interesse lediglich als das „Wohlgefallen“ definiert, „was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden“ (KU 5:204.22 f.), während Kant in der Kritik der praktischen Vernunft das Interesse als eine „Triebfeder des Willens“ bezeichnet, „so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird“ (KpV 5:79.21 f.; vgl. MS 6:212.23 – 26). 204 Bedenkt man, dass Kants Aussagen in den §§ 2 und 3 für all jene Begierden gelten, welche die traditionelle Ethik ihren materialen praktischen Prinzipien zugrunde legte, (also etwa für unser Bedürfnis nach Freundschaft, intellektueller Tätigkeit oder altruistischem Tun), dann können wir zu den evaluativen Überzeugungen auch nicht-hedonische Überzeugungen zählen. Die Differenzierung zwischen hedonischen und nicht-hedonischen evaluativen Überzeugungen und dem korrespondierenden Verhalten werde ich im Folgenden nicht eigens diskutieren. Wenn meine Überlegungen zutreffen, dann vertritt Kant selbst im Hinblick auf hedonisches Verhalten nicht den Hedonismus, den ich weiter oben beschrieben habe. Selbst eine Person, für welche die klassischen Gegenstände körperlicher Lust die höchsten materialen Werte darstellen, wertschätzt diese Gegenstände unmittelbar in der Lust (und nicht bloß als Mittel zu einer Lust). – Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft das Verhältnis, das zwischen den evaluativen Überzeugungen und dem Begehren besteht. Diese Überzeugungen scheinen, wie die zugrunde liegenden evaluativen Wahrnehmungen, auch Begierden zu enthalten. Während evaluative Wahrnehmungen aber logisch einzelne Begierden enthalten, beinhalten evaluative Überzeugungen allgemeine Begierden, also Begierden nach einer bestimmten Art von Gegenständen. Hier liegt der Grund dafür, dass es sich bei den aufgeführten Beispielen letztlich um Neigungen handelt; denn eine Begierde nach einer bestimmten Art von Gegenständen ist eine habitualisierte Begierde. Zugleich zeigt sich hier, dass Neigungen von Tieren und Menschen qualitativ verschieden sind. Menschliche Neigungen beinhalten evaluative Überzeugungen, in denen das Wohlgefallen von Begriffen abhängig gemacht wird. Kant legt allerdings die Annahme nahe, dass bei Tieren eine
§ 7 Evaluative Überzeugungen
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Gegenstände, die ich in konkreten sinnlichen Lusterfahrungen wertschätze. Im Unterschied zu meiner evaluativen Wahrnehmung beinhalten sie jedoch keine tatsächlichen Lustzustände, und sie sind streng genommen auch nicht logisch einzeln, weil sie mein Wohlgefallen an eine allgemeine Beschreibung eines Gegenstandes binden. Gleichwohl beruhen sie auf evaluativen Wahrnehmungen und sind unter dieser Rücksicht abhängig von vergangenen Lusterfahrungen. Ich kann nicht sinnvoll die Überzeugung haben, dass Kalbsgeschnetzeltes mein Lieblingsgericht ist, wenn ich noch keine Lusterfahrung mit diesem Gericht gemacht habe. Evaluative Überzeugungen dieser Art unterscheiden sich zugleich von allgemeingültigen theoretischen Erfahrungsurteilen. Die Überzeugung ‚Ks sind angenehm‘ beinhaltet nicht den Anspruch, dass es für jede Person zugängliche und hinreichende Gründe für die Überzeugung gibt, dass Ks die Eigenschaft der Annehmlichkeit zukommt. Gemeint ist vielmehr: Ich selbst finde Ks im Allgemeinen angenehm. Man könnte sagen, dass evaluative Überzeugungen eine Eigenschaft von den zugrunde liegenden ästhetischen Sinnenurteilen erben: sie beruhen auf „Privatbedingungen“ (KU 5:211.19). Auch für diese Überzeugungen gilt Kants Satz über das ästhetische Sinnenurteil: Jeder ist „es gern zufrieden, daß, wenn er sagt: der Canariensect ist angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbessere und ihn erinnere, er solle sagen: er ist mir angenehm“ (KU 5:212.12– 14).²⁰⁵ In einem anderen Punkt unterscheiden sich diese Überzeugungen jedoch von ästhetischen Sinnenurteilen. Sie haben eine gewisse Allgemeinheit, die aber mit ihrer Privatgültigkeit verträglich ist. Denn sie gelten für alle Lusterfahrungen bzw. evaluativen Wahrnehmungen, die ich selbst mit Gegenständen des Typs K mache. Ich gehe davon aus, dass ich in bestimmten Situationen in der Vergangenheit an Gegenständen des Typs K ein unmittelbares Wohlgefallen hatte und dass ich – sollte ich in Zukunft in ähnlichen Situationen mit Gegenständen des Typs K konfrontiert werden – derartige Gegenstände ebenfalls angenehm finden werde.²⁰⁶ Man könnte
analoge Form von Reflexion im Hinblick auf Neigungen stattfindet, wenn er schreibt, dass das „Reflectiren […] selbst bei Thieren, obzwar nur instinctmäßig, nämlich nicht in Beziehung auf einen dadurch zu erlangenden Begrif, sondern eine etwa dadurch zu bestimmende Neigung vorgeht“ (EE 20:211.19 ff.). Bei Tieren ist eine derartige Reflexion nicht Bestandteil eines Begehrens nach Begriffen, sondern eines Begehrens aus Instinkt (zu dieser Unterscheidung vgl. Kap. 1, § 6). 205 Tatsächlich scheint Kant in diesem Zusammenhang nicht nur über die logisch-einzelnen Sinnenurteile, sondern auch über die entsprechenden evaluativen Überzeugungen zu sprechen: „Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem andern todt und erstorben. Einer liebt den Ton der Blasinstrumente, der andre den von den Saiteninstrumenten“ (KU 5:212.16 – 19). 206 Aufgrund dieser Allgemeinheit sind evaluative Überzeugungen auch irrtumsanfällig, während es im Hinblick auf ästhetische Sinnenurteile keinen Sinn macht von einem Irrtum zu
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
folglich sagen, dass die angesprochenen Überzeugungen in einem ganz bestimmten Sinn subjektiv allgemeingültig sind. Sie gelten nicht – wie die Erfahrungsurteile – für die Objekte der Erfahrung als solche, sondern für die Objekte meiner privaten Erfahrung. Sie sind, mit anderen Worten, subjektiv, weil sie immer noch von den Erfahrungen abhängig sind, die ich selbst mit dem Gegenstand gemacht habe bzw. machen werde.²⁰⁷ In der Kritik der Urteilskraft skizziert Kant nun tatsächlich eine Theorie der evaluativen Reflexion am Beispiel des Geschmacksurteils. Ausgehend von unseren Geschmacksurteilen können wir logische Urteile bilden, denen zufolge wir Gegenstände einer bestimmten Art schön finden. Die Geschmacksurteile können „nicht die Quantität objectiv-gemeingültiger Urtheile haben; obgleich, wenn die einzelne Vorstellung des Objects des Geschmacksurtheils nach den Bedingungen, die das letztere [Geschmacksurteil – T. H.] bestimmen, durch Vergleichung in einen Begriff verwandelt wird, ein logisch allgemeines Urtheil daraus werden kann: z. B. die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch ein Geschmacksurtheil für schön. Dagegen ist das Urtheil, welches durch Vergleichung vieler einzelnen [Rosen, Urteile? – T. H.] entspringt: die Rosen überhaupt sind schön, nunmehr nicht bloß als ästhetisches, sondern als ein auf einem ästhetischen gegründetes logisches Urtheil ausgesagt“ (KU 5:215.17 ff.).
Kant beschreibt hier einen Übergang von einem logisch einzelnen Geschmacksurteil zu einem allgemeinen logischen Urteil, das er „ein auf einem ästhetischen [Urteil – T. H.] gegründetes logisches Urtheil“ nennt (KU 5:215.24 f.). Es ist der Übergang von: ‚die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch ein Geschmacksurteil für schön‘ zu: ‚die Rosen überhaupt sind schön‘. Dieser Übergang beruht auf einer Reflexion, in welcher die „einzelne Vorstellung“ des Objekts „durch Vergleichung in einen Begriff verwandelt“ wird (KU 5:215.18 ff.). Dies scheint zu besagen, dass in dem logischen Urteil die Wertschätzung des Gegenstandes nicht mehr unabhängig von der Beschreibung ist, unter der wir das Objekt betrachten.²⁰⁸
sprechen. Schon die nächste Begegnung mit einem Gegenstand meiner Überzeugung kann diese widerlegen. Wir müssen zudem unsere evaluativen Überzeugungen schon deswegen permanent korrigieren, weil sich unsere Gefühle im Hinblick auf dieselbe Art von Gegenständen beständig ändern – Kant spricht von den „Abänderungen dieses Gefühls“ in „einem und demselben Subject“ (KpV 5:25.30 – 32). 207 Diese Form von subjektiver Allgemeingültigkeit unterscheidet sich natürlich von der Allgemeingültigkeit der Geschmacksurteile. Denn erstens gelten meine evaluativen Überzeugungen über das Angenehme nur für mich und nicht für die anderen – sie sind bloß privatgültig. Zweitens sind sie auch nicht strikt allgemein (universal), sondern bloß komparativ-allgemein. 208 Man könnte den Unterschied vielleicht auf folgende Weise formulieren: In reinen Geschmacksurteilen ist das Urteil selbst unabhängig von der Intension des Subjektbegriffs. Die Aussage im Urteil: ‚x ist schön‘ verändert sich nicht, wenn ich an die Subjektstelle ‚diese Rose‘,
§ 7 Evaluative Überzeugungen
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Kants Rede von der „Vergleichung vieler einzelnen“ (KU 5:215.22 f.) lässt offen, was hier eigentlich mit was verglichen wird. Aus einer späteren Stelle geht aber hervor, dass wir nicht die Dinge selbst, sondern eher die logisch einzelnen Geschmacksurteile miteinander vergleichen, die wir im Hinblick auf „Dinge von einer gewissen Art“ fällen: „In der That wird das Geschmacksurtheil durchaus immer als ein einzelnes Urtheil vom Object gefällt. Der Verstand kann durch die Vergleichung des Objects im Punkte des Wohlgefälligen mit dem Urtheile anderer ein allgemeines Urtheil machen: z. B. alle Tulpen sind schön; aber das ist alsdann kein Geschmacks-, sondern ein logisches Urtheil, welches die Beziehung eines Objects auf den Geschmack zum Prädicate der Dinge von einer gewissen Art überhaupt macht“ (KU 5:285.11– 17).
Das logisch-ästhetische Urteil ergibt sich aus einer „Vergleichung des Objects im Punkte des Wohlgefälligen mit dem Urtheile anderer“ (KU 5:285.12– 14).²⁰⁹ Wir greifen also Dinge einer bestimmten Art heraus (z. B. Tulpen) und untersuchen dann die Frage, ob die Geschmacksurteile, welche unsere Mitmenschen über diese
‚diese Blume‘ oder ‚diese Pflanze‘ einsetze. In Urteilen der Form ‚Ks sind schön‘ gilt dies nicht mehr. Das Urteil: ‚Die Rosen überhaupt sind schön‘ macht eine andere Aussage als das Urteil: ‚Die Blumen überhaupt sind schön‘. 209 Im Lichte dieser Stelle liegt es nahe, den Ausdruck „Vergleichung vieler einzeln“ in der zitierten Stelle (KU 5:215.22 f.) nicht im Sinn von ‚Vergleichung vieler Einzelfälle‘ (also einzelner Rosen) zu verstehen. Eher schon handelt es sich um eine Vergleichung vieler logisch einzelner Urteile, die wir im Hinblick auf eine bestimmte Art von Dingen fällen. Tatsächlich wäre es ja irreführend, eine derartige Reflexion am Modell einer theoretischen Induktion zu konzipieren und etwa zu meinen, man müsste hier viele Rosen im Hinblick auf ein gemeinsames Merkmal miteinander vergleichen. Denn da das Gefühl der Lust nichts im Objekt „bezeichnet“ (KU 5:204.1), würden wir unter den Eigenschaften der Rosen vergeblich diejenige suchen, die für ihre Schönheit verantwortlich ist. – Cohen 2002 kritisiert Kants Aussage über den Schluss von einem ästhetischen auf ein logisch allgemeingültiges Urteil: Wenn ich von Urteilen der Form R1 ist schön, R2 ist schön,…Rn ist schön übergehe zu dem Urteil Alle Rs sind schön, dann begehe ich Cohen zufolge einen Fehlschluss, weil ‚schön‘ zwar in den zugrunde liegenden ästhetischen Urteilen, aber nicht im daraus abgeleiteten logischen Urteil ein Begriff ist (vgl. Cohen 2002, 5). Dass hier ein Problem entsteht, scheint mir teilweise daran zu liegen, dass in der Übersetzung, die Cohen verwendet (Pluhar), „durch eine Vergleichung vieler einzelnen“ als „But if I compare many singular roses“ wiedergegeben und so die Analogie zum theoretischen Induktionsschluss nahegelegt wird (zitiert nach Cohen 2002, 4). Tatsächlich skizziert Cohen aber dann eine verbesserte Version von Kants Aussage, die – wenn ich recht sehe – weitgehend mit dem übereinstimmt, was Kant im § 33 über diesen Schluss sagt. Dieser Deutung zufolge sind die Prämissen des Schlusses Beschreibungen von einzelnen ästhetischen Urteilsakten, und die Schlussfolgerung enthält dann eine sehr allgemeine Beschreibung dieser Urteilsakte (vgl. Cohen 2002, 7 f.; vgl. aber auch die Kritik von Townsend 2003).
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
Dinge abzugeben pflegen, eine faktische Einhelligkeit aufweisen.²¹⁰ Eine derartige Reflexion scheint Teil des Projekts zu sein, das Kant andernorts als empirische Geschmackskritik bezeichnet.²¹¹ Hier wird unter anderem geklärt, „wie das, was wir Geschmack nennen, unter Menschen zuerst aufgekommen sey, woher diese Gegenstände viel mehr als andere denselben beschäftigten und das Urtheil über Schönheit unter diesen oder jenen Umständen des Orts und der Gesellschaft in Gang gebracht haben“ (EE 20:237.27 ff.).²¹² Ein analoges Projekt ist aber auch im Hinblick auf unsere ästhetischen Sinnenurteile denkbar. So können wir untersuchen, ob die Menschen Tulpen für gewöhnlich ‚im Geruche‘ angenehm finden.²¹³ Wichtiger an dieser Stelle ist eine private Form dieses Projekts: Ich kann untersuchen, ob sich in den Sinnenurteilen, die ich selbst über Gegenstände eines bestimmten Typs abgebe, eine derartige Einhelligkeit findet. Gerade diese private Form von Reflexion ist für unsere Zwecke relevant. Denn das Ergebnis einer solchen Reflexion scheint in der evaluativen
210 Tatsächlich ist das Urteil: ‚Alle Rosen sind schön‘ nicht nur ein deskriptives Urteil darüber, was wir faktisch schön finden. Es hat darüber hinaus einen ähnlichen Anspruch wie die ihm zugrunde liegenden Geschmacksurteile. Letztere enthalten den normativen Anspruch, dass jede Person, die diesen Gegenstand anblickt, dem Urteil beitritt und den Gegenstand schön findet. Das Urteil: ‚Die Rosen überhaupt sind schön‘ besagt also nicht nur, dass alle Menschen Rosen überhaupt schön finden, sondern auch, dass sie schön sind. Folglich scheint es ebenfalls den Anspruch zu haben, dass jede Person Rosen im Anblick schön finden sollte. Hier verbirgt sich offenkundig ein Problem, welches die Berechtigung zu einem solchen Urteil betrifft. Zu einem einzelnen Geschmacksurteil: ‚Diese Rose ist schön‘ sind wir Kant zufolge nur berechtigt, wenn wir die Rose auch gesehen haben. Der Anspruch des logischen Urteils, dem zufolge jede Person Rosen überhaupt schön finden sollte, scheint daher angemaßt zu sein. Denn er basiert lediglich auf den faktischen Urteilen der Menschen und nicht auf eigener Anschauung. 211 Vgl. KU 5:285 f.; EE 20:237 f. 212 Im § 34 der Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant diesen Typ von Untersuchung ebenfalls als Geschmackskritik. Diese ist hier nicht Wissenschaft (also etwa transzendentale Kritik des Geschmacks), sondern Kunst. Als solche befasst sie sich mit den „empirischen Regeln, nach denen der Geschmack wirklich verfährt“ und sucht diese „auf die Beurtheilung seiner Gegenstände anzuwenden“ (KU 5:286.24 ff.). – Kant verweist in der Ersten Einleitung auf Burkes Theorie des Schönen und Erhabenen (vgl. EE 20:238.19). Man könnte auch an Kants eigene Schrift, die Beobachtungen, denken, in der sich eine Fülle von allgemeinen Aussagen über die Erhabenheit und Schönheit von Gegenständen eines bestimmten Typs finden. Eine kleine Auswahl: „Hohe Eichen und einsame Schatten im heiligen Haine sind erhaben, Blumenbetten, niedrige Hecken und in Figuren geschnittene Bäume sind schön“ (Beobachtungen 2:208.35 – 37). Oder im Hinblick auf die Eigenschaften der Menschen: „Verstand ist erhaben, Witz ist schön“ (Beobachtungen 2:211.4); „Der Zorn eines Furchtbaren ist erhaben“ (Beobachtungen 2:212.20). 213 Tatsächlich scheint Kants eigene Aussage, der zufolge sich in der Beurteilung des Angenehmen „Einhelligkeit unter Menschen antreffen“ (KU 5:213.9) lässt, auf einer derartigen Reflexion zu beruhen.
§ 8 Evaluative Überzeugung und Lusterwartung
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Überzeugung zu bestehen, dass ich Gegenstände eines bestimmten Typs angenehm finde. In der zuletzt genannten Reflexion gehe ich also von ästhetischen Sinnenurteilen der Form: ‚Dieses K ist angenehm‘ über zu einer Überzeugung der Form: ‚Ks sind angenehm‘. Wir können ein derartiges Projekt mit Kant als eine Art Kritik meines eigenen Sinnengeschmacks bezeichnen, in der ich auf meine eigene Praxis der Wertschätzung des Angenehmen reflektiere.
§ 8 Evaluative Überzeugung und Lusterwartung Damit kehre ich zurück zur Frage, welche Rolle die Lusterwartung bei der materialen Willensbestimmung spielt. Um eine praktische Vorschrift zu akzeptieren, nach der ich handeln kann, muss ich mein Wohlgefallen, welches ich an einem einzelnen begehrten Gegenstand nehme, im Lichte einer evaluativen Überzeugung interpretieren. Auf diese Weise komme ich zu einer konzeptualisierten Begierde, d. h. ich begehre nunmehr etwas, das als Gegenstand einer bestimmten Art ein Objekt meiner Lust ist. Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann lässt sich nun auch eine Antwort auf die Frage nach der praktischen Rolle der Lusterwartung geben. Diese Antwort ergibt sich aus der subjektiven Allgemeingültigkeit der evaluativen Überzeugung. Ich habe bereits erläutert, worin die Allgemeingültigkeit von ‚Ks sind angenehm‘ besteht. Ich gehe davon aus, dass ich in allen relevanten Situationen in der Vergangenheit Gegenstände des Typs K in einer Lust angenehm gefunden habe und dass ich – sollte ich in Zukunft in ähnlichen Situationen mit Gegenständen des Typs K konfrontiert werden – derartige Gegenstände ebenfalls in einer Lust angenehm finden werde.Wie ich nun im dritten Kapitel gezeigt habe, besteht dieses Angenehm-Finden in einer evaluativen Einstellung, die ich immer dann einnehme, wenn ein Gegenstand – vermittelt durch eine entsprechende Vorstellung – in meinem Gemüt zu einem Lustzustand führt (vgl. Kap. 3, § 4). Mein Angenehm-Finden ist zwar in erster Linie auf den Gegenstand und nicht auf einen inneren Prozess gerichtet. Gleichwohl ist dieses Angenehm-Finden wesentlich davon abhängig, dass der entsprechende Prozess in meinem Gemüt auch stattfindet. Die Vorstellung des Gegenstandes muss in mir zu einer gesteigerten Aktivität führen, wodurch dann eine Lust entsteht. Meine allgemeingültige Überzeugung ‚Ks sind angenehm‘ beruht folglich auf einer impliziten theoretischen Voraussetzung. Implizit setze ich in dieser Überzeugung voraus, dass K-Gegenstände in allen relevanten Situationen bei mir einen Lustzustand bewirkt haben bzw. bewirken werden. Sofern diese Überzeugung meinem Handeln zugrunde liegt, durch welches ein zukünftiger K-Gegenstand realisiert werden soll, können wir also auch davon sprechen, dass diesem Handeln eine implizite Erwartung
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
zugrunde liegt: Ich erwarte, dass der K-Gegenstand im Falle des erfolgreichen Handelns bei mir einen Lustzustand bewirken wird. Diese Erklärung der Rolle der Lusterwartung beruht auf einer Grundidee, die Kant selbst im Hinblick auf ästhetische Urteile in der Kritik der Urteilskraft artikuliert. So heißt es im § 18 im Hinblick auf das ästhetische Sinnenurteil: „Von dem, was ich angenehm nenne, sage ich, daß es in mir wirklich Lust bewirke“ (KU 5:236.18 f.). Diese Aussage ist nicht so zu verstehen, dass ich in einem ästhetischen Sinnenurteil – oder in dem entsprechenden sprachlichen Ausdruck – lediglich darüber berichte, was in mir vorgeht. Denn in diesem Fall würde sich die Subjektivität des Fühlens nicht auf das ästhetische Sinnenurteil übertragen. Letzteres wäre bloß ein theoretisches Urteil über innere kausale Vorgänge. Das ästhetische Urteil würde sich dann nur dem Gegenstandsbereich nach von einem theoretischen Urteil über äußere kausale Vorgänge unterscheiden. In dem ästhetischen Sinnenurteil sage ich also eigentlich nur, dass ich den Gegenstand angenehm finde und dass er mir gefällt. Allerdings bringe ich damit zugleich einen Vorgang zum Ausdruck, der in mir stattfindet. In einem solchen Urteil drücke ich die Tatsache aus, dass der Gegenstand in mir wirklich einen Lustzustand bewirkt (oder bewirkt hat).²¹⁴ Auch die Urteile über das Schöne enthalten eine Aussage über die kausale Beziehung zwischen Vorstellung und Lust. In einem derartigen Urteil beurteile ich einerseits den Gegenstand (die Form der Vorstellung des Gegenstandes) als subjektiv zweckmäßig – und zwar „vermittelst der dabey empfundenen Lust oder Unlust“ (EE 20:229.10 f.). Andererseits macht das Urteil eine Aussage „über“ diese Lust. Es bestimmt zugleich, „daß mit der Vorstellung des Gegenstandes Lust oder Unlust verbunden seyn müsse“ (EE 20:229.11 ff.). Ich werde an dieser Stelle nicht auf die schwierige Frage eingehen, wie diese Aussage im Fall der Geschmacksurteile charakterisiert werden muss. Wichtig ist nur der folgende Punkt. Auch bei den evaluativen Überzeugungen, die ich im Hinblick auf angenehme Gegenstände bilde, besteht ein impliziter Zusammenhang zwischen meinem Angenehm-Finden und dem zugrunde liegenden psychischen Prozess. In diesen Überzeugungen gehe ich zunächst davon aus, dass ich Gegenstände einer bestimmten Art in allen dafür relevanten Situationen generell angenehm gefunden habe bzw. finden werde. Meine Überzeugung richtet sich also
214 Kants Theorie der ästhetischen Sinnenurteile kommt hier mit einem Aspekt von Wittgensteins Privatsprachen-Argument überein. „Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer im Spaß), ich wisse, daß ich Schmerzen habe. Was soll es denn heißen – außer etwa, daß ich Schmerzen habe?“ (Wittgenstein 1984, 357). Die Aussage, dass ich Schmerzen habe, unterscheidet sich der Form und nicht bloß dem Gegenstandsbereich nach von einer bloß theoretischen Aussage, vgl. hierzu Fogelin 1976, 169 ff. (Den Hinweis auf Wittgenstein verdanke ich Franz Knappik).
§ 8 Evaluative Überzeugung und Lusterwartung
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nicht auf innere Zustände, sondern in erster Linie darauf, dass ich die Gegenwart dieser Gegenstände schätze und sie als angenehm betrachte. Nun ist aber dieses Angenehm-Sein der Gegenstände Kant zufolge nicht unabhängig von meiner Erfahrung – es ist nicht unabhängig davon, dass sich in mir ein bestimmter kausaler Prozess abspielt. Die Vorstellung des Gegenstandes muss in mir eine Lust auslösen, damit der Gegenstand für mich angenehm ist. Folglich setze ich in meiner Überzeugung implizit voraus, dass sich in allen dafür relevanten Situationen auch der zugrunde liegende kausale Prozess der Lustentstehung in meinem Gemüt abspielt. Wenn ich also aus dieser Überzeugung heraus etwas unternehme, um einen entsprechenden Gegenstand zu realisieren, dann liegt diesem Handeln eine implizite Lusterwartung zugrunde. Ich erwarte implizit, dass der Gegenstand im Falle des erfolgreichen Handelns bei mir einen Lustzustand bewirken wird. Diese Erklärung der Rolle der Lusterwartung unterscheidet sich nun in wesentlichen Punkten von der hedonistischen Deutung. Erstens setzt die Erklärung nicht voraus, dass wir im Grunde nur die Lust um ihrer selbst willen begehren. Tatsächlich taucht die Lust als Gegenstand der Begierde in meiner Erklärung überhaupt nicht auf. Die Lust fungiert vielmehr als ein empirisches Bewusstsein, das es uns ermöglicht jene Gegenstände zu identifizieren, die wir um ihrer selbst willen begehren. Dieses Bewusstsein ist für Kant wesentlich evaluativ – wir identifizieren die Gegenstände unserer Begierden, indem wir sie unmittelbar in einer Erfahrung angenehm finden. Im Rahmen dieser Deutung ergibt sich dann die Lusterwartung aus dem für die Bildung einer praktischen Vorschrift erforderlichen Übergang von der logisch einzelnen Begierde zur konzeptualisierten Begierde. Um den Gegenstand unserer Begierde zu einem Zweck unseres Handelns zu machen, müssen wir unser Angenehm-Finden unter Begriffe bringen. Dies geschieht in Form von evaluativen Überzeugungen, die wir ausbilden, indem wir darüber nachdenken, welche Arten von Gegenständen wir in der Vergangenheit angenehm gefunden haben. Zweitens setzt diese Erklärung nicht voraus, dass wir zur Ausbildung einer Begierde nach einem Objekt erst über die kausale Vorgeschichte unserer vergangenen Lusterfahrungen nachdenken müssen. Wir müssen überhaupt nichts denken oder glauben, um eine Begierde nach einem Objekt auszubilden – die tatsächliche Lust an dem Gegenstand reicht hierzu vollkommen aus. In der Lusterfahrung haben wir einen unmittelbaren Zugang zu den Gegenständen unserer (logisch einzelnen) Begierden. Auch die anschließende Bildung unserer evaluativen Überzeugungen erfordert nicht, dass wir über kausale Prozesse nachdenken, die in der Vergangenheit in unserem Gemüt einen Lustzustand bewirkt haben. Wir denken vielmehr darüber nach, welche Gegenstände wir ganz allgemein angenehm finden und welche nicht. Gleichwohl beinhalten diese Überzeugungen eine theoretische Implikation, die den Prozess der Lustentstehung
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
betrifft. Wenn wir Gegenstände einer bestimmten Art ganz allgemein angenehm finden, setzen wir implizit voraus, dass sich auch der Prozess, der diesem Angenehm-Finden zugrunde liegt, in allen relevanten Situationen in unserem Gemüt eingestellt hat bzw. einstellen wird. Wir können also eine Antwort auf die Frage geben, warum Kant zufolge der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens beim Handeln unter materialen praktischen Prinzipien nicht nur in der tatsächlichen Lust, sondern auch in der Erwartung einer zukünftigen Lust besteht. Unsere Begierden nach Gegenständen entstehen ursprünglich in einer tatsächlichen Lust an einem Gegenstand, und unter dieser Rücksicht geht der materialen Willensbestimmung notwendig eine tatsächliche Lust an der Existenz des Gegenstandes voraus. Eine Begierde, die in der Lust entsteht, reicht allerdings als solche noch nicht aus, um zu einer praktischen Vorschrift zu kommen, nach der wir uns bei der Realisierung des begehrten Gegenstandes richten müssen. Denn diese Begierde ist ursprünglich logisch einzeln, d. h. sie richtet sich auf einen theoretisch unbestimmten Gegenstand (nämlich auf etwas, das mir in einer Lust unmittelbar gefällt).Weil die praktische Vorschrift nun aber einen Begriff des begehrten Gegenstandes voraussetzt, deswegen muss das Objekt der Lust unter Begriffe gebracht werden. Dies geschieht dadurch, dass ich das Wohlgefallen, welches ich in der Lust am begehrten Gegenstand nehme, als Fall einer evaluativen Überzeugung interpretiere, der zufolge das Objekt mir nunmehr als Gegenstand einer bestimmten Art gefällt. Auf diese Weise entsteht eine konzeptualisierte Begierde, die sich auf ein Objekt einer bestimmten Art richtet. Dass mit dieser Begierde eine Lusterwartung verbunden ist, folgt aus der (auf mich selbst eingeschränkten) Allgemeingültigkeit der zugrunde liegenden evaluativen Überzeugung. Dieser Überzeugung zufolge finde ich Gegenstände einer bestimmten Art in allen dafür relevanten Situationen angenehm. Da nun dieses Angenehm-Finden darin besteht, dass die Vorstellung dieser Gegenstände in mir zu einem Lustzustand führt, impliziert die Überzeugung auch eine Aussage über die kausale Beziehung zwischen Vorstellungen und Lustzuständen. Ich gehe davon aus, dass Objekte dieser Art in allen relevanten Situationen in mir einen Lustzustand ausgelöst haben bzw. auslösen werden. Folglich beinhaltet auch die konzeptuelle Begierde, welche sich auf die Realisierung eines derartigen Gegenstandes richtet, die Erwartung, dass der begehrte Gegenstand im Falle seiner Realisierung bei mir einen Lustzustand bewirken wird.
§ 9 Die Quantifizierbarkeit des sinnlichen Gefühls
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§ 9 Die Quantifizierbarkeit des sinnlichen Gefühls Damit ist das eigentliche Ziel des Kapitels erreicht, und in den beiden letzten Abschnitten möchte ich lediglich zwei ergänzende Überlegungen vorstellen. In diesem Abschnitt werde ich die Frage diskutieren, ob meine Deutung auch die bereits angesprochene Passage in der Kritik der praktischen Vernunft erklären kann, in der Kant die nicht-moralische Wahl auf einen hedonistischen Kalkül zu reduzieren scheint (vgl. Anmerkung I, insbesondere KpV 5:23). Im folgenden Abschnitt werde ich dann eine etwas allgemeiner gehaltene Überlegung anstellen, welche die normative Rolle der sinnlichen Lust für das nicht-moralische Handeln betrifft. In der Anmerkung I führt Kant aus, dass sich die sinnlichen Gefühle des Angenehmen lediglich quantitativ und nicht qualitativ voneinander unterscheiden. Dies zeigt sich Kant zufolge daran, dass wir zwischen unterschiedlichen materialen Bestimmungsgründen eine „Vergleichung der Größe nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungsvermögen afficirt, vorzuziehen“ (KpV 5:23.21 f.). Kant illustriert diese Aussage an folgenden Beispielen: „Eben derselbe Mensch kann ein ihm lehrreiches Buch, das ihm nur einmal zu Händen kommt, ungelesen zurückgeben, um die Jagd nicht zu versäumen, in der Mitte einer schönen Rede weggehen, um zur Mahlzeit nicht zu spät zu kommen, eine Unterhaltung durch vernünftige Gespräche, die er sonst sehr schätzt, verlassen, um sich an den Spieltisch zu setzen, sogar einen Armen, dem wohlzuthun ihm sonst Freude ist, abweisen, weil er jetzt eben nicht mehr Geld in der Tasche hat, als er braucht, um den Eintritt in die Komödie zu bezahlen. Beruht die Willensbestimmung auf dem Gefühle der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die er aus irgend einer Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche Vorstellungsart er afficirt werde. Nur wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit sei, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschließen“ (KpV 5:23.22– 33).
Es ist schwierig, diese Stelle nicht im Sinne einer Radikalisierung von Kants mutmaßlichem Hedonismus zu verstehen. Entscheidend für die empirisch-praktische Handlungswahl ist die Frage, „wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit sei“ (KpV 5:23.32 f.), die uns der durch die Handlung realisierte Gegenstand verschafft. Unserer Abwägung von materialen Bestimmungsgründen liegt ein hedonistischer Kalkül zugrunde, in welchem wir den Grad der Lust abschätzen, die wir uns von der Realisierung des Gegenstandes versprechen.²¹⁵
215 Herman hat die naheliegende Deutung treffend zusammengefasst: „It is usually assumed that Kant reasons this way. To so choose among courses of action, we must be using a calculus of
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4. Sinnliches Gefühl und materiale Willensbestimmung
Allerdings geht es Kant in der Anmerkung I gar nicht so sehr um die Frage, ob wir beim nicht-moralischen Handeln den Gegenstand selbst oder bloß die Menge der dadurch erzeugten Lust wertschätzen. Kants Thema ist die Unterscheidung zwischen oberem und unterem Begehrungsvermögen bei den Schulphilosophen, also deren Abgrenzung eines sinnlichen von einem rationalen bzw. intellektuellen Begehren. Den Schulphilosophen zufolge ist das Begehren sinnlich, wenn die Vorstellung des begehrten Gegenstandes sinnlich ist; es ist intellektuell, wenn die Vorstellung des begehrten Gegenstandes intellektuell ist. Kant zufolge ist nun aber die Qualität der Vorstellung gar nicht das ausschlaggebende Kriterium zur Unterscheidung zwischen sinnlichem und intellektuellem Begehren. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob das praktische Prinzip eine Lust am begehrten Gegenstand voraussetzt oder nicht. Kant scheint dabei davon auszugehen, dass sich diese Kritik bereits aus seiner Argumentation in den §§ 2 und 3 ergibt. Jedes materiale praktische Prinzip setzt eine Lust am Gegenstand voraus (§ 2), die zugleich notwendig auf der Sinnlichkeit beruht (§ 3). Folglich ist der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens in diesem Fall immer sinnlich – und zwar unabhängig von der epistemischen Qualität der zugrunde liegenden Vorstellung. In der Anmerkung I argumentiert Kant nun aber noch auf eine andere Weise gegen die schulphilosophische Theorie von Begehren und Wollen. Materiale Bestimmungsgründe, so Kants Argument, können sich gar nicht qualitativ, sondern nur quantitativ voneinander unterscheiden. Denn das Gefühl der Lust, welches in beiden Fällen vorausgesetzt wird, ist immer „von einerlei Art“ (KpV 5:23.16). Der erste Grund, den Kant für diese These anführt, ist bereits bekannt und besteht darin, dass wir nur „empirisch“ erkennen können, woran wir eine Lust haben (KpV 5:23.16 f.; vgl. 5:21.27– 29). Streng genommen erklärt erst der zweite Grund, warum wir materiale Bestimmungsgründe „der Größe nach“ miteinander vergleichen können. Das Gefühl der Lust affiziert „eine und dieselbe Lebenskraft, die sich im Begehrungsvermögen äußert“ (KpV 5:23.17 f.) und kann deswegen nur quantitativ von jedem anderen materialen Bestimmungsgrund unterschieden sein. Alle tat-
pleasure. Then all that must matter to us about books, speeches, charity, or the theater is the amount of pleasure to be gained from each“ (Herman 2007, 189). Reath 1989a zufolge impliziert Kants Aussage nicht, dass wir letztlich nur die größte Annehmlichkeit begehren; vielmehr geht es darum, dass der Grad der erwarteten Befriedigung das Kriterium der Wahl ist. Dies bedeutet nicht, dass wir diese Befriedigung als solche anstreben; es bedeutet nur, dass wir dadurch entscheiden, welches Objekt wir am meisten begehren (vgl. Reath 1989a, 50 ff.). Mir scheint diese Deutung allerdings den Nachteil zu haben, dass wir bei der nicht-moralischen Handlungswahl Lustmengen gegeneinander aufrechnen und in diesem Sinn immer noch hedonistisch kalkulieren. Meiner Interpretation zufolge müssen wir an keinem Punkt der empirisch-praktischen Überlegung an die Lust und ihre kausale Verknüpfung mit dem begehrten Gegenstand denken.
§ 10 Sinnliche Lust und empirisch-praktische Überlegung
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sächlichen Lustgefühle beruhen auf ein und derselben Kraft, sofern sie ausnahmslos durch körperliche Aktivitätszustände bewirkt werden (vgl. Kap. 3, § 2, sowie Kap. 2, § 4). Aus diesem Grund unterscheiden sich sinnliche Lustgefühle nur quantitativ voneinander, d. h. nur im Hinblick darauf, wie stark unsere Tendenz zur Aufrechterhaltung dieser Aktivitätszustände ist. Diese These von der Quantifizierbarkeit der sinnlichen Lust lässt sich nun durchaus im Sinn der Deutung verstehen, die ich in diesem Kapitel vorgeschlagen habe. Da unsere evaluativen Wahrnehmungen von angenehmen Gegenständen auf gleichartigen körperlichen Aktivitätszuständen beruhen, deswegen können wir diese Wahrnehmungen der Größe nach miteinander vergleichen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass wir hier Grade der Lust gegeneinander aufrechnen. Vielmehr gehen wir der einfachen Frage nach, welche der wahrgenommenen Gegenstände uns besser gefallen als andere, (z. B. welcher Wein uns bei einer Weinprobe am besten geschmeckt hat). Kant spricht nun davon, dass es uns beim Abwägen von unterschiedlichen materialen Bestimmungsgründen lediglich auf die Menge der Lust ankommt, die wir von der Existenz des Gegenstandes erwarten. Diese Aussage lässt sich im Rekurs auf die evaluativen Überzeugungen erklären, die wir auf der Basis unserer evaluativen Wahrnehmungen bilden. Aufgrund der evaluativen Vergleichbarkeit unserer Lusterfahrungen können wir diese Überzeugungen in eine Art Präferenzordnung bringen. In manchen Situationen trinken wir generell lieber Rot- als Weißwein oder gehen lieber auf die Jagd als zu Hause ein Buch zu studieren. Weil nun unsere evaluativen Überzeugungen implizit eine Lusterwartung enthalten, deswegen lässt sich auch die entsprechende Präferenzordnung in Form einer Lusterwartung beschreiben. Wir können sinnvoll sagen, dass wir uns in den relevanten Situationen mehr Lust von der Jagd als von der Lektüre versprechen. Doch gleichwohl kommen wir zu einer derartigen Aussage nicht, indem wir die Lustmengen gegeneinander aufrechnen, die sich unserer Einschätzung zufolge in unserem Gemüt einstellen werden, sobald wir auf der Jagd sind oder ein gutes Buch lesen. Vielmehr denken wir darüber nach, ob wir lieber zur Jagd gehen oder zu Hause ein Buch lesen wollen.
§ 10 Sinnliche Lust und empirisch-praktische Überlegung Kant zufolge ist eine Lust praktisch, sofern sie mit dem spezifisch menschlichen Begehren verbunden ist, für welches die praktische Überlegung sowie die Orientierung an Handlungsregeln charakteristisch ist. Kant hat diesen Sachverhalt im Hinblick auf die sinnliche Lust in eine einfache Formel gebracht: Diese Form der praktischen Lust geht der Handlungsregel voran. Bis zu diesem Punkt habe ich nun zu erklären versucht, in welchem Sinn die sinnliche Lust am Angenehmen der
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praktischen Vorschrift zugrunde liegt. Im Vordergrund stand dabei die Frage, auf welche Weise wir die evaluative Erfahrung, die wir in dieser Lust machen, in die praktische Überlegung integrieren. Betrachtet man nun Kants Formel etwas näher, so scheint sie zumindest implizit noch etwas anderes zu besagen. Kant zufolge lässt sich die sinnliche Lust am Angenehmen selbst im Rekurs auf unsere Fähigkeit zur praktischen Überlegung beschreiben. Diese Lust ist, mit anderen Worten, beim Menschen schon ihrem Wesen nach ein potentieller Bestandteil der empirisch praktischen Überlegung. Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich dieser schwierigen Idee nachgehen und zu diesem Zweck Kants Ausführungen über die empirisch-praktische Überlegung und das zugrunde liegende Prinzip der Selbstliebe etwas genauer betrachten. Im zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt Kant eine Theorie der praktischen Überlegung – er selbst spricht von der praktischen Beurteilung des Guten und Bösen. Mit dem Ausdruck ‚Beurteilung‘ bezieht sich Kant auf die Urteilshandlung, die zu einem praktischen Urteil über gute und böse Handlungen führt. In erster Linie geht es dabei natürlich um prospektive praktische Urteile, also um Urteile, in denen wir selbst entscheiden, welche der sich uns bietenden Handlungsalternativen wir vernünftigerweise wählen sollten. Darüber hinaus ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass die Bezeichnung ‚Beurteilung‘ bei Kant sowohl einen logischen als auch einen eher evaluativen Sinn haben kann. In einem ersten und eher logischen Sinn geht es um die Subsumtion einer mir möglichen Handlung (sowie der entsprechenden Maxime) unter den Begriff des Guten, und diese Subsumtion geschieht ihrerseits im Rückgriff auf eine allgemeinere Handlungsregel, welche als Kriterium des Urteils fungiert.²¹⁶ Kant bezeichnet ein solches Urteil auch als eine objektive Willensbestimmung und das entsprechende Beurteilungskriterium als den objektiven Bestimmungsgrund des Willens (vgl. hierzu Kap. 5, § 1). Zum anderen hat der Ausdruck ‚Beurteilung‘ in der Tradition der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie einen evaluativen Aspekt, der aber eng mit dem logischen Aspekt verknüpft ist. In einer Beurteilung prüfen
216 Es geht, wie Kant in der Typik ausführt, um die Frage, „[o]b […] eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe, oder nicht“ (KpV 5:67.28 f.). Der kategorische Imperativ fungiert als Kriterium unserer moralischen Urteile: „Die Regel der Urtheilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest? Nach dieser Regel beurtheilt in der That jedermann Handlungen, ob sie sittlich gut oder böse sind“ (KpV 5:69.20 ff.). In einem analogen Sinn fungiert der hypothetische Imperativ bzw. die praktische Vorschrift als Kriterium bei der empirisch-praktischen Beurteilung.
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wir, ob ein Gegenstand oder eine Handlung einen bestimmten Standard erfüllt oder dahinter zurückbleibt.²¹⁷ Es sind, schreibt Kant nun im dritten Hauptstück, „zwei ganz verschiedene Beurtheilungen […], ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse derselben, oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen“ (KpV 5:60.1– 3). Kant trägt der Differenz zwischen materialen und formalen praktischen Prinzipien Rechnung, indem er zwei entsprechende Formen der praktischen Beurteilung unterscheidet. Die von ihm zuletzt genannte Form der Beurteilung, in welcher wir „unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen“ (KpV 5:60.2 f.), ist nichts anderes als die empirisch-praktische Überlegung. Kant spricht auch von einer Beurteilung dessen, was „nur beziehungsweise auf Wohl oder Übel“ gut oder böse genannt werden kann (KpV 5:62.9 f.). Kant beschreibt diese Form der Überlegung nun auf folgende Weise: Hier „geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Object der Lust und Unlust voraussetzt“ (KpV 5:62.19 f.). Die allgemeinen praktischen Vorschriften, die sich hieraus ergeben, fungieren nun als Kriterien, um die sich uns bietenden Handlungsalternativen oder Handlungspläne daraufhin zu beurteilen, ob sie dazu geeignet sind, dieses Objekt zu verwirklichen. Von besonderem Interesse ist die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Wohl, die Kant in diesem Zusammenhang einführt. So ist der Zweck, den wir mit der beurteilten Handlung verfolgen, selbst „nicht ein Gutes, sondern ein Wohl“, nämlich letztlich „ein empirischer Begriff von einem Gegenstande der Empfindung“ (KpV 5:62.27– 29). Die Handlung, durch welche wir diesen Zweck realisieren können, ist gleichwohl gut, weil das praktische Urteil „vernünftige Überlegung erfordert“ (KpV 5:62.30 f.). Da wir es hier nicht mit einem moralischen Urteil zu tun haben, wird die Handlung aber natürlich nicht als schlechthin und in aller Absicht gut beurteilt. Die Handlung ist vielmehr nur „mittelbar (in Rücksicht auf einen anderweitigen Zweck, als Mittel zu demselben) gut“ (KpV 5:62.23 f.). In der empirisch-praktischen Beurteilung geht es also nicht nur um unser Wohl und Weh. Vielmehr handelt es sich um ein rationales Verfahren, in dem wir uns der Gründe für ein praktisches Urteil über das Gute bewusst werden.²¹⁸ Die
217 Baumgarten zufolge beurteilen wir eine Sache, wenn wir uns ihre Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit vorstellen (vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 606, 15:29). Auf dieses Vermögen gehen Meier zufolge alle unsere Werturteile zurück: „Insoferne wir uns also etwas […] als gut, als vollkommen, als nützlich, als rechtmäßig, als schön, als angenehm u. s. w. oder als böse, als unvollkommen, als schädlich, als unrechtmäßig, als häßlich, als unangenehm u. s. w. vorstellen, insoferne beurtheilen wir es“ (Meier, Metaphysik, § 617). 218 Da es mir hier nur um die Grundstruktur dieser Form von Überlegung geht, klammere ich der Einfachheit halber den Begriff der Maxime ganz aus und spreche – wie Kant dies ja selbst tut
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Prämissen, auf denen diese Beurteilung letztlich beruht, sind allerdings selbst nicht mehr Urteile über das Gute, sondern evaluative Überzeugungen, welche die Objekte unserer Lust betreffen. Wie wir gesehen haben, beruhen diese Überzeugungen nicht auf einem rationalen Kriterium; vielmehr ergeben sie sich aus einer Reflexion auf die Lusterfahrungen, die wir mit bestimmten Objekten gemacht haben. Damit stellt sich natürlich die Frage, in welchem Sinn eine praktische Überlegung vernünftig sein könnte, deren Prämissen subjektiv sind und daher selbst nicht noch einmal durch die Vernunft eingesehen werden können. In diesem Zusammenhang sind Kants Aussagen über die Selbstliebe von Interesse. Kant zufolge kann es keine Pflicht zur Selbstliebe geben, denn es wäre unsinnig etwas zur Pflicht zu machen, was wir ohnehin schon notwendig wollen.²¹⁹ Allerdings bedeutet dies für Kant nicht, dass die praktische Vernunft unser Verlangen nach Glückseligkeit als eine bloße Tatsache ohne normativen Gehalt auffasst. Die Vernunft hat „einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens zu machen“ (KpV 5:61.25 – 29). Diese Formulierung legt die Annahme nahe, dass Kant zufolge die praktische Sinnlichkeit – das sinnliche Gefühl der Lust und Unlust – auch einen potentiell normativen Aspekt hat. Durch die Sinnlichkeit wird die praktische Vernunft geradezu beauftragt, sich um die Befriedigung der Bedürfnisse und damit um die eigene Glückseligkeit zu kümmern.²²⁰
– nur von Handlungen als den Gegenständen der praktischen Beurteilung. Auch werde ich nicht die mit dem Begriff der Maxime zusammenhängende schwierige Frage erörtern, welche Rolle die Kategorien der Freiheit bei der empirisch-praktischen Beurteilung spielen. 219 „Ein Gebot, daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht; denn man gebietet niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will“ (KpV 5:37.5 – 7). Kant karikiert auch etwas spöttisch die Auffassung, der zufolge es eine „heilige Pflicht der eigenen Glückseligkeit“ geben soll (KpV 5:35.21). 220 In der Grundlegung behauptet Kant in ähnlicher Weise, dass sich das endliche Vernunftwesen notwendig die eigene Glückseligkeit zum Zweck setzt (vgl. GMS 4:415.28 ff.). Wood unterscheidet mehrere Deutungsmöglichkeiten dieser Behauptung: Wir können sie entweder als deskriptive oder aber als normative Aussage auffassen; darüber hinaus können wir sie auf die Befriedigung einzelner Neigungen oder aber auf die Beförderung der Glückseligkeit als Ganzes beziehen (vgl. Wood 1999, 65 f.). Wood zufolge besteht die philosophisch interessanteste Lesart darin, Kants Behauptung als eine normative Aussage über die Ausrichtung des endlichen Vernunftwesens auf die Glückseligkeit als Ganzes zu verstehen (vgl. Wood 1999, 66). Das endliche Vernunftwesen steht demzufolge unter dem Anspruch, sein Handeln nicht nur in den Dienst einer momentanen Bedürfnisbefriedigung zu stellen, sondern insgesamt an dem übergeordneten Ziel der eigenen Glückseligkeit zu orientieren. Im Folgenden geht es mir eher darum zu zeigen,
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Im ersten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft findet sich eine ähnliche Formulierung. Dort bezeichnet Kant die Zufriedenheit des endlichen Vernunftwesens als ein „Problem“ (KpV 5:25.17) und eine „Aufgabe“ (KpV 5:25.28), deren Auflösung sich dieses Wesen notwendig zum Ziel setzt. So heißt es zu Beginn der Anmerkung II: „Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfniß betriff die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird“ (KpV 5:25.12 ff.).
Auch diese Stelle legt die Annahme nahe, dass die Begierden und Bedürfnisse eines endlichen Vernunftwesens einen potentiell normativen Gehalt haben. Tatsächlich scheint sich eine derartige Annahme für Kant aus der Analyse des Begriffs eines endlichen Vernunftwesens zu ergeben. Ein solches Wesen ist endlich und damit bedürftig. Weil es aber in einem praktischen Sinn vernünftig und damit selbsttätig ist, wartet es nicht gleichsam ab wie eine Pflanze, bis seine Bedürfnisse befriedigt werden. Es muss sich seine Glückseligkeit in eigener vernünftiger Aktivität verschaffen. Aus diesem Grund begreift es die Überwindung seiner eigenen Bedürftigkeit als eine Herausforderung an seine eigene vernünftige Aktivität.²²¹
dass Kants Behauptung auch dann einen normativen Aspekt hat, wenn wir sie auf die Befriedigung einzelner Begierden bzw. Neigungen beziehen. 221 Vgl. den dritten Satz aus der Idee: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat“ (Idee 8:19.18 ff.; H. v. m.). – Die Redeweise von ‚Aufgabe‘ und ‚Problem‘, auf die Kant in diesem Zusammenhang in der Kritik der praktischen Vernunft zurückgreift, lässt an Kants Beschreibung des regulativen Vernunftgebrauchs in der Kritik der reinen Vernunft denken. So ist der Grundsatz, von einem gegebenen Bedingten zur Totalität der Bedingungen zurückzugehen nicht als Axiom, sondern als Problem gültig (vgl. KrV A 508/B 536). Durch diesen Grundsatz wird die Bedingungstotalität der Vernunft nicht gegeben; der Vernunft wird vielmehr ein unendlicher Regress zu dieser Bedingungstotalität aufgegeben (vgl. KrV A 498/B 526). Es ist wohl kein Zufall, dass Kant den Terminus ‚Problem‘ jeweils im Hinblick auf die endliche Vernunft gebraucht. Tatsächlich scheint beiden Aussagen dieselbe Auffassung Kants zugrunde zu liegen: Die Struktur der endlichen Vernunft besteht in der projektierten Überwindung ihrer Endlichkeit, (also der Tatsache, dass sie des Gegebenseins der Gegenstände bedarf), durch die vernünftige Selbsttätigkeit (vgl. Höwing 2004, 46 ff.). Die
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Dem Gefühl der Lust oder Unlust fällt in diesem Zusammenhang eine Rolle zu, die ich bereits angesprochen habe. Es dient dazu, die Objekte zu identifizieren, auf die sich unsere Begierden ursprünglich richten und die wir zur Zufriedenheit mit unserem Zustand benötigen. Leider sind die vorgestellten Aussagen über die Selbstliebe sehr allgemein. Insbesondere stellt sich die Frage,welche Konsequenzen sich aus diesen Aussagen für Kants Theorie der empirisch-praktischen Überlegung ergeben. In jedem Fall scheint Kant nicht davon auszugehen, dass unsere Lusterfahrungen sowie die daraus entstehenden Begierden einfach schon von sich aus einen normativen Gehalt haben. Dieser Gehalt wird vom endlichen Vernunftwesen in der empirischpraktischen Überlegung vielmehr in Lust und Begierde hineingelegt. Wir könnten diese Überlegung folglich selbst als eine rationale Interpretation der eigenen Bedürftigkeit beschreiben. In der empirisch-praktischen Beurteilung interpretiert das endliche Vernunftwesen die eigene Bedürftigkeit als einen normativen Maßstab, der letztlich der rationalen Bewertung seines Handelns zugrunde liegt. Selbstliebe, schreibt Kant demgemäß im Triebfederkapitel, ist der „Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“ (KpV 5:74.15 – 17). Kants Aussage zielt schon auf den Konflikt zwischen reiner und empirisch-praktischer Beurteilung ab (vgl. hierzu Kap. 5, §§ 1 f.). An dieser Stelle können wir sie aber zunächst als eine Beschreibung der angesprochenen Interpretation der eigenen Bedürftigkeit in der empirisch-praktischen Überlegung betrachten. In dieser Überlegung geht es darum, aus einem zunächst subjektiven und nicht-begrifflichen Bestimmungsgrund einen objektiven und rationalen Bestimmungsgrund zu machen. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist ein „Gefühl der Lust und Unlust […], dadurch das, was es [das vernünftige, aber endliche Wesen – T. H.] zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird“ (KpV 5:25.19 f.). In der Lust betrachten wir die Gegenwart des Gegenstandes folglich schon als eine Bedingung unserer Zufriedenheit. Da dies bereits ein Begehren des Gegenstandes beinhaltet, stellt sich uns der angenehme Gegenstand schon in der sinnlichen Lust als ein „subjectiver Zweck“ (KU 5:221.7 f.) dar. Die Interpretation in der empirischpraktischen Überlegung besteht nun darin, dass wir diesen Zweck schrittweise objektivieren, indem wir unsere Begierde nach dem Gegenstand zu einem Kriterium der Beurteilung unserer Handlungen machen.
Aufgabe die eigene Glückseligkeit zu befördern, ergibt sich also aus der Struktur der endlichen Vernunft selbst, nämlich aus ihrem Grundsatz, im Ausgang von einem gegebenen Bedingten zum Unbedingten fortzuschreiten (vgl. hierzu Kap. 5, § 2).
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Diese Interpretation ist Kant zufolge natürlich an Bedingungen von praktischer Rationalität geknüpft. Sie erfordert die Konzeptualisierung unserer logisch einzelnen Begierde, rekurriert auf theoretische Überzeugungen über die Theorie des begehrten Gegenstands und beinhaltet darüber hinaus Regeln der Geschicklichkeit, in welchen diese Theorie auf die für den Menschen charakteristische Kausalität angewandt wird (vgl. Kap. 1, § 6). Ferner wird sie, wie wir noch genauer sehen werden, durch die Vorgaben der reinen praktischen Vernunft eingeschränkt (vgl. Kap. 5, § 1). Der objektive Bestimmungsgrund des Willens, den wir auf diese Weise erzeugen, ist dann eine praktische Vorschrift, die als Kriterium zur Beurteilung der sich uns bietenden Handlungsalternativen fungiert. Diese praktische Vorschrift stellt ein vernünftiges und objektives Kriterium zur Unterscheidung von guten und schlechten Handlungsalternativen dar. Sie enthält aber noch immer die Vorstellung des ursprünglichen subjektiven Zwecks, weil sie – im Unterschied zur bloßen Geschicklichkeitsregel – die logisch einzelne Begierde nach dem Gegenstand notwendig voraussetzt (vgl. § 6 in diesem Kapitel). Diese Betrachtung legt nun eine mögliche Antwort auf die Frage nahe, unter welcher Rücksicht sich die sinnliche Lust eines endlichen Vernunftwesens schon im Rekurs auf die praktische Überlegung charakterisieren lässt. Da das endliche Vernunftwesen seine eigene Bedürftigkeit selbst als einen Auftrag begreift, kann ein Gefühl der sinnlichen Lust in einem solchen Wesen nicht mehr bloß ein neutrales datum sein. Denn durch dieses Gefühl wird gerade bestimmt, „was es [das vernünftige, aber endliche Wesen – T. H.] zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf“ (KpV 5:25.19 f.). Das endliche Vernunftwesen sieht mithin die Gegenstände seiner Lust schon in dieser Lust als subjektive Zwecke, d. h. als potentielle Gegenstände von Handlungsabsichten, an und bezieht sie so auf die eigene Fähigkeit zur praktischen Überlegung. Das sinnliche Gefühl der Lust und Unlust ist unter dieser Rücksicht eine praktische Fähigkeit und ein Aspekt des spezifisch menschlichen Begehrungsvermögens. Es versetzt uns in die Lage, den Gegenständen, die wir um uns herum wahrnehmen, eine praktische Bedeutung zu geben.²²²
222 Wenn tatsächlich alle empirischen Vorstellungen von sinnlicher Lust oder Unlust begleitet sind (vgl. KU 5:277.24 ff.), dann haben auch alle Gegenstände der Wahrnehmung eine praktische Bedeutung für uns. Das sinnliche Gefühl der Lust und Unlust befähigt uns also dazu, uns praktisch in der uns umgebenden Welt zu orientieren.
5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung Die Definition der praktischen Lust, die Kant der Kritik der praktischen Vernunft voranstellt, soll die Frage unentschieden lassen, „ob die Lust dem Begehrungsvermögen jederzeit zum Grunde gelegt werden müsse, oder ob sie auch unter gewissen Bedingungen nur auf die Bestimmung desselben folge“ (KpV 5:9.29 ff. Anm.). Tatsächlich verweist Kant in dieser Definition schon implizit auf die Eigenschaften einer praktischen Lust, die lediglich auf die Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen soll. Auch diese Lust, die Kant im Triebfederkapitel mit dem moralischen Gefühl identifiziert, ist in einem grundlegenden Sinn eine praktische Lust. Denn sie ist, wie die vorhergehende sinnliche Lust, wesentlich mit der für das Begehren charakteristischen kausalen Rolle einer Vorstellung verbunden. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, folgt diese Lust als Wirkung auf die Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens in der moralischen Willensbestimmung (vgl. Kap. 2, §§ 2 ff.). In diesem Kapitel soll es nun um die Frage gehen, wie wir diese Aussage Kants verstehen sollen. Worin genau besteht die Aktualisierung des Begehrungsvermögens, die der moralischen Lust zugrunde liegt? Und aus welchem Grund muss sich Kant zufolge hieraus ein Gefühl der Lust ergeben? Der geeignete Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Fragen ist die Theorie der „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 5:71.27), die Kant im dritten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt (vgl. KpV 5:71– 89). Meine Diskussion dieser Theorie gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil behandle ich drei Voraussetzungen von Kants Triebfedertheorie (§§ 1– 3), um im zweiten Teil dann Kants Analyse der Entstehung des moralischen Gefühls zu betrachten (§§ 4– 7). Eine erste Voraussetzung von Kants Theorie der moralischen Triebfeder wird von Kant gleich zu Beginn des dritten Hauptstücks artikuliert. Eine genuine Befolgung des moralischen Gesetzes setzt Kant zufolge voraus, dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt. Diese Aussage besagt meiner Deutung zufolge, dass mit einem moralischen Urteil über gebotene oder verbotene Handlungen eine Forderung an unsere eigene praktische Vernunft verbunden ist. Wenn wir in einem praktischen Urteil einsehen, dass eine Handlung aus einem moralischen Grund ge- oder verboten ist, so werden damit alle anderen Gründe ausgeschlossen, die wir für die praktische Beurteilung der sich uns bietenden Handlungsalternativen ins Feld führen können (§ 1). Auf eine zweite Voraussetzung in Kants Triebfederbegriff hat Engstrom bereits hingewiesen. In seiner Definition der Triebfeder rekurriert Kant auf eine Schwäche
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der menschlichen praktischen Vernunft.²²³ Diese Schwäche liegt, so meine These, darin begründet, dass wir dazu tendieren, den Anspruch des moralischen Urteils zu verfehlen und die Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft faktisch als Gründe für oder gegen ein gebotenes oder verbotenes Handeln zu betrachten. Diese Tendenz, die Kant als Selbstliebe bezeichnet, ergibt sich meiner Auffassung zufolge nicht aus unserer kontingenten psychischen Disposition.Vielmehr liegt sie in der Struktur der endlichen Vernunft selbst begründet und kommt daher jedem endlichen Vernunftwesen notwendig zu (§ 2). Eine der schwierigsten Voraussetzungen von Kants Theorie des moralischen Gefühls stellt jedoch der Begriff der Triebfeder als solcher dar. Was genau ist eine Triebfeder und unter welcher Rücksicht kann das moralische Gesetz selbst als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft bezeichnet werden? Meines Erachtens lassen sich diese Fragen beantworten, wenn man berücksichtigt, dass Kant eine Art Zwei-Aspekte-Theorie der praktischen Vernunft vertritt. So ist etwa das moralische Urteil nicht nur ein kognitiver Akt, in dem wir entscheiden, dass eine Handlungsweise dem moralischen Gesetz widerspricht oder mit diesem übereinstimmt. Dieses Urteil hat zugleich einen desiderativen Aspekt, sofern es eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungs- bzw. Willensvermögens beinhaltet. In einem moralischen Urteil erhält, mit anderen Worten, die Vorstellung des Schlechthin-Guten die für das Begehren charakteristische Rolle, indem sie uns selbst zu einem entsprechenden Handeln antreibt. Das moralische Gesetz fungiert nun als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, sofern es den ausschlaggebenden Faktor für die Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens im moralischen Urteil darstellt (§ 3). Der zweite Teil des Kapitels behandelt dann Kants Theorie des moralischen Gefühls (§§ 4– 7). Dabei gehe ich von der Frage aus, welches philosophische Problem diese Theorie eigentlich lösen soll. Meiner Auffassung zufolge beantwortet Kant hier die Frage, auf welche Weise wir uns überhaupt der motivatorischen Kraft unseres eigenen moralischen Urteils bewusst werden können. Kant zufolge ist es nämlich ausgeschlossen, dass wir einen direkten Zugang zu der antreibenden Rolle unseres eigenen moralischen Urteils haben. Denn dies würde bedeuten, dass wir uns unserer Willensfreiheit empirisch bewusst werden können, und dies ist nach Kant nicht möglich. Die Theorie des moralischen Gefühls soll zeigen, dass wir uns der motivatorischen Kraft gleichwohl indirekt bewusst werden können. Dieses indirekte Motivationsbewusstsein ist das moralische Gefühl, das sich aus den Auswirkungen ergibt, die das moralische Urteil auf unseren gesamten Motivationszustand hat (§ 4).
223 Vgl. Engstrom 2010, 94 ff.
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Die genauere Analyse von Kants Beschreibung der Entstehung des moralischen Gefühls wird dann zeigen, dass das moralische Gefühl kein affektiver Zustand ist, der vollkommen unabhängig von unserer intellektuellen Anerkennung des Sittengesetzes im moralischen Urteil ist. Vielmehr beruht das Gefühl wesentlich auf einer erneuten Reflexion auf den Inhalt dieses Urteils. Kants Erklärung der Entstehung des moralischen Gefühls besteht aus drei Schritten. In einem ersten Schritt beschreibt Kant einen eher kognitiven Aspekt des moralischen Urteils. Das moralische Urteil muss notwendig eine Delegitimierung unserer nichtmoralischen Selbstschätzung beinhalten – Kant spricht auch davon, dass das moralische Gesetz unseren Eigendünkel im moralischen Urteil niederschlägt (§ 5). Im zweiten Schritt zeigt Kant, dass sich die Willensbestimmung im moralischen Urteil auch affektiv auf unseren gesamten Motivationszustand auswirken muss. Die desiderative Kraft des moralischen Urteils muss das kausale Potential unserer Begierden und Neigungen zwangsläufig einschränken. Dieser Einschränkung werden wir uns in einem moralischen Schmerz bewusst, der sich in noch unbestimmter Weise auf unsere eigene Unzulänglichkeit bezieht (§ 6). Der dritte Schritt soll schließlich zeigen, auf welche Weise dieser Schmerz die komplexe evaluative Qualität eines Gefühls der Selbstdemütigung und einer Achtung vor dem Sittengesetz erhält. Hier rekurriert Kant auf den bereits angesprochenen Reflexionsprozess, in dem wir uns den Inhalt unseres eigenen Urteils erneut vor Augen führen. Dieser Prozess hat zwei Phasen. In der ersten Reflexionsphase beziehen wir den Schmerz auf den Abbruch unseres Eigendünkels im moralischen Urteil zurück. Auf diese Weise erhält dieses Gefühl die Qualität einer Demütigung – wir fühlen uns durch das moralische Gesetz in unserem Selbstwert unendlich herabgesetzt. In der zweiten Reflexionsphase werden wir uns hingegen der Tatsache bewusst, dass uns gerade dieses Gefühl der Demütigung dabei hilft, das moralische Gesetz zu befolgen und auf diese Weise unserem Handeln und damit uns selbst einen Wert zu geben, der jeden nicht-moralischen Wert unendlich überwiegt. Auf diese Weise enthält das Gefühl der Demütigung seinerseits die positive Qualität einer Achtung vor dem Sittengesetz (§ 7).
§ 1 Unmittelbare Bestimmung des Willens Kant beginnt das Triebfederkapitel mit der Behauptung, dass unsere Handlungen nur dann einen sittlichen Wert haben, wenn das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt. Diese Behauptung fungiert als Prämisse in einem Argument, dem zufolge das moralische Gesetz selbst die Triebfeder des menschlichen Willens sein muss. Es lohnt sich dieses Argument etwas genauer zu betrachten:
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„Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten. Wenn nun unter Triebfeder (elater animi) der subjective Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens verstanden wird, dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetze nothwendig gemäß ist, so wird erstlich daraus folgen: daß man dem göttlichen Willen gar keine Triebfedern beilegen könne, die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse, wenn diese nicht blos den Buchstaben des Gesetzes, ohne den Geist desselben zu enthalten, erfüllen soll“ (KpV 5:71 f.28 ff.).
Kant argumentiert hier unter anderem für die These, dass die Triebfeder des menschlichen Willens stets das moralische Gesetz selbst sein muss, sofern das Handeln in einem echten Sinn moralisch sein soll. Kants Argument weist vor allem zwei Schwierigkeiten auf. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus Kants Erläuterung des Triebfederbegriffs. Diese Erläuterung rekurriert offenkundig schon auf den Kontrastbegriff des ‚heiligen‘ Willens eines vollkommenen Wesens. Im Unterschied zu einem vollkommenen Wesen ist der Mensch ein Wesen, „dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetze nothwendig gemäß ist“ (KpV 5:72.2 f.). Kant denkt an dieser Stelle nicht so sehr an das Phänomen der Willensschwäche; es geht ihm nicht darum, dass wir wider die eigene Vernunft – wider unsere vernünftigen Überzeugungen – handeln können, weil wir von Begierden oder Impulsen überwältigt werden. Engstrom hat darauf hingewiesen, dass es Kant zufolge die menschliche „Vernunft“ selbst ist, die nicht notwendig dem moralischen Gesetz gemäß ist.²²⁴ Worin aber besteht diese Schwäche der menschlichen praktischen Vernunft und welche Funktion erfüllt in diesem Kon-
224 Vgl. Engstrom 2010, 94 ff. – Man könnte versucht sein, die erste Form von Willensschwäche in Bezug auf moralisches Handeln mit Kants Begriff einer „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ (Religion 6:29.24) zu identifizieren. In diesem Fall nehme ich „das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür auf; aber dieses, welches objectiv in der Idee (in thesi) eine unüberwindliche Triebfeder ist, ist subjectiv (in hypothesi), wenn die Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung)“ (Religion 6:29.26 ff.). Doch wenn wir mit Kant annehmen, dass die freie Willkür „durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“ (Religion 6:24.1 ff.), dann ist es schwierig diesen Fall der Gebrechlichkeit zu erklären. Denn entweder handelt der gebrechliche Mensch nicht frei, wenn er sich nicht nach seiner eigenen Maxime richtet, oder er handelt aus Neigung und hat das Gute eben nicht in seine Maxime aufgenommen (vgl. zu diesem Problem Willaschek 1992, 239 ff.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
text die Triebfeder des menschlichen Willens? Eine zweite Schwierigkeit stellt der zentrale Gedanke des Arguments dar, den Kant bereits im ersten Satz artikuliert. Kant scheint es als bereits bewiesen zu betrachten, dass beim sittlich guten Handeln das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmen muss. Es ist allerdings nicht leicht, diese Prämisse zu explizieren, ohne dabei die Schlussfolgerung von Kants Argument bereits vorauszusetzen, der zufolge nur das moralische Gesetz die Triebfeder moralischen Handelns sein kann. Ein Handeln, das auf der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz beruht (und also Moralität enthält), scheint nichts anderes zu sein als ein Handeln „aus Achtung fürs Gesetz“ (KpV 5:81.23). Ich beginne meine Diskussion mit dieser zweiten Schwierigkeit. Wenn es sich bei Kants Argument nicht um eine petitio principii handeln soll, so kann die Redeweise von der unmittelbaren Willensbestimmung durch das moralische Gesetz nicht einfach nur besagen, dass das moralische Gesetz der subjektive Bestimmungsgrund (also die Triebfeder) des menschlichen Willens ist. Es muss vielmehr möglich sein, diese Formulierung zu erklären, ohne bereits auf den Gedanken eines subjektiven Bestimmungsgrundes des menschlichen Willens zu rekurrieren. Um dieses Problem zu lösen, ist zunächst die Beobachtung wichtig, dass Kant später im Triebfederkapitel drei Aspekte der Willensbestimmung durch das moralische Gesetz unterscheidet: „Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen ist, so ist es auch subjectiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung […]“ (KpV 5:75.20 ff.).
Das moralische Gesetz ist also nicht nur subjektiver Bestimmungsgrund des Willens, sondern zugleich auch sein formaler sowie objektiv-materialer Bestimmungsgrund. Es liegt nahe, die beiden zuletzt genannten Aspekte der moralischen Willensbestimmung auf Kants Ausführungen in den ersten beiden Kapiteln der Kritik der praktischen Vernunft zurückzubeziehen. So hatte Kant im ersten Hauptstück gezeigt, dass das moralische Gesetz die „bloße Form des Gesetzes“ (KpV 5:31.12), also die Verallgemeinerbarkeit der Maxime, zu einem Kriterium der Maximenwahl und damit zu einem Beurteilungskriterium unseres Handelns macht. Unter dieser Rücksicht ist das moralische Gesetz also „formaler Bestimmungsgrund der Handlung“ (KpV 5:75.20 f.). Im zweiten Hauptstück hatte Kant hingegen dargelegt, dass wir dem Willen zugleich einen Gegenstand ‚bestimmen‘, indem wir das moralische Gesetz als Kriterium zur Beurteilung unserer Handlungen verwenden (vgl. KpV 5:57 ff.).
§ 1 Unmittelbare Bestimmung des Willens
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Gerade die zuletzt angeführte These Kants ist schwierig zu explizieren. Immerhin lässt sie sich anhand von zwei Beispielen verdeutlichen. Wenn ich feststelle, dass ich das Depositum eines verstorbenen Bekannten nicht einfach behalten darf (vgl. KpV 5:27 f.), dann kann der Besitz des mir überlassenen Gegenstandes auch nicht mehr eine Materie meines vernünftigen Wollens sein. Unter dieser Rücksicht schränkt hier das Verbot nicht nur mein Handeln, sondern auch die Materie meines vernünftigen Wollens ein.²²⁵ Umgekehrt ergeben sich aus der moralischen Beurteilung aber auch Gründe dafür, eine „Materie zum Willen hinzuzufügen“ (KpV 5:34.28 f.). Dies zeigt Kants Begründung unserer Pflicht zur Nächstenliebe (vgl. KpV 5:34.19 ff.). Meine eigene Maxime der Selbstliebe kann ich nur verallgemeinern, wenn ich auch die Glückseligkeit anderer Wesen der Materie meines Wollens hinzufüge. Die moralische Beurteilung unserer Handlungen ist also mit einer Einschränkung bzw. Erweiterung der Materie unseres Wollens verbunden, und unter dieser Rücksicht ist das moralische Gesetz nicht nur formaler, sondern auch „materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen“ (KpV 5:75.22 f.).²²⁶
225 Der Begriff einer Materie bzw. eines Gegenstandes des Willens (vgl. KpV 5:27) unterscheidet sich vom Begriff der Materie des Begehrungsvermögens (vgl. KpV 5:21.17 f.). Dies zeigt das Beispiel vom Depositum: Die reine praktische Urteilshandlung schränkt zwar die Materie des Willens ein; sie hat aber nicht zur Folge, dass ich meine Begierde nach dem Gegenstand aufgebe. Denn ich kann nicht beeinflussen, welche Gegenstände ich in einer Lust angenehm finde, und aus diesem Grund kann ich auch nicht meine Begierde nach Gegenständen einfach aufgeben. In einem weiten Sinn können wir eine solche Begierde daher als ‚Wunsch‘ bezeichnen. Meist bezeichnet Kant solche Fälle als Wünsche, in denen wir etwas physisch Unmögliches begehren, (wenn wir etwa wünschen, „das Geschehene ungeschehen zu machen“, KU 5:178.17 f. Anm.; vgl. Höwing 2013). Begierden, die das moralisch Unmögliche – also etwas, dessen wir uns nur durch eine moralisch verbotene Handlung bemächtigen können – zum Gegenstand haben, lassen sich aber auch als ‚Wunsch‘ bezeichnen, weil aus ihnen, wie aus den eigentlichen Wünschen, niemals ein im vollen Sinn rationales Wollen werden kann. Kant spricht von einem „Wunsch“, welcher „dem reinen objectiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann“ (KpV 5:32.27 ff.). 226 Es stellt sich die Frage, ob Kant zufolge jede moralische Beurteilung die Materie des Willens modifiziert. Dies scheint nicht der Fall zu sein. Wenn wir feststellen, dass eine Handlung erlaubt ist, dann haben wir moralisch geurteilt, aber die Materie des Wollens nicht modifiziert. Allerdings spricht Kant ja auch nur davon, dass das moralische Gesetz „materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen“ (KpV 5:75.22 f.; H. v. m.) ist. Die „alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft“, so heißt es ähnlich im Gegenstandskapitel, „sind also die vom Guten und Bösen“ (KpV 5:58.6 f.). In der moralischen Beurteilung bestimmen wir dem Willen nur dann ein Objekt, wenn wir zu einem Urteil über eine sittlich gute (gebotene) oder über eine sittlich böse (verbotene) Handlung kommen.
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Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein weiterer wichtiger Punkt. Formale und objektiv-materiale Willensbestimmung stellen für Kant im Grunde zwei Aspekte der moralischen Beurteilung unserer eigenen Handlungen dar. Sie sind folglich Aspekte einer praktischen Überlegung, in der wir aufgrund des moralischen Gesetzes ein moralisches Urteil fällen, dem zufolge eine uns mögliche Handlung geboten oder verboten ist. Tatsächlich spricht Kant im Triebfederkapitel sogar von der unmittelbaren Bestimmung des Willens „im Urtheile der Vernunft“. So beginnt er eine seiner zahlreichen Erklärungen der Genese des moralischen Gefühls mit folgendem Satz: „Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objectiv und unmittelbar den Willen im Urtheile der Vernunft“ (KpV 5:78.22 ff.). Das moralische Gesetz, heißt es dann wenig später, ist aber „doch objectiv, d. i. in der Vorstellung der reinen Vernunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV 5:79.1 f.).²²⁷ Diese Formulierungen legen die Annahme nahe, dass sich Kants Redeweise von der unmittelbaren Willensbestimmung durch das moralische Gesetz nicht einfach nur auf dessen Funktion als Triebfeder bzw. als subjektiver Bestimmungsgrund bezieht. Die unmittelbare Bestimmung des Willens ist vielmehr ein Aspekt der reinen praktischen Urteilshandlung, also jener Form von praktischer Überlegung, in der wir entscheiden, ob eine Handlung an sich gut oder böse ist.²²⁸ 227 Schon Timmermann hat darauf hingewiesen, dass Kant das praktische Urteil im Sinn hat, wenn er von der objektiven Willensbestimmung spricht, vgl. Timmermann 2003, 196. – Auch an anderer Stelle betont Kant, dass das Gefühl der Achtung auf dem Urteil der Vernunft bzw. auf der objektiven Willensbestimmung in diesem Urteil beruht. Das moralische Gefühl der Achtung ist nur „durch eine vorhergehende (objective) Willensbestimmung und Causalität der Vernunft[] möglich“ (KpV 5:80.32 f.). Darüber hinaus rekurriert Kant auf das eigene Urteil bzw. das Urteil der Vernunft, um das komplementäre Verhältnis von Schmerz bzw. Demütigung und dem positivem Gefühl der Achtung zu erklären (vgl. KpV 5:74.23 f.; 5:75.14; 5:76.3 f.; vgl. hierzu § 7 dieses Kapitels). 228 Da diese Form der Beurteilung letztlich auf die Frage zielt, „ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, oder nicht“ (KpV 5:57.22), kann man auch von einer reinen praktischen Beurteilung oder einer reinen praktischen Urteilshandlung sprechen. Diese Beurteilung ist Kant zufolge letztlich eine „Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung zu wollen, wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urtheilen muß), ein gewisses Object wirklich werden würde“ (KpV 5:57.23 ff.). Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von der „moralische[n] Möglichkeit der Handlung“ (KpV 5:58.3 f.). Diese Ausführungen sind nun allerdings nicht so zu verstehen, dass die gute Handlung lediglich eine moralisch mögliche (also eine erlaubte) Handlung ist. Wenn wir eine Handlungsmaxime auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin prüfen, dann kann das Ergebnis darin bestehen, dass das ihr gemäße Handeln erlaubt oder verboten ist, (weil die Maxime entweder verallgemeinerbar oder nicht-verallgemeinerbar ist). Wenn es nun verboten ist, dann ist das praktische Gegenteil dieses Handelns geboten. Es ist dieser letzte Fall, den Kant bei der Beurteilung des an sich Guten im Auge hat.
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Bei der „Beurtheilung des an sich Guten und Bösen“ (KpV 5:62.8) wird, so Kant im zweiten Hauptstück, „ein Vernunftprincip […] schon an sich als der Bestimmungsgrund des Willens gedacht, ohne Rücksicht auf mögliche Objecte des Begehrungsvermögens (also blos durch die gesetzliche Form der Maxime), alsdann ist jenes Princip praktisches Gesetz a priori, und reine Vernunft wird für sich praktisch zu sein angenommen. Das Gesetz bestimmt alsdann unmittelbar den Willen, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut, ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht gut, und die oberste Bedingung alles Guten“ (KpV 5:62.10 ff.).
Kant erklärt an dieser Stelle, worin die „Beurtheilung des an sich Guten und Bösen“ besteht, und in diesem Zusammenhang taucht erneut die Aussage auf, dass das Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt. Es ist allerdings nicht ganz einfach, die Bedeutung dieser Formulierung zu entschlüsseln. In einem ersten Sinn geht es wohl um die kriterielle Funktion des moralischen Gesetzes bei der Beurteilung des Guten und Bösen. Diese Funktion ist nicht von einer empirischen Voraussetzung, also von der Lust am Gegenstand der Handlung, abhängig.²²⁹ Dies wiederum liegt daran, dass das moralische Gesetz ein bloß formales Kriterium praktischen Urteilens darstellt – entscheidend ist lediglich „die gesetzliche Form“ der Maxime. Im Fall der empirisch-praktischen Beurteilung kommt der Regel der Vernunft zwar ebenfalls die Funktion eines Beurteilungskriteriums zu, doch diese Funktion ist geknüpft an „eine materiale (mithin empirische) Bedingung“ (KpV 5:34.3), die darin besteht, dass die urteilende Person einen Gegenstand in einer Lust begehrt. Ist dies nicht der Fall, so stellt die entsprechende Handlungsregel kein Kriterium zur Unterscheidung von guten und schlechten Handlungen dar – sie ist nur eine Regel der Geschicklichkeit und keine praktische Vorschrift.²³⁰ Voraussetzung der kriteriellen Funktion hypothetischer Imperative ist die ästhetische Beurteilung des Angenehmen, die ihrerseits nicht noch einmal auf einem begrifflichen Kriterium, sondern auf einem sinnlichen Gefühl beruht.²³¹ Kant
229 Hierauf hat schon Timmermann 2003, 198, hingewiesen. 230 Tatsächlich scheint dies der Grund dafür zu sein, warum Kant praktische Vorschriften von theoretischen Regeln der Geschicklichkeit unterscheidet. Eine praktische Vorschrift ist ein Kriterium der praktischen Beurteilung; eine theoretische Regel der Geschicklichkeit hingegen kann allenfalls Kriterium zu theoretischen Urteilen – etwa zu allgemeinen theoretischen Prinzipien der Selbstliebe (vgl. Kap. 4, § 6) – sein. 231 Dem entspricht Kants Kritik an der Vorgehensweise der materialen Ethik: „Gesetzt, wir wollten nun vom Begriffe des Guten anfangen, um davon die Gesetze des Willens abzuleiten, so würde dieser Begriff von einem Gegenstande (als einem guten) zugleich diesen als den einigen Bestimmungsgrund des Willens angeben. Weil nun dieser Begriff kein praktisches Gesetz a priori zu seiner Richtschnur hatte, so könnte der Probirstein des Guten oder Bösen in nichts anders,
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
spricht davon, dass in einem solchen Fall ein Gesetz den Willen „vermittelst“ eines Gefühls der Lust bestimmt.²³² Dies scheint allerdings noch keine ausreichende Beschreibung von Kants Idee einer unmittelbaren Willensbestimmung zu sein. Denn die reine praktische Beurteilung stellt – als unmittelbare Willensbestimmung – nicht nur ein alternatives Verfahren zur Begründung von praktischen Urteilen dar. Andrews Reath hat in einem wichtigen Aufsatz darauf hingewiesen, dass der Kern von Kants Theorie der Achtung vor dem Sittengesetz in dem einschränkenden Charakter moralischer Gründe zu suchen ist. Kant zufolge erkennen wir das moralische Gesetz als einen Ursprung von praktischen Gründen an, die alle anderen zweckrationalen praktischen Gründe überwiegen.²³³ Kant scheint diese Idee im Triebfederkapitel nicht selbst zu entwickeln, sondern als bereits bewiesen vorauszusetzen. So lässt sich jedenfalls eine Bemerkung im Triebfederkapitel verstehen, in welcher Kant auf seine eigene Theorie praktischer Beurteilung im zweiten Hauptstück zurückverweist:
als in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden […]“ (KpV 5:63.11 ff.). 232 Wenn – so Kants Kritik an der bisherigen Moralphilosophie – der „Gegenstand des Willens“ zur „Materie und dem Grunde eines Gesetzes“ gemacht wird, so ist dieses Gesetz „nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes der Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV 5:64.9 ff.). Augenfällig ist die Tatsache, dass Kant selbst in diesem Fall vom Gesetz spricht. Dies ist nicht so zu verstehen, dass das Beurteilungskriterium in diesem Fall ein praktisches Gesetz ist; der Wille gibt, wie Kant in einem ähnlichen Kontext erklärt, sich hier „nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze“ (KpV 5:33.27 ff.). Im zweiten Satz des Triebfederkapitels spricht Kant davon, dass die Willensbestimmung „zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls“ geschieht. Es liegt nahe, diesen Fall auf folgende Weise zu beschreiben: Das Kriterium der zugrunde liegenden praktischen Urteilshandlung ist das moralische Gesetz; wir müssen allerdings zugleich eine Lust am begehrten Gegenstand als Handlungsmotiv voraussetzen, damit wir nach dem moralischen Urteil handeln. Ich denke jedoch, dass diese Beschreibung irreführend ist. Vielmehr beruht hier das praktische Urteil, nach dem wir letztlich handeln, auf einer praktischen Vorschrift, die ihrerseits eine Lust am Gegenstand voraussetzt. Wir handeln in diesem Fall also gar nicht nach einem rein moralischen Urteil; vielmehr ist das Handeln, das aus der empirischen Urteilshandlung entspringt, nur legal, also äußerlich dem moralischen Gesetz gemäß (vgl. KpV 5:33.21 ff.). 233 Reath zufolge besteht der intellektuelle Aspekt der Achtung darin, dass wir uns dieser Funktion des moralischen Gesetzes bewusst werden: „To be moved by, or to act out of, respect is to recognize the Moral Law as a source of value, or reasons for action, that are unconditionally valid and overriding relative to other kinds of reasons; in particular, they outweigh the reasons provided by one’s desires“ (Reath 1989b, 287; vgl. Allison 1990, 123).
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„Wir haben im vorigen [also dem zweiten – T. H.] Hauptstücke gesehen: daß alles,was sich als Object des Willens vor dem moralischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgründen des Willens unter dem Namen des unbedingt Guten durch dieses Gesetz selbst, als die oberste Bedingung der praktischen Vernunft, ausgeschlossen werde, und daß die bloße praktische Form, die in der Tauglichkeit der Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung besteht, zuerst das, was an sich und schlechterdings gut ist, bestimme und die Maxime eines reinen Willens gründe, der allein in aller Absicht gut ist“ (KpV 5:74.1 ff.).
Kant bezieht sich hier ebenfalls auf seine Theorie der praktischen Beurteilung von Handlungen, welche er im zweiten Hauptstück entwickelt hat. Kants Aussage ist nicht ganz einfach zu verstehen, die Grundidee scheint aber tatsächlich zu sein, dass mit dem moralischen Urteil über verbotene und gebotene Handlungen eine Einschränkung der empirisch-praktischen Vernunft verbunden ist. Wenn wir in der praktischen Beurteilung einsehen, dass die Annahme einer bestimmten Maxime und folglich auch ein entsprechendes Handeln geboten oder verboten ist, so werden zugleich alle zweckrationalen Erwägungen, die aus Sicht der empirischpraktischen Vernunft für oder gegen ein derartiges Handeln sprechen, als Gründe für oder gegen die Annahme der Maxime ausgeschlossen. Kants Redeweise vom ‚Ausschluss‘ und der ‚obersten Bedingung der praktischen Vernunft‘ ist noch eindeutiger als die Rede von ‚überwiegenden‘ Gründen. Denn wir könnten letztere Formulierung so verstehen, dass wir hier konfligierende Gründe gegeneinander abwägen und vernünftigerweise aus dem stärksten, nämlich moralischen Grund handeln sollten. Allerdings spricht vieles dafür, dass ein solches Gegeneinander-Abwägen von Gründen für Kant letztlich nicht das Charakteristikum einer moralischen, sondern eher einer empirisch-praktischen Überlegung darstellt. In dem zuletzt genannten Fall denken wir darüber nach, welche Handlungsoption besser zur Beförderung unserer Glückseligkeit geeignet ist, d. h. von welcher Handlungsoption wir die jeweils größere Annehmlichkeit erwarten dürfen (vgl. Kap. 4, § 9). Moralische Gründe funktionieren hingegen auf eine andere Weise. Wenn ich einsehe, dass ein bestimmtes Handeln bzw. die Annahme einer Maxime moralisch geboten ist, so erkenne ich an, dass es aus vernünftiger Sicht nur einen einzigen Grund für dieses Handeln geben kann und dass alle anderen vermeintlichen Ratschläge der Klugheit gar keine Rolle in meiner Überlegung spielen sollten.²³⁴
234 Korsgaard argumentiert ebenfalls gegen die Ansicht, dass nicht-moralische Gründe von moralischen Gründen überwogen werden. Die Natur moralischer Gründe lässt sich nicht im Rekurs auf ein „,weighing‘ model of reasons“ erklären (Korsgaard 2009, 51, vgl. 49 ff.). Dass Kant zufolge nur die nicht-moralische praktische Überlegung diesem ‚weighing model‘ folgt, zeigt folgende Aussage aus dem Gemeinspruch: „Hingegen wenn ein gewisser Zweck zum Grunde gelegt wird, mithin kein Gesetz unbedingt (sondern nur unter der Bedingung dieses Zwecks)
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Aus einer moralischen Überlegung ergibt sich demzufolge nicht nur ein Anspruch an mein eigenes Handeln; ich sehe hier nicht nur ein, warum es gut oder schlecht wäre, eine Handlung auszuführen bzw. zu unterlassen. Die moralische Überlegung stellt zugleich einen Anspruch an meine eigene empirisch-praktische Vernunft. Ein Ratschlag der Klugheit, der aus Sicht der empirisch-praktischen Vernunft für ein bestimmtes Handeln votiert, ist überhaupt nur dann ein Grund für dieses Handeln, wenn es keine moralischen Gründe für oder gegen dieses Handeln gibt, d. h. wenn dieses Handeln nicht ge- oder verboten ist. Wir haben im vorangegangenen Kapitel gesehen, dass wir in der empirisch-praktischen Überlegung letztlich durch ein Verfahren rationaler praktischer Interpretation unsere Begierde nach dem Gegenstand zu einem objektiven Bestimmungsgrund des Willens ‚machen‘ können (vgl. Kap. 4, § 10). Ausgehend von einer Lusterfahrung können wir in einem rationalen Verfahren eine praktische Vorschrift bilden, die dann als ein Kriterium der praktischen Beurteilung der uns möglichen Handlungsalternativen fungiert. Die reine praktische Beurteilung stellt nun nicht nur ein alternatives Verfahren dar, in welchem wir uns der Gründe bewusst werden, die für ein bestimmtes Handeln bzw. die Wahl einer Maxime sprechen. Sie schränkt zugleich die empirisch-praktische Überlegung selbst ein, indem „alles, was sich als Object des Willens vor dem moralischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgründen des Willens […] ausgeschlossen“ wird (KpV 5:74.1 ff.). Dieser Grundgedanke Kants lässt sich verdeutlichen, wenn man ihn auf die beiden bereits angesprochenen Beispiele anwendet. Besonders einleuchtend ist der Gedanke natürlich in Fällen, in denen es zu einem eindeutigen Konflikt zwischen empirisch-praktischer und reiner praktischer Überlegung kommt. Hier lässt sich das Beispiel vom Depositum anführen, das mir ein mittlerweile verstorbener Bekannter im Vertrauen überlassen hat. Wenn ich es mir zur Maxime gemacht habe, mein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern, dann ist dies natürlich der „Fall meiner Maxime“ (KpV 5:27.26). Da aus Sicht der empirischpraktischen Vernunft der Einbehalt des Depositums ein sicheres Mittel zur Bereicherung wäre, scheine ich über einen Grund zu verfügen, den Gegenstand zu behalten. Das moralische Urteil, dem zufolge ich das Depositum nicht behalten
gebietet, so können zwei entgegengesetzte Handlungen beide bedingterweise gut sein, nur eine besser als die andere (welche letztere daher comparativ-böse heißen würde); denn sie sind nicht der Art, sondern bloß dem Grade nach von einander unterschieden. Und so ist es mit allen Handlungen beschaffen, deren Motiv nicht das unbedingte Vernunftgesetz (Pflicht), sondern ein von uns willkürlich zum Grunde gelegter Zweck ist: denn dieser gehört zur Summe aller Zwecke, deren Erreichung Glückseligkeit genannt wird; und eine Handlung kann mehr, die andere weniger zu meiner Glückseligkeit beitragen, mithin besser oder schlechter sein als die andere“ (Gemeinspruch 8:282.15 ff.).
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darf, erfüllt in diesem Kontext nun zwei Funktionen: Zunächst sehe ich ein, dass ich das Depositum nicht behalten darf, weil sich meine spezielle Maxime (ein mir überlassenes Depositum nicht wieder zurückzugeben) als Gesetz betrachtet selbst vernichtet. Ich sehe also ein, dass es einen Grund dafür gibt, das Depositum nicht als mein Eigentum zu betrachten. Doch mit dieser Einsicht erkenne ich zugleich an, dass jede Erwägung, die aus Sicht der empirisch-praktischen Vernunft gegen eine derartige Rückgabe spricht, in meiner praktischen Überlegung überhaupt keine Rolle mehr spielen kann. Die Tatsache, dass der Besitz des Depositums mein Vermögen auf sichere Weise vergrößert, stellt also keinen Grund mehr dafür da, das Depositum zu behalten. Allerdings scheint der Grundgedanke Kants auch solche Fälle zu umfassen, in denen Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft das moralische Urteil über eine gebotene oder verbotene Handlung zumindest auf den ersten Blick unterstützen. Dies lässt sich anhand von Kants Ausführungen über die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit zeigen, die wir in einer Anmerkung im ersten Hauptstück finden (vgl. KpV 5:34 f.19 ff.). In diesem Fall kann ich einsehen, dass ein solches Handeln durch das moralische Gesetz geboten ist. Denn die Maxime der Selbstliebe, die ich notwendig habe, kann nur dann eine gesetzliche Form erhalten,wenn ich in meinen Handlungsplänen auch die Beförderung der fremden Glückseligkeit berücksichtige. Nun lassen sich aus der Perspektive der empirischpraktischen Beurteilung ebenfalls prima-facie-Gründe dafür anführen, die Zwecke der anderen tatkräftig zu befördern. Ein solches Verhalten, könnte ich annehmen, würde ein „Bedürfniß“ befriedigen, das aus meiner „sympathetische[n] Sinnesart“ (KpV 5:34.23) resultiert. Doch ein derartiger Grund wird durch die reine praktische Beurteilung der entsprechenden Handlungsmaxime ausgeschlossen. Denn „dieses Bedürfniß kann ich nicht bei jedem vernünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen“, und aus diesem Grund „kann zwar die Materie der Maxime bleiben, sie muß aber nicht die Bedingung derselben sein, denn sonst würde diese nicht zum Gesetze taugen“ (KpV 5:34.24 ff.). Selbst wenn sich aus der Perspektive der empirisch-praktischen Vernunft Erwägungen zugunsten eines altruistischen Verhaltens anführen lassen, gibt es nur einen einzigen, nämlich einen moralischen Grund dafür, dass ich mir die Beförderung der Glückseligkeit anderer Menschen zur Maxime machen soll.²³⁵
235 Vgl. folgende Aussage Kants über das Mitleid: „Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Theilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein“ (KpV 5:118.18 ff.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Ich werde nicht versuchen, die schwierige Frage zu beantworten, welcher Aspekt des moralischen Gesetzes Kant zufolge dafür verantwortlich ist, dass moralische Gründe den angesprochenen Anspruch von Ausschließlichkeit haben. An dieser Stelle geht es mir eher um das Argument, das Kant an den Beginn des Triebfederkapitels stellt und das augenscheinlich den Gedanken der unmittelbaren Willensbestimmung voraussetzt. Die Aussage Kants, der zufolge der sittliche Wert einer Handlung in der unmittelbaren Willensbestimmung durch das moralische Gesetz besteht, betrifft einen Aspekt der moralischen Beurteilung unserer Handlungen. In einem moralischen Urteil über eine gebotene Handlung werden wir uns zunächst einmal der Tatsache bewusst, dass es einen wichtigen Grund für das Ausführen dieser Handlung gibt. Das Urteil fordert von uns auf eine entsprechende Weise zu handeln und z. B. das Depositum zurückzugeben oder die Glückseligkeit anderer tatkräftig zu befördern. Darüber hinaus formuliert das moralische Urteil auch einen Anspruch an unsere praktische Vernunft selbst. Wenn wir erkennen, dass ein bestimmtes Handeln geboten ist, so dürfen wir den empirisch-praktischen Erwägungen, die sich uns wie von selbst als mögliche Gründe für oder gegen dieses Handeln darbieten, keinen Einfluss mehr auf unsere praktische Überlegung einräumen und sie folglich auch nicht mehr bei der Maximenwahl berücksichtigen. Das „Wesentliche“ des sittlichen Werts einer Handlung besteht also nicht nur darin, dass unser äußeres Handeln der Forderung des moralischen Urteils entspricht (und in diesem Sinn legal ist). Darüber hinaus dürfen wir bei der vernünftigen Wahl unserer Maxime bzw. einer Handlungsalternative nur einen einzigen, nämlich den moralischen Grund berücksichtigen. Das praktische Urteil, auf dem die Wahl unserer Maxime und unser pflichtmäßiges Handeln beruhen, muss also ein rein moralisches Urteil sein.²³⁶
236 Ein bloß legales Handeln beruht also auf einem nicht-moralischen, aber dennoch auf einem praktischen Urteil, in welchem wir das gebotene Handeln aus einem weiteren nichtmoralischen Grund als gut betrachten. Dem entspricht Kants Ausdeutung des nihil appetimus, nisi sub ratione boni: „[…] [W]ir wollen nach Anweisung der Vernunft nichts, als nur so fern wir es für gut oder böse halten“ (KpV 5:60.6 f.). Kant zufolge aber geschieht die Wahl einer Maxime immer nach Anweisung der Vernunft (also nach einer Handlungsregel). Die Maxime „enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjects gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject handelt“ (GMS 4:420 f.37ff Anm.). Wir können daher in einem sehr groben Sinn eine Maxime als ein ‚abschließendes‘ praktisches Urteil über das Gute kennzeichnen, nach welchem das Subjekt tatsächlich handelt. – Engstrom charakterisiert die Legalität ebenfalls im Rekurs auf das Urteil; im Vordergrund steht dabei allerdings nicht der ausschließende Charakter der Gründe, sondern die Forderung, dass mein Wollen notwendig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt: „If my choices conform to the moral law only through a judgment that such conformity will promote my happiness or further some other antecedently determined object of
§ 2 Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft
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§ 2 Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft Wie bereits angedeutet ergibt sich aus Kants Argumentation zu Beginn des Triebfederkapitels eine weitere Schwierigkeit. Kant definiert die Triebfeder als den „subjective[n] Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetze nothwendig gemäß ist“ (KpV 5:72.1 ff.). Um diese Charakterisierung der Triebfeder zu verstehen, ist die Deutung hilfreich, die Engstrom vorgeschlagen hat (vgl. Engstrom 2010, 93 – 98). Engstrom weist zunächst darauf hin, dass sich Kants Erklärung der Triebfeder auf eine Schwäche des endlichen Vernunftwesens bezieht.²³⁷ Engstrom zufolge handelt es sich dabei aber nicht um einen klassischen Fall von Willensschwäche, also um eine Diskrepanz zwischen unserem vernünftigen Wollen und dem tatsächlichen Handeln. Vielmehr liegt diese Schwäche in der praktischen Vernunft selbst, die bei einem endlichen Wesen zumindest nicht notwendig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt.²³⁸ In einem eher kantischen Sinn können wir aber auch von einer Schwäche des Willens sprechen, wenn wir nämlich berücksichtigen, dass für Kant der Wille nichts anderes ist als die praktische Vernunft.²³⁹ Nach Engstrom besteht diese Schwäche darin, dass es dem menschlichen Wollen zumindest möglich ist, nicht mit dem moralischen Gesetz übereinzustimmen. Die Natur dieses Willens „schließt nicht die Möglichkeit aus, dass er nicht mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt, indem er etwas will, was das moralische Gesetz verbietet, oder indem er etwas nicht will, was es fordert“.²⁴⁰
my will, the conformity will lack the requisite necessity, and my actions will be legal, but not moral“ (Engstrom 2010, 97). 237 Engstrom spricht von einem „Mangel an Vollkommenheit“ („lack of perfection“) oder einer „Unvollkommenheit“ („imperfection“), Engstrom 2010, 94. 238 „Because the lack of perfection under consideration resides in the relation practical reason, or the will, bears to its own objective law rather than in its relation to the action that results, it is clear that Kant is not just thinking of the deficiency Aristotle called akrasia, a mere defect in respect of execution“ (Engstrom 2010, 94). 239 Vgl. Engstrom 2010, 94: „And since Kant identifies practical reason with the will, we can also attribute it [this lack of perfection – T. H.] to the will, as Kant himself does when, in the Groundwork of the Metaphysics of Morals, he marks a distinction between perfectly and imperfectly good wills (G:412– 14)“. 240 Engstrom 2010, 94; Übers. T. H. – Im englischen Original lautet die Stelle: „Rather, he [Kant – T. H.] has in mind a will whose nature does not rule out the possibility that it might fail to agree with that law, by willing what it forbids or not willing what it requires“ (Engstrom 2010, 94). Diese Formulierung ist vielleicht etwas missverständlich, denn, wie Engstrom später deutlich macht, geht es hier nicht nur um die Legalität einer Handlung. Das menschliche Wollen stimmt auch dann nicht mit dem moralischen Gesetz überein, wenn die Wahl des Richtigen von zweckrationalen Überlegungen geleitet ist (vgl. Engstrom 2010, 97).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Bemerkenswert an Engstroms Deutung ist zunächst die Beobachtung, dass die Schwäche des endlichen Vernunftwesens nicht in der Diskrepanz zwischen der guten Absicht und dem tatsächlichen Tun besteht. Es geht Kant vielmehr um eine Schwäche, welche die endliche praktische Vernunft selbst betrifft. Die endliche praktische Vernunft kann einen Anspruch verfehlen, den das moralische Gesetz an sie stellt. Im Lichte der Überlegungen, die ich im vorangegangenen Abschnitt zur unmittelbaren Willensbestimmung in moralischen Urteilen angestellt habe, können wir vielleicht noch etwas deutlicher angeben, worin diese Schwäche eigentlich besteht. Kant zufolge stellt das moralische Gesetz nicht nur einen Anspruch an unser Tun, sondern auch an unsere eigene empirisch-praktische Vernunft. Mit einem moralischen Urteil wird jede Erwägung der empirischpraktischen Vernunft, die für oder gegen eine Handlung spricht, von der praktischen Beurteilung ausgeschlossen. Die Schwäche unserer endlichen Vernunft besteht nun darin, dass wir diese Vorgabe des moralischen Gesetzes in unserer eigenen Überlegung missachten können. Wir können, mit anderen Worten, eine Erwägung der empirisch-praktischen Vernunft faktisch als einen Grund für oder gegen die Wahl einer Maxime betrachten, obwohl die Wahl dieser Maxime bereits durch das moralische Urteil ge- oder verboten ist. Bedenkt man die Unterscheidung, die Kant an anderer Stelle zwischen Überzeugung und Überredung trifft, so lässt sich diese Schwäche der menschlichen Vernunft vielleicht als eine in ihr selbst liegende Tendenz zur praktischen Selbstüberredung bezeichnen. Während bei einer Überzeugung der Grund eines Urteils „objektiv hinreichend“ ist, wird bei einer Überredung der „Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten“ (KrV A 820/B 848). Engstrom geht ferner davon aus, dass die Schwäche der endlichen Vernunft in der Möglichkeit besteht nicht mit dem moralischen Gesetz übereinzustimmen. Wir sind, mit anderen Worten, fähig zu einem nicht-moralischen Wollen. Engstrom zufolge resultiert diese Möglichkeit aus der Affizierbarkeit unserer Willkür durch sinnliche Antriebe.²⁴¹ Damit ist, wie Engstrom hervorhebt, nicht gemeint, dass das Wollen des endlichen Vernunftwesens durch sinnliche Antriebe oder Neigungen bestimmt wird. In diesem Fall läge die Schwäche nicht mehr in der endlichen praktischen Vernunft selbst.²⁴² Engstrom weist in diesem Zusammenhang auf
241 Vgl. Engstrom 2010, 94 f. 242 Vgl. Engstrom 2010, 95 f. Engstrom weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die menschliche Willkür nicht durch sinnliche Antriebe bestimmt wird (vgl. Engstrom 2010, 95 f. sowie KpV 5:32.26 f.). Eine derartige Sichtweise steht bekanntlich mit Kants Begriff der freien Willkür im Widerspruch, weil diese „durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“ (Religion 6:24.1 ff.). Wir können die Wahl unserer Handlungen von der Befriedigung unserer Begierden abhängig ma-
§ 2 Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft
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Kants Verwendung des Ausdrucks ‚Einfluss‘ hin. Dass eine Neigung Einfluss auf den freien Willen nimmt, beinhaltet eine Form von Zustimmung oder Erlaubnis, also eine freie Wahl.²⁴³ Die Schwäche des endlichen Vernunftwesens ergibt sich Engstrom zufolge also eher aus einem Aspekt der endlichen Freiheit der Willkür. Die Freiheit der menschlichen Willkür beinhaltet, wie Engstrom schreibt, „noch nicht die Wirklichkeit der notwendigen Übereinstimmung [mit dem Gesetz – T. H.], sondern nur die Fähigkeit zu einer solchen Übereinstimmung“ (Übers. T. H.).²⁴⁴ Engstrom weist darauf hin, dass für Kant die Schwäche der endlichen Vernunft letztlich darauf zurückgeht, dass sie auf eine praktische Sinnlichkeit – die Affektion durch Gefühle von Lust und Unlust – angewiesen ist. Obwohl dies natürlich richtig ist, bin ich mir allerdings nicht sicher, ob Engstroms Beschreibung des Mangels unserer endlichen Vernunft als einer bloßen Möglichkeit oder Fähigkeit nicht zu schwach ist. So könnte man sich die Frage stellen, ob die Freiheit unserer Willkür wirklich schon deswegen unvollkommen ist, weil sie ‚lediglich‘ eine Fähigkeit zu einem moralischen Wollen (und nicht dessen Wirklichkeit) beinhaltet.²⁴⁵ Ferner lässt sich fragen, ob Engstroms Beschreibung wirklich die systematische Radikalität von Kants Behauptung herausbringt, der zufolge die Schwäche des endlichen Vernunftwesens in seiner eigenen praktischen Rationalität zu suchen ist. Im Folgenden möchte ich daher eine etwas anders angelegte
chen, doch hierzu müssen wir diese Befriedigung als einen Grund für die Handlungswahl betrachten (vgl. zu diesem Punkt Reath 1989b, 290, 295 ff., sowie Allison 1990, 126). 243 Vgl. Engstrom 2010, 96. – Folgende Überlegung ließe sich noch ergänzen: Eine sinnliche Begierde nach einem Gegenstand kann, wie stark sie auch immer sein mag, als solche gar nicht zu einer Handlungswahl führen. Denn in ihr bleibt unbestimmt, was wir tun müssen, um den begehrten Gegenstand zu realisieren. Der Wille wird, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft schreibt, „durch das Object und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt“, weil er „ein Vermögen ist, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Object wirklich werden kann) zu machen“ (KpV 5:60.16 ff.). Wir müssen also auch im Fall von sehr starken Begierden darüber nachdenken, was wir zur Realisierung des begehrten Gegenstandes unternehmen. 244 „On account of the will’s exposure to pathological affection, this necessary conformity is not already given by virtue of the will’s nature alone, but realized only through self-determination. This freedom is therefore imperfect in the sense that it is not already the actuality of necessary conformity, but only the capacity for such conformity“ (Engstrom 2010, 95). 245 Die Tatsache, dass eine Person die Fähigkeit für eine Aktivität aufweist (z. B. zum Klavierspielen), scheint noch nicht unbedingt eine Unvollkommenheit zu beinhalten. Wir müssten also eher davon ausgehen, dass die menschliche Freiheit zugleich die Fähigkeit zu ihrem Missbrauch, also zum nicht-moralischen Wollen, enthält, d. h. dass sie uns dazu in die Lage versetzt, den sinnlichen Antrieben einen Einfluss auf unser Wollen zu gestatten (vgl. ähnlich Allison 1990, 122). Doch dieser Gedanke ergibt sich, wie Kant in der Metaphysik der Sitten festhält, nicht aus dem Begriff der menschlichen Freiheit als einem Vermögen der Willensbestimmung durch reine praktische Vernunft (vgl. MS 6:226 f.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Beschreibung vorschlagen. Meiner Deutung zufolge besteht die Schwäche der endlichen Vernunft zunächst nicht nur in einer Möglichkeit, sondern in einer Tendenz, den Anspruch des moralischen Gesetzes zu verfehlen. Wir tendieren als endliche Vernunftwesen unweigerlich dazu, unsere eigene Bedürftigkeit in der praktischen Überlegung schon als Grund für die Wahl einer Handlungsmaxime anzusehen. Dabei wird sich auch zeigen, dass diese Tendenz gar keine psychologische Tatsache darstellt. Sie betrifft nicht die individuelle Person, die aufgrund von Antrieben und Neigungen ihre eigene Freiheit missbrauchen kann, sondern die Struktur der endlichen praktischen Vernunft selbst. Bereits im vorangegangenen Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass sich ein endliches Vernunftwesen nach Kant notwendig die eigene Glückseligkeit als Zweck setzen und sich in diesem Sinn am Prinzip der Selbstliebe orientieren muss (vgl. Kap. 4, § 10). Diese Einsicht ergibt sich aus dem Begriff eines endlichen Vernunftwesens. Zwischen der Endlichkeit dieses Wesens und seiner Vernünftigkeit besteht ein normativer Zusammenhang, den wir a priori einsehen können. Aus der Endlichkeit dieses Wesens resultiert seine Bedürftigkeit, d. h. die Tatsache, dass die „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein […] nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit“ ist (KpV 5:25.14 f.). Da ein solches Wesen vernünftig und damit selbsttätig ist, fasst es die eigene Bedürftigkeit unweigerlich als ein praktisches „Problem“ (KpV 5:25.17) und als eine „Aufgabe“ (KpV 5:25.22; 5:25.28) auf, die es durch seine eigene rationale Aktivität aufzulösen hat. Die Beförderung der eigenen Glückseligkeit ist folglich „ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“ (KpV 5:25.13 f.) und, wie Kant an anderer Stelle formuliert, ein „nicht abzulehnende[r] Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit“ (KpV 5:61.26 f.). Das endliche Vernunftwesen steht mithin unter dem Anspruch, seine rationale Aktivität in den Dienst der Befriedigung seiner Neigungen zu stellen. Dabei kommt der praktischen Sinnlichkeit – also dem sinnlichen Gefühl der Lust und Unlust – eine zentrale Rolle zu. Denn das Bedürfnis des endlichen Vernunftwesens „betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das,was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird“ (KpV 5:25.17 ff.). Im Triebfederkapitel thematisiert Kant die Selbstliebe des endlichen Vernunftwesens nun erneut. Dabei scheint es ihm vor allem darauf anzukommen, dass die Struktur der Selbstliebe eines endlichen Vernunftwesens bereits in einem potentiellen Konflikt mit dem moralischen Gesetz steht: „Nun finden wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine
§ 2 Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft
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Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei. Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Princip macht, Eigendünkel heißen kann“ (KpV 5:74.8 ff.).
Kants Ziel an dieser Stelle besteht offenkundig darin, die Selbstliebe als eine natürliche Tendenz zu beschreiben, die schon von sich aus in einem potentiellen Konflikt mit dem moralischen Gesetz und seiner Rolle in der praktischen Überlegung steht. Ihren Ursprung hat diese Tendenz darin, dass sich bei uns die „Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) […] zuerst aufdringt“ (KpV 5:74.9 ff.). Die Affektion der Willkür, also die Ausbildung von Begierden und Neigungen, findet statt, bevor wir uns in praktischen Urteilen „Maximen des Willens entwerfen“ (KpV 5:29.34 f.), und ist unter dieser Rücksicht unabhängig vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die Affektion der Willkür vollkommen außerhalb der Reichweite unserer praktischen Rationalität abspielt. Im vorangegangenen Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass für Kant das Gefühl der Lust, in dem die sinnlichen Begierden entstehen, vom endlichen Vernunftwesen nicht als ein neutrales datum aufgefasst werden kann (vgl. Kap. 4, § 10). Denn durch dieses Gefühl wird bestimmt, „was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf“ (KpV 5:25.19 f.) – die endliche Vernunft wird folglich schon im Gefühl beauftragt, ihre eigene Bedürftigkeit zu überwinden. In der sinnlichen Lust betrachten wir die Gegenstände unserer Wahrnehmung bereits als potentielle Zwecke unserer rationalen Aktivität. An der zitierten Stelle aus dem Triebfederkapitel scheint Kant diese Idee noch zu radikalisieren. Er bezeichnet die Selbstliebe als eine Tendenz des endlichen Vernunftwesens, in der praktischen Überlegung die Forderung des moralischen Gesetzes zu ignorieren und ausschließlich zweckrationalen Erwägungen eine Relevanz bei der Maximenwahl zuzuschreiben. So nennt er die Selbstliebe einen „Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“ (KpV 5:74.15 ff.; H. v. m.). Reath hat eine einleuchtende Deutung dieser Formulierung gegeben. Reath zufolge zielt diese Tendenz darauf, die Befriedigung unserer Neigungen schon als objektiv hinreichenden Grund dafür anzusehen, eine bestimmte Handlung zu wählen.²⁴⁶ In der Selbstliebe tendieren wir folglich un-
246 Vgl. Reath 1989b, 291 ff., insb. 293. In seiner Deutung geht es Reath vor allem um die intersubjektiven Implikationen dieses Gedankens. Reath zufolge beinhaltet die Selbstliebe die
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
weigerlich dazu den Anspruch zu ignorieren, den das moralische Gesetz an unsere eigene praktische Vernunft stellt. Diesem Anspruch zufolge fungiert eine Erwägung der empirisch-praktischen Vernunft nur dann als objektiver Grund für oder gegen ein bestimmtes Handeln, wenn dieses Handeln nicht durch das moralische Gesetz geboten oder verboten ist. Die Selbstliebe beinhaltet hingegen die Versuchung, die Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft schon von sich aus als Gründe für oder gegen ein bestimmtes Handeln anzusehen. Kants Redeweise vom Hang, der in der Selbstliebe enthalten ist, lässt an den „Hang zum Bösen“ (Religion 6:37.9) denken, den wir, so Kant im ersten Stück der Religionsschrift, allen Menschen zuschreiben dürfen (vgl. Religion 6:32 ff.). In letzterem Fall handelt es sich um eine „Verkehrtheit des Herzens“ (Religion 6:37.22), die darin begründet liegt, dass der Mensch „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht“ (Religion 6:36.29 f.). Doch diese Aussage zeigt schon, dass der Hang zum Bösen nicht mit der Tendenz in der Selbstliebe verwechselt werden darf. In der Selbstliebe liegt nur die Tendenz dazu, sich bei der Maximenwahl in einer praktischen Überlegung ausschließlich an der Befriedigung der eigenen Neigungen zu orientieren. Diese Tendenz ist für sich noch nicht böse, weil sie ja noch gar keine faktische Entscheidung beinhaltet.²⁴⁷ Im Gegensatz zum radikalen Bösen muss diese Tendenz, da sie ja schon mit der Selbstliebe gegeben ist, den endlichen
Forderung an meine Mitmenschen, dass sie meine subjektiven praktischen Gründe ebenfalls als objektiv auffassen und mein Handeln deswegen billigen: „[…] [S]elf-love is described as the tendency to treat subjective grounds of choice as objective reasons. That is, one’s inclinations, which may provide valid reasons to the subject, are treated as reasons that can be valid for anyone, and could thus lead others to accept the action“ (Reath 1989b, 298). Vgl. Allisons Deutung der zitierten Aussage über die Selbstliebe: „[…] [S]elf-love is to be understood as the tendency to find a reason to act in what promises satisfaction. As such, it is a natural tendency in all finite rational beings“ (Allison 1990, 124). 247 Die Annahme der Maxime der Selbstliebe beinhaltet als solche noch kein moralisches Vergehen. Der Mensch „hängt aber doch auch vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage an den Triebfedern der Sinnlichkeit und nimmt sie (nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf“ (Religion 6:36.7 ff.). Die Forderung der Vernunft besteht vielmehr darin, dass wir die Maxime der Selbstliebe dem moralischen Gesetz unterordnen, d. h. dieser Tendenz nicht nachgeben. Der Mensch ist „nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte“ (Religion 6:36.24 ff.).
§ 2 Die Schwäche der endlichen praktischen Vernunft
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Vernunftwesen darüber hinaus auch notwendig und a priori zukommen.²⁴⁸ Die Bösartigkeit der menschlichen Natur erkennen wir hingegen empirisch, nämlich durch Beobachtung unseres pflichtwidrigen Handelns.²⁴⁹ Sie kann dem Menschen auch nicht notwendig zukommen, da dies mit der Freiheit der Willkür unvereinbar wäre (vgl. Religion 6:32 ff.). Sie besteht darin, dass wir der Tendenz unserer Selbstliebe faktisch nachgeben und die Befolgung des moralischen Gesetzes immer von zweckrationalen Erwägungen abhängig machen, was dann im Fall eines (eindeutigen) praktischen Konflikts von moralischen und nicht-moralischen Gründen zu einem beobachtbaren pflichtwidrigen Handeln führt (vgl. Religion 6:37). Wie bereits Wood und Engstrom gezeigt haben, ist die Bösartigkeit des Menschen also eher mit jener Einstellung gleichzusetzen, die Kant an der zitierten Stelle aus dem Triebfederkapitel als „Eigendünkel“ bezeichnet.²⁵⁰ Im Eigendünkel macht sich die Selbstliebe „gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Princip“ (KpV 5:74.18 f.). Die Tendenz der Selbstliebe ist also im Grunde eine Tendenz zum Eigendünkel.²⁵¹ Letzterer besteht darin, dass wir in unserer prakti-
248 Engstrom interpretiert Kants Aussage über diese Tendenz als empirischen Befund, was vor dem Hintergrund seiner Deutung der Schwäche der endlichen Vernunft als einer bloßen Möglichkeit folgerichtig ist (vgl. Engstrom 2010, 102 f.). Er verweist dabei auf Kants Definition eines Hanges in der Religionsschrift. Bei einem Hang handelt es sich um den „subjectiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist“ (Religion 6:28.27 ff.). Engstrom zufolge dürfen wir aus dieser Aussage den Schluss ziehen, dass ein Hang dem Menschen niemals notwendig und a priori, sondern immer nur zufällig und empirisch zugeschrieben wird (vgl. Engstrom 2010, 103 Anm.). Hier stimmt Engstrom mit Ricken überein, der Kants Aussage über die Selbstliebe und den darin enthaltenen Hang ebenfalls im Rückgriff auf Kants Aussagen über den Hang in der Religionsschrift erläutert (vgl. Ricken 2001, 248). – Allerdings scheint Kant in der Kritik der reinen Vernunft von einem notwendigen Hang zu sprechen. So lehrt uns die Dialektik der reinen Vernunft, „daß die menschliche Vernunft […] einen natürlichen Hang habe, diese Grenze [des Feldes möglicher Erfahrung – T. H.] zu überschreiten“ (KrV A 642/B 670). Zwar ist es nicht notwendig, dass wir die theoretischen Fehlschlüsse der spekulativen Vernunft akzeptieren; doch die Tendenz zu diesen Fehlschlüssen scheint doch immerhin ein notwendiger Hang unserer spekulativen Vernunft zu sein, den wir auch a priori aufdecken können. Ferner ist Kant zufolge die Selbstliebe identisch mit dem Hang subjektive Bestimmungsgründe bereits als objektiv anzusehen (vgl. die Formulierung: „Man kann diesen Hang […] die Selbstliebe nennen“, KpV 5:74.15 ff.). Die Selbstliebe kommt aber, wie Kant an anderer Stelle betont, allen endlichen Vernunftwesen notwendig und damit auch a priori zu. Dass diese Wesen sich die eigene Glückseligkeit zum Zweck machen, ist ein „subjectiv nothwendiges Gesetz“ (KpV 5:25.32). 249 Vgl. Willaschek 1992, 151 ff. 250 Vgl. Engstrom 2010, 111, der auf Wood 1999, 290, verweist. 251 Vgl. Ricken 2001, 248.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
schen Überlegung die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zur obersten und unbedingten Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes machen.²⁵² Nun könnte man sich fragen, warum wir in der Selbstliebe und damit in der endlichen praktischen Vernunft selbst eine solche Tendenz voraussetzen dürfen. Wenn die vorangegangenen Überlegungen zutreffen, so ist Kants Aussage über die Tendenz in der Selbstliebe nicht einfach als eine empirisch Behauptung aufzufassen, welche eine psychische Disposition der Menschen betrifft. Da sich die Selbstliebe bereits a priori aus dem Begriff eines endlichen Vernunftwesens ergibt, muss sich auch die darin enthaltene Tendenz a priori auf die endliche praktische Vernunft – genauer: auf die Struktur dieser Form von Vernunft – zurückführen lassen. Eine derartige Erklärung für das Vorliegen dieser Tendenz lässt sich tatsächlich geben, wenn wir Kants allgemeine Aussagen über die Struktur der endlichen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft berücksichtigen. Dort argumentiert Kant dafür, dass die spekulative Vernunft dazu tendiert den empirischbedingten Erkenntnissen eine rationale Basis zu verschaffen, indem sie diese Erkenntnisse in einem Schlussverfahren auf ein nicht-empirisches Prinzip zurückführt, das selbst unbedingt ist.²⁵³ Dieser Gedanke lässt sich nun auch auf die endliche praktische Vernunft – genauer: auf die empirisch-praktische Vernunft – übertragen. Kant zufolge verfährt die empirisch-praktische Vernunft mit ihren bedingten praktischen Erkenntnissen, also den einzelnen praktischen Vorschriften, auf eine ähnliche Weise wie die spekulative Vernunft mit den theoretischen Erkenntnissen. Sie tendiert unweigerlich dazu, den praktischen Vorschriften eine rationale Basis zu verschaffen, indem sie das Prinzip der Selbstliebe, das diesen Vorschriften zugrunde liegt, als ein unbedingtes Prinzip ausgibt. Dies äußert sich darin, dass wir in der praktischen Überlegung unweigerlich dazu tendieren, den Anspruch des moralischen Gesetzes an unsere eigene Vernunft zu ignorieren. Wir befinden uns – mit anderen Worten – stets in der Versuchung, die praktischen Vorschriften der empirisch-praktischen Vernunft als die alleinigen und ausschließlichen Kriterien zur vernünftigen Beurteilung unserer Handlungen zu betrachten. Dieser Erklärung zufolge ergibt sich die Schwäche, auf die Kant im Rahmen seiner Erläuterung des Triebfederbegriffs verweist, also in einem sehr starken Sinn aus der endlichen Vernunft selbst. Sie resultiert nicht eigentlich aus einer Schwäche der menschlichen Natur, sondern letztlich aus der Struktur der empirisch-praktischen Vernunft. Diese tendiert unweigerlich dazu, den einzelnen 252 Vgl. auch Kants Aussage in der Religion, der zufolge die Selbstliebe, „als Princip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist“ (Religion 6:45.14 f.; vgl. Ricken 2001, 248). 253 Vgl. KrV A 307 f./B 364 sowie Willaschek 2008, 407 ff.
§ 3 Der Begriff der Triebfeder
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praktischen Vorschriften ein eigenes und sicheres rationales Fundament im Prinzip der Selbstliebe zu geben. Zugleich zeigt diese Erklärung auf, worin Kant zufolge eine wichtige Funktion der reinen praktischen Vernunft besteht. Die reine praktische Überlegung, in der wir unsere Maximen im Rekurs auf das moralische Gesetz auf ihre Gesetzestauglichkeit hin prüfen, beinhaltet zugleich eine Kritik der Anmaßungen, zu denen unsere eigene empirisch-praktische Vernunft unweigerlich tendiert. Wie das entsprechende philosophische Projekt hat diese konkrete praktische Selbstkritik „die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen“ (KpV 5:16.4 ff.).²⁵⁴
§ 3 Der Begriff der Triebfeder Die Überlegungen, die ich in den beiden vorangegangenen Abschnitten zu den Hintergründen von Kants Begriff der Triebfeder angestellt habe, betreffen eher die kognitiven Aspekte der praktischen Vernunft. Kants Begriff der Triebfeder beruht auf einer Aussage über die Schwäche des endlichen Vernunftwesens, und diese Schwäche ergibt sich aus dem potentiellen Konflikt zwischen empirisch-praktischer und reiner praktischer Vernunft. Die empirisch-praktische Vernunft ist die Fähigkeit, unsere Begierden und Neigungen bei der vernünftigen Wahl unserer Handlungen zu berücksichtigen. Als solche enthält sie eine Tendenz, eine Rationalitätsbedingung der reinen praktischen Vernunft zu ignorieren und ihre eigenen Erwägungen bereits als hinreichende Gründe zu betrachten, die für oder gegen ein bestimmtes Handeln sprechen. Um nun Kants Aussage zu verstehen, der zufolge nur das moralische Gesetz die Triebfeder des Willens sein kann, müssen wir allerdings nicht nur die kognitiven, sondern auch die desiderativen Aspekte der praktischen Vernunft etwas genauer betrachten. Bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit habe ich dafür argumentiert, dass die empirisch-praktische Vernunft für Kant letztlich identisch ist
254 Reine theoretische Vernunft verhält sich also zu reiner spekulativer Vernunft wie reine praktische Vernunft zu empirisch-praktischer Vernunft. Die theoretische Selbstkritik der reinen Vernunft führt Kant zufolge aber auch zu einem ähnlichen Wechselspiel von Demütigung und Achtung wie die Selbstkritik in der praktischen Überlegung. So heißt es im Kanon der reinen Vernunft: „Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen, und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten. Allein andererseits erhebt es sie wiederum und gibt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disziplin selbst ausüben kann und muß, ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten […]“ (KrV A 795/B 823).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
mit einer besonderen Form von Begehrungsvermögen, nämlich mit einem Begehrungsvermögen nach Begriffen (vgl. Kap. 1, § 6). Diese These Kants habe ich dann auf folgende Weise interpretiert. Bei einem Begehrungsvermögen nach Begriffen muss die empirisch-praktische Überlegung selbst als Aspekt eines kausalen Prozesses angesehen werden, in welchem die Vorstellung eines begehrten Gegenstandes sukzessive Einfluss auf unsere Kräfte erhält. Dieser Prozess beginnt damit, dass in einer Lusterfahrung eine Begierde nach dem Gegenstand entsteht. In dieser Begierde enthält die Vorstellung des Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle, d. h. die Vorstellung treibt uns dazu an den Gegenstand zu verwirklichen (vgl. Kap. 1, §§ 2 ff.). In einem nächsten Schritt können wir durch vernünftige Überlegung bestimmen, auf welche Weise wir handeln müssen, um den Gegenstand hervorzubringen. Das resultierende praktische Urteil stellt nun ebenfalls eine Form von Begehren dar, das allerdings komplexer ist als unsere ursprüngliche Begierde. Das praktische Urteil treibt uns dazu an den begehrten Gegenstand durch einen regelgeleiteten Einsatz unserer Kräfte – d. h. durch ein bestimmtes Handeln – zu verwirklichen. Man könnte folglich sagen, dass Kant eine Zwei-Aspekte-Theorie der empirisch-praktischen Vernunft vertritt. Die empirisch-praktische Überlegung ist einerseits ein kognitiver Akt der Beurteilung, in dem wir zu einem begründeten Urteil kommen, was wir tun sollten, um einen begehrten Gegenstand zu realisieren. Andererseits handelt es sich aber auch um einen kausalen Prozess, in dem wir aus einer ursprünglich sinnlichen Begierde ein komplexeres rationales Wollen ‚machen‘. Dabei ist es allerdings wichtig, sich über zwei Punkte Klarheit zu verschaffen. Erstens ergibt sich die Unterscheidung zwischen einem kognitiven und einem desiderativen Aspekt der empirisch-praktischen Vernunft nur daraus, dass wir zwei Perspektiven auf ein und dieselbe Sache einnehmen. Für Kant ist also der Prozess der Ausbildung eines Wollens nichts anderes als die praktische Überlegung, und das resultierende praktische Urteil ist nichts anderes als das Wollen einer bestimmten Handlung. Zweitens beinhaltet ein solches Wollen noch nicht zwangsläufig eine feste Handlungsabsicht oder einen Entschluss. Dies zeigt folgende Überlegung: Betrachten wir die empirisch-praktische Überlegung für sich allein (also unabhängig von unseren moralischen Urteilen), so liegt unserem Entschluss zu einem bestimmten Handeln eine Abwägung zwischen Handlungsoptionen zugrunde, die mehr oder weniger zur Beförderung unserer Glückseligkeit beitragen und die wir in diesem Sinn als besser oder schlechter beurteilen. Das empirisch-praktische Urteil, nach dem wir faktisch handeln, ist demnach ein Produkt eines Vergleichs zwischen einzelnen praktischen Urteilen. Vernünftigerweise handeln wir hier nach einem abschließenden empirisch-praktischen Urteil, das aus unserer Sicht eine bestimmte Handlungsweise insgesamt gegenüber allen anderen Handlungsalternativen favorisiert.
§ 3 Der Begriff der Triebfeder
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Auch das moralische Urteil stellt Kant zufolge nicht nur eine kognitive Einstellung, sondern zugleich eine Form von Begehren bzw. Wollen dar. Diesen Gedanken Kants, den ich bereits im Rahmen meiner Interpretation von Kants Definition der praktischen Lust angesprochen habe (vgl. Kap. 2, § 2), lässt sich ausgehend von dem Anspruch entwickeln, den das moralische Gesetz an unsere eigene Vernunft stellt. Wenn wir in einem moralischen Urteil erkennen, dass eine bestimmte Handlung moralisch geboten ist, dann ist damit zugleich eine Einschränkung der empirisch-praktischen Beurteilung verbunden. Das moralische Urteil schließt alle empirisch-praktischen Erwägungen als Gründe für die praktische Beurteilung der Handlung aus. Wenn wir dieser Forderung tatsächlich nachkommen würden, so existierte für uns außer der moralischen keine weitere Perspektive mehr, unter der wir das moralische Handeln als gut oder schlecht beurteilen. Aus diesem Gedanken ergibt sich bereits, dass wir die moralische Befolgung des Sittengesetzes nicht indirekt erklären können, also im Rekurs auf die antreibende Rolle eines empirisch-praktischen Urteils. Denn in einer solchen Erklärung würden wir die Forderung unterlaufen, die das moralische Urteil an unsere eigene empirisch-praktische Vernunft stellt.Wir müssen die Befolgung des moralischen Gesetzes also allein im Rekurs auf die antreibende Kraft der reinen praktischen Urteilshandlung erklären und diese als einen Willensakt ansehen. Das menschliche Begehrungsvermögen muss sich in der reinen praktischen Urteilshandlung selbst aktualisieren und uns, indem wir moralisch urteilen, zu dem gebotenen Handeln antreiben.²⁵⁵ Ein ähnlicher Gedanke scheint sich bereits aus Kants Ausführungen im ersten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft zu ergeben. Kant zufolge ist eine formale Willensbestimmung nur dann möglich, wenn der Wille frei ist. Denn die formale Willensbestimmung beruht nicht auf der sinnlichen Affektion durch ein gegebenes Objekt, sondern allein auf dem moralischen Gesetz, d. h. auf der nichtsinnlichen Vorstellung der gesetzmäßigen Form der Maxime.²⁵⁶ Allerdings werden
255 Engstrom entwickelt einen ähnlichen Gedanken, wenn er die Willensbestimmung durch das moralische Gesetz mit einem praktischen Urteil identifiziert: „So it is in such judgments that the moral law determines the will, and through such judgments alone will this law have any further effect in the mind“ (Engstrom 2010, 98). Dies ergibt sich für Engstrom aus der Forderung, dass unser Wollen notwendig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt. Aufgrund dieser Tatsache kann die fragliche Übereinstimmung des Wollens mit dem moralischen Gesetz nicht indirekt hergestellt werden, also etwa durch einen äußeren Anreiz: „If my choices conform to the moral law only through a judgment that such conformity will promote my happiness or further some other antecedently determined object of my will, the conformity will lack the requisite necessity, and my actions will be legal, but not moral“ (Engstrom 2010, 97). 256 Im § 5, also in der Aufgabe I, will Kant zeigen, dass ein Wille, der lediglich durch die gesetzliche Form der Maxime bestimmt werden kann, ein freier Wille sein muss. Die wesentliche
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
wir uns der Freiheit unseres Willens in einem moralischen Urteilsakt nicht unmittelbar bewusst. Wir können uns der Freiheit des Willens „weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung giebt uns nur das Gesetz der Erscheinungen […] zu erkennen“ (KpV 5:29.30 ff.). Unser erster Zugang zur Freiheit des Willens ist vielmehr das unmittelbare Bewusstsein der Forderung des moralischen Gesetzes bei der vernünftigen Wahl unserer Maximen. Dieses normative Bewusstsein stellt sich ein, „so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen“ (KpV 5:29.34 f.). Es führt, eben weil die Vernunft das moralische Gesetz „als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit“ (KpV 5:30.1 ff.).²⁵⁷ Indem wir das moralische Gesetz als das einzige Kriterium der Maximenwahl ansehen, gehen wir – zunächst nur im Modus einer theoretischen Voraussetzung – davon aus, dass unser eigener Wille durch dieses Gesetz in reinen praktischen Urteilen selbst zu einem entsprechenden Handeln angetrieben wird. Das reine praktische Urteil ist demnach nicht nur das Ergebnis einer vernünftigen Überlegung; es beinhaltet darüber hinaus eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens oder, in Kants Ausdrucksweise, eine Bestimmung des Willens. Folgen wir nun Kants Definition des Begehrungsvermögens, dann besteht die Aktualisierung dieses Vermögens darin, dass die Vorstellung eines Gegenstandes im moralischen Urteil die für das Begehren charakteristische Rolle erhält. Im moralischen Urteil erhält nach Kant die Vorstellung eines Gegenstandes eine kausale Rolle im Hinblick auf die Realisierung dieses Gegenstandes (vgl. Kap. 1, §§ 2 ff.). Dieser schwierige Gedanke lässt sich genauer artikulieren, wenn man von der empirisch-praktischen Willensbestimmung ausgeht. Wie bereits angedeutet handelt es sich hierbei um einen strukturierten kausalen Prozess, nämlich um eine Art Übergang von einer sinnlichen Bestim-
Prämisse des Arguments besteht darin, dass die „Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann und mithin kein Gegenstand der Sinne ist“ (KpV 5:28.34 f.). 257 Im nächsten Satz fragt Kant: „Wie ist aber auch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich? Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben“ (KpV 5:30.3 ff.). Wir werden uns des moralischen Gesetzes (Singular) bewusst, indem wir uns „reiner praktischer Gesetze“ (Plural) bewusst werden. Dies verstehe ich so, dass ein reines praktisches Urteil (z. B. die Glückseligkeit der anderen zu befördern) ein reines praktisches Gesetz ist, welches seinerseits auf dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes (als Beurteilungskriterium) beruht. Wir werden uns folglich des moralischen Gesetzes bewusst, indem wir uns der Ansprüche bewusst werden, die in einem reinen praktischen Urteil an uns gestellt werden.
§ 3 Der Begriff der Triebfeder
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mung des Begehrungsvermögens in der Begierde zu einer materialen Willensbestimmung in einem empirisch-praktischen Urteil. In der Lusterfahrung entsteht eine Begierde, d. h. die Vorstellung des Gegenstandes erhält hier die für das Begehren charakteristische Rolle und treibt uns zur Realisierung des Gegenstandes an. Hierbei ist aber noch unbestimmt, was wir zur Realisierung des Gegenstandes unternehmen sollen; wir werden lediglich zu dessen Verwirklichung angetrieben. In der praktischen Überlegung kommen wir dann zu einem empirisch-praktischen Urteil und damit zu einem komplexeren Begehren bzw. Wollen, welches uns dazu antreibt, den Gegenstand durch ein spezifisches Handeln hervorzubringen. Auch die moralische Willensbestimmung beinhaltet eine Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens. Allerdings wäre es merkwürdig, in diesem Fall von einem strukturierten kausalen Prozess zu sprechen. Denn da wir keine Begierde nach einem Gegenstand voraussetzen können, gibt es auch keinen Übergang vom Begehren eines Gegenstandes zum Wollen einer Handlung. Beides fällt in der moralischen Willensbestimmung unmittelbar zusammen, weil diese nicht nur formal, sondern auch objektiv-material ist. Zum einen bestimmen wir im Rekurs auf das moralische Gesetz (also auf die gesetzmäßige Form der Maxime), nach welcher Maxime wir handeln sollen, und unter dieser Rücksicht treibt uns das Urteil zu einem entsprechenden Handeln an. Mit dieser praktischen Beurteilung ist, wie wir bereits gesehen haben (vgl. Kap. 5, § 1), auch eine Erweiterung oder Einschränkung der Materie unseres Willens verbunden. Folglich erhält in unserem reinen praktischen Urteil zugleich die Vorstellung eines Gegenstandes die für das Begehren charakteristische kausale Rolle. Auch im Hinblick auf die reine praktische Vernunft vertritt Kant also die angesprochene Zwei-Aspekte-Theorie. Das moralische Urteil ist nicht nur ein kognitiver Akt, in dem wir entscheiden, dass eine Handlungsweise dem moralischen Gesetz widerspricht oder mit diesem übereinstimmt. Es beinhaltet zugleich eine ursprüngliche Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens, d. h. es treibt uns dazu an, einen Gegenstand durch ein bestimmtes Handeln zu realisieren. Tatsächlich können wir aus dieser desiderativen Perspektive die reine praktische Urteilshandlung ebenfalls als eine unmittelbare Willensbestimmung beschreiben. In der reinen praktischen Urteilshandlung erhält die Vorstellung eines Objekts unmittelbar im praktischen Urteil die für das Begehren charakteristische Rolle, denn mit der moralischen Beurteilung der Handlungen ist zugleich eine Einschränkung bzw. Erweiterung der Materie unseres Wollens verbunden. Auch das empirisch-praktische Urteil stellt eine Form von Wollen und damit von Begehren dar; doch dieses Urteil beinhaltet keine unmittelbare bzw. ursprüngliche Aktualisierung des Begehrungsvermögens, weil die Vorstellung des Objekts die für das Begehren charakteristische Rolle bereits in der zugrunde liegenden Begierde erhalten hat.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Diese Überlegungen zu den desiderativen Aspekten eines reinen praktischen Urteils stellen eine weitere wichtige Voraussetzung für Kants Konzeption der Triebfeder der reinen praktischen Vernunft dar. Begriffe wie ‚Trieb‘, ‚Triebfeder‘, ‚Antrieb‘, ‚Bewegursache‘ oder ‚Bewegungsgrund‘ spielen, wie Buchenau gezeigt hat, schon in der vorkantischen Handlungstheorie eine wichtige Rolle, und ihre Bedeutung wird daher von Kant weitgehend als bekannt vorausgesetzt.²⁵⁸ Die Grundidee, die Wolff und Baumgarten mit dem Begriff der Triebfeder verbunden hatten, ist relativ einfach: Triebfedern des Gemüts sind diejenigen Faktoren in einer Vorstellung, die erklären, warum sich unser Begehrungs- bzw. Willensvermögen aktualisiert. So bezieht sich der Begriff des ‚Bewegungsgrundes‘ bei Wolff auf den zureichenden Grund dafür, dass wir etwas wollen oder nicht-wollen.²⁵⁹ In einem ähnlichen Sinn nennt Baumgarten die ‚Triebfedern des Gemüts‘ die „Bewegursachen der Begierden und Verabscheuungen“.²⁶⁰ Vorstellungen sind – oder ‚enthalten‘ – demzufolge Triebfedern des Gemüts, wenn sie zu einem Begehren oder Verabscheuen bzw. einem Wollen führen können. In diesem Fall sind sie, wie Baumgarten betont, nicht bloß ‚spekulativische‘, sondern ‚rührende‘ oder ‚praktische‘ Erkenntnisse.²⁶¹ Baumgarten unterscheidet zwei Arten von Triebfedern: Wenn eine dunkle oder eine verworrene Vorstellung zu einem Begehren führt, so handelt es sich um eine sinnliche Triebfeder (lat. stimulus), wohingegen die „vernünftigen Triebfedern des Gemüths […] die Bewegungsgründe (motiva)“ sind.²⁶² Baumgarten geht ferner davon aus, dass alle menschlichen Motive „mit sinnlichen Vorstellungen untermengt“ sind, so dass es beim Menschen kein reines Wollen geben kann.²⁶³ Die Triebfeder ist also derjenige Faktor in oder an einer Vorstellung, der dafür verantwortlich ist, dass sich unser Begehrungsvermögen aktualisiert. Diese Grundidee im schulphilosophischen Triebfederbegriff scheint auch Kants Aussagen über die Triebfeder der reinen praktischen Vernunft zugrunde zu liegen. Dies zeigt ein Gedanke, den Kant zu Beginn des Triebfederkapitels entwickelt. Kant zufolge können wir nicht erklären, „woher das moralische Gesetz in sich eine 258 Vgl. Buchenau 2002. Buchenau weist auch auf die unterschiedlichen nicht-philosophischen Bereiche hin, in welchen der Begriff des Triebs sowie verwandte Begriffe eine Rolle spielen, vgl. Buchenau 2002, 11. 259 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 469, und hierzu Buchenau 2002, 18. 260 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 669, 15:46; Übersetzung vgl. Baumgarten/Meier, Metaphysik, § 493. 261 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 669, 15:46. 262 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 677, 15:49; § 690, 15:51; Übersetzung vgl. Baumgarten/ Meier, Metaphysik, § 511. 263 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 692, 15:52; Übersetzung vgl. Baumgarten/Meier, Metaphysik, § 512.
§ 3 Der Begriff der Triebfeder
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Triebfeder abgebe“ (KpV 5:72.25), weil dies auf die Beantwortung der Frage hinausliefe, „wie ein freier Wille möglich sei“ (KpV 5:72.24). Wenn wir theoretisch erklären wollten, warum das moralische Gesetz eine Triebfeder ist, so müssten wir zeigen, auf welche Weise eine nicht-sinnliche Vorstellung – die Vorstellung der gesetzmäßigen Form einer Handlungsmaxime – in der praktischen Überlegung zu einer Aktualisierung unseres Willensvermögens führen könnte. Wir müssten, mit anderen Worten, dazu in der Lage sein, die Frage zu beantworten, auf welche Weise eine Vorstellung, die vollkommen unabhängig von den kausalen Prozessen in der Natur zustande gekommen ist, ihrerseits einen kausalen Prozess in unserem Gemüt in Gang setzen kann. Diese Frage, die auf die Möglichkeit eines freien Willens zielt, lässt sich Kant zufolge allerdings nicht theoretisch beantworten, da dies die Grenzen der möglichen Erfahrung übersteigt. Allerdings streitet Kant die schulphilosophische These ab, dass jede ‚Bewegursache‘ des menschlichen Wollens ‚mit sinnlichen Vorstellungen untermengt‘ ist. Kant zufolge ist das moralische Gesetz selbst die Triebfeder des Willens, und als solche muss sie „von aller sinnlichen Bedingung frei sein“ (KpV 5:75.29). Dem kantischen Triebfederbegriff liegt eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bestimmungsgründen des Willens zugrunde, die nicht mit der Baumgartenschen Unterscheidung zwischen Beweggründen/Motiven und sinnlichen Triebfedern/Stimuli verwechselt werden darf. Denn nach Kant soll im Fall des moralischen Handelns ja der objektive Bestimmungsgrund (also das moralische Gesetz) zugleich der „subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung“ (also die Triebfeder) sein (KpV 5:72.8 f.).²⁶⁴ Zwar erklärt Kant diese Unterscheidung nicht, doch sie scheint eine ähnliche Bedeutung zu haben wie die Differenz zwischen den subjektiven und objektiven ‚Bedingungen des Lebens‘, die wir bereits anlässlich der Diskussion von Kants Definition der Lust kennen gelernt haben (vgl. KpV 5:9.24 Anm. sowie Kap. 2, § 2). Die Triebfedern des menschlichen Willens, also die subjektiven Bestimmungsgründe, sind diejenigen Faktoren, die für die faktische Aktualisierung des menschlichen (also sinnlich affizierbaren) Willensvermögens ausschlaggebend sind. Ein objektiver Bestimmungsgrund des Willens ist hingegen ein Kriterium für die objektive Beurteilung unserer Hand-
264 Vgl. Engstroms Kritik an Becks Deutung (Engstrom 2010, 92 f.). – Buchenau zufolge sind sich Baumgarten und Kant darin einig, dass zwischen den beiden Typen von Bestimmungsgründen eine Korrelation bestehen muss (vgl. Buchenau 2002, 20). Allerdings ist die Korrelation nicht dieselbe. Baumgarten zufolge sind rationale Motive immer mit sinnlichen Triebfedern vermischt; er lässt – in Kants Ausdrucksweise – neben den rationalen Motiven noch „einige andere Triebfedern (als die des Vortheils) mitwirken“ (KpV 5:72.16 f.). Kant zufolge ist die Triebfeder der reinen praktischen Vernunft aber nicht mit sinnlichen Triebfedern vermischt, obgleich diese Triebfeder ein Gefühl nach sich zieht.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
lungen, d. h. er besteht letztlich in der Vorstellung einer rationalen Erfolgsbedingung, welche unsere praktische Kausalität – unser Wollen und die sich daraus ergebende Handlung – erfüllen muss.²⁶⁵ Kant trägt der Intuition, die wohl hinter der besagten schulphilosophischen These von der gemischten Triebfeder des menschlichen Wollens steht, auf eine etwas andere Weise Rechnung. Kant zufolge bedarf nur das endliche Wollen einer Triebfeder, dem vollkommenen Willen, (sowie vermutlich auch den Tieren),²⁶⁶ können wir hingegen keine Triebfeder zuschreiben. Die Triebfeder ist „der subjective Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetze nothwendig gemäß ist“, woraus unmittelbar folgt, „daß man dem göttlichen Willen keine Triebfedern beilegen könne“ (KpV 5:72.1 ff.). Kants Begriff der Triebfeder beinhaltet also schon einen Verweis auf die Schwäche des endlichen Vernunftwesens und damit letztlich auch auf dessen praktische Sinnlichkeit. Doch worin genau besteht der Grund dafür, dass wir nur dem menschlichen Willen bzw. dem Willen aller erschaffenen Wesen eine Triebfeder beilegen können? Hier ist es wichtig sich klarzumachen, in welchem Sinn das moralische Gesetz als Triebfeder eine Aktualisierungsbedingung des menschlichen Wollens darstellt. Zunächst einmal ist das moralische Gesetz verantwortlich dafür, dass wir in einem moralischen Urteil einsehen, warum wir eine bestimmte Handlung ausführen oder unterlassen sollten. Wie bereits angedeutet, hat diese Einsicht Kant zufolge auch einen desiderativen Aspekt; sofern wir über diese Einsicht verfügen, wollen wir auch moralisch handeln. Allerdings ist damit natürlich noch nicht sichergestellt, dass wir auch tatsächlich nach dem moralischen Urteil handeln. Denn als endliche Vernunftwesen tendieren wir dazu, die Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft auch dann als praktische Gründe anzusehen, wenn eine Handlung bereits durch das Gesetz geboten oder verboten ist.Wenn wir
265 Engstrom kommt im Rahmen seiner Kritik an Becks Aussagen zum Triebfederbegriff zu einer ähnlichen Deutung, indem er von Kants Unterscheidung zwischen objektiven Gesetzen und Maximen ausgeht: „An objective principle […] is one on which we ought to act, but it is also a subjective principle, or a maxim, in so far, as it is a principle on which a given subject does act […]. Similarly, I suggest, the moral law, conceived as the will’s objective determining ground, is the representation of how the will ought to be determined; that same law, conceived as the subjective determining ground of a given subject’s will, is that same representation actually determining that subject’s will. So far as the moral law is a subjective determining ground of the will, it is a spring. It is a cognitive representation, but one that has force, or efficacy“ (Engstrom 2010, 93). Engstrom scheint hier nicht nur den vorgestellten Gedanken einer Zwei-AspekteTheorie der reinen praktischen Vernunft zu artikulieren, sondern auch zwischen einer Erfolgsund einer Aktualisierungsbedingung des Wollens zu unterscheiden. 266 Vgl. Allison 1999, 122.
§ 4 Moralisches Urteil und Gefühl
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diese Erwägungen z. B. als zusätzliche Gründe für ein moralisch gebotenes Handeln ansehen, so unterscheidet sich das abschließende Urteil, nach dem wir faktisch handeln, von dem rein moralischen Urteil über die gebotene Handlung. Auch dieses abschließende Urteil hat natürlich einen desiderativen Aspekt – es ist zugleich ein abschließendes Wollen. Dass das moralische Gesetz für uns eine Triebfeder des Willens ist, lässt sich also auf folgende Weise erklären: Dieses Gesetz hat einen gewissen kausalen Einfluss auf unser Wollen, der allerdings nicht notwendig auch zu einem abschließenden Wollen führt, welches den Ansprüchen des moralischen Gesetzes vollkommen entspricht. In diesem Sinn können wir also tatsächlich nur im Hinblick auf den endlichen Willen von einer Triebfeder sprechen.²⁶⁷
§ 4 Moralisches Urteil und Gefühl Nachdem nun die Voraussetzungen von Kants Triebfederbegriff geklärt sind, möchte ich mich Kants eigentlichem Projekt im Triebfederkapitel – der Theorie des Gefühls der Achtung vor dem Sittengesetz – zuwenden. In der neueren Forschung zum Triebfederkapitel wird vor allem die Frage diskutiert, ob dieses Gefühl einen genuinen Beitrag zur moralischen Motivation leistet. Im Hintergrund der Debatte steht dabei ein philosophisches Problem, das sich auf folgende Weise artikulieren lässt: Als reines Vernunfturteil scheint uns das moralische Urteil nicht hinreichend zur Wahl der richtigen Handlung zu motivieren. Folglich sollten wir annehmen, dass uns zusätzlich zu diesem Urteil ein affektiver Zustand zu diesem Handeln antreibt. Diese Idee eines affektiven Zustandes, der uns als eine externe Kraft zusätzlich zur praktischen Überlegung zum richtigen Handeln drängt, scheint allerdings nicht mit Kants Konzeption der freien Wahl vereinbar zu sein; letztere beruht Kant zufolge wesentlich auf einer Anerkennung von Gründen und nicht auf motivierenden Impulsen. Dieses Problem lässt sich auf ganz unterschiedliche Weisen lösen. Zunächst können wir bestreiten, dass uns die rein kognitive Anerkennung des moralischen Gesetzes im moralischen Urteil nicht zu einem entsprechenden Handeln motiviert. Die Deutung, die Reath von Kants Theorie der Achtung vorgeschlagen hat, geht in diese Richtung (vgl. Reath 1989b). Reath zufolge motiviert uns allein die intellektuelle Anerkennung der Autorität des moralischen Gesetzes – genauer: die 267 Hierzu passt die Deutung, die Baumanns vom kantischen Begriff des Sollens gibt. Baumanns zufolge ist das Sollen im Bewusstsein unserer Pflicht letztlich ein vernünftiges Wollen, welches durch ein entgegengesetztes Wollen an seiner Entfaltung gehindert wird, vgl. Baumanns 2000, 40 f.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Anerkennung der hierauf beruhenden moralischen Gründe – zu einem entsprechenden Handeln.²⁶⁸ Das moralische Gefühl resultiert für Reath erst nachträglich aus diesem rein intellektuellen Vorgang der Motivation.²⁶⁹ Wir könnten allerdings auch die Behauptung bestreiten, dass die Idee eines affektiven Motivationszustandes mit der Freiheit des Willens unvereinbar ist. So haben Timmermann und McCarty für die These argumentiert, dass das Gefühl zwischen dem moralischen Urteil und der eigentlichen Handlungswahl vermittelt, indem es uns zur Wahl der richtigen Handlung motiviert.²⁷⁰ Wenn nun die Überlegungen zutreffen, die ich im vorangegangenen Abschnitt zu Kants Zwei-Aspekte-Theorie der praktischen Vernunft angestellt habe, dann streitet Kant allerdings eine ganz andere Voraussetzung des genannten Problems ab. Für Kant ist ein moralisches Urteil nämlich gar kein rein kognitiver Akt, sondern zugleich ein desiderativer und damit motivierender Zustand. Ein solches Urteil treibt uns schon von sich aus – qua Bestimmung des Willens bzw. Begehrungsvermögens – dazu an, einen Gegenstand durch eine bestimmte Handlungsweise zu realisieren. Die Frage nach der moralischen Motivation scheint sich – zumindest in der oben angedeuteten Form – für Kant also nicht mehr zu stellen.
268 Reath zufolge besteht hierin der „,intellektuelle‘ Aspekt der Achtung“ („the ‚intellectual‘ aspect of respect“, Reath 1989b, 287): „Respect for the Moral Law, in this sense, is the immediate recognition of its authority, or the direct determination of the will by the law. To be moved by, or to act out of, respect is to recognize the Moral Law as a source of value, or reasons for action, that are unconditionally valid and overriding relative to other kinds of reasons; in particular, they outweigh the reasons provided by one’s desires. Respect is the attitude which it is appropriate to have towards a law, in which one acknowledges its authority and is motivated to act accordingly“ (Reath 1989b, 287). 269 „The resulting moral emotion ends up being something like the way in which we experience the activity of pure practical reason“ (Reath 1989b, 289). Allison, der der von Reath vorgeschlagenen Deutung in wesentlichen Punkten folgt, charakterisiert Kants Projekt im Triebfederkapitel dementsprechend als eine „Phänomenologie der moralischen Erfahrung“ („phenomenology of moral experience“, Allison 1990, 121). 270 Zur Rechtfertigung dieser These berufen sich interessanterweise beide Vertreter der Deutung auf den Unterschied zwischen Wille und Willkür, den Kant allerdings erst in der Metaphysik der Sitten deutlich getroffen hat (vgl. Timmermann 2003, 195 ff.; McCarty 1994, 19 sowie 23 ff.). In dieser Deutung ergibt sich das Gefühl der Achtung aus der objektiven Willensbestimmung im moralischen Urteil, die allerdings rein kognitiv ist. Aus diesem Grund muss das hieraus entstehende Gefühl der Achtung eine motivierende Rolle bei der anschließenden Wahl der Handlung, also der Bestimmung der Willkür, spielen. Worin genau diese motivierende Rolle besteht, ist allerdings unter den Vertretern dieser Deutung umstritten. So ist es McCarty zufolge letztlich allein die Stärke dieses Gefühls, welche den Ausschlag für die Wahl einer bestimmten Handlung gibt. Für Timmermann hingegen übernimmt das Gefühl der Achtung lediglich zusätzlich zur praktischen Überlegung eine motivierende Rolle (vgl. McCarty 1994, 23 ff.; Timmermann 2003, 203 f.).
§ 4 Moralisches Urteil und Gefühl
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In diesem Fall ergibt sich dann aber auch nicht das resultierende Problem, dem zufolge sich die Idee eines motivierenden Impulses, der uns unabhängig von unserer praktischen Überlegung zur richtigen Wahl der Handlung drängt, nur schwer mit der Freiheit des Willens vereinbaren ließe. Der motivierende Impuls liegt Kant zufolge in der praktischen Überlegung selbst. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt angedeutet, erklärt sich die motivierende Kraft des moralischen Urteils letztlich aus der Vorstellung des moralischen Gesetzes. Denn diese Vorstellung enthält Kant zufolge die Triebfeder des Willens, also denjenigen Faktor, der dafür verantwortlich ist, dass sich unser Willensvermögen in der moralischen Urteilshandlung aktualisiert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das moralische Gesetz zusätzlich zu unserer moralischen Überlegung eine Kraft auf den Willen ausübt; eine solche Ansicht wäre tatsächlich nur schwer mit Kants Theorie des freien Willens vereinbar.²⁷¹ Das moralische Gesetz ist vielmehr eine Triebfeder des Willens (und damit auch ein kausaler Faktor), sofern es von uns als ein rationales Kriterium der moralischen Beurteilung unserer Handlungen angesehen wird.²⁷² Kant zufolge hat also die moralische Überlegung selbst sowohl einen kognitiven als auch einen desiderativen Aspekt. Nun stellt sich allerdings die Frage, welche Rolle das moralische Gefühl in Kants Triebfederlehre überhaupt noch spielen könnte. Schließlich entwickelt Kant seine Theorie des moralischen Gefühls in einer Abhandlung mit dem Titel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 5:71.27). Schon diese Tatsache legt die Annahme nahe, dass Kant zufolge die Theorie des desiderativen Aspekts reiner praktischer Vernunft mit den vorgestellten Überlegungen noch keineswegs vollständig entwickelt ist. Um nun die Frage nach der Rolle des moralischen Gefühls in Kants Triebfedertheorie zu beantworten, lohnt es sich etwas weiter auszuholen und zunächst Kants eigene Aussagen über sein Argumentationsziel im Triebfederkapitel betrachten. Dabei wird sich zeigen, dass Kants Theorie des moralischen Gefühls die Frage beantwortet, auf welche Weise wir uns der Tatsache bewusst werden, dass wir durch das Urteil der reinen praktischen Vernunft zum Handeln motiviert werden. Wenn meine Überlegungen zutreffen, so besteht eine der wesentlichen philosophischen Lektionen des Triebfederkapitels darin, dass die motivatorische Kraft des moralischen Urteils nur in Form einer
271 Vgl. Reath 1989b, 291. 272 Damit beinhaltet auch die praktische Überlegung einen gewissen Determinismus. Wenn wir einsehen, dass es für ein bestimmtes Handeln einen moralischen Grund gibt, dann können wir nicht anders als die Handlung auch zu wollen. Doch hieraus folgt nicht, dass wir auch entsprechend handeln, weil wir in unserer praktischen Überlegung auch noch die Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft als Gründe für ein bestimmtes Handeln betrachten können.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
affektiven evaluativen Einstellung in das Bewusstsein der urteilenden Person eingehen kann. Ich beginne mit Kants eigener Beschreibung seines Argumentationsziels im Triebfederkapitel. Da wir nicht einsehen können, wie das Gesetz eine Triebfeder des Willens sein kann, müssen wir uns Kant zufolge auf die Frage beschränken, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe“ (KpV 5:72.18 ff.). Es geht im Triebfederkapitel also zunächst darum, die Auswirkungen des moralischen Urteils und der zugrunde liegenden Triebfeder (also des moralischen Gesetzes) auf alle sonstigen Bestimmungen unseres Begehrungsvermögens (insbesondere auf unsere Neigungen) zu untersuchen. Allerdings ist damit wohl nur die Strategie artikuliert, derer Kant sich bedient, um ein anderes Argumentationsziel zu erreichen. Wir können, schreibt Kant bereits im folgenden Absatz, „a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag thut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältniß eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten“ (KpV 5:73.3 ff.).
Kants Ziel besteht also tatsächlich darin zu zeigen, dass das ‚Erkenntnis‘ der reinen praktischen Vernunft ein Gefühl bewirken muss. Dieses Gefühl resultiert allerdings nicht unmittelbar aus dieser Erkenntnis; es stellt sich vielmehr nur deswegen ein, weil sich die angesprochene Erkenntnis in spezifischer Weise auf die bereits bestehenden Bestimmungen des Begehrungsvermögens (nämlich auf unsere Neigungen und die damit verbundene Selbstliebe) auswirken muss.²⁷³ Für das Verständnis von Kants Projekt im Triebfederkapitel ist es hilfreich, sich über die Gründe Klarheit zu verschaffen, aus denen heraus sich Kant für diese indirekte Vorgehensweise entschieden hat. Entscheidend ist hier ein Gedanke Kants, den ich bereits im letzten Abschnitt angesprochen habe. Kant zufolge haben wir keinen theoretischen Zugang zu der Tatsache, dass das moralische Gesetz eine Triebfeder des Willens darstellt. Wir können nicht den „Grund“ anzeigen, „woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe“ (KpV 5:72.25), weil dies auf die Beantwortung der metaphysischen Frage hinausliefe,
273 Vgl. auch folgende Formulierung: „Da nun alles, was in der Selbstliebe angetroffen wird, zur Neigung gehört, alle Neigung aber auf Gefühlen beruht, mithin, was allen Neigungen insgesammt in der Selbstliebe Abbruch thut, eben dadurch nothwendig auf das Gefühl Einfluß hat, so begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische Gesetz […] eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne“ (KpV 5:74.30 ff.; vgl. 5:73.34– 37; 5:79.13 – 19).
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„wie ein freier Wille möglich sei“ (KpV 5:72.24). – Dieser Gedanke drückt nun nicht nur eine gewisse Skepsis Kants im Hinblick auf die philosophische Erkenntnis der Freiheit aus. Er scheint auch zu implizieren, dass wir uns als handelnde Subjekte der antreibenden Rolle des moralischen Urteils nicht direkt empirisch bewusst werden können. Wir können uns als Handelnde nicht empirisch der Tatsache bewusst werden, dass die Vorstellung eines Gegenstandes in einer moralischen Urteilshandlung die für das Begehren charakteristische kausale Rolle erhalten hat, durch die wir zugleich zu einem entsprechenden Handeln angetrieben werden. Denn der entscheidende Faktor für die ‚reine praktische Bestimmung‘ des Begehrungsvermögens ist die nicht-sinnliche Vorstellung der gesetzmäßigen Form der Maxime. Wenn wir uns also der motivierenden Rolle des moralischen Urteils empirisch bewusst werden könnten, dann hätten wir auch einen direkten empirischen Zugang zur Freiheit des Willens, und dies ist Kant zufolge natürlich undenkbar (vgl. KpV 5:29.30).²⁷⁴ Das entscheidende Problem besteht also in der Frage, in welchem Sinn uns ein ‚Urteil der Vernunft‘ überhaupt zu einem entsprechenden Handeln motivieren könnte, wenn wir uns der motivierenden Kraft dieses Urteils gar nicht bewusst werden könnten. Um durch ein praktisches Urteil im vollen Sinn zu einem rationalen Handeln motiviert zu werden, müssen wir uns der motivierenden Kraft dieses Urteils bewusst werden können. Kants Lösung dieses Problems besteht nun
274 Engstrom zeigt in einer ähnlichen Argumentation, dass wir uns des moralischen Gesetzes nicht direkt durch ein Gefühl bewusst werden können (vgl. Engstrom 2010, 97). Tatsächlich findet sich in der Literatur zuweilen die Ansicht, dass dem Triebfederkapitel zufolge die Vorstellung des moralischen Gesetzes selbst (und nicht das moralische Urteil bzw. die objektive Willensbestimmung) ein Gefühl der Achtung bewirkt. So geht Fœssell davon aus, dass Kant erst in der Kritik der Urteilskraft das Gefühl der Achtung als einen Aspekt des moralischen Urteils, also der Willensbestimmung, betrachtet. „Die Achtung“, schreibt er über den § 12 der dritten Kritik, „wird nicht mehr als die Wirkung des Gesetzes auf das empirische Bewußtsein interpretiert, sondern, dem ästhetischen Urteil ähnlich, als ein Gemütszustand, der zeitgleich ist mit der Bestimmung des Willens durch ein reines praktisches Prinzip“ (Fœssell 2008, 117). Doch dass hier kein Sinneswandel vorliegt, zeigt Kants häufiger Verweis auf das Urteil der Vernunft und die objektive Willensbestimmung im Triebfederkapitel (vgl. § 1 in diesem Kapitel). Das Gefühl, das mit der Vorstellung unserer Pflicht verbunden ist, ist „allein praktisch, d. i. durch eine vorhergehende (objective) Willensbestimmung und Causalität der Vernunft[] möglich“ (KpV 5:80.31 ff.; vgl. 5:72.28 ff.; 5:78.22 ff.). Ich stimme in diesem Punkt Engstrom zu, dem zufolge sich das Gefühl der Achtung ebenfalls erst aus der Willensbestimmung und dem moralischen Urteil ergibt: „As the law of the will, its immediate efficacy extends to the will alone; any further effect must arise through the willing it determines“. Engstrom identifiziert dabei ebenfalls die objektive Willensbestimmung mit einem praktischen Urteil: „So it is in such judgments that the moral law determines the will, and through such judgments alone will this law have any further effect in the mind“ (beide Zitate Engstrom 2010, 98).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
offenkundig darin, dass wir uns dieser motivierenden Kraft unseres Urteils indirekt bewusst werden, nämlich indem wir uns der Auswirkungen bewusst werden, die diese Kraft auf alle übrigen Bestimmungen des Begehrungsvermögens, insbesondere aber auf unsere Neigungen hat.Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann können wir Kants Projekt im Triebfederkapitel auf folgende Weise charakterisieren: Kant möchte zeigen, auf welche Weise die motivierende Kraft des moralischen Urteils in das Bewusstsein der handelnden Person eingeht. Da es kein unmittelbares empirisches Bewusstsein dieser Kraft geben kann, wählt Kant den Umweg über eine Analyse der Auswirkungen, welche die motivierende Kraft des moralischen Urteils auf alle übrigen Bestimmungen des Begehrungsvermögens hat.²⁷⁵ Eine wichtige Frage bleibt in dieser Überlegung allerdings noch offen. Warum sollte das indirekte Bewusstsein der motivierenden Kraft des moralischen Urteils ausgerechnet in einem Gefühl bestehen? Eine vollständige Antwort auf diese Frage ergibt sich natürlich erst aus Kants Theorie der Entstehung des Achtungsgefühls, die in den folgenden Abschnitten betrachtet werden soll. Allerdings lassen sich schon an diesem Punkt zwei Überlegungen anführen, die zumindest die Annahme nahelegen, dass das indirekte Bewusstsein der motivierenden Kraft des moralischen Urteils in einem Gefühl bestehen muss. Den Ausgangspunkt für die erste Überlegung bilden Kants Aussagen über die Aktivität, welche den Gefühlen zugrunde liegt. Im dritten Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass für Kant Gefühle generell aus einer Aktivität resultieren, die keiner begrifflichen Regel folgt und sich daher unserer intellektuellen Kontrolle entzieht (vgl. Kap. 3, § 3). Paradig-
275 Tatsächlich kommt das angesprochene Problem schon in der bereits betrachteten Formulierung zum Ausdruck, in der Kant das Argumentationsziel im Triebfederkapitel beschreibt. Es geht darum „sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde“ (KpV 5:72.18 f.; H. v. m.). Kant kann sich hier nicht einfach auf die Frage beziehen, wie es dazu kommt, dass das moralische Gesetz in uns zu einer Aktualisierung des Willensvermögens führt. Denn diese Frage würde im Grunde auf das unlösbare Problem der Willensfreiheit hinauslaufen. Im Fokus steht vielmehr die Frage, auf welche Weise das moralische Gesetz eine Triebfeder für uns wird, d. h. wie wir uns seiner Funktion als Triebfeder bewusst werden. Dass das einschränkende für uns in der Formulierung mitgedacht werden muss, zeigt die abgrenzende Formulierung, die sich unmittelbar anschließt: „Denn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei“ (KpV 5:72.21 ff.; H. v. m.). – Dass es im Triebfederkapitel tatsächlich um die Voraussetzungen geht, die das Bewusstsein der moralischen Motivation durch das moralische Urteil und das zugrunde liegende Gesetz erklären, zeigt auch folgende Aussage Kants über den negativen Aspekt des moralischen Gefühls. Selbst an dem Schmerz bzw. dem Demütigungsgefühl, welches nach Kant aus der objektiven Willensbestimmung resultiert, können wir „nicht die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder, sondern nur den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlichkeit erkennen“ (KpV 5:78.36 f.).
§ 4 Moralisches Urteil und Gefühl
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matisches Beispiel hierfür stellt die Aktivität des freien Spiels der Erkenntniskräfte dar, die Kant zufolge der Lust am Schönen zugrunde liegt. Im freien Spiel wird die Aktivität der Erkenntniskräfte nicht – wie etwa im theoretischen Urteil – durch eine begriffliche Regel eingeschränkt. Daher haben wir keinen intellektuellen Zugang zur Struktur dieser Aktivität – wir können uns der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte im freien Spiel nur in einer Empfindung bewusst werden, die letztlich ein Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit und damit eine Lust darstellt (vgl. KU 5:218 ff. sowie Kap. 3, § 4). Nun beinhaltet das moralische Urteil zunächst ein rein intellektuelles Bewusstsein einer kognitiven Aktivität. Denn bei der reinen praktischen Urteilshandlung – also der moralischen Beurteilung unserer Handlungen – handelt es sich um eine Aktivität, die durch eine begriffliche Regel kontrolliert wird (nämlich durch das moralische Gesetz). So haben wir ja bereits gesehen, dass das moralische Gesetz streng genommen nicht nur einen Anspruch an unser Handeln stellt; es beinhaltet auch einen Anspruch an unsere eigene praktische Vernunft und damit an unsere Aktivität des praktischen Überlegens. Unter dieser Rücksicht können wir also mit Recht davon sprechen, dass das moralische Urteil ein intellektuelles „Bewußtsein unserer absichtlichen Thätigkeit“ (KU 5:218.30) beinhaltet, nämlich einer rationalen Aktivität, die durch eine begriffliche Regel kontrolliert wird. Allerdings kann es sich bei dem Bewusstsein der moralischen Motivation, das sich indirekt aus diesem Urteil ergibt, nicht mehr um ein intellektuelles Bewusstsein absichtlicher Tätigkeit handeln. Da dieses Bewusstsein nämlich in dem angesprochenen Sinn indirekt ist, bezieht es sich lediglich auf den Aktivitätszustand unserer Neigungen, die durch die Kraft des moralischen Urteils eingeschränkt werden. Dieser Aktivitätszustand ist aber weitgehend unserer eigenen intellektuellen Kontrolle entzogen. Denn unsere Neigungen beruhen auf sinnlichen Begierden, die, wie wir im vierten Kapitel bereits gesehen haben, ihrerseits in Gefühlen sinnlicher Lust entstehen. Im Unterschied zum moralischen Urteil beinhaltet das Bewusstsein der moralischen Motivation also wesentlich eine subjektive Komponente, d. h. es ergibt sich aus einer Aktivität, die keiner begrifflichen Regel folgt und die wir in diesem Sinn auch nicht selbst kontrollieren. Schon aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, dass das indirekte Bewusstsein der moralischen Motivation letztlich in einem Gefühl bestehen muss. Diese erste Überlegung gibt natürlich noch keine hinreichende Begründung für Kants Grundidee, der zufolge wir uns der moralischen Motivation nur in einem nachträglichen Gefühl bewusst werden können. So könnte man sich in einer zweiten Überlegung die Frage vorlegen, warum uns das Bewusstsein der moralischen Motivation nicht einfach in der (theoretischen) Wahrnehmung eines inneren Impulses oder eines inneren Antriebs zum Handeln gegeben ist. Diese
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Wahrnehmung würde sich immer dann einstellen, wenn wir ein moralisches Urteil über ein entsprechendes Handeln fällen. Nun ist es sicherlich nicht leicht zu entscheiden, ob sich eine solche Wahrnehmung noch als ein indirektes Bewusstsein der motivierenden Kraft des moralischen Urteils beschreiben ließe. Weitaus problematischer scheint mir allerdings die Tatsache zu sein, dass in diesem Fall zumindest aus der Perspektive der urteilenden Person keine rationale Verbindung zwischen dem Urteil und der darauf folgenden Impulswahrnehmung bestehen würde. Kant zufolge soll unserem moralischen Handeln ja letztlich das Urteil zugrunde liegen, dass wir aus einem moralischen Grund auf bestimmte Weise handeln sollen. Folglich muss aus der Perspektive der urteilenden Person eine unmittelbare Verbindung zwischen diesem Urteil und dem indirekten Bewusstsein seiner antreibenden Rolle bestehen. Der urteilenden Person muss unmittelbar transparent sein, dass sie zu dem Handeln angetrieben wird, weil dieses Handeln durch das Gesetz geboten ist. Es ist zumindest schwierig einzusehen, wie dies im Fall einer Impulswahrnehmung möglich ist. Die angesprochene Wahrnehmung eines inneren Impulses würde zwar kausal aus dem moralischen Urteil resultieren; doch es wäre sicherlich zuviel verlangt, wenn wir voraussetzen würden, dass sich die urteilende Person erst die komplexe Entstehungsgeschichte dieser Impulswahrnehmung klar machen muss. Der urteilenden Person wäre zumindest nicht unmittelbar transparent, warum sie einen Antrieb zum moralischen Handeln in sich wahrnimmt. Im Grunde führt uns dieser Gedanke geradewegs zurück zu dem Problem, von dem ich in diesem Abschnitt ausgegangen bin. Denn die Impulswahrnehmung würde letztlich doch wieder als ein der praktischen Überlegung externer Faktor auftreten, was nicht mit Kants Auffassung der freien Wahl vereinbar wäre.²⁷⁶ Nun scheint diese Schwierigkeit zumindest auf den ersten Blick nicht zu verschwinden, wenn wir das Bewusstsein der moralischen Motivation statt mit einer Wahrnehmung mit einem Gefühl identifizieren. Auch das moralische Gefühl beinhaltet ein inneres Bewusstsein psychischer Kräfte, nämlich des Aktivitätszustandes unserer Neigungen; darüber hinaus resultiert es ebenfalls kausal aus dem moralischen Urteil. Folglich liegt auch hier die Annahme nahe, dass es aus der Perspektive des urteilenden Subjekts keine rationale Verbindung zwischen diesem Gefühl und dem Urteil gibt. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Annahme jedoch als irreführend. Denn zwischen dem Gefühl und einer inneren Wahrnehmung besteht ein wesentlicher Unterschied, auf den ich in den vergangenen Kapiteln schon mehrmals hingewiesen habe. Kant zufolge ist unsere Einstellung in einem Gefühl nämlich
276 Vgl. erneut Reath 1989b, 291.
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nicht einfach nur nach innen gerichtet. Wir registrieren im Gefühl nicht einfach nur eine Aktivitätssteigerung bzw. -verminderung, die sich anlässlich der Vorstellung eines Gegenstandes in unserem Gemüt einstellt. Unsere Einstellung im Gefühl ist vielmehr evaluativ und nach ‚außen‘ gerichtet, nämlich auf den Gegenstand derjenigen Vorstellung, die den Prozess der Aktivitätssteigerung in uns ausgelöst hat. So resultiert z. B. die sinnliche Lust aus einer gesteigerten Aktivität unserer Körperkräfte in der Empfindung eines Gegenstandes. Doch in dieser Lust nehmen wir nicht einfach nur wahr, dass wir uns in einem ganz bestimmten körperlichen Zustand befinden. Vielmehr gefällt uns hier der Gegenstand der zugrunde liegenden Empfindung unmittelbar, und wir betrachten ihn als angenehm, lieblich, erfreulich usw. (vgl. Kap. 3, § 4). Im Folgenden werden wir sehen, dass sich auch das moralische Gefühl nicht nur auf einen zugrunde liegenden psychischen Prozess bezieht; letztlich ist auch dieses Gefühl auf den Gegenstand der Vorstellung gerichtet, die diesen Prozess in uns ausgelöst hat (also auf die von uns als moralisch beurteilte Handlung sowie auf das dem Urteil zugrunde liegende moralische Gesetz). Zwischen dem moralischen Urteil und unserem Gefühl besteht demzufolge nicht nur eine kausale, sondern auch eine inhaltliche Verbindung. Allerdings wird diese inhaltliche Verbindung in einem ziemlich komplizierten Prozess hergestellt, der sowohl affektive als auch kognitive Aspekte hat. Kant zufolge bewirkt das moralische Urteil zunächst ein Schmerzgefühl in uns, welches ein noch weitgehend unbestimmtes Bewusstsein unserer eigenen moralischen Unzulänglichkeit enthält. Seinen eigentlichen evaluativen Gehalt erhält dieses Gefühl dann in einer Reflexion, in der wir es erneut auf die evaluativen Aspekte unseres eigenen Urteils zurückbeziehen. Einerseits beinhaltet das moralische Urteil eine Delegitimierung unserer nichtmoralischen Selbstschätzung, und unter dieser Rücksicht fühlen wir uns ‚im eigenen Urteil‘ durch das moralische Gesetz gedemütigt. Andererseits schreiben wir unserem (möglichen) moralischen Handeln in diesem Urteil einen unbedingten praktischen Wert zu, der jeden nicht-moralischen Wert unendlich überwiegt. Unter dieser Rücksicht empfinden wir eine Achtung vor dem moralischen Gesetz, welches dieser Wertschätzung im eigenen Urteil letztlich zugrunde liegt. Schon dieser sehr grobe Überblick zeigt,warum die Verbindung zwischen dem moralischen Urteil und dem positiven Gefühl der Achtung für Kant viel enger ist, als dies bei einer inneren Wahrnehmung eines Impulses der Fall ist. Denn das moralische Gefühl erhält seinen evaluativen Gehalt erst dadurch, dass wir es selbst in einer Reflexion auf den Inhalt unseres Urteils zurückbeziehen. Diese enge inhaltliche Verbindung zwischen dem Urteil und dem Gefühl manifestiert sich vor allem in der Tatsache, dass das moralische Gefühl zugleich das Bewusstsein seiner eigenen rationalen Angemessenheit beinhaltet. Wir sind uns in diesem Gefühl unmittelbar der Tatsache bewusst, dass wir uns in einem affektiven Zu-
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
stand befinden, der im Lichte unseres eigenen Urteils rational angemessen ist. In einem ganz bestimmten Sinn ist das moralische Gefühl also kein Faktor, der außerhalb der Reichweite unserer praktischen Überlegung und damit unserer freien Entscheidung liegt. Wir sind uns in diesem Gefühl immer noch der Tatsache bewusst, dass es im Lichte unseres eigenen Urteils richtig ist, dass wir dieses Gefühl empfinden.²⁷⁷
§ 5 Die Einschränkung der Selbstliebe und das Niederschlagen des Eigendünkels Damit wende ich mich nun Kants eigener Erklärung der Entstehung des moralischen Gefühls im dritten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft zu. Wir können der besseren Übersicht halber drei Schritte in Kants Erklärung unterscheiden. Die objektive Bestimmung des Willens im Urteil der Vernunft beinhaltet erstens eine Einschränkung von Tendenzen, die in einem potentiellen oder in einem tatsächlichen Konflikt mit der Forderung des moralischen Urteils stehen. So wird die Befriedigung unserer Neigungen und die damit verbundene Selbstliebe auf die Bedingung der Befolgung des Gesetzes eingeschränkt. Der Eigendünkel, der tatsächlich mit der Forderung des moralischen Urteils im Konflikt steht, wird hingegen durch das moralische Gesetz niedergeschlagen. Da nun zweitens alle Neigungen auf dem Gefühl der Lust und Unlust „gegründet“ (KpV 5:73.1) sind, beinhaltet diese Einschränkung der Selbstliebe sowie das Niederschlagen des Eigendünkels auch ein negatives Gefühl, das Kant zunächst neutral als „Schmerz“
277 Zur Verdeutlichung mag man an das etwas anders gelagerte Beispiel eines retrospektiven moralischen Urteils über das eigene Handeln – also den Spruch des Gewissens (vgl. MS 6:437 f.32 ff.) – denken. Kant zufolge beinhaltet das Gewissen wesentlich ein Urteil der Vernunft, in welchem wir uns im Hinblick auf unser tatsächliches Handeln verurteilen oder aber von Schuld freisprechen. Dieses Verurteilen oder Lossprechen in der „Sentenz“ (MS 6:438.6) der Vernunft besteht nun aber wesentlich in der „Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung“ (MS 6:438.7). Dabei denkt Kant nicht an äußere, sondern in erster Linie an innere Sanktionen. So beinhaltet der „rechtskräftige Spruch des Gewissens“ (MS 6:440.25) im positiven Fall des Lossprechens „nie eine Belohnung (praemium), als Gewinn von etwas“, sondern lediglich „ein Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein“, sowie eine „Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit“ (MS 6:440.27 ff.). Im Gewissen geht es also um die rational angemessene affektive Reaktion, die mit einem retrospektiven moralischen Urteil verbunden ist. Wir dürfen uns unserem eigenen Vernunfturteil zufolge erleichtert fühlen, wenn wir uns selbst nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung von moralischen Vorwürfen frei sprechen können.
§ 5 Die Einschränkung der Selbstliebe und das Niederschlagen des Eigendünkels
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(KpV 5:73.5) bezeichnet.²⁷⁸ Dieses Gefühl erhält dann drittens in einem komplizierten und von Kant lediglich in Andeutungen beschriebenen Reflexionsprozess die doppelte Qualität einer Demütigung unseres Eigendünkels und der Achtung vor dem Sittengesetz. Ich beginne meine Diskussion mit dem ersten Schritt. Kant zufolge ist mit allen unseren moralischen Urteilen zugleich eine Einschränkung bzw. ein Abbruch unserer Neigungen verbunden. Nach Kant führt die Willensbestimmung im moralischen Urteil zu einem „Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten“ (KpV 5:72.30 f.). Dies scheint zunächst zu besagen, dass moralisches Handeln in vielen Fällen einen Verzicht auf die Befriedigung unserer Neigungen notwendig macht. Allerdings können die Neigungen noch in einem tieferen Sinn „jenem Gesetze zuwider sein“. Wenn wir erkennen, dass eine Handlung geboten ist, dann werden damit alle Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft als Gründe für oder gegen diese Handlung ausgeschlossen. Der Abbruch unserer Neigungen besteht also vor allem darin, dass wir die Befriedigung unserer Neigung nicht als Grund dafür oder dagegen ansehen dürfen, eine ge- oder verbotene Handlung auszuführen. Gegen Kants Redeweise vom ‚Abbruch aller Neigungen‘ könnte man einwenden, dass unsere Neigungen als solche noch gar keine Hindernisse für die Befolgung des moralischen Gesetzes darstellen; das Hindernis liegt eher darin, dass wir der Tendenz der Selbstliebe nachgeben und die rationale Wahl unserer Handlungen zusätzlich von der Befriedigung unserer Neigungen abhängig machen.²⁷⁹ Allerdings spricht vieles dafür, dass sich Kant zufolge unsere Neigungen gar nicht unabhängig von dieser Tendenz in der Selbstliebe betrachten lassen. So bezeichnet Kant die Selbstliebe als eine Form von „Selbstsucht“, die er auf folgende Weise definiert: „Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdann eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (Philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (Arrogantia)“ (KpV 5:73.9 ff.).
Alle unsere Neigungen sind folglich Bestandteile unserer Selbstsucht. Diese tritt bei endlichen vernünftigen Wesen zunächst bloß als Selbstliebe auf; sie kann aber zum Eigendünkel werden, wenn wir der damit verbundenen Tendenz nachgeben
278 Auf diesen wichtigen Zwischenschritt in Kants Argumentation hat bereits Engstrom hingewiesen, vgl. Engstrom 2010, 98 ff. 279 Vgl. Reath 1989b, 295 ff.
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und das Prinzip der Selbstliebe „zum unbedingten praktischen Princip“ machen (KpV 5:74.18 f.). Da nun die Selbstliebe letztlich auf die Realisierung der eigenen Glückseligkeit zielt, diese aber in der „Befriedigung aller unserer Neigungen“ (KrV A 806/B 834) besteht, bezieht sich unsere Tendenz in der Selbstliebe auf alle unsere Neigungen. Alle Neigungen eines endlichen Vernunftwesens, könnte man sagen, beinhalten schon als solche eine Art Anspruch, der auf ihre eigene Befriedigung durch vernünftiges Handeln zielt.²⁸⁰ Der Abbruch der Neigungen im moralischen Urteil ist also im Grunde identisch mit einem Abbruch der Selbstliebe, d. i. mit der Einschränkung unserer Tendenz, allen Objekten unserer Begierden und Neigungen eine praktische Bedeutung zu geben und ihre Befriedigung als einen relevanten Faktor bei der Handlungswahl anzusehen (vgl. Kap. 4, § 10). „Die reine praktische Vernunft“, schreibt Kant, „thut der Eigenliebe blos Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird“ (KpV 5:73.14 ff.).
Die Selbst- bzw. Eigenliebe bringt es mit sich, dass wir den Objekten unserer Begierden und Neigungen schon vor jeder vernünftigen Handlungswahl eine praktische Bedeutung geben und sie als mögliche Zwecke unserer vernünftigen Selbsttätigkeit ansehen. Die Eigenliebe ist Kant zufolge auch „natürlich“ – allerdings nicht im Sinn einer empirischen Gegebenheit unserer tierischen Natur. Es geht vielmehr um unsere Natur als endliche Vernunftwesen, bei welchen die praktische Ausrichtung auf Bedürfnisbefriedigung ein „subjectiv nothwendiges Gesetz“ und ein „Naturgesetz“ (KpV 5:25.32 f.) ist. Der Anspruch des moralischen Urteils besteht demnach auch nicht darin, dass wir die Selbstliebe ganz aufgeben. Der Abbruch der Selbstliebe durch das moralische Urteil ist vielmehr nur partiell. Es geht darum, die Selbstliebe „auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem
280 Engstrom kommentiert Kants Aussage über die Selbstsucht: „The thought here is plainly not that selfishness reduces to a mere bundle of inclinations“ (Engstrom 2010, 101). Wenn meine allgemeinen Überlegungen zur Natur der Selbstliebe zutreffen (vgl. § 2 dieses Kapitels sowie Kap. 4, § 10), dann lässt sich die Selbstsucht bzw. die Selbstliebe jedoch mit Recht als Summe aller Neigungen beschreiben. Dass ein endliches Vernunftwesen eine Neigung hat, bedeutet schon, dass es dazu tendiert, die Befriedigung dieser Neigung als Grund für sein Handeln aufzufassen. Denn Kant zufolge kann das endliche Vernunftwesen seine eigenen Begierden und Neigungen nicht einfach nur als eine faktische Gegebenheit ansehen; es begreift diese vielmehr als Auftrag die eigene Bedürftigkeit durch vernünftiges Handeln zu überwinden. Aus diesem Grund sieht es unweigerlich schon die Gegenstände seiner sinnlichen Lust, in welcher die Begierden und Neigungen ursprünglich entstehen, als potentielle Zwecke seines Handelns an.
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Gesetze“ einzuschränken, d. h. die Befriedigung unserer Neigungen nur dann als einen relevanten Faktor bei der Handlungswahl zu betrachten, wenn das Gesetz uns kein spezifisches Handeln ge- oder verbietet. Anders verhält es sich mit dem Eigendünkel, dem zufolge die Befriedigung der Neigungen stets der ausschlaggebende Faktor bei der vernünftigen Handlungswahl ist. Das moralische Gesetz schließt „den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Princip gänzlich aus und thut dem Eigendünkel, der die subjectiven Bedingungen der ersteren als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch“ (KpV 5:74.21 ff.).
Im Gegensatz zur Selbstliebe tut das moralische Gesetz dem Eigendünkel nicht nur eingeschränkten, sondern „unendlichen Abbruch“ – Kant spricht auch davon, dass das moralische Gesetz den Eigendünkel „niederschlägt“ (KpV 5:73.31). Wir geben im Eigendünkel dem Hang nach, der in unserer Selbstliebe liegt, und machen unsere Neigungen „zur obersten praktischen Bedingung“ (KpV 5:74.35 f.). Auch der Eigendünkel bezieht sich – als eine Form von Selbstsucht – auf alle unsere Neigungen und beinhaltet demzufolge eine Art von praktischer Interpretation aller unserer sinnlichen Antriebe. Im Unterschied zur Selbstliebe lässt der Eigendünkel allerdings keine Einschränkung auf eine vernünftige Form mehr zu. Denn weil wir uns hier bei der vernünftigen Wahl in jedem Fall an die Erwägungen der empirisch-praktischen Vernunft halten, müssen wir den Eigendünkel ganz ablegen, um auch nur dem Anspruch eines einzigen moralischen Urteils zu genügen. Kant beschreibt nun die beiden praktischen Einstellungen, die in einem potentiellen oder tatsächlichen Konflikt mit dem moralischen Gesetz stehen, als Formen von „Selbstschätzung“ (KpV 5:73.19) oder eines evaluativen „Selbstbewußtsein[s]“ (KpV 5:74.28). Kant zufolge gehört „der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch thut“ (5:73.24 f.). Dieser Verweis auf ein evaluatives Selbstverhältnis, das schon in unseren Neigungen enthalten ist,²⁸¹ ergibt sich nun bereits scheinbar zwanglos aus den Ausdrücken ‚Eigenliebe‘ bzw. ‚Selbstliebe‘ und ‚Eigendünkel‘. Tatsächlich ist es nicht so leicht zu explizieren, in welchem Sinn die damit verbundenen praktischen Einstellun-
281 Vgl. folgende bereits zitierte Aussage: „Freiheit, deren Causalität blos durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin [!] die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt“ (KpV 5:78.24 ff.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
gen ein evaluatives Selbstbewusstsein beinhalten sollen.²⁸² Eine relativ unkomplizierte Erklärung hierfür ergibt sich aber, wenn wir berücksichtigen, dass beide Einstellungen die praktische Überlegung und damit letztlich die Beurteilung des Werts unserer eigenen Handlungen betreffen. In der Selbstliebe tendieren wir dazu, unsere eigenen Handlungen als gut zu beurteilen, wenn sie unsere Neigungen befriedigen. Im Eigendünkel ist die Befriedigung unserer Neigungen das einzige Kriterium für die Beurteilung des Werts unserer Handlungen. Beide Einstellungen, Selbstliebe und Eigendünkel, beinhalten also eine Wertschätzung unserer eigenen praktischen Aktivität und damit unserer eigenen Person.²⁸³ Kant zufolge handelt es sich bei unserem Eigendünkel um einen „Wahn“ (KpV 5:75.36). Unsere Selbstschätzung im Eigendünkel beruht damit auf einer Art Schein, der sich ebenfalls im Rekurs auf die praktische Einstellung erklären lässt. Bei einem Wahn handelt es sich um eine „innere praktische Täuschung, das Subjective in der Bewegursache für objectiv zu halten“ (Anth 7:274.21 f.). Die arrogante Person sieht die Tatsache, dass eine Handlung zur Neigungsbefriedigung beiträgt, als einen objektiven Bestimmungsgrund des Willens, d. h. als ein ausreichendes Kriterium der Beurteilung ihrer Handlungen an. Hieraus ergibt sich
282 Allein die Interpretationen, die Engstrom und Reath von Kants Aussagen über die Selbstliebe geben, zeigen, dass die darin enthaltene Selbstschätzung mehrere Facetten hat. Reath zufolge betrachte ich mich in der Selbstliebe als eine Art intersubjektiven ‚Rechtfertigungsgaranten‘ – ich tendiere dazu, mein Handeln gegenüber anderen im Rekurs auf meine eigenen Neigungen zu rechtfertigen (Reath 1989b, 293). Engstrom zufolge bezieht sich meine Selbstschätzung in der Selbstliebe im Grunde auf mich als das fühlende Subjekt. In einem sehr weiten Sinn, so Engstrom, liebe ich zunächst alle Gegenstände meiner Neigungen. Da nun aber die Lust, die ich bei der Befriedigung dieser Neigungen empfinde, auch von meinem Zustand abhängt, entsteht aus dieser Liebe zu den Objekten unweigerlich ein Wohlwollen gegenüber mir selbst als der ‚subjektiven Bedingung‘ meiner eigenen Lusterfahrungen (vgl. Engstrom 2010, 105 f.). – Beide Überlegungen zeigen, dass das evaluative Selbstverhältnis in der Selbstliebe ein komplexes Phänomen ist. Allerdings lässt sich fragen, ob alle Aspekte dieses Phänomens auch für Kants Triebfedertheorie relevant sind. Meiner Deutung zufolge spielt letztlich nur die praktische Selbstschätzung in der Selbstliebe eine systematische Rolle in dieser Theorie. 283 Kant macht an einigen Stellen deutlich, dass es ihm im Triebfederkapitel vor allem auf diese praktische Selbstschätzung ankommt. So leitet er die Beschreibung der Selbstliebe ein, indem er auf unser „pathologisch bestimmbares Selbst“ aufmerksam macht, das „durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist“ (KpV 5:74.11 ff.). Das pathologisch bestimmbare Selbst ist also nicht einfach das fühlende Subjekt, sondern ein praktisches Selbst, das sich Maximen gibt. An anderer Stelle bemerkt Kant, dass die Einschränkung der Neigungen im moralischen Urteil „vornehmlich der Thätigkeit des Subjects, so fern Neigungen die Bestimmungsgründe desselben [Subjekts – T. H.] sind, mithin der Meinung seines persönlichen Werths Abbruch thut“ (KpV 5:78.31 ff.). Die „Meinung seines persönlichen Werths“ betrifft folglich das Subjekt der praktischen Tätigkeit, also das Subjekt eines durch Neigungen bestimmbaren Wollens.
§ 5 Die Einschränkung der Selbstliebe und das Niederschlagen des Eigendünkels
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aber nun auch eine Selbsttäuschung im evaluativen Selbstbewusstsein der arroganten Person. Der Wert, den diese Person ihrem eigenen Selbst in der praktischen Beurteilung ihres Handelns zuschreibt, ist bloß abgeleitet, weil dieser Wert durchgehend von äußeren Einflüssen und damit eigentlich von einem Anderen abhängig ist. Indem die Person alle ihre Handlungen im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Neigungen beurteilt, bindet sie ihren Selbstwert an ihre Sinnlichkeit und damit an die Einflüsse von außen.²⁸⁴ Denn in der empirisch-praktischen Beurteilung betrachten wir unsere Handlungen zwar als „gut, aber nicht schlechthin, sondern nur in Beziehung auf unsere Sinnlichkeit, in Ansehung ihres Gefühls der Lust und Unlust“ (KpV 5:62.31 ff.). Aus der Perspektive des Eigendünkels liegt folglich das Kriterium der Wertschätzung der eigenen Aktivität letztlich im Gefühl der Lust oder Unlust. Dies ist aber nicht so zu verstehen, dass die arrogante Person ihr Selbst mit einem Gefühlszustand schlechthin gleichsetzt. Eher schon macht diese Person den Wert ihres eigentlichen Selbst – den Wert ihrer Handlungen – durchgehend von ihrem Zustand und damit von einem Anderem abhängig. Der Wahn der arroganten Person liegt also darin, dass sie den Wert ihres Wesens an den Wert ihres Zustandes bindet.²⁸⁵ Das moralische Urteil hat demnach also eine negative Auswirkung auf unsere Selbstwertschätzung, die in den praktischen Einstellungen der Selbstliebe und des Eigendünkels enthalten ist. Diese Auswirkung ist im Fall der Selbstliebe nur
284 Damit bindet, wie Engstrom zeigt, die arrogante Person ihre praktischen Urteile auch an einen „partikularen Maßstab“, nämlich an ihr eigenes Gefühl der Lust und Unlust: „[…] [S]elfconceit is a propensity to put what is in fact a radically particular standard of judgment – the feeling of a single individual – in the place of a standard of objective rational cognition“ (Engstrom 2010, 116). 285 Im Hintergrund von Kants Aussagen über das praktische Selbst und die Person steht deutlich die metaphysische Unterscheidung zwischen Wesen und Zustand. So heißt es in Kants Verteidigung der drastischen Darstellungen der Apathie in den Schriften der Stoiker: „Man mochte also immer den Stoiker auslachen, der in den heftigsten Gichtschmerzen ausrief: Schmerz, du magst mich noch so sehr foltern, ich werde doch nie gestehen, daß du etwas Böses (κακόν, malum) seist! er hatte doch recht. Ein Übel wars, das fühlte er, und das verrieth sein Geschrei; aber daß ihm dadurch ein Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursache einzuräumen; denn der Schmerz verringert den Werth seiner Person nicht im mindesten, sondern nur den Werth seines Zustandes“ (KpV 5:60.26 ff.). Kant zufolge handelt es sich bei den exzessiven Darstellungen der Apathie bei den Stoikern also nicht um Phantasien der Schmerzresistenz. Der stoische Philosoph fühlt den Schmerz, vermeidet aber den Fehler, den Wert seines praktischen Selbst von diesem Schmerz, also vom „Werth seines Zustandes“, abhängig zu machen. – Im Hinblick auf das moralische Gefühl spricht Kant dann hingegen von einer Selbstschätzung, die wir für unser „eigenes Wesens“ empfinden: „Wenn es demnach heißt: Der Mensch hat eine Pflicht der Selbstschätzung, so ist das unrichtig gesagt, und es müßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab“ (MS 6:402 f.34 ff.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
partiell; soweit es in den Grenzen echter Moralität möglich ist, dürfen wir unseren Handlungen und damit uns selbst also einen gewissen Wert im Hinblick auf die Befriedigung unserer Neigungen zuschreiben. Unsere Selbstschätzung im Eigendünkel wird durch den Anspruch des moralischen Gesetzes hingegen im Ganzen delegitimiert. Denn im Gegensatz zur Selbstliebe lässt sich die praktische Einstellung, welche mit dem Eigendünkel verbunden ist, nicht mehr in eine vernünftige Form bringen. Die reine praktische Vernunft schlägt den Eigendünkel nieder, weil „alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugniß sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werths der Person ist […] und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist“ (KpV 5:73.19 ff.).
Die arrogante Person ignoriert das moralische Gesetz und bindet den Wert ihrer Handlungen – den Wert ihres Selbst – ausschließlich an ihre eigene Sinnlichkeit. Da sie ihre eigenen empirisch-praktischen Urteile sowie das sich daraus ergebende evaluative Selbstbild erst gar nicht einer Kritik durch die reine praktische Vernunft unterzieht, sind ihre Urteile und die damit verbundenen „Ansprüche der Selbstschätzung […] nichtig und ohne alle Befugniß“. Damit sind die Grundzüge des ersten Schritts von Kants Argumentation im Triebfederkapitel dargestellt. Dieser Schritt betrifft zunächst nur einen kognitiven Aspekt der Auswirkung, welche das moralische Urteil auf das Gemüt der urteilenden Person hat. Kant zeigt hier zunächst, dass der Anspruch im moralischen Urteil mit einer Einschränkung bzw. Delegitimierung der evaluativen Einstellung verbunden ist, die wir gegenüber unserem nicht-moralischen Handeln und unserem empirisch-praktischen Selbst einnehmen. Der Grundgedanke Kants ist relativ einfach: Der Ausschließlichkeitsanspruch moralischer Gründe muss im urteilenden Bewusstsein endlicher Vernunftwesen unmittelbar mit einer Delegitimation ihres praktischen Selbstbewusstseins verbunden sein. Das Bewusstsein dieses Anspruchs ist unmittelbar verknüpft mit der Einsicht, dass jeder objektive Wert, den wir uns selbst in praktischen Urteilen vernünftigerweise zuschreiben können, letztlich vom moralischen Gesetz und seiner Befolgung abhängt.²⁸⁶
286 Der vorgestellte Grundgedanke beruht auf einer Idee, die äußerst bedeutsam für Kants Theorie der Achtung für das Sittengesetz ist. Kant zufolge lässt sich die evaluative Einstellung in praktischen Urteilen auf mehreren Ebenen analysieren, die eine gewisse explanatorische Ordnung aufweisen. Auf der Oberfläche beinhaltet das praktische Urteil eine lokale Wertschätzung bzw. Missbilligung einer bestimmten Handlung. Dabei spielen natürlich nicht nur die äußere
§ 6 Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust
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§ 6 Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust Wenn es nun allerdings um die Wirkung gehen soll, die das moralische Urteil qua Willensbestimmung auf das menschliche Begehrungsvermögen hat, so muss der Abbruch aller Neigungen auch einen desiderativen Aspekt haben. So heißt es gleich im dritten Absatz des Triebfederkapitels: „Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mithin nicht blos ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, blos durchs Gesetz bestimmt werde. So weit ist also die Wirkung des moralischen Gesetzes als Triebfeder nur negativ, und als solche kann diese Triebfeder a priori erkannt werden“ (KpV 5:72.28 ff.).
Dass Kant hier die Willensbestimmung durch das moralische Gesetz aus einer eher desiderativen Perspektive betrachtet, zeigt sein Rekurs auf den freien Willen. Wesentlich für die moralische Willensbestimmung ist die Tatsache, dass der Wille hier „als freier Wille“ und also unter Abbruch aller sinnlichen Antriebe bestimmt wird. An einer anderen Stelle heißt es: „Freiheit, deren Causalität blos durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen […] auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt“ (KpV 5:78.24 ff.). Das moralische Urteil wird hier also als eine Bestimmung unserer „Causalität“, d. h. als eine Aktualisierung unseres freien Willensvermögens betrachtet. Als solches enthält es nicht nur das rationale Bewusstsein, dass wir die Befriedigung unserer Neigungen nicht bei der Handlungswahl berücksichtigen dürfen. Wenn uns das moralische Urteil zu einer genuinen Befolgung des Gesetzes antreiben soll, so muss es „den hindernden Einfluß der Neigungen“ schwächen (KpV 5:79.15 f.), und zwar so, dass wir dazu tendieren diesen Neigungen keine Rolle mehr bei der Wahl unserer Maxime einzuräumen. Engstrom hat den Kern dieses schwierigen Gedankens auf eine bestechend einfache Weise erläutert. Engstrom zufolge müssen wir nur an das alltägliche Phänomen denken, wenn unsere Begierden oder Neigungen durch die Einsicht frustriert werden, dass wir ihre Objekte nicht realisieren können. Auch hier wirkt sich eine nüchterne Einsicht auf unsere Begierden und Gefühle aus, was daran
Erscheinung der Handlung, sondern auch die Form der Handlungsmaxime sowie die relevanten Handlungsgründe eine Rolle. Auf einer tieferen Ebene beinhaltet das praktische Urteil nun aber auch eine globale Wertschätzung bzw. Missbilligung unserer eigenen Person. In allen unseren praktischen Urteilen bewerten wir eine Aktivität, die für uns als Menschen konstitutiv ist; aus diesem Grund betrifft jedes einzelne praktische Urteil den Wert unserer Person insgesamt.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
erkennbar ist, dass wir uns frustriert fühlen.²⁸⁷ – Tatsächlich analysiert Kant selbst in einer Anmerkung zur Einleitung in die Kritik der Urteilskraft einen derartigen Fall (vgl. KU 5:177 f. Anm.). Kant zufolge sind wir dazu in der Lage Gegenstände zu begehren, von denen wir genau wissen, dass sie sich nicht realisieren lassen. So haben wir zuweilen den starken Wunsch „das Geschehene ungeschehen zu machen“ (KU 5:178.17 f. Anm.).Weil wir hier genau wissen, dass wir diesen Gegenstand unserer Begierde nicht verwirklichen können, unternehmen wir meistens auch nichts zu seiner Verwirklichung. Gleichwohl verschwindet unsere Begierde dadurch natürlich nicht, weil wir keinen Einfluss darauf haben, was wir (sinnlich) begehren. Das kausale oder praktische Potential unserer Begierde bleibt also erhalten, was sich Kant zufolge an den psycho-physischen Begleiterscheinungen von starken, aber unerfüllbaren Sehnsüchten bemerkbar macht. Diese Sehnsüchte „beweisen dadurch, daß sie das Herz ausdehnen und welk machen und so die Kräfte erschöpfen, daß die Kräfte durch Vorstellungen wiederholentlich angespannt werden“ (KU 5:178.24 ff. Anm.). Die nüchterne Beurteilung unserer fehlenden Erfolgsaussichten führt also dazu, dass sich unsere Begierde nicht mehr auf eine geordnete, d. h. auf die für uns Menschen typische rationale Weise entfalten kann. Es wäre nicht vernünftig, in einem derart aussichtslosen Fall immer noch darüber nachzudenken, was wir zur Befriedigung unserer Begierde unternehmen sollten. Das kausale Potential der unerfüllten Begierde macht sich aber gleichwohl in seelischen Stimmungen und körperlicher Erschöpfung bemerkbar.²⁸⁸ Auf ähnliche Weise verhält es sich nun mit dem Abbruch, der den Neigungen durch das moralische Urteil geschieht. Alle Neigungen eines endlichen Vernunftwesens enthalten aufgrund seiner Selbstliebe eine Tendenz oder einen Anspruch auf ihre Befriedigung durch die praktische Aktivität. Das moralische Urteil schränkt nun diese Tendenz unserer Neigungen ein, weil es diesen Anspruch enttäuscht, und es verändert auf diese Weise die Qualität unserer Neigungen. Diese Qualität besteht nun allerdings nicht (oder nicht nur) darin, dass wir in vielen Fällen auf die Befriedigung unserer Neigungen verzichten müssen, um etwa unseren Nächsten in Not zu helfen. Eher schon erhält die Neigung eine negative Qualität, weil sich das kausale Potential der zugrunde liegenden Begierde nicht auf eine geordnete und für das menschliche Begehren typische Weise ent-
287 Vgl. Engstrom 2010, 98 ff. 288 Kant beschreibt diesen Fall an anderer Stelle auch so, dass sich die Begierde nach dem Gegenstand und unser Wissen zueinander wie zwei einander entgegengesetzte Kräfte verhalten (vgl. Hagen 21, XLIII, Z. 16 – 21). Diese Beschreibung zeigt die offenkundige Parallele zum Abbruch unserer Neigungen im moralischen Urteil; auch hier verwendet Kant das Bild einander entgegengesetzter Kräfte (vgl. § 7 dieses Kapitels).
§ 6 Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust
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falten kann. Wie bei unseren unerfüllbaren Sehnsüchten handelt es sich bei unseren Neigungen um Vorstellungen, denen zwar die für das Begehren charakteristische kausale Rolle zukommt, die aber im Fall der Befolgung des moralischen Gesetzes keinen (oder zumindest keinen geordneten) Einfluss auf unsere Kräfte haben und nicht zu entsprechenden Handlungen führen können. Denn einen derartigen Einfluss können die Neigungen bei uns Menschen nur in einer empirisch-praktischen Überlegung gewinnen, durch die wir die Wahl unserer Handlungen von der Neigungsbefriedigung abhängig machen. Da dies aber gerade durch das moralische Urteil ausgeschlossen wird, bleiben die Neigungen der moralisch handelnden Person notwendig bloße Wünsche.²⁸⁹ Allerdings gibt es auch wesentliche Unterschiede zwischen dem Phänomen unerfüllter Wünsche und dem Abbruch unserer Neigungen durch das moralische Urteil. Diese Unterschiede ergeben sich aus einer näheren Betrachtung der Auswirkung, welche der Abbruch der Neigungen auf unser Gefühl hat. Kant zufolge
289 Reath zufolge kann Kant die moralische Motivation nicht im Rückgriff auf ein Modell ausgleichender Kräfte („balance of forces model“, Reath 1989b, 296) erklären. Wie stark die affektive Kraft unserer Neigungen auch sein mag – einen Einfluss auf den Willen können sie nur dadurch ausüben, dass wir ihre Befriedigung als Gründe für die Wahl einer Handlung betrachten. „Simply stated, inclinations influence choices by being regarded as sources for reasons which can be cited in some form to make your actions acceptable to others. Their influence on choice comes not simply from their strength or affective force, but from the value which the agent supposes them to have“ (Reath 1989b, 296). – Mir scheint nun erstens das Modell einander ausgleichender Kräfte nicht unweigerlich im Widerspruch zu der Tatsache zu stehen, dass wir unsere Neigungen als Gründe für die Wahl einer Handlung betrachten (und uns in diesem Sinn frei entscheiden). Kants Gedanke ist allerdings nicht, dass sich motivatorische Tendenzen ausgleichen, die außerhalb unserer praktischen Überlegung und damit außerhalb unseres freien Willens stehen. Auch hier sollten wir Kants Zwei-Aspekte-Theorie der praktischen Vernunft berücksichtigen (vgl. § 3 dieses Kapitels). Die Neigungen sind Kant zufolge motivatorische Tendenzen, gerade sofern sie bei einem endlichen Vernunftwesen bereits einen normativen Anspruch enthalten, der auf ihre eigene Befriedigung zielt (vgl. Kap. 4, § 10). Zweitens scheint für Kant ein Zusammenhang zwischen der Stärke einer Neigung – genauer: der Stärke einer Begierde – und dem Wert zu bestehen, den die handelnde Person dem begehrten Gegenstand im zugrunde liegenden Gefühl der Lust zuschreibt. So liegt ja die Annahme nahe, dass die Stärke unserer Begierde direkt korreliert ist mit dem Grad der Lust, in welcher diese Begierde entsteht. Nun haben wir bereits gesehen, dass sich Kants Redeweise vom ‚Grad‘ der Lust in dem Sinn verstehen lässt, dass uns manche Gegenstände in der sinnlichen Lust mehr gefallen als andere (vgl. Kap. 4, § 9). Folglich scheint die Stärke unserer Begierde direkt korreliert zu sein mit unserer Wertschätzung des begehrten Gegenstandes. Dies gilt nicht zuletzt für die evaluativen Überzeugungen, die unseren habitualisierten Begierden bzw. Neigungen zugrunde liegen (vgl. hierzu Kap. 4, § 7). Wenn meine Neigung nach Schokolade stärker ist als jene nach Obst, dann bedeutet dies, dass ich generell lieber Schokolade esse als Obst.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
können wir die negative Wirkung, die das moralische Gesetz auf unser Gemüt hat, a priori erkennen: „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl. Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag thut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann“ (KpV 5:72 f.34 ff.).
Kant versucht in dieser Passage zu zeigen, dass sich der Abbruch der Neigungen durch das moralische Urteil auf das Gefühl der Lust und Unlust auswirken muss. Dies sei deswegen der Fall, weil jede Neigung auf dem Gefühl beruht und die „negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) selbst Gefühl“ ist (KpV 5:73.1 f.). – Dieses Argument ist ganz offensichtlich problematisch. Wie wir im vierten Kapitel gesehen haben, entstehen Kant zufolge unsere Neigungen tatsächlich ursprünglich als (logisch einzelne) Begierden in einem Gefühl sinnlicher Lust. Allerdings stellt sich die Frage, warum hieraus schon folgen sollte, dass sich auch der Abbruch der Neigungen negativ auf das sinnliche Gefühl auswirken sollte. Man müsste hier mit Engstrom noch einen weiteren Zwischenschritt einführen: Aus der Tatsache, dass sich unsere Begierden in einem Gefühl ergeben, muss folgen, dass auch jede anschließende Veränderung der Begierde von einer affektiven Reaktion begleitet ist – z. B. von Hoffnung, Furcht sowie den entsprechenden positiven Gefühlen.²⁹⁰ Letztlich scheint der tiefere Grund für Kants Behauptung, dass sich der Abbruch der Neigungen in einem Gefühl bemerkbar machen muss, in einer anderen Auffassung zu liegen. Kant zufolge beinhaltet der Abbruch unserer Neigungen eine Behinderung jener Aktivität, die für uns als lebendige Wesen charakteristisch ist. Wenn unsere Neigungen frustriert werden, dann wird die Aktivität unseres Begehrungsvermögens eingeschränkt. Folglich muss sich die Wirkung, die das moralische Urteil qua Willensbestimmung auf unsere Neigungen hat, auch in einem Gefühl der ‚Behinderung des Lebens‘ und also in einem Unlustzustand bzw. einem Schmerz bemerkbar machen. Wenn dies allerdings zutrifft, so unterscheidet sich dieses Gefühl wesentlich von der sinnlichen Lust, in welcher unsere Begierden entstehen. Denn Kant zufolge ergibt sich diese Lust ja nicht aus einer Beförderung unserer Aktivität des Begehrens; das Begehren folgt vielmehr erst als Wirkung auf diese Lust. Im dritten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass unsere sinnliche Lust aus einer gesteigerten Aktivität unserer körperlichen Kräfte resultiert, die wesentlich beim
290 Vgl. Engstrom 2010, 99.
§ 6 Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust
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Zustandekommen einer (theoretischen) Empfindung beteiligt sind (vgl. Kap. 3, § 3). In der sinnlichen Lust werden wir uns der Tatsache bewusst, dass unsere körperlichen Kräfte anlässlich der Gegenwart eines Gegenstandes in einen Aktivitätszustand geraten, der allgemein zweckmäßig ist für die Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim körperlichen Handeln. Da wir schon aus diesem Grund einen derartigen Zustand aufrechterhalten wollen, ist diese Lust mit der Entstehung einer Begierde nach dem Gegenstand verbunden. Aus dieser Überlegung ergibt sich nun ein wesentlicher Unterschied, der zwischen der einfachen Frustration einer Sehnsucht und dem moralischen Abbruch unserer Neigungen besteht. Im ersten Fall scheinen die entsprechenden negativen Gefühle der Enttäuschung und Erschöpfung tatsächlich eine körperliche Grundlage zu haben. Unsere unerfüllten Sehnsüchte beinhalten negative sinnliche Gefühle, sofern diese Sehnsüchte „das Herz ausdehnen und welk machen und so die Kräfte erschöpfen“ (KU 5:178.25 Anm.). Mit unseren unerfüllten Sehnsüchten sind also Schmerzgefühle verbunden, weil sie sich negativ auf unsere körperliche Vitalität auswirken. Dem moralischen Schmerzgefühl, das aus dem Abbruch unserer Neigungen resultiert, scheint hingegen gar kein körperlicher Aktivitätszustand zugrunde zu liegen. Das Gefühl ergibt sich vielmehr daraus, dass das kausale Potential unserer Neigungen durch das moralische Urteil eingeschränkt wird. Dieser Beobachtung entspricht Kants Aussage, dass das moralische Schmerzgefühl nicht ‚pathologisch gewirkt‘ sein kann. So stellt Kant im Anschluss an seine Aussage über den Schmerz fest, dass es sich hier um „den ersten, vielleicht auch einzigen Fall“ handelt, „da wir aus Begriffen a priori das Verhältniß eines Erkenntnisses […] zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten“ (KpV 5:73.6 ff.). Dementsprechend heißt es später über das Gefühl der Achtung: „Wäre dieses Gefühl der Achtung pathologisch und also ein auf dem inneren Sinne gegründetes Gefühl der Lust, so würde es vergeblich sein, eine Verbindung derselben mit irgend einer Idee a priori zu entdecken“ (KpV 5:80.8 ff.). Folglich darf auch das Schmerzgefühl, welches dem Gefühl der Achtung zugrunde liegt, seiner Ursache nach nicht auf einem mit Empfindung verbundenen Bewusstsein körperlicher Aktivität beruhen. Dieses Gefühl ergibt sich vielmehr daraus, dass ein desiderativer Aktivitätszustand, der in unseren Neigungen enthalten ist, unmittelbar durch die Aktivität der reinen praktischen Vernunft eingeschränkt wird. Man könnte sich nun fragen, auf welche Weise dieses moralische Schmerzgefühl genau entsteht. Im dritten Kapitel haben wir gesehen, dass die Entstehung der Gefühle einem sehr komplexen Schema folgt; ein Gefühl entsteht Kant zufolge nicht einfach nur dadurch, dass eine beliebige Aktivität des Subjekts befördert (oder vermindert) wird. Der zugrunde liegende Aktivitätszustand muss darüber hinaus auch als subjektiv zweckmäßig (oder zweckwidrig) wahrgenommen wer-
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
den im Hinblick auf die Ausübungsbedingungen eines übergeordneten Gemütsvermögens (vgl. Kap. 3, § 3). Wie lassen sich diese Angaben auf das moralische Schmerzgefühl übertragen? Zunächst handelt es sich hier natürlich um einen Fall von Unlust, die als solche aus einer verminderten Aktivität entsteht und darüber hinaus ein Bewusstsein subjektiver Zweckwidrigkeit enthalten sollte. In diesem Gefühl sollten wir uns, mit anderen Worten, der Tatsache bewusst werden, dass der Aktivitätszustand unserer Neigungen nicht zu den Ausübungsbedingungen eines übergeordneten Vermögens des menschlichen Gemüts passt. Allerdings stellt sich damit die Frage, welches Vermögen hier genau gemeint sein könnte und worin das angesprochene Missverhältnis zwischen den Neigungen und diesem übergeordneten Vermögen bestehen könnte. Eine Antwort auf diese schwierige Frage ergibt sich vielleicht im Rekurs auf eine Aussage Kants über die „Kategorien der Freiheit“ (KpV 5:65.27), also jene Begriffe des Guten und Bösen, die unseren praktischen Urteilen zugrunde liegen. Kant zufolge dienen diese Begriffe dazu, „das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen“ (KpV 5:65.23 ff.).
In unseren moralischen Urteilen unterwerfen wir das „Mannigfaltige der Begehrungen“ der Einheit eines reinen Willens. Im Unterschied zu den reinen Verstandesbegriffen stellen die Kategorien der Freiheit allerdings keine bloß kognitiven Ordnungsfunktionen dar; sie dienen vielmehr dazu, unsere ungeordneten Neigungen der Einheit des reinen Willens zu „unterwerfen“ und ihnen in diesem Sinn Gewalt anzutun. Die ordnende Funktion der Begriffe des Guten in unseren moralischen Urteilen lässt sich folglich auf den gewaltsamen Abbruch unserer Neigungen beziehen, von dem Kant im Triebfederkapitel spricht. Im moralischen Urteil wird unsere Selbstliebe, und damit alle unsere Neigungen, auf die „Bedingung der Einstimmung“ mit dem moralischen Gesetz eingeschränkt (KpV 5:73.17). Aus diesen Aussagen ergibt sich nun zumindest der Ansatz für eine etwas umfassendere Erklärung der Entstehung des moralischen Schmerzes. Diesem Schmerz liegt zunächst ein Zustand verminderter Aktivität zugrunde, der aus dem Abbruch unserer Neigungen im moralischen Urteil resultiert. Darüber hinaus werden wir uns in diesem Schmerzgefühl der Tatsache bewusst, dass unsere Begierden und Neigungen nicht schon von sich aus der Einheit des reinen Willens entsprechen. In diesem Sinn beinhaltet der moralische Schmerz also das Bewusstsein einer subjektiven Zweckwidrigkeit. Die Aktivität unserer Neigungen, die sich weitgehend unserer intellektuellen Kontrolle entzieht (vgl. § 4 dieses Kapi-
§ 6 Die Wirkung auf das Gefühl der Lust und Unlust
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tels), passt nicht zu den Bedingungen reinen Wollens. Denn die Neigungen sind mit der Tendenz verbunden, den Anspruch des moralischen Gesetzes zu ignorieren. Dem moralischen Schmerz liegt folglich die Wahrnehmung eines Missverhältnisses zugrunde, das zwischen unserem sinnlichen Begehrungsvermögen und dem übergeordneten Vermögen eines reinen Willens besteht. In dem moralischen Schmerzgefühl registrieren wir, dass der Zustand unserer Begierden und Neigungen noch nicht von sich aus den vernünftigen Bedingungen praktischer Aktivität entspricht.²⁹¹ Wenn diese Überlegungen zutreffen, so ergibt sich noch ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem moralischen Schmerz und den Gefühlen der Frustration, die unsere unbefriedigten Begierden und Sehnsüchte begleiten. Dieser Unterschied betrifft nicht die Entstehung, sondern eher den evaluativen Gehalt dieser Gefühle. Wir mögen im Fall unerfüllter Sehnsüchte ein starkes Gefühl des Bedauerns oder sogar der Verzweiflung darüber empfinden, dass wir den ersehnten Gegenstand nicht realisieren können. Wenn wir allerdings den moralischen Schmerz tatsächlich auf die angesprochene Weise erklären, so kann die Qualität dieses Gefühls nicht mehr als ein reines Bedauern beschrieben werden. Denn diesem Gefühl liegt ein Bewusstsein der Unangemessenheit unserer Neigungen zu den Bedingungen des reinen Wollens zugrunde. Folglich ist dieser Schmerz seiner Qualität nach weniger ein Gefühl des Bedauerns, sondern eher ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit oder des eigenen Unvermögens.²⁹²
291 Obwohl sich also der moralische Schmerz von sinnlichen Schmerzen unterscheidet, besteht zwischen den beiden Gefühlen doch eine fundamentale Analogie. Den sinnlichen Schmerzen liegt ein körperlicher Aktivitätszustand zugrunde, der im Hinblick auf die allgemeinen Bedingungen der Ausübung unseres Begehrungsvermögens beim körperlichen Handeln als unzweckmäßig empfunden wird. Unsere körperlichen Schmerzgefühle resultieren folglich aus dem wahrgenommenen Missverhältnis zwischen unserem körperlichen Aktivitätszustand und den allgemeinen Bedingungen der Ausübung unseres Begehrungsvermögens (vgl. Kap. 3, § 3). Dem moralischen Schmerz liegt ein mentaler Aktivitätszustand der Neigungen zugrunde, der im Hinblick auf die allgemeinen Bedingungen reinen Wollens als unzweckmäßig empfunden wird. Dieser Schmerz resultiert also aus einem wahrgenommenen Missverhältnis zwischen dem Zustand unserer Neigungen und dem Ideal des reinen Willens. 292 Engstrom zufolge kommen dem moralischen Schmerz noch keine Eigenschaften zu, die ihn von anderen sinnlichen Schmerzgefühlen unterscheiden. So schreibt Engstrom über diesen Schmerz: „Such a feeling would be produced just as well by any other obstacle, such as a rain shower that spoils one’s plans for a picnic. […] The feeling reflects the nature of the inclinations rather than the moral law; nothing has yet emerged that qualifies as moral feeling in any interesting sense“ (Engstrom 2010, 100). Wenn meine Analyse zutrifft, dann enthält das moralische Schmerzgefühl mindestens zwei wesentliche Eigenschaften, die es von sinnlichen Gefühlen der Frustration unterscheidet. Es beruht erstens nicht auf körperlichen Aktivitätszuständen, sondern auf dem Bewusstsein, dass das Mannigfaltige unserer Neigungen noch nicht
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Von der Sache her wird man sagen dürfen, dass sich beide Phänomene im Bewusstsein moralischer Verpflichtung nicht so klar voneinander trennen lassen. Der Pflichtbegriff enthält, wie Kant im Triebfederkapitel schreibt, „praktische Nöthigung, d. i. Bestimmung zu Handlungen so ungerne, wie sie auch geschehen mögen“ (KpV 5:80.27 f.). Mit dem Bewusstsein unserer Pflicht ist ein Gefühl der „Unlust an der Handlung“ (KpV 5:80.35) verbunden, und die Überwindung unserer Begierden verlangt von uns „Aufopferung“ (KpV 5:83.31 f.). Man kann also mit Recht davon sprechen, dass wir Kant zufolge auch ein gewisses Bedauern empfinden, wenn wir uns unserer Pflicht bewusst werden. Im Unterschied zu einfachen Fällen der Frustration ist dieses Bedauern nun aber unmittelbar verbunden mit dem Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit oder der Scham. Tatsächlich mögen wir es insgeheim bedauern, dass uns die Pflicht in vielen Fällen einen Verzicht auf die Befriedigung unserer Neigungen abverlangt. Doch dieses Bedauern werden wir – so Kants grundlegende Beobachtung – niemals ohne ein gewisses Unbehagen an uns selbst empfinden, und genau hierin besteht unser moralischer Schmerz.
§ 7 Demütigung und Achtung Im ersten Schritt seiner Argumentation hatte Kant gezeigt, dass der Anspruch, den das moralische Gesetz im moralischen Urteil an uns stellt, im Bewusstsein der urteilenden Person einen spezifischen evaluativen Aspekt haben muss. Das Bewusstsein dieses Anspruchs beinhaltet Kant zufolge notwendig eine Einschränkung bzw. Delegitimation der evaluativen Einstellung, die wir in unseren empirisch-praktischen Urteilen ganz unweigerlich uns selbst gegenüber einnehmen. Im zweiten Schritt legt Kant hingegen dar, dass das moralische Urteil auch ein Gefühl in uns bewirken muss. Die psychische Frustration unserer Neigungen durch die desiderative Kraft des moralischen Urteils bewirkt einen moralischen Schmerz in uns, der aus einer Behinderung unserer lebendigen Aktivität resultiert. Auch dieses Gefühl besitzt einen evaluativen Gehalt – es handelt sich um ein noch unbestimmtes Unbehagen, das wir an uns selbst und unserer eigenen Unzulänglichkeit empfinden. Im dritten Schritt seiner Argumentation verbindet Kant nun diese beiden Überlegungen. Indem wir den unbestimmten Schmerz in einer Reflexion auf den evaluativen Aspekt unseres moralischen Urteils zurückbeziehen, erhält dieses Gefühl einen bestimmten evaluativen Gehalt. Es wird zu einer
von sich aus eine moralische Einheit aufweist. Zweitens ist es seiner Qualität nach kein Bedauern, sondern eher das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit.
§ 7 Demütigung und Achtung
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komplexen moralischen Emotion, die zum einen Selbstdemütigung, zum anderen aber auch Selbstachtung bzw. Achtung vor dem Sittengesetz beinhaltet. Ich beginne mit dem Gefühl der Demütigung, das Kant zufolge notwendig mit dem moralischen Urteil verbunden ist. So weist Kant an einer wichtigen Stelle im Triebfederkapitel darauf hin, dass zwischen dem evaluativen Aspekt des moralischen Urteils und dem Gefühl der Demütigung eine notwendige Verbindung bestehen muss: „Was […] unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urtheil Abbruch thut, das demüthigt“ (KpV 5:74.23 f.). Wenn wir uns im eigenen Urteil der Tatsache bewusst werden, dass wir uns zu Unrecht einen Wert zugeschrieben haben, dann fühlen wir uns gedemütigt. Kants Aussage lässt freilich offen, warum eine solche notwendige Verbindung zwischen unserem moralischen Urteil und dem Gefühl der Demütigung besteht. Zu dieser Frage äußert sich Kant im Triebfederkapitel nur in Andeutungen. So erklärt Kant direkt im Anschluss an die zitierte Stelle: „Also demüthigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht“ (KpV 5:74.24 ff.). Das Demütigungsgefühl scheint also durch einen Vergleich zu entstehen.Wir vergleichen den sinnlichen Hang unserer Natur mit dem Anspruch, den das moralische Gesetz im moralischen Urteil an uns stellt. Diese Idee eines Vergleichs oder einer Reflexion taucht dann wenig später erneut in Kants Erklärung des moralischen Gefühls der Demütigung bzw. der Achtung auf. Kant zufolge beinhaltet dieses Gefühl eine Demütigung, sofern das Gefühl selbst als „Wirkung […] vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes, folglich in Beziehung auf eine intelligibele Ursache, nämlich das Subject der reinen praktischen Vernunft als obersten Gesetzgeberin“ (KpV 5:75.8 ff.) betrachtet wird. Die Qualität des Gefühls als einer Demütigung ergibt sich folglich dadurch, dass wir einen noch unbestimmten Schmerz in einer Reflexion auf den Anspruch zurückbeziehen, den die reine praktische Vernunft bzw. das moralische Gesetz im moralischen Urteil an uns stellt. Worum genau geht es in dieser Reflexion? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich zunächst einen anderen, aber ähnlich gelagerten Fall zu betrachten, nämlich die ästhetische Reflexion auf das Mathematisch-Erhabene (vgl. KU 5:248 ff.). Kant zufolge handelt es sich beim Mathematisch-Erhabenen um einen Gegenstand der Wahrnehmung, der – verkürzt gesagt – zu groß ist für unsere Einbildungskraft (wie z. B. eine ägyptische Pyramide, die wir nicht auf einen Blick erfassen können). Bei der ‚ästhetischen Größenschätzung‘ derartiger Gegenstände stößt die Einbildungskraft unweigerlich an eine Grenze. Zwar vermag sie beim Auffassen des gegebenen Mannigfaltigen potentiell bis ins Unendliche fortzuschreiten; doch gelingt es ihr nur ein begrenztes ‚Maß‘ dieses Mannigfaltigen in das Ganze einer Vorstellung zusammenzufassen. Die Einbildungskraft gelangt hier „bald zu ihrem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Größenschätzung“ (KU 5:252.2 f.). Da sich in der Einbildungskraft nun allerdings ein „Bestreben zum Fortschritte ins Unendliche“ findet (KU 5:250.23), muss sich angesichts des Mathematisch-Erhabenen bei uns ein Gefühl der Unzulänglichkeit einstellen. In diesem Gefühl werden wir uns der Diskrepanz bewusst, die zwischen dem faktisch erreichten Maximum in der Vorstellung eines Gegenstandes und dem in der Vernunftidee geforderten unendlichen Ganzen besteht. Gemessen an der Idee des unendlichen Ganzen ist selbst das ästhetisch-größte Grundmaß der Einbildungskraft verschwindend gering. In der Reflexion auf das Mathematisch-Erhabene vergleichen wir also zunächst die faktische Leistung eines sinnlichen Vermögens mit einer Forderung der Vernunft. Die faktisch erreichte maximale Leistung der Einbildungskraft bleibt weit zurück hinter der unendlichen Leistung, die in der Vernunftidee gefordert wird. Entsprechend handelt es sich bei dem Gefühl, das aus dieser Reflexion resultiert, zunächst um ein negatives „Gefühl der Unangemessenheit“ (KU 5:252.23) eines Vermögens vor den Ansprüchen der Vernunft. Die Ähnlichkeit zum moralischen Schmerzgefühl ist unübersehbar. Auch dieses Gefühl ist, wie im letzten Abschnitt gezeigt, ein negatives Gefühl der Unangemessenheit, nämlich der Zweckwidrigkeit unseres Begehrungsvermögens im Hinblick auf die im moralischen Gesetz gedachte Idee eines reinen Wollens. Darüber hinaus scheint die Reflexion, in welcher das moralische Schmerzgefühl zu einem Gefühl der Demütigung wird, auf einem ganz ähnlichen Bewusstsein einer unendlichen Diskrepanz zu beruhen. Im moralischen Urteil, schreibt Kant im Triebfederkapitel, tut das Gesetz unserem „Eigendünkel, der die subjectiven Bedingungen der ersteren [der Selbstliebe – T. H.] als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch“ (KpV 5:74.22 f.; H. v. m.). In diesem Urteil, heißt es an anderer Stelle, wird der Wert, den wir unserer eigenen Person im Eigendünkel faktisch zuschreiben, „auf nichts herabgesetzt“ (KpV 5:78.34; H. v. m.). Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die Reflexion, in der das moralische Gefühl der Demütigung entsteht, auf eine ähnliche Weise beschreiben lässt wie die ästhetische Reflexion auf den mathematisch-erhabenen Gegenstand. Dabei können wir zunächst von der Tatsache ausgehen, dass sich auch in der empirisch-praktischen Vernunft, ähnlich wie in der Einbildungskraft, ein „Bestreben zum Fortschritte ins Unendliche“ findet (KU 5:250.23). Wie wir bereits gesehen haben, tendiert die empirisch-praktische Vernunft dazu, das Grundprinzip der empirisch-praktischen Überlegung – also das Prinzip der Selbstliebe – zu verabsolutieren und dem Menschen dieses Prinzip als ein unbedingtes praktisches Gesetz vorzuschreiben (vgl. § 2 dieses Kapitels). Im Eigendünkel geben wir nun dieser Tendenz nach und schreiben unserem neigungsbezogenen Handeln und folglich auch unserem praktischen Selbst den maximalen praktischen Wert zu, den es in Abhängigkeit von unseren sinnlichen Gefühlen und der empirisch-
§ 7 Demütigung und Achtung
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praktischen Überlegung überhaupt haben kann. Die Demütigung entsteht nun dadurch, dass wir uns in einer Reflexion der unendlichen Diskrepanz bewusst werden, welche zwischen der faktisch erreichten maximalen Wertschätzung unseres Handelns im Eigendünkel und der Idee eines unbedingten praktischen Werts – der Idee des Schlechthin-Guten – im moralischen Urteil besteht. Der maximale Wert, den wir unserem eigenen Handeln und damit auch uns selbst in der empirisch-praktischen Überlegung zuschreiben können, ist immer nur der Wert von etwas Wozu-Gutem. Als solcher ist er immer noch verschwindend gering im Vergleich mit dem Wert des Schlechthin-Guten, den wir unserem Handeln und damit uns selbst im moralischen Urteil zuschreiben. Durch diesen Reflexionsprozess erhält das zunächst noch unbestimmte Unbehagen, das wir im moralischen Schmerz an uns selbst empfinden, einen bestimmten evaluativen Gehalt.Wir fühlen uns gedemütigt, d. h. in unserem eigenen Urteil unendlich herabgesetzt. Dieses Demütigungsgefühl betrifft zunächst unser individuelles Selbst. Der maximale Wert, den wir uns in empirisch-praktischen Urteilen unabhängig von der Befolgung des Gesetzes zuschreiben können, wird im moralischen Urteil auf nichts herabgesetzt. Allerdings zeigt die Analogie zur Beurteilung des Mathematisch-Erhabenen, worauf sich dieses Gefühl in seinem tiefsten Kern bezieht. Letztlich geht es hier nicht um unser individuelles Selbst, sondern um die faktische Leistungsfähigkeit unserer Vernunft. Im moralischen Gefühl der Demütigung erweist sich unsere empirisch-praktische Vernunft als vollkommen unzulänglich in ihrem Streben, allein aus sich selbst heraus unserem Handeln und damit unserer Person einen objektiven Wert zu geben. An Kants Analyse des moralischen Gefühls der Demütigung sind vor allem zwei weitere Punkte von Interesse. Erstens ist auffällig, dass zwischen diesem Gefühl und dem moralischen Urteil nicht mehr nur eine kausale, sondern auch eine inhaltliche Verbindung besteht.Wie wir gesehen haben, erhält das Gefühl der Demütigung seinen evaluativen Gehalt erst dadurch, dass wir den moralischen Schmerz in einer Reflexion auf unser eigenes Urteil zurückbeziehen. Wir fühlen uns gedemütigt, sofern unserem Eigendünkel „in unserem eigenen Urtheil“ (KpV 5:74.24) unendlicher Abbruch getan wird. Da dieser Herabsetzung unseres Selbstwerts im Urteil letztlich der Anspruch des moralischen Gesetzes zugrunde liegt (vgl. § 5 dieses Kapitels), enthält das Gefühl der Demütigung auch ein implizites Bewusstsein dieses Gesetzes. Würden wir das Gefühl der Demütigung genauer analysieren, so würden wir feststellen, dass wir uns letztlich durch das moralische Gesetz und seinen Anspruch gedemütigt fühlen. Aufgrund dieser engen Verbindung zu unserem eigenen Urteil scheint das Gefühl der Demütigung zweitens ein Alleinstellungsmerkmal aufzuweisen. Es muss das Bewusstsein seiner eigenen rationalen Angemessenheit beinhalten. Denn der Demütigung liegt ja keine beliebige äußere Instanz zugrunde, deren Legitimation ich einfach in
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Frage stellen könnte. Vielmehr beruht sie auf meinem eigenen Urteil, in dem ich selbst aufgrund des moralischen Gesetzes einsehe, dass ich mir im Eigendünkel zu Unrecht einen Wert zugeschrieben habe. Folglich muss ich mich in diesem Urteil auch zu Recht gedemütigt fühlen.²⁹³ Gerade die zuletzt angeführte Überlegung deutet darauf hin, dass das Gefühl der Demütigung einen positiven Kern hat. Um uns in unserem eigenen Urteil gedemütigt zu fühlen, müssen wir den zugrunde liegenden Anspruch anerkennen, den das moralische Gesetz an uns stellt. Im Kern beinhaltet das Gefühl der Demütigung also schon ein Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz. Um Kants Beschreibung der Achtung zu verstehen, lohnt es sich zunächst noch einmal den analogen Fall der ästhetischen Beurteilung des Mathematisch-Erhabenen zu betrachten. Wie bereits erläutert, werden wir uns in dieser Beurteilung zunächst der Tatsache bewusst, dass unsere Einbildungskraft hinter einer Forderung der Vernunft zurückbleibt. Ihr gelingt es noch nicht einmal annähernd, eine sinnliche Vorstellung zu erzeugen, die der Vernunftidee eines unendlichen Ganzen entspricht. Dementsprechend handelt es sich beim Gefühl des Erhabenen zunächst um „ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft“ (KU 5:257.27 ff.). Gleichwohl wird dabei auch ein Gefühl der Lust in uns ausgelöst. Indem wir uns der Tatsache bewusst werden, dass „die Bestrebung zu denselben [zu Vernunftideen – T. H.] […] für uns Gesetz ist“ (KU 5:257.31 f.), wird das Gefühl unserer „übersinnlichen Bestimmung in uns rege“ gemacht (KU 5:257.35 f.).
293 Man kann diesen Punkt verdeutlichen, indem man an den gegensätzlichen Fall eines sinnlichen Gefühls denkt. Obwohl wir in einem sinnlichen Gefühl (z. B. der Lust am Pfeiferauchen) unvermeidlich eine evaluative Einstellung gegenüber einem vorgestellten Objekt einnehmen, können wir uns doch auf eine rationale Weise von dieser Einstellung distanzieren, (indem wir z. B. einsehen, dass zuviel Pfeiferauchen auf die Dauer gesundheitsschädlich ist). Dies ist bei der Demütigung durch das moralische Gesetz nicht möglich. Gerade weil dieses Gefühl auf unserem eigenen vernünftigen Urteil und einem zugrunde liegenden reinen Vernunftprinzip beruht, können wir uns von der darin enthaltenen Selbstdemütigung nicht mehr auf eine rationale Weise distanzieren. Um der Demütigung zu entgehen, könnten wir uns allenfalls einreden, dass wir uns in unserem Urteil oder im Hinblick auf den Anspruch des moralischen Gesetzes täuschen. Hierzu passt die phänomenologische Analyse, die Kant im Triebfederkapitel von der Achtung gibt, die wir unwillkürlich vor jenen Menschen empfinden, die uns ein Beispiel für die Befolgung des Sittengesetzes geben. Wir versuchen uns unweigerlich der in diesem Gefühl enthaltenen Demütigung zu entziehen, indem wir „irgend einen Tadel“ (KpV 5:77.21 f.) gegen die moralische Person erfinden oder das moralische Gesetz selbst „zur beliebten Vorschrift unseres eigenen wohlverstandenen Vortheils“ machen (KpV 5:77.29 f.). Gerade diese Stelle legt die Annahme nahe, dass das Bewusstsein der rationalen Angemessenheit im moralischen Gefühl selbst eine Art Verpflichtung an uns enthält, uns diesem Gefühl nicht durch Strategien der Selbstüberredung zu verweigern.
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Ähnlich wie im Triebfederkapitel beschreibt Kant dieses Gefühl als eine Form von Achtung. Diese ist, wie Kant definiert, „[d]as Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns selbst Gesetz ist“ (KU 5:257.9 f.). Besonders auffällig an dieser Beschreibung der Achtung ist die Tatsache, dass dieses Gefühl nicht einfach als ein zusätzliches Gefühl zu einem bereits bestehenden negativen Gefühl hinzutritt. Selbst die Achtung beinhaltet immer noch das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit oder, in Kants Terminologie, das Bewusstsein der „Unangemessenheit“ (KU 5:257.9) der Einbildungskraft zur Erreichung der Idee eines unendlichen Ganzen. Der positive Aspekt des Erhabenheitsgefühls ergibt sich also eher aus einem Wechsel der Perspektive, den wir in der Erfahrung eines negativen Gefühls vollziehen und durch den wir dann auf dessen positiven Kern aufmerksam werden. Indem wir das größtmögliche Grundmaß, das die Einbildungskraft aus sich selbst bilden kann, als verschwindend klein ansehen, werden wir uns nicht nur der Unzulänglichkeit eines sinnlichen Vermögens bewusst; wir werden uns zugleich der Überlegenheit unseres eigenen Vernunftvermögens über alle Maßstäbe der Sinnlichkeit bewusst. Aus dieser Perspektive schmerzt uns unsere eigene Unzulänglichkeit nicht mehr – im Gegenteil: sie muss uns nunmehr gefallen. Wir müssen, schreibt Kant, unweigerlich eine „Lust“ daran empfinden, „jeden Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft unangemessen zu finden“ (KU 5:258.8 f.). Im Triebfederkapitel versucht Kant ebenfalls zu zeigen, dass das Gefühl unserer eigenen praktischen Unzulänglichkeit in seinem Kern ein positives Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz beinhaltet. Schon ein kurzer Blick auf Kants Aussagen über das Verhältnis von Demütigung und Achtung zeigt, dass es sich hier nicht um zwei numerisch verschiedene Gefühle handelt. Das moralische Gesetz ist, gerade sofern es „den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung und, indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demüthigt, ein Gegenstand der größten Achtung“ (KpV 5:73.30 ff.). Je weitreichender und umfassender das Gefühl der Demütigung in unserem eigenen Urteil ist, desto größer ist die darin enthaltene Achtung vor dem Sittengesetz. Schon diese Aussage deutet darauf hin, dass dem Gefühl der Achtung ein Perspektivwechsel zugrunde liegt, den wir im Gefühl der Demütigung vornehmen. Zunächst beinhaltet das Gefühl der Demütigung das Bewusstsein, dass der Wert, den wir uns im Eigendünkel zuschreiben, verschwindend gering ist verglichen mit dem Wert des Schlechthin-Guten, den wir unserem Handeln und damit uns selbst im moralischen Urteil zuschreiben. Schon dieses Bewusstsein enthält offenkundig einen positiven Aspekt. Wir werden implizit auch darauf aufmerksam, dass wir dem moralischen Handeln und damit uns selbst im Rekurs auf das moralische Gesetz einen praktischen Wert zuschreiben,
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
der jeden sinnlich-bedingten Wert, den wir unserem Handelns und unserer Person zuschreiben können, unendlich überwiegt. Dieser Wechsel der Perspektive lenkt also den Blick auf den eigentlichen Inhalt des Urteils. In einem (positiven) moralischen Urteil betrachten wir eine Handlungsweise als an sich gut und schreiben unserem möglichen Handeln und damit auch uns selbst auf diese Weise einen unbedingten praktischen Wert zu.Vor dem Hintergrund dieser neuen Perspektive erhält das negative Gefühl der Demütigung durch das Sittengesetz zugleich die Qualität eines positiven Gefühls einer Lust, die Kant als ‚Achtung für das Sittengesetz‘ beschreibt. Um Kants Ausführungen zu diesem Gefühl zu verstehen, ist es allerdings wichtig sich klarzumachen, dass die positive Wertzuschreibung des Schlechthin-Guten im moralischen Urteil davon abhängt, dass wir uns tatsächlich nach diesem Urteil richten und moralisch handeln. Die Wertschätzung des an sich Guten ist nicht nur kontemplativ, sondern praktisch, d. h. sie beinhaltet eine Willensbestimmung durch das moralische Gesetz.²⁹⁴ Dass das moralische Urteil eine faktische Willensbestimmung beinhaltet, ist uns eigentlich latent schon im moralischen Schmerz bewusst. Dieses Gefühl beruht, wie wir gesehen haben, unmittelbar auf der Frustration unserer praktischen Aktivität der Neigungen. Diese Frustration unserer Neigungen geht eben auf unser eigenes Urteil und die darin enthaltene Willensbestimmung durch das moralische Gesetz zurück. Kant zufolge ist es nun der angesprochene Perspektivwechsel im negativen Gefühl, der letztlich dazu führt, dass wir auf dieses latente Bewusstsein unserer vernünftigen Aktivität aufmerksam werden. Im Hinblick auf den „positiven Grund“ der Demütigung heißt das durch das Gesetz gewirkte Gefühl „zugleich Achtung für dasselbe, für welches Gesetz gar kein Gefühl stattfindet, sondern im Urtheile der Vernunft, indem es den Widerstand aus dem Wege schafft, die Wegräumung eines Hindernisses einer positiven Beförderung der Causalität gleichgeschätzt wird“ (KpV 5:75.12 ff.).
An dieser schwierigen Stelle rekurriert Kant augenscheinlich auf ein Modell einander entgegengesetzter Kräfte, um zu erklären, wie aus dem negativen Gefühl der Demütigung ein positives Gefühl der Achtung wird. Im Urteil der Vernunft wird zunächst unseren Neigungen Abbruch getan, was sich psychisch darin äußert,
294 Das moralische Gesetz demütigt uns im moralischen Urteil; zugleich fungiert es natürlich auch als positives Kriterium der Beurteilung unserer Handlungen, indem es nämlich in diesem Urteil zum Bestimmungsgrund des Willens wird: „Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung“ (KpV 5:74.26 ff.).
§ 7 Demütigung und Achtung
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dass das kausale oder praktische Potential unserer Neigungen geschwächt wird. Dieser Vorgang wird uns in einem moralischen Schmerz, also einem Gefühl der Behinderung unserer lebendigen Aktivität, bewusst. Vor dem Hintergrund des Perspektivwechsels müssen wir nun Kant zufolge die Blockade unserer neigungsbezogenen Aktivität unweigerlich positiv interpretieren, nämlich als „die Wegräumung eines Hindernisses“ unserer vernunftbestimmten Aktivität (also der desiderativen Aktivität der reinen praktischen Vernunft). Unter dieser Rücksicht ist das dadurch bewirkte Gefühl also positiv – es resultiert aus einer Beförderung unserer vernunftbestimmten Aktivität. Denn, so Kant an späterer Stelle, „eine jede Verminderung der Hindernisse einer Thätigkeit ist Beförderung dieser Thätigkeit selbst“ (KpV 5:79.9 f.). Auf den ersten Blick mag diese Beschreibung irritieren. Kant scheint davon auszugehen, dass sich die Reflexion, die der Entstehung des positiven Gefühls der Achtung zugrunde liegt, auf einen inneren Widerstreit psychischer Kräfte richtet. Wir betrachten die ursprüngliche Behinderung unserer desiderativen Aktivität im Abbruch der Neigungen nunmehr als eine positive Beförderung der desiderativen Aktivität im moralischen Urteil. Es ist allerdings nicht so klar, warum eine solche geradezu physikalische Analyse unseres Innenlebens eine Auswirkung auf unser Fühlen haben sollte. – Eine Lösung dieses Problems ergibt sich, wenn wir berücksichtigen, dass wir die ursprüngliche Behinderung unserer lebendigen Aktivität im Abbruch der Neigungen nicht einfach theoretisch wahrnehmen. Dieser Prozess wird uns vielmehr in einem Schmerzgefühl bewusst, das im Lichte unseres Urteils unweigerlich die evaluative Qualität einer Demütigung erhält. Wir können demzufolge davon ausgehen, dass sich die angesprochene Reflexion letztlich eher auf das Gefühl und die darin enthaltene evaluative Einstellung als auf die zugrunde liegenden psychischen Prozesse richtet. Aus der positiven Perspektive, die wir auf unsere Wertschätzung im moralischen Urteil einnehmen, müssen wir notwendig gerade daran eine Lust haben, dass das moralische Gesetz unseren Eigendünkel niederschlägt und uns auf diese Weise demütigt. Denn jede genuine Befolgung dieses Urteils setzt voraus, dass wir unseren Eigendünkel ganz ablegen (vgl. § 5 in diesem Kapitel). Das Gefühl der Demütigung, in welchem wir uns des Abbruchs unseres Eigendünkels bewusst werden, erweist sich folglich auch in einem positiven Sinn als rational angemessen. Es verunmöglicht uns im Grunde jede ungetrübte Form einer nicht-moralischen Selbstschätzung. Auf diese Weise hilft es uns, das moralische Gesetz zu befolgen und unserem Handeln (und damit uns selbst) einen unbedingten Wert zu geben.²⁹⁵
295 In Kants Ableitung des positiven Gefühls der Achtung geht es also im Kern um den positiven Beitrag, den eben das negative Gefühl der Demütigung zur Befolgung des Sittengesetzes
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
Wenn diese Überlegungen zutreffen, so liegt der Entstehung des positiven Gefühls der Achtung also kein rein theoretisches Abwägen einander entgegengesetzter Kräfte zugrunde. Die Reflexion, durch welche dieses Gefühl erzeugt wird, beinhaltet eher eine Uminterpretation des evaluativen Gehalts unseres Gefühls der Demütigung. Sofern das moralische Urteil unserem Eigendünkel Abbruch tut, fühlen wir uns in diesem Urteil zu Recht gedemütigt. Sofern wir jedoch unserer eigenen Befolgung des Sittengesetzes im moralischen Urteil einen unbedingten Wert zuschreiben, muss uns gerade dieses Gefühl gefallen. Denn jede Befolgung dieses Gesetzes setzt voraus, dass wir den Eigendünkel vollständig ablegen und auf diese Weise dem Anspruch des moralischen Gesetzes auf ausschließliche Geltung gerecht werden. Zwischen dem Gefühl der Achtung und unserem moralischen Urteil besteht also ebenfalls eine inhaltliche Verbindung. Das Gefühl der Achtung erhält seine eigentümliche Qualität und seinen Gehalt erst durch einen erneuten Reflexionsschritt, in dem wir das Gefühl der Demütigung auf die positive Wertschätzung unserer praktischen Aktivität im eigenen Urteil zurückbeziehen. In diesem Urteil erkennen wir, dass ein Handeln nach diesem Gesetz schlechthin gut ist, d. h. dass es einen Wert hat, der jeden sinnlich-bedingten Wert unendlich überwiegt. Auf diese Weise müssen wir das Gefühl der Demütigung und den darin enthaltenen Abbruch unseres Eigendünkels in einem weiteren Sinn als angemessen empfinden. Es stellt einen ersten Schritt hin zur Befolgung des moralischen Gesetzes dar, durch welches unser Handeln erst seinen sinnlich-unbedingten praktischen Wert erhält. Das positive Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz ist dieser Deutung zufolge also tatsächlich sehr eng verbunden mit unserer objektiven Wertschätzung des schlechthin guten Handelns im moralischen Urteil (vgl. Kap. 2, § 4 ff.). Kant zufolge beinhaltet die Achtung das Bewusstsein, dass wir bereits im moralischen Urteil einen ersten Schritt zu diesem Handeln und damit zu einer genuinen Befolgung des Gesetzes gemacht haben. „Die Anerkennung des moralischen Gesetzes“, schreibt Kant dementsprechend im Triebfederkapitel, „[…] ist das Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen, die blos darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjective Ursachen (pathologische) sie hindern“ (KpV 5:79.10 ff.). Der positive Aspekt des moralischen Gefühls richtet sich in seinem Kern also nicht so sehr auf eine Aktivität, die wir
leistet. Kant zufolge „muß die Achtung fürs moralische Gesetz […] als positive, aber indirecte Wirkung desselben aufs Gefühl, so fern jenes den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demüthigung des Eigendünkels schwächt, mithin als subjectiver Grund der Thätigkeit, d. i. als Triebfeder zu Befolgung desselben, und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Lebenswandels angesehen werden“ (KpV 5:79.13 ff.; erste H. v. m.).
§ 7 Demütigung und Achtung
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noch zu vollziehen haben; eher schon werden wir in diesem Gefühl auf die Tatsache aufmerksam, dass unser eigenes Urteil einen Zustand desiderativer Aktivität beinhaltet, welcher der genuinen Befolgung des Gesetzes zuträglich ist. Wir werden uns, mit anderen Worten, der Tatsache bewusst, dass wir das moralische Gesetz um seiner selbst willen befolgen wollen. ²⁹⁶ Nun macht gerade die zuletzt angeführte Einstellung das „Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen“ aus (KpV 5:71.28) – wir sollen das moralische Gesetz um seiner selbst willen befolgen (vgl. § 1 dieses Kapitels). Unter dieser Rücksicht können wir also davon ausgehen, dass sich die evaluative Einstellung, die wir im Gefühl der Achtung gegenüber dem Sittengesetz einnehmen, zugleich auf die Handlung bezieht, die uns das moralische Gesetz gebietet und die wir im moralischen Urteil als schlechthin-gut bewerten. Das sittliche Gefühl der Lust beinhaltet, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft schreibt, ein „Wohlgefallen an einer Handlung um ihrer moralischen Beschaffenheit willen“ (KU 5:292.3 f.). Unter dieser Rücksicht stellt das moralische Gefühl also einen affektiven Aspekt unserer Wertschätzung einer genuin moralischen, d. h. schlechthin guten Handlung dar; es bezieht sich auf die Tatsache, dass die schlechthin gute Handlung durch ein rein moralisches Urteil motiviert ist.²⁹⁷ Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich auf einen wichtigen Punkt von Kants Theorie des moralischen Gefühls hinweisen. Wenn meine Deutung zutrifft, dann bezieht sich diese Theorie nicht einfach nur auf einen Zustand, der notwendig als
296 Das moralische Gefühl richtet sich also im Kern auf die Realität des Guten in uns. Dies zeigt auch Kants Analyse der Achtung vor dem „niedrigen, bürgerlich gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme“ (KpV 5:77.1 ff.). Der positive Aspekt der moralischen Achtung vor dieser Person bezieht sich auf die „Thunlichkeit desselben [des Gesetzes – T. H.]“, die „ich durch die That bewiesen vor mir sehe“ (KpV 5:77.8 f.). 297 Im Rahmen einer gedrängten Erörterung des Pflichtbegriffs spricht Kant im Triebfederkapitel von einer „Selbstbilligung“ (KpV 5:81.2), die wir im Hinblick auf das eigene Handeln empfinden, das von der Pflicht gefordert wird. Kant zufolge bezieht sich der Begriff der Pflicht auf eine „Handlung, die nach diesem Gesetze mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung objectiv praktisch ist“ (5:80.25 f.). Die Pflicht enthält also den Anspruch, dass die Befriedigung unserer Neigungen nicht als zusätzlicher Grund für das gesetzeskonforme Handeln angesehen werden darf. Dieser Anspruch manifestiert sich im moralischen Gefühl als ein Bewusstsein von „Nöthigung“ (KpV 5:80.28) und als „Zwang“ (KpV 5:80.34). Entsprechend enthält dieses Gefühl „keine Lust, sondern so fern vielmehr Unlust an der Handlung in sich. Dagegen aber, da dieser Zwang blos durch Gesetzgebung der eigenen Vernunft ausgeübt wird, enthält es [das Gefühl – T. H.] auch Erhebung, und die subjective Wirkung aufs Gefühl, so fern davon reine praktische Vernunft die alleinige Ursache ist, kann also blos Selbstbilligung in Ansehung der letzteren [nämlich der Handlung – T. H.] heißen, indem man sich dazu [zur Handlung – T. H.] ohne alles Interesse blos durchs Gesetz bestimmt erkennt […]“ (KpV 5:80 f.35 ff.).
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
psychische Begleiterscheinung moralischen Urteilens auftritt. Im Zentrum dieser Theorie steht vielmehr ein Reflexionsprozess, durch den ein mit der moralischen Beurteilung verbundenes Schmerzgefühl zu einer komplexen evaluativen Einstellung wird, die inhaltlich mit unserem eigenen Urteil verbunden ist. Die Entstehung des moralischen Gefühls ist folglich nicht einfach nur ein psychischer Prozess, in welchem ein Widerstreit psychischer Kräfte in uns einen affektiven Zustand auslöst. Vielmehr beruht diese Entstehung in wesentlichen Punkten auf einer Reflexion und damit auf einer beurteilenden Aktivität – Kant spricht, wie bereits angedeutet, von einem ‚Vergleichen‘ und einem ‚Schätzen‘. Hierzu passt die Tatsache, dass das Gefühl, welches sich aus dieser beurteilenden Aktivität ergibt, weitaus komplexer ist als eine bloße innere Impulswahrnehmung. Es beinhaltet eine evaluative und zugleich affektive Einstellung, die sich Kant zufolge auf das genuin moralische Handeln, unser praktisches Selbst und letztlich auf das moralische Gesetz bezieht. Damit ergibt sich natürlich die schwierige Frage, wie sich diese Einstellung genau zu dem zugrunde liegenden moralischen Urteil verhält. An einer bereits zitierten Stelle im Triebfederkapitel scheint Kant anzudeuten, dass für ihn der angesprochene Reflexionsprozess im Grunde immer noch ein Bestandteil unseres moralischen Urteils ist. Die Wegräumung des moralischen Hindernisses im Gefühl der Demütigung wird „im Urtheile der Vernunft […] einer positiven Beförderung der Causalität gleichgeschätzt“ (KpV 5:75.14 ff.). Kant zufolge reflektieren wir also im Urteil der Vernunft auf den doppelten Charakter des moralischen Gefühls, das zugleich das Bewusstsein einer Behinderung und einer Beförderung unserer lebendigen Aktivität beinhaltet. Diese Aussage Kants ist ohne Zweifel problematisch und vielleicht sogar widersprüchlich. Schließlich ergibt sich das moralische Gefühl für Kant ja erst als Wirkung aus dem Urteil der Vernunft, d. h. aus dem mit diesem Urteil verbundenen Abbruch unserer Neigungen. Es ist daher schwierig einzusehen, in welchem Sinn dieses Urteil zugleich eine Reflexion auf dieses Gefühl beinhalten könnte. Vielleicht lässt sich dieser Widerspruch auf folgende Weise ausräumen. Kants Auffassung zufolge ist ein moralisches Urteil im vollen Sinn nicht einfach nur ein intellektuelles Urteil, in dem wir eine Handlungsweise aufgrund eines begrifflichen Kriteriums als schlechthin gut oder böse beurteilen. Ein moralisches Urteil im vollen Sinn beinhaltet auch jene reflektierte evaluative Einstellung, die wir im moralischen Gefühl unserem Handeln, uns selbst und dem Sittengesetz gegenüber einnehmen. Diese Deutung würde auch zur Charakterisierung des moralischen Urteils in Kants späteren Schriften passen. Schon in der Ersten Einleitung bezeichnet Kant das moralische Urteil als ein „ästhetisch-practisches Urtheil“ (EE 20:232.1) und legt damit die Annahme nahe, dass das Gefühl eine konstitutive Rolle in diesem Urteil spielt (vgl. Kap. 3, § 4). In der Kritik der Urteilskraft deutet
§ 7 Demütigung und Achtung
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Kant darüber hinaus an, dass mit dem moralischen Urteil ein Anspruch auf allgemeines Wohlgefallen verbunden ist. Wie im Fall des Geschmacksurteils spricht Kant von der ästhetischen Allgemeinheit der Urteile über das (an sich) Gute: „Nur allein die Urtheile über das Gute, ob sie gleich auch das Wohlgefallen an einem Gegenstande bestimmen, haben logische, nicht bloß [!] ästhetische Allgemeinheit; denn sie gelten vom Object, als Erkenntnisse desselben, und darum für jedermann“ (KU 5:215.31 ff.). Die ästhetische Allgemeinheit des moralischen Urteils manifestiert sich, wie Kant dann an späterer Stelle ausführt, in einem „Gebot des Beifalls für jedermann“ (KU 5:267.8).Wenn wir ein (positives) moralisches Urteil im vollen Sinn fällen, dann fordern wir unsere Mitmenschen nicht nur implizit dazu auf, unserem Urteil beizupflichten. Wir verlangen auch, dass sie das von uns als moralisch beurteilte Handeln ebenso wie wir auf eine affektive Weise wertschätzen und ihm Beifall zollen. Diese Aussagen Kants erfordern natürlich eine sehr viel ausführlichere Diskussion, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.²⁹⁸ Sie zeigen jedoch deutlich, dass für Kant das moralische Urteil im vollen Sinn kein Gefühl bewirkt, sondern eher ein Gefühl beinhaltet. Denn andernfalls könnten wir nicht im Urteil von unseren Mitmenschen verlangen, dass sie auf dieselbe Weise fühlen wie wir. Zusammenfassend lässt sich nun eine Antwort auf die Frage geben, auf welche Weise wir uns Kant zufolge der motivatorischen Kraft unseres eigenen moralischen Urteils bewusst werden. Das moralische Urteil führt zunächst zu einer Frustration der praktischen Aktivität unserer Neigungen, welche uns in einem Schmerzgefühl bewusst wird. Allerdings erklärt dieser psychische Vorgang allein noch nicht die Tatsache, dass das resultierende Gefühl zugleich Selbstde298 Kant scheint hier einen Gedanken zu entwickeln, der bereits im Triebfederkapitel angelegt ist. Das moralische Gefühl beinhaltet das Bewusstsein seiner eigenen rationalen Angemessenheit. Dieses Bewusstsein ist nun wesentlich normativ; wir sind uns im moralischen Gefühl der Tatsache bewusst, dass wir dieses Gefühl im Hinblick auf das beurteilte Handeln empfinden sollten. Eben diesen Anspruch dehnen wir nun – so Kants These – auf alle endliche Vernunftwesen aus. Diese These beruht vermutlich auf folgender Überlegung: Jedes moralische Urteil enthält (als logisch allgemeines Urteil) zunächst einen Anspruch auf allgemeine, aber intellektuelle Zustimmung. Wir fordern implizit, dass jedes Vernunftwesen unserem moralischen Urteil zustimmt, wenn es sich nur die entsprechenden Gründe vor Augen führt. Nun handelt es sich bei dem Akt der Zustimmung selbst um ein moralisches Urteil, welches – wie Kant im Triebfederkapitel gezeigt hat – bei jedem endlichen Vernunftwesen auch mit einem moralischen Gefühl verbunden sein muss. Folglich ist jedes endliche Vernunftwesen dazu in der Lage, anlässlich seiner Zustimmung zu unserem Urteil das moralische Gefühl zu empfinden, das wir selbst im Lichte eben dieses Urteils als rational angemessen betrachten. Aus diesem Grund dehnen wir den normativen Anspruch, der in unserem moralischen Gefühl enthalten ist, auf alle endlichen Vernunftwesen aus. Wenn wir im vollen Sinn moralisch urteilen, fordern wir also nicht bloß die intellektuelle, sondern auch die affektive Zustimmung unserer Mitmenschen.
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5. Moralisches Gefühl und formale Willensbestimmung
mütigung und Achtung für das Sittengesetz beinhaltet. Diesen evaluativen Gehalt erhält das Gefühl erst durch eine Reflexion, in der wir es auf unser moralisches Urteil und die darin enthaltene implizite Selbstschätzung zurückbeziehen. In dieser Reflexion werden wir uns zunächst der Tatsache bewusst, dass der maximale Wert, den wir uns und unserem Handeln im Eigendünkel zugeschrieben haben, im moralischen Urteil auf nichts herabgesetzt wird. Unter dieser Rücksicht empfinden wir zu Recht ein Gefühl der Demütigung, d. h. das Gefühl einer unendlichen Herabsetzung unseres Selbstwerts im eigenen Urteil. In einem weiteren Reflexionsschritt werden wir hingegen darauf aufmerksam, dass uns das moralische Urteil zu einem Handeln auffordert, dessen Wert jeden sinnlich-bedingten praktischen Wert unendlich übertrifft. Aus dieser Perspektive müssen wir das Gefühl der Demütigung selbst als subjektiv zweckmäßig betrachten. Denn nur wenn wir unseren Eigendünkel vollständig ablegen, können wir das moralische Gesetz wirklich befolgen und auf diese Weise unserem Handeln einen unbedingten Wert geben. Auf diese Weise entsteht ein positives Gefühl der Achtung für das Sittengesetz, das letztlich die intelligible Ursache dieser Demütigung darstellt.
Schluss In dieser Arbeit bin ich von Kants Behauptung ausgegangen, dass zwischen dem Begehren eines Gegenstandes und dem Gefühl der praktischen Lust stets eine kausale Verbindung besteht. Diese Verbindung kann Kant zufolge zwei Formen annehmen: Die praktische Lust liegt dem Begehren als Ursache zugrunde, oder sie folgt auf das Begehren als dessen Wirkung. Wir sind nun in der Lage genauer zu verstehen, was dies bedeutet. Im ersten Fall handelt es sich um eine sinnliche Lust am Angenehmen, die der Entstehung einer Begierde unmittelbar vorangeht. Diese Lust beinhaltet die Tendenz, einen Zustand gesteigerter körperlicher Aktivität aufrechtzuerhalten, der sich anlässlich der empirischen Affektion durch einen Gegenstand der Wahrnehmung bei uns einstellt. Da wir diesen Zustand nur aufrechterhalten können, wenn wir die Gegenwart des Gegenstandes sicherstellen, entsteht in uns eine Begierde nach dem Gegenstand. Im zweiten Fall resultiert die Lust hingegen daraus, dass in uns ein Begehren entstanden ist; sie ergibt sich aus dem desiderativen Aspekt unserer eigenen moralischen Urteilshandlung. Die motivatorische Kraft unseres Urteils schränkt unsere Neigungen ein, und dies muss zunächst zu einem negativen Gefühl führen, das Kant als ‚Schmerz‘ bezeichnet. In einem Akt der Reflexion werden wir dann darauf aufmerksam, dass dieses Gefühl einen positiven Kern hat. Es hilft uns dabei, unseren Eigendünkel abzulegen und dem moralischen Urteil entsprechend zu handeln. Unter dieser Rücksicht handelt es sich hier um eine Lust, die auf eine rein intellektuelle Aktivität – die desiderative Aktivität der reinen Vernunft – zurückgeht. Kant hat die beiden Formen der praktischen Lust allerdings nicht nur im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Begehren unterschieden. Darüber hinaus führt er eine zweite Unterscheidung ein, welche eher das Verhältnis dieser Lust zu den praktischen Prinzipien betrifft, an denen wir uns beim Handeln orientieren. Während die sinnliche Lust dem praktischen Prinzip vorangeht, folgt die intellektuelle Lust auf dieses Prinzip. In dieser Arbeit habe ich gezeigt, was Kant hiermit genau meint. Im ersten Fall liegt die sinnliche Lust unseren praktischen Vorschriften zugrunde, an denen wir uns beim nicht-moralischen Handeln orientieren. Im Rekurs auf unsere vergangenen Lusterfahrungen bilden wir in einer Reflexion evaluative Überzeugungen über das Angenehme aus, anhand derer wir dann die Zwecke bestimmen, die wir durch unser eigenes Handeln realisieren wollen. Im zweiten Fall ergibt sich die Lust hingegen erst aus einem praktischen Prinzip, nämlich aus dem moralischen Gesetz. Wir haben gesehen, dass die moralische Lust für Kant letztlich aus dem Anspruch resultiert, den das moralische Gesetz an unsere eigene empirische praktische Vernunft stellt. Im Fall eines moralisch gebotenen oder verbotenen Handelns schließt dieses Gesetz die Erwägungen, die aus der Perspektive der empirisch-praktischen Vernunft für oder
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Schluss
gegen ein derartiges Handeln sprechen, als Gründe praktischer Urteile und damit auch als Gründe unseres Handelns aus. In der intellektuellen Lust werden wir uns nun der Tatsache bewusst, dass wir ein Handeln, welches diesem Anspruch des Sittengesetzes genügt, auch auf eine affektive Weise wertschätzen. Kants Beschreibung der praktischen Lust rekurriert vor allem auf die Unterschiede, die zwischen den beiden Varianten dieser Lust bestehen. Wenn meine Deutung zutrifft, dann müssen die beiden Varianten der praktischen Lust gleichwohl drei grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Erstens habe ich dafür argumentiert, dass es sich bei beiden Varianten der Lust auch in einem tieferen Sinn um eine praktische Lust handeln muss. Denn für beide Varianten dieser Lust ist der Bezug zur praktischen Aktivität selbst konstitutiv. Um zu erklären, warum wir es in beiden Fällen überhaupt mit einer Lust zu tun haben, müssen wir bereits auf die praktische Aktivität des Menschen verweisen. Die praktische Lust entsteht durch eine Beförderung von Kräften, die in unserer praktischen Aktivität zum Einsatz kommen. Darüber hinaus erleben wir diese Steigerung unserer Aktivität in der Lust als besonders passend im Hinblick auf die Bedingungen unserer eigenen praktischen Aktivität. Die praktische Lust beinhaltet das Bewusstsein der subjektiven Zweckmäßigkeit eines Aktivitätszustandes im Hinblick auf die Ausübung unseres Begehrungs- bzw. Willensvermögens beim Handeln. Diese Idee habe ich vor allem am Beispielfall der sinnlichen Lust am Angenehmen entwickelt. Kant zufolge beruht diese Lust auf einer Beförderung unserer körperlichen Lebenskräfte, die wir zugleich beim körperlichen Handeln einsetzen. Diese Lust enthält darüber hinaus ein Bewusstsein körperlicher Vitalität – wir erleben die zugrunde liegende Aktivitätssteigerung als besonders zweckmäßig für das absichtliche körperliche Handeln. Der Fall der moralischen Lust ist ungleich komplizierter, weil es sich hierbei nur um den positiven Aspekt einer gemischten Emotion handelt. Die motivatorische Kraft unseres eigenen praktischen Urteils wirkt sich zunächst negativ auf unsere Begierden und Neigungen aus; sie schränkt, wie wir gesehen haben, das kausale Potential dieser Neigungen ein. Aus dieser Behinderung unserer desiderativen Aktivität resultiert zunächst ein Schmerzgefühl. Als solches enthält dieses Gefühl für Kant zunächst das Bewusstsein einer subjektiven ‚Zweckwidrigkeit‘. Wir werden uns der Tatsache bewusst, dass der psychische Aktivitätszustand unserer Begierden und Neigungen nicht zu der ‚Einheit‘ des reinen Willens passt, die im moralischen Gesetz gefordert wird. Letztlich werden wir damit auf unsere Unzulänglichkeit aufmerksam. Wir tendieren in allen unseren Neigungen schon dazu, den Anspruch des moralischen Gesetzes zu verfehlen und die Befriedigung dieser Neigungen auch im Fall eines ge- oder verbotenen Handelns als Grund für oder gegen dieses Handeln anzusehen.
Schluss
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Nun habe ich auch gezeigt, dass dieses Gefühl für uns letztlich einen positiven Kern hat. Auf diesen positiven Kern werden wir allerdings erst am Ende eines komplexen Reflexionsprozesses aufmerksam. Hier wird uns bewusst, dass der Abbruch unserer Neigungen eine indirekte Beförderung einer bereits in uns vorhandenen rein vernünftigen Aktivität darstellt, welche die Bedingungen für ein genuin moralisches Handeln schafft. Unter dieser Rücksicht handelt es sich beim moralischen Gefühl um eine Lust, die als solche auch das Bewusstsein einer subjektiven Zweckmäßigkeit enthalten muss. In dieser Lust nehmen wir die indirekte Beförderung unserer vernünftigen Aktivität als subjektiv zweckmäßig im Hinblick auf die Befolgung des moralischen Gesetzes wahr. Wir erleben den Abbruch unserer Neigungen und die daraus resultierende Demütigung unseres Eigendünkels als einen ersten Schritt hin zur Befolgung des moralischen Gesetzes. Ein zweites gemeinsames Merkmal, das beiden Formen praktischer Lust zukommt, habe ich in dieser Arbeit als den evaluativen Aspekt der praktischen Lust bezeichnet. Kant zufolge ist jede praktische Lust Teil einer evaluativen Erfahrung, in der uns ein vorgestellter Gegenstand oder eine vorgestellte Handlung auf eine affektive Weise unmittelbar gefallen. Dabei ist es allerdings wichtig zu sehen, dass diese evaluative Erfahrung nicht allein durch einen Lustzustand konstituiert wird. Ich habe vielmehr dafür argumentiert, dass am Zustandekommen dieser Erfahrung auch jene Zustände beteiligt sind, die bei der Entstehung des Lustzustandes eine Rolle spielen. Wenn sich bei uns anlässlich der bewussten Vorstellung eines Gegenstandes eine gesteigerte Aktivität und auf diese Weise eine Lust einstellt, dann hat dieser Prozess für Kant selbst die Struktur eines evaluativen Urteils. In diesem Urteil gefällt uns der vorgestellte Gegenstand unmittelbar, und wir finden ihn angenehm oder an sich gut. Dabei kommt dem Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit, welches in der Lust enthalten ist, eine besondere Rolle zu. Es dient als ein subjektives Kriterium für das Wohlgefallen, das wir in diesem Urteil an dem Gegenstand nehmen. Mit diesem evaluativen Aspekt der praktischen Lust hängt ein drittes Merkmal eng zusammen, das die praktische Funktion der entsprechenden evaluativen Erfahrung betrifft. In beiden Fällen der praktischen Lust werden wir durch die evaluative Erfahrung, die wir in dieser Lust machen, affektiv auf jene Gegenstände unserer Vorstellungen aufmerksam, die wir nicht bloß als Mittel begehren. Man könnte die Funktion, welche die praktische Lust hier übernimmt, folglich als eine Form von praktischer Aufmerksamkeit bezeichnen. Die praktische Lust beleuchtet die Gegenstände, auf die sich das damit verbundene Begehren letztlich richtet. Sie versetzt uns, mit anderen Worten, in die Lage unsere Strebensziele auch als solche zu identifizieren. Die praktische Lust ist also eng mit motivationalen Zuständen verbunden, doch ihr kommt selbst keine motivatorische Kraft zu. Eher schon weist sie uns auf die Inhalte hin, auf die sich unsere Motivationszustände letztlich
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richten. Damit erfüllt die praktische Lust gerade beim rationalen Handeln eine wichtige Aufgabe; sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Inhalte, auf die sich unsere motivationalen Zustände richten, auch als solche in unsere praktische Überlegung eingehen können. Dass die praktische Lust für Kant tatsächlich eine derartige Funktion übernimmt, zeigen schon Kants Aussagen über die praktische Rolle der sinnlichen Lust. Die sinnliche Lust dient Kant zufolge dazu, die Gegenstände unserer Begierden zu identifizieren. Ursprünglich begehren wir die Gegenstände unserer Wahrnehmung nämlich nicht unter einer bestimmten theoretischen Beschreibung; vielmehr richten sich unsere Begierden auf etwas, das wir in der Erfahrung einer Lust angenehm finden. Diese Erfahrung ist daher eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir die Gegenstände unserer Begierden in der empirisch-praktischen Überlegung berücksichtigen und entsprechende praktische Vorschriften bilden können. Hierzu müssen wir allerdings zunächst das Wohlgefallen, das wir am Angenehmen nehmen, unter Begriffe bringen. Dies geschieht in einer evaluativen Reflexion, in der wir allgemeine evaluative Überzeugungen über das Angenehme ausbilden, denen zufolge wir Gegenstände einer bestimmten Art angenehm finden. Dass auch die moralische Lust die Funktion einer praktischen Aufmerksamkeit übernimmt, kommt in der Problemstellung zum Ausdruck, die Kants Theorie des moralischen Gefühls zugrunde liegt. Kant zufolge können wir uns der motivatorischen Kraft unseres eigenen moralischen Urteils nicht direkt bewusst werden. Denn andernfalls hätten wir einen unmittelbaren Zugang zu unserer eigenen Willensfreiheit, und dies ist Kant zufolge nicht möglich. Um zum moralischen Handeln motiviert zu werden, müssen wir uns allerdings dieser motivatorischen Kraft bewusst werden können. Diese Aufgabe übernimmt das moralische Gefühl, das sich Kant zufolge indirekt aus den Auswirkungen ergibt, welche die moralische Kraft unseres Urteils auf unseren Motivationszustand hat. Letztlich werden wir uns in diesem Gefühl der Tatsache bewusst, dass wir das genuin moralische Handeln auch auf eine affektive Weise wertschätzen. Die besondere Pointe dieser Lösung von Kants Problem besteht also darin, dass das Bewusstsein der motivatorischen Kraft des moralischen Urteils die Form einer affektiv-evaluativen Einstellung annehmen muss. In dieser Einstellung fühlen wir nicht einfach nur einen inneren Antrieb, der sich als psychischer Nebeneffekt unseres moralischen Urteils einstellt. Vielmehr beinhaltet das moralische Gefühl eine affektive Wertschätzung der von uns selbst als moralisch gut beurteilten Handlungsweise. Aus diesem Grund besteht zwischen dem moralischen Gefühl und der Anerkennung des moralischen Gesetzes nicht nur eine kausale, sondern auch eine rationale Verbindung, die uns im moralischen Gefühl unmittelbar transparent ist. Denn das moralische Gefühl enthält für Kant wesentlich das Bewusstsein seiner eigenen
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rationalen Angemessenheit. Im Lichte unseres eigenen Urteils empfinden wir es als rational angemessen, das genuin moralische Handeln auch auf eine affektive Weise wertzuschätzen.
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Personenregister Allison, H. E. 7, 73, 83, 131 – 133, 169 f., 196, 203, 206, 216, 218 Alphéus, K. 138, 143 Aquila, R. 129, 135
Herman, B. 6, 45, 139, 149, 153, 156, 179 f. Höwing, T. 20 f., 29 f., 32 – 34, 43, 102, 163, 185, 193
Baum, M. 45 Baumanns, P. 217 Baumgarten, A. G. 18 – 21, 31, 36, 43, 45, 183, 214 f. Beck, J. S. 21 Beck, L. W. 5, 23, 139, 144, 149 f., 152, 155, 215 f. Buchenau, S. 214 f. Burke, E. 174
Irwin, T. 6, 139, 149
Chang, R. 97 Cohen, T. 173 Crusius, C. A. 36 Deigh, J. 108 Descartes, R. 40 f., 99 Dörflinger, B. 39 Engstrom, S. 2, 7, 10, 21, 30, 45 f., 89 f., 93 – 95, 100 – 105, 109 – 111, 119, 188 f., 191, 200 – 203, 207, 211, 215 f., 221, 227 f., 230 f., 233 f., 236, 239 Epikur 105, 107 Evans, G. 85 Feldman, F. 150, 156 Fogelin, R. J. 176 Fœssell, M. 221 Fricke, C. 80, 161, 164, 170 Fugate, C. D. 36, 38 Gerhardt, V. 19, 32 Ginsborg, H. 81, 140, 161 – 163 Green, T. H. 149 Guyer, P. 97 f., 128, 132 Hartmann, M. 108 Henrich, D. 20
James, W. 107 f. Johnson, A. B. 2, 6, 138 f., 143 – 145, 149 Knappik, F. 176 Korsgaard, C. M. 42, 197 Leibniz, G. W. 25, 182 Longuenesse, B. 61, 93, 129 Makkreel, R. A. 38, 96 McCarty, R. 7, 218 Meier, G. F. 183, 214 Mohr, G. 24, 59 Morrisson, I. 6 f., 138 f., 143 f., 146, 149, 151, 155 Naragon, S. 24 f. Packer, M. 2 Pollok, K. 37 f. Reath, A. 6 f., 139, 142, 149 f., 180, 196, 203, 205 f., 217 – 219, 224, 227, 230, 235 Recki, B. 48, 127 Reiner, H. 6, 138 f., 142 – 147, 149 Ricken, F. 207 f. Scheler, M. 5 f., 139, 143, 149 Schleiermacher, F. 61 Stolzenberg, J. 132 Strobach, N. 84 f. Timmermann, J. 7, 194 f., 218 Tonelli, G. 50 Townsend, D. 173 Wenzel, C. H. 94
266
Personenregister
Wieland, W. 127 f. Willaschek, M. 19 f., 36, 143, 191, 207 f. Wittgenstein, L. 176 Wolff, C. 20 f., 27, 114, 214
Wood, A. 184, 207 Wunderlich, F. 24, 26 f. Zöller, G. 97 Zuckert, R. 93, 96
Sachwortregister Achtung/Achtung für das Sittengesetz/Achtung vor dem Sittengesetz 2 – 4, 6 f., 12, 15, 70, 73, 80, 102, 190 f., 194, 209, 217 f., 221 f., 225, 227, 231 f., 237, 241, 244 – 249, 252 Affektion, empirische 93, 119, 137, 142, 145, 148 f., 157, 253 Allgemeingültigkeit, subjektive/Allgemeinheit, ästhetische 81, 141, 171 f., 175 – 178, 251 – des Geschmacksurteils 172, 176 – des moralischen Urteils 251 – von evaluativen Überzeugungen über das Angenehme 141, 171 f., 175 – 178 Angenehme, das 80 f., 93 f., 127, 140 f., 164 – als Materie des Begehrungsvermögens 81, 164 f. Annehmlichkeit 138, 146, 151 f., 158 f., 163, 171, 179 Auffassung 115 – 117, 241 Aufmerksamkeit, praktische 255 – 257 Beförderung oder Behinderung/Hemmung des Lebens 8 f., 14, 16, 72 – 77, 82 f., 88 – 90, 95, 99 – 111, 119, 122, 124 f., 225, 236 – 238, 246 f., 253 – 255 – körperlicher Kräfte 14, 74, 88, 90, 105 – 110, 119, 122, 124 f., 134, 225, 236 f., 253 f. – desiderativer Aktivität 72 f., 100 – 102, 109, 125, 236 – 238, 246 f., 254 (siehe auch Neigung) – vernunftbestimmter Aktivität 73 f., 88, 246 f., 255 – des theoretischen Vorstellens 89, 100 – 105, 109 f. – wechselseitige Beförderung 89 f., 92, 94, 96, 99, 100 – 103, 109 – 111 (siehe auch Spiel, freies) Begehrungsvermögen/Begehren 5, 7, 12 – 14, 16 – 24, 29 – 41, 46 f., 56, 60 – 67, 69, 72, 74, 87 – 90, 93, 99, 119 f., 142, 155, 188 f., 210 – 216, 218 – 222, 233, 236, 238 f., 242, 253 – 257
– Definition 5, 17 – 23, 32, 34, 41, 46, 60 f., 212 – Aktualisierung des Begehrungsvermögens 13 f., 20, 67, 72, 74, 87 f., 93, 99, 142, 188 f., 212 – 216, 233 – Gesetze des Begehrungsvermögens 20, 33 – Materie des Begehrungsvermögens 81, 164 f., 193, 205 – Rolle der Vorstellung beim Begehren 12, 17, 21 – 32, 41, 46 – 48, 60 – 66, 72, 74, 77, 87 f., 92 f., 125, 136, 147, 155, 188 f., 210, 212 f., 221, 235 – und Erfolg 32 f., 61 f., 77, 216 – und Kräfte 17 f., 22 f., 30 – 33, 41, 46 – 48, 51, 53, 60, 62, 64 – 67, 119 f., 123 f., 134, 136, 168, 210, 234, 236 f., 254 – und praktisches Urteil 3, 14, 65 – 67, 189 f., 210 – 213, 216 – 219, 220 – 222, 253 (siehe auch Urteil, moralisches; Willensbestimmung) – oberes (rationales) Begehrungsvermögen 54, 65 f., 155, 180 – unteres (sinnliches) Begehrungsvermögen 99, 146, 155, 180 Begehrungsvermögen nach Begriffen 12, 17 f., 30 f., 42 – 48, 54, 137, 168, 210 Begierde, sinnliche 2 f., 10, 13 f., 38 f., 56, 64, 66 f., 103, 109, 137 – 143, 150 – 153, 157, 160, 164 – 168, 177, 185 – 187, 193, 202 – 204, 210, 213, 223, 234, 236 f., 253, 256 – logisch einzelne 164 f., 167 – 169, 177, 187, 236 Begriff 30 f., 47 – 54, 112 f., 116, 118, 121 f., 127 f., 130, 132, 146, 168, 223, 238 (siehe auch Zweck, objektiver; Kategorien) – als Erkenntnisregel 112 f., 116, 118, 120 f., 223 – Analogie zwischen theoretischen und praktischen Begriffen 30 f., 47 f., 50 – 52, 121 f. – und ästhetisches Urteil 128, 130, 132
268
Sachwortregister
Bestimmungsgrund des Willens 62, 65, 164, 179 – 182, 186, 192 – 194, 201, 205, 207, 215 f., 230 – formaler 65, 192, 194 – materialer 164, 179 – 181 – objektiver 182, 186, 194, 205, 215, 230 – objektiv-materialer 65, 192 – 194 – subjektiver 62, 186, 192, 194, 201, 205, 207, 215 f. (siehe auch Triebfeder) Beurteilung 13, 58, 76, 78, 81 – 87, 90 f., 126, 135, 162, 182 – 184, 192 – 195, 198, 200, 208, 211, 213, 219, 223, 230 f., 246, 250 (siehe auch Unterscheiden) – und Lust 58, 76, 81 – 87, 90 f., 126, 135 (siehe auch Lust, evaluativer vs. kausaler Aspekt der; Urteil, ästhetisches; Wohlgefallen) – des Angenehmen 81 – 84, 162, 174, 195 – des an sich Guten und Bösen/moralische Beurteilung 86 f., 192 – 197, 200, 208, 213, 219, 223, 246 (siehe auch Überlegung, praktische) – des Schönen 83 f., 162 Bewegungsgrund/Bewegursache 214 f. (siehe auch Triebfeder) Bewusstsein 8, 14, 24 – 29, 47, 59, 75, 78, 83, 97 – 99, 120 f., 124, 126 f., 132 – 136, 223, 237 – 239, 251 f., 254 – 256 (siehe auch Selbstbewusstsein; Vorstellung, dunkle vs. klare) – und Gefühl/Lust 8, 59, 75, 83, 97 – 99, 120 f., 136 f., 143, 177, 189 f., 221 – 226, 237 – 239, 243 – 246, 248 – 251, 254 – 256 – der subjektiven Zweckmäßigkeit 14, 114, 125, 132 – 136, 142, 223, 237 – 239, 252, 254 f. – und Urteil 126 f., 232 Darstellen/Darstellung 112, 116 f. Demütigung 12, 190, 194, 209, 225, 227, 240 – 248, 250 – 252, 255 Dynamisch-Erhabenes 56 Eigendünkel 252
190, 207, 226 – 232, 242 – 248,
Einbildungskraft 31, 94, 105, 112, 115 – 117, 121, 135, 241 – 245 Einheit, subjektive 111 – 115, 120, 124, 131 – 135 Empfänglichkeit/Rezeptivität/Fähigkeit 18 f., 83, 145 – 147 Empfindung 93 f., 103, 105 f., 109, 118 f., 125, 145, 157, 225, 237 – subjektive 128, 145, 158 f. – der Annehmlichkeit 146, 148 f., 151, 158 – 160 Erhabenes siehe Mathematisch-Erhabenes; Dynamisch-Erhabenes Freiheit 11, 137, 189, 202 – 204, 207, 211 f., 215, 217 f., 221, 224, 233, 256 Gedankenspiel/Witzeinfall 107 – 109, 124 Gefühl, sinnliches/pathologisches 4, 16, 68, 73 f., 81, 84, 122, 137, 145, 166, 195, 236 f., 239, 242, 244 (siehe auch Lust, sinnliche; Vergnügen) Gefühl, moralisches/sittliches 2, 4, 6, 12, 14, 16, 70 f., 73, 80, 87, 188 – 190, 218 – 227, 231, 241, 248 – 252, 255 – 257 (siehe auch Lust, intellektuelle/moralische; Achtung; Demütigung; Schmerz, moralischer) Gefühl, grobes und feines 68 f. Gefühl der Gesundheit/des körperlichen Wohlbefindens 105 – 107, 122 – 124 Gefühl der rechten und linken Hand 84 – 86 Gefühl der Lust und Unlust (als Fähigkeit) 19, 58, 82 – 87, 184, 187, 204, 226, 255 f. Gefühl der Vitalität 14, 90, 123 f., 237 Geschmackskritik, empirische 174 f. Geschmacksurteil siehe Urteil, ästhetisches Gesetz, moralisches/Sittengesetz/Gesetz, praktisches 3, 7, 65, 87, 137, 188 – 209, 211 – 217, 219 – 227, 229, 232, 235 f., 240 – 249, 252 – 254 Gewissen 226 Glückseligkeit 166 f., 184 f., 193, 197, 199, 204, 210, 228 Glücksspiel 107 Grund, moralischer 87, 188, 196 – 199, 200, 207, 217, 224, 232
Sachwortregister
Grundvermögen des menschlichen Gemüts 13, 20, 29, 90, 118 f., 238 Handeln/Handlung 12, 18 – 20, 22, 31 – 33, 47 – 53, 63 – 71, 90, 119 – 123, 125 f., 134, 136, 138 f., 149 – 151, 165 – 168, 175 – 178, 182 – 184, 188, 194, 254, 256 – Begriff der Handlung 18 – 20 – körperliche Handlung 12, 14, 18, 22, 47 – 51, 53, 90, 119 – 123, 125, 134 f., 254 – nicht-moralisches Handeln 2 f., 5 – 7, 10 f., 138 – 140, 151, 153, 156, 159, 179 f., 232, 253 – immanente vs. transiente Handlung 31 – 33 – Analogie zwischen Urteilen und absichtlichem Handeln 31, 90, 119 – 122 (siehe auch Begriff; Vorstellungsbeziehung) Harmonie 90, 107, 112, 124, 132 (siehe auch Einheit, subjektive; Zusammenstimmung; Zweckmäßigkeit, subjektive) Hedonismus, psychologischer 5 f., 139, 148 – 159, 177 – 180 Instinkt 18, 29 f., 41 – 43, 171 (siehe auch Tier) Interesse 2, 70 f., 102, 109 f., 148, 155, 169 f. Imperativ 44, 46 f., 77, 137, 165 f., 182 – kategorischer 44, 65, 77, 182 – hypothetischer/technisch-praktisches Prinzip 18, 43 – 48, 52 – 54, 64, 67, 77, 165 – 168, 182, 195 (siehe auch Vorschrift, praktische) Kalkül, hedonistischer 6, 139, 151, 179 – 181 Kategorien/reine Verstandesbegriffe 57, 69, 96, 238 Kategorien der Freiheit 184, 238 Kausalität 18 – 21, 31 – 33, 35 – 37, 40 f., 46, 50, 97 – 99, 151, 165, 214 f. – mechanische 95, 97 f. Lachen 107 f., 124 Leben/lebendige Aktivität 9, 12, 16 f., 19 f., 33 – 40, 58, 90, 97, 99, 106, 125, 236 (siehe auch Spontaneität)
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– Definition 19 f., 22, 33 – 40 – und Begehrungsvermögen 17, 33 f., 37 – 40, 125, 236 – und Denken 34 – 40 – und Selbsterhaltung 90, 125 – subjektive Bedingungen des Lebens 16, 57, 60 – 67, 72 f., 77, 215 Lebensgefühl 35, 78, 82 f. Lebenskraft 16, 74, 90, 105, 108, 110, 119, 180 f., 254 – sittliche 9, 16 Lust (Definitionen) 5, 57 – 75, 89 – 99, 111 – 118 Lust, intellektuelle/moralische 3, 16, 56, 66 f., 70 – 74, 86 – 88, 102 f., 137, 247 – 249, 253 – 256 Lust, kontemplative/Lust am Schönen 1, 8, 13, 37, 56, 89 – 96, 99 f., 102, 104 f., 110 f., 114 f., 118, 120, 129, 133 – 135, 147, 223 Lust, sinnliche 1 – 3, 5, 10 f., 13 f., 16, 56 f., 66 – 75, 79 – 90, 93 f., 99 – 109, 111, 115, 118 – 120, 122 – 125, 127 f., 134, 136 – 140, 144, 146 – 155, 157 – 160, 164, 166 – 171, 179 – 182, 186 f., 205, 225, 228, 235 f., 253 f., 256 Lust, evaluativer vs. kausaler Aspekt der 13, 58, 76 – 88, 90 f., 126, 130, 157 f., 160, 225, 255 Lust, Grade der 138, 179 – 181, 235 Lust und die Tendenz zur Zustandserhaltung 10, 75, 89, 91 – 100, 109 f., 124 f., 136, 142, 147, 154, 181, 253 Lust und freies Spiel der Erkenntniskräfte 8, 37, 73, 75, 89, 92, 94, 96 f., 99, 111 – 123, 131 – 135, 223 (siehe auch Spiel, freies) Lusterwartung/Erwartung zukünftiger Lust 3, 5, 11, 138 – 141, 148 – 156, 160, 175 – 178, 181 Mathematisch-Erhabenes 241 – 245 Maxime 65, 165 – 167, 183 f., 191 – 195, 197 – 200, 202, 205 f., 209, 211 – 213, 215 f., 221, 230, 233 Möglichkeit 49 – 52, 54
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Sachwortregister
Motivation/motivatorische Kraft/motivatorischer Zustand 7, 10 f., 189 f., 217 – 224, 235, 251 f., 254 f. – und moralisches Urteil 189 f., 217 – 226, 251 f., 254, 256 – und das Modell einander ausgleichender Kräfte 235, 246 f. Neigung 1, 73, 125 f., 142, 170 f., 185, 205, 223 f., 226 – 240, 246, 250, 253 – 255 – und evaluative Überzeugungen über das Angenehme 170 f., 235 – und Selbstliebe 226 – 232 – kausales/motivatorisches Potenzial der 126, 223 f., 234, 237, 254 – Einschränkung/Abbruch der Neigungen/der Selbstliebe 73, 126, 226 – 239, 246, 250, 255 Nützliches/Wozu-Gutes 51 f., 77, 79 f., 140, 159, 243 (siehe auch Zweckmäßigkeit, objektive) Pflicht 70, 77, 184, 193, 207, 217, 240, 244, 249 Prinzip, materiales praktisches 14, 137 f., 141 f., 145 f., 150, 165 – 167, 178, 180, 183 Prinzip, unbedingtes praktisches 207 f., 228, 242 Privatgültigkeit 81, 171 Raum, egozentrischer 84 f., 163 Reflexion 12, 15, 116, 154, 160, 168 f., 172 – 175, 190, 225, 227, 241 – 254 – auf das Angenehme 168 f., 172 – 175, 256 – auf das Mathematisch-Erhabene siehe Mathematisch-Erhabenes – auf das Schöne 116 – und moralisches Gefühl 12, 15, 190, 225, 227, 241 – 254 Regeln der Geschicklichkeit 165 – 167, 187, 195 Rührung 124, 158 Rezeptivität siehe Empfänglichkeit Schmerz, sinnlicher 34 f., 56, 74, 93, 105, 122, 158, 237, 239
Schmerz, moralischer 3, 12, 15, 73, 125, 190, 194, 225 f., 236 – 243, 246, 250, 253 Sehnsucht 21, 234, 237 Selbstbewusstsein 59, 98, 105 f., 108 Selbstliebe 184, 188, 199, 204 – 209, 220, 226 – 234, 242 – Prinzip der 52, 146, 166 f., 182, 193, 195, 199, 204, 206, 208 f., 228, 242 Selbstschätzung 190, 225, 229 – 232, 242 f., 247, 252 Selbstzufriedenheit 2, 102 Spiel, freies 8, 34, 37 f., 75, 89 f., 92, 94, 96 f., 99 f., 104 – 123, 131 – 134, 223 – der Erkenntniskräfte 8, 34, 37 f., 75, 89 f., 92, 94, 96 f., 99 f., 109 – 123, 131 – 134, 223 – der Empfindungen 104 – 109 Spontaneität 36, 94 – 99 Stimmungen/unbestimmte Gefühle 130, 234 Subjektivität 9, 81, 85 f., 123, 127 f., 140 f., 144 f., 153 f., 161 – 164, 171 f., 177 – von Gefühlen und ästhetischen Urteilen 9, 81, 85 f., 123, 127 f., 140 f., 144 f., 161 – 164 – von evaluativen Überzeugungen über das Angenehme 141, 171 f., 177 9, 17, 24 f., 27 f., 34 f., 40 – 42, 155, 170 f. Triebfeder 14 f., 188 – 194, 196, 200 – 202, 206, 208 f., 214 – 217, 219 – 222 – Begriff der Triebfeder 189, 209, 214 – 217 – moralisches Gesetz als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft 15, 189, 214 – 217, 219 – 222 Tier
Überlegung, praktische 4, 11, 137, 160, 181 – 187, 197 – 199, 209 f., 217, 219, 230, 235, 242 f., 256 (siehe auch Beurteilung) – empirisch-praktische Überlegung 181 – 187, 197 f., 210, 235, 242 f., 256 – reine praktische/moralische Überlegung 197 – 199, 209, 217, 219 Überzeugungen, evaluative 11, 141, 168 – 178, 181, 235, 253, 256
Sachwortregister
Unlust 59, 70, 236, 238, 240, 244, 249 (siehe auch Schmerz) Unterscheiden 25 – 28, 42, 58, 82 – 87 – logisch vs. physisch unterscheiden 27 f., 42 – und Gefühl der Lust und Unlust 58, 82 – 87 – von Gegenden im Raum 84 – 86 Urteil, ästhetisches 1, 14, 86, 91, 126 – 136, 160 – 164, 176, 250 f. (siehe auch Subjektivität) – als logisch einzelnes Urteil 128, 164, 171 – 173 – Prädikat im ästhetischen Urteil 127 – 131, 134 f. – Bestimmungsgrund im ästhetischen Urteil 127 – 129, 131 – 136, 161 – Geschmacksurteil 92, 112 – 115, 129, 132 – 134, 162 – 164, 172 f., 176 – ästhetisches Sinnenurteil 93, 115, 129, 131, 145, 162, 164, 169 – 171 – ästhetisch-praktisches Urteil 93, 250 Urteil, logisches 112, 127, 132, 161, 172 f. Urteil, moralisches 11, 65 – 67, 182, 188 f., 196 – 200, 211 – 213, 216 – 229, 231 – 238, 240 – 253, 256 (siehe auch Willensbestimmung; Urteil der Vernunft) – im vollen Sinn 250 f. Urteil, praktisches 65, 77, 101, 182 f., 196, 200, 210 – 214, 231 – 233, 238, 254 Urteil, theoretisch-empirisches 112 f., 117 – 121, 131 Urteil der Vernunft 194, 221, 226, 246, 250 (siehe auch Urteil, moralisches) Urteilskraft 112, 114, 117 Vergnügen 16, 56, 74, 93, 105 – 108, 122 f., 127, 144, 157 (siehe auch Lust, sinnliche; Gefühl, sinnliches/pathologisches) Vermögensbegriff 18 f. (siehe auch Grundvermögen des menschlichen Gemüts) Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen 43 – 47 Vernunft, endliche 185 f., 188, 201 – 209 (siehe auch Vernunftwesen, endliches)
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Vernunft, praktische 18, 29 f., 43 – 47, 188 f., 191, 198 f., 201 – 211, 216, 218 f., 227, 235, 242, 253 – Zwei-Aspekte-Theorie der praktischen Vernunft 189, 209 – 213, 216, 218 f., 235 Vernunft, empirisch-praktische 189, 198 f., 201 f., 206, 208 – 211, 216, 227, 242, 253 Vernunft, reine theoretische/spekulative 207 – 209 Vernunft, instrumentelle 45 – 47 Vernunft, technisch-praktische 18, 43 – 47 (siehe auch Begehrungsvermögen nach Begriffen) Vernunftwesen, endliches 184 – 188, 201 – 209, 216, 228, 232, 234, 251 Vollkommenheit siehe Zweckmäßigkeit, objektive Vorschrift, praktische 14, 67, 165 – 169, 178, 183, 187, 195, 198, 208, 253 Vorstellung, dunkle vs. klare 25 – 27, 130 Vorstellungsbeziehung, theoretische vs. praktische 21, 29 – 31, 47, 62, 101, 121 f. (siehe auch Begriff; Handeln/Handlung) Vorstellungskraft 20 f., 56, 94, 103, 112 f., 119, 123 Vorstellungslust 14, 138, 141 – 148 Wahrnehmung 25, 85 f., 106, 128 – 132, 140, 163 f., 168 – 171, 181, 223 f., 247, 250, 253 – und ästhetisches Urteil 128 – 130, 163 – Lust als evaluative Wahrnehmung 140, 168 – 171, 181 Wertschätzung 8 f., 81 f., 88, 139 f., 153 f., 156 – 160, 168 – 170, 225, 231 – 233, 243, 246 – 249, 251, 254, 256 Wille/Wollen 4, 14, 16 f., 38 f., 44 f., 151, 155, 164, 190 – 194, 201 – 203, 210 – 217, 226, 233, 238 f., 242, 249 – und praktische Vernunft 4, 16 f., 201, 210 – 214 – und Begehrungsvermögen 14, 17, 210 – 213, 238 f., 242 – Materie des Willens 193, 213 – Wille vs. Willkür 17, 218
272
Sachwortregister
Willensbestimmung 11, 54, 64 – 67, 73 f., 88, 137, 175, 178, 188 – 200, 202, 210 – 213, 221, 227, 233, 236, 246 – moralische/reine praktische/formale 54, 56, 65 – 67, 73 f., 88, 137, 195 f., 211 – 213, 221, 227, 233, 236, 246 – unmittelbare 188 – 200, 202, 213 – materiale 64, 66 f., 73, 175, 178, 213 – und praktisches/moralisches Urteil 11, 65 – 67, 188, 194, 210 – 213, 218, 221, 226 f., 233, 236, 246 Wohlgefallen 8 f., 13 f., 58, 79 – 82, 84, 88, 126, 129 f., 133 – 135, 159 f., 249, 256 – unmittelbares vs. mittelbares 79 f., 159 f. – und Lust 58, 79 f., 88, 126 – am Erhabenen 1, 80 f. (siehe auch Mathematisch-Erhabenes; Dynamisch-Erhabenes) – am Schönen 1, 79 – 81, 114, 153 f. – am Guten 71, 79 – 81, 121, 151, 159, 249, 251 – am Angenehmen 79 – 81, 140 f., 148, 158 – 164, 168, 170 f., 256 – am Nützlichen 79 f., 159 (siehe auch Nützliches/Wozu-Gutes) Wunsch 21, 32 f., 53, 193, 234 f.
Zusammenstimmung der Vorstellung mit sich selbst 75, 92 f., 111 f., 118, 124 (siehe auch Harmonie; Einheit, subjektive; Zustand) Zustand 19, 32, 35 f., 91, 94 – 99, 111, 114, 118 – 120, 123 – 125, 131 – 136, 145, 147 f., 237 – Lust und der zugrunde liegende Zustand 91, 94 – 99, 111, 114, 118 – 120, 123 – 125, 131 – 136, 145, 147 f., 224 f., 237, 246 f. Zweck (Definition) 48 f. Zweck, objektiver 18, 48 – 54, 121 – Definition 49 – innerer 49 – 51, 122 – äußerer 49, 51 – 53, 79, 122 Zweck, subjektiver 53, 186 f. Zweckmäßigkeit, objektive/Vollkommenheit 50, 53, 114, 161, 183 – innere Zweckmäßigkeit/qualitative Vollkommenheit 50 f. – äußere Zweckmäßigkeit 51 f. Zweckmäßigkeit, subjektive 13 f., 114 – 119, 124 – 126, 132 – 136, 176, 223, 237 – 240, 242, 252, 254 f.