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German Pages 338 [340] Year 2014
Claudia Blöser Zurechnung bei Kant
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 122
Claudia Blöser
Zurechnung bei Kant Zum Zusammenhang von Person und Handlung in Kants praktischer Philosophie
DE GRUYTER
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
ISBN 978-3-11-037044-7 e-ISBN 978-3-11-036699-0 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Juli 2012 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht habe. Obwohl die Arbeit samt ihrer Fehler mir zuzurechnen ist, haben viele Personen zu ihrer Entstehung beigetragen, bei denen ich mich bedanken möchte. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater und Erstgutachter, Marcus Willaschek, herzlich danken. Er hat mich zu dieser Arbeit ermutigt und in allen Phasen fachlich und persönlich sehr unterstützt. Auch der offene und konstruktive Gedankenaustausch in seinem Forschungskolloquium hat mir stets weitergeholfen. Meiner Zweitgutachterin Corinna Mieth danke ich für die freundliche Aufnahme als Mitarbeiterin an ihrem Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum. Während der anderthalb Jahre dort hat sie viele Kapitel mit mir diskutiert, mir Gelegenheit zur Präsentation in ihrem Forschungskolloquium und Freiräume für die Fertigstellung der Arbeit gegeben. Matthias Lutz-Bachmann danke ich für das Verfassen des dritten Gutachtens. Durch ein Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes wurde mir im Herbst 2009 ein dreimonatiger Aufenthalt an der University of Pittsburgh ermöglicht. Dort habe ich vor allem von Stephen Engstrom in Gesprächen und Seminaren wertvolle neue Denkanstöße für die Kant-Lektüre erhalten. Während meines Promotionsstudiums in Frankfurt kam mir eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Anfechtbare Zuschreibungsbegriffe“ unter der Leitung von Marcus Willaschek zugute, in dessen Rahmen ich vor allem systematisch über Verantwortung bzw. Zurechnung forschen konnte. In dieser Zeit haben mich Hannes Ole Matthiessen und Claudia Cuadra Carbajal mit philosophischem und freundschaftlichem Rat begleitet. Wichtige Gesprächspartner in Frankfurt waren mir außerdem Thomas Höwing, Béatrice Lienemann, und Florian Marwede. Sie haben mit mir über viele der hier formulierten Gedanken diskutiert und mehrere Kapitel gründlich und kritisch gelesen. In Bochum hatte ich das Glück, mein Büro mit Christian Neuhäuser zu teilen, der fast jedes Kapitel dieser Arbeit noch in seiner Entstehungsphase geduldig mit mir besprochen hat. Dankbar bin ich darüber hinaus allen, die ein oder mehrere Kapitel ausführlich kommentiert haben: Martin Brecher,Vasco Reuss, Markus Rothhaar, Matthé Scholten, Markus Schrenk, Martin Sticker, Radka Tomeckova und Anna Wehofsits. Matthias Schmitt hat mir unter
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Vorwort
anderem die Freude gemacht, die Druckfahnen zu lesen, dabei schwierige Fragen zu stellen und immer noch Fehler zu finden. Den Herausgebern der Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“ danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit und Gertrud Grünkorn für die gute Zusammenarbeit. Der VG Wort gilt mein Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Schließlich danke ich Alexander Losse für sein sorgfältiges Lektorat. Mehr noch als über seine sprachlichen Verbesserungen habe ich mich über seine inhaltlichen Anmerkungen gefreut, von denen leider nicht mehr alle Eingang in meinen Text finden konnten. Unsere Gespräche haben mir kurz vor der endgültigen Abgabe des Manuskripts noch einmal vor Augen geführt, wie vorläufig der Abschluss dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit Kants Philosophie ist.
Inhalt Einleitung
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. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der 11 Sitten . Stellung der Definition der Zurechnung in der 11 Metaphysik der Sitten . Das Zurechnungsurteil „in moralischer Bedeutung“ 12 . Urheberschaft (causa libera) 14 17 . Objekte der Zurechnung: Handlung und Tat . Äußere und innere Handlungen 18 20 . Zurechenbarkeit von Unterlassungen . Die zurechenbare Handlung als eine Tat, die „unter Gesetzen 23 steht“ . Verdienst und Schuld 29 . Zwei Stufen der Zurechnung: Zurechnung zur Tat und Zurechnung zu 40 Schuld und Verdienst . „Rechtskräftige“ und „nur beurteilende“ Zurechnung nach ver44 schiedenen Gesetzen . Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung 48 48 . Zwei Konzeptionen transzendentaler Freiheit 53 . Praktische Freiheit als Bestimmbarkeit durch Imperative 56 . Freies Handeln nach Maximen – Die Inkorporationsthese . Transzendentale Freiheit als ein Aspekt praktischer Freiheit 58 62 . Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit . Die Möglichkeit, dass man hätte anders handeln können – Kants „Konsequenzargument“ 66 71 . Die Zurechenbarkeit unkluger Handlungen . Die Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen 73 . Drei Typen des Bösen: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und 77 Bösartigkeit 81 . Fazit . Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung 83 84 . Die dritte Antinomie: Beweisziel und Kontext . Transzendentale Freiheit und das Naturkausalitätsprinzip 89 . Grundzüge der Auflösung der Antinomie
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Inhalt
. Der empirische und intelligible Charakter des Menschen 92 . Dinge an sich und Erscheinungen: Zwei Perspektiven auf menschliche Handlungen 103 108 . Die Zurechnung der boshaften Lüge . Die Wahl des eigenen Charakters: „Revolution“ und „Reform“ der 109 Gesinnung . Sind wir „wirklich“ transzendental frei und zurechnungsfähig? 112 117 . Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung . Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs 118 119 . Die Urteile des Gewissens . Das Gewissen als „göttlicher“ Gerichtshof 123 . Die zeitliche Beziehung des Gewissensurteils zur Handlung 127 128 . Selbstzurechnung und Fremdzurechnung . Das Gewissen als notwendige Voraussetzung dafür, ein Zurech129 nungssubjekt zu sein 132 . Ein reines Gewissen als Entschuldigungsgrund? 142 . Fazit . Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst 144 . Dankbarkeit als Ausdruck eines Zurechnungsurteils 145 . Dankbarkeit als Gefühl: Achtung gegenüber dem Wohltäter 151 . Dankbarkeit als natürliche Reaktion oder als Pflicht? 155 . Der Grad der Pflicht zur Dankbarkeit
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. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld 157 . Was gilt nach Kant als „strafwürdiges“ Verbrechen? 158 160 . Kants Theorie zwischen Wiedervergeltung und Abschreckung . Spielt der Vergeltungsgedanke in Kants allgemeiner Rechtfertigung der 162 Strafe eine Rolle? 162 . Intrinsisches Verdienst . Soziales Verdienst 165 . Verdienst als angemessene Folge nach Regeln 167 168 . Kants Rechtfertigung der Strafe nach der Abschreckungstheorie . Wer soll bestraft werden? 171 173 . Wie wird die „Qualität und Quantität“ der Strafe bestimmt? . Das „Paradox“ der Strafe und der Zurechnungsfähigkeit 176
Inhalt
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. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen 180 . Vier Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen 182 186 . Das zugrundeliegende Prinzip der Folgenzurechnung 188 . Die Zurechenbarkeit von Folgen als Normalfall . Schuld, Täterbedauern und die Rolle des moralischen Zufalls 194 . Die Nicht-Zurechenbarkeit von Folgen obligatorischer 200 Handlungen . Eine weitere Einschränkung: Der normative Zusammenhang von Folge 205 und Handlung . Fazit 209 211 . Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt . Mensch und Menschheit, Person und Persönlichkeit 213 217 . Sind alle Menschen Personen? . Sind alle Personen Menschen? 219 . Drei Aspekte der menschlichen Person: Körper, Bewusstsein und mo221 ralische Autonomie 221 . Die menschliche Person als verkörpertes Wesen . Die Person als ein Wesen mit Selbstbewusstsein 226 .. Grenzen der theoretischen Bestimmbarkeit des 228 Personbegriffs . Die Person als moralisch autonomes Wesen 237 .. Die metaphysische Konzeption des 237 Zurechnungssubjekts .. Die empirisch-praktische Konzeption des 240 Zurechnungssubjekts .. Die Person als moralisch-praktisches 243 Zurechnungssubjekt 246 . Synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen . Diachrone Identität als Zusammenhang von Maximen durch die Zeit 252 hinweg . Kapitel: Grade der Zurechnung 255 . Kants „Kompromisslosigkeit“ und ihre Quellen 256 260 . Korsgaards Vorschlag . Kant über Grade der Zurechnungsfähigkeit in der 261 Metaphysik der Sitten . Zwei Stufen der Zurechnung 267 . Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung 269
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Inhalt
. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen 277 . Rechtfertigungen 278 280 . Entschuldigungen und Schuldminderungsgründe 282 .. Affekte und Leidenschaften . Ausnahmen 287 288 .. Geisteskrankheit als Ausnahmegrund .. Kindheit als Ausnahmegrund 292 295 . Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept . Schluss 300 300 . Die Zweistufigkeit der Zurechnung . Transzendentale Freiheit als Voraussetzung der Zurechnung 302 . Die Praxis der Zurechnung 304 . Die Zurechenbarkeit unbeabsichtigter Handlungsfolgen 305 und moralischer Zufall 307 . Die Person als Zurechnungssubjekt . Anfechtungen der Zurechnung: Ausnahmen, Rechtfertigungen, Ent308 schuldigungen, Schuldminderungsgründe Zitierweise Literatur
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Personenregister Sachregister
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Einleitung Diese Arbeit untersucht den Begriff der Zurechnung in Kants praktischer Philosophie. Ein Zurechnungsurteil bringt zum Ausdruck, dass zwischen einem Geschehen und einer Person ein bestimmter Zusammenhang besteht: Das Geschehen wird als die eigene Handlung der Person charakterisiert, indem es auf ihren freien Willen zurückgeführt wird. Damit unterscheiden sich zurechenbare Handlungen sowohl von bloßen Naturereignissen als auch von Handlungen anderer. Dass wir uns als zurechnungsfähige Personen auffassen und als Urheber unserer Handlungen betrachten, ist aus unserem alltäglichen Umgang miteinander, aber auch aus unserer Rechtspraxis kaum wegzudenken. Nur für zurechenbare Handlungen halten wir Lob oder Tadel, Belohnung oder Strafe für angemessen. Die lateinische Wortherkunft von „zurechnen“, „imputare“, lässt erkennen, dass Zurechnung eng mit der Zuschreibung von Schuld verbunden ist: „imputare“ ist eine Ableitung von „putare“, auf Deutsch: schneiden. Um anzuzeigen, dass jemand Schulden hat, wurden früher Kerben in ein Holz eingeschnitten, sodass die Schulden leicht zusammengerechnet werden konnten. Auf diese Weise bekam „putare“ die Bedeutung rechnen und „imputare“ bedeutete an- oder zurechnen (vgl. Hruschka 2004, 17). Der Begriff der Zurechnung ist über die Frage nach Schuld hinaus mit zahlreichen anderen Fragestellungen verknüpft, die für unser Selbstverständnis als handelnde Personen zentral sind: Was Handlungen von bloßem Naturgeschehen unterscheidet; welche Art von Freiheit wir in unserem Handeln voraussetzen; wann wir für die Folgen unseres Handelns verantwortlich sind; was Personen überhaupt sind; inwiefern Strafe gerechtfertigt ist und unter welchen Umständen wir Personen für ihr Handeln entschuldigen – all dies sind Fragen, deren Diskussion und Beantwortung in enger Verbindung mit dem Zurechnungsbegriff steht. Grundideen einer Zurechnungslehre nach heutigem Verständnis lassen sich bereits in der Antike finden: Schon Aristoteles entwickelt in der Nikomachischen Ethik (v. a. Buch III und V) Gedanken, mit deren Hilfe sich die Konturen einer Zurechnungslehre konstruieren lassen.¹ Doch erst in der Neuzeit wird der Begriff der Zurechnung durch Pufendorf terminologisch fixiert und in der Nachfolge u. a. durch Wolff und Daries weiter ausgearbeitet.² Kant findet den Begriff der Zu-
Vgl. zu Zurechnung bei Aristoteles Loening 1903, Meyer 1993, Echeñique 2012, Lienemann 2013. Hruschka hat die Geschichte des Zurechnungsbegriffs ab Pufendorf gründlich aufgearbeitet (vgl. z. B. Hruschka 1976; 2004).
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rechnung als systematisch wichtigen Begriff in der praktischen Philosophie vor und liefert mit seiner Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten die wohl bis heute bekannteste Definition des Begriffs (vgl. Hruschka 2004): Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann T h a t (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird (6:227).
In dieser Definition, die im ersten Kapitel dieser Arbeit genauer erläutert wird,wird das Grundverständnis von Zurechnung zum Ausdruck gebracht, das noch heute maßgeblich ist: Jemand – nämlich eine Person, die Kant als „dasjenige Subject“ bestimmt, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ (6:223) – wird als Urheber (als die freie Ursache) einer Handlung betrachtet, die nach moralischen Gesetzen bewertbar ist. Im Mittelpunkt dieser Arbeit wird die Bedeutung des Zurechnungsbegriffs für Kants praktische Philosophie stehen, doch möchte ich es nicht versäumen, kurz auf dessen systematische Relevanz und Aktualität aufmerksam zu machen. Die Frage nach der Zurechenbarkeit stellt sich in unterschiedlichen rechtlichen, moralischen und sozialen Kontexten: Ist der Tod des Opfers dem Angeklagten als Mord zurechenbar oder nicht – war etwa eine andere Person schuldig, oder hat der Angeklagte aus Notwehr gehandelt? Kann man einer Person für die Folgen einer Lüge Vorwürfe machen? Lässt sich dem Freund sein Zuspätkommen zurechnen oder nicht – war er etwa durch eine Reifenpanne am Weiterfahren gehindert? Wie diese Beispiele zeigen, besitzt der Zurechnungsbegriff eine große Nähe zum Begriff der Verantwortung: Man könnte genauso fragen, ob der Freund für sein Zuspätkommen oder der Angeklagte für den Tod des Opfers verantwortlich ist. Der Verantwortungsbegriff ist heute in vielen Lebensbereichen präsent und im alltäglichen Sprachgebrauch geläufiger als der Zurechnungsbegriff. Eine kurze Skizze der engen Bezüge des Zurechnungs- und des Verantwortungsbegriffs kann die Relevanz des Zurechnungsbegriffs für unsere Alltagspraxis stärker verdeutlichen und in einen breiteren Kontext einordnen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat der Begriff der Verantwortung enorm an Bedeutung gewonnen (vgl. Bayertz 1995). Verantwortung ist heutzutage nicht nur in politischen Parteiprogrammen und Reden³ ein Schlüsselbegriff, auch Unternehmen bilden eigene Abteilungen mit Titeln wie „corporate social responsibili-
In der nur fünfminütigen Dankensrede nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 18.05. 2012 verwendet Joachim Gauck den Begriff der Verantwortung allein fünf Mal (vgl. http:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/03/120318-Wahldes-Bundespraesidenten.html, letzter Zugriff 20.05. 2012).
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ty“, um damit ihre Bereitschaft zu signalisieren, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.⁴ Die Relevanz des Verantwortungsbegriffs spiegelt sich auch in seiner häufigen Behandlung in der praktischen Philosophie wider.⁵ Mit der breiten Verwendung des Verantwortungsbegriffs geht jedoch der Nachteil einher, dass der Begriff in wechselnder und oft unklarer Bedeutung gebraucht wird. Es soll im Folgenden skizziert werden, inwiefern der Zurechnungsbegriff herangezogen werden kann, um einen wichtigen Aspekt von Verantwortung zu erfassen.⁶ Verantwortung hat einen prospektiven und einen retrospektiven Aspekt.⁷ Eine Person ist prospektiv verantwortlich für eine Handlung (oder einen Zustand), wenn ihr die Aufgabe zukommt, in der Zukunft die Handlung auszuführen (bzw. den Zustand herbeizuführen). Diese Verwendungsweise charakterisiert Verantwortung als Zuständigkeit und rückt sie in die Nähe der Pflicht. Einige Autoren vertreten die These, dass der Verantwortungsbegriff gerade dann den Pflichtbegriff ersetzt, wenn in komplexen Handlungszusammenhängen Pflichten inhaltlich nicht mehr eindeutig bestimmt werden bzw. nicht eindeutig einzelnen Individuen zugeschrieben werden können.⁸ Von dieser prospektiven lässt sich die retrospektive Verantwortung für eine in der Vergangenheit liegende Handlung (bzw. einen Zustand) unterscheiden. Dass eine Person retrospektiv verantwortlich für ihre Handlung ist, heißt in erster Annäherung, dass sie von anderen für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden kann und dass sie ihr Handeln mit Gründen vor anderen rechtfertigen können muss, und dies impliziert (bei fehlenden Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründen) auch, dass die Person bei einer normativen Bewertung der Handlung für diese gelobt oder getadelt werden kann. Retrospektive Verantwortung bindet Verantwortung offenbar an Urheberschaft, d. h. Personen müssen normalerweise nur für diejenigen Handlungen einstehen, deren Urheber sie sind. So wird ersichtlich, dass der Begriff der Zurechnung eng mit dem Begriff der Verantwortung in retrospektiver Bedeutung verbunden ist: Dass eine Person retrospektiv verantwortlich für eine Handlung ist, heißt, dass sich die Handlung ihr als ihre eigene zurechnen lässt. Zurechnung ist eine notwendige Bedingung für retrospektive Verantwortung: Es ist nur dann gerechtfertigt, von einer Person Rede und Antwort in Bezug auf eine Handlung zu
Für eine Kritik des Begriffs der „corporate social responsibility“ vgl. Neuhäuser 2011, 17 ff. Vgl. z. B. Fischer/Ravizza 1998; Heidbrink 2003; Buddeberg 2011; Neuhäuser 2011. Vgl. Kaufmann/Renzikowski 2004 oder auch Forst, der den Begriff der Verantwortung als „parasitäre[n] Begriff“ bezeichnet, weil er „sich in Bezug auf diese Pole – Zuständigkeit und Zurechenbarkeit – analysieren und aufklären“ lässt (Forst 2006, 410). Siehe zur Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Verantwortung etwa Bayertz 1995, insbesondere 45 ff.; Werner 2006. Vgl. z. B. Heidbrink 2003, z. B. 18, 35; Werner 2006, 523; Mieth 2010; Neuhäuser 2011, 204.
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verlangen, wenn es die eigene Handlung der Person ist.⁹ Die Zurechenbarkeit der Handlung ist aber normalerweise auch hinreichend dafür, der Person retrospektiv Verantwortung zuzuschreiben: In Abwesenheit von Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründen ist es angemessen, eine zurechnungsfähige Person für die ihr zurechenbaren guten oder schlechten Handlungen zu loben oder zu tadeln. Während also Zurechenbarkeit und retrospektive Verantwortung so eng verbunden sind, dass sie nahezu austauschbar verwendet werden können, besteht keine entsprechende Verbindung zwischen dem Begriff der Zurechenbarkeit und dem der prospektiven Verantwortung: Wird eine Handlung zugerechnet, liegt diese immer schon in der Vergangenheit. Explizit kommt das Wort „Verantwortung“ bei Kant nur in der Bedeutung der Rechenschaft vor, die eine Person für ihre Handlungen ablegen können muss. Dabei handelt es sich um den retrospektiven Aspekt der Verantwortung, der auf den Zurechnungsbegriff verweist: Nur für zurechenbare Handlungen (oder Eigenschaften) kann dem Menschen Verantwortung im Sinne von Rechenschaft abverlangt werden. So sagt Kant beispielsweise über die sinnlichen Neigungen, dass „wir ihr Dasein nicht verantworten (wir können es […] nicht, weil sie […] uns nicht zu Urhebern haben)“ (6:35). Dass Kant unter „Verantwortung“ vor allem die „Antwort“ auf die Frage nach der Richtigkeit einer Handlung versteht, wird besonders in seiner Konzeption des Gewissens deutlich, welches er als „subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung“ (6:439) versteht. In diesem Kontext tritt der juridische Ursprung der Begriffe von Verantwortung und Zurechnung klar zu Tage: Das Gewissen wird als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ (6:438) gedacht, vor dem die (innere) Zurechnung der Taten und die entsprechende „Antwort“, d. h. die Rechtfertigung des Angeklagten erfolgt.¹⁰ Der heute gebräuchliche prospektive Begriff der Verantwortung geht bei Kant vollständig in seinem Begriff der Pflicht auf. Möchte man den Begriff der Verantwortung, wie oben angedeutet, auf solche Zuständigkeiten beschränken, bei denen keine eindeutigen Pflichten in Bezug auf bestimmte Handlungen auszu-
So auch Larenz: „Verantwortlich sein bedeutet einstehen sollen für seine Tat. Das Urteil, das jemand verantwortlich für irgendein Geschehen macht, setzt somit das Urteil voraus, daß dies Geschehen seine Tat sei. Ohne Zurechnung zur Tat keine Verantwortung“ (Larenz 1927, 90). Der Gewissensbegriff wird ausführlich in Kapitel 4 behandelt. Den Ausdruck „gewissenhafte Verantwortung“ als Antwort auf eine „Anklage“ (7:7) verwendet Kant auch im Streit der Fakultäten in einem Brief an König Friedrich Wilhelm II. Kants „gewissenhafte Verantwortung“ bezieht sich auf die Anklage der „Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt= und Grundlehren der heil. Schrift und des Christenthums“, vor allem in der Religionsschrift und der daraus resultierenden „Schuld der Übertretung meiner Pflicht als Lehrer der Jugend“ (7:7).
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machen sind, findet man in Kants Moralphilosophie in der Konzeption der weiten bzw. unvollkommenen Pflichten eine Entsprechung: Im Gegensatz zu einer engen, vollkommenen Pflicht schreibt eine weite Pflicht keine konkrete Handlung, sondern eine Maxime vor, d. h. ein „Princip zu handeln“ (4:420, Anm. 2), das auf verschiedene Weise umgesetzt werden kann. Es ist nach Kant zwar Pflicht, sich die Beförderung der eigenen Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit zur Maxime zu machen, aber es gibt „einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen“ (6:393). Kants Aussage, dass die Förderung der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit eine weite moralische Pflicht ist, lässt sich demnach auch mit Hilfe des Begriffs der prospektiven Verantwortung ausdrücken: Menschen sind für ihre eigene Vollkommenheit bzw. fremde Glückseligkeit (prospektiv) verantwortlich. Ganz allgemein könnte man im Kantischen Sinne sagen, dass Menschen dafür verantwortlich sind, das Sittengesetz in Form des kategorischen Imperativs zu befolgen und eine gute Gesinnung in sich zu gründen.¹¹ Es ist in der modernen Verantwortungsdebatte darauf hingewiesen worden, dass prospektive und retrospektive Verantwortung eng miteinander zusammenhängen.¹² Zumeist wird in diesem Zusammenhang die These vertreten, dass prospektive Verantwortung der retrospektiven vorgängig ist, das heißt, dass zunächst geklärt werden muss,wer wofür zuständig ist, bevor im nächsten Schritt die Frage beantwortet werden kann, wem welche Handlung zugerechnet bzw. vorgeworfen werden kann.¹³ Einem Schiedsrichter kann beispielsweise retrospektiv Parteilichkeit nur deshalb zum Vorwurf gemacht werden, weil er prospektiv für einen fairen Verlauf des Spiels verantwortlich ist; einem Fan würde möglicherweise ein Mangel an Parteilichkeit als Rollenverstoß ausgelegt. Dieser Zusammenhang trifft auch auf das Verhältnis von Pflicht und Zurechnung bei Kant zu: Nur weil der Mensch ein normativ verpflichtetes Wesen ist, können ihm seine Handlungen zugerechnet werden. Doch anders als im Beispiel des Schiedsrichters geht es bei Kant nicht primär um die prospektive Verantwortung, die man aufgrund seiner sozialen Rolle trägt, sondern um die prospektive Verantwortung bzw. die Pflichten, die jeder Mensch als rationales Wesen trägt und in all seinem Handeln zu berücksichtigen hat. Die prospektive Verantwortung, sein Handeln an Maßstäben der Moral, aber auch der Klugheit, auszurichten, obliegt dem Menschen in Bezug auf all sein Handeln. Wenn gilt, dass prospektive Verantwortung eine Bedingung für retrospektive Verantwortung ist, sodass der Mensch nur für die
Vgl. Heidbrink 2003, 65. Vgl. Gosepath 2006, 389 f.; Günther 2006. Vgl. z. B. Buddeberg 2011, 3 und Forst 2006, 410.
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Handlungen retrospektiv verantwortlich sein kann, für die er auch prospektiv verantwortlich ist, dann folgt aus dem Gesagten, dass Personen nach Kant für alle ihre Handlungen (welche sie an normativen Maßstäben ausrichten können und sollen) retrospektiv verantwortlich sein können, das heißt, dass ihnen sämtliche ihrer Handlungen normalerweise (d. h. beim Fehlen von Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründen) zurechenbar sind. Bislang liegt keine systematische Studie über die Rolle des Zurechnungsbegriffs in Kants praktischer Philosophie vor. Ein Grund dafür mag sein, dass sich Kants explizite Ausführungen zur Zurechnung auf wenige Passagen, vor allem in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, beschränken. Das ist nicht nur in Anbetracht der systematischen Relevanz des Zurechnungsbegriffs erstaunlich, sondern auch angesichts der Tatsache, dass Kant selbst die zentrale Stellung des Zurechnungsbegriffs für seine praktische Philosophie bedacht hat, wie eine Bemerkung in den „Lose[n] Blätter[n] zu den Fortschritten der Metaphysik“ zeigt: „Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen“ (20:335). Angesichts der wenigen ausdrücklichen Bemerkungen zum Zurechnungsbegriff bei Kant lässt sich kaum von einer ausgearbeiteten Kantischen „Theorie der Zurechnung“ sprechen. Trotzdem gibt es genug Material, um Beiträge zu einer Theorie der Zurechnung im Kantischen Sinne zu entwickeln. Zum einen stehen Kants Notizen zur Zurechnung zur Verfügung, die er in seinem Exemplar von Baumgartens Initia philosophiae practicae primae (Halle/Magdeburg 1760; abgedruckt in der Akademie-Ausgabe 19:7– 91) hinterlassen hat. In Baumgartens Werk, nach dem Kant in den 70er bis 90er Jahren seine Vorlesungen zur Moralphilosophie hielt, die in Nachschriften (z. B. von Kähler und Vigilantius) überliefert wurden, finden sich längere Passagen zu Zurechnung. Zum anderen werde ich in meiner Untersuchung nicht nur die Passagen in Kants Werk heranziehen, in denen explizit von „Zurechnung“ die Rede ist. Vielmehr sind auf der Grundlage der Definition der Zurechnung und den daran anschließenden Passagen der Metaphysik der Sitten die Verflechtungen des Zurechnungsbegriffs mit anderen zentralen Begriffen der Kantischen Philosophie zu untersuchen. Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel. Das erste Kapitel stellt Kants Definition des Zurechnungsbegriffs aus der Einleitung zur Metaphysik der Sitten in den Mittelpunkt. Es werden die einzelnen Termini der Definition erläutert und das Feld der Begriffe vorgezeichnet, die im Laufe der Arbeit näher betrachtet werden. Auf diese Weise wird zweierlei deutlich: Einerseits setzt der Zurechnungsbegriff ein Verständnis von wichtigen Begriffen der Kantischen Philosophie – wie zum Beispiel Freiheit, Person, Handlung, Gesetz und Pflicht – voraus, andererseits eröffnet er selbst eine Perspektive, die für all
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diese Begriffe relevant ist und neue Aspekte an und Zusammenhänge zwischen ihnen aufzeigt. Gegenstand des zweiten Kapitels ist Kants Konzeption transzendentaler Freiheit, von der Kant sagt, dass sie der „eigentliche Grund“ (A448/B476) der Zurechnung ist. Transzendentale Freiheit ist im Kern Erstursächlichkeit, d. h. in negativer Hinsicht die Unabhängigkeit von zeitlich vorhergehenden Ursachen, in positiver Hinsicht „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (A533/ B561). In Bezug auf den menschlichen Willen besteht transzendentale Freiheit nach Kant im Vermögen, nach vernünftigem Sollen, das sich in Imperativen ausdrückt, zu handeln. Der Begriff transzendentaler Freiheit erlaubt zwei Interpretationen, die beide in der Debatte um Kants Freiheitsbegriff vertreten werden und die sich beide auf den kantischen Text stützen können: Gemäß der weiten Konzeption besteht transzendentale Freiheit des menschlichen Willens in der Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien bzw. Imperativen handeln zu können.Wir sind transzendental frei und zurechnungsfähig,weil wir sowohl zweckrationale als auch moralische Entscheidungen treffen. Gemäß der engen Konzeption wird transzendentale Freiheit des menschlichen Willens mit Autonomie gleichgesetzt, d. h. sie besteht nur in der Fähigkeit zum moralischen Handeln nach kategorischen Imperativen. In Bezug auf Zurechnung schlage ich eine vermittelnde Position vor: Spontaneität als Unabhängigkeit von jedem einzelnen empirisch gegebenen Motiv ist notwendig und normalerweise hinreichend für die Zurechnung von Handlungen nach Prinzipien der Zweckrationalität, die ich im Folgenden „prudentielle“ Zurechnung nenne (abgeleitet vom englischen Wort „prudential“ = klug); Autonomie (als Unabhängigkeit von allen empirischen Motiven) ist notwendig und normalerweise hinreichend für die moralische Zurechnung von Handlungen nach dem Moralgesetz. Die Unterscheidung der beiden Konzeptionen transzendentaler Freiheit ist unter anderem für die Frage nach der Möglichkeit von Graden der Zurechnung relevant, die ich im neunten Kapitel aufnehme, wo ich den Konsequenzen der beiden Interpretationen getrennt nachgehe. Das zweite Kapitel endet mit einer Diskussion der vielfach aufgeworfenen Frage, inwiefern Kant zufolge unkluge und unmoralische Handlungen zurechenbar sind. Meine Antwort – die allerdings nicht alle Paradoxien des Bösen aufzulösen vermag – lautet, dass transzendentale Freiheit eine Fähigkeit ist, die auch dann vorliegen kann,wenn sie nicht adäquat ausgeübt wird, dass jedoch erfolgreiche Ausübung keine Bedingung für Zurechenbarkeit ist. Unser Selbstverständnis als freie und damit zurechenbare Wesen ist einem grundsätzlichen Einwand ausgesetzt: Wie ist Freiheit mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild vereinbar, demgemäß alle Ereignisse prinzipiell durch natürliche Ursachen bestimmt sind? Im dritten Kapitel soll Kants Formulierung des Problems in der dritten Antinomie und seine Auflösung diskutiert werden. Das
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Begriffspaar, das in der Auflösung der Antinomie eine zentrale Rolle spielt, ist das des empirischen und des intelligiblen Charakters. Eine Klärung dieser beiden Begriffe soll ein Verständnis der Thesen erlauben, dass eine Handlung einem Menschen zugerechnet werden kann, insofern sie „seinem intelligibelen Charakter beigemessen“ wird (A555/B583), jedoch unsere Zurechnungen „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ können (A552/B580, Anm.). Die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter oder – analog – von naturgesetzlich bestimmten Phaenomena und transzendental freien Noumena lässt sich einerseits als ontologische Unterscheidung zwischen zwei „Welten“ lesen. Da diese Lesart jedoch zu großen Schwierigkeiten führt – so fragt sich zum Beispiel Beck, wie es gerechtfertigt sein kann, den „phänomenalen Menschen“ zu bestrafen, wenn doch nur die Freiheit des „noumenalen Menschen“ vorausgesetzt werden kann (Beck 1987, 43) – schließe ich mich einer „Zwei-Aspekte-Lesart“ der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich an. Kants Position lässt eine anschlussfähige Grundidee erkennen: Man kann Kant als Beschreibungspluralisten verstehen, der die Eigenständigkeit einer praktischen, normativen Sphäre gegenüber einer Reduktion auf das Empirische, naturwissenschaftlich Beschreibbare verteidigen möchte.¹⁴ Bezogen auf Zurechnung heißt dies: Dass Menschen zurechnungsfähig sind, lässt sich nicht rein naturwissenschaftlich oder gar physikalisch erklären (obgleich Zurechnungsfähigkeit auch auf natürlichen, physikalischen Gegebenheiten beruht), sondern ist eine Tatsache der normativen Praxis. Die Praxis der Zurechnung ist Gegenstand des vierten, fünften und sechsten Kapitels. Nachdem in den vorigen Kapiteln die Voraussetzungen der Zurechnung geklärt worden sind, liegt der Schwerpunkt dieser Kapitel darauf zu zeigen, worin die Vollzugsformen der ethischen und rechtlichen Praxis der Zurechnung eigentlich bestehen, d. h. wie Zurechnungsurteile gefällt werden und was für praktische Konsequenzen Zurechnung hat. Das vierte Kapitel beschreibt individuelle Selbstzurechnung der eigenen Handlungen, die darin besteht, dass eine Person ihre eigenen Taten vor ihrem Gewissen prüft und mit entsprechenden emotionalen Reaktionen, insbesondere mit Gewissensbissen bzw. Reue bei schlechten Handlungen, antwortet. Die Analyse macht deutlich, dass Selbstzurechnung mit Gefühlen einhergeht. Ferner diskutiere ich die Frage, ob ein reines Gewissen nach Kant als Entschuldigung vorgebracht werden kann. Im fünften Kapitel wird ethische Zurechnung zum Verdienst thematisiert, die sich in Dankbarkeit ausdrückt bzw. ausdrücken soll. Dankbarkeit ist eine Ausdrucksform der Zurechnung, die – ebenso wie die Zurechnung vor dem eigenen
Vgl. Willaschek 1992, 33 f.
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Gewissen – eine emotionale Komponente, die „Achtung“ vor dem Wohltäter, hat. Ich erläutere die These, dass Dankbarkeit nach Kant Pflicht ist, sodass deutlich wird, warum Dankbarkeit keine natürliche, sondern eine normativ geforderte Reaktion auf Zurechnung zum Verdienst ist. Das sechste Kapitel diskutiert die Strafe als die rechtliche Folge der Zurechnung zur Schuld. Anknüpfend an Arbeiten von Byrd und Hruschka (Byrd/ Hruschka 2010) schließe ich mich der These an, dass Kants Straftheorie sowohl vergeltungs- als auch generalpräventive Elemente enthält. Zurechnung zur Schuld wird nach vergeltungstheoretischen Überlegungen als notwendig und vor dem Hintergrund einer Abschreckungstheorie der Strafe auch als hinreichend für Strafe ausgewiesen. In den Kapiteln vier bis sechs werden also drei wichtige Kontexte der Zurechnung dargestellt: Zunächst der individuelle Kontext der Selbstzurechnung, dann intersubjektive Zurechnung in alltäglichen Kontexten und schließlich intersubjektive und institutionalisierte Zurechnung. Die Bezüge zum Gewissen, zur Dankbarkeit und zur Strafe, die nicht auf den ersten Blick mit dem Zurechnungsbegriff verbunden zu sein scheinen, zeigen einmal mehr, wie stark der Zurechnungsbegriff in Kants praktische Philosophie eingebettet ist. Im siebten Kapitel werden die Kantischen Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen untersucht. Anders als weithin angenommen (z. B. Heidbrink 2003, 25) – und als es nach der deontologischen Grundlage der Kantischen Moraltheorie vermutet werden könnte – hält Kant selbst unintendierte, unvorhersehbare Handlungsfolgen nicht für generell unzurechenbar. Er macht es nicht von der Intention des Handelnden, sondern vom normativen Status der Handlung abhängig, ob Handlungsfolgen zugerechnet werden können: Alle schlechten Folgen von schuldhaften und alle guten Folgen von verdienstlichen Handlungen sind zurechenbar. Mein Ziel ist es zu zeigen, inwiefern dies mit der deontologischen Ausrichtung von Kants Ethik vereinbar ist, und das zugrundeliegende Prinzip der Folgenzurechnung herauszuarbeiten, das lautet: Alle Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen einer zurechenbaren Handlung (d. h. gute Folgen guter Handlungen und schlechte Folgen schlechter Handlungen) sind zurechenbar, es sei denn, die Handlung war obligatorisch. Das achte Kapitel beschäftigt sich mit Kants Begriff der Person als moralischem Zurechnungssubjekt. Es müssen insbesondere zwei Fragen beantwortet werden: Inwiefern kann man, erstens, von einer Person sagen, sie sei eine Person zu einem Zeitpunkt, sodass ihre sinnliche und ihre vernünftige Seite eine synchrone Einheit bilden? Diese Frage stellt sich insbesondere mit Blick auf die Zurechnung unmoralischer Handlungen. Personen sind als freie, d. h. „noumenale“ Wesen zurechnungsfähig, aber als solche handeln sie nicht unmoralisch. Meine Lösung knüpft an die Fähigkeitsinterpretation an, die im zweiten Kapitel zur Erklärung der Zurechenbarkeit böser Handlungen herangezogen wird: Eine Person
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Einleitung
bildet eine synchrone Einheit, wenn sie ihre sinnliche Seite prinzipiell der vernünftigen unterordnet. Diese hierarchische Einheit besteht, solange die Person die Fähigkeit hat, nach moralischen Maximen zu handeln. Zweitens wird untersucht, was eine Person zu derselben wie zu einem vergangenen Zeitpunkt macht, d. h. was ihre diachrone Identität ausmacht. Zugerechnet werden Handlungen, die schon geschehen sind, und deshalb müssen wir die gegenwärtige Person, der wir die Handlung zurechnen wollen, als dieselbe Person wie diejenige betrachten, die die Handlung in der Vergangenheit vollzogen hat. Ich schlage vor, die Einheit der Person durch die Zeit hinweg im Zusammenhang ihrer Maximen zu sehen, insofern diese Ausdruck ihrer Autonomie sind. So ist die moralische Person als „Noumenon“ nicht nur eine metaphysische Idee, sondern drückt sich empirisch in Handlungen und Maximen aus. Das neunte Kapitel untersucht die Möglichkeit von Graden der Zurechnung. Die Möglichkeit von empirischen Schuldminderungsgründen in Kants Theorie erscheint fraglich (vgl. Korsgaard 1996b): Wenn eine Person transzendental frei ist, ist sie in ihrem Handeln unabhängig von allen empirischen Faktoren. Doch Kant selbst vertritt am Ende der Einleitung in die Metaphysik der Sitten die These, dass der „Grad der Zurechnungsfähigkeit“ nach der „Größe der Hindernisse zu schätzen“ ist, die eine Person bei ihrer Handlung überwinden musste (6:228). Wenn eine Person beispielsweise aus starkem Affekt gehandelt hat, wird ihr die schlechte Handlung weniger zur Schuld zugerechnet. In diesem Kapitel soll die Möglichkeit von Zurechnungsgraden bei Kant erklärt werden, indem der systematische Ort aufgezeigt wird, an dem empirische Faktoren das Zurechnungsurteil beeinflussen können. Diese Lösung beruht auf der im 18. Jahrhundert üblichen Unterscheidung zweier Stufen von Zurechnung – der Zurechnung zur Tat und der Zurechnung zu Schuld und Verdienst. Durch eine Verhältnisbestimmung der beiden Stufen der Zurechnung wird Licht auf die Frage geworfen, wie die transzendentale und die empirische Ebene in Kants praktischer Philosophie zueinander stehen. Kant buchstabiert die verschiedenen Gründe, die Zurechnungsurteile abschwächen oder vollständig untergraben können, zwar nicht im Detail aus, aber es lassen sich kantische Ansätze für solche Gründe wie Rechtfertigung, Entschuldigung bzw. Schuldminderung und Ausnahmen skizzieren. Diese Untersuchung beziehe ich auf Unterscheidungen, die in modernen Theorien von Verantwortung getroffen werden (z. B. John Austin, Peter Strawson, R. Jay Wallace), sodass deutlich wird, dass Kants Ansatz nicht nur verbreiteten Alltagsintuitionen gerecht wird, sondern auch mit aktuellen Analysen von Verantwortungszuschreibungen ins Gespräch gebracht werden kann.
1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten Dieses Kapitel soll eine Einführung in die Thematik der Zurechnung bei Kant geben. Dafür bietet es sich an, mit einer Vorstellung von Kants Definition des Zurechnungsbegriffs in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten zu beginnen. Anhand der Definition der Zurechnung werden zentrale Begriffe der Kantischen praktischen Philosophie vorgestellt, die mit dem Zurechnungsbegriff in engem Zusammenhang stehen und auf die im Laufe der Arbeit immer wieder zurückgegriffen wird, wie z. B. Gesetz, Schuld und Verdienst. Wo ein Begriff eine detaillierte Behandlung erfordert, wie im Fall des Freiheitsbegriffs, wird auf die entsprechenden folgenden Kapitel verwiesen. Der so entstehende Überblick ist gerade für die vorliegende Untersuchung des Zurechnungsbegriffs hilfreich und notwendig: Einerseits fußt ein Verständnis des Zurechnungsbegriffs auf diversen Begriffen der Kantischen praktischen Philosophie – wie Freiheit, Person, Handlung, Gesetz und Pflicht –, und andererseits können diese Begriffe ihrerseits durch die Fokussierung auf die Zurechnungsproblematik aus einer bestimmten Perspektive beleuchtet werden, die für ihr volles Verständnis relevant ist.
1. Stellung der Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten Kant stellt den Zurechnungsbegriff in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten vor. Die Metaphysik der Sitten umfasst zwei Teile: „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ und „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“. Kant selbst bezeichnet den Kontext der Tugendlehre auch als Ethik (z. B. 6:214, 219 – 220, 379), während der Oberbegriff für Recht und Ethik die Moral ist. Die „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ (6:211– 228) behandelt Themen, die gleichermaßen für Recht und Ethik relevant sind, auch wenn Kant sie offiziell der Rechtslehre zuordnet. Der Zurechnungsbegriff ist einer der „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ (6:221), die „der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Theilen gemein“ sind (6:222) und die Kant im vierten Abschnitt der Einleitung vorstellt. In diesem Abschnitt möchte Kant die begrifflichen Grundlagen seiner Ethik bzw. Rechtsphilosophie schaffen, wobei die Kürze der Erläuterungen darauf hinweist, dass ein gewisses Verständnis der Begriffe bereits vorausgesetzt wird oder eine genauere Erläuterung später noch erfolgt. Auch wenn es weithin üblich ist, von Kants Zurechnungsdefinition zu sprechen (z. B. Stockhammer 1958, 139; Joerden 1991; Hruschka 2004, 18), ist zu beachten, dass der Begriff der Definition dabei weniger
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
streng verwendet wird, als Kant ihn in der Kritik der reinen Vernunft (A727/B755A732/B760) darstellt. Wie Kant dort erläutert, bedeutet definieren, „den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen“, wobei sich Ausführlichkeit auf die „Klarheit und Zulänglichkeit der Merkmale“ bezieht, und die „Grenze“ eines Begriffs dann gegeben ist, wenn dessen Merkmale vollständig aufgezählt sind, wobei diese Grenzbestimmung „ursprünglich“, d. h. nicht abgeleitet und damit nicht eines grundlegenderen Beweises fähig sein muss (vgl. A727/B755, Anm.). Die Rolle von Definitionen sieht Kant weniger darin, der philosophischen Untersuchung vorausgeschickt zu werden – dies könne höchstens zum „Versuche“ oder als nützliche „Annäherung[…]“ geschehen (A731/B758). Vielmehr schlägt Kant vor, in der Philosophie auf Definitionen hinzuarbeiten, sodass „die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen“ könne (A731/B759). Da es aber „gar schlecht mit allem Philosophieren stehen“ würde, wenn „man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können [würde], als bis man ihn definiert hätte“ (A731/B759 Anm.), schickt Kant Begriffserklärungen voraus, die ein ausreichendes Verständnis des Begriffs ermöglichen, um damit weiter arbeiten zu können. Kant liefert in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten also keine Definitionen im strengen Sinne, sondern Erklärungen, die gut genug sind, um eine Grundlage für die Metaphysik der Sitten zu bilden. Da die Metaphysik der Sitten ein „System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen“ ist (6:216), können die vorgestellten Begriffe, so auch der Zurechnungsbegriff, als apriorische Begriffe dieses Systems verstanden werden.
2. Das Zurechnungsurteil „in moralischer Bedeutung“ Der Begriff der Zurechnung ist der letzte der Grundbegriffe, die in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten vorgestellt werden, sodass Kant auf viele Begriffe zurückgreifen kann, die er zuvor erläutert hat. Bereits der Anfang der Zurechnungsdefinition setzt die zuvor behandelten Begriffe der Tat, des Gesetzes und der Freiheit (bzw. der freien Ursache, „causa libera“) voraus: Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann T h a t (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird (6:227).
Diese Definition enthält die zentralen Begriffe, die ich in der folgenden Reihenfolge behandeln werde: Was heißt es, dass jemand Urheber und damit nach Kant „freie Ursache“ (causa libera) einer Handlung ist (Abschnitt 3)? Was ist der Un-
2. Das Zurechnungsurteil „in moralischer Bedeutung“
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terschied zwischen Handlung und Tat (Abschnitt 4)? Welche Rolle spielen Gesetze für Zurechnung (Abschnitt 5)? Treten wir zunächst einen Schritt zurück und fragen uns, was eigentlich der Gegenstand eines wie hier beschriebenen Zurechnungsurteils ist. Das Zurechnungsurteil ist ein Urteil über die Beziehung zwischen einer Handlung und ‚jemandem‘ – einem Handelnden, der nach Kant eine Person ist (6:223). Zurechnung beschreibt jemanden als „Urheber […] einer Handlung“. Dass jemand Urheber einer Handlung ist, drückt Kant so aus, dass er den Urheber als causa libera, als „freie Ursache“, bezeichnet. Die Handlung wird damit von rein zufälligem bzw. bloß natürlichem Geschehen abgegrenzt und als „eigene“, freie Handlung einer Person ausgezeichnet. Person und Handlung werden mithin im Zurechnungsurteil in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt: Die Handlung ist der Person zurechenbar, wenn die Person als Urheber der Handlung betrachtet werden kann.¹⁵ Das Zurechnungsurteil identifiziert nicht nur den Urheber und dessen Handlung, sondern impliziert darüber hinaus, dass die Handlung „unter Gesetzen steht“, das heißt, dass die Handlung und auch die Person, der die Handlung zurechenbar ist, nach dem Maßstab von Gesetzen bewertet werden können. Um welche Gesetze handelt es sich dabei? Hier kommt zum Tragen, dass es sich um Zurechnung „in moralischer Bedeutung“ handelt. Der mangelnde Kontrastbegriff eines nicht-moralischen Zurechnungsurteils lässt zunächst die Frage offen, wodurch sich ein moralisches von einem nicht-moralischen Zurechnungsurteil unterscheidet. An vielen Stellen verwendet Kant „moralisch“ im Gegensatz zu „naturgesetzlich“, so z. B. wenn er moralische Gesetze – ethische und rechtliche Gesetze – von Naturgesetzen unterscheidet (vgl. 6:214).¹⁶ Moralische Zurechnung betrachtet demnach eine Person als Urheber einer Handlung, die unter moralischen Gesetzen steht (vgl. Abschnitt 5). Zurechnung in moralischer Bedeutung ließe sich also von Zurechnung in naturkausaler Bedeutung unterscheiden: Einer Lawine ist der Tod von Menschen naturkausal zurechenbar, aber nicht in moralischem Sinn. Nach Kants Definition lässt sich der Unterschied zwischen moralischer und naturkausaler Zurechnung darauf zurückführen, dass sich die Ursache des Ereignisses unterscheidet: Moralische Zurechnung stellt einen Zusammen-
In der Definition der Zurechnung verwendet Kant zwar nicht die sprachliche Form „x ist y zurechenbar“ bzw. „x kann y zugerechnet werden“, aber an anderen Stellen wird klar, dass Kant diese Form meint, z. B. wenn er sagt: „Der Handelnde wird […] als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden“ (6:223). Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass Kant meint, moralische und naturkausale Gesetze schlössen sich aus. In der Auflösung der dritten Antinomie stellt Kant seine Lösung vor, wie Handlungen gleichzeitig durch moralische und natürliche Gesetze bestimmt sein können (vgl. Kapitel 3).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
hang zwischen einer freien Ursache („causa libera“) und einer Handlung her. Kann man die Ursache nicht als frei bezeichnen, lässt sich die Handlung entsprechend auch nicht nach moralischen Gesetzen bewerten, sondern nur nach kausalen Gesetzmäßigkeiten untersuchen. Kant markiert den Unterschied zwischen bloß naturkausaler Urheberschaft und Zurechnung in moralischer Bedeutung auch dadurch, dass er in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie terminologisch zwischen Zuschreibung und Zurechnung von Handlungen unterscheidet. In der Nachschrift Kähler¹⁷ illustriert Kant den Unterschied zwischen bloß naturkausaler Zuschreibung und moralischer Zurechnung am Beispiel eines Betrunkenen: „Wir können einem etwas zuschreiben aber nicht zurechnen zE. einem Rasenden oder Besoffenen, seine Handlungen können ihm zugeschrieben aber nicht zugerechnet werden“ (Kähler 87, §125 ff.).¹⁸ Geisteskranke oder Betrunkene sind offenbar nicht in demselben Sinn Urheber ihrer Handlungen wie gesunde Erwachsene bei klarem Bewusstsein.
3. Urheberschaft (causa libera) Der Kern des Zurechnungsurteils ist, dass es auf einen besonderen Zusammenhang zwischen einer Person und einer Handlung verweist. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auf Seiten der Person darin wider, dass diese als „Urheber“ bezeichnet wird, und auf Seiten der Handlung darin, dass diese „Tat“ genannt wird. Kant bindet Urheberschaft, wie im erläuternden Klammerausdruck „causa libera“ klar wird, an eine bestimmte Art der Ursächlichkeit: Eine Person ist insofern Urheber einer Handlung, als sie deren freie Ursache ist. Um Kants Begriff der Urheberschaft einzuführen, ist es deshalb zuvor nötig, den Begriff der Kausalität zu skizzieren und darzulegen, was Kant mit Freiheit bzw. freier Ursächlichkeit meint (vgl. genauer Kapitel 2). Lässt man zunächst den Begriff der Freiheit außen vor, kann man eine Person dann als Ursache bezeichnen, wenn sie eine Wirkung hervorbringt, und das heißt nach Kant: insofern die Person handelt. Die Handlung eines Subjekts ist die
Ich beziehe mich auf die Mitschrift der Vorlesung zur Moralphilosophie durch Johann Friedrich Kähler, die Kant in Königsberg in den 1770er Jahren nach den Handbüchern von Alexander Gottlieb Baumgarten gehalten hat. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die von Werner Stark 2004 neu edierte Ausgabe (im Folgenden kurz: Kähler). Auch in seinen Reflexionen zur Vorlesung unterscheidet Kant zwischen „zuschreiben“ und „zurechnen“: „Man kann dem Menschen den Tod eines andern Zuschreiben, ohne ihn ihm zuzurechnen. Wenn es ein Ochs und kein Mensch wäre, so würde keine Zurechnung statt finden“ (Reflexion 7298, 19:305 f., vgl. auch Reflexion 7296, 19:305).
3. Urheberschaft (causa libera)
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„Causalität dieser Ursache“ (A542/B570), also das Bewirken selbst. Diese Konzeption macht zunächst deutlich, dass man von einer Handlung im Kantischen Sinn nicht ohne Weiteres sagen kann, dass moralische Zurechnung der Handlung kausale Zurechnung notwendig voraussetzt.¹⁹ Denn es ist nicht die Handlung, die verursacht ist; vielmehr ist die Wirkung durch die Handlung der Person verursacht. Indem eine Person eine Handlung ausführt, wird sie Ursache einer Wirkung; sie verwirklicht Zwecke. Der Kern der These, dass moralische Zurechnung kausale voraussetzt, lässt sich auch auf Kants Theorie übertragen: Einer Person ist nur dann eine Handlung bzw. eine Wirkung zurechenbar, wenn sie die handelnde Ursache ist bzw. die Wirkung durch ihre Handlung hervorgebracht hat. Weiterhin legt die Konzeption der Person als handelnde Ursache nahe, ein substanzkausalistisches Modell als Grundlage zu vermuten. Diesem Modell zufolge besitzen Substanzen Kräfte, die sie dazu befähigen, Ursache zu sein und durch ihr Handeln Veränderungen hervorzubringen. Dass eine Substanz kausal wirksam ist, heißt, dass sie ihre Kräfte in Übereinstimmung mit ihrer Natur und den Umständen aktiv ausübt (vgl. Watkins 2005, 13). Dieses Modell ist gut dazu geeignet, Handlungsbeschreibungen zugrunde gelegt zu werden („Brutus tötete Cäsar“), während ein ereigniskausalistisches Modell, das Kausalität als Regularität zwischen Ereignissen auffasst, die Rolle der handelnden Person nicht deutlich macht („Dolchstiche verursachten Cäsars Tod“).²⁰ Das Vermögen, das Menschen befähigt, Ursache von Wirkungen bzw. Gegenständen zu sein, ist der Wille bzw. die Willkür (vgl. auch Kapitel 2). Kant beschreibt den Willen bzw. die Willkür als besondere Formen des „Begehrungsvermögens“, d. h. der Fähigkeit, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (6:211). Menschen können Ursache von
Dass moralische Zurechnung kausale voraussetzt ist eine weit verbreitete Ansicht. So z. B. Birnbacher: „Normative Verantwortung setzt kausale Verantwortung voraus, läßt sich mit ihr aber nicht zur Deckung bringen“ (Birnbacher 1995, 90). Ob Kant Kausalität lediglich substanzkausalistisch versteht (vgl. dazu die umfassende Studie von Watkins 2005) oder ob es bei Kant eine Spannung zwischen einem Substanz- und einem Ereignis-(bzw. Regularitäts‐)Modell gibt (vgl. Willaschek 1992, 35 – 47; Keil 2012, 248), ist in der Literatur umstritten und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden. Für beide Modelle gibt es textuelle Belege. Für das Substanzmodell spricht z. B.: „Diese Causalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz“ (A204/B249) und „Kraft dessen beweiset nun die Handlung, als ein hinreichendes empirisches Kriterium, die Substantialität“ (A205/B250). Andere Passagen lassen sich besser ereigniskausalistisch lesen, z. B. „die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt“ (5:97), „Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen“ (A536/B564).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Gegenständen sein, und zwar aufgrund ihrer Vorstellungen. Das Begehrungsvermögen des Menschen beschreibt Kant genauer als ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (6:213), was bedeutet, dass Menschen nach besonderen Vorstellungen handeln können, nämlich nach Zweckbegriffen. Beispielsweise kann ich mir ein Brot bzw. die Herstellung eines Brotes zum Zweck machen und aufgrund dieser Vorstellung beginnen, entsprechende Handlungen wie Einkaufen und Backen zu vollziehen, um das Brot zu verwirklichen. Auf diese Weise werde ich handelnd zur Ursache des Brotes. Im Gegensatz zu Tieren, die nach Kant ebenfalls ein Begehrungsvermögen besitzen, haben Menschen eine freie Willkür. Wenn Kant von einem Urheber als „freier Ursache“ der zurechenbaren Handlung spricht, verweist er auf die besondere Kausalität des menschlichen Willens: Insofern der Wille freie Ursache ist, ist auch seine Kausalität eine Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit besteht im Kern darin, dass durch sie „etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach nothwendigen Gesetzen bestimmt sei“ (A447/B475). Kausalität aus Freiheit ist demnach Erstursächlichkeit. Damit ist das wesentliche Merkmal transzendentaler Freiheit benannt, die Kant als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht“ (A533/B561) charakterisiert und feststellt, dass eine so verstandene Freiheit der „eigentliche Grund“ (A448/B476) der Zurechnung ist (vgl. Kapitel 2). Bevor Kants Freiheitsbegriff im zweiten und dritten Kapitel einer genaueren Diskussion unterzogen wird, will ich hier nachvollziehen, was sich für den Zusammenhang von Freiheit und Urheberschaft in Bezug auf Zurechnung ergibt. Erstens wird ersichtlich, dass der Freiheitsbegriff mit der Idee der Urheberschaft vereinbar sein bzw. diesen sogar ermöglichen soll. Zweitens muss die Freiheit der Person erlauben, dass die Handlungen der Person unter (moralischen) Gesetzen stehen. Der erste Punkt macht deutlich, dass die Bezeichnung der Person als freie Ursache implizieren sollte, dass der Verweis auf die Person bzw. ihre Entscheidung ausreicht, um die Handlung zu erklären und nach weiteren Ursachen nicht mehr sinnvoll gefragt werden kann. Diese Überlegung zeigt, dass sich die Konzeption von Erstursächlichkeit anbietet, um Freiheit mit Urheberschaft zu verknüpfen und als Grundlage der Zurechnung zu verwenden. Der zweite Punkt weist darauf hin, dass die Person in der Weise frei sein muss, dass sie geeignete Adressatin der vernünftigen bzw. moralischen Gesetze ist, nach denen eine zurechenbare Handlung bewertet werden kann. Dieser Zusammenhang wird im 2. Kapitel genauer untersucht. Festzuhalten ist hier, dass ein Subjekt nach Kant nur dann frei ist, wenn es unter Normen steht, die es sich selbst gegeben hat bzw. als seine eigenen anerkennt. Doch die Freiheitsbedingung in der Definition der Zurechnung verweist noch auf einen weiteren Umstand, der erfüllt sein
4. Objekte der Zurechnung: Handlung und Tat
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muss, damit eine Handlung zurechenbar ist: Das Subjekt wird als „causa libera“ einer bestimmten Handlung angesehen. Das heißt, dass das Subjekt nicht nur im allgemeinen einen freien Willen besitzen, sondern dass es auch in Bezug auf die konkrete Handlung eine freie Ursache sein muss. Die Person muss in Bezug auf die Handlung, deren Zurechenbarkeit in Frage steht, die Fähigkeit besitzen, die Handlung in Übereinstimmung mit den relevanten Gesetzen auszuführen.
4. Objekte der Zurechnung: Handlung und Tat Das Zurechnungsurteil qualifiziert die handelnde Person als Urheber bzw. freie Ursache, die Handlung als „Tat“. Zunächst muss geklärt werden, was eine Handlung von einer Tat unterscheidet. Danach werde ich äußere und innere Handlungen betrachten (Abschnitt 4.1) und die Frage diskutieren, inwiefern man nach Kant nicht nur für die eigenen Handlungen, sondern auch für Unterlassungen verantwortlich sein kann (Abschnitt 4.2). Was eine Tat ist, erklärt Kant ebenfalls in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten: That heißt eine Handlung, sofern […] das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird (6:223).
Wie auch in der Zurechnungsdefinition sagt Kant hier: Eine freie Handlung ist eine Tat.²¹ Dies wirft die Frage auf, inwiefern sich eine Handlung, die nicht als frei zu klassifizieren ist, von einer Tat unterscheidet. Diese begriffliche Unterscheidung wird verständlich, wenn man den weiten Handlungsbegriff bedenkt, der im 18. Jahrhundert üblich ist.²² Bei Kant kann der Begriff der Handlung auf jegliche Ursache-Wirkungs-Verhältnisse angewendet werden, wie Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung sagt: „Handlung bedeutet schon das Verhältnis des Subjects der Causalität zur Wirkung“ (A205/B250). In einem ersten Zugriff lässt sich Handeln nach Kant als der kausale Prozess verstehen, durch den eine Wirkung hervorgebracht wird. Betrachtet man nun den Menschen als handelndes Wesen, Der Begriff der Tat ist bei Kant allerdings nicht auf freie Handlungen, die in der empirischen Welt stattfinden, beschränkt. In der Religionsschrift fasst er unter „That überhaupt“ erstens die Aufnahme der obersten Maxime und zweitens die Handlungen, die gemäß dieser Maxime ausgeübt werden (6:31). Die erste Tat bezeichnet Kant als „intelligibele That“ (ebd.), die nicht in der empirischen Welt unter Zeitbedingungen stattfindet und die überhaupt erst die Zurechnungsfähigkeit einer Person begründet (vgl. Kapitel 3), während die zweite „sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben“ ist (ebd.). Vgl. Willaschek 1992, 35 ff. und Gerhardt 1986.
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
so fällt unter den Begriff der Handlung sowohl freies als auch physisch notwendiges Handeln. Ein Zurechnungsurteil bestimmt die zugerechnete Handlung als freie Handlung und damit als Tat. Das heutige Verständnis des Handlungsbegriffs ist enger, insofern er in der Regel auf menschliches, absichtliches Handeln eingeschränkt wird.²³ Was Kant unter Handlung versteht, entspricht dem, was heutige Theorien als Geschehen oder – im Fall von Handlungen von Lebewesen – als Verhalten bezeichnen. Dem heutigen Begriff der Handlung entspricht im Wesentlichen der Kantische Begriff der Tat. Ich werde den Begriff der Handlung im heute üblichen, engeren Sinn und ihn mit dem Kantischen Begriff der Tat austauschbar verwenden und den Kantischen Begriff der Handlung als „Handlung im weiten Sinn“ bezeichnen. Zurechnung lässt sich so beschreiben als das Urteil, durch das man ein Geschehen überhaupt als Handlung begreift (vgl. Hruschka 1976, 13). Jede Handlung ist also einer Person zurechenbar. Sind die Begriffe der Handlung und des zurechenbaren Geschehens koextensional, das heißt, ist auch jedes zurechenbare Geschehen eine Handlung? Lässt sich nicht auch sagen: „Der Tod des Opfers ist dem Mörder zuzurechnen“? Damit würde man keine Handlung bezeichnen, sondern einen Zustand in der Welt, der eine kausale Folge einer Handlung ist. Tatsächlich sind nach Kant nicht nur Handlungen zurechenbar, sondern auch Zustände, die als Wirkungen bzw. Folgen von Handlungen auftreten (vgl. 6:228 und dazu ausführlich Kapitel 7).
4.1 Äußere und innere Handlungen Zwei unterschiedliche Klassen menschlicher Handlungen fallen unter Kants allgemeinen Handlungsbegriff: Solche, die durch andere beobachtbar sind, die „äußeren Handlungen“, und solche, die nicht beobachtbar sind, da sie „innere Handlungen“ der Person sind. Kant selbst bezieht sich zwar selten auf den Gegensatz von äußeren und inneren Handlungen, doch verwendet er das Gegensatzpaar von innen und außen im Rahmen der Unterscheidung von Recht und Ethik sowohl in Bezug auf Handlungen (z. B. 6:218) als auch in Bezug auf Freiheit und Gesetzgebung. Das Recht betrifft „nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere“ (6:230, H.v.m.), und rechtliche Gesetze regulieren die „Freiheit im
Ein prominenter Vertreter der Ansicht, dass Handlungen absichtliches Tun sind – Körperbewegungen, die mindestens eine Beschreibung zulassen, unter der sie absichtlich sind –, ist Davidson (Davidson 1998b [Orig. 1971], 77).
4. Objekte der Zurechnung: Handlung und Tat
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äußeren Gebrauche […] der Willkür“ (6:214, H.v.m.). An diesen Hinweisen lässt sich erkennen, dass äußere Handlungen solche sind, die andere Personen wahrnehmen und von denen sie prinzipiell betroffen sein können. Das bedeutet auch, dass äußere Handlungen Körperbewegungen der handelnden Person involvieren und insofern eine Veränderung der Außenwelt nach naturkausalen Gesetzen mit sich bringen. Innere Handlungen gehen nicht mit Körperbewegungen einher und sind nicht von außen beobachtbar.²⁴ Zu inneren Handlungen zählt im Kontext der theoretischen Vernunft das Denken als die „Handlung, gegebene Anschauungen auf einen Gegenstand zu beziehen“ (B304), die als Wirkung (theoretische) Urteile hat. Aber auch im praktischen Kontext gibt es innere Handlungen, und Kant selbst verwendet diesen Begriff, wenn er sagt: Die „ethische Gesetzgebung […] macht […] auch innere Handlungen zu Pflichten“ (6:219). Da ethische Gesetze das Setzen von moralischen Zwecken (das Kant als „innere[n] Act des Gemüths“ (6:239) bezeichnet) und die Ausbildung von bestimmten Maximen vorschreiben, zählen diese Prozesse nach Kant zu den inneren Handlungen. Innere Handlungen werden in der modernen handlungstheoretischen Debatte oft unberücksichtigt gelassen.²⁵ Auch Kant beschäftigt sich in seinen Beispielen zumeist mit äußeren Handlungen wie etwa der „boshafte[n] Lüge“ (A554/B582). Doch auf der Grundlage der Unterscheidung von innerer und äußerer Zurechnung²⁶ lässt sich auch von der Zurechnung innerer Handlungen sprechen: innere Handlungen können innerlich, d. h. vor dem Gewissen der Person, zugerechnet werden (vgl. 6:438). Diese Möglichkeit ist vor allem relevant, wenn einer unmoralischen Maxime keine äußerlich pflichtwidrige Handlung entspricht – man kann sich vorstellen, dass der Übeltäter „Glück“ hatte und seine schlechte Tat durch die Umstände vereitelt wurde. In dem Fall ist es trotzdem angemessen, von Schuld der Person zu sprechen (d. h. Gewissensbisse der Person wären angemessen), wenngleich nur sie selbst sich ihre unmoralische Maxime zur Schuld zurechnen kann.
Vgl. auch Ludwig, der die Klassifikation nach inneren und äußeren Handlungen auf die Formen der Sinnlichkeit bezieht (Ludwig 1988, 86). Das bemerkt auch Willaschek, dessen Aufsatz über „Inneres Handeln“ eine Ausnahme darstellt (vgl. Willaschek 1992a, 133). Davidsons Handlungstheorie scheint auch für innere Handlungen gelten zu können. Davidson verschleiert diese Möglichkeit etwas dadurch, dass er Handlungen immer als eine bestimmte Art von „Körperbewegung“ charakterisiert. Dabei möchte er allerdings „Körperbewegung“ in einem so weiten Sinn verwenden, „daß auch solche „Bewegungen“ wie unbewegliches Dastehen und geistige Akte wie Entscheiden und Rechnen darunter fallen“ (Davidson 1998b [Orig. 1971], 81 f.). Vgl. Reflexion 7302: „Das ist die äußere Zurechnung, aber innerlich rechne ich mir auch den Bewegungsgrund der actionis iustae zu, allenfals in demeritum“ (19:306).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
In dem Fall des „glücklichen“ Übeltäters geht es um die Zurechnung einer inneren ohne eine entsprechende äußere Handlung. Doch oft sind innere und äußere Handlungen eng verknüpft. Das eben genannte Beispiel mag sogar eine seltene Ausnahme sein, insofern Kant eine Maxime als „Grundsatz, nach welchem das Subject handelt“ (6:420 f. Anm. 2) bezeichnet und es deshalb nach Kant sinnlos ist, von einer Maxime zu behaupten, man „hätte“ sie, wenn man nie danach handelt. Der Besitz einer Maxime impliziert deshalb normalerweise auch entsprechende äußere Handlungen. Man kann höchstens durch die äußeren Umstände gehindert werden, Handlungen erfolgreich zu vollenden, oder – wie der glückliche Übeltäter – sie überhaupt erst zu beginnen. Die enge Verbindung zwischen inneren und äußeren Handlungen gilt auch umgekehrt: Die Zurechung einer äußeren Handlung setzt die Zurechnung einer inneren Handlung voraus. Kant vertritt sogar die These, dass jeder freien äußeren Handlung (mindestens) eine Maxime, ein subjektives Handlungsprinzip, zugrunde liegt (6:214). Die Zurechnung äußerer Handlungen impliziert also die Zurechnung einer Maxime. Es mag allerdings gekünstelt erscheinen, dies auch stets als die Zurechnung einer inneren Handlung zu bezeichnen. Zwar ist die Maxime irgendwann einmal gewählt worden, aber diese Wahl wird nicht bei jeder Handlung aktiv wiederholt und deshalb geht auch nicht jeder äußeren Handlung eine innere Handlung direkt voraus. Deshalb ist es vorzuziehen, eine der äußeren Handlung zugrundeliegende Maxime zwar zu unterstellen, aber nicht im Sinne einer inneren Handlung zuzurechnen. Der plausible Einwand, dass nicht jeder äußeren, zurechenbaren Handlung eine Maximenwahl oder bewusste Entscheidung vorangeht, lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass jede äußere, zurechenbare Handlung auf eine innere Handlung (Maximenwahl) zurückgeht, die die handelnde Person früher ausgeführt hat.
4.2 Zurechenbarkeit von Unterlassungen Die Frage nach der Zurechenbarkeit und Kausalität von Unterlassungen ist heute Gegenstand kontroverser Debatten (vgl. Birnbacher 1995), während sich Kant dazu nicht ausdrücklich äußert. Ich möchte mich im Folgenden auf die Frage konzentrieren, wie zurechenbare Unterlassungen von den unendlich vielen Handlungen, die eine Person in jedem Moment unterlässt, abgegrenzt werden können. Kant macht keinen prinzipiellen Unterschied in der moralischen Bewertung von Tun und Unterlassen – Unterlassungen sind nicht allein deshalb moralisch anders zu bewerten, weil sie nicht in aktivem Tun bestehen. Das erkennt man nicht zuletzt daran, dass nach Kant Imperative sowohl für Tun als auch für Unterlassen gelten: „[Alle Imperative] sagen, daß etwas zu thun oder zu unterlassen gut sein
4. Objekte der Zurechnung: Handlung und Tat
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würde“ (6:413).²⁷ Bei den Tugendpflichten unterscheidet Kant zwischen den „Unterlassungspflichten“, die „einschränkend (negative Pflichten)“ sind, und den „Begehungspflichten“, die „erweiternd (positive Pflichten)“ sind (6:419). Zu den Unterlassungspflichten zählen alle Pflichten des ersten Buches der Elementarlehre der Tugendlehre, z.B das Selbstmordverbot, oder die Unterlassungspflichten bezüglich Lüge, Geiz und falscher Demut. Die Unterlassungspflichten formulieren offenkundig moralisch relevante und zurechenbare Unterlassungen: Unterlassungen von verbotenen Handlungen sind geboten. Umgekehrt sind Unterlassungen von moralisch gebotenen Handlungen verboten und entsprechend auch moralisch zurechenbar, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Angenommen, ein Kind liegt verletzt auf der Straße und eine Person kommt am Unfallort vorbei. Sie ist die Einzige, die dem Kind helfen könnte, und es würde sie keinen unzumutbaren Aufwand kosten, die Hilfeleistung zu erbringen. Wenn diese Person gar nicht daran denkt oder sich sogar – aufgrund von eigennützigen Motiven – dagegen entscheidet, dem Kind zu helfen, dann möchte man ihr diese Unterlassung auch moralisch zurechnen können.²⁸ In welchem Sinne Kant sagen kann, dass die Person in diesem Beispiel zur konkreten Hilfeleistung verpflichtet ist, ist allerdings fraglich. Das liegt an Kants Konzeption der Hilfspflicht als einer „weiten“ Pflicht oder auch „Liebespflicht“ (6:464), die keine bestimmten Handlungen fordert, sondern nur Maximen vorschreibt.Wenn eine Hilfeleistung unterlassen wird, kann man nach Kant also nicht sagen, dass die Person zu genau dieser unterlassenen Handlung verpflichtet war. Eine solche Unterlassung bezeichnet Kant folglich nur als „Unwerth“ (6:390) oder
Dass Kant hinsichtlich der moralischen Handlungsqualität keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen macht, sieht man an Formulierungen, in denen Tun und Unterlassen in einem Atemzug genannt werden. So erläutert Kant in der Religionsschrift den Begriff der sensiblen „Tat“ als das wirkliche „Thun und Lassen“ (6:93) oder spricht von dem Wunsch, „Gott in allem unserem Thun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (6:194 f.). Auch der Hinweis, dass in moralischer Hinsicht „ein jeder sein Thun und Lassen selbst verantworten muß“ (7:200) oder dass es allein durch Freiheit möglich sei, „von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen Gebrauch zu machen“ (4:455 f.), spricht dafür, dass Tun und Unterlassen moralisch prinzipiell gleich relevant sind. Das schließt natürlich nicht aus, dass im Einzelfall und abhängig vom Kontext aktives Tun anders bewertet wird als passives Untätigbleiben: Einen Menschen vorsätzlich zu töten, scheint moralisch viel verwerflicher, als seinen Tod nicht zu verhindern und ihn durch Unterlassung sterben zu lassen. Auch Birnbacher betrachtet die Bedingung „des Erwartetseins oder Gesolltseins der unterlassenen Handlung“ (Birnbacher 1995, 48) als wichtiges Kriterium für viele Verwendungen des Unterlassensbegriffs. Allerdings betont er zu Recht, dass diese Bedingung kein notwendiges Merkmal des Unterlassensbegriffs in seiner „Grundform“ ist, die durch „die Nicht-Ausführung einer Handlung“ bei gleichzeitiger „Möglichkeit, sie auszuführen“ (Birnbacher 1995, 32) definiert wird.
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„Untugend“ (6:464). An dieser Stelle steht nicht die Frage im Vordergrund, ob Kants Konzeption der Hilfspflicht als weiter Pflicht plausibel ist,²⁹ sondern die Frage, ob eine Unterlassung einer Hilfshandlung als weiter Pflicht zurechenbar ist. Die folgende Passage einer Mitschrift der Vorlesung zur Moralphilosophie (Nachschrift Collins) unterstützt die Lesart, dass die Unterlassung einer Handlung, zu der die Person nicht verpflichtet war, auch nicht zurechenbar ist: [D]ie Folgen aber, die aus der Unterlaßung einer ethischen Handlung entspringen, können nicht imputirt werden, weil es nicht als eine Handlung angesehn werden kann, da ich das unterlaße, was ich nicht schuldig war zu thun. Es sind also ethische Unterlaßungen keine Handlungen; juridische Unterlaßungen aber sind Handlungen und können imputirt werden, denn es sind Unterlaßungen deßen, wozu ich durchs Gesetz neceßitirt werden kann (27:290).
Diese Passage macht deutlich, dass Kant erstens tatsächlich der Auffassung ist, nur Unterlassungen von Handlungen, zu denen man verpflichtet ist, seien zurechenbar, dass er zweitens solche Unterlassungen als Handlungen bezeichnet und dass er drittens keine Pflicht in Bezug auf ethische Handlungen, sondern nur in Bezug auf juridische Handlungen annimmt, sodass die Unterlassung von ethischen Handlungen nicht zugerechnet werden kann. Der erste Punkt entspricht den obigen Überlegungen in Bezug auf das Beispiel der unterlassenen Hilfeleistung: Wenn eine Person zu einer Handlung verpflichtet ist, kann ihr die Unterlassung zugerechnet werden.³⁰ Der zweite Punkt weist auf eine Kantische Eigenart in der Terminologie hin: Unterlassungen, die zurechenbar sind, bezeichnet Kant als „Handlungen“, sodass er sagen kann, dass nur Hand-
Anders als Kant meint, scheint es durchaus Fälle von geforderter Hilfeleistung zu geben, bei denen eine Person die enge Pflicht hat, sie auszuführen und für die Unterlassung Schuld trägt, z. B. wenn die Person die einzige weit und breit ist, die in der Lage ist – mit zumutbarem Aufwand ihrerseits – einem ertrinkenden Kind zu helfen. Vgl. zu diesem Punkt Mieth (2012), die in ihrem Buch „Positive Pflichten“ insbesondere in Kapitel 2.2– 2.4 argumentiert, dass die Kantische Bestimmung aller Hilfspflichten als weiter Wohltätigkeitspflichten ungenau und unangemessen ist. Ihrer Auffassung nach lassen sich auch in einem Kantischen Modell starke individuelle Hilfspflichten von Pflichten zur allgemeinen Beförderung fremder Glückseligkeit differenzieren. So auch Gilabert (2010). Allerdings ist die Antwort auf die Frage, ob unterlassene Hilfeleistung moralisch oder rechtlich zur Schuld zurechenbar ist, auch unabhängig von der Kantischen Moralphilosophie umstritten. In Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern wird unterlassene Hilfeleistung als Straftat bewertet, während etwa das englische Common Law und die Rechtsprechung der meisten Bundesstaaten der USA sowie Australiens den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nicht kennen. Es fragt sich, wie Kant die Zurechenbarkeit bloß erlaubter Unterlassungen einschätzt. Für solche Unterlassungen stellt sich tatsächlich die Frage, warum Interesse an einer Zurechnung bestehen sollte. Wenn weder die Handlung noch ihre Unterlassung normativ relevant ist, scheint Untätigkeit keine praktische Bedeutung zu haben (vgl. auch Reath 2006, 255).
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lungen zurechenbar sind und Unterlassungen nicht eigens erwähnen muss. Der dritte Punkt schließlich macht deutlich, dass man genau hinschauen muss, ob nach Kant überhaupt eine Pflicht zu der Handlung besteht.Weite ethische Gesetze schreiben in Kants Theorie keine konkreten Handlungen vor, sodass daraus zu folgen scheint, dass in der Ethik Unterlassungen nicht zurechenbar sind. Allerdings benennt Kant in der Tugendlehre sehr wohl ethische Unterlassungen, die zurechenbar sind, und zwar die „Unterlassung der Pflicht, die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen überhaupt hervorgeht“, die „Laster“ ist, da durch sie „dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruchs“ geschieht (6:464). Daran wird deutlich, dass es – anders als es Kant in der Vorlesung nahelegt – nicht ethische Pflichten als solche sind, deren Unterlassung nicht zurechenbar sind, sondern weite Tugendpflichten.
5. Die zurechenbare Handlung als eine Tat, die „unter Gesetzen steht“ Bislang wurde das Zurechnungsurteil als eines betrachtet, das die Person als willentlichen, freien Urheber einer Handlung ausweist. Dies sagt einerseits etwas über die Person aus – nämlich, dass sie Träger eines freien Willens ist und sie die Handlung willentlich herbeigeführt hat –, und andererseits beschreibt es ein Geschehen als willentliche, freie Handlung, eben als Tat. Darüber hinaus charakterisiert Kant die Handlung als eine, die „unter Gesetzen steht“ (6:227). Dass eine Handlung unter Gesetzen steht, heißt, dass Gesetze eine normative Aussage bezüglich dieser Handlung beinhalten (d. h. sie verbieten, sie schreiben vor oder sie erlauben), und dass deshalb die Handlung den Gesetzen gemäß bewertet werden kann. Das Zurechnungsurteil ist also das Urteil, das eine Handlung als ein mögliches Objekt einer Bewertung durch Gesetze auszeichnet, doch ist es nicht mit der Bewertung der Handlung gleichzusetzen.³¹ Nichtsdestotrotz motiviert normalerweise nicht die theoretische Neugier die Frage, wer der freie Urheber welcher
Vgl. dazu auch (Hruschka 1986, 673) und Reath (Eine Tat ist „potentially significant for the purposes of evaluation by a set of social, moral, or legal norms“ (Reath 2006, 255)). Manche Autoren sehen die Zurechenbarkeit einer Handlung als hinreichende Bedingung für die Bewertung (und nicht nur die Bewertbarkeit) der Handlung, d. h. für die Anwendung (und nicht nur die Anwendbarkeit) der Gesetze (vgl. Byrd/Hruschka 2010, 298): „Imputing an action to another person means I not only see the action as freely undertaken, but also evaluate the action under moral laws“). In Abschnitt 7 dieses Kapitels wird jedoch deutlich, dass der Schritt der Bewertung der Handlung von der Zurechnung der Handlung zur Tat unterschieden werden kann.
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Handlung ist, vielmehr ist eine solche Frage in der Regel von dem Interesse geleitet, eine normative Bewertung der Handlung und des Akteurs vorzunehmen (vgl. Reath 2006, 253). Die Beziehung zwischen zurechenbarer Handlung und der Anwendbarkeit von Gesetzen lässt sich als Bikonditional verstehen: Eine Handlung steht genau dann unter Gesetzen, wenn sie zurechenbar ist. Die Zurechenbarkeit einer Handlung ist demnach zum einen eine notwendige Bedingung für die Anwendbarkeit von Gesetzen, oder anders gesagt: Nur freie Handlungen stehen unter Gesetzen.³² Zum anderen ist die Zurechenbarkeit auch eine hinreichende Bedingung für die Anwendbarkeit von Gesetzen: Wenn eine Handlung zugerechnet werden kann, steht sie unter Gesetzen. Der Zusatz, dass es sich um Zurechnung „in moralischer Bedeutung“ handelt, wurde als Hinweis darauf verstanden, dass es sich um eine Bewertung durch moralische Gesetze handelt. Die relevanten Gesetze können sowohl rechtliche als auch ethische Gesetze sein, die beide unter den Oberbegriff der moralischen Gesetze bzw. der „Gesetze der Freiheit“ (6:214) fallen. Moralische Zurechnung ist der Oberbegriff, der sowohl für die Zurechnung nach rechtlichen als auch für die Zurechnung nach ethischen Gesetzen gilt. Diese Darstellung macht deutlich, dass zwischen den Gesetzen und den Regeln, nach denen eine Handlung zugerechnet wird, unterschieden werden muss.³³ Zum einen lässt sich der Zurechnungsbegriff untersuchen, ohne den Inhalt der Gesetze genauer zu berücksichtigen. So können beispielsweise die Regeln der rechtlichen Zurechnung dieselben sein, ob man nun gerechte oder ungerechte rechtliche Gesetze voraussetzt. Zum anderen besitzen Gesetze einerseits und Regeln der Zurechnung andererseits eine unterschiedliche zeitliche Beziehung zur Handlung: Ein Gesetz ist ein prospektiver Maßstab dafür, was eine Person tun und lassen soll bzw. darf, und es ist retrospektiver Maßstab für die Instanz, die die Handlung nach diesem Gesetz bewertet – diese Instanz kann der Handelnde selbst oder eine andere Person sein. Im Gegensatz dazu sind Regeln der Zurechnung nur retrospektiv durch die zurechnende Person anwendbar: Es werden Handlungen zugerechnet, die in der Vergangenheit liegen. Es stellen sich allerdings zwei Fragen zum Zusammenhang von Zurechnung und Gesetzen. Zumindest versuchshalber lässt sich erstens in Zweifel ziehen, ob
Hruschka macht darauf aufmerksam, dass bereits Christian Wolff in seiner Philosophia Practica Universalis (1738) diesen Zusammenhang betont hat und interpretiert dies als „retrospektivische Version des prospektivischen „‚Sollen‚ impliziert ‚können‚“ (Hruschka 1991, 453). Vgl. Hruschka (Hruschka 1986, 680) und Hruschka 1991. Hruschka weist zu Recht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Gesetzen (bzw. in seiner Terminologie: „Verhaltensregeln“) und Zurechnungsregeln der Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zugrunde liegt (vgl. Hruschka 1991, 450 und auch Kapitel 9 dieser Arbeit).
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Zurechnung wirklich Gesetze notwendig voraussetzt. Kann man einer Person eine Handlung nicht auch als ihre eigene zurechnen, ohne dabei auf Gesetze Bezug zu nehmen bzw. ihre Gültigkeit voraussetzen zu müssen? Zweitens fragt es sich, ob tatsächlich alle zurechenbaren Handlungen nach Maßgabe von Gesetzen bewertbar sein müssen. Kann man nicht sagen: „Die Handlung, dass ich am Schreibtisch sitze, kann man mir zurechnen“? Diese Handlung scheint völlig neutral gegenüber Bewertungen und dennoch eine freie, zurechenbare Handlung zu sein. Kant selbst gibt in der Kritik der reinen Vernunft mit dem Aufstehen vom Stuhl (A450/B478) ein Beispiel für eine (anscheinend) moralneutrale und gleichwohl zurechenbare Handlung. Warum es nach Kant notwendig für Zurechnung ist, dass Gesetze für die Person in Bezug auf die betrachtete Handlung gelten, erklärt sich aus dem prospektiven, handlungsleitenden Charakter von Gesetzen und dem damit verknüpften Zusammenhang von Freiheit und Gesetzen: Freiheit bezeichnet nach Kant gerade die Fähigkeit, sich nach (selbstgegebenen) Gesetzen richten zu können. Damit eine Person freie Ursache einer konkreten Handlung sein kann, muss sie sich in Bezug auf diese Handlung nach Gesetzen richten können. Somit ist die Geltung von Gesetzen für die Person in Bezug auf die konkrete Handlung tatsächlich notwendig dafür, dass die Person als Urheber der Handlung gelten kann. Die zweite Frage erwägt, dass es zurechenbare Handlungen geben könnte, die moralisch nicht sinnvoll bewertet werden können, wie z. B. das Sitzen am Schreibtisch oder das Aufstehen vom Stuhl. Diese Frage betrifft den retrospektiven, bewertenden Charakter von Gesetzen und drückt einen Vorbehalt gegenüber der Annahme aus, dass diese Möglichkeit für Zurechnung notwendig ist. Es müssen zwei Möglichkeiten unterschieden werden, „moralneutrale“ Handlungen zu verstehen: Entweder als prinzipiell nicht moralisch bewertbare Handlungen oder als Handlungen, die nicht geboten oder verboten, sondern erlaubt sind. Meines Erachtens nimmt Kant nicht an, dass es zurechenbare Handlungen gibt, die moralisch prinzipiell nicht bewertbar sind (d. h. die nicht unter Gesetzen stehen), aber er gesteht durchaus die Möglichkeit von moralisch erlaubten, zurechenbaren Handlungen zu. In der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, kurz vor der Definition von „Tat“, schreibt Kant: Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht giebt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). Man kann fragen: ob es dergleichen gebe (6:223, H.v.m.).
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In dieser Passage versteht Kant unter einer moralneutralen bzw. „sittlich-gleichgültigen“ Handlung eine „bloß erlaubte“ Handlung, d. h. eine Handlung, die durch Gesetze weder verboten noch geboten wird. Insofern lässt sie sich durchaus als bewertbare Handlung bezeichnen: Sie ist ein Objekt, das der Prüfung durch moralische Gesetze ausgesetzt ist und insofern „unter Gesetzen steht“, wobei das Ergebnis der Prüfung ergibt, dass die Handlung weder ver- noch geboten ist. Die Wendung „Man kann fragen: ob es dergleichen gebe“ lässt vermuten, Kant würde an der Existenz bloß erlaubter Handlungen zweifeln. Dass Kant hingegen die Realität solcher Handlungen anerkennt, wird an folgender Stelle in der Tugendlehre deutlich:³⁴ Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln betreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde (6:409).
Kant vertritt also die Ansicht, dass es Handlungen gibt, die moralisch weder gut noch schlecht, sondern eben bloß erlaubt sind, wie z. B. Bier oder Wein zu trinken (ein in eindeutigerer Weise moralisch unproblematisches Beispiel wäre: Zitronenoder Orangenlimonade zu trinken). Die oben formulierte Frage – „Man kann fragen: ob es dergleichen gebe“ – beantwortet Kant somit positiv.³⁵
An einer Stelle in der Religionsschrift scheint Kant die Möglichkeit von Adiaphora auszuschließen: „Es liegt aber der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralische Mitteldinge weder in Handlungen (adiaphora) noch in menschlichen Charakteren, so lange es möglich ist, einzuräumen“ (6:22). An dieser Stelle versteht er „Adiaphora“ jedoch in einer anderen Bedeutung als in der gerade diskutierten. In der Religionsschrift geht es nicht um sittlich-gleichgültige Handlungen, sondern um solche, die „moralische Mitteldinge“ darstellen. Damit meint Kant – das wird aus dem Kontext der Stelle klar – dass es keine Handlungen gibt, die gleichzeitig gut und schlecht sind. Im Anschluss an die anfangs zitierte Passage zu sittlich-gleichgültigen Handlungen streift Kant die Frage, ob für bloß erlaubte Handlungen Erlaubnisgesetze notwendig sind. Er erwägt die Frage, „ob dazu, daß es jemanden freistehe, etwas nach seinem Belieben zu thun oder zu lassen, außer dem Gebotsgesetze […] und dem Verbotsgesetze […] noch ein Erlaubnisgesetz […] erforderlich sei. Wenn dieses ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden“ (6:223). Die Antwort auf die Frage, ob es Erlaubnisgesetze für sittlich-gleichgültige Handlungen gibt, lässt Kant an dieser Stelle offen. Hruschka argumentiert, meines Erachtens überzeugend, dafür, dass es Erlaubnisgesetze für einige (nicht alle) bloß erlaubte Handlungen gibt (vgl. Hruschka 2004a). Das sei daran erkennbar, dass Kant zunächst unter „sittlich-gleichgültig“ drei
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Die Zurechenbarkeit bloß erlaubter Handlungen lässt sich folgendermaßen mit der Bedingung vereinbaren, dass die Handlung „unter Gesetzen steht“:³⁶ Erstens kann man sagen, dass die Handlung insofern unter dem Moralgesetz steht, als sie durch das Gesetz geprüft werden kann. In diesem Sinne kann man auch das Sitzen am Schreibtisch als moralisch bewertbare Handlung verstehen: Man kann
Arten von Handlungen fasst („indifferens, adiaphoron, res merae facultatis“) und dann nur für eine Art, Adiaphora, die Notwendigkeit von Erlaubnisgesetzen verneint. Gerade das Beispiel der moralisch gleichgültigen Ernährung aus der Tugendlehre wäre also ein Fall, für den Kant keine gesonderten Erlaubnisgesetze annimmt. Hruschka argumentiert, dass Kant mit dem Erlaubnisgesetz in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten auf das „Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft“ (6:247) in der Rechtslehre vorgreift (und sich dieses von der Konzeption der Erlaubnisgesetze im Ewigen Frieden unterscheidet, die ein Erlaubnisgesetz als solches sieht, das eine Ausnahme von einem Verbotsgesetz rechtfertigt). Dieses Erlaubnisgesetz besagt, dass es möglich ist, „einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“ (6:246) – ermöglicht also Eigentum. Auf der Grundlage des Erlaubnisgesetzes ist es dann (bloß) erlaubt, Eigentum zu besitzen, was ohne das Erlaubnisgesetz nicht der Fall wäre (anders bei Adiaphora wie der Wahl der eigenen Ernährung). Vgl. zur Existenz von Erlaubnisgesetzen auch Brandt 1995. Kant verneint die Zurechenbarkeit von Adiaphora allerdings in einigen seiner Reflexionen zur Moralphilosophie: „adiaphora sind weder merita noch demerita, weder belohnungswerth noch bestrafungs-, weder unter geboten noch verbothen als unter legibus permissivis; sie sind gar nichtfacta, weil sie nicht unter moralischen Gesetzen stehen“ (Reflexion 7292, 19:304). Ähnlich auch Reflexion 7124: „1. Was ich gutes thue, ob ich gleich nicht schuldig bin es zu thun, das kann mir imputirt werden. 2. Was ich gutes nicht thue, ob ich zwar schuldig bin es zu thun, das kann mir imputirt werden. (positive modi) Die negative modi sind: 1, Was ich gutes nicht thue und auch nicht schuldig bin es zu thun, das kann mir nicht imputirt werden. 2. Was ich gutes thue und auch schuldig bin es zu thun, daß kann mir (nicht) imputirt werden“ (19:253 f.). Und direkt im Anschluss (Reflexion 7125): „Die imputation geht nur auf Verdienst und Schuld. Die Schuldigkeit, eine Handlung nicht zu thun oder das Gegentheil einer Handlung zu thun, ist bey mir einerley“ (19:254). Es ist nicht leicht, die Bedeutung dieser Passagen einzuschätzen, zumal Kant sich in seinen veröffentlichten Schriften nicht explizit zu der Frage der Zurechenbarkeit bloß erlaubter Handlungen äußert. Es muss zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass er sie nicht für zurechenbar hielt. Wie bereits erwähnt, leuchtet ein, dass im Fall der bloß erlaubten Handlung nicht auf der Hand liegt, warum die Zurechnung überhaupt von Interesse sein soll. Andererseits ist mir aus den im Haupttext dargelegten Gründen nicht einsichtig, warum man bloß erlaubte Handlungen nicht als eigene, freie und damit prinzipiell bewertbare Handlungen begreifen sollte.
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prüfen, ob sie (bzw. die ihr zugrunde liegende Maxime, die ohnehin den Kontext, z. B. den Zweck und das situative Umfeld der Handlung, stärker berücksichtigt als eine isoliert beschriebene Handlung) dem kategorischen Imperativ widerspricht und wird das Ergebnis erhalten, dass die Handlung erlaubt ist.³⁷ Zweitens können sich moralisch neutrale Handlungen als moralisch relevant herausstellen. Die moralische Bedeutung einer Handlung kann zum einen durch Betrachtung des Kontexts sichtbar werden: Das Aufstehen vom Stuhl ist isoliert betrachtet moralisch neutral, aber als Teil eines größeren Handlungszusammenhangs mag dies nicht mehr gelten.Vielleicht hat sie einer anderen Person das Versprechen gegeben, dort auf dem Stuhl auf sie zu warten, das sie nun bricht.³⁸ Zum anderen kann sich die Bewertung einer Handlung bzw. eines Handlungstyps, der einst moralisch neutral im Sinne von „erlaubt“ war, wie – in Kants Beispiel – das Essen von Fleisch oder Fisch, bei veränderter Situation und Informationslage von moralisch irrelevant zu moralisch relevant verändern. In Zeiten der Massentierhaltung und Überfischung der Meere lässt sich kaum mehr sagen, dass es moralisch irrelevant wäre, wie viel oder welche Arten von Fleisch oder Fisch man isst. Die zweite Lesart setzt die erste voraus: Nur Handlungen, die prinzipiell anhand des kategorischen Imperativs bewertbar sind, können durch Betrachtung des weiteren Kontexts oder auf der Grundlage umfassenderer Information ihre moralische Wertigkeit von „erlaubt“ zu „verboten“ oder „geboten“ wechseln. Für Zurechenbarkeit ist nur wichtig, dass die zurechenbare Handlung unter Gesetzen steht, d. h. dass sie moralisch bewertbar ist. Sie kann dabei durchaus insofern moralisch neutral sein, als die tatsächliche Bewertung der Handlung zu dem neutralen Ergebnis kommt, dass die Handlung bloß erlaubt ist. Damit ist die Handlung zurechenbar, wobei allerdings in den seltensten Fällen praktisches Interesse besteht, bloß erlaubte Handlungen zuzurechnen (vgl. Reath 2006, 255). Man kann zurechenbare Handlungen daher mit Kant als moralisch bewertbares Verhalten definieren (vgl. Willaschek 1992, 232). Eine solche Lesart schlägt Keil vor: „Selbst eine moralindifferente Handlung wie das Aufstehen von einem Stuhl lässt sich ja daraufhin überprüfen, ob sie mit dem Sittengesetz vereinbar ist. Man wäre in diesem Fall eben mit der Prüfung schnell fertig: Nihil obstat“ (Keil 2007, 141). Bojanowski macht darauf aufmerksam, dass Kant selbst das Beispiel dem ersten Anschein entgegen nicht moralneutral gemeint haben könnte. Kant könnte sich auf ein Beispiel seines Zeitgenossen Friedrich Wagner bezogen haben, der das Aufstehen vom Stuhl als Anfang einer wohltätigen Handlung beschreibt: „Vom Stuhle aufzustehen […] in unsere Tasche zu greifen, gewisses Geld heraus zu nehmen, aus unserm Zimmer zu gehen und das Geld einem Armen zu geben“ (zitiert nach Bojanowski 2006, 106, Anm. 33). Diese Anmerkung unterstützt die These, dass eine isoliert betrachtete Handlung moralneutral wirken kann und ihre moralische Relevanz erst durch Betrachtung des Kontexts ersichtlich wird.
6. Verdienst und Schuld
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6. Verdienst und Schuld Die Bewertung einer Handlung durch Gesetze kann laut Kant zu drei Ergebnissen führen: Verschuldung, Schuldigkeit oder Verdienst. Kant definiert folgendermaßen: Was jemand pflichtmäßig mehr thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzteren angemessen thut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger thut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum) (6:227).
Diese Dreiteilung ist nicht einfachhin auf die Unterscheidung „verboten, erlaubt, geboten“ beziehbar. Nur die Kategorie der Verschuldung entspricht der der verbotenen Handlungen. Doch gebotene Handlungen sind nicht immer verdienstlich, und erlaubte Handlungen umfassen zwei Fälle: Erstens kann die Handlung bloß erlaubt sein, und zwar wenn sie weder geboten noch verboten ist (6:223). Zweitens gilt eine Handlung als erlaubt, wenn sie nicht verboten ist (6:222). Zwar sind alle bloß erlaubten Handlungen auch erlaubt, aber unter die erlaubten Handlungen fallen auch gebotene bzw. geschuldete Handlungen. Wenn Kant in der Definition von Schuldigkeit spricht, hat er offenbar nur die gebotenen unter den erlaubten Handlungen (nicht die bloß erlaubten) im Sinn. So sagt Kant auch in den Vorlesungen zur Moralphilosophie: „wenn ich zE. meine Schuld bezahle, welches ein juridisches Gesetz ist, so war das meine Schuldigkeit, ich konnte durchs Gesetz dazu gezwungen werden, und wenn ich es thue, so habe ich nichts mehr gethan, als was ich zu thun schuldig war“ (Kähler, 91, H.v.m.). Doch auch eine bloß erlaubte Handlung kann man insofern als den Gesetzen angemessen bezeichnen, als sie ihnen nicht widerspricht. Daher scheint die Kategorie der Angemessenheit zum Gesetz, anders als Kants Definition es nahelegt, weiter zu sein und erlaubte als auch bloß erlaubte Handlungen zu umfassen, während sich Schuldigkeit nur auf erlaubte im Sinne von gebotenen Handlungen bezieht. Betrachten wir nun die Bewertungskategorien der Schuld und des Verdienstes. Es ist beachtenswert, dass Kant die negative und die positive Bewertungsmöglichkeit von Handlungen, schuldhaft oder verdienstlich zu sein, gleichberechtigt nennt, während in der aktuellen Debatte oft der Fokus nur auf dem negativen Ergebnis und damit der Zurechnung zur Schuld liegt.³⁹ Kant scheint hier
Diesen Punkt erwähnt auch Joerden 1991, 526. Zu den modernen Autoren, die sich ganz bewusst nur mit Schuldzuschreibungen befassen, gehört R. J. Wallace (Wallace 1994, 61). Diese Ausklammerung positiver Verantwortungszuschreibungen erscheint mir willkürlich, auch wenn es zutrifft, dass die Zurechnungspraxis im Recht auf negative Zurechnungen und die entsprechende Verhängung von Strafe beschränkt ist. Es ist meines Erachtens ein Vorteil von Kants
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
zu sagen, dass die Bewertung einer Handlung als gesetzeswidrig hinreichend für Schuld und die besondere Erfüllung eines Gesetzes hinreichend für Verdienst ist. Dies ist allerdings damit vereinbar (vgl. Kapitel 9), dass sich der Grad von Schuld und Verdienst nicht nur nach den Eigenschaften der Handlung bemisst, sondern auch nach den Eigenschaften des handelnden Subjekts. Andernfalls wäre es nicht verständlich, warum nach Kant „[s]ubjektiv […] der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen [ist], die dabei haben überwunden werden müssen“ (6:228). Gerade für eine rechtlich schuldhafte Tat ist Kants folgende Illustration seiner These relevant, dass „der Gemüthszustand, ob das Subject die That im Affect, oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat“ (ebd.). Damit spielt Kant auf die Tatsache an, dass im Vergleich zum Mord, der „mit ruhiger Überlegung“ ausgeführt wurde, der minder schwere Fall des Totschlags, bei dem der Täter zum Zorn gereizt und zur Tat hingerissen wurde, weniger zur Schuld zugerechnet und entsprechend weniger bestraft wird. Kants These der graduellen Zurechnungsfähigkeit⁴⁰ wird Gegenstand des neunten Kapitels sein. Nacheinander sollen nun die Bewertungskategorien der Schuld und des Verdienstes erläutert werden. Schuld hat eine Person, wenn sie durch ihre zurechenbare Handlung „weniger thut“, als das Gesetz erfordert. Schuld setzt sich aus drei Komponenten zusammen, wenngleich diese nicht direkt aus der oben genannten Definition ablesbar sind: Erstens muss eine gesetzeswidrige Handlung vorliegen: „Schuld setzt immer ein Unrecht zum voraus“ (27:155), zweitens muss die Handlung auf erster Stufe zurechenbar, also frei, sein (dies ergibt sich aus dem Kontext der Passage zu Schuld und Verdienst) und drittens ist der Grad der Schuld abhängig von der „Größe der Hindernisse“, die ein Handelnder für die gute Tat hätte überwinden müssen. Recht und Ethik unterscheiden sich hinsichtlich der Frage, welche zurechenbaren Handlungen gesetzwidrig sind. Rechtspflichten sind nach Kant vollkommene bzw. enge Pflichten (6:390, 6:240), die äußere Handlungen (6:231) vorschreiben oder
Darstellung, dass er zunächst Verdienst und Schuld gleichberechtigt nebeneinander nennt und dadurch auch Parallelen in der Struktur der Zurechnung von Schuld und Verdienst nicht von vorneherein ausschließt. Eine Bemerkung zur Terminologie: Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit fällt an dieser Stelle zum ersten Mal in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Entgegen der Vermutung, es könne sich hierbei um eine Eigenschaft von Personen im Gegensatz zur Zurechenbarkeit als Eigenschaft von Handlungen handeln, sagt Kant hier, dass Zurechnungsfähigkeit ebenfalls eine Eigenschaft von Handlungen bezeichnet. Ich werde im Folgenden jedoch zwischen Zurechnungsfähigkeit von Personen und Zurechenbarkeit von Handlungen unterscheiden.
6. Verdienst und Schuld
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verbieten, und entsprechend können äußere Handlungen, die ein rechtliches Gesetz verletzen, auch zur Schuld zugerechnet werden. Bei weiten, unvollkommenen Tugendpflichten ist es hingegen nicht ohne weiteres möglich, einzelne Handlungen, die die Pflicht verletzen, zur Schuld zuzurechnen. Weite Pflichten schreiben Maximen vor, und lassen deshalb einen Spielraum offen, mit welcher Handlung bzw. „wie und wie viel“ die Pflicht erfüllt werden kann (6:390, vgl. auch 6:410). Dieser Spielraum hat Auswirkungen auf die Zuschreibung von Schuld: Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. […] [I]hre Übertretung […] ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = -a, sondern blos moralischer Unwerth =0, außer wenn es dem Subject Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen (6:390).
Die Nicht-Erfüllung von weiten Tugendpflichten ist nach Kant „nicht sofort Verschuldung“, da die besondere Unterlassung oder Handlung, die der Pflicht nicht entspricht, in den Spielraum fallen kann, der dem Subjekt in Bezug auf die weite Pflicht gewährt wird. Es ist nicht leicht zu sehen, auf welche Weise Art und Umfang dieses Spielraums von Kant bestimmt werden. Eine paradigmatische weite Tugendpflicht ist nach Kant die „Pflicht der Wohlthätigkeit“ (6:452), den „Bedürftigen“ zu helfen und sich die Glückseligkeit Anderer „zum Zweck zu machen“ (6:452). „Wie weit“ man in dem Bemühen, anderen zu helfen, gehen soll, lässt Kant offen. Er meint jedoch nicht, dass eine Person je nach Neigung sich dazu entscheiden dürfte, eine weite Pflicht zu befolgen oder nicht,⁴¹ sondern knüpft die Übertretung von weiten Pflichten an Bedingungen: „Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere […] verstattet“ (6:390, H.v.m.). Es ist also einer Person erlaubt, Prioritäten bezüglich der Frage zu setzen, wem sie hilft – Kant nennt beispielhaft die Einschränkung der „allgemeine[n] Nächstenliebe durch die Elternliebe“ (6:390), d. h. eine weite Pflicht gegenüber einem Adressaten als Einschränkung derselben weiten Pflicht gegenüber einem anderen Adressaten. Eine weitere Bedingung, unter der die Befolgung weiter Pflichten steht, ist, dass sie nicht mit der Befolgung enger Pflichten kollidiert.⁴² Kants Ausführungen lassen eine engere und eine In der Grundlegung charakterisiert Kant eine vollkommene Pflicht als eine, die „keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“ (4:421, Anm.). Dies legt zwar nahe, dass unvollkommene Pflichten im Gegensatz dazu Ausnahmen „zum Vortheil der Neigung“ erlauben, aber dies folgt nicht notwendig und ist, wenn man die Bestimmung in der Metaphysik der Sitten bedenkt, auch wahrscheinlich nicht das, was Kant sagen will (vgl. Timmermann 2005, 16, anders Hill 1992a). Kant bestimmt die obere Grenze der Wohltätigkeit gegenüber durch die Überlegung, dass man nicht soweit gehen dürfe, „daß man zuletzt selbst Anderer Wohlthätigkeit bedürftig würde“
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weitere Interpretation des Spielraums zu: Die enge Auslegung steckt ihn durch die Forderungen anderer, stärkerer Pflichten ab, und beschränkt ihn darauf, die Handlung zu finden, die den Zweck am besten realisiert (vgl. Timmermann 2005, 19). In dieser engen Interpretation beschränkt sich der Spielraum auf die pragmatische Frage, welche Handlung das beste Mittel zur Erreichung des Zwecks ist. Kant schließt allerdings nicht explizit aus, dass der Spielraum auch normativer Art ist, d. h. dass es erlaubt ist, in einer gegebenen Situation andere erlaubte Handlungsalternativen zu ergreifen, als die von den weiten Pflichten vorgeschriebenen Zwecke zu verfolgen (vgl. Hill 1992a, 152). Wie immer Kant genau den Spielraum bestimmt, der bei weiten Pflichten besteht, gilt, dass eine einzelne Handlung, die den geforderten Zweck nicht realisiert, noch keine Verschuldung ist. Doch dies scheint im Widerspruch zu Kants allgemeiner Charakterisierung der Verschuldung zu stehen. Verschuldung hatte Kant charakterisiert als das, was jemand weniger tut als das, was das Gesetz verlangt. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich auflösen: Tugendpflichten schreiben die Annahme von bestimmten Maximen (nicht die Ausführung bestimmter Handlungen) vor. Wenn man in dieser Hinsicht weniger tut als das, was das Gesetz verlangt, d. h. gesetzeswidrige Maximen annimmt, dann macht man sich tatsächlich schuldig. Schuld in Bezug auf weite Pflichten liegt also vor, „wenn es dem Subject Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen“ (6:390). Entsprechend kann die innere Handlung, durch die sich ein Subjekt Maximen setzt, zur Schuld zurechenbar sein.⁴³ Die Zurechnung einer einzelnen Handlung zur Schuld ist in Bezug auf weite Pflichten nur denkbar, wenn ausgeschlossen ist, dass die Handlung in den erlaubten Spielraum bei der Ausführung der Pflicht fällt. Wenn eine Situation eindeutig vorgibt, was eine Person zu tun hat, um einer anderen zu helfen, und ihr dies zu tun möglich ist, dann könnte ihr nach Kant die unterlassene Hilfeleistung insofern zur Schuld zugerechnet werden, als sie (relativ) eindeutig auf eine zugrundeliegende pflichtwidrige Maxime schließen lässt.
(6:454). Vgl. zur Priorität enger gegenüber weiter Pflichten bei Kant (Timmermann 2005, 17), der dies damit begründet, dass nach Kants Charakterisierung in der Grundlegung die Verletzung weiter Pflichten (genauso wie die Verletzung enger Pflichten) einen Widerspruch im Wollen bedeutet, aber die Verletzung enger Pflichten darüber hinaus – und stärker – einen Widerspruch im Denken (vgl. 4:424). Ob das Subjekt nun tatsächlich pflichtwidrige Maximen hat, ist allerdings nicht leicht feststellbar. Der Person selbst sind nach Kant ihre eigenen Maximen nicht immer ganz transparent (vgl. 6:20), sodass sich nach Kant eine Pflicht zur Erforschung der eigenen Maximen ergibt (vgl. 6:441). Dritte Personen haben noch größere Schwierigkeiten herauszufinden, welche Maxime eine andere Person besitzt als die Person selbst. Da sich Maximen jedoch in Handlungen ausdrücken, können Dritte starke Indizien dafür haben, ob eine Person eine tugendhafte Maxime besitzt oder nicht.
6. Verdienst und Schuld
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Die bisherige Darstellung legt es nahe, dass nach Kant die Rechtspflichten eng und die ethischen Pflichten weit sind. So stellt Kant seine Einteilung der Pflichten auch selbst an mehreren Stellen dar (vgl. z. B. „Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit“ (6:390) und 6:240)). Doch diese Einteilung widerspricht Kants These, dass es auch in der Ethik enge, vollkommene Pflichten gegen sich selbst gibt, die bestimmte Handlungen verbieten, z. B. Selbstmord (6:422), Selbstbefriedigung (6:424), übermäßiges Essen und Trinken (6:427) oder lügen (6:429).⁴⁴ In Bezug auf diese engen ethischen Pflichten können also einzelne Handlungen zur ethischen Schuld zugerechnet werden, ohne auf die zugrundeliegenden Maximen Bezug zu nehmen. Diesen Unterschied zwischen der Übertretung weiter und enger ethischer Pflichten fasst Kant, indem er erstere „Untugend“ und letztere „Laster“ nennt (6:464). In der Ethik spielt zudem, anders als im Recht, die Frage nach dem Motiv der pflichtmäßigen Handlung eine Rolle. Das „allgemeine[ ] ethische[ ] Gebot[ ]“ lautet: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht“ (6:391). Kant führt die Forderung nach dem richtigen Motiv in der Metaphysik der Sitten als gesondertes Gebot auf, doch kann man sie auch als Forderung verstehen, die bereits im Begriff des kategorischen Imperativs enthalten ist. Denn da der kategorische Imperativ unbedingt unter allen Umständen gilt, darf seine Befolgung nicht Gegenstand einer zweckrationalen Abwägung sein, die nicht unter allen Bedingungen (sondern bedingt durch die subjektiven Zwecke der Person) zu dem Ergebnis führt, dass das moralisch Gute getan werden soll. Insofern eine Person also wirklich nach dem kategorischen Imperativ handeln will, unterstellt sie sich auch dem Anspruch, dies aus Pflicht zu tun.⁴⁵ Vgl. zur Inkonsistenz der kantischen Einteilung der Pflichten in der Metaphysik der Sitten auch Willaschek 1997, 207. Ludwig spricht nicht direkt von einer Inkonsistenz, sondern weist darauf hin, dass die Gleichsetzung von Tugendpflichten mit unvollkommenen Pflichten der Einteilung in der Einleitung zur Tugendlehre entspricht, während der Haupttext andere „Akzente“ (Ludwig 1990) setzt und zur Ethik auch vollkommene Pflichten gegen sich selbst zählt, die in der Einleitung vernachlässigt werden. Auf der Grundlage des Haupttexts könne man zwischen Ethik (die unvollkommene Pflichten und vollkommene Pflichten gegen sich selbst umfasst) und Tugendlehre im engeren Sinn (die nur die unvollkommenen Pflichten umfasst) unterscheiden (vgl. das hilfreiche Überblicksschema der Pflichteneinteilung in (Ludwig 1990, XXII)). In der Grundlegung (4:397) und der zweiten Kritik scheint Kant allerdings nicht auszuschließen, dass ethische Gesetze auch bloß pflichtmäßig erfüllt werden können: „Und darauf [ob die „Achtung fürs Gesetz […] die alleinige Bestimmungsart des Willens“ ist, CB] beruht der Unterschied zwischen dem Bewußtsein, pflichtmäßig und aus Pflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zu haben, davon das erstere (die Legalität) auch möglich ist, wenn Neigungen blos die Bestimmungsgründe des Willens gewesen wären, das zweite aber (die Moralität), der moralische Werth, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. blos
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Möchte man auf dieser Grundlage eine Handlung zur ethischen Schuld zurechnen, muss zweierlei beachtet werden: Erstens ist es nicht der Inhalt der Handlung, der das Problem darstellt (z. B. einer fremden Person nicht zu helfen), sondern das Motiv, das der Handlung zugrunde liegt. Streng genommen ist der Person die innere Handlung zur Schuld zuzurechnen, durch die sie das falsche Motiv wählt. Im Einklang damit steht, dass es Kant im Kontext des allgemeinen ethischen Gebotes um die Wahl einer Gesinnung geht, d. h. um die Wahl der „obersten Maxime“ einer Person (vgl. 6:25). In der Gesinnung drückt sich die grundlegende moralische Einstellung einer Person aus: Jede Person hat einerseits Triebfedern der Selbstliebe und möchte ihre Glückseligkeit verwirklichen, und wird andererseits durch das Gefühl der Achtung dazu angehalten, den Forderungen des Moralgesetzes zu entsprechen. In der Gesinnung zeigt sich Kant zufolge,welche der beiden Triebfedern, die der Selbstliebe oder der Moral, die Person „zur Bedingung der andern macht“ (6:36).Wenn die Person ihre Glückseligkeit nur unter der Bedingung verfolgen möchte, dass dies dem Moralgesetz nicht widerspricht, heißt das, dass sie unter allen Umständen moralisch gut handeln möchte. Aus Pflicht zu handeln, heißt nach Kant, eine gute Gesinnung gewählt zu haben, denn nur so ist garantiert, dass die moralisch gute Handlung nicht bloß zufällig gut ist (d. h. so lange die entsprechenden Neigungen bestehen) (vgl. 6:31), sondern unter allen Umständen (und insofern notwendig) ausgeführt wird.⁴⁶ Es ist demnach wie im Fall der weiten Tugendpflichten die Wahl einer Maxime, der Gesinnung, die in diesem Fall ein Gebot verletzt und zur Schuld zurechenbar wäre. Zweitens bezeichnet Kant die Wahl der Gesinnung, die dem ethischen Gebot entspricht, als „verdienstlich“, „weil sie über das Pflichtgesetz der Handlungen hinaus geht“ (6:391). Die Übertretung eines Gebots, dessen Befolgung selbst verdienstlich ist, kann jedoch nicht zur Schuld zugerechnet werden. Die Frage, ob die Wahl der richtigen Gesinnung eine weite Pflicht (deren Befolgung verdienstlich ist, wie gleich erläutert wird) oder eine enge Pflicht ist, nimmt Kant ausführlicher
um des Gesetzes willen, geschehe“ (5:81). Hier sagt Kant, dass eine ethisch gebotene Handlung sehr wohl bloß pflichtmäßig ausgeführt werden kann, dass sie dann jedoch keinen moralischen Wert besitzt. Im Gegensatz dazu meint Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, dass ethische Gesetzgebung „die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit einschließt“ (6:219) (vgl. zu diesem Widerspruch auch Willaschek 1997, 209 f.). Wenn Kant einzelne Beispiele von Handlungen aus Pflicht in der Grundlegung beschreibt, klingt es so, als könne man auch bloß in sehr isolierten Fällen (z. B. einmal im Leben) aus Pflicht handeln. Allerdings täuscht dieser Eindruck, wie Kant in der Religionsschrift (6:36), aber auch schon in der Grundlegung, deutlich macht. Damit man von einer Person sagen kann, sie handele aus Pflicht, darf ihr Wille durch nichts bestimmt werden, „als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten“ (4:400 f., H.v.m.).
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auf, wenn er die Pflicht, die eigene moralische Vollkommenheit zu befördern, erläutert. Diese Pflicht besteht gerade darin, eine moralisch gute Gesinnung in sich zu festigen, die es vorschreibt, „Handlungen nicht blos pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht“ (6:446) zu vollziehen. Über diese Pflicht sagt Kant nun, dass sie „eine der Qualität nach enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach weite und unvollkommene Pflicht und das wegen der Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ ist (ebd.). Die Erklärung dafür, dass die Pflicht gleichzeitig als eng und weit beschrieben werden kann, lautet: Diejenige Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben) Pflicht ist, deren Befolgung also nur im continuirlichen Fortschreiten bestehen kann, ist in Hinsicht auf das Object (die Idee, deren Ausführung man sich zum Zweck machen soll) zwar enge und vollkommene, in Rücksicht aber auf das Subject weite und nur unvollkommene Pflicht gegen sich selbst (6:446).
Eine Besonderheit der Pflicht, die richtige moralische Gesinnung in sich zu gründen, ist, dass diese Pflicht „nur im continuirlichen Fortschreiten bestehen kann“ (H.v.m.). Ein Grund dafür ist nach Kant, dass man wegen der Opazität der eigenen Motive nie sicher sein kann, ob man die Pflicht erfüllt hat oder nicht (vgl. 6:447), sodass nur die Bemühung um das richtige Handlungsmotiv Gegenstand der eigenen Anstrengung sein kann. Folgt daraus, dass die Forderung nach der richtigen moralischen Gesinnung zu den unvollkommenen Pflichten zu zählen ist (6:447), dass eine einzelne Handlung, die nicht aus Pflicht geschieht, nicht zur ethischen Schuld zurechenbar ist? Wie bei unvollkommenen Pflichten üblich, kann streng genommen nur eine falsche Maxime zur Schuld zugerechnet werden. Auf eine unmoralische Gesinnung lässt sich normalerweise schließen, wenn eine Person ohne große Not eine pflichtwidrige Handlung begeht. Viel schwieriger ist ein solcher Rückschluss, wenn eine legale Handlung bloß pflichtmäßig ausgeführt wird. Abgesehen von den epistemischen Problemen, die mit der Erkenntnis von Maximen verbunden sind, muss die Wahl der falschen Gesinnung als ethische Schuld gewertet werden. In der Religionsschrift hat Kant den Begriff der Schuld für diese besondere Art der Gebotsübertretung durch einen anderen Begriff ersetzt – den der „Sünde“: Was nicht aus dem „Geist des moralischen Gesetzes“, der darin besteht, „daß dieses für sich allein zur Triebfeder hinreichend sei“, vollzogen wird, „das ist Sünde (der Denkungsart nach)“ (6:30, H.v.m.). Der Begriff des Verdienstes scheint auf den ersten Blick keinen Platz in Kants Philosophie zu finden, weil es nicht leicht zu sehen ist, wie jemand überhaupt mehr tun kann, „als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann“. Es scheint so, als ob eine Handlung bzw. ihre Maxime entweder mit dem kategorischen Imperativ übereinstimmt (dann ist sie erlaubt bzw. geboten, falls ihr Ge-
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
genteil verboten ist) oder ihm widerspricht (dann ist sie verboten). Auch in der Tafel der moralischen Kategorien in der Kritik der praktischen Vernunft kommt das Verdienstliche nicht vor (vgl. 5:66). Auf den ersten Blick könnte vermutet werden, dass verdienstliche Handlungen mit supererogatorischen Handlungen gleichzusetzen wären, d. h. mit Handlungen, die moralisch gut, aber nicht geboten sind, sondern über Pflicht hinausgehen. Ob Kant in seinem System der Pflichten Platz für supererogatische Handlungen hat, ist Gegenstand einer langen Debatte,⁴⁷ die hier allerdings weitgehend ausgeklammert werden kann. Denn Kant bezeichnet in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten das Verdienstliche nicht als das, was über alle Gesetze hinausgeht, sondern als bloß über das hinausgehend, wozu jemand „nach dem Gesetze gezwungen werden kann“ (6:227, H.v.m.). Kant bezieht sich hier vermutlich auf Rechtsgesetze, die gerade dadurch ausgezeichnet sind, dass ihre Einhaltung erzwungen werden kann (6:232). Diese Erklärung der Verdienstlichkeit, dass „ein Anderer aus seinem Rechte“ die Handlung nicht „von mir fordern kann“ (6:390 f.) verwendet Kant selbst, wenn er erläutert, inwiefern ein Mensch „seinen Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit“ erweitern kann (6:390). Demnach wären alle moralisch guten Handlungen, die nicht von Rechtsgesetzen erzwungen werden können, auf die also die andere Person kein Recht besitzt, verdienstlich (so auch Guevara 1999, 608, Anm. 32; Kersting 1997, 117; Hill 1992a, 163; Timmermann 2008, 120). Doch es gibt noch eine weitere notwendige Bedingung für Verdienstlichkeit, denn die Erfüllung der engen ethischen Pflichten, die ebenfalls nicht durch Rechtsgesetze erzwungen werden kann, bezeichnet Kant nicht als verdienstlich. Vielmehr sagt er nur über die unvollkommenen Tugendpflichten: „Die Erfüllung derselben ist Verdienst (meritum) = +a“ (6:390). Offenbar spielt es für die Charakterisierung einer Handlung als verdienstlich eine Rolle, dass sie nicht als bestimmte Handlung durch die Pflicht vorgeschrieben wird und keiner Person geschuldet ist. Im Zusammenhang mit der Kategorie der Schuld wurde bereits diskutiert, dass die weiten Tugendpflichten einen Spielraum hinsichtlich der Frage offen lassen, welche Handlung in einer konkreten Situation genau ausgeführt wird. Verdienstlich scheint eine Handlung, die den in einer Tugendpflicht formulierten Zweck realisiert, auch deshalb zu sein, weil es in höherem Maße als bei engen Pflichten die eigene Initiative der handelnden Person (z. B. den Einsatz der Urteilskraft) erfordert, um sich zu der Handlung zu entscheiden. Versteht man den Spielraum zudem normativ, ist es der Person zum Verdienst anzurechnen, dass sie die Handlung ausgeführt hat, anstatt den
Vgl. dazu Hill, der für die Möglichkeit supererogatorischer Handlungen bei Kant argumentiert und sie in der Tat als Unterklasse aller verdienstlichen Handlungen sieht (vgl. Hill 1992a, 168 f.), während Eisenberg (1966), Guevara (1999) und Timmermann (2005) dies bestreiten.
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Spielraum zugunsten anderer erlaubter Handlungen, die ihren Neigungen eher entsprechen, möglichst weit zu interpretieren. Diese Erklärung der Verdienstlichkeit lässt die Nachfrage hinsichtlich der Rolle zweier Aspekte zu, die mit dem Begriff des Verdienstes assoziiert werden: Die Rolle der persönlichen Anstrengung für die Zuschreibung von Verdienst und die Rolle des Motivs der Handlung. Die erste Nachfrage bezieht sich auf die Vermutung, dass innerhalb des Spielraums, den Tugendpflichten lassen, manche Handlungen verdienstlicher sind als andere. Bislang wurde nur die prinzipielle Möglichkeit der ethischen Kategorie des Verdienstes in Kants Ethik überhaupt erklärt. Wie oben bereits erwähnt, hängen Schuld und Verdienst jedoch auch von den Handlungsumständen des jeweiligen Subjekts ab.Wenn beispielsweise eine Person eine andere rettet und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt, scheint das verdienstlicher zu sein, als wenn die Hilfeleistung ohne viel Aufwand möglich war. Die Intuition, dass die Überwindung erschwerender Umstände bei der guten Handlung das Verdienst vergrößert, wird von Kant in der bereits zitierten Passage zu gradueller Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt: S u b j e c t i v ist der Grad der Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen (6:228).
Diese graduelle Auffassung von Zurechnung illustriert Kant anhand einer Hilfshandlung, die aufgrund der subjektiven Handlungsumstände des Helfenden – Fremdheit der Person, der die Hilfe zukommt, und „beträchtliche Aufopferung“ seiner eigenen Interessen – besonders verdienstlich ist: Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hindernis (der Pflicht), desto mehr wird die g u t e That zum Verdienst angerechnet; z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette (6:228).
Dieses graduelle Konzept von Zurechnung zu Verdienst (und Schuld) wird im neunten Kapitel ausführlich diskutiert. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass sowohl die prinzipielle Kategorie als auch graduelle Abstufungen des Verdienstes in Kants Theorie berücksichtigt werden.⁴⁸ Kant nennt verdienstliche Handlungen, die große Opfer verlangen, an einer Stelle „edle […] (überverdienstliche[…]) Handlungen“ (5:155, H.v.m.) und kommt damit dem Begriff der Supererogation nahe. Gerade die Eigenschaft überverdienstlicher Handlungen, übermäßig große Opfer zu verlangen, hält Kant jedoch für problematisch, weil auf diese Weise Pflichten gegen sich
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Die zweite Nachfrage bezüglich des Verdienstes betrifft die Rolle des Motivs des Handelnden. Kann nach Kant eine Handlung auch dann verdienstlich sein, wenn sie nicht aus Pflicht ausgeführt wird und somit keinen moralischen Wert besitzt? Kant bezeichnet die Handlungen als verdienstlich, bei denen jemand „pflichtmäßig mehr thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann“ (H.v.m.). Doch diese Formulierung gibt noch keine Antwort auf die Frage, denn „pflichtmäßig“ heißt lediglich: nicht pflichtwidrig. Auch eine Handlung aus Pflicht ist pflichtmäßig, während eine pflichtmäßige Handlung aus Neigung bloß pflichtmäßig ist. Kann eine verdienstliche Handlung auch bloß pflichtmäßig sein, oder muss sie aus Pflicht geschehen? Man kann bei Kant zwei Begriffe von Verdienst unterscheiden, die sich als Gesinnungs- und Leistungsverdienst bezeichnen lassen (vgl. für diese Terminologie Mieth 2012, Kapitel 2.4).⁴⁹ Wenn eine Handlung aus Pflicht ausgeführt wird, ist sie verdienstlich im Sinne des Gesinnungsverdienstes. Dieser wird genau dann zugeschrieben, wenn der Handlung auch moralischer Wert bzw. der Person tugendhafte Gesinnung zugeschrieben werden. Im Sinne des Leistungsverdienstes lässt sich eine Handlung als verdienstlich bezeichnen, wenn sie den in der Tugendpflicht vorgeschriebenen Zweck realisiert. Wenn Kant beschreibt, warum die Erfüllung einer Tugendpflicht verdienstlich ist, scheint er nur Leistungsverdienst im Sinn zu haben, denn es geht ihm darum, dass die Person zu genau dieser Handlung nicht verpflichtet ist und niemand sie von ihr fordern kann (6:390 f.). Kant gibt nicht explizit Auskunft darüber, ob Leistungsverdienst ohne Gesinnungsverdienst vorliegen kann. Ob dies möglich ist, hängt davon ab, ob man nach Kant überhaupt von der Erfüllung einer Tugendpflicht sprechen kann, wenn die Person nicht aus Pflicht handelt. Meines Erachtens sollte Kant dies bejahen, um Fälle positiv bewerten zu können, in denen eine Person einer anderen bloß aus Neigung hilft. In solchen Fällen möchten wir sagen, dass die Person den Zweck einer Tugendpflicht befördert (so auch Johnson 1996, 317). Es scheint deshalb hilfreich, die Kategorie des (Leistungs‐)verdienstes von der des moralischen Werts (bzw. des Gesinnungsverdienstes) zu unterscheiden. Kant selbst gesteht zu, dass moralisch positive Bewertungen, nämlich „Lob und Aufmunterung“ (4:398), an-
selbst verletzt zu werden drohen. Auch die Motive, die überverdienstlichen Handlungen zugrunde liegen: nicht „Grundsätze“, sondern „Aufwallungen“ (5:155, Anm.), hält Kant für tadelnswert und diskutiert überverdienstliche Handlungen im wesentlichen als Negativfolie, um das Motiv der Pflicht als „einzige Triebfeder zum Guten“ (5.152) auszuweisen. Eine weitere Hinsicht, in der Kant – meines Wissens jedoch einmalig – von Verdienst spricht, ist in Hinsicht auf die emotionale Einstellung, mit der die Handlung ausgeführt wird: „Die Zucht (Disciplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann […] nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden“ (6:485, H.v.m.).
6. Verdienst und Schuld
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gemessen sind,wenn eine Person eine legale Handlung ausführt, dies jedoch nicht aus Pflicht tut (vgl. zu diesem Punkt ausführlich Johnson 1996). Fassen wir die Ergebnisse zur Kategorie des Verdienstes zusammen: Nach Kant sind Handlungen verdienstlich, die weite Tugendpflichten erfüllen. Sie sind verdienstlich (im Sinne des Leistungsverdienstes), weil sie als konkrete Handlungen nicht vorgeschrieben sind bzw. weil keine Person ein Recht dazu hat, diese Handlung einzufordern. Gesinnungsverdienst liegt vor, wenn die Handlung aus Pflicht ausgeführt wird. Darüber hinaus ist die Gesinnung, aus Pflicht zu handeln, selbst verdienstlich. Da rechtliche Gesetze enge Pflichten formulieren und bestimmte Handlungen vorschreiben oder verbieten, gibt es im Recht keinen Leistungsverdienst. Allerdings können Rechtsgesetze auch aus Pflicht befolgt werden, und von daher kann eine rechtlich gebotene Handlung durchaus verdienstlich im Sinne des Gesinnungsverdienstes sein. Doch wird eine solche Handlung nicht in rechtlicher Hinsicht zum Verdienst zugerechnet, denn das „Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich thut“ (6:231). Doch was meint Kant, wenn er in der Metaphysik der Sitten Belohnung als den „rechtlichen Effect […] einer verdienstlichen That“ bezeichnet (6:227)? Kants Zusatz, dass die Belohnung dafür „im Gesetz verheißen, die Bewegursache“ war (ebd.), macht deutlich, dass es um eine Handlung geht, die aus Neigung vollzogen wird, nämlich aus dem Wunsch heraus, die Belohnung zu erhalten, die im Gesetz auf diese Handlung stand. Es geht Kant offenbar gerade nicht um Gesinnungsverdienst. Vielleicht hatte Kant Handlungen wie die Mithilfe bei der Ergreifung von Verbrechern im Sinn, auf die eine Belohnung ausgesetzt war. Beispiele findet man bei Kant dafür meines Wissens nicht, und auch in den Vorlesungen zur Moralphilosophie vertritt er die These, dass die „Beobachtung der juridischen Gesetze“ kein „merito“, kein (Leistungs‐)Verdienst, ist (Kähler, 91). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Recht und Ethik hinsichtlich der möglichen Bewertungen von Handlungen unterscheiden. Bei rechtlichen Pflichten, die immer enge Pflichten sind, kann die Bewertung einer äußeren Handlung ergeben, dass sie der Schuldigkeit entspricht oder Verschuldung ist. Rechtliche Pflichten können aus Pflicht befolgt werden; in dem Fall liegt Gesinnungsverdienst vor, der aber nicht aus einer rechtlichen, sondern nur aus einer ethischen Perspektive relevant ist. Leistungsverdienst kann im Recht nur im Sonderfall einer angekündigten Belohnung vorkommen. Bei engen ethischen Pflichten, die alle Pflichten gegen sich selbst sind und teils innere Handlungen (wie die innere Lüge), teils äußere Handlungen (wie Selbstmord) verbieten, kann eine Handlung ebenfalls Schuldigkeit oder Verschuldung bedeuten. Bei weiten ethischen Pflichten, die keine konkreten Handlungen vorschreiben, liegt Leistungsverdienst vor, wenn eine bestimmte Handlung die Pflicht erfüllt bzw. den
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Zweck realisiert, der durch die Pflichtmaxime gefordert wird. Eine einzelne Handlung, die nicht der Pflicht entspricht, ist nicht gleich Verschuldung, sondern moralischer Unwert. Entsprechend gibt es auch keine bloß geschuldeten Handlungen. Allerdings ist die Wahl einer falschen Maxime, die einer weiten Pflicht zuwider läuft, zur Schuld zurechenbar; und wenn eine einzelne Handlung auf eine solche falsche Maxime schließen lässt, spricht auch nichts dagegen, diese Handlung zur Schuld zuzurechnen. In der Ethik ist auch die Wahl des Handlungsmotivs relevant. Wird eine Handlung aus Pflicht ausgeführt und damit der Person die Gesinnung zugesprochen, dass sie immer moralisch richtig handeln möchte, ist das Gesinnungsverdienst. Die innere Handlung der Wahl des falschen (d. h. nicht rein moralischen) Handlungsmotivs kann in manchen Fällen zur Schuld zugerechnet werden: Da die Gründung der richtigen Gesinnung eine weite Pflicht ist, die nur die Bemühung um moralische Vollkommenheit vorschreibt, sind nur solche Handlungen (bzw. Motive) zur Schuld zurechenbar, die auf eine falsche Maxime zurückzuführen sind.
7. Zwei Stufen der Zurechnung: Zurechnung zur Tat und Zurechnung zu Schuld und Verdienst Nach der Einführung der Kategorien von Schuld und Verdienst kann eine für die Struktur der Zurechnung wichtige Unterscheidung erläutert werden. Die Feststellung, dass einer Person Schuld oder Verdienst zukommt, ist ebenfalls ein Akt der Zurechnung. In der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts werden zwei verschiedene Stufen der Zurechnung unterschieden: Die Zurechnung zur Tat („imputatio facti“) und die Zurechnung zu Schuld und Verdienst („imputatio iuris“ bzw. „imputatio legis“).⁵⁰ Dies sind nicht zwei verschiedene, voneinander unabhängige Arten von Zurechnung, sondern aufeinander aufbauende Zurechnungsstufen, und zwar vor und nach der Bewertung einer Handlung in Bezug auf Gesetze.⁵¹ Erst zusammen ergeben sie die „volle Zurechnung“ („imputatio plena“). Bislang wurde das Zurechnungsurteil lediglich im Sinn der Zurechnung zur Tat verstanden: Dieses Urteil weist einen Vorgang als freie Handlung bzw. als Tat eines Subjekts aus – die Handlung war demnach kein zufälliges Geschehen, sondern die Tat
Hruschka verortet die Herkunft dieses Begriffspaars bei Thomasius (1688): Institutiones Jurisprudentiae Divinae, Lib. III Cap. XI), in dessen Nachfolge C. Wolff und seine Schule die Unterscheidung aufgenommen haben (vgl. Hruschka 1986, 672). Hruschka (1976, 35) nennt als Quelle zur Erläuterung der beiden Stufen Daries (1754), Institutiones Iurisprudentiae Universalis, Egitio nova, Scholium zu §218.
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dieser bestimmten Person. Die Zurechnung zur Tat beinhaltet noch keine Bewertung der Handlung oder der Person, sondern identifiziert eine Person als freien Urheber der Handlung. Durch das Zurechnungsurteil wird die Handlung als eine gekennzeichnet, die unter Gesetzen steht, und damit ein mögliches Objekt der Bewertung ist. Die Bewertung der Handlung anhand von Gesetzen („adplicatio legis ad factum“) ist kein Akt der Zurechnung,⁵² sondern steht logisch nach der Zurechnung zur Tat und vor der Zurechnung zu Schuld und Verdienst. Diese Bewertung weist, wie im letzten Abschnitt dargestellt, eine Handlung als schuldhaft, schuldig (d. h. geboten) oder verdienstlich aus. Die zweite Stufe der Zurechnung, die Zurechnung zu Schuld und Verdienst („imputatio iuris bzw. legis“), setzt sowohl die erste Stufe der Zurechnung als auch die Bewertung der Handlung voraus. Dass die bewertete Handlung dem Subjekt zugerechnet wird, impliziert eine positive oder negative Bewertung der Person aufgrund ihrer Handlung.Wenn die Bewertung durch das Gesetz negativ war, wird die Handlung der Person zur Schuld zugerechnet; war die Bewertung positiv, wird die Handlung zum Verdienst zugerechnet. Die Unterscheidung zwischen Zurechnung zur Tat und zu Schuld oder Verdienst trifft Kant in seinen veröffentlichten Schriften nicht explizit, doch er war mit ihr aus Baumgartens Initia philosophiae practicae primae vertraut (vgl. Akademie-Ausgabe Bd. 19). In dieser Schrift, nach der Kant von den 70er bis 90er Jahren seine Vorlesungen zur Moralphilosophie hielt, sind die Überlegungen zu Zurechnung unter anderem nach imputatio facti (19:61– 78) und imputatio legis (19:79 – 81) geordnet, sodass sich diese Unterscheidung auch in Kants Vorlesungen niederschlägt:⁵³ Habe ich nun auf die That Acht, so ist das imputatio facti; habe ich aufs Gesetz acht, so ist das imputatio legis (Kähler, 87). Bey der imputatione facti muß nicht gleich imputatio legis kommen zE es kann einer den andern zwar getödtet aber noch nicht ermordet haben, zuerst ist die Frage ob die Handlung von ihm geschehen sey. Wenn das factum gleich soll aufs Gesetz imputiret werden, so sind gleich zwey imputationes (Kähler, 88).
Das betont auch Hruschka 1976, 36. Riedel weist darauf hin, dass Kant die Unterscheidung zwischen facti und juris, d. h. zwischen Tatsachen- und Rechtsfrage, auch der Deduktion der Kategorien zugrunde legt: Es wird in einem „Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid juris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti)“ unterschieden (A84/B116). Die Deduktion soll ersteres, den Rechtsanspruch der Kategorien im Sinne der „Befugnis ihres Gebrauchs“, darlegen. Questio facti wäre die „Erklärung des Besitzes“ der Begriffe (A87/B119). Riedel sieht hier eine Parallele: „Geht doch die Untersuchungsform der transzendentalen Kategoriendeduktion, der Unterschied zwischen quaestio facti et juris, direkt auf die hermeneutische Problematik der Lehre von der Zurechenbarkeit der Handlung zurück“ (Riedel 1989, 106).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Normalerweise treten die beiden Stufen der Zurechnung zugleich auf. Oft wird der Akteur identifiziert und sogleich seine Handlung mitsamt seiner Person bewertet, beispielsweise in dem empörten Ausruf: „Du gemeiner Lügner!“. Die Unterscheidung der beiden Stufen von Zurechnung ist dennoch wichtig (vgl. vor allem Kapitel 9), insbesondere weil sie es erlaubt, deskriptive und evaluative Aspekte des Zurechnungsaktes logisch voneinander zu trennen: Während die erste Stufe der Zurechnung, die Zurechnung zur Tat, noch keine Bewertung enthält, sondern nur die Voraussetzungen dafür schafft, wird die Handlung durch die Anwendung der Gesetze evaluiert und die Person durch die Zurechnung zu Schuld und Verdienst bewertet. Diese Zweistufigkeit entspricht einer Unterscheidung, die in der aktuellen Verantwortungsdebatte getroffen wird, und zwar der Unterscheidung zwischen Zurechnungsfähigkeit („accountability“) und dem Verdienst von Lob und Tadel („praise- or blameworthiness“).⁵⁴ Wenn man eine Person als zurechnungsfähig bezeichnet, beinhaltet das noch keine Bewertung ihrer Handlungen oder ihrer selbst. Man sagt damit nur, dass ihr Handlungen prinzipiell zugerechnet werden können. Zurechnungsfähigkeit kommt einer Person also unabhängig von konkreten Einzelhandlungen aufgrund bestimmter Eigenschaften bzw. Fähigkeiten zu. Kant identifiziert diese mit transzendentaler Freiheit (vgl. Kapitel 2). Zurechnungsfähigkeit und die Zurechnung zur Tat hängen folgendermaßen zusammen: Die Zurechnung zur Tat drückt aus, dass eine zurechnungsfähige Person eine Handlung ausgeführt hat und insbesondere mit Blick auf diese Handlung zurechnungsfähig ist. Dieser letzte Zusatz soll ausschließen, dass eine ansonsten zurechnungsfähige Person eine Handlung ausgeführt hat, während sie temporär nicht zurechnungsfähig war, z. B. weil sie zum Zeitpunkt der Handlung unter Drogeneinfluss stand und ihr Bewusstsein getrübt war. Die Zurechnungsfähigkeit einer Person und die Zurechnung zur Tat sind notwendige Bedingungen dafür, dass die Person aufgrund ihrer Handlung Lob oder Tadel verdient. Dass eine Person Lob und Tadel verdient, lässt sich umgekehrt so verstehen, dass ihr die Handlung zu Verdienst und Schuld zugerechnet werden kann.⁵⁵ Die Zurechnung zu Schuld und Verdienst setzt demnach not-
Vgl. dazu Wallace 1994. Kant selbst identifiziert verdienstlich/schuldhaft nicht ausdrücklich mit lobens-/tadelnswürdig, doch es ist plausibel, seinen Zugang zu Verdienst und Schuld gleichzeitig als einen Zugang zu Lob und Tadel verstehen (so auch Johnson 1996, 312). Kant sagt in der Grundlegung sogar von einer Handlung aus Ehre, sie verdiene „Lob und Aufmunterung“ (4:398). Verdienstlichkeit ist also keine notwendige Bedingung für Lob. Da jedoch eine verdienstliche Handlung moralisch mindestens genauso wertvoll ist wie eine Handlung aus Ehre, und letztere lobenswert ist, ist Verdienstlichkeit sicherlich ein hinreichendes Kriterium dafür, Lob zu verdienen. Dass
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wendig voraus, dass die Handlung zur Tat zugerechnet wurde und damit auch, dass die Person zurechnungsfähig ist – dieser Umstand wird in den Zurechnungslehren des 18. Jahrhunderts dadurch ausgedrückt, dass die Zurechnung zur Tat die erste, und Zurechnung zu Schuld und Verdienst die zweite Stufe der Zurechnung ist. Wie Zurechnungsfähigkeit und die Zurechnung zur Tat also notwendige Bedingungen für die Zurechnung zu Schuld und Verdienst sind, gilt umgekehrt, dass die praktische Relevanz von Zurechnungsfähigkeit sowie der Zurechnung zur Tat gerade darin besteht, dass sie die Möglichkeit der Bewertung der Handlung und der Person eröffnen. Andernfalls würde man sich für Zurechnungsfähigkeit oder die Zurechnung zur Tat kaum interessieren. Man kann den Zusammenhang der beiden Zurechnungsstufen folgendermaßen formulieren: Die Zurechnung zur Tat sagt aus, dass eine zurechnungsfähige Person eine Handlung ausgeführt hat, in Hinsicht auf welche sie zurechnungsfähig ist. Die Zurechnung zur Tat drückt also situative Zurechnungsfähigkeit mit Blick auf eine konkrete Handlung aus. Dieses Zurechnungsurteil ist die notwendige Bedingung dafür, dass die Handlung und die Person normativ bewertet werden können, und genau aufgrund dieser Möglichkeit sind die Zurechnung erster Stufe und die Eigenschaft der Zurechnungsfähigkeit überhaupt praktisch relevant. Im Überblick stellt sich die gesamte Struktur der Zurechnung in moralischer Bedeutung folgendermaßen dar: 1.) Erste Stufe der Zurechnung: Zurechnung zur Tat („imputatio facti“). Eine Person wird als Urheber („causa libera“) der Handlung bezeichnet. Die Handlung ist frei (in Kants Terminologie: ist eine „Tat“) und steht unter moralischen Gesetzen, d. h. sie ist prinzipiell anhand von Gesetzen (bei Kant: rechtlichen und ethischen Gesetzen) bewertbar. 2.) Anwendung des Gesetzes: Es wird geprüft, wie die Tat zum relevanten Gesetz steht: Entspricht sie dem, was das Gesetz fordert; ist sie mehr, als das Gesetz verlangt, oder verletzt sie das Gesetz? 3.) Zweite Stufe der Zurechnung: Zurechnung zu Schuld oder Verdienst („imputatio legis bzw. iuris“): Je nachdem, was die Anwendung des Gesetzes auf die Handlung ergeben hat, wird die Handlung der Person zu Schuld oder Verdienst zugerechnet.
seine Person tadelnswürdig für eine schuldhafte Handlung ist, liegt auf der Hand. Für die „boshafte Lüge“ „tadelt man […] den Thäter“ (A555/B583), und dieser Tadel ist nicht nur etwas, das faktisch vorkommt, sondern das sich „auf ein Gesetz der Vernunft“ gründet (ebd.).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Diese drei Schritte können darüber hinaus ergänzt werden durch die praktischen Konsequenzen, die Zurechnung zu Schuld und Verdienst haben können. Während rechtliche Schuld durch den Richter zugerechnet wird und Strafe zur Folge hat, drücken sich sowohl die innere Zurechnung zur Schuld vor dem eigenen Gewissen als auch die Zurechnung zum Verdienst in spezifischen, emotional gefärbten Reaktionen aus: In Gewissensbissen bzw. Selbstverachtung einerseits – „Der im Spiel verloren hat, kann sich wohl über sich selbst und seine Unklugheit ärgern, aber wenn er sich bewußt ist, im Spiel betrogen (obzwar dadurch gewonnen) zu haben, so muß er sich selbst verachten, so bald er sich mit dem sittlichen Gesetze vergleicht“ (5:37, H.v.m.; vgl. auch 5:88) – und in Dankbarkeit andererseits. Man kann fragen, ob nicht auch das Zurechnungsurteil, dass eine Handlung dem Gesetz angemessen war, d. h. dass die Person ihre Pflicht erfüllt hat, mit einer positiven Reaktion einhergehen könnte oder sollte. Kant erwähnt die „gütige Vergeltung“ (6:228), die als eine solche positive Reaktion aufgefasst werden kann, von der er sagt, dass sie „zur That in gar keinem Rechtsverhältniß“ (ebd.) steht, d. h. keine Folge einer rechtskräftigen Zurechnung sein kann.
8. „Rechtskräftige“ und „nur beurteilende“ Zurechnung nach verschiedenen Gesetzen Kant erwähnt drei Kriterien, die sich zur Unterscheidung verschiedener Arten der Zurechnung heranziehen lassen: Erstens kann sich eine Art der Zurechnung von einer anderen durch die relevanten Gesetze bzw. Normen unterscheiden. Demzufolge würde es sich um rechtliche Zurechnung handeln, wenn nach Rechtsgesetzen zugerechnet wird, und um ethische Zurechnung, wenn ethische Gesetze als Maßstab der Handlungen herangezogen werden.⁵⁶ Eine zweites Unterscheidungskriterium sind die unterschiedlichen Folgen der Zurechnung: Wenn das Zurechnungsurteil „zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser That [d. h. aus der So sieht es auch Hart in Bezug auf den verwandten Begriff der rechtlichen bzw. moralischen Verantwortung: The „striking differences between legal and moral responsibility are due to substantive differences between the content of legal and moral rules and principles rather than to any variation in meaning of responsibility when conjoined with the word „moral“ rather than „legal““ (Hart 1968, 225 f.). Anders z. B. Meixner: „Vom Zurechnungsbegriff ist […] der Begriff der rechtlichen Zurechnung „y ist x rechtlich zuzurechnen [zurechenbar]“ zu unterscheiden. Man kann allerdings – ähnlich wie bei „x ist ein Spiel“ – kaum von einer in allen seinen Verwendungen konstant bleibenden Kernbedeutung dieses Prädikats sprechen“ (Meixner 1994, 480). Offenbar hält Meixner den Begriff der rechtlichen Zurechnung für grundlegend verschieden von „dem“ (moralischen?) Begriff der Zurechnung, weil rechtliche Haftung eine Form der Zurechnung ist, die keine kausale Zurechnung voraussetzt.
8 „Rechtskräftige“ und „nur beurteilende“ Zurechnung
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zugerechneten Handlung, CB] bei sich führt“ ist es eine „rechtskräftige […], sonst aber nur eine beurtheilende Zurechnung“ (6:227). Mit den rechtlichen Folgen der Tat meint Kant hier insbesondere Strafe, die er auch wenig später als den „rechtliche[n] Effect einer Verschuldung“ bezeichnet (ebd.). Drittens erfolgt jede Zurechnung durch eine Instanz: „Diejenige (physische oder moralische) Person, welche rechtskräftig zuzurechnen die Befugnis hat […] heißt der Richter oder auch der Gerichtshof“ (ebd.). Diese Beschreibung scheint sich nur auf die Rechtslehre zu beziehen und lässt offen, wer als auf bloß beurteilende Weise zurechnende Instanz fungieren kann. Anders als auf den ersten Blick vermutet werden könnte (vgl. Ludwig 1988, 87, Anm. 10), trifft die Beschreibung der zurechnenden Instanz jedoch auch auf Kants Konzeption des Gewissens und damit auf die innere Zurechnung im ethischen Kontext zu, da Kant das Gewissen als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes“ (6:438) versteht.⁵⁷ Kant bezeichnet das Gewissen explizit als „moralische[] Person“ (6:438), den zurechnenden Richter als „moralische[s] Wesen“ (6:439). Die enge Analogie der Zurechnung vor dem Gewissen und der rechtskräftigen Zurechnung zeigt sich auch in der Beschreibung der Folgen des Zurechnungsurteils, nämlich dem „rechtskräftige[n] Spruch des Gewissens über den Menschen, ihn loszusprechen oder zu verdammen“ (6:440, H.v.m.). Mithin sieht Kant die Zurechnung vor dem Gewissen auch als eine Art der rechtskräftigen Zurechnung, selbst wenn sie nach ethischen Maßstäben geschieht (vgl. zur Zurechnung vor dem Gewissen Kapitel 4). Umgekehrt kann Zurechnung nach rechtlichen Gesetzen auch bloß beurteilenden Charakter annehmen, beispielsweise wenn man einen Freund tadelt, weil er über eine rote Ampel gefahren ist. Zurechnung nach ethischen Gesetzen ist im Alltag bei der Zurechnung durch andere nur beurteilend und drückt sich in nichtrechtlichen, und vielleicht vor allem emotionalen Folgen aus. Ein Beispiel, das Kant dafür nennt, ist der „Umgangsfreund“, der mich anlügt, und als Folge der bloß beurteilenden Zurechnung meine emotionale Reaktion, meine „Abscheu“ (5:35), hinnehmen muss. Auch im positiven Fall ist die Folge der Zurechnung nach ethischen Gesetzen durch andere nur beurteilend – man würde die Dankbarkeit als Folge der Zurechnung zum Verdienst nicht als „rechtskräftige“ Zurechnung bezeichnen. Wenn sowohl rechtliche als auch ethische Gesetze als normativer Maßstab der Zurechnung verwendet werden können, liegt es nahe, Kants Definition der Zurechnung als Schema zu lesen, das auch für weitere Gesetze anwendbar sein könnte. Naheliegender Kandidat sind Gesetze der Klugheit: Auch in Bezug auf
Wie viele andere Autoren scheint Kant damit das Gericht als den paradigmatischen Ort der Verantwortungs- bzw. Zurechnungspraxis zu sehen (vgl. Bayertz 1995, 16 f.).
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1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Klugheitsregeln lassen sich Handlungen bewerten und als klug oder unklug, d. h. prudentiell (abgeleitet vom englischen Wort „prudential“ = klug), zurechnen. Auch Gesetze der Logik oder grammatische Regeln, selbst soziale Regeln und moralisch zwielichtige Gesetze, die beispielsweise zum Ehrenkodex der Mafia gehören, sind prinzipiell denkbar als Gesetze, anhand deren man eine Handlung als konsistent oder inkonsistent, sprachlich richtig oder fehlerhaft, sozial anerkannt oder verpönt bzw. als ehrenvoll oder verachtungswürdig zurechnen kann. Diese Möglichkeit ist in systematischer Hinsicht ernst zu nehmen,⁵⁸ für die Kantische Theorie ergeben sich jedoch Schwierigkeiten, die mit Kants restriktivem Gesetzesbegriff zusammenhängen. Während Kant in der ersten Kritik noch pragmatische und reine praktische Gesetze unterscheidet (A800/B828), spricht er in der Grundlegung und der zweiten Kritik den pragmatischen Gesetzen den Status von Gesetzen ab und kennzeichnet sie terminologisch als „Ratschläge“ oder „Regeln“ (4:416, 5:20, 26, 36). Die pragmatischen Gesetze bzw. Regeln dienen dazu, empirische Bedürfnisse so aufeinander abzustimmen, dass sich unsere verschiedenen Zwecke nicht widersprechen, und die geeigneten Mittel für ihre Realisierung auszuwählen. Die Vernunft hat dabei eine nur regulative Funktion, weil sie zwar die Regel vorgibt, nach der wir am klügsten unsere Zwecke verfolgen, die Zwecke jedoch nicht selbst bestimmt. Reine praktische Gesetze dagegen sind solche, bei denen selbst der „Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirischbedingt, sondern schlechthin gebieten“ (A800/B828). Der Grund, warum pragmatische Gesetze letztlich für Kant als Gesetze ausscheiden, ist, dass er als Gesetze nur solche Regeln gelten lässt, die „Allgemeinheit für vernünftige Wesen“ (5:34) besitzen und „jederzeit und nothwendig gültig sein müssen“ (5:36). Pragmatische Regeln sind jedoch nur „bedingt“ gültig, d. h. schreiben vor, „im Falle ich dieses oder jenes begehre, was ich alsdann thun müsse, um es wirklich zu machen“ (5:34). Pragmatische Gesetze sind also nur unter der „subjectiven Bedingung[…]“ (ebd.) gültig, dass sich das Subjekt einen bestimmten empirischen Zweck gesetzt hat. Anhand dieser Überlegungen sieht man, dass es für Kant aufgrund seines restriktiven Gesetzesbegriffs streng genommen ausgeschlossen ist, über andere als moralische (d. h. ethische und rechtliche) Zurechnung zu sprechen. Wenn man jedoch den Gesetzesbegriff etwas weiter fasst, so wie es Kant selbst noch in der Kritik der reinen Vernunft tut, dann kann man Kants Zurechnungsdefinition als
Vgl. dazu Hruschka, der zurechenbare Handlungen als „konfrontierbar mit jeder beliebigen Regel“ versteht, wobei er neben juristischen und moralischen Regeln auch Regeln der Logik oder der Grammatik anführt (vgl. Hruschka 1976, 32).
8 „Rechtskräftige“ und „nur beurteilende“ Zurechnung
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Schema für verschiedene Arten von Zurechnung verwenden, insbesondere auch für prudentielle Zurechnung nach Klugheitsgesetzen.
2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung In Kants Definition der Zurechnung heißt es, dass das Zurechnungsurteil jemanden als freie Ursache („causa libera“) einer Handlung, als deren „Urheber“, auszeichnet: Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung […] angesehen wird (6:227).
Die Zurechenbarkeit einer Handlung und die Urheberschaft – und damit, gemäß Kants Verständnis von Urheberschaft als „causa libera“, die Freiheit – einer Person gehen also Hand in Hand. Hierbei müssen zwei Aspekte unterschieden werden: Zum einen kann man Freiheit als generelle Eigenschaft des Willens einer Person betrachten und zum anderen die Freiheit der Person in der speziellen Handlungssituation. Freiheit als generelle Eigenschaft des Willens ist sicherlich eine notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit einer Handlung.⁵⁹ Doch zusätzlich muss die Person in Bezug auf die konkrete Handlung in der Lage sein, ihren freien Willen auszuüben, d. h. beispielsweise nicht physisch am Handeln gehindert oder dazu gezwungen sein; denn sonst könnte sie zwar generell als Urheber, nicht aber als Urheber einer bestimmten Handlung angesehen werden. Willensfreiheit ist also notwendige und normalerweise (d. h. in Abwesenheit besonderer Umstände, die die Ausübung der Freiheit verhindern) auch hinreichende Bedingung für die Zurechenbarkeit einer Handlung. In diesem Kapitel soll diskutiert werden, wie Kant die für Zurechnung notwendige Freiheit versteht.
1. Zwei Konzeptionen transzendentaler Freiheit In der Definition der Zurechnung äußert sich Kant nicht dazu, wie Freiheit als Bedingung für Zurechnung genau zu verstehen ist, doch lässt er an anderen Kant vermischt die beiden Aspekte, wenn er in der Religionsschrift sagt, dass wir uns gleichzeitig mit unserer Freiheit „der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen“ bewusst werden (6:26, Anm.). Dort klingt es so, als sei Freiheit eine hinreichende Bedingung für die Zurechenbarkeit von Handlungen. Es ist naheliegend, die Freiheit des Willens als hinreichende Bedingung für die Zurechnungsfähigkeit der Person anzusehen. Doch im siebten Kapitel dieser Arbeit wird deutlich, dass auch der Besitz eines Körpers und Selbstbewusstseins notwendige Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit sind, sodass auch in Bezug auf die Eigenschaften der Person Freiheit des Willens nur eine notwendige Bedingung sein kann.
1. Zwei Konzeptionen transzendentaler Freiheit
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Stellen keinen Zweifel daran, dass transzendentale Freiheit der „eigentliche Grund“ (A448/B476) der Zurechnung ist.⁶⁰ Das Adjektiv „transzendental“, das von Kant auch als Bezeichnung einer bestimmten Art von Erkenntnis (vgl. A11/B25) oder als Charakterisierung seines Idealismus verwendet wird (vgl. A491/B519), kann hier zunächst negativ als „nicht-empirisch“ verstanden werden. Transzendentale Freiheit ist keine empirische Tatsache, insofern sie als „Unabhängigkeit […] von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ verstanden wird und somit „aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint“ (A803/B831). In der Kritik der reinen Vernunft charakterisiert Kant transzendentale Freiheit auch als das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte (A533/B561).
Diese Charakterisierung transzendentaler Freiheit ist noch nicht auf das menschliche Handeln bezogen, sondern bezeichnet die Freiheit „im kosmologischen Verstande“ (ebd.). In diesem allgemeinen Verständnis ist Freiheit das Vermögen, kausal wirksam zu sein, ohne selbst naturkausal bedingt zu sein, d. h. als erste, unverursachte Ursache zu fungieren. Es ist nicht offensichtlich, wie dieses Vermögen der Erstursächlichkeit in Bezug auf unser Handeln und als Bedingung von Zurechnung aussehen könnte. Die kantische Grundidee ist, dass freies Handeln nicht bloß als naturkausale Konsequenz der physischen oder psychologischen Zustände des Handelnden verstanden werden kann, sondern dass die Person durch ihre freie Handlung eine neue Kausalkette „von selbst“ anstößt. Kant illustriert dies am Beispiel des Aufstehens von Stuhl (vgl. A450/B478). In dieser „Entschließung und That“ fängt laut Kant „eine neue Reihe schlechthin an“. Kants Idee ist, dass die freie Willensentscheidung zur Handlung kausale Kraft hat, ohne selbst nur ein Glied in der Reihe von zeitlich aufeinanderfolgenden Ursachen zu sein.
Ich verstehe den Ausdruck „eigentlicher Grund“ als „zentrale notwendige Bedingung“. Die Betonung „eigentlich“ legt nahe, dass es sich um mehr als eine notwendige Bedingung unter vielen handelt. Im Zusammenhang mit transzendentaler Freiheit spricht Kant auch davon, dass diese „das eigentliche Moment der Schwierigkeiten“ hinsichtlich der Freiheit ausmache (A533/ B561). Die Betonung „eigentlich“ lässt sich unter Berücksichtigung des Kontexts folgendermaßen verstehen: Der Begriff der Freiheit hat auch empirische Facetten, aber es ist der transzendentale Aspekt, der diejenige notwendige Bedingung für Zurechnung ist, die Kant interessiert, insofern deren Möglichkeit angesichts der Naturdetermination in Frage steht. Eine andere berühmte Wendung, in der „eigentlich“ verwendet wird ist der Ausdruck des „eigentlichen Selbst“ (z. B. 4:457 und 4:461). Hier könnte der Zusatz „eigentlich“ ähnlich verstanden werden: Das „Selbst“ umfasst auch viele empirische Aspekte, aber es ist im Rahmen der Transzendentalphilosophie der vernünftige, intelligible Aspekt, der Kant interessiert.
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Transzendentale Freiheit in Hinsicht auf das menschliche Handeln besteht demnach in der Fähigkeit, freie Entscheidungen zu treffen und frei zu handeln – kurz: im freien Willen. Nach Kant zeichnet sich die transzendentale Freiheit des Willens wesentlich dadurch aus, dass sich der Willensträger nach vernünftigen Prinzipien, d. h. nach Imperativen, richten kann (vgl. Abschnitt 2). Eine Schwierigkeit, Freiheit als Bedingung für Zurechnung zu verstehen, liegt darin, dass Kant das Verhältnis von Freiheit und der Bestimmbarkeit durch Imperative in der Kritik der reinen Vernunft anders bestimmt als in seinen praktischen Schriften ab der Grundlegung. Dementsprechend gibt es auch in der Kant-Forschung zwei Positionen bezüglich der Frage, worin transzendentale Freiheit des Willens genau besteht. Die beiden möglichen Konzeptionen, von denen die erste im Wesentlichen Kants Auffassung in der ersten Kritik entspricht und die zweite sich auf die Grundlegung und die zweite Kritik stützt, sind folgende: Erste Konzeption: Transzendentale Freiheit im weiteren Sinn Der ersten Interpretation zufolge besteht transzendentale Freiheit in der Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien bzw. Imperativen im Allgemeinen handeln zu können. Diese Fähigkeit ermöglicht Unabhängigkeit von Naturursachen, insofern Handlungen rationaler Akteure nicht nur naturgesetzlich aufeinander folgen, sondern aufgrund von vernünftigen Überlegungen vollzogen werden. Diesen vernünftigen Überlegungen liegen sowohl Prinzipien der Zweckrationalität als auch der Moralität zugrunde. Personen sind transzendental frei und zurechnungsfähig, wenn sie sowohl prudentielle als auch moralische Entscheidungen treffen können, d. h. wenn sie sich durch hypothetische und kategorische Imperative bestimmen lassen können. Zweite Konzeption: Transzendentale Freiheit im engeren Sinn (transzendentale Freiheit als Autonomie) Laut der zweiten Konzeption des Begriffs bezeichnet transzendentale Freiheit des Willens die Fähigkeit, nach rein vernünftigen Prinzipien zu handeln, d. h. nach dem Sittengesetz, um das wir in Gestalt des kategorischen Imperativs wissen. Die Unabhängigkeit von natürlichen Ursachen wird motivational verstanden: Wesen mit einem transzendental freien Willen können sich unabhängig von all ihren Neigungen entscheiden und „aus Pflicht“ eine Handlung vollziehen. Zurechnungsfähig sind Personen demnach aufgrund der Fähigkeit, moralische Entscheidungen aus Pflicht zu treffen, d. h. weil sie autonom sind. ⁶¹
Die erste Interpretation wird v. a. von Henry Allison, Christine Korsgaard und Marcus Willaschek vertreten (vgl. Allison 1990; Korsgaard 1996a; Willaschek 1992). Iuliana Corina Vaida, die
1. Zwei Konzeptionen transzendentaler Freiheit
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Die erste Konzeption gesteht transzendentaler Freiheit eine größere Reichweite zu, insofern transzendentale Freiheit ihr zufolge nicht nur in moralischen, sondern auch in bloß zweckrationalen Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Deshalb lässt sich transzendentale Freiheit in diesem Verständnis als transzendentale Freiheit im „weiteren Sinn“ bezeichnen. Allison, der diese Interpretation vertritt, betont die Freiheit zweckrationaler Entscheidungen als eine der zentralen Konsequenzen seiner Untersuchung (vgl. Allison 1990, 6) und ist sich bewusst, dass er sich damit von den Vertretern der zweiten Lesart abhebt: „Contrary to many interpreters, I shall argue that Kant is there [in the Critique of Pure Reason, CB] concerned to provide a transcendental framework for a unified theory of agency, one that includes but is not limited to moral agency“ (Allison 1990, 29). Die zweite Position beschränkt transzendentale Freiheit auf die Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen und nach ihnen zu handeln. Diese transzendentale Freiheit im „engeren Sinn“ fällt mit Freiheit als Autonomie, der Fähigkeit nach dem selbstgegebenen Moralgesetz zu handeln, zusammen. Bojanowski, der diese Interpretation vertritt, gesteht zwar zu, dass die erste Interpretation transzendentaler Freiheit in der ersten Kritik von Kant naheliegend ist. Doch sieht Bojanowski den Grund dafür darin, dass Kant in der ersten Kritik noch nicht deutlich genug gesehen hat, dass „nicht jede Art von Sollensanspruch, sondern nur jener kategorisch gebietende Imperativ […] einen absoluten Freiheitsbegriff voraussetzt“ (Bojanowski 2006, 204) und somit transzendentale Freiheit eine Grundlage „[d]er moralischen Praxis und nicht etwa der pragmatischen Praxis“ ist, „weil hierfür die transzendentale als absolute Freiheit keine notwendige Bedingung ist, sondern auch ein relativer Freiheitsbegriff ausreicht“ (Bojanowski 2006, 207).⁶²
gegen diese Ansicht argumentiert, bezeichnet diese Interpretation als „received view“ (Vaida 2011, 2). Vaida selbst vertritt die zweite Interpretation, genauso wie Jochen Bojanowski (2006) und Stephen Engstrom (1993). Auch Bernd Ludwig scheint mit Blick auf die Religionsschrift die engere Interpretation zu vertreten. Ob Ludwig dabei Kant diesen Freiheitsbegriff auch in der ersten Kritik zuspricht, ist nicht ganz klar. Zwar betont er, dass in der ersten Kritik Freiheit noch nicht „Selbst-Gesetzgebung in Gestalt des Sittengesetzes“, d. h. Autonomie ist (Ludwig 2010, 607), aber er charakterisiert den dort verwendeten Freiheitsbegriff nicht positiv, d. h. er stimmt auch nicht der Konzeption transzendentaler Freiheit im weiten Sinn zu (Ludwig 2010, 605). Auch Vaida ist dieser Auffassung: „[W]e only have reason to attribute transcendental freedom to ourselves in moral situations, when we have to choose between morality and self-love“ (Vaida 2011, 3). Auch wenn sie in ihrem Aufsatz diese Art der transzendentalen Freiheit niemals „Autonomie“ nennt, entspricht ihre Interpretation der Sache nach der Konzeption von transzendentaler Freiheit als Autonomie. Denn die Freiheit, die sich in „moralischen Situationen“ zeigt, ist ja nach Kant die Fähigkeit, gegen alle Neigungen nach dem Moralgesetz zu handeln, welches als selbstgegeben gedacht wird, mithin die Fähigkeit der Autonomie.
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Ein wesentlicher Unterschied der beiden Interpretationen betrifft also den Status der Zweckrationalität. Ist die Fähigkeit, nach hypothetischen Imperativen zu handeln, schon eine Form transzendentaler Freiheit? Wenn Freiheit der Zweckrationalität eine Form transzendentaler Freiheit wäre, dann könnte es sein, dass Autonomie keine notwendige Bedingung für Zurechnung ist, d. h. dann könnten auch bloß zweckrationale Wesen zurechnungsfähig sein. Die Fähigkeit, die in der ersten Interpretation beschrieben wird, ist grundlegender als die der zweiten: Nur, wenn Menschen überhaupt nach vernünftigen Prinzipien handeln können, ist es möglich, dass sie sich auch durch rein vernünftige Prinzipien leiten lassen können. Vertreter der zweiten Position müssen also voraussetzen, dass Menschen als zurechnungsfähige Wesen die erste Fähigkeit besitzen; bloß meinen sie, diese Freiheit im Sinne der Zweckrationalität in empirischen Begriffen beschreiben zu können. Bevor in den folgenden Abschnitten die Textstellen und Gründe dafür genannt werden, die bei Kant für die eine oder andere Interpretation sprechen, sollen die Konsequenzen der beiden Konzeptionen für Zurechnung angedeutet werden. Es lassen sich in einem ersten Zugriff zwei Arten von Zurechnung unterscheiden: Prudentielle und moralische Zurechnung (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 8). Man kann einer Person eine Handlung als klug oder unklug zurechnen, und sie dafür etwa loben oder tadeln, was Zurechnung voraussetzt. Diese prudentielle Zurechnung impliziert offenbar mehr als bloß kausale Zurechnung der Handlung: Wir sehen durch ein solches Zurechnungsurteil den Handelnden als freien Urheber der Handlung an – bloßen Naturvorgängen rechnen wir ihre Handlungen (im weiten Sinn, vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4), die ausschließlich naturgesetzlich zu erklären sind, nicht als klug oder unklug zu. Doch für prudentielle Zurechnung müssen wir nicht voraussetzen, dass der Handelnde autonom ist, sondern nur, dass er sich nach hypothetischen Imperativen richten kann. Für moralische Zurechnung einer Handlung zu Schuld und Verdienst wird darüber hinaus vorausgesetzt, dass die Person nach moralischen Imperativen handeln kann. Deshalb kann man einem bloß zweckrationalen Wesen keine Handlungen moralisch zurechnen. Darin stimmen beide Interpretationen überein, auch wenn das bloß zweckrationale Wesen nach der ersten als transzendental frei bezeichnet werden könnte. Entsprechend Kants Auffassung, dass sowohl die Ethik als auch das Recht in Gestalt einer „Metaphysik der Sitten“ zur Moral gehören, sind sowohl ethische als auch rechtliche Zurechnung Formen der moralischen Zurechnung. Ethische Zurechnung betrifft die Bewertung der Handlung und der Person in Bezug auf ethische Gesetze und drückt sich beispielsweise in Lob („Für deine aufopferungsvolle Hilfe bin ich dir sehr dankbar“) oder Tadel („Du gemeine Lügnerin!“) aus. Ethische Zurechnung setzt zweifelsohne Autonomie voraus, wohingegen die Freiheitsvoraussetzung im Fall rechtlicher Zurechnung nicht ganz
2. Praktische Freiheit als Bestimmbarkeit durch Imperative
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eindeutig ist. Dafür, dass Kant Autonomie auch als notwendige Voraussetzung für rechtliche Zurechnung sieht, spricht, dass ihm zufolge das Recht Teil der Moral ist, legitime Rechtsgesetze aus dem kategorischen Imperativ folgen bzw. zumindest mit ihm verträglich sein müssen und deshalb aus Pflicht befolgt werden können. Dagegen spricht, dass Rechtspflichten nicht aus Pflicht befolgt werden müssen und somit bei Rechtssubjekten nur die Fähigkeit vorausgesetzt werden muss, sich zweckrational für die Vermeidung von Strafe zu entscheiden. Diese Unklarheit bezüglich der Freiheitsvoraussetzung im Recht spiegelt auch den problematischen und umstrittenen Status der Rechtslehre in Kants Philosophie wider.⁶³
2. Praktische Freiheit als Bestimmbarkeit durch Imperative Zunächst soll dargestellt werden, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die These begründet, dass „praktische Freiheit“ (A802/B830) in der Bestimmbarkeit durch Imperative besteht. Diese Grundidee muss zunächst verständlich gemacht werden, bevor diskutiert werden kann, wie das Verhältnis von praktischer und transzendentaler Freiheit aussieht und ob nur die Bestimmbarkeit durch kategorische oder auch durch hypothetische Imperative transzendentale Freiheit ausmacht. Freiheit besitzt nach Kant einen negativen und einen positiven Aspekt: Negativ besteht Freiheit in einer – noch genauer zu qualifizierenden – Unabhängigkeit von Naturursachen. Positiv ist der freie Wille durch Vernunft bestimmbar.⁶⁴ Im Folgenden werden die beiden Aspekte nacheinander betrachtet. Um den negativen Aspekt der Freiheit des Willens bzw. der Willkür⁶⁵ zu beschreiben, wählt Kant als Kontrastfolie die tierische Willkür, die „nicht anders als
Vgl. dazu z. B. Willaschek (1997). In Kapitel 6 argumentiere ich dafür, dass Kants Straftheorie entgegen dem ersten Anschein vermutlich doch voraussetzt, dass die Rechtssubjekte autonom sind. Auf diese Weise charakterisiert Kant die Freiheit der Willkür zum Beispiel in der Transzendentalen Dialektik (A534/B562), dem Kanon (A802/B830) und der Einleitung zur Metaphysik der Sitten (6:213 f.). In der Grundlegung und der zweiten Kritik trifft Kant keine strikte terminologische Unterscheidung zwischen Wille und Willkür, sondern fasst beide Aspekte meist unter dem Ausdruck „Willen“ zusammen (z. B. 4:412, 427; 5:15, 89). Erst in der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant terminologisch streng zwischen Wille und Willkür (vgl. 6:213). Im Unterschied zur Willkür bezeichnet der Wille dort das Begehrungsvermögen unter der Rücksicht, dass es den „Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung“ enthält. Das Charakteristische des Bestimmungsgrundes, den der Wille der Willkür gibt, ist, dass er „in der Vernunft“ liegt. An einer späteren Stelle qualifiziert Kant diese Aussage genauer, indem er den Willen als das Vermögen bezeichnet, das
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
durch sinnliche Antriebe, d.i. pathologisch bestimmt werden“ (A802/B830) kann. Sie ist, wie Kant es nennt, „pathologisch necessitiert“ (A534/B562), d. h. durch Sinnlichkeit genötigt. Sinnliche Impulse bzw. Instinkte führen unmittelbar zu Handlungen. Die menschliche Willkür ist der tierischen ähnlich, insofern sie eine sinnliche Willkür („arbitrium sensitivum“) ist, die durch sinnliche Faktoren „affiziert“ wird. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Natur prima facie Handlungsgründe liefert: Wenn ein Mensch Hunger verspürt, dann ist er geneigt, etwas zu essen. Doch Menschen sind in der Lage, trotz Hunger die verfügbare Nahrung nicht zu essen, wenn andere Überlegungen dagegen sprechen. Die Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit besteht demnach darin, dass ein sinnlicher Antrieb die „Handlung nicht notwendig macht“ (A534/B562). Die menschliche Willkür ist dadurch ausgezeichnet, dass sie sinnliche Faktoren zwar als relevant wahrnimmt, sich jedoch von ihnen distanzieren kann. Bei dieser negativen Charakterisierung der Freiheit bleibt Kant nicht stehen. Wüssten wir nur, dass freie Handlungen nicht durch Neigungen unausweichlich bestimmt sind, bliebe die Möglichkeit offen, dass sich freie Handlungen dem Zufall verdanken. Die Alternative, dass unsere Handlungen entweder kausal determiniert oder zufällig sind, wird auch als „Hume’s Fork“ bezeichnet.⁶⁶ Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel daran, ob zufällige Handlungen Personen zurechenbar sind. Hume begründet die Unmöglichkeit der Zurechenbarkeit zufälliger Handlungen damit, dass eine zufällige Handlung keinen Zusammenhang mit dem Charakter und den Intentionen der Person aufweist, sodass man zwar die Handlung als gut oder schlecht bewerten, aber keine Rückschlüsse auf die moralischen Qualitäten der Person ziehen kann.⁶⁷ Damit eine Person eine freie, zudie „Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen“ (6:226) bereitstellt. Die Gesetze des Willens treten der Willkür als Imperative gegenüber, und es ist Aufgabe der Willkür, im Lichte dieser Imperative Maximen und Handlungen zu wählen. Insofern der Wille die Willkür bestimmen kann, bezeichnet ihn Kant als „die praktische Vernunft selbst“ (6:213). Wenn der Wille nur in dieser Funktion als gesetzgebende Instanz betrachtet wird, kann man ihm keine Freiheit zusprechen, sondern nur der Willkür (vgl. 6:226). Allerdings wird der Begriff des Willen auch in einer weiteren Bedeutung gebraucht, die das gesamte Begehrungsvermögen – also die Willkür und den Willen in seiner engeren Bedeutung – umfasst. In dieser weiteren Bedeutung ist der Wille auch in Kants Gebrauch vor der Metaphysik der Sitten zu verstehen. Vgl. Blackburn (Blackburn 1996, 180). Hume selbst schreibt: „[L]iberty, by removing necessity, removes also causes, and is the very same thing with chance“ (Treatise, Book II, Part III, zitiert nach (Hume 2000 [orig. 1739 – 40], 261 f.)). Hume schreibt: „Actions are by their very nature temporary and perishing; and where they proceed not from some cause in the characters and disposition of the person, who perform’d them, they infix not themselves upon him, and can neither redound to his honour, if good, nor infamy, if evil. The action itself may be blameable […]: But the person is not responsible for it;
2. Praktische Freiheit als Bestimmbarkeit durch Imperative
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rechenbare Handlung vollziehen kann, braucht sie positive Entscheidungskriterien, die so zu ihr als Person gehören, dass ihr die resultierende Handlung zugerechnet werden kann. Der kantische Vorschlag entgeht insofern „Hume’s Fork“, als er freies Handeln einerseits unabhängig von Naturursachen versteht (der negative Aspekt der Freiheit soll also die Determiniertheit ausschließen), und andererseits als geleitet durch die eigene Vernunft (und somit als nicht zufällig). Wir können unmittelbare Handlungsimpulse zurückstellen, um unser Handeln nach dem auszurichten, was wir für vernünftig halten. Welcher Art vernünftige Überlegungen sein können, die unsere Freiheit ausmachen, beschreibt Kant folgendermaßen: Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficiert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich und schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese giebt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d.i. objective Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden (A802/B830).
Vernünftige Überlegungen betreffen also das, was „gut und nützlich“ ist, und treten uns in Form von Imperativen gegenüber. Imperative sind Sätze, die ein „Sollen“ ausdrücken, also normative Kraft besitzen, beispielsweise: „Wenn du ein Brot backen willst, musst du dafür Mehl besorgen“ oder „Du sollst nicht lügen“. Praktische Freiheit als die Fähigkeit zum vernünftigen Handeln ist nach Kant also gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum Handeln nach Imperativen. Den Verweis auf das Gute und Nützliche kann man als Anspielung auf die zwei Klassen von Imperativen lesen, die Kant erst in der Grundlegung genau bestimmt: Nützlichkeitserwägungen kommen in hypothetischen Imperativen zum Tragen, während der kategorische Imperativ Aufschluss darüber gibt, was das unbedingt Gute ist. Hypothetische Imperative formulieren, welche Mittel für die Erreichung von bestimmten Zwecken geeignet und nützlich sind. Alle hypothetischen Imperative beziehen ihren verpflichtenden Charakter aus dem Prinzip: „Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Ein-
and as proceeded from nothing in him, that is durable or constant“ (Treatise, Book II, Part III, 264). In der neueren Debatte um Willensfreiheit formuliert etwa Robert Kane das entsprechende „Luck Principle“: „If an action is undetermined at a time t, then its happening rather than not happening at t would be a matter of chance or luck, and so it could not be a free and responsible action“ (Kane 1999, 299).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
fluß hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“ (4:417). Die Mittel, die ein hypothetischer Imperativ vorschreibt, werden als „gut“ erachtet, allerdings lediglich im Hinblick auf die Erreichung eines Zwecks. Es gibt jedoch auch das „schlechthin“ Gute (vgl. 5:59 f.), das nicht nur als Mittel zu etwas anderem, sondern „an sich“ gut ist. Kant identifiziert den „guten Willen“ als das Einzige, das „ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden“ (4:393), und der gute Wille ist ein solcher, der aus Pflicht moralisch gut handelt. Es sind also moralische – und das heißt für Kant auch: kategorische – Imperative, in deren Gestalt uns die Vernunft sagt, was zu tun gut ist. Der positive Aspekt der praktischen Freiheit besteht also darin, dass wir uns durch hypothetische und kategorische Imperative in unserem Handeln leiten lassen können. Der freie Wille ist demnach die Fähigkeit, nach Imperativen zu handeln. Man kann diesen Zusammenhang einerseits so beschreiben, dass die Gültigkeit von Imperativen Freiheit voraussetzt, denn nur Subjekte, die frei sind, d. h. in der Lage, von ihren unmittelbaren Neigungen Abstand zu nehmen und sich durch Vernunft bestimmen zu lassen, können sich durch Imperative in ihrem Handeln leiten lassen.⁶⁸ Andererseits ist es ebenso zutreffend, dass Freiheit in der Bestimmbarkeit durch Imperative besteht, denn der positive Aspekt von Freiheit ist nichts anderes als die Bestimmbarkeit durch Imperative.
3. Freies Handeln nach Maximen – Die Inkorporationsthese Ein Imperativ als Prinzip, das besagt, was wir tun sollen, sagt nichts darüber aus, wie wir tatsächlich handeln. Die Grundsätze, nach denen wir tatsächlich handeln, bezeichnet Kant als Maximen (4:420 f., Anm. 2). Sie formulieren,wie die Person zur Erreichung bestimmter Zwecke bzw. in bestimmten Situationen handelt bzw. handeln will, etwa: „Ich will Handlung H tun, um den Zweck Z zu erreichen“⁶⁹ (ein gutes Beispiel Kants dafür ist die Maxime „Ich will alle sicheren Mittel ergreifen, um mein Vermögen zu vergrößern“ (vgl. 5:27)) oder: „In Situationen eines bestimmten Typs will ich Handlungen eines bestimmten Typs vollziehen“⁷⁰ (z. B.
In Bezug auf den kategorischen Imperativ macht Kant diesen Punkt in der zweiten Kritik, wenn er sagt, dass Freiheit die „ratio essendi“ des Gesetzes ist (5:4, Anm.). So versteht auch Korsgaard die Form einer Maxime: „A maxim of action will […] usually have the form „I will do Action-A in order to achieve Purpose-P“ (Korsgaard 1996a, 57 f.). So z. B. Allison: „[A] maxim may be characterized as a self-imposed, practical principle or rule of action of the form: When in S-type situations, perform A-type actions“ (Allison 1990, 89 f.).
3. Freies Handeln nach Maximen – Die Inkorporationsthese
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„wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen“ (4:422)). Im Handeln nach Maximen drückt sich Freiheit aus, da ein Subjekt Maximen nicht einfach „hat“, sondern sie sich aktiv „macht“ (z. B. 4:422, 5:26 f., 5:36). Eine Maxime ist eine Regel, „die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht“ (6:21, H.v.m.). Inwiefern das so ist, wird insbesondere in einer Passage in der Religionsschrift deutlich, die die sogenannte „Inkorporationsthese“ (Allison 1990, 40) enthält: [D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen (6:23 f.).
Die Inkorporationsthese impliziert sowohl das negative als auch das positive Moment der Freiheit, wobei nur das negative Moment in der Passage explizit genannt wird: Der Mensch lässt sich von seinen sinnlichen Triebfedern nicht unmittelbar bestimmen; er handelt nach ihnen nicht wie nach Instinkten. Das positive Moment der Freiheit liegt darin, dass Triebfedern nur durch einen Akt der Akzeptanz des Subjekts, nämlich vermittelt durch Maximen, handlungswirksam werden, die auf der „Mitwirkung der Vernunft“ (4:427) beruhen. Die Rolle der Vernunft kann man hier im Sinne des oben genannten positiven Aspekts der Freiheit so verstehen, dass das Subjekt auf der Grundlage von hypothetischen und kategorischen Imperativen seine Maximen wählt.⁷¹ Nach Kant sind nur Handlungen, die aus Maximen folgen, zurechenbar. So muss man bei einem Verbrecher, dem man eine pflichtwidrige Handlung zurechnen will, eine Maxime voraussetzen: Eine jede Übertretung des Gesetzes kann und muß nicht anders als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich eine solche Unthat zur Regel zu machen) entspringe;
In diesem Sinne meint Steigleder, dass „Maximen die subjektiven Realisierungen von Imperativen, das Resultat der Aneignung ihrer Forderung sein können“ (Steigleder 2002, 125). Nach Steigleder ist es allerdings auch umgekehrt so, dass ein hypothetischer Imperativ „für jemanden nur gilt, weil der Betreffende dieses oder jenes will (diese oder jene Maxime hat)“, das heißt, aus „der Maxime, die jemand tatsächlich hat, erwächst ihm dieser oder jener (hypothetische) Imperativ“ (Steigleder 2002, 125). Ich würde Steigleder zustimmen, dass eine Maxime der Grund sein kann, warum für jemanden ein hypothetischer Imperativ gilt, aber mir scheint, dass nicht alle hypothetischen Imperative, die eine Person für sich als gültig anerkennt, auf Maximen zurückgehen, sondern dass manche Imperative nur voraussetzen, dass eine Person einen bestimmten Zweck verfolgen will.
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denn wenn man sie von einem sinnlichen Antrieb ableitete, so wäre sie nicht von ihm, als einem freien Wesen, begangen und könnte ihm nicht zugerechnet werden (6:321, H.v.m.).
Dieses Zitat macht deutlich, dass nach Kant zurechenbare Handlungen nach (mindestens) einer Maxime geschehen. Entscheidungen bzw. Handlungen, die nach vernünftiger Überlegung vollzogen werden, liegt deshalb eine Maxime zugrunde, da vernünftig zu entscheiden bzw. zu handeln bedeutet, aus einem allgemeinen Grund zu handeln, der auch in anderen, in relevanter Hinsicht ähnlichen Situationen gilt. Das Handeln nach Maximen ist deshalb eine notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit einer Handlung, da sich darin praktische Freiheit ausdrückt. Man kann jedoch nicht ohne Weiteres sagen, dass das Handeln nach Maximen auch hinreichend für die moralische Zurechenbarkeit der Handlung ist, denn schließlich könnte es auch rein zweckrationale Wesen geben, die nach Maximen handeln, aber nicht moralisch zurechnungsfähig sind. Wenn es sich jedoch um ein autonomes Subjekt handelt, von dem Kant annimmt, dass es seine Maximen unter moralischem Anspruch wählt (vgl. 5:29), lässt sich sagen, dass jede Handlung, die nach einer Maxime geschieht, zurechenbar ist.
4. Transzendentale Freiheit als ein Aspekt praktischer Freiheit Nun haben wir vor Augen, was Kant unter der praktischen Freiheit der menschlichen Willkür versteht. Doch der „eigentliche Grund“ der Zurechnung ist nach Kant transzendentale Freiheit, von der nun gezeigt werden soll, worin sie besteht und wie sie sich zur bisher beschriebenen praktischen Freiheit verhält. Auch transzendentale Freiheit als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“ (A533/B561) besitzt einen negativen und einen positiven Aspekt, die beide miteinander verknüpft sind: Ein Ereignis ist transzendental frei, wenn es (negativ) unabhängig von zeitlich vorhergehenden Ursachen geschieht und insofern es (positiv) spontan, „von selbst“, anfängt. Freiheit ist in dieser Bedeutung, so Kant, eine „reine transzendentale Idee“ (A533/B561) und als solche kein Gegenstand der Erfahrung. Im Gegensatz dazu meint Kant, dass praktische Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden“ kann (B830): Die Fähigkeit, von unmittelbaren Handlungsimpulsen Abstand zu nehmen und sich durch vernünftige Überlegungen leiten zu lassen, können wir an uns selbst beobachten. Dennoch sieht Kant einen engen Zusammenhang zwischen transzendentaler und praktischer Freiheit. So sagt er, dass „die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“ würde (A534/B562) und sich
4. Transzendentale Freiheit als ein Aspekt praktischer Freiheit
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„auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe“ (A533/B561). Diese beiden Behauptungen – einerseits die empirische Beweisbarkeit praktischer Freiheit und andererseits ihr Bezug auf nicht-empirische, transzendentale Freiheit – stehen in Spannung zueinander: Es stellt sich die Frage, inwiefern praktische Freiheit einerseits als empirisches Phänomen verstanden werden kann und worin andererseits ihr „transzendentaler“ Aspekt bestehen könnte. Der Zusammenhang von praktischer und transzendentaler Freiheit wird in der Kant-Forschung kontrovers diskutiert.⁷² Im Folgenden soll gezeigt werden, dass praktische Freiheit als eine Form transzendentaler Freiheit verstanden werden kann, insofern sie als eine Fähigkeit aufgefasst wird, die neben einem empirischen auch einen transzendentalen Aspekt aufweist. Diese Interpretation des Zusammenhangs von praktischer und transzendentaler Freiheit basiert auf der Konzeption von transzendentaler Freiheit im weiten Sinn, d. h. als Fähigkeit, sich nach hypothetischen und kategorischen Imperativen richten zu können. Der negative und der positive Aspekt der beiden Freiheitsbegriffe lassen sich aufeinander abbilden. In der Transzendentalen Dialektik heißt es, dass Vernunft und Verstand „von allen empirischbedingten Kräften unterschieden“ (A546 f./ B574 f.) sind und der Mensch aufgrund dieser Vermögen als „bloß intelligibeler Gegenstand“ gelten kann (ebd.). Dies deutet darauf hin, dass der negative Aspekt transzendentaler Freiheit, die Unabhängigkeit von empirischen Ursachen, für Verstand und Vernunft im weiten Sinn gegeben ist. Noch deutlicher wird dies bei der Beschreibung des positiven Aspekts: Daß diese Vernunft nun Causalität habe, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt (A547/B575).
Hier spricht Kant vom Sollen allgemein, ohne zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen zu unterscheiden. Vom Sollen allgemein sagt er, dass es kein empirisches Phänomen ist. Diese Passage unterstützt demnach die Interpretation transzendentaler Freiheit im weiten Sinn, die den transzendental freien Willen als Fähigkeit versteht, nach einem vernünftigen Sollen, d. h. nach hypothetischen und kategorischen Imperativen zu handeln.
Die Studie von Dieter Schönecker widmet sich ausschließlich diesem Thema und gibt sowohl einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen als auch die genaueste Analyse des Problems (Schönecker 2005).
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Doch es muss noch die Frage beantwortet werden, warum für eine Beschreibung von Entscheiden und Handeln nach hypothetischen und kategorischen Imperativen der Begriff der „transzendentalen“ Freiheit bemüht werden sollte. Es gibt moderne Theorien der Willensfreiheit, die den freien Willen ähnlich beschreiben (Frankfurt 1971; Watson 1975; Nagel 1986) und dabei ohne Rekurs auf etwas „Nicht-Empirisches“ auskommen. Diese Ansätze sehen den Kern von Willensfreiheit darin, dass sich die Person von ihren unmittelbaren Neigungen und Wünschen distanzieren kann, um dann auf der Grundlage anderer Wünsche (Frankfurt 1971) bzw. normativer Maßstäbe (Watson 1975) zu reflektieren, welche Wünsche handlungswirksam werden sollen. Warum sollte diese vernünftige Fähigkeit nicht als natürliche, empirische Fähigkeit beschrieben werden können?⁷³ Zwei Aspekte scheinen für die Beantwortung dieser Frage eine Rolle zu spielen: Zum einen versteht Kant das Natürliche bzw. Empirische als das, was Naturgesetzen gehorcht. Vernünftige Entscheidungen hingegen sind nicht allein durch Naturgesetze erklärbar, sondern folgen aus eigenen, eben vernünftigen Prinzipien, die logischen und semantischen Bedingungen unterliegen. Auch eine aus zweckrationalen Gründen gewählte Handlung geschieht nicht bloß aufgrund von empirischen Gesetzen, sondern nur insofern sie der Handelnde aufgrund vernünftiger Überlegung für gerechtfertigt und in Übereinstimmung mit seinen sonstigen Zwecken hält. Insofern dient die transzendentale Beschreibungsebene dazu, den kategorialen Unterschied zu bloß naturgesetzlichem Geschehen zu markieren.⁷⁴ Zum anderen kann nur die Beschreibung der vernünftigen Fähigkeit als transzendentaler Freiheit offen halten, dass die vernünftigen Entscheidungen wirklich in letzter Instanz unser Handeln bestimmen. Nur die transzendentale
Allison stellt diese Frage auch (Allison 1990, 36) und beantwortet sie unter Rückgriff auf die Inkorporationsthese: Das Aufnehmen einer Triebfeder in eine Maxime wird nach Allison „nur gedacht, nicht erfahren“ (Allison 1990, 38). Die entsprechenden geistigen Tätigkeiten – das Akzeptieren von Neigungen im Lichte normativer Überlegungen – kann man nach Allison nicht durch Introspektion beobachten, sondern nur denken (vgl. Allison 1990, 118). Die Vorstellung, dass wir Triebfedern in Maximen inkorporieren, ist keine empirische Hypothese, sondern eine Voraussetzung, die wir machen müssen, insofern wir uns für rationale Wesen halten. Meines Erachtens ist diese Beschreibung des transzendentalen Aspekts der Freiheit nicht ganz überzeugend. Wie bereits erwähnt, gesteht Kant der Freiheit ein erfahrbares Moment zu, wenn er sagt, dass praktische Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden“ (A802/B830) kann. Wir können durch Selbstbeobachtung feststellen, dass wir Abstand von unmittelbaren Neigungen nehmen und uns fragen können, ob das Handeln danach „gut und nützlich“ für uns ist. Es bleibt in Allisons Beschreibung unklar, warum über diese Erfahrung praktischer Freiheit hinaus noch etwas angenommen werden soll, das „nicht erfahren, sondern nur gedacht“ werden kann. Vgl. ähnlich auch Willaschek 1992, 97, 219.
4. Transzendentale Freiheit als ein Aspekt praktischer Freiheit
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Beschreibungsebene erlaubt es, von Erstursächlichkeit durch vernünftige Entscheidung zu sprechen, denn andernfalls könnte die vernünftige Entscheidung nur eine Ursache in einer unendlichen Kette natürlicher Ursachen sein. Dieses Problem spricht Kant im Kanon an, wo er es als offene Frage formuliert, [o]b aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge (A803/B831).
Wenn vernünftige Überlegungen in letzter Instanz gar nicht mein Handeln bestimmen, wären sie ein bloßes Epiphänomen. Beispielsweise könnte meine Überlegung durch momentane Müdigkeit oder ähnliche psychische und physiologische Ursachen stark beeinflusst sein, obwohl ich mir dessen gar nicht bewusst bin (vgl. Mieth/Rosenthal 2006, 253). Erst die Annahme transzendentaler Freiheit eröffnet die Möglichkeit, dass meine vernünftigen Überlegungen nicht selbst von natürlichen Ursachen abhängen. Deshalb sagt Kant in der Dialektik, dass auf dem transzendentalen Begriff der Freiheit „der praktische Begriff derselben gründe“ (A553/B561) und die „Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“ (ebd.) würde.⁷⁵ Auf der Grundlage des Gesagten liegt eine „Zwei-Aspekte-Lesart“ der praktischen Freiheit nahe: Der „volle“ praktische Freiheitsbegriff besitzt einen transzendentalen und einen empirischen Aspekt. In der Dialektik spricht Kant von transzendental-praktischer Freiheit, während er im Kanon, wenn er von der empirischen Beweisbarkeit praktischer Freiheit spricht, bloß den empirischen Aspekt, empirisch-praktische Freiheit, betrachtet.⁷⁶ Was wir in der Erfahrung beweisen können, ist die empirische Seite bzw. Erscheinung des Vermögens, sich durch Vernunft (im weiten Sinn) bestimmen zu lassen. Der transzendentale Aspekt praktischer Freiheit ist deshalb für Zurechnung von größter Bedeutung, weil er Erstursächlichkeit ermöglicht. Um einer Person nämlich eine Handlung zurechnen zu können, darf man sie bzw. ihren Willen nicht als Glied einer unendlichen Reihe von Ursachen verstehen, sondern muss sie als erste Ursache der Handlung betrachten. Während es bei naturkausalen Handlungserklärungen immer möglich ist, nach der Ursache der Ursache zu Diese Passagen stellen für Interpreten, die die engere Konzeption transzendentaler Freiheit als Autonomie vertreten, ein größeres Problem dar. Vaida beispielsweise bezeichnet diese Aussagen als „Fehler“ Kants (Vaida 2011, Anm. 10). Diese Unterscheidung entspricht Willascheks Unterscheidung zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff praktischer Freiheit (vgl. Willaschek 1992, 100) und Schöneckers Unterscheidung zwischen transzendental-praktischer und naturalisierter praktischer Freiheit (Schönecker 2005, 19).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
fragen, findet die Frage nach den vernünftigen Gründen der Person schon viel früher an ihr sinnvolles Ende. Vernünftige Handlungsbegründung und naturkausale Handlungserklärung unterscheiden sich demnach hinsichtlich der Möglichkeit, immer weiter nach Ursachen bzw. Gründen fragen zu können (vgl. Willaschek 1992, 107 f.). Die Konzeption praktischer als transzendentaler Freiheit erlaubt es demnach, die Person als erste Ursache, d. h. als Urheber, ihrer Handlung zu sehen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, inwiefern sich die Freiheit eines zweckrationalen von der eines moralischen Subjekts unterscheidet. So wird deutlich, dass nur die Fähigkeit, nach kategorischen Imperativen zu handeln, unbedingte Freiheit mit sich führt. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum Kant in seinen späteren Werken transzendentale Freiheit nur im engeren Sinn als Autonomie verstanden haben könnte.⁷⁷ Es wird sich jedoch zeigen, dass man auch bei prudentieller Zurechnung einer unklugen Handlung transzendentale Freiheit voraussetzen muss, solange man annimmt, dass die Person hätte anders, nämlich klug, handeln können.
5. Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit Für ein Verständnis des für Zurechnung notwendigen Freiheitsbegriffs ist es nicht nur wichtig, die Gemeinsamkeiten von Zweckrationalität und Moralität zu sehen, sondern auch, worin sie sich unterscheiden. Bisher wurde das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt: Zweckrationale und moralische Wesen können sich durch Imperative, durch vernünftiges „Sollen“ selbst bestimmen, anstatt unmittelbar durch Neigungen bestimmt zu werden. Doch ist ein Subjekt, das lediglich zweckrational nach hypothetischen Imperativen handeln kann, im selben Sinn frei, wie ein Subjekt, das auch den moralischen Standpunkt einnehmen kann? Damit verknüpft ist die Frage, ob wir einem lediglich zweckrationalen Subjekt in derselben Weise seine Handlung zurechnen wie einem, das zu moralischen Überlegungen fähig ist. Das ist sicherlich nicht der Fall, vielmehr kann man einem bloß zweckrationalen Subjekt seine Handlungen auch nur prudentiell, nicht
Einen Hinweis darauf findet man in der zweiten Kritik: Mit dem Vermögen der reinen praktischen Vernunft, so meint Kant dort, „steht auch die transzendentale Freiheit nunmehr fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die speculative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Causalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten“ (5:3). Dies klingt fast wie eine Identifikation transzendentaler Freiheit mit Autonomie, wenngleich bei näherem Hinsehen nur erstere als notwendige Bedingung für letztere behandelt wird.
5. Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit
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moralisch, zurechnen. Die folgenden Überlegungen werden den Grund dafür deutlich machen. In der Religionsschrift unterscheidet Kant drei „Anlagen zum Guten in der menschlichen Natur“: die Anlage für die „Thierheit des Menschen, als eines lebenden“, für die „Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen“ und für die „Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“ (6:26). Mit dieser Formulierung macht Kant nicht explizit, dass es ihm um moralische Zurechnung geht, doch dies wird durch die Charakterisierung der Anlage für die Persönlichkeit als „Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz“ (6:27) deutlich. In der entsprechenden Fußnote betont Kant, dass die Anlage zur Persönlichkeit, d. h. die moralischen Fähigkeiten, noch nicht aus der Anlage zur Menschheit, also aus zweckrationalen Fähigkeiten, folgt: [E]s folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualification ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen und also für sich selbst praktisch zu sein […]. Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt, zu ahnen (6:26).
Kants These in diesem Abschnitt ist, dass ein Wesen, das instrumentelle Vernunft besitzt – also überlegen kann, welchen Zweck es verfolgen will, um die „größte Summe der Triebfedern“ zu befriedigen und was die Mittel dafür sind, diesen Zweck zu erreichen – nicht notwendig in der Lage ist, auch moralische Überlegungen anzustellen. Die Begründung zielt auf die kategorial unterschiedlichen Triebfedern ab, die zweckrationale und moralische Handlungen motivieren. Zweckrationale Handlungen dienen dazu, „Objecte[ ] der Neigung“ zu verwirklichen, wobei die Motivation zu der Handlung eine sinnliche Triebfeder ist, die darauf zurückgeht, dass das Objekt der Neigung begehrt wird. Eine moralische Handlung hingegen ist von keiner sinnlichen Triebfeder abhängig, sondern beruht darauf, dass Vernunft „für sich selbst praktisch“ ist und nur das „Gesetz“ selbst zur Handlung motiviert. Diesen Unterschied kann man als Unterschied in der negativen Freiheit des Handlungssubjekts auffassen: Die Bestimmbarkeit durch das moralische Gesetz bedeutet, dass ein Subjekt von allen Neigungen unabhängig entscheiden und sich durch das Gesetz allein bestimmen lassen kann. Ein berühmtes Beispiel aus der Kritik der praktischen Vernunft illustriert dies: Wenn man unter Androhung der
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Todesstrafe dazu gezwungen werden soll, „ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann“ abzulegen (5:30), ist man nach Kant in der Lage, dennoch die Wahrheit zu sagen. Selbst die stärkste aller Neigungen, der Wille zum Leben, lässt sich demnach zurückstellen, wenn sie einer moralisch gebotenen Handlung widerspricht. Die Möglichkeit, moralisch zu handeln, zeigt Kant zufolge, dass es nicht-empirische Handlungsgründe gibt, die nichts mit unseren sinnlichen Neigungen zu tun haben. Wenn sich der Wille durch solche Gründe bestimmen lässt, ist er in einem absoluten Sinn unabhängig von Neigungen und damit auch von Naturursachen. Im Gegensatz dazu ist ein Subjekt, das sich nur durch zweckrationale Überlegungen leiten lässt, von Neigungen insofern abhängig, als seine Motivation zum Handeln immer auf „Objecte[] der Neigung“ bezogen ist. Die Freiheit, die mit dem Handeln nach hypothetischen Imperativen einhergeht, ist daher nur relative, bedingte Freiheit. Entsprechend meint Kant, dass die Vernunft beim zweckrationalen Handeln als „Administrator“ (vgl. 4:441) im „Dienste der Neigungen“ (5:25) steht.⁷⁸ In diesem Sinn ist auch die Konzeption von Urheberschaft, die mit Zweckrationalität einhergeht, relativ und bedingt. Doch wie passt dies zu der zuvor vertretenen These, dass eine Person, die nach hypothetischen Imperativen handelt, als „erste Ursache“ gesehen werden kann? Die dieser These zugrundeliegende Idee ist, dass die Person einen vernünftigen Grund für ihre Entscheidung hat, nach dessen natürlichen Ursachen nicht mehr weiter gefragt werden kann. Diese Idee trifft weiterhin zu, denn keine einzelne Neigung (und vielleicht noch nicht einmal die Summe aller Neigungen) einer Person determiniert das Ergebnis zweckrationaler Abwägung. Insofern dieses Ergebnis von der Überlegung der Person abhängt, ist sie erste Ursache der Entscheidung bzw. Handlung; insofern jedoch das „Material“, der Inhalt der zweckrationalen Entscheidung, etwas Gegebenes ist, ist die Entscheidung empirisch bedingt. Die Person kann sich relativ
Mieth und Rosenthal meinen deshalb, dass der Wille nicht „negativ frei“ ist, wenn er sich von hypothetischen Imperativen bestimmen lässt (Mieth/Rosenthal 2006, 264). Sie argumentieren, dass das Handeln nach hypothetischen Imperativen zeigt, dass die Person frei im Sinne der „Freiheit als Rationalität“ ist, weil sie nach einem „Sollen“ handelt, aber keine negative Freiheit oder Freiheit als Spontaneität (geschweige denn Freiheit als Autonomie) besitzt (Mieth/ Rosenthal 2006, 265). Ich stimme der Ansicht zu, dass das Problem der Freiheit, die mit hypothetischen Imperativen verbunden ist, darin besteht, dass empirische Zwecke aufgrund von Neigung verfolgt werden, die nach Kant letztlich naturgesetzlich verursacht sind. Anders als Mieth und Rosenthal würde ich dennoch die negative Freiheit und das Moment der Spontaneität betonen, die zweckrationales Handeln auszeichnen. Denn schließlich bestimmen die Neigungen im Fall der Zweckrationalität das Subjekt nicht alleine, sondern werden nur vermittels der zweckrationalen Überlegung handlungswirksam, was eine gewisse (eben relative) Unabhängigkeit von Neigungen, d. h. negative Freiheit, impliziert.
5. Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit
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zu bestimmten Gegebenheiten, inhaltlich bedingt durch manche ihrer Neigungen, dennoch selbst positionieren und sich für eine Handlung entscheiden. Erst die Möglichkeit, nach kategorischen Imperativen zu handeln, ermöglicht eine Konzeption absoluter, unbedingter Urheberschaft. Eine Person, die sich nach einem kategorischem Imperativ richtet, kann ebenso wie eine Person, die nach einem hypothetischen Imperativ handelt, als „erste Ursache“ ihrer Handlung gesehen werden, weil nach den natürlichen Ursachen des vernünftigen Grundes nicht mehr weiter gefragt werden kann. Doch im Fall des kategorischen Imperativs ist das „Material“, der Inhalt der moralischen Entscheidung, für die Person nicht etwas Gegebenes. Sie kann sich, nicht bedingt durch Neigungen, ganz „von selbst“ für eine Handlung entscheiden. Diese Idee absoluter Urheberschaft eröffnet auch die Möglichkeit, von der Verantwortung für den eigenen Charakter zu sprechen. Kant vertritt die These, dass die Zurechnung einer Handlung letztendlich darauf zurückzuführen ist, dass sie aus dem eigenen Charakter folgt, den man sich „selbst verschafft“ (5:98). Wie man seinen eigenen Charakter durch die eigenen Handlungen wählt, ist Gegenstand des dritten Kapitels. Hier lässt sich jedoch festhalten, dass die Wahl seines eigenen Charakters nur dann möglich ist, wenn es ein Wahlkriterium gibt, das von allen Gegebenheiten des eigenen Charakters unabhängig ist. Dies ist nach Kant das moralische Gesetz. Ein rein zweckrationales Wesen kann sich demnach seinen Charakter nicht selbst verschaffen und ist auch nicht in derselben Weise Urheber der Handlungen, die durch diesen Charakter nahegelegt werden. So wird verständlich, warum es nicht möglich ist, einem bloß zweckrationalen Wesen, das nur nach hypothetischen Imperativen handeln kann, seine Handlungen moralisch zuzurechnen. Es sind Situationen denkbar, in denen ein bloß zweckrationales Subjekt Mittel zur Erreichung seiner unmoralischen Zwecke ergreift, und gar nicht in der Lage ist, die zweckrationale Überlegung durch die Erkenntnis zu korrigieren, dass der unmoralische Zweck aufgegeben werden muss. Gemäß Kants Überzeugung, dass Sollen Können impliziert⁷⁹ – dass ein Subjekt nur dann zu etwas verpflichtet ist, wenn es diese Verpflichtung auch erfüllen kann –, kann man von dem bloß zweckrationalen Subjekt nicht verlangen, dass es moralisch handelt, und deshalb
Diese Überzeugung kommt beispielsweise zum Ausdruck, wenn Kant schreibt: „Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll“ (5:30). Kant möchte damit sagen, dass die Anerkennung einer Verpflichtung impliziert, dass man dieser Verpflichtung auch nachkommen kann. Andernfalls dürfte man die Verpflichtung für sich selbst nicht als gültig begreifen. Ähnlich auch: „wir sollen bessere Menschen werden, […] folglich müssen wir es auch können“ (6:45).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
darf man ihm die unmoralische, aber zweckrationale Handlung auch retrospektiv nicht moralisch zurechnen. Retrospektiv drückt sich die These, dass Sollen Können impliziert, darin aus, dass eine Person eine unvernünftige Handlung hätte unterlassen können. Im Folgenden möchte ich die Bedingung, dass die Person auch hätte anders handeln können, genauer untersuchen. Dabei wird im Einklang mit dem bisher Gesagten deutlich, dass prudentielle und moralische Zurechnung sich darin gleichen, dass sie beide voraussetzen, dass die Person hätte anders handeln können, aber sich darin unterscheiden, dass sie diese Voraussetzung unterschiedlich stark verstehen. Um dies zu erläutern, bietet sich das Argument an, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft anführt, um seinen transzendentalen Freiheitsbegriff gegen empirische Freiheitsbegriffe zu verteidigen.
5.1 Die Möglichkeit, dass man hätte anders handeln können – Kants „Konsequenzargument“ In der Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant ein Argument vor, das die Notwendigkeit transzendentaler Freiheit für Zurechnung begründen soll. Dieses Argument ist in neuerer Zeit als „Konsequenzargument“ bekannt geworden (vgl. van Inwagen 1983) und soll zeigen, dass unter der Prämisse, dass jede Handlung notwendig aus zeitlich vorhergehenden empirischen Ursachen folgt, freie Handlungen unmöglich sind. Kants Argument verläuft folgendermaßen: Aus der „Nothwendigkeit im Causalverhältnisse“ folgt, daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, nothwendig sein, d.i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei (5:94).
Das Argument beruht auf folgenden Prämissen: Erstens folgt jede Handlung, die durch Naturkausalität bestimmt wird, notwendig aus einem vorigen Zustand. Zweitens sind vergangene Zustände nicht in meiner Gewalt. Aus diesen beiden Prämissen folgt, dass jede Handlung durch Gründe notwendig gemacht wird, die nicht in meiner Gewalt sind. Fügt man noch die impliziten Prämissen hinzu, dass erstens die notwendigen Konsequenzen dessen, was nicht in meiner Gewalt ist, ebenfalls nicht in meiner Gewalt sind, und dass zweitens eine Handlung genau
5. Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit
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dann frei ist, wenn sie in meiner Gewalt ist, dann folgt, dass eine Handlung, die durch Naturkausalität bestimmt wird, nicht frei ist.⁸⁰ Kants Begriff des Anderskönnens tritt zutage, wenn die Forderung, die Handlung solle „in meiner Gewalt“ sein, damit sie frei ist, betrachtet wird. Kant rahmt das Argument durch die Überlegung ein, dass wir annehmen müssen, dass die handelnde Person eine Handlung, die das Gesetz verletzt, „hätte unterlassen können“ (5:98). Es geht ihm demnach um die Frage, ob der Person alternative Handlungsmöglichkeiten offenstanden. Die Möglichkeit, anders handeln zu können, ist für Kant jedoch nicht per se zentrales Charakteristikum von Freiheit.⁸¹ Es muss insbesondere keine alternativen Handlungsmöglichkeiten geben, wenn eine Person das moralisch Gute tut. Kant meint, dass ein Mensch „desto freier ist“, „je mehr er […] moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden“ (6:382, Anm.), d. h. je stärker ihn die Pflicht von Alternativen zur moralischen Handlung abbringt. Alternative Handlungsmöglichkeiten sind nur insofern relevant für Freiheit und Zurechnung, als die Person die Möglichkeit besitzen muss, die unvernünftige, das Gesetz verletzende Handlung zu unterlassen. Dieser Zusammenhang von Freiheit und Anderskönnen wird noch deutlicher, wenn der Zusammenhang von Gesetz und Zurechnung berücksichtigt wird. Kant geht davon aus, dass die Zurechnung einer Handlung in Bezug auf ein Gesetz erfolgt, d. h. dass die Handlung anhand eines normativen Maßstabs bewertet werden kann. Dies ist aber nur dann angemessen, wenn die Person auch in der Lage ist, das Gesetz zu befolgen. Der Zusammenhang von Gesetz und Zurechnung bzw. Freiheit ist demnach: Eine Person muss die Art von Freiheit besitzen, die notwendig ist, damit sie das Gesetz befolgen kann – nur dann kann ihr die Handlung gemäß diesem Gesetz zugerechnet werden. Wenn es nun prospektiv heißt, dass die Person nach dem Gesetz handeln soll und sie dies entsprechend können muss, dann heißt es retrospektiv, dass sie nach dem Gesetz hätte handeln sollen und dies auch hätte tun können. Deshalb impliziert „Sollen“ nicht nur in prospektiver Hinsicht Können, sondern auch in retrospektiver Hinsicht – im Fall der Missachtung des Sollens – Anderskönnen. Freiheit als Fähigkeit, nach vernünftigen Imperativen handeln zu können, impliziert also, dass eine vergangene Handlung, die einem vernünftigen Imperativ widerspricht, hätte unterlassen werden können.
Vgl. zur Analyse dieses Arguments auch Willaschek 2008. Damit unterscheidet sich Kants Freiheitskonzeption wesentlich von vielen modernen Zugängen (z. B. van Inwagen 1983), die die Existenz von alternativen Handlungsmöglichkeiten als notwendige Bedingung für Freiheit sehen. Vgl. für eine Diskussion zur Rolle von Handlungsalternativen bei Kant Timmermann (2003, 45 – 65).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Die Überzeugungskraft dieses Arguments ist unabhängig von der Frage, ob man den naturkausalen Determinismus als Bedrohung für Freiheit und Anderskönnen ansieht. In neuerer Zeit wird versucht, Anderskönnen auch unter der Voraussetzung eines durchgängigen naturkausalen Determinismus als möglich zu erweisen,⁸² doch Kant ist überzeugt davon, dass wir unter dieser Voraussetzung niemals hätten anders handeln können, als wir es tatsächlich taten. Denn wenn eine Handlung als Teil einer unendlichen Reihe von Naturereignissen notwendig geschieht, ist es unmöglich, dass eine gesetzeswidrige Handlung „hat unterbleiben können“ (5:95). Folglich zählt für Kant ein empirischer, ‚comparativer‘ Freiheitsbegriff nur als „Freiheit eines Bratenwenders […] der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (5:97) – doch dem Bratenwender kann man seine Handlungen nicht vorwerfen, weil er nie hätte anders handeln können, als er es tatsächlich getan hat. Auch wenn es Kant im Kontext des Konsequenzarguments um die Freiheit geht, „die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß“ (5:96), d. h. um Freiheit als Autonomie, muss die Bedingung des Anderskönnens auch für die Zurechnung nach hypothetischen Imperativen vorausgesetzt werden. Insofern auch die Zurechnung gemäß hypothetischer Imperative die Fähigkeit voraussetzt, dass die Person die unvernünftige, unkluge Handlung hätte unterlassen können, und Kant transzendentale Freiheit als Bedingung für Anderskönnen sieht, sind die folgenden Überlegungen ein Argument dafür, auch die Fähigkeit zweckrationalen Handelns als transzendentale zu beschreiben, d. h. die erste Konzeption transzendentaler Freiheit im weiten Sinn zu vertreten. Angenommen, man wirft einer Person unkluges Verhalten vor, etwa indem man sagt: „Es war dumm von dir, nicht für die Prüfung zu lernen und stattdessen in den Urlaub zu fahren, obwohl du die Prüfung bestehen wolltest!“, dann beruht dieser Tadel auf der Verletzung des hypothetischen Imperativs: „Wenn du die Prüfung bestehen willst, musst du dafür lernen“. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, den prudentiellen Tadel zu verstehen: Erstens als Tadel mit retrospektivem Aspekt oder zweitens mit ausschließlich prospektivem Charakter. Die erste Möglichkeit impliziert, dass die Person, die den Zweck hat, die Prüfung bestehen zu wollen, auch nach dem hypothetischen Imperativ hätte handeln können. Der retrospektiv gerichtete Tadel setzt voraus, dass die Person in der Lage gewesen wäre, sich nach ihren vernünftigen Einsichten zu richten, anstatt nach ihrer momentan stärksten Neigung, in den Urlaub zu fahren, zu handeln.
Diese Versuche werden auf Moore zurückgeführt (Moore 1912, Kapitel VI).
5. Zweckrationalität und Moral – bedingte und unbedingte Freiheit
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Die Alternative ist, prudentielle Zurechnung nicht als Urteil mit retrospektivem, sondern nur mit prospektivem Charakter zu verstehen. Der Tadel wäre demnach nur zukunftsgerichtet, insofern die negative Konsequenz des Tadels in zukünftigen Situationen von der handelnden Person mit in ihre zweckrationale Abwägung einbezogen werden könnte. Ihre Neigung, die unangenehme Konsequenz des Tadels zukünftig zu vermeiden, wäre dann schlicht ein weiterer empirischer Faktor, der in das Kräftespiel von Neigungen eingeht. Zweifelsohne kann Tadel für unkluge Handlungen auch diese Funktion erfüllen; es ist jedoch nicht plausibel, seine Rolle darauf zu reduzieren. Besonders erklärungsbedürftig wäre, warum die „Lücke“ zwischen moralischer und zweckrationaler Überlegung so groß sein sollte: Wenn in Hinsicht auf moralische Konfliktsituationen angenommen wird, dass sich eine Person nach ihrer vernünftigen Einsicht und gegen all ihre Neigungen entscheiden kann, wieso sollte sie dann in Konfliktsituationen, in denen ihre zweckrationale Einsicht gegen einige ihrer Neigungen steht, gar nicht in der Lage sein, nach vernünftiger Einsicht zu handeln und nur der stärksten Neigung nachgeben?⁸³ Angenommen, auch prudentielle Zurechnungsurteile besitzen retrospektiven Charakter, dann stellt sich die Bedingung des Anderskönnens für hypothetische Imperative folgendermaßen dar: Man kann einer Person eine Handlung nur dann prudentiell zurechnen, wenn man voraussetzt, dass die Person die Möglichkeit hatte, dem hypothetischen Imperativ zu gehorchen. Der Tadel setzt jedoch nicht voraus, dass die Person unter allen Umständen hätte anders handeln können, sondern nur unter der Bedingung, dass sie den im hypothetischen Imperativ formulierten Zweck verfolgen möchte. Diese Bedingung gründet darin, dass der
Tatsächlich hat Vaida, die die zweite Interpretation transzendentaler Freiheit im engeren Sinn vertritt, Schwierigkeiten damit, die Funktion prudentieller Zurechnung zu beschreiben. Zunächst vertritt sie die These, dass prudentielle Zurechnung „future-oriented“ sei, während sich moralische Zurechnung (bzw. Verantwortung) durch eine „fixation on the past“ auszeichne (Vaida 2011, 19). Doch Situationen, in denen eine momentane starke Neigung gegen ein wohlbegründetes Langzeitinteresse steht, stellen an den Akteur in prudentieller Hinsicht ähnliche Anforderungen, wie es moralische Konfliktsituationen tun: „In this case, one may argue, to attribute spontaneity to myself is to attribute to myself the power to act in accordance with the strongest prudential reason, regardless of my immediate inclination. This prudential situation clearly parallels the moral situations in which I attribute to myself the power to act in accordance with the moral law, regardless of all inclinations“ (Vaida 2011, 20 f., H.v.m.). Vaida gibt hier also selbst zu, was sie bis dahin bestritten hatte: Dass (zumindest manche) Klugheitsentscheidungen transzendentale Freiheit voraussetzen. Ihre Schlussfolgerung daraus ist meiner Ansicht nach zu schwach: „Thus, I will not attempt to argue that we have a good reason to believe that we do not exercise spontaneity in our non-moral choices. However, I will argue that we don’t have any good reason to believe that we exercise spontaneity in our non-moral choices“ (Vaida 2011, 21).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
hypothetische Imperativ für die Person nur so lange gültig ist, wie sie auch den entsprechenden Zweck verfolgt. Wenn die Person im obigen Beispiel den Zweck, die Prüfung zu bestehen, kurzfristig aufgibt, kann ihr auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie nicht die richtigen Mittel zur Erreichung ihres Zwecks gewählt und in diesem Sinn unklug gehandelt hat – denn sie möchte den Zweck ja gar nicht mehr erreichen und der hypothetische Imperativ gilt für sie nicht mehr. Es stellt sich die Frage, ob es noch eine zweite Bedingung gibt, unter der der hypothetische Imperativ für die Person gilt, nämlich die Bedingung, zweckrational handeln zu wollen.⁸⁴ Von dieser Bedingung würde Kant zumindest sagen, dass man sie (genauso wie die Bedingung, moralisch handeln zu müssen) nicht vernünftigerweise ablehnen kann. Im Rahmen der Erklärung, wie „alle diese [d. h. technische, pragmatische und moralische, CB] Imperative möglich“ (4:417) sind, stellt Kant fest, dass die Verbindlichkeit eines hypothetischen Imperativs, der die notwendigen Mittel zu einem Zweck vorschreibt, „analytisch“ aus dem Wollen des Zwecks folgt: Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objects als meiner Wirkung wird schon meine Causalität als handelnde Ursache, d.i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus (4:417).⁸⁵
In dieser Passage sagt Kant klar, dass es eine Forderung der Vernunft ist, die Mittel zu wollen, die für die Erreichung eines Zwecks, sofern man ihn will, notwendig sind. Insofern man sich als vernünftiges Wesen sieht, muss man also den hypothetischen Imperativ in seiner Grundform – die notwendigen Mittel für die eigenen Zwecke zu wollen – für sich als gültig anerkennen. Dies spricht dagegen, das Andershandelnkönnen an die weitere Bedingung zu knüpfen, dass die Person hätte zweckrational sein wollen. Kurz, es muss gelten: Als vernünftiges Wesen hätte die Person den Imperativ befolgen können, wenn sie den Zweck, der die
Das ist Vaidas Ansicht, die meint, dass ein Imperativ hypothetisch ist, insofern er nur unter der Bedingung gilt, dass man zweckrational sein möchte: „Unlike the moral law, which commands categorically, prudential imperatives command only hypothetically, and so the conclusion of my deliberation over continuing to play vs. leaving for the meeting is not ‚I should leave right now (no matter what!)‘, but ‚I should leave right now if I want to do the prudent thing‘“ (Vaida 2011, 21). Imperative der Geschicklichkeit und Imperative der Klugheit sind sich darin gleich (vorausgesetzt, „die Mittel zur Glückseligkeit ließen sich sicher angeben“ (4:419)); sie unterscheiden sich nur darin, dass bei ersterem der „Zweck bloß möglich“, bei letzterem aber „gegeben“ ist.
6. Die Zurechenbarkeit unkluger Handlungen
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Geltung dieses Imperativs bedingt, hätte verfolgen wollen. Die Fähigkeit zum Anderskönnen, die bei prudentieller Zurechnung vorausgesetzt wird, ist also bedingt, insofern sie davon abhängt, dass die Person sich den entsprechenden Zweck setzt. Die Fähigkeit zum Anderskönnen, die bei moralischer Zurechnung vorausgesetzt wird, ist hingegen unbedingt, denn der kategorische Imperativ gilt unabhängig von allen subjektiven Zwecken. Wenn einer Person unmoralisches Verhalten, beispielsweise eine Lüge, vorgeworfen wird, dann setzt dieser Tadel voraus, dass sie unter allen Umständen, ganz unabhängig von all ihren Zwecken, anders hätte handeln können.
6. Die Zurechenbarkeit unkluger Handlungen Während die Möglichkeit unmoralischer, freier Handlungen in Kants Theorie schon von Kants Zeitgenossen diskutiert wurde (vgl. Abschnitt 7), ist unklugen Handlungen bislang weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden. Unkluge Handlungen scheinen auf den ersten Blick einfacher zu verstehen als unmoralische Handlungen: Erstens könnte man sie mit einer Meinungsänderung der Person erklären: Die Person tut etwas zum Zeitpunkt t1, was gemessen an ihrem Zweck, den sie zum Zeitpunkt t0 verfolgt hatte, unvernünftig ist. Dies ließe sich damit erklären, dass die Person zwischen t0 und t1 ihre Meinung geändert und sich einen anderen Zweck gesetzt hat, den sie nun mit geeigneten Mitteln verfolgt. Zweitens ließe sich unkluges Handeln auf epistemische Beschränkungen zurückführen: Dass die Person nicht die richtigen Mittel zur Erreichung eines Zwecks ergreift, ließe sich dadurch erklären, dass sie entweder nicht genug über die Mittel-ZweckZusammenhänge weiß oder dass sie ihr nicht ganz klar ist, worin ihr Zweck besteht. Gerade in Bezug auf den Zweck der Glückseligkeit ist Kant der Ansicht, dass der Mensch sich davon „keinen bestimmten und sicheren Begriff machen kann“ (4:399, vgl. auch 4:418), sodass er nach einem vorläufigen bzw. anfechtbaren Begriff seines Glücks handeln muss und entsprechend unsicher in Bezug auf die Wahl der Mittel ist. Wenn jedoch ein Zweck zweifellos die Glückseligkeit der Person befördert, was könnte die Person dann noch dazu bringen, unklug zu handeln, d. h. nicht die geeigneten Mittel zur Erreichung des Zwecks zu ergreifen oder den Zweck doch aufzugeben? Kant versieht den analytischen Zusammenhang zwischen dem Wollen des Zwecks und des Mittels mit einer Qualifikation: „Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“ (4:417, H.v.m.). Es gibt zwei Möglichkeiten, worin der erwähnte Einfluss der Vernunft
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
bestehen könnte, sodass dessen Fehlen die unkluge Handlung erklären würde. Erstens könnte es sich um den Einfluss der theoretischen Vernunft handeln. Insofern die Person die richtigen Mittel-Zweck-Zusammenhänge erkennt, so ließe sich die Passage dann reformulieren, wird sie klug handeln, d. h. den hypothetischen Imperativ befolgen. Unklugheit wäre damit auf einen theoretischen Erkenntnismangel – oder auf ähnliche kognitive Mängel wie z. B. voreiliges Schließen oder Unachtsamkeit bei der Überlegung – zurückzuführen. Kant schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, den „entscheidenden Einfluß“ der Vernunft nicht kognitiv zu verstehen, sondern im Sinne von Willensstärke. Nach dieser Lesart könnte es sein, dass eine Person unklug handelt, selbst wenn sie keinen epistemischen Fehler bei der Erkenntnis der Mittel-Zweck-Zusammenhänge macht. Mangelnder Einfluss der Vernunft bestünde dann beispielsweise darin, Langzeitinteressen kurzfristigen Neigungen zu opfern, obwohl die Person eigentlich die Langzeitinteressen zur Erreichung ihrer Glückseligkeit für unabdingbar hält. Sie könnte trotzdem angesichts einer momentanen, starken Neigung gegen das handeln, was sie eigentlich für klug, d. h. ihrer Glückseligkeit dienlich, hält. Diese Schwäche lässt sich als Willensschwäche bezeichnen, die mit Kants Begriffen folgendermaßen beschrieben werden kann: Eine Person handelt absichtlich nach einer Maxime, obwohl sie eine andere Maxime eigentlich für besser hält. Das Problem der Willensschwäche wird von Kant primär in Bezug auf unmoralische Handlungen betrachtet (vgl. Abschnitt 8), aber es trifft auch auf unkluge Handlungen zu: Willensschwäche ist eine mögliche Erklärung dafür, warum eine Person nicht nach einem hypothetischen Imperativ handelt, der die notwendigen Mittel zu einem gewollten Zweck vorschreibt. Möchte man einer Person ihre Handlung bzw. Zweckwahl als unklug zurechnen, sieht man sich folgendem Problem gegenüber: Eine wirklich vernünftige Erklärung, warum eine Person einen hypothetischen Imperativ nicht befolgt hat (d. h. nicht die richtigen Mittel oder Zwecke gewählt hat), obwohl sie den entsprechenden Zweck (der Geschicklichkeit bzw. ihre Glückseligkeit) wollte, gibt es nicht. Um die Handlung als unklug kritisieren zu können, muss man gleichzeitig sowohl annehmen, dass die Person vernünftig genug war, den Imperativ befolgen zu können (sonst würde sie die notwendige Bedingung für Zurechnung nicht erfüllen) als auch, dass sie unvernünftig war, indem sie nicht nach dem Imperativ gehandelt hat. Ein analoges Paradox – die gleichzeitige Annahme der Vernunft und Unvernunft der Person – liegt auch der Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen zugrunde. Diese Parallele verwundert nicht, denn Moralität und Zweckrationalität sind zwei Ausprägungen desselben Grundvermögens, der Vernunft.
7. Die Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen
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7. Die Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen Seit ihrer Entstehung hat Kants Freiheitstheorie den Einwand herausgefordert, ihr zufolge seien nur moralisch gute Handlungen frei und damit zurechenbar (vgl. z. B. Prauss 1983; Rang 1990; Reinhold [orig. 1792] 1975; Sidgwick 1967, 58; Steinvorth 1994, 198).Wenn dies tatsächlich aus Kants Theorie folgen würde, wäre das für seine Zurechnungstheorie fatal. Nicht nur stünde diese Konsequenz im Widerspruch zu Kants eigenen Beispielen – so wählt er in der Kritik der reinen Vernunft die „bösartige Lüge“, um ein Beispiel für eine freie und zurechenbare Handlung zu geben (A554/B582 f.) – und zu seiner These in der Religionsschrift, dass das moralische Gesetz „das einzige“ ist, „was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht“ (6:26, H.v.m.). Darüber hinaus gäbe es nicht nur keine zurechnungsfähigen bösen Handlungen mehr, sondern überhaupt keine moralisch bösen Handlungen, denn Kant ist der Ansicht, nichts sei „sittlich-(d.i. zurechnungsfähig‐)böse, als was unsere eigene That ist“ (6:31). Schließlich ginge in letzter Konsequenz auch der Gegensatz verloren: Wenn es keine moralisch bösen Handlungen gäbe, wäre es auch sinnlos, von moralisch guten Handlungen zu sprechen. So hängt von der Möglichkeit freier unmoralischer Handlungen letztlich die Möglichkeit von Moralphilosophie überhaupt ab.⁸⁶ Ich möchte mich hier auf eine Quelle des Problems im Rahmen der Kantischen Philosophie beschränken: Die Freiheit der bösen Handlung steht bei Kant vor allem deshalb in Frage, weil der freie Wille über die Möglichkeit der moralisch guten Handlung definiert wird.⁸⁷ Kant vertritt die These, dass sich Moral und
Vgl. Willaschek 1992, 232; Bojanowski 2007, 207. Ein anderer Aspekt von Kants praktischer Philosophie, der dasselbe Problem verstärkt, ist die Engführung von Heteronomie und der Bestimmung durch Naturgesetze. In einigen Passagen (z. B. 5:33) erweckt Kant den Eindruck, als geschähen autonome Handlungen nach dem Moralgesetz, während heteronome Handlungen durch Naturgesetze bestimmt werden. Somit wären heteronome Handlungen der „Übermacht“ von Neigungen geschuldet und das Subjekt in Bezug auf die unmoralische Handlung in solcher Weise naturkausal determiniert, dass die Handlung nicht als frei betrachtet werden kann. Doch wie ich in diesem Kapitel ausgeführt habe, ist es nicht zutreffend zu sagen, dass heteronome, zweckrationale Handlungen wie reine Naturereignisse bloß durch Naturgesetze bestimmt wären; vielmehr kann die Person von allen Neigungen so weit Abstand nehmen (und ist insofern nicht naturgesetzlich durch sie bestimmt), dass sie auf der Basis rationaler Überlegung entscheiden kann, welche von ihnen sie handelnd verfolgen will. Bei dem Gegensatzpaar von Autonomie und Heteronomie handelt es sich demnach nicht um eine parallele Unterscheidung zum Gegensatzpaar von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität (vgl. dazu Willaschek 1992, 237).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Freiheit wechselseitig bedingen; eine These, die als „Reziprozitätsthese“ bezeichnet worden ist (vgl. Allison 1990, 201). In der Grundlegung heißt es besonders prägnant: „also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (4:447), und ähnlich sagt Kant in der zweiten Kritik: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück“ (5:29). An diesen beiden Stellen scheint es so, als würde der freie Wille mit einem guten Willen, der immer moralisch handelt, identifiziert. Eine sprachliche Präzisierung der Passage in der Grundlegung weist in die Richtung der Interpretation, die den Einwand entschärfen kann. Kant identifiziert den freien Willen mit einem Willen „unter“ sittlichen Gesetzen. Dass dies nicht bedeutet, dass der freie Wille immer „nach“ sittlichen Gesetzen handelt, betont Kant ausdrücklich in der Kritik der Urteilskraft, wo er in einem ähnlichen Kontext anmerkt: Ich sage mit Fleiß: unter moralischen Gesetzen. Nicht der Mensch nach moralischen Gesetzen, d.i. ein solcher, der sich ihnen gemäß verhält, ist der Endzweck der Schöpfung (5:448, Anm.).
Ein Wille „nach“, und nicht ein Wille „unter“ sittlichen Gesetzen, ist demnach ein Wille, der den sittlichen Gesetzen immer gehorcht. Auch wenn Kant an dieser Stelle nicht erläutert,was „unter“ Gesetzen bedeutet, so lässt sich aus dem Kontext schließen, dass ein Wille „unter“ sittlichen Gesetzen ein solcher ist, für den sittliche Gesetze gültig sind.⁸⁸ Diesem sprachlichen Hinweis folgend, wurde von zahlreichen Interpreten⁸⁹ eine vielversprechende Lösungsstrategie des Problems vorgeschlagen, die sich als „Fähigkeitsinterpretation“ bezeichnen lässt. Kern der Lösung ist, Freiheit als Fähigkeit zu verstehen, bzw. als eine Eigenschaft von Wesen, denen bestimmte Fähigkeiten zukommen. Autonomie besteht dieser Interpretation zufolge in der Fähigkeit, nach dem Moralgesetz zu handeln. Diese Interpretation ist in Einklang mit Kants Formulierung, dass dem Menschen aufgrund seiner Freiheit ein „Vermögen (facultas) der Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe“
So zuerst Paton 1971, 213. Vgl. auch Bojanowski 2007, 220. Fugates Einwand gegen diese Interpretation – die Passage in der dritten Kritik beschäftige sich nicht mit dem logischen Zusammenhang von Freiheit und Gesetz (vgl. Fugate 2012, 3) – scheint mir nicht zutreffend. Denn selbst wenn Kant in dieser Passage primär erläutern will, inwiefern der Mensch „Endzweck der Schöpfung“ ist, ist die Passage auch eine Erläuterung dessen, was Kant mit der Wendung „unter Gesetzen“ meint, die zentral für die Reziprozitätsthese (4:447) ist. Fugate 2012 bezeichnet diese Lösungsstrategie, die er kritisiert, als Standardinterpretation bzw. „popular reading“. Zu den Interpreten, die diese Strategie vertreten, gehören Allison (1990, 97), Bojanowski 2006 und 2007, Engstrom 2002, Hill (1992, 112) und Wood 1984.
7. Die Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen
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zukommt (6:397). Ferner bezeichnet er den positiven Aspekt der Freiheit auch als „Vermögen“ oder „Fähigkeit“ der (reinen) Vernunft, praktisch zu sein (vgl. 4:213 f., 6:226 f.), oder nennt Freiheit das „Vermögen[] absoluter Spontaneität“ (5:58). Die Charakterisierung des freien Willens als Fähigkeit, moralisch gute Handlungen auszuführen, hat den Vorteil, zwischen dem Besitz der Fähigkeit und ihrer erfolgreichen Ausübung unterscheiden zu können. Eine unmoralische, aber zurechenbare Handlung ist dann eine solche, die von einer Person ausgeübt wird, die die Fähigkeit zum moralischen Handeln besitzt und insofern frei ist, die jedoch diese Fähigkeit nicht oder nicht erfolgreich ausübt. Gegen die Interpretation, Freiheit als Eigenschaft von Personen zu verstehen, die eine bestimmte Fähigkeit besitzen, lässt sich einwenden, dass damit die zentrale Frage offen bleibt: Wovon hängt es ab, ob die Fähigkeit zum moralischen Handeln erfolgreich ausgeübt wird?⁹⁰ Es scheint zwei Alternativen zu geben: Entweder bestimmt die zufällige An- oder Abwesenheit von Naturhindernissen, ob die Fähigkeit zum moralischen Handeln ausgeübt wird, oder es handelt sich um eine freie Entscheidung hinsichtlich der Ausübung, sodass der freie Wille darin bestünde, sich frei für oder gegen die Ausübung der Fähigkeit zum moralischen Handeln zu entscheiden. Beide Antworten erweisen sich jedoch als nicht geeignet, um die unmoralische Entscheidung als frei ausweisen zu können. Die Position, die Ausübung oder Nichtausübung von Autonomie als Fähigkeit hinge von einer freien Entscheidung ab, kommt der Verteidigung der Freiheitstheorie Kants durch Reinhold nahe.⁹¹ Kants Zeitgenosse Reinhold möchte das Problem durch den Vorschlag lösen, Freiheit bestünde in der Selbstbestimmung für oder gegen das Sittengesetz. Kants negative Replik auf diesen Vorschlag befindet sich in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Dort argumentiert Kant dafür, dass die Möglichkeit, gegen das Sittengesetz zu entscheiden, nicht konstitutiv für Freiheit ist: Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentias) definirt werden – wie es wohl einige versucht haben, – obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele giebt (6:226).
Kant begründet dies zum einen damit, dass der Begriff der Freiheit kein Erfahrungsbegriff ist, sodass Tatsachen, die man nur aus der Erfahrung kennt (wie die
Vgl. Mieth/Rosenthal 2006, 258. Auch Fugate sieht diese Frage als einen Haupteinwand gegen die Interpretation von Freiheit als Fähigkeit (vgl. Fugate 2012, 13). Vgl. Reinhold (1792). Für eine ausführliche Darstellung siehe Bojanowski 2006, 2007 und Prauss 1983.
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
Möglichkeit unmoralischer Handlungen) nur zu einer „Bastarderklärung“ der Freiheit führen könnten, da dann Definiens und Definiendum aus kategorial verschiedenen Bereichen kämen. So bleibt für Kant der Umstand, dass sich der Mensch gegen das Sittengesetz entscheiden kann, nicht mehr als eine Tatsache der Erfahrung, die jedoch nicht zum Wesen der Freiheit gehört. In seiner Replik auf Reinhold beantwortet Kant allerdings nicht die Frage, warum eine Person eine unmoralische Handlung ausführt. Doch wie könnte überhaupt eine befriedigende Antwort aussehen? Zwei Möglichkeiten sind auf den ersten Blick denkbar, erweisen sich jedoch beide als untauglich: Erstens eine naturkausale Erklärung auf der Basis der Neigungen oder natürlichen Charaktereigenschaften der Person, zweitens eine vernünftige Erklärung im Rekurs auf Gründe. Nach Kant wäre eine rein naturkausale Erklärung nicht zufriedenstellend, weil die Erklärung durch Naturgesetze ja gerade nicht der Freiheit der bösen Entscheidung Rechnung trägt. Der Verweis auf den Einfluss der Neigungen, die die reine Vernunftbestimmung „stören“ reicht nicht aus: Kant zufolge ist das Böse „nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen“ und besteht darin, „daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung anreizen, nicht widerstehen will […]. Die Neigungen sind nur Gegner der Grundsätze überhaupt (sie mögen gut oder böse sein)“ (6:58, Anm.). Wenn der Einfluss der Neigungen so verstanden würde, dass die böse Handlung auf einen „Durchbruch“ der Neigungen zurückgeht, sodass sie wie ein Naturereignis rein durch Naturgesetze zu erklären ist, dann wäre die Handlung nicht frei, folglich auch nicht zurechenbar und nicht unmoralisch. Auch eine vollständig vernünftige Begründung der bösen Handlung muss scheitern, denn das Böse ist ja gerade unvernünftig. Solange man allerdings annehmen kann, dass die Handlung nach einer Maxime geschieht und Maximen Ausdruck der Zweckrationalität des Subjekts sind, ist sie doch einer teilweise vernünftigen Erklärung zugänglich: Wenn eine Person eine unmoralische Handlung ausgeführt hat, um einen unmoralischen Zweck zu verfolgen, dann kann man diese Handlung zumindest in zweckrationaler Hinsicht vernünftig erklären, nämlich als Mittel zur Verfolgung ihrer Interessen aus Selbstliebe. Doch warum die Person ihre unmoralischen Zwecke verfolgt, obwohl sie die Fähigkeit hatte, moralisch zu handeln, ist vernünftig nicht begründbar, sodass die Frage, warum sich ein Mensch für das Böse entscheidet, auch im Rahmen einer Fähigkeitsinterpretation in letzter Instanz ohne Antwort bleibt. Möchte man an der Zurechenbarkeit einer unmoralischen Handlung festhalten, darf man meiner Analyse zufolge nicht verlangen, dass die unmoralische Entscheidung vollständig vernünftig erklärt werden kann. Bedingung der Zurechenbarkeit ist vielmehr die Annahme, dass die Person hätte moralisch handeln
8. Drei Typen des Bösen: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit
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können, d. h. dass die Person mit Blick auf die Handlung Autonomie besaß, die sich als Fähigkeit zum moralischen Handeln verstehen lässt.
8. Drei Typen des Bösen: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit Es gibt zwar keine vernünftige Erklärung für unvernünftige Handlungen, doch zeigt eine Typologie unmoralischer Handlungen wichtige Unterschiede in der Klasse der bösen, aber zurechenbaren Handlungen auf. Grundlage der Typologie ist Kants Unterscheidung der drei verschiedenen „Stufen“ des „Hange[s] zum Bösen in der menschlichen Natur“ in der Religionsschrift: Die erste ist die „Gebrechlichkeit“, d. h. „die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt“, die zweite die „Unlauterkeit“, d. h. „der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen“, und die dritte die „Bösartigkeit“, d. h. „der Hang zur Annehmung böser Maximen“ (6:29). Diese drei Stufen unterscheiden sich hinsichtlich der Frage, wie die Maxime der Selbstliebe und die Maxime der Moralität zueinander stehen. Kants Idee ist offenbar, die schrittweise Umkehrung der obersten Maximen darzustellen: Im ersten Fall (Gebrechlichkeit), hat man die moralische Maxime als seine oberste, aber handelt nicht immer nach ihr. Im zweiten Fall (Unlauterkeit), „überlagern“ sich die Prinzipien der Selbstliebe und der Moralität, und im dritten Fall hat die Maxime der Selbstliebe die Oberhand gewonnen. Um „Gebrechlichkeit“ zu beschreiben, bezieht sich Kant auf die „Klage eines Apostels“: Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt, d.i. ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür auf; aber dieses, welches objectiv in der Idee (in thesi) eine unüberwindliche Triebfeder ist, ist subjectiv (in hypothesi), wenn die Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung) (6:29).
Das Problem der Gebrechlichkeit – oder, wie man heute sagen würde: Willensschwäche – besteht nach Kant darin, dass eine Maxime, die als moralisch gut erkannt wurde, doch nicht befolgt wird. Hinsichtlich der Zurechenbarkeit willensschwacher Handlungen gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder wird von einer willensschwachen Handlung angenommen, dass sie nicht nach einer Maxime geschieht. Dann wäre die Handlung nicht zurechenbar, da der Handelnde nicht die für Zurechnung notwendige Freiheit besäße, die Triebfeder nach der er handeln möchte, in eine Maxime aufzunehmen (vgl. 6:24). Oder die willens-
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
schwache Handlung lässt sich darauf zurückführen, dass der Handelnde nach einer anderen Maxime, die der moralischen Maxime widerstreitet, gehandelt hat. Der Kontext der Passage in der Religionsschrift spricht dafür, dass Kant willensschwache Handlungen für zurechenbar hält, denn er kündigt zuvor an: Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d.i. zum Moralisch-Bösen die Rede, welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurtheilt werden kann, in dem subjectiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß (6:29, H.v.m.).
Da eine Handlung nur dann moralisch böse sein kann, wenn sie frei ist, und freie Handlungen immer nach Maximen geschehen, muss der willensschwachen Handlung als einer Handlung auf der ersten Stufe des Bösen auch eine Maxime zugrundeliegen. Auf diese Weise kann Kant die willensschwache Handlung so beschreiben, dass sie zwar absichtlich ist und der Handelnde einen Grund für sie hat, dass der Handelnde jedoch eine Handlungsalternative hatte, für die er einen besseren Grund besaß.⁹² Diese Charakterisierung trifft nicht nur auf moralische Konfliktsituationen zu, sondern auf die „Befolgung genommener Maximen überhaupt“ (6:29), d. h. auch auf unkluge Handlungen: Eine willensschwache Handlung besteht darin, nicht die Maxime zu befolgen, die man sich eigentlich gesetzt hatte, sondern eine andere Maxime. Das Phänomen der Willensschwäche setzt nach dieser Beschreibung voraus, dass eine Person widersprüchliche Maximen besitzt. Um diese Interpretation vertreten zu können, muss man zugestehen, dass eine Person eine Maxime haben kann, auch wenn sie nicht immer nach ihr handelt. Das ist deshalb nicht selbstverständlich, da nach Kants Definition eine Maxime der „Grundsatz“ ist, „nach welchem das Subject handelt“ (4:420, Anm. 2). Diese Charakterisierung darf nicht so verstanden werden, dass ein Subjekt nur dann eine Maxime hat, wenn es immer nach ihr handelt, sondern sollte, wie es der Kontext der Definition nahelegt, zunächst nur als Hervorhebung des Gegensatzes zu normativen Grundsätzen, nämlich zu Imperativen, aufgefasst werden: Während ein Imperativ ein Prinzip ist, nach dem das Subjekt „handeln soll“ (ebd.), und zwar weil objektive Vernunft-
Diese Beschreibung ist der Definition der willensschwachen bzw. unbeherrschten Handlung sehr ähnlich, die Davidson gibt: „Indem der Handelnde x tut, handelt er dann und nur dann unbeherrscht, wenn: a) der Handelnde x absichtlich tut, b) der Handelnde glaubt, eine alternative Handlung y sei möglich, und c) der Handelnde urteilt, daß unter Berücksichtigung aller Umstände die Ausführung von y besser gewesen wäre als die Ausführung von x“ (Davidson 1985a, 44).
8. Drei Typen des Bösen: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit
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gründe dafür sprechen, ist eine Maxime ein Prinzip, nachdem das Subjekt faktisch handelt, wobei möglicher Weise objektive Vernunftgründe missachtet werden. Da in der Definition der Maxime der Vergleich von Imperativen und Maximen beleuchtet wird, ist die Gegenüberstellung von „handeln“ und „handeln sollen“ ausreichend. Der Fall der Willensschwäche nimmt einen anderen Vergleich in den Blick, nämlich den zwischen verschiedenen Maximen. Dabei wird deutlich, dass eine Maxime, für die der Handelnde bessere Gründe hat als für eine andere, ebenfalls normativen Charakter hat: Als rationales Subjekt sollte der Handelnde nach der ersten Maxime, die er ja vorzieht, handeln. Sobald man die Möglichkeit von Willensschwäche bedenkt, die bei der Definition in der Grundlegung ausgeklammert wird, wird deutlich, dass eine Person nicht automatisch nach einer Maxime handelt, die sie sich gesetzt hat. In der Religionsschrift, die in dieser Hinsicht ein differenzierteres moralpsychologisches Bild zeichnet als die Grundlegung, unterstützt Kant diese Sichtweise, indem er sagt, dass „zwischen der Maxime und der That […] noch ein großer Zwischenraum“ ist (6:46). Der Grund, warum der Handelnde eine andere Maxime befolgt als die, die er sich eigentlich gesetzt hat, verweist nach Kant zwar auf eine Neigung – er sagt, dass die eigentlich zu befolgende Maxime „die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung)“ sei (6:29) –, aber hier gilt wieder das Ergebnis der Analyse unmoralischer Handlungen: Neigungen können zwar zur „Übertretung anreizen“, aber es muss – insofern die Handlung frei ist – noch hinzukommen, dass der Handelnde ihnen „nicht widerstehen will“ (6:58, Anm.). Doch warum die Person sich dafür entscheidet, ihren Neigungen nachzugeben und die Maxime zu befolgen, die sie nicht für die beste hält, ist letztlich nicht vernünftig zu beantworten. Man kann keinen vernünftigen Grund dafür angeben, warum sich die Person nicht nach ihrem besten Grund entschieden hat.⁹³ Die beiden weiteren „Stufen“ des Hanges zum Bösen beschreiben andere Fälle von Handlungen bzw. Einstellungen, die zurechenbar sind und moralisch kritisiert werden können. „Unlauterkeit“ geht nicht notwendig mit äußerlich pflichtwidrigen Handlungen einher, sondern betrifft das Motiv, mit dem pflichtmäßige, legale Handlungen ausgeführt werden: Die unlautere Person handelt bloß pflichtmäßig, sodass die Übereinstimmung der Handlung mit dem Moralgesetz „bloß zufällig“ ist (6:31). Wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt, gibt die unlautere Handlung Anlass zur moralischen Kritik – zwar nicht zur rechtlichen, aber doch zur ethischen. Kant kritisiert zunächst die unlautere Handlung, führt jedoch deren
So auch Davidson, der als das Besondere an Willensschwäche sieht, „daß sich der Handelnde selbst nicht verstehen kann: Er erkennt in seinem eigenen absichtlichen Verhalten etwas wesentlich Vernunftwidriges“ (Davidson 1985a, 72).
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
mangelnde moralische Qualität schließlich auf die Person zurück: Dass die unlautere Handlung „Sünde“ ist, liegt daran, dass die „Maxime, nach deren Güte aller moralische Werth der Person geschätzt werden muß, […] also doch gesetzwidrig, und der Mensch […] bei lauter guten Handlungen dennoch böse“ ist (6:31, H.v.m.). Der normative Maßstab, demgemäß die unlautere Handlung als Sünde bezeichnet werden kann, ist das „allgemeine[] ethische[] Gebote: ‚Handle pflichtmäßig aus Pflicht‘“ (6:391). Doch wie bereits ausführlicher erläutert wurde (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 6), ist es vor allem die innere Handlung der Gesinnungswahl, die der Person zur Schuld bzw. Sünde zuzurechnen ist. Die dritte Stufe des Bösen, die Bösartigkeit, besteht in dem Hang, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und obzwar damit immer noch gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet (6:30).
Bösartigkeit kann sich demnach in pflichtwidrigen oder in legalen, bloß pflichtgemäßen Handlungen ausdrücken. Die bösartige Person befolgt das Moralgesetz nur dann (allerdings in bloß pflichtmäßiger Weise), wenn ihre sonstigen Interessen nicht dagegen sprechen. Kant geht davon aus, dass Bösartigkeit die „letzte“ Stufe des Bösen ist, d. h. dass es nicht möglich ist, dass ein Mensch sich zur obersten Maxime macht, gegen das Moralgesetz zu handeln. Eine solche „vom moralischen Gesetze […] freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille)“, für den „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder […] erhoben“ wird, würde den Menschen zu einem „teuflischen Wesen“ machen (6:35). Sowohl Handlungen aus Unlauterkeit als auch aus Bösartigkeit sind genau wie willensschwache Handlungen frei und zurechenbar, und das aus demselben Grund: Es sind Handlungen nach Maximen und keine bloßen Naturereignisse. Zudem muss angenommen werden, dass die Person die böse oder unlautere Handlungen hätte unterlassen können: Als autonome Person besitzt sie ein rein vernünftiges Motiv, die Achtung vor dem Moralgesetz, das gegen die unlautere und bösartige Maximenwahl spricht. Genau wie im Fall der willensschwachen Handlung gibt es auch für Handlungen aus Unlauterkeit und Bösartigkeit – bzw. die Wahl der entsprechenden Maxime – keine vernünftige Erklärung.
9. Fazit
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9. Fazit Da nach Kant transzendentale Freiheit der „eigentliche Grund“ der Zurechnung ist, wurde in diesem Kapitel der Freiheitsbegriff in seiner transzendentalen Dimension untersucht und zu praktischer Freiheit sowie zur Fähigkeit, nach Maximen und Imperativen zu handeln, in Beziehung gesetzt. Dabei wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich, was die Freiheitsvoraussetzung für die Zurechnung nach moralischen oder prudentiellen Maßstäben betrifft. Zudem wurde ein besonderes Augenmerk auf die Zurechenbarkeit unvernünftiger Handlungen gerichtet. Eine Handlung ist einer Person zurechenbar, wenn der Wille der Person mit Blick auf diese Handlung auf transzendentale Weise praktisch frei war, d. h. wenn die Person sich in ihrem Entscheiden und Handeln nach vernünftigen Imperativen richten konnte und somit transzendentale Freiheit im weiten Sinn besaß. Eine Handlung ist prudentiell, als klug oder unklug, zurechenbar, wenn die Person zu zweckrationalem Handeln fähig war, also sich nach hypothetischen Imperativen richten konnte. Eine Handlung ist moralisch, als gut oder böse, zurechenbar, wenn die Person in Bezug auf die Handlung autonom war, also sich nach kategorischen Imperativen richten konnte. Nur die Annahme transzendentaler – und nicht bloß empirischer – Freiheit hält die Möglichkeit offen, dass unser Handeln in letzter Instanz durch unsere vernünftige Überlegung bestimmt ist, anstatt auf naturkausale Ursachen zurückzugehen. Erst auf dieser Grundlage können wir uns als erste Ursache unserer Handlungen verstehen. Zudem ist nach Kant die Annahme transzendentaler Freiheit notwendig, um sagen zu können, dass man eine gesetzeswidrige Handlung hätte unterlassen können. Dennoch unterscheidet sich die Freiheit, die für prudentielle und für moralische Zurechnung vorausgesetzt wird: Im ersten Fall ist die Freiheit bedingt, da die Person ihre vernünftige Überlegung einsetzt, um gegebene, empirische Neigungen zu befriedigen. Wenn die Person nach kategorischen Imperativen handeln kann, ist sie in einem unbedingten Sinn frei, da sie unabhängig von all ihren Neigungen entscheiden und handeln kann, sodass es möglich ist, von der Wahl des eigenen Charakters zu sprechen. Die Zurechnung unvernünftiger Handlungen ist nur möglich, wenn man die für Zurechnung notwendige Freiheit als Fähigkeit versteht, vernünftig zu handeln, die bei unvernünftigen Handlungen nicht ausgeübt wurde, aber hätte ausgeübt werden können. In Bezug auf die Zurechnung unmoralischer Handlungen kann auf diese Weise der traditionelle Einwand gegen Kants Freiheitstheorie, nur moralisch gute Handlungen seien frei und zurechenbar, weitgehend entschärft werden. Anhand der Darstellung verschiedener Typen des Bösen ist deutlich geworden, dass unmoralische, zurechenbare Handlungen nach Kant entweder
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2. Kapitel: Transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung
aus Willensschwäche („Gebrechlichkeit“) oder aus einer Unterordnung der moralischen Ansprüche unter die Interessen der Selbstliebe („Bösartigkeit“) geschehen.
3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung Im letzten Kapitel wurde deutlich, dass nach Kant transzendentale Freiheit eine notwendige Bedingung für Zurechnung ist. Unser Selbstverständnis als freie und damit zurechnungsfähige Wesen ist jedoch einem grundsätzlichen Einwand ausgesetzt: Wie kann Freiheit mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild vereinbar sein, demzufolge alle Ereignisse durch natürliche Ursachen erklärbar sind? Für Kant fällt diese Frage damit zusammen, ob Freiheit und naturkausaler Determinismus vereinbar sind, da er annimmt, dass in der Natur Ursache und Wirkung deterministisch aufeinander folgen. Ob Freiheit und naturkausaler Determinismus miteinander vereinbar sind, ist eine Frage, die prinzipiell zwei Antworten zulässt: „Kompatibilisten“ argumentieren für die Vereinbarkeit, während „Inkompatibilisten“ sie bestreiten.⁹⁴ Typische kompatibilistische Theorien gehen davon aus, dass Freiheit nicht im Gegensatz zu jeder Art von natürlicher Determination steht, sondern nur mit bestimmten determinierenden Faktoren unvereinbar ist, z. B. mit physischem oder psychischem Zwang (vgl. z. B. Strawson 1963; Wallace 1994; Frankfurt 1971). Kompatibilisten verwenden insofern einen empirischen, relativen Freiheitsbegriff, als sie Freiheit als Unabhängigkeit von manchen, aber nicht von allen natürlichen Ursachen verstehen. Inkompatibilisten hingegen halten einen solchen Freiheitsbegriff nicht für ausreichend, um uns als frei Handelnde und moralisch verantwortliche Personen zu beschreiben. Sie gehen von einem absoluten Freiheitsbegriff aus, der mit jeder Art des naturkausalen Determinismus unvereinbar ist. Innerhalb des Inkompatibilismus gibt es wiederum zwei mögliche Positionen: Wer glaubt, dass der Determinismus wahr ist und Freiheit deshalb unmöglich, gehört zu den „harten Deterministen“, während „Libertarier“ davon ausgehen, dass indeterministischer Spielraum vorhanden ist, der uns Freiheit ermöglicht (Kane 1999, Chisholm 1964). Kant lässt sich nicht ohne Weiteres in die skizzierte zeitgenössische Debattenlandschaft ein- bzw. einer der beiden Positionen zuordnen. Er teilt einerseits mit den Inkompatibilisten die Überzeugung, dass ein absoluter Freiheitsbegriff für Moral und moralische Zurechnung unerlässlich ist. Wir haben gesehen, dass Kant einen kompatibilistischen, empirischen Freiheitsbegriff als „Freiheit eines Bratenwenders“ ablehnt (5:97) und transzendentale Freiheit als Unabhängigkeit „von
Die Sammelbände von Watson (2003) und Kane (2002) enthalten neuere Aufsätze zur Freiheitsdebatte und bieten somit einen guten Überblick über die verschiedenen Positionen.
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ (A803/B831) versteht. Da transzendentale Freiheit damit „dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider“ (A803/B831) ist, also im Gegensatz zum naturkausalen Determinismus steht, scheint der Freiheitsbegriff bereits den Inkompatibilismus zu implizieren. Andererseits vertritt Kant im Gegensatz zu den Inkompatibilisten die These, dass selbst angesichts eines durchgängigen naturkausalen Determinismus Freiheit möglich sei. Deshalb wurde Kants Position auch treffender Weise als „Kompatibilismus von Inkompatibilismus und Kompatibilismus“ bezeichnet (vgl. Wood 1984, 74). Die These, dass „Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen“ sind (A537/ B565), möchte Kant mit Hilfe der transzendentalen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen in der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft begründen. Da andere Arbeiten die Antinomie und ihre Auflösung bereits sehr genau untersucht haben (Allison 1990; Bojanowski 2006; Timmermann 2003; Willaschek 1992), werde ich mich darauf beschränken, einige Schwerpunkte zu setzen, die für das Thema der Zurechnung besonders relevant sind. Das Begriffspaar, das in der Auflösung der Antinomie eine zentrale Rolle spielt, ist das des empirischen und intelligiblen Charakters. Durch eine Diskussion dieser beiden Begriffe sollen Kants Aussagen, die sich direkt auf Zurechnung beziehen, verständlich werden: Eine Handlung ist einem Menschen zurechenbar, weil sie „seinem intelligibelen Charakter beigemessen“ wird (A556/B584), aber dennoch können unsere Zurechnungen „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ (A552/B580, Anm.). Die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter oder – analog – von naturgesetzlich bestimmten Phaenomena und transzendental freien Noumena wirft einige Fragen auf: So zum Beispiel, wie es gerechtfertigt sein kann, den „phänomenalen Menschen“ zu bestrafen, wenn doch nur die Freiheit des „noumenalen Menschen“ vorausgesetzt werden kann (vgl. Beck 1983, 43). Ich möchte mich einer Zwei-Aspekte-Lesart der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich anschließen und als Grundlage für eine Kantische Theorie der Zurechnung vorschlagen.
1. Die dritte Antinomie: Beweisziel und Kontext Im Rahmen der dritten Antinomie argumentiert Kant, dass sich sowohl die Notwendigkeit als auch die Unmöglichkeit einer Kausalität aus Freiheit beweisen lassen. Während der Vertreter der Notwendigkeitsthese behauptet, dass die Kausalität nach Naturgesetzen nicht ausreicht, um die Phänomene zu erklären, sondern noch eine „Causalität aus Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen
1. Die dritte Antinomie: Beweisziel und Kontext
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nothwendig“ ist (A444/B472), beinhaltet die entgegengesetzte Unmöglichkeitsthese, dass es eine solche Kausalität aus Freiheit nicht gibt, sondern alles ausschließlich nach Naturgesetzen geschieht (A445/B473). Das Beweisziel der Auflösung der dritten Antinomie ist, zu zeigen, „daß Natur der Causalität aus Freiheit […] nicht widerstreite“ (A558/B586). Kant möchte in der ersten Kritik also nicht die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit beweisen (A558/B586), sondern lediglich ihre logische Möglichkeit etablieren: Die Begriffe der Naturkausalität und der transzendentalen Freiheit können zusammen widerspruchsfrei gedacht werden. Die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit stellt sich für Kant zunächst im Kontext der Kosmologie, wird jedoch sogleich (in der Anmerkung zur Thesis) auf die praktische Frage nach der „Freiheit des Willens“ und die „Imputabilität“ der Handlungen bezogen (A448/B476). Der Kontext des Freiheitsproblems ist die kosmologische Frage, ob es einen „ersten Anfang“ der Welt gibt (A446/B474). Doch was hat dieses Problem mit der Frage zu tun, ob unser Wille frei ist? In beiden Kontexten geht es um die Möglichkeit von Erstursächlichkeit, d. h. „ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen“ (A448/B476). Wenn es einen Weltanfang gäbe, dann würde ihm die „absolute Spontaneität“ einer unverursachten Ursache zukommen. Der freie Wille würde ebenfalls als erste Ursache gelten, insofern seine Handlungen nicht durch natürliche Ursachen determiniert wären. Der Vertreter der Notwendigkeitsthese, der für die Annahme von Kausalität aus Freiheit plädiert, besitzt neben dem theoretischen also auch ein „praktisches Interesse“ an der Lösung des Freiheitsproblems (A466/B494). Auch das von Kant gewählte Beispiel, um seine Ergebnisse der Auflösung zu illustrieren, entstammt unserer Zurechnungspraxis und hat die Zurechnung einer „bösartigen Lüge“ zum Thema (vgl. Abschnitt 6). Da das Freiheitsproblem in der ersten Kritik im theoretischen Kontext der Kosmologie auftaucht, stellt Kant auch die Lösung der Freiheitsantinomie zunächst abstrakt dar und bezieht sie erst in einem zweiten Schritt auf die menschliche Willensfreiheit. Dabei ist seine Idee, dass es die Annahme eines ersten Ursprungs der Welt „erlaubt“, auch „mitten im Lauf der Welt verschiedene Reihen, der Causalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“ (A450/B478).⁹⁵ Wenn wir also einmal die Möglichkeit von Erstursächlichkeit eingeräumt haben,
Timmermann macht darauf aufmerksam, dass man diesen Schluss auch in Frage stellen kann (Timmermann 2003, 98): Es könnte ja auch sein, dass es einen spontanen Schöpfungsakt gibt, und danach alles, auch die menschlichen Handlungen, nach mechanischen Gesetzen abläuft. Zum Zusammenhang von Schöpfungsgedanke und Freiheitslehre in der Antinomie siehe Ertl (1998).
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
so der Ansatz, dann können wir diese Idee sowohl im kosmologischen als auch im praktischen Kontext verwenden.
2. Transzendentale Freiheit und das Naturkausalitätsprinzip Bevor Kants Auflösung der Antinomie dargestellt wird, soll zweierlei vorausgestellt werden: Erstens die Klärung der Frage, um welche der beiden Bedeutungen transzendentaler Freiheit, die im vorigen Kapitel herausgearbeitet wurden, es in der Antinomie geht; zweitens eine genauere Charakterisierung der Naturkausalität, deren Vereinbarkeit mit Freiheit auf dem Spiel steht. Es ist in der Kant-Forschung umstritten, welche der beiden Bedeutungen transzendentaler Freiheit die Antinomie problematisiert. Die erste Interpretation versteht transzendentale Freiheit als die Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien, d. h. nach hypothetischen und kategorischen Imperativen, zu handeln. Gemäß der zweiten Interpretation ist nur Freiheit als Autonomie, d. h. die Fähigkeit, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, ein Fall transzendentaler Freiheit (vgl. Kapitel 2). Je nachdem, welche Bedeutung man hier zugrunde legt, stellt sich das Problem der Antinomie anders dar. Versteht man transzendentale Freiheit im ersten Sinn, als Fähigkeit nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, dann ist das Problem der Antinomie, wie eine Handlung als ein Ereignis in der Natur einerseits durch natürliche Ursachen (z. B. psychologische Zustände oder Gehirnprozesse) bestimmt ist und andererseits von rationalen Überlegungen abhängt. Dieses Problem stellt sich auch ganz unabhängig davon, von welchen rationalen Prinzipien wir sprechen wollen: Es ist die Frage, ob unsere vernünftigen Überlegungen, die sowohl zweckrationaler als auch moralischer Art sind, überhaupt einen Unterschied in der Welt bewirken.⁹⁶ Zudem besteht das Problem unabhängig von einer Annahme darüber, ob die Naturgesetze deterministische Gesetze sind oder nicht. Selbst wenn beispielsweise quantenmechanische Prozesse ein Element des Zufalls in die Natur bringen, würde sich die Frage stellen, ob Ereignisse als Resultate vernünftiger Überlegung gelten könnten. Andere Interpreten, die transzendentale Freiheit im zweiten Sinn verstehen, sehen die Problemstellung der Antinomie im Lichte von Kants Moralphilosophie. In diesem Fall geht es um die Frage, ob die unbedingte Freiheit widerspruchsfrei denkmöglich ist, die für die Befolgung kategorischer Imperative, vorausgesetzt
Diese Interpretation vertreten beispielsweise Willaschek (vgl. Willaschek 1992, 101) und Allison (vgl. Allison 1980, 480).
2. Transzendentale Freiheit und das Naturkausalitätsprinzip
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werden muss, also Freiheit als Autonomie.⁹⁷ Die Frage lautet dann nicht, ob in einer naturkausalen Ordnung normative Prinzipien überhaupt Handlungen bestimmen können, sondern ob sich der Wille durch bestimmte normative Prinzipien leiten lassen kann, die unabhängig von der Voraussetzung empirischer Zwecke und insofern unabhängig von natürlichen Ursachen gelten. Nur wenn Freiheit mit Autonomie identifiziert wird, so diese Lesart, könne der Wille als absolut erste Ursache verstanden werden, um deren Möglichkeit es in der Antinomie geht. Wie es für beide Interpretationen transzendentaler Freiheit Passagen in Kants Texten gibt, die sie stützen, gibt es auch Gründe für jede der beiden Lesarten der Antinomie. Meine folgende Lesart und Auslegung werden durch die Annahme geleitet, dass transzendentale Freiheit im ersten Sinn thematisch ist. Der Grund für diese Annahme ist, dass die Antwort auf die Frage, ob Handlungen als Ereignisse in der Natur überhaupt als Ergebnisse rationaler Überlegung verstanden werden können, grundlegender ist als die weitergehende Frage, ob diese rationalen Überlegungen auf reine Vernunft zurückgehen können. Die Antinomie betrifft demnach die Frage, ob es überhaupt zurechenbare „Taten“ (d. h. Handlungen im heutigen Wortsinn) gibt, oder ob alle Ereignisse lediglich naturkausal aufeinander folgen. Bezogen auf die beiden Stufen der Zurechnung heißt das: Das Problem der Antinomie betrifft primär die erste Stufe und damit die Frage, ob man überhaupt jemandem ein Ereignis als freie Handlung zurechnen kann. Da dies eine notwendige Voraussetzung für die zweite Stufe der Zurechnung ist, hängt von dieser Antwort auch ab, ob man überhaupt von Schuld und Verdienst sprechen kann. Betrachten wir nun die andere Seite des Freiheitsproblems, die Seite der Naturursachen: Von welcher Art von Naturgesetzen geht nach Kant die Bedrohung der Freiheit aus? Kant sagt deutlich zu Beginn der Auflösung der Antinomie, dass es das transzendentale Kausalprinzip vom „durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen“ (A536/B564) ist, das von beiden Parteien als gültig vorausgesetzt wird (vgl. auch A542/B70). Das transzendentale Kausalgesetz, dessen Gültigkeit Kant in der zweiten Analogie der Analytik beweist, besagt, dass „[a]lle Veränderungen […] nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und der Wirkung“ geschehen (A189/B232). Ursache und Wirkung folgen zudem zeitlich unumkehrbar, „unausbleiblich und notwendig“ (A198/B244) aufeinander. Dieses Prinzip, dass jedes Ereignis eine zeitlich vorhergehende Ursache hat, gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis von empirischen Gegenständen. Im Gegensatz zu den speziellen Kausalgesetzen, für deren Entdeckung empirische Forschung notwendig ist, ist
So beispielsweise auch Bojanowski (2006, 28 f.) und Wood (1984, 84).
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
das transzendentale Kausalgesetz ein a priori gültiger Grundsatz des Verstandes, der jede empirische Erfahrung strukturiert. Indem Kant die Vereinbarkeit von Freiheit und transzendentalem Kausalgesetz zeigt, beansprucht er, die Vereinbarkeit von Freiheit und jeder Art von Determination durch zeitlich vorhergehende Ursachen, insbesondere durch alle denkbaren speziellen Kausalgesetze (z. B. der Physik, aber auch der Psychologie – falls es in der „empirischen Seelenlehre“ überhaupt mathematisch formulierbare Gesetze geben sollte, was Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (vgl. 4:471) bestreitet), gezeigt zu haben. Kant belastet die Antinomie mit der starken Annahme, dass menschliche Handlungen durch natürliche, zeitlich vorhergehende und nach Naturgesetzen ablaufende Ereignisse determiniert⁹⁸ und trotzdem frei sind. Damit möchte Kant jedoch nicht sagen, dass eine freie Handlung unabhängig von allen denkbaren Ursachen ist. Kant wendet sich sogar gegen die Formulierung, dass es der „Determinismus“ sei, der die Bedrohung der Freiheit darstellt. Er bevorzugt den Ausdruck „Prädeterminismus“, um deutlich zu machen, dass es natürliche, und damit zeitlich vorhergehende Ursachen sind, die mit der Freiheit in Konflikt geraten: Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft [die Freiheit, CB] als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen,woran doch niemand denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird (6:49 f., Anm.).
Transzendentale Freiheit erfordert also keine Unabhängigkeit von „inneren hinreichenden Gründen“ überhaupt, z. B. von vernünftigen Gründen, sondern nur
Die Annahme, dass Handlungen durch natürliche Ereignisse determiniert sind, macht Kant an mehreren Stellen deutlich, unter anderem auch in der Rekapitulation der Antinomie und ihrer Auflösung in der zweiten Kritik, wo er sagt, dass „jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei“ (5:94). Nichtsdestotrotz gibt es Interpreten, die bestreiten, dass Kant einen Determinismus in diesem Sinne verteten hat: Nach Bojanowski können wir einen Willen, dem wir Freiheit zuschreiben, „nicht zugleich als vollständig naturkausal determiniert betrachten“ (Bojanowski 2012, 72). Bojanowski zufolge handelt es sich sowohl bei Determinismus als auch bei Freiheit um „regulative[] Ideen ohne Wahrheitswert“ (Bojanowski 2012, 72 ; dagegen Rosefeldt 2012, 78 f.).
3. Grundzüge der Auflösung der Antinomie
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Unabhängigkeit von bestimmten Ursachen, nämlich natürlichen Ursachen, die in der Zeit vorhergehen. Bezogen auf das Problem freier Handlungen stellt sich die Antinomie mithin folgendermaßen dar: Handlungen müssen als Ereignisse in der Natur zeitlich vorhergehende Ursachen haben und aus diesen gemäß deterministischer Naturgesetze notwendig folgen. Gleichzeitig verstehen wir unsere Handlungen jedoch als Ergebnisse vernünftiger Überlegung und geleitet durch normative Prinzipien. Das ist eine notwendige Bedingung dafür, dass uns Handlungen zurechenbar sind. Kant möchte in der Auflösung der dritten Antinomie zeigen, dass die beiden Perspektiven auf Handlungen sich nicht ausschließen, sodass wir uns gleichzeitig als natürliche und zurechnungsfähige, freie Wesen verstehen können.
3. Grundzüge der Auflösung der Antinomie Kants Auflösung der Antinomie, die er in drei Schritten darstellt (1. Einleitung (A532-A537/B560 – 565), 2. Schattenriss (A538-A541/B566 – 569), 3. Erläuterung (A542-A558/B570 – 586)), beruht auf der transzendentalphilosophischen Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen. Sie besteht im Kern darin, dass Kant den Geltungsbereich des Naturkausalitätsprinzips – und damit der Antithese – auf den Bereich der Erscheinungen einschränkt, während die Kausalität aus Freiheit – und damit die These – im denkbaren Bereich der Dinge an sich eine mögliche Anwendung findet. Auf diese Weise versucht Kant, in Bezug auf Naturkausalität und Freiheit aus dem ‚Entweder oder‘ ein ‚Sowohl als auch‘, aber „in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit“ (A536/B564) zu machen. Die Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich selbst ist der Schlüssel zur Lösung der Antinomie: „Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten“ (A536/B564). Es ist hilfreich, die Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen, oder Noumena und Phaenomena, kurz darzustellen, um zu verstehen, welche Funktion „Dinge an sich“ in Kants Theorie einnehmen. Auch wenn diese Darstellung hier skizzenhaft bleiben muss, ist sie doch notwendig, um einen wichtigen Zug in Kants Auffassung der Dinge an sich zu verstehen: Einerseits werden Dinge an sich rein negativ als inhaltlich unbestimmte Abstraktionsgegenstände behandelt, aber andererseits werden ihnen auch positive, „intelligible“ Eigenschaften zugesprochen. Die Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen, wie sie in der Transzendentalen Ästhetik getroffen wird, ist eine Konsequenz der Tatsache, dass Menschen die Wirklichkeit nur vermittelt durch den spezifisch menschlichen Erkenntnisapparat erkennen können. Um Erkenntnis zu erlangen, müssen wir
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
gleichermaßen auf Sinnlichkeit und Verstand zurückgreifen, indem wir Anschauungen und Begriffe zu Urteilen verbinden. Kant argumentiert dafür, dass Raum und Zeit notwendige Formen der sinnlichen Anschauung sind, die jede empirische Erkenntnis prägen und somit notwendige Eigenschaften der Dinge sind, so wie sie uns „erscheinen“. Sieht man von unseren sinnlichen Erkenntnisbedingungen ab, so gelangt man zum Begriff des „Noumenon im negativen Verstande“ (A251/B307). Dieser Begriff drückt die Annahme aus, dass es von Menschen unabhängige Erkenntnisgegenstände gibt, aber er ist zunächst nur ein inhaltlich unbestimmter Abstraktionsbegriff. Weil unsere Erkenntnis durch Sinnlichkeit vermittelt sein muss, ist ein solches Ding an sich per definitionem unerkennbar. Diesen rein negativen Begriff ergänzt Kant durch den des „Noumenon in positiver Bedeutung“ (A251/B307). Die Idee dabei ist, dass wir den Dingen außer ihren empirisch erfahrbaren Eigenschaften auch solche Eigenschaften zuschreiben können, die unserer sinnlichen Erkenntnis nicht zugänglich sind, solange diese „intelligiblen“ Eigenschaften nicht mit den beobachtbaren Eigenschaften konfligieren (vgl. Willaschek 1992, 31). Die Möglichkeit der positiven Aussage über Dinge an sich bildet bei der Auflösung der dritten Antinomie explizit den Ausgangspunkt, wenn Kant sagt: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel“ (A538/B566). Genauso wie man dem Gegenstand intelligible Eigenschaften zuschreiben kann, nimmt Kant an, dass man den Gegenstand als Träger eines intelligiblen „Vermögens“ sehen kann, „welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann“ (ebd.). Die Kausalität eines solchen Vermögens ließe sich dann ebenfalls auf zwei Weisen betrachten: „als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt“ (ebd.). Man kann nach Kant also in Bezug auf Gegenstände eine intelligible und eine empirische Betrachtungsweise einnehmen, und entsprechend auch in Bezug auf die Kausalität eines (besonderen) Vermögens von Gegenständen. Diese Unterscheidung wird auch noch auf das „Gesetz ihrer [d. h. der Ursache, CB] Causalität“ angewendet, das Kant den Charakter nennt: Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. Und da würden wir an einem Subjecte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen […]. Zweitens würde man ihm noch einen intelligibelen Charakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht
3. Grundzüge der Auflösung der Antinomie
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Erscheinung ist. Man könnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen (A539/B567).
Die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter ist demnach der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich analog. Entsprechend ist der empirische Charakter „Teil der Sinnenwelt“ (A540/B568) und damit auch den Bedingungen der Zeit unterworfen, während der intelligible Charakter „unter keinen Zeitbedingungen“ (A539/B567) steht und deshalb auch nicht veränderlich ist. Dem intelligiblen Charakter wird Freiheit sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht zugesprochen, insofern eine handelnde Ursache hinsichtlich ihres intelligiblen Charakters „von aller Naturnothwendigkeit, als die lediglich in der Sinnenwelt angetroffen wird, unabhängig und frei“ ist und man zudem sagen kann, „daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange“ (A541/B569). Kants allgemeine Lösung der Antinomie besteht mithin darin, dass Ereignisse in der empirischen Welt einerseits Wirkungen von zeitlich vorhergehenden Ursachen sind, aber andererseits auch als Wirkungen „freier“ Ursachen bzw. „intelligibler Vermögen“ betrachtet werden können, die keinen Zeitbedingungen oder Naturgesetzen unterliegen. Der „empirische Charakter“ beschreibt den naturgesetzlichen Zusammenhang der Wirkungen in der empirischen Welt, während der „intelligible Charakter“ zwar „die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen“, aber selbst nicht Erscheinung und damit nicht naturgesetzlich bestimmt ist. Bevor nun diese Überlegungen auf das Problem der Willensfreiheit und der Zurechenbarkeit bezogen werden, sollen noch zwei wesentliche Punkte der Auflösung der Antinomie benannt werden. Es stellt sich erstens die Frage, wie die Kantische Theorie mit dem Problem der Überdetermination umgeht, und zweitens, ob „intelligible Kausalität“ in der Kantischen Theorie überhaupt ein widerspruchsfreier Begriff ist. Die erste Frage liegt auf der Hand: Wenn die natürlichen Ursachen bereits hinreichend für das Eintreten eines Ereignisses sind, wäre Kausalität aus Freiheit entweder redundant oder würde zur Überdetermination des Ereignisses führen. Unter der Annahme der kausalen Geschlossenheit der Natur kann es nicht gleichzeitig noch „intelligible“ Ursachen geben, die ein Ereignis bedingen. Kants Lösung besteht darin, empirische und intelligible Kausalität nicht als unabhängig voneinander zu betrachten, sondern intelligible Kausalität als grundlegender auszuzeichnen. In diesem Sinne schlägt er vor, dass die „empirische Causalität selbst, ohne ihren Zusammenhang mit den Naturursachen im mindesten zu unterbrechen, doch eine Wirkung einer nichtempirischen, sondern intelligibelen Causalität sein könne“ (A544/B572). Eine „intelligibele Ursache“ steht „samt ihrer Causalität außer der Reihe“ der Erscheinungen, hat aber selbst Wirkungen in
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
dieser Reihe. Auf diese Aussage wird in Bezug auf menschliche Freiheit noch einmal zurückzukommen sein (vgl. Abschnitt 5). Aber lässt sich eine „intelligible Ursache“ überhaupt denken, wo Kant doch die Gültigkeit von Kausalzusammenhängen nur für Erscheinungen gezeigt hatte? Damit wird die zweite Frage angesprochen, was eine „intelligible Ursache“ ist und wie sie Kausalität besitzen kann. Allerdings muss Kant über die genaue Beschaffenheit der Kausalität aus Freiheit in der dritten Antinomie gar nichts sagen. Er geht nur so weit auf ihre Eigenschaften ein, wie es für den Nachweis der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit nötig ist. Dafür reicht es aus, dass man Noumena denken kann und sie – als Noumena in positiver Bedeutung – auch als kausal wirksam denken kann. Auch wenn dies unbefriedigend ist: Im Hinblick auf eine genauere Beschreibung der intelligiblen Kausalität und wie diese auf die empirische Einfluss nehmen kann, drückt Kant sich nur vage aus, denn „über das Causal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen giebt es keine Theorie“ (6:439, Anm.).
4. Der empirische und intelligible Charakter des Menschen Um Kants Charakterbegriff als „Gesetz der Kausalität“ einer Ursache auf den Menschen anzuwenden, ist es zunächst hilfreich zu fragen, wie dieser Charakterbegriff zu dem steht, was wir in einem alltagspsychologischen Verständnis den „Charakter“ einer Person nennen. Der Charakter einer Person beschreibt ihr typisches Verhalten. Wenn wir den Charakter einer Person als „geizig“, „aufbrausend“ oder „verständnisvoll“ bezeichnen, dann beanspruchen wir damit mehr, als nur ein momentanes Verhalten zu beschreiben. In der Alltagspsychologie ist der Charakter das, was das Verhalten einer Person prägt und zu einem gewissen Grade vorhersehbar macht: Von einer geizigen Person erwartet man beispielsweise kein großzügiges Geburtstagsgeschenk. In diesem Sinn ist der Charakter etwas Individuelles, das eine Person von einer anderen unterscheidet. Auch Kant verwendet den Begriff des Charakters in der Anthropologie synonym für „Unterscheidungszeichen“ (7:285). Die alltagspsychologische Bedeutung von „Charakter“ lässt sich nun durchaus als „Gesetz der Kausalität“ einer Ursache deuten: Man kann den Charakter einer Person als Disposition zu bestimmten Handlungen bezeichnen.⁹⁹ Der empirische Charakter eines Menschen lässt sich als Disposition verstehen, unter bestimmten empirischen Bedingungen auf typische Weise zu reagieren. Obwohl der empirische Charakter „durch Erfahrung erkannt“ (A540/B568) wer-
Für eine Interpretation des Charakters als Disposition siehe z. B. Allison (1998, 478).
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den kann, ist es aufgrund seines Dispositionscharakters nicht möglich, ihn unmittelbar wahrzunehmen. Auch physikalische Dispositionen wie die Zerbrechlichkeit von Glas lassen sich nicht direkt beobachten. Vielmehr wird von beobachtbarem Verhalten, z. B. dass Glas beim Auftreffen auf harte Unterlagen zerbricht, auf das Vorliegen einer Disposition geschlossen, die der Gegenstand auch dann besitzt, wenn die Manifestationsbedingungen nicht vorliegen. Entsprechend sagt Kant, dass der empirische Charakter „selbst aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß“ (A549/B577, H.v.m.). Die alltagspsychologischen Charakterbeschreibungen wie „verständnisvoll“, „nachtragend“ etc. sind also Beispiele für bruchstückhafte Beschreibungen des empirischen Charakters eines Menschen. Kant betont, dass es in „Ansehung des empirischen Charakters […] keine Freiheit“ gibt (A549/B577 f.), sondern das gesamte Verhalten notwendig durch natürliche Ursachen bestimmt ist. Wenn wir die Perspektive einnehmen, aus der sich der empirische Charakter erschließen lässt, können wir „lediglich beobachten“ und „die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen“ (A550/B578). Diese Herangehensweise zielt darauf ab, die Handlungen zu „erklären“ und ist eine Aufgabe für die „spekulative“ Vernunft. Eine andere Perspektive, so Kant, nimmt man „in praktischer Absicht“ ein. Aus dieser Perspektive betrachtet man die Handlungen, „so fern Vernunft die Ursache ist, sie selbst zu erzeugen“, und das heißt wiederum: Man nimmt an, dass die Handlungen geschehen sind, „nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren“ (A550/B578). So gelangt man zum intelligiblen Charakter des Menschen. Zunächst einmal lässt sich fragen, ob jeder Gegenstand einen intelligiblen Charakter hat. Dies wäre der Theorie zufolge, so wie sie bisher entfaltet wurde, nicht ausgeschlossen, denn schließlich kann man jeden Gegenstand auch als „Ding an sich“ betrachten. Wenn jeder empirische Gegenstand jedoch einen intelligiblen Charakter hätte, wäre dies ein unplausibles Ergebnis für eine Theorie der Zurechnung, da dann beispielsweise unbelebte Gegenstände für transzendental frei gehalten werden müssten.¹⁰⁰ An dieser Stelle wird die Unterscheidung zwischen Noumena in negativer und positiver Bedeutung relevant: Jeder Gegenstand kann als Noumenon in negativer Bedeutung betrachtet werden, da es immer möglich ist, in einem Gedankenexperiment von sinnlichen Erkenntnisbedingungen zu abstrahieren. Doch Kant zufolge muss es einen Anlass geben, einem Gegenstand, wenn er als Ding an sich betrachtet wird, auch positive, intelligible
Vgl. Beck 1983, 42.
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Eigenschaften zuzuschreiben. Zunächst einmal formuliert Kant vorsichtig, man könne annehmen „daß unter den Naturursachen es auch welche gebe, die ein Vermögen haben, welches nur intelligibel ist“ (A545/B573, H.v.m.). Noch deutlicher wird Kant, wenn er sich dem Menschen zuwendet und ihn von der unbelebten und tierischen Natur abgrenzt: „Bei der leblosen, oder bloß tierischbelebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken“ (A546/B574, H.v.m.). Um das Verhalten von Tieren oder die Beobachtungen an unbelebten Gegenständen zu verstehen, hat die Zuschreibung von „intelligiblen Vermögen“ keinen Erklärungswert. Nur im Falle des Menschen, so nimmt Kant an, gibt es einen Anlass, ihm ein intelligibles Vermögen zuzuschreiben: Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperception, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft (A546 f./B574 f.).
Die Vermögen Vernunft und Verstand sind demnach der Grund, dem Menschen einen intelligiblen Charakter zuzuschreiben. Nun klingt es an dieser Stelle so, als würde der Mensch sich „durch bloße Apperception“ als freies Wesen erkennen. Dies jedoch widerspricht Kants Auffassung, dass man das Intelligible und damit auch sich selbst als Ding an sich nicht erkennen kann (vgl. B153, 428 ff.). Manche Interpreten betrachten diese Stelle deshalb als Fehler Kants, den er später korrigiert habe (vgl. Ludwig 2010, 21). Eine vorsichtigere Lesart wäre, dass sich der Mensch zwar nicht durch Apperzeption als freies Wesen erkennt, aber dass er sehr wohl wahrnimmt, dass er vernünftige Überlegungen anstellen und nach ihnen handeln kann und dies als Indiz dafür nimmt, sich einen intelligiblen Charakter zuzuschreiben. Nach dem bisher Gesagten liegt es nahe, den intelligiblen Charakter nicht als etwas Individuelles zu verstehen, sondern mit dem Vernunftvermögen gleichzusetzen, das allen Menschen als vernünftigen Wesen gemeinsam ist.¹⁰¹ Doch Kant
Den Charakter als Vernunftvermögen zu sehen, passt auch gut zur Nähe des Charakterbegriffs zu dem der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ist bei Kant ebenfalls nichts Individuelles, sondern bezeichnet das (reine) Vernunftvermögen: „Es ist nichts anders als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig,
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verwendet den Begriff des Charakters auch in der Bedeutung, eine individuelle Eigenschaft einer Person zu sein, z. B. wenn er sagt, dass sich eine Person ihren Charakter „selbst verschafft“ (5:98)¹⁰² oder dass „ein anderer intelligibler Charakter […] einen andern empirischen gegeben haben“ würde (A556/B584). Ferner gibt es Passagen, in denen Kant die These vertritt, dass der intelligible Charakter weder ein allgemeines Vermögen ist, noch eine ganz individuelle Ausprägung besitzt, sondern mit der „Gesinnung“ eines Menschen gleichzusetzen ist, so zum Beispiel wenn Kant von der „Gesinnung, die das moralische Gesetz angeht, (von dem Charakter)“ spricht (5:99). Die Gesinnung ist insofern individuell, als sie die fundamentale moralische Einstellung des Individuums ausdrückt, doch sie kann im Rahmen von Kants Theorie, die er selbst als Rigorismus bezeichnet, nur zwei Werte annehmen: Entweder, die Gesinnung ist gut (wenn die Person das Moralgesetz zur Bedingung der Verwirklichung ihrer Glückseligkeit macht), oder sie ist böse (vgl. 6:22 ff.). Anhand der Gesinnung können Personen, unerachtet ihrer sonstigen individuellen Besonderheiten, nur in zwei Klassen, gut und böse, eingeteilt werden. Diese drei Möglichkeiten, den intelligiblen Charakter zu verstehen – als vernünftige Fähigkeit, als individuelle Eigenschaft und als Gesinnung – sollen im Folgenden, auch durch Einbeziehung von Passagen aus der Anthropologie, ¹⁰³ zusammengeführt werden. Dabei tritt in Bezug auf den intelligiblen Charakter genau dasselbe Interpretationsproblem auf wie in Bezug auf transzendentale
ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zur intelligibelen Welt gehört“ (5:87, H.v.m.). Kant verwendet an dieser Stelle zwar nicht den Begriff des „intelligiblen“ Charakters, aber er beschreibt den Charakter als einen, „nach welchem er [Bezug: das vernünftige Wesen, CB] sich als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet“ (5:98). Aufgrund der Rolle, Charakter einer „von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache zu sein“, auf den die Zurechnung von Handlungen zurückgeht, lässt sich der an dieser Stelle erwähnte Charakter mit dem intelligiblen Charakter der ersten Kritik identifizieren. In Kants Anthropologie spielt der Charakterbegriff eine große Rolle, ist doch ihr zweiter Teil mit „Anthropologische Charakteristik“ betitelt. In der Anthropologie spricht Kant – bis auf eine Ausnahme (7:324) – nicht vom intelligiblen oder empirischen Charakter, sondern vom physischen und moralischen (7:285). Diese beiden Begriffspaare entsprechen sich im Wesentlichen: Der physische Charakter einer Person umfasst ihr „Naturell“ und „Temperament“, während der moralische Charakter ihre „Denkungsart“ bzw. den „Charakter schlechthin“ bezeichnet. Der physische Charakter kommt dem Menschen als „Naturwesen“ zu, während der moralische Charakter ihn als „vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens“ auszeichnet (ebd.). Ein Unterschied zum Begriffspaar des empirischen und intelligiblen Charakters scheint mir zu sein, dass der physische Charakter nicht als „Zeichen“ oder Ausdruck des moralischen zu sehen ist. Wie ich im Haupttext weiter unten ausführe, ist dies jedoch Kants Meinung zum Verhältnis von empirischem und intelligiblen Charakter.
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Freiheit: Während Kant in der ersten Kritik den intelligiblen Charakter mit dem Vernunftvermögen im Allgemeinen in Verbindung setzt, wird er in späteren Schriften nur noch im Zusammenhang mit dem Moralvermögen erwähnt.¹⁰⁴ Es ist nicht überraschend, dass sich parallele Interpretationsfragen stellen, ist doch der intelligible Charakter dasjenige, was Kant dem Menschen als transzendental freiem Wesen zuschreibt. Deshalb soll dieses Problem, das im letzten Kapitel schon in Bezug auf transzendentale Freiheit diskutiert wurde, hier nicht wieder neu aufgenommen werden, sondern das Augenmerk mehr auf den Zusammenhang zwischen dem Charakter als Fähigkeit, individueller Eigenschaft und Gesinnung gelegt werden. Der Zusammenhang sieht, in groben Zügen skizziert, folgendermaßen aus: Die Fähigkeit, die Kant als intelligiblen Charakter bezeichnet, führt durch ihre Ausübung zum Resultat des individuellen Charakters, dessen moralische Qualität in der Gesinnung zum Ausdruck kommt. Auch wenn in der ersten Kritik dieser Zusammenhang noch nicht vollständig sichtbar wird, ist er doch mit Kants dortigen Aussagen verträglich. Betrachten wir die drei Elemente der Reihe nach: Als Fähigkeit zum vernünftigen (moralischen) Handeln ist der intelligible Charakter bei jedem Menschen derselbe und muss vorausgesetzt werden, wenn man den Menschen als vernünftiges Subjekt sieht. Wie deutlich geworden ist, spricht Kant in der ersten Kritik vornehmlich vom intelligiblen Charakter in dieser Bedeutung, d. h. als Fähigkeit bzw. Vermögen. Die Ausübung dieser Fähigkeit hat als Resultat einen individuellen Charakter. Kant fasst in der Anthropologie die beiden Bedeutungen von Charakter – als Fähigkeit und Resultat ihrer Ausübung – zusammen: „[D]er erste Charakter der Menschengattung ist das Vermögen als vernünftigen Wesens, sich für seine Person sowohl als für die Gesellschaft […] einen Charakter überhaupt zu verschaffen“ (7:329, H.v.m.). Wenn der individuelle intelligible Charakter das Resultat der Ausübung des Vernunftvermögens sein soll, dann muss er in Maximen bestehen, die Ausdruck der Autonomie und Zweckrationalität der Person sind. Entsprechend können auch Handlungen, die nach diesen Maximen geschehen, auf den intelligiblen Charakter der Person zurückgeführt – oder in Kants Terminologie: ihm „beigemessen“ (A555/B583) – werden. Nun wird verständlich, warum Handlungen einer Person zurechenbar sind, wenn sie dem intelligiblen Charakter „beigemessen“ werden können: Genau dann ist die zentrale notwendige Bedingung für Zurechnung erfüllt, dass die Person mit Blick auf diese Handlung frei war.Versteht So zum Beispiel auch in der Anthropologie: „[E]in mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in diesem Bewußtsein selbst mitten in den dunkelsten Vorstellungen unter einem Pflichtgesetze […]. Dieses ist nun schon selbst der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt“ (7:324).
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man transzendentale Freiheit im weiten Sinn, gehört zum intelligiblen Charakter das Vermögen, sich nach hypothetischen und kategorischen Imperativen richten zu können. Der individuelle intelligible Charakter besteht dementsprechend aus allen Maximen und Handlungen, die nach diesen Imperativen gewählt werden können. Wie im zweiten Kapitel ausgeführt, sind auch unmoralische und unkluge Handlungen zurechenbar, solange die Person zum Zeitpunkt der Handlung fähig war, die unmoralische oder unkluge Handlung zu unterlassen. Entsprechend müssen zum intelligiblen Charakter solche Handlungen gehören, in Bezug auf die die Person in der Lage war, sich nach ihren vernünftigen Einsichten zu richten. Die Ansicht, dass der intelligible Charakter auch unmoralische Maximen umfassen kann, liegt auch Kants Aussage zugrunde, dass „der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse“ sein kann (6:37). Dass zurechenbare Handlungen dem intelligiblen Charakter „beigemessen“ werden können, heißt zusammengefasst, dass sie als Ausdruck der transzendentalen Freiheit der Person gesehen werden (hier wird der intelligible Charakter als allgemeines Vermögen verstanden) und dass sie Ausdruck ihrer selbst gewählten Maximen sind. Kants Bemerkung, dass „der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse“ sein kann (6:37), leitet über zu der Frage nach der moralischen Qualität des Charakters bzw. der Gesinnung. Auch wenn der Begriff der Gesinnung erst in der Religionsschrift und in der Tugendlehre einen wichtigen Stellenwert einnimmt, wird er bereits in der ersten (vgl. z. B. A829/B857) und zweiten Kritik (vgl. 5:99) erwähnt. Die Gesinnung, so führt Kant in der Religionsschrift aus, ist „der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen“ und „kann nur eine einzige sein“ (6:25). Kant hat offenbar das Bild einer Hierarchie von Maximen vor Augen, in der jeder Maxime eine allgemeinere Maxime zugrunde liegt. Dies wird deutlich, wenn Kant sagt, dass eine freie Handlung auf eine Maxime „und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern […] Maximen, der selbst wiederum Maxime ist“ schließen lässt (6:20). Die Maxime, die der „Grund aller […] Maximen“ ist, identifiziert Kant mit der Gesinnung. Schwierigkeiten tun sich auf, wenn Kant die Gesinnung und damit den Charakter selbst als etwas darstellt, das frei gewählt ist (vgl. 6:31). Das Problem ist, wie die oberste Maxime selbst frei gewählt sein kann, wenn ihr keine Maxime als Entscheidungskriterium zugrunde liegt. Wie Kant diese Schwierigkeit versucht zu lösen, ist Gegenstand des siebten Abschnitts. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass der intelligible Charakter in seiner individuellen Bedeutung und die Gesinnung als das oberste Prinzip dieses Charakters zwei verschiedene (und scheinbar gegensätzliche) Funktionen bezüglich der Zurechenbarkeit von Handlungen erfüllen: Zum einen wird durch den Ursprung der Handlung im Charakter der Person der Zusammenhang von Handlung und Person deutlich – die Handlung wird durch die Verbindung zu den anderen Handlungen und Einstellungen
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der Person verständlich und kann als die eigene Handlung der Person begriffen werden. Zum anderen soll die Selbstwahl des Charakters und der Gesinnung garantieren, dass die Handlung in einem unbedingten Sinn frei ist, sodass die Person auch in unbedingter Weise verantwortlich für sie ist.¹⁰⁵ Kommen wir zum Verhältnis des empirischen und intelligiblen Charakters. In seiner allgemeinen Lösung der Antinomie hatte Kant dafür argumentiert, dass die empirischen Ursachen die Erscheinungen zwar notwendig bestimmen, aber selbst noch intelligible Ursachen haben könnten. Ebenso konstatiert er in Bezug auf den empirischen und intelligiblen Charakter des Menschen, dass der empirische die Handlungen des Menschen zwar vollständig festlegt, jedoch der empirische Charakter (die „Sinnesart“) „wiederum im intelligibelen Charakter (der Denkungsart) bestimmt“ ist (A552/B580). Einerseits hat also der empirische Charakter seinen Grund im intelligiblen, und andererseits ist der empirische Charakter das „sinnliche Zeichen“ (A546/B574) bzw. das „sinnliche Schema“ (A553/B581) des intelligiblen. Diese Beziehung lässt sich auch als Ausdrucksrelation bezeichnen: Der empirische Charakter ist ein Ausdruck des intelligiblen (umfasst jedoch darüber hinaus empirische Elemente, die kein Ausdruck der Freiheit sind). Der Schluss vom empirischen Charakter auf den intellgiblen – bzw. vom beobachtbaren Verhalten auf den empirischen und dann auf den intelligiblen Charakter – ist eine Aufgabe, die mit epistemischen Unsicherheiten behaftet ist. Der empirische Charakter, so wurde oben gesagt, ist als Disposition nicht direkt beobachtbar. Handlungen können als ein Effekt des empirischen Charakters gesehen werden, der selbst darin besteht, auf bestimmte empirische Umstände auf bestimmte Weise zu reagieren. Der empirische Charakter ist demnach für Regularitäten im Verhalten verantwortlich – doch sind die Strukturen, auf die die beobachtbaren Regularitäten zurückgehen, mit den Maximen einer Person zu identifizieren?¹⁰⁶ Das würde deshalb verwundern, weil oben der individuelle intelligible Charakter als die Menge der Maximen der Person verstanden wurde. Kants eigene Darstellung von Maximen ist zweideutig bezüglich der Frage, ob sie empirisch zugänglich sind: Einerseits meint Kant, Maximen seien selbst gewählt und ihre Entstehung als Teil einer „empirischen Seelenlehre“ zu beschreiben (4:427), aber andererseits vertritt er die Ansicht, Maximen könne man „nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst“ (6:20). Diese Zweideutigkeit erinnert an die Charakterisierung praktischer Freiheit, die ebenfalls einen empiri-
Das betont Allison (1990, 139). Anders dazu Wood, der meint, dass für Kant zurechenbare Handlungen auf einen gegebenen, unveränderlichen Charakter zurückgehen: „Kant, along with Hume, sees that the moral accountability of a man depends on his possession of a fixed character or disposition“ (Wood 1970, 220 f.). Das meint Allison 1990, 33.
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schen Aspekt hat, der in der „Erfahrung bewiesen werden“ kann (A802/B830), und einen transzendentalen, der nicht empirisch ist. Ähnlich lässt sich zwischen einer Maxime und ihrem empirischen Ausdruck, der in Regelmäßigkeiten im Handeln besteht, unterscheiden. Genauso wie der transzendentale Aspekt praktischer Freiheit ist die Tatsache, dass eine Maxime unser Handeln bestimmt, nicht empirisch beobachtbar. Wir können eine Maxime zwar wählen, aber uns nicht sicher sein, ob wir tatsächlich nach dieser Maxime handeln. Ob Maximen nun Teil des intelligiblen oder empirischen Charakters sind, lässt sich demnach nicht eindeutig beantworten. Hilfreich ist es, zwischen „intelligiblen“ und „empirischen“ Maximen zu unterscheiden, je nachdem, ob sie auf Grundlage der Erfahrung erschlossen werden können oder nicht.¹⁰⁷ Maximen nehmen also eine interessante „Zwischenposition“ in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Empirischen ein, auf die ich im Rahmen der Frage nach der Identität der Person zurückkomme (Kapitel 8). Es lassen sich drei Möglichkeiten denken, wie man sich den Rückschluss vom empirischen auf den intelligiblen Charakter vorstellen kann, je nachdem, ob man den intelligiblen Charakter als allgemeines Vernunftvermögen, als individuelle, vernünftige Persönlichkeit oder als Gesinnung versteht. Zum einen können wir die empirischen Erscheinungen zum Ausgangspunkt nehmen, um zu fragen, ob eine Handlung überhaupt der vernünftigen Kontrolle unterstand, was der Fall ist, wenn die Handlung nach einer Maxime geschah. Zum anderen kann man den Rückschluss auf den intelligiblen Charakter auch als den Versuch auffassen, zu verstehen, aus welchen vernünftigen Gründen bzw. Maximen die Person gehandelt hat und sich damit auf den individuellen intelligiblen Charakter der Person beziehen. Drittens lässt sich eine Handlung moralisch bewerten und dadurch ein Hinweis auf den Charakter, nun verstanden als Gesinnung, gewinnen: Im Fall einer legalen Handlung ist zwar nicht sicher, ob die Gesinnung tatsächlich moralisch gut ist, da nicht sicher ist, ob die Handlung aus Pflicht oder doch aus einem „geheime[n] Antrieb der Selbstliebe“ (4:407) geschehen ist. Doch im Fall einer pflichtwidrigen Handlung scheint sich auf eine böse Gesinnung schließen zu lassen, die die Befolgung des Moralgesetzes nicht unbedingt über die Interessen der Selbstliebe stellt. Eindeutig ist dieser Schluss allerdings nicht, denn erstens kann, wie in Abschnitt 7 diskutiert wird, eine durch „Revolution“ erworbene gute Gesinnung sich empirisch graduell immer noch in der „Reform“ des Verhaltens
Willaschek unterscheidet zwischen „intelligiblen“ und „empirischen“ Maximen (vgl. Willaschek 1992, 129), wobei letztere die Regelmäßigkeiten sind, die in unserem Handeln empirisch erfahrbar sind und den empirischen Charakter einer Person ausmachen. Als intelligibel kann eine Maxime bezeichnet werden, zu der man sich aufgrund vernünftiger Überlegung entschlossen hat.
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ausdrücken und somit noch einzelne pflichtwidrige Handlungen zulassen. Zweitens kann eine pflichtwidrige Handlung auf Willensschwäche zurückgehen und somit vereinbar mit einem guten Willen sein (vgl. Kapitel 2, Abschnitt 8). In jedem Fall ist das Schließen auf den intelligiblen Charakter mit Unsicherheiten behaftet. In einer Fußnote zu der Aussage, dass wir den intelligiblen Charakter nicht sicher erkennen können, macht Kant auf eine Schwierigkeit aufmerksam: Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben ist, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten (A551/B579 Anm., H.v.m.).
Dass unsere „Zurechnungen […] nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ können, bedeutet in negativer Hinsicht, dass wir nicht sicher wissen, ob und inwiefern die Handlung dem „intelligibelen Charakter beigemessen“ (A555/ B583) werden kann, d. h. erstens, ob sie unter der „Macht der Vernunft“ stand, und wenn dies bejaht werden kann, aus welchem Grund sie vollzogen wurde und, drittens, welche Gesinnung (bzw. bezogen auf die einzelne Handlung: welche Maxime) ihr zugrunde lag. Positiv formuliert heißt der Bezug auf den empirischen Charakter, dass uns das beobachtbare Verhalten als Grundlage für die Zurechnung der Handlung zur Verfügung steht. Indem Kant den Bezug auf den empirischen Charakter betont, vertritt er die These, dass wir bei der Zurechnung von Handlungen holistisch vorgehen müssen: Der empirische Charakter einer Person besteht, wie oben dargestellt, in der Gesamtheit des empirisch beobachtbaren Verhaltens bzw. der ihnen zugrunde liegenden Regelmäßigkeiten. Dass die Zurechnung einer Handlung auf den empirischen Charakter bezogen werden muss, lässt sich als Aufforderung verstehen, bei der Zurechnung den empirisch erschließbaren Zusammenhang der Handlungen einer Person zu berücksichtigen. Wird eine Handlung einer Person zugerechnet, muss es empirische Eigenschaften der Person geben, die einen Bezugspunkt für Zurechnung bilden (vgl. dazu Kapitel 8). Allerdings ist es nicht ganz eindeutig, auf welche Art der Unsicherheit beim Schließen vom empirischen auf den intelligiblen Charakter Kant in der zitierten Fußnote genau anspielt. Interpretationsbedürftig ist unter anderem, worauf sich das von mir kursiv hervorgehobene „davon“ bezieht. Davon hängt ab, was nach Kants Ansicht „niemand ergründen“ kann. Es gibt zwei Möglichkeiten: Erstens könnte es Kant in der Anmerkung um die Frage gehen, ob eine Handlung überhaupt zurechenbar ist oder nicht. „Davon“ könnte sich auf den
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gesamten empirischen Charakter einer Person beziehen, der sich aus zurechenbarem („reine Wirkung der Freiheit“) und unzurechenbarem („bloße[…] Natur“) Verhalten zusammensetzt.¹⁰⁸ Die von Kant benannte Schwierigkeit bestünde dann darin, zwischen diesen beiden Arten von Verhalten zu unterscheiden. Zweitens ist es möglich, dass Kant auf die Frage nach der Größe von Verdienst und Schuld bezüglich einzelner Handlungen anspielt, die erst auftritt, wenn die prinzipielle Zurechenbarkeit der Handlung schon feststeht. „Davon“ bezieht sich auf (einzelne) „Handlungen“, die sich sowohl Anteilen bloßer Natur als auch reiner Freiheit verdanken. Die Schwierigkeit bestünde dann darin, nicht zu wissen, „wie viel“ der eine und andere Anteil ausmacht.¹⁰⁹ Gegen die erste Interpretation sprechen zwei Überlegungen: Erstens möchte Kant wahrscheinlich nicht sagen, wir könnten prinzipiell schwer zwischen Handlungen unterscheiden, die auf bloße Natur zurückgehen, und solchen, bei denen wir uns als frei annehmen können. Es geht Kant im Haupttext offensichtlich nur um Handlungen, die nicht zur ersten Klasse der unabsichtlichen Körperbewegungen gehören. In Bezug auf absichtliche Handlungen stellt sich dann die Frage der Antinomie: Ob sie angesichts der Tatsache, dass sie auch Teil der Natur sind, frei und zurechenbar sein können. Doch wenn diese Frage nach der Auflösung der Antinomie bejaht werden kann, ist es im Einzelfall meist nicht zweifelhaft, ob ein Verhalten überhaupt als Handlung interpretierbar ist oder nicht (d. h. ob die Handlung auf erster Stufe zurechenbar ist). Viel schwieriger ist eine andere Frage zu beantworten: Die nach der Größe von Schuld und Verdienst. Dies leitet zur zweiten Schwierigkeit dieser Interpretation über: Kant geht es in der Anmerkung um die „eigentliche Moralität“ der Handlungen, um „Schuld und Verdienst“. Die Frage nach Schuld und Verdienst ist jedoch eine, die die prinzipielle Zurechenbarkeit der Handlung bereits voraussetzt (vgl. Kapitel 1). Dann aber geht es Kant in der Fußnote nicht darum, zwischen prinzipiell zurechenbaren und unzurechenbaren Handlungen zu unterscheiden, sondern vielmehr – die prinzipielle Zurechenbarkeit vorausgesetzt – um die zweite Stufe der Zurechnung der Handlung zu Schuld und Verdienst. Diesem Hinweis folgt die zweite Interpretation, die die Frage, „wie viel“ Freiheit oder Natur im Spiel ist, als relevant für die Größe der Zurechnung zu Schuld und Verdienst sieht. Auch in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten
Diese Interpretation wird von Willaschek vertreten. Er meint, „davon“ beziehe sich auf den „empirischen Charakter“, genauer gesagt das „gesamte Verhalten eines Menschen, das vollständig zu seinem empirischen Charakter gehört“ (Willaschek 1992, 124 f. und Anm. 19 dazu). Allison scheint ebenfalls diese beiden Interpretationsmöglichkeiten zu sehen: „we can never be certain whether [erste Interpretation, CB], or to what extent [zweite Interpretation, CB], a given action is due to nature or freedom“ (Allison 1990, 43).
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spricht Kant davon, dass „[subjectiv] […] der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen“ zu Schuld und Verdienst „nach der Größe der Hindernisse zu schätzen [ist], die dabei haben überwunden werden müssen“ (6:228). Bei der Zurechnung zu Schuld und Verdienst können demnach subjektive Faktoren wie empirische Hindernisse berücksichtigt werden, die die Person zu überwinden hatte. Ein anderer Aspekt, der mit dieser zweiten Interpretation vereinbar ist, ist der, dass es Kant hier auch auf das Motiv der Handlung ankommt, das nicht zweifelsfrei erkennbar ist.Wenn die Handlung nur aus Pflicht geschehen ist, d. h. nur durch das Gefühl der Achtung motiviert war, ist sie eine „reine Wirkung der Freiheit“. Es ist hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Handlung dies (zumindest nach der Interpretation transzendentaler Freiheit im weiten Sinn) auf andere Weise ist, als sie es gemäß des Haupttextes ist: Der Haupttext sagt, dass die Handlung als transzendental frei und zurechenbar betrachtet werden kann (auch wenn sie „aus Neigung“ vollzogen werden sollte), während sie in der Anmerkung in Bezug auf das Motiv, welches im Fall der Achtung „reine Wirkung der Freiheit“ ist, beurteilt wird. Dass Kant in der Fußnote das Motiv der Handlung in den Blick nimmt, ist damit vereinbar, dass es ihm um Schuld und Verdienst geht: Im ersten Kapitel wurde erläutert, inwiefern das Motiv der Handlung für die Zurechnung von Verdienst und Schuld eine Rolle spielen kann: Die Zurechnung zum Verdienst als Gesinnungsverdienst setzt voraus, dass die Handlung aus Pflicht vollzogen wurde. Im ersten Kapitel wurde dargestellt, dass die Befolgung des allgemeinen ethischen Gebots, aus Pflicht pflichtmäßig zu handeln (vgl. 6:391), eine verdienstliche Gesinnung konstituiert. In ethischer Hinsicht ist die Frage von Verdienst und Schuld demnach vom Motiv und der Frage, ob die Handlung „reine Wirkung der Freiheit“ im Sinne des Motivs der Achtung war, abhängig. Im Gegensatz dazu ist in Bezug auf rechtliche Zurechnung nicht relevant, ob die Pflicht das Handlungsmotiv war. Jedoch ist es in Bezug auf rechtliche Zurechnung zur Schuld durchaus wichtig, inwiefern die „bloße Natur“, z. B. in Gestalt von starken Affekten, Einfluss auf die Handlung genommen hat. Wenn die Handlung überhaupt auf erster Stufe zurechenbar ist, muss ihre transzendentale Freiheit außer Frage stehen. Wenn aber natürliche Faktoren dazu geführt haben, dass die Person entgegen ihrer eigentlichen Absicht pflichtwidrig gehandelt hat, kann dies für die Zurechnung zur Schuld, so Kant, „einen Unterschied“ machen, „der Folgen hat“ (6:228). Das Hauptproblem für diese zweite Interpretation ist, wie eine unterschiedlich starke „Mischung“ von Natur und Freiheit bei verschiedenen Handlungen möglich sein kann. Diese Redeweise scheint vor dem Hintergrund der Auflösung der dritten Antinomie verfehlt, denn dort zeigen sich Freiheit bzw. Naturbestimmung aus zwei getrennten Perspektiven, sodass man nicht von einer „Mischung“ sprechen dürfte. Die Auflösung dieses Problems ist Gegenstand des neunten Kapitels.
5 Dinge an sich und Erscheinungen
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5. Dinge an sich und Erscheinungen: Zwei Perspektiven auf menschliche Handlungen Kants Lösung der Antinomie beruht auf seinem transzendentalen Idealismus und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen, die auch die Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter mit sich bringt. Doch wie ist diese Unterscheidung zu deuten? Eine „Zwei-Welten-Lesart“ versteht die Unterscheidung als eine zwischen zwei ontologisch verschiedenen Dingen.¹¹⁰ Als „Dinge an sich“, so die Interpretation, hätten wir an einer geistigen Welt teil, die von der empirischen Welt getrennt existiert und auf mysteriöse Weise kausalen Einfluss auf letztere nimmt. Die ZweiWelten-Interpretation legt den Eindruck nahe, dass es sich bei dem Menschen als empirischem und als intelligiblem Wesen um zwei verschiedene Subjekte handelt und führt zu der eingangs erwähnten Frage, wie der Mensch der empirischen Welt bestraft werden könne, wenn doch nur der Mensch der intelligiblen Welt frei ist. Auch wenn Kant selber diese Interpretation in manchen Passagen nahelegt, steht doch als Alternative die sogenannte „Zwei-Aspekte-Lesart“ des Transzendentalen Idealismus zur Verfügung.¹¹¹ Dieser Interpretation zufolge handelt es sich nicht um zwei verschiedene Arten von Dingen, sondern um zwei verschiedene Aspekte ein und desselben Dings. Die Kennzeichnung „an sich selbst“ ist dieser Interpretation zufolge keine Bestimmung von „Ding“, sondern eine adverbiale Bestimmung zu „betrachtet“ (vgl. Prauss 1974): Wir können demnach ein Objekt als Erscheinung oder als Ding an sich selbst betrachten. Ganz im Sinne dieser Interpretation spricht Kant auch davon, dass die Kritik der reinen Vernunft „das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst“ (BXVIIf., H.v.m.). Eine Zwei-Aspekte-Lesart, die den Unterschied der beiden Aspekte vor allem auf einen Unterschied in der Betrachtungsweise, und weniger auf einen Unterschied auf Seiten der Objekte sieht, wird auch als „methodologische“ Interpretation bezeichnet (vgl. Rosefeldt 2007, 170). Doch es wurde der berechtige Einwand erhoben, dass eine solche Interpretation nicht ausreicht, um die philosophische Funktion zu erfüllen, die Kant der Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen zuschreibt. Denn nur weil ich davon abstrahiere, dass die Dinge in Raum und Zeit existieren, heißt das noch lange nicht, dass sie tatsächlich nicht in
So Guyer 1987, 335; Strawson 1966, 236ff; Walter 2001, 5; Wimmer 1990, 99. Strawson meint, dass Kant die Verbindung der beiden Welten nicht erklären kann und dies einen „aspect of incoherence“ in Kants transzendentalem Idealismus darstellt (Strawson 1966, 249). Vgl. z. B. Prauss 1974; Allison 1990; Willaschek 1992, Korsgaard 1996, Allais 2004, Rosefeldt 2007
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
Raum und Zeit existieren.¹¹² Innerhalb der praktischen Philosophie gilt dasselbe: Die unterschiedliche Betrachtungsweise muss einem Unterschied in den Eigenschaften der Dinge bzw. der Menschen und ihrer Handlungen korrespondieren. Dieser „ontologischen“ Zwei-Aspekte-Lesart zufolge (Rosefeldt 2007, 170) kommen verschiedene Aspekte – im Sinne von Eigenschaften – der Gegenstände in den Blick, je nachdem welche Perspektive bzw. welchen Standpunkt man einnimmt, um sie zu betrachten. Wenn wir ein Objekt als Erscheinung betrachten, nehmen wir einen Standpunkt ein, von dem aus wir „lediglich beobachten“ (A550/B578) und die empirischen Eigenschaften des Objekts erkennen können. Wenn wir dasselbe Objekt „an sich“ betrachten, so muss man gemäß der oben erläuterten Unterscheidung zwischen Noumena in negativer und positiver Bedeutung zwei Möglichkeiten unterscheiden: Betrachten wir das Objekt als Noumenon in negativer Bedeutung, abstrahieren wir lediglich von allen Eigenschaften, die wir aufgrund unseres sinnlichen Erkenntnisapparats empirisch wahrnehmen können. Betrachten wir das Objekt in positiver Bedeutung, schreiben wir ihm darüber hinaus auch „intelligible“ Eigenschaften zu. Allerdings ist uns der Standpunkt, von dem aus wir die intelligiblen Eigenschaften eines Dings erkennen können, nicht zugänglich. Um Erkenntnis zu gewinnen, benötigen wir sowohl sinnliche Anschauung als auch Begriffe, die der Verstand gibt, während ein „intuitiver Verstand“ oder eine „intellektuelle Anschauung“ alle Eigenschaften eines Dings in einem einheitlichen Erkenntnisakt erfassen könnte. Kant ist der Ansicht, dass wir die intelligiblen Eigenschaften zwar nicht (theoretisch) erkennen, aber doch denken können. Die epistemische Perspektive der intellektuellen Anschauung fällt bei Kant mit der Perspektive der Vernunft zusammen. So spricht er beispielsweise davon, dass die „Dinge, […] durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden“ können (A28/B44). Folglich können Menschen auch, insofern sie Vernunft besitzen, einen gewissen, wenn auch epistemisch eingeschränkten Zugang zu den Dingen an sich haben, wenn sie als Noumena in positiver Bedeutung betrachtet werden. Übertragen auf den Gegenstandsbereich der menschlichen Handlungen lautet die Idee, dass wir uns selbst und unsere Handlungen von den beschriebenen zwei Standpunkten aus betrachten können. Kant selbst verwendet diese Beschreibung, wenn er seine Unterscheidung zwischen einer „Sinnenwelt“ und der „Verstandeswelt“ in der Grundlegung erläutert, indem er fragt
Vgl. dazu auch Rosefeldt (2007, 171), der Van Cleves treffende Formulierung des Problems zitiert: „How is it possible for the properties of a thing to vary according to how it is considered? As I sit typing these words, I have shoes on my feet. But consider me apart from my shoes: so considered, am I barefoot? I am inclined to say no; consider me how you will, I am not now barefoot“ (Van Cleve 1999, 8).
5 Dinge an sich und Erscheinungen
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ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen (4:450, H.v.m.).
Der Standpunkt, von dem aus wir uns selbst und unsere Handlungen als „Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen“, d. h. als Erscheinungen, betrachten, ist der Standpunkt des empirischen Beobachters. Den Standpunkt, von dem aus dem der Mensch als Ding an sich und seine Handlungen als transzendental freie in den Blick genommen werden können, charakterisiert Kant als den, der die „Gründe der Vernunft“ betrachtet, die der Handlung zugrundeliegen (A550/B578). Auch wenn wir keine intellektuelle Anschauung besitzen und den intelligiblen Charakter nicht erkennen können, steht uns doch die Vernunft zur Verfügung, sodass der intelligible Charakter „dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden“ kann (A540/B568). Der intelligible Standpunkt, von dem aus wir Handlungen als frei betrachten, ist nach Kant der praktische Standpunkt, denn „[p]raktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“ (A800/B828). Diese vernunftorientierte, praktische Sichtweise auf menschliche Handlungen liegt wiederum zwei Standpunkten zugrunde: Zum einen, wenn wir uns aus der Perspektive der ersten Person fragen, was wir tun sollen – wir müssen „unter der Idee der Freiheit handeln“ (4:448) – und zum anderen, wenn wir uns selbst oder einer anderen Person ein Ereignis als Handlung zurechnen. In beiden Fällen muss die in Frage stehende Handlung als eine angesehen werden, die durch „Gründe der Vernunft“ bestimmbar ist bzw. gewesen ist. Allerdings ist es nach der Zwei-Aspekte-Lesart schwierig, die Frage nach der Vereinbarkeit der beiden Standpunkte zu beantworten. Wie kann eine Handlung frei sein, wenn man sie aus praktischer Sicht betrachtet, obgleich sie aus theoretischer Sicht determiniert ist? Korsgaard meint, dass man die Frage nach der Vereinbarkeit der Standpunkte nicht sinnvoll stellen kann, weil nicht beide Standpunkte gleichzeitig eingenommen werden können (vgl. Korsgaard 1996b, 204). Doch diese Auffassung ist unbefriedigend, denn die Frage nach der Vereinbarkeit beider Standpunkte drängt sich auf, insofern es zwei Perspektiven auf dieselbe Handlung sind. Ohne eine Antwort auf die Vereinbarkeit beider Perspektiven bleiben zwei wichtige Fragen offen: Zum einen bleibt es rätselhaft,wieso eine Harmonie zwischen den natürlichen Ursachen der Handlung und den vernünftigen Überlegungen der Person bestehen sollte (so auch Willaschek 1992, 104). Die andere Frage stellt sich mit Bezug auf die im vorigen Kapitel diskutierte Bedingung des Anderskönnens: Dass eine Handlung transzendental frei war, heißt, dass eine unvernünftige Handlung hätte unterlassen werden können.Wenn sie jedoch gleichzeitig naturkausal determiniert war, ist sie mit Notwendigkeit geschehen – daran ändert auch die Annahme eines anderen Standpunkts nichts (vgl. Timmermann 2003, 123).
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
Kant tut die Frage nach der Vereinbarkeit der beiden Standpunkte zwar nicht als irrelevant ab, aber seine Antwort beruht auf gewichtigen und nicht unmittelbar einsichtigen metaphysischen Voraussetzungen. Wie oben dargestellt, ist Kant zufolge die empirische Kausalität von der intelligiblen abhängig. Bezogen auf menschliche Handlungen heißt das: Wir können unsere Handlungen als frei betrachten, denn es ist denkbar, dass die natürlichen Ursachen unserer Handlungen (z. B. physikalischer oder neurophysiologischer Art) von unseren vernünftigen Gründen abhängig sind. Deshalb sind die beiden Perspektiven auf ein und dieselbe Handlung bei Kant nicht gleichwertig: Es stimmt zwar, dass sich der intelligible und der empirische Charakter aus zwei Perspektiven zeigen, aber die beiden Charaktere stehen in einem asymmetrischen Verhältnis. Der intelligible Charakter beeinflusst den empirischen, aber nicht umgekehrt. Die Idee, dass vernünftige Strukturen grundlegender sind als Naturkausalität, mag heute als unwissenschaftlicher „metaphysischer Ballast“ abgelehnt werden, denn es ist eine Aussage, die sich weder bestätigen noch widerlegen lässt. Eine Alternative ist, Kant so weit es geht als Beschreibungspluralisten zu verteidigen, der die Eigenständigkeit einer praktischen, normativen Sphäre gegenüber einer Reduktion auf das Empirische, naturwissenschaftlich Beschreibbare verteidigen möchte (Willaschek 1992, 33 f.). Damit hat man dann jedoch weder eine Antwort auf die Frage nach Überdetermination gegeben, noch eine Lösung für das Problem, wie man gleichzeitig sagen kann, dass eine unvernünftige Handlung aus empirischer Perspektive notwendig war und aus praktischer Perspektive hätte unterlassen werden können. Eine Lösung dieser Schwierigkeiten würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, jedoch ist es erwähnenswert, dass die moderne Handlungstheorie im Wesentlichen denselben Problemen gegenübersteht, mit denen Kant gerungen hat. Die Naturalisierungsdebatte dreht sich um die Frage, ob das praktische Selbstverständnis, in dem Handlungen in alltagspsychologischem Vokabular unter Rückgriff auf Begriffe von Absichten, Interessen, Werten und Prinzipien erklärt werden, vollständig durch eine naturalisierte Sichtweise ersetzbar ist. In dieser Debatte gibt es im Wesentlichen drei Optionen.¹¹³ 1) Eliminativer Naturalismus: Alltägliche Handlungserklärungen sind falsch und sollten durch naturwissenschaftliche Erklärungen ersetzt werden. Der Glaube, dass unsere Handlungen unseren vernünftigen Gründen folgen, ist illusionär, da die Angabe von Gründen eine bloße Rationalisierung ohne Erklärungswert darstellt.
Vgl. Horn/Löhrer 2010, 15 f.
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2)
Reduktiver Naturalismus: Naturwissenschaftliche Erklärungen implizieren die Handlungserklärungen, die wir anhand von vernünftigen Gründen geben. Vernünftige Handlungsbegründungen sind zwar nicht falsch, aber folgende Dilemmasituation müsste aufgelöst werden: Entweder Handlungen sind überdeterminiert durch natürliche Ursachen und vernünftige Gründe, oder es sind letztlich doch nur physikalische Ursachen, denen kausale Kraft zukommt, während mentale Einstellungen wie Gründe nur „nebenbei“ mitlaufen – sie gehören sozusagen zur der Geschichte, die wir uns selbst erzählen, obwohl eigentlich nur physikalische Ursachen unser Handeln bestimmen.Wäre dieser Epiphänomenalismus wahr, könnten wir jedoch nicht mehr unsere Alltagsüberzeugung aufrechterhalten, dass wir (zumindest oft) aus Gründen handeln. 3) Beschreibungsdualismus: Naturwissenschaftliche Kausalerklärungen sind logisch unabhängig von Begründungen durch vernünftige Gründe und Prinzipien. Beide haben jeweils ihre Berechtigung in verschiedenen Erklärungskontexten. Das normative Moment der begründungsorientierten Perspektive ist irreduzibel, d. h. nicht naturkausal einzufangen.
Die dritte Position kommt der Kantischen am nächsten.¹¹⁴ Ihr Vorteil ist, dass sie die Berechtigung sowohl von naturwissenschaftlichen Erklärungen als auch von Handlungsbegründungen durch rationale Prinzipien anerkennt. Der Beschreibungsdualismus relativiert den Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Erklärungen auf einen bestimmten Bezugsrahmen, nämlich auf empirische Erklärungskontexte. In praktischen Kontexten wie der Zurechnungspraxis ist die Freiheitsannahme legitim, da sie empirischen Erklärungen nicht widerspricht. Wenn man die Annahme teilt, dass die Zurechnungspraxis eigene Kriterien der Angemessenheit hat (z. B. die in Kapitel 9 diskutierten Regeln: dass bestimmte Gründe, wie Geisteskrankheit, und Entschuldigungen, etwa physischer Zwang, die Zurechnung ganz oder teilweise untergraben), und nicht durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse einer prinzipiellen, praxisexternen Rechtfertigung bedarf oder Widerlegung fürchten müsste, so hat man die Eigenständigkeit einer praktischen Sphäre anerkannt.
Über diese Position urteilen Horn und Löhrer, dass sie „lange als erledigt oder zumindest als fragwürdig“ galt, doch „im Wettstreit der Meinungen jetzt wieder ernst genommen“ wird (Horn/Löhrer 2010, 17). Davidson ist der bekannteste Vertreter einer kausalistischen Handlungstheorie, der am ehesten der zweiten Option entspricht: Gründe sind Ursachen, insofern jeder Grund physikalisch realisiert ist, und die kausale Kraft der physikalischen Basis zukommt. Kant möchte die stärkere These vertreten, dass Gründe Ursachen sind, aber nicht aufgrund ihrer physikalischen Realisierung, sondern weil sie eine eigene kausale Kraft besitzen.
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
6. Die Zurechnung der boshaften Lüge Kant illustriert die Auflösung der Antinomie am Beispiel der „boshaften Lüge“ (A554/B582 f.) und macht damit auch deutlich, wie die Beurteilung des empirischen und intelligiblen Charakters vonstatten geht. Alle Faktoren, die zum empirischen Charakter gehören, sind bei dem Lügner negativ belegt: Er musste unter einer „schlechten“ Erziehung leiden, in „übler“ Gesellschaft leben und hat ein bösartiges Naturell, das „für Beschämung unempfindlich[…]“ ist. Mit den Eigenschaften „Leichtsinn und Unbesonnenheit“ spielt Kant auf das Temperament an; die „veranlassenden Gelegenheitsursachen“ bezeichnen darüber hinaus die kontingenten Umstände der Welt, die bestimmte Handlungen nahelegen. Wenn es nur darum geht, die empirischen Ursachen der Lüge zu erkennen, dann muss man die genannten Faktoren untersuchen. Die Perspektive auf den intelligiblen Charakter ist jedoch eine völlig andere: Ob man nun gleich die Handlung dadurch [durch den empirischen Charakter, CB] bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichts destoweniger den Thäter, […] denn man setzt voraus, man könne gänzlich bei Seite setzen, wie dieser [vorhergeführte Lebenswandel, CB] beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten der Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. […] [D]ie Handlung wird seinem intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der That, völlig frei (A555/B583).
Kant nennt hier die Voraussetzungen und Annahmen, die ihm zufolge bei der normativen Bewertung einer Handlung bzw. der Person implizit sind. Wenn man den Lügner und seine Handlung bewertet, also eine normative Perspektive einnimmt, sind die oben genannten empirischen Faktoren nicht mehr relevant. Der Tadel gründet sich auf die Annahme, dass die Vernunft das Verhalten „anders habe bestimmen können und sollen“. Die Handlung wird als eine solche angesehen, die „unter der Macht der Vernunft“ steht (A556/B584). Dass eine Handlung dem „intelligiblen Charakter beigemessen“ wird, heißt, dass sie als eine solche betrachtet wird, die durch Vernunft bestimmbar gewesen wäre. Der intelligible Charakter wird damit als allgemeine Fähigkeit zur Vernunftbestimmung aufgefasst. Jedoch ist auch die Bedeutung des intelligiblen Charakters als individueller Eigenschaft relevant, insofern Kant meint, dass „ein anderer intelligibeler Charakter […] einen andern empirischen gegeben haben“ würde (A556/B584). Hätte die Person einen anderen individuellen Charakter gehabt, hätte sie nicht gelogen. Hier zeigt sich eine gewisse Spannung in Kants
7. Die Wahl des eigenen Charakters: „Revolution“ und „Reform“ der Gesinnung
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Theorie: Kant meint einerseits, die Lüge hätte im Moment der Handlung unterlassen werden können (wir können die Tat „als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe“ (A555/B583)), aber andererseits hätte erst ein anderer intelligibler Charakter einen anderen empirischen ergeben – das klingt so, als habe die Person die Lüge nur insofern unterlassen können, als sie auch eine vollkommen andere Person hätte sein können.Vertritt Kant mit der letzten Aussage die These, dass wir nur verantwortlich für unsere Handlungen sind, insofern wir verantwortlich für unseren (intelligiblen) Charakter sind? Dies scheint tatsächlich Kants Ansicht zu sein. Doch führt das bei ihm zu der These, dass wir einmalig unseren Charakter wählen, der dann alle unsere einzelnen Handlungen festlegt, sodass wir im Moment der Tat keine andere Wahl haben?¹¹⁵
7. Die Wahl des eigenen Charakters: „Revolution“ und „Reform“ der Gesinnung Die Frage, wie man sich die Wahl des eigenen Charakters vorzustellen hat, behandelt Kant im Ersten Stück seiner Religionsschrift. Der Hintergrund der Diskussion ist die Frage, wie der Mensch in einem fundamentalen Sinn verantwortlich für seine guten und bösen Handlungen sein kann, wenn doch sowohl der „Hang zum Bösen“ als auch die „Anlage zum Guten“ in gewisser Weise zur menschlichen Natur gehören. Kant vertritt folgende zwei Thesen: (1) Die eigenen Handlungen folgen aus dem eigenen Charakter. Am Beispiel des Lügners hatte Kant illustriert, dass dieser die Lüge hätte unterlassen können, insofern „ein anderer intelligibeler Charakter […] einen andern empirischen gegeben haben“ würde (A556/B584).
Schopenhauer schreibt Kant diese These zu: „wie Einer ist, so muß er handeln. Daher ist dem gegebenen Individuo, in jedem gegebenen einzelnen Fall, schlechterdings nur eine Handlung möglich (Schopenhauer 1840, 75). In Schopenhauers Interpretation ist der Mensch für die Handlung, die notwendig durch den Charakter bestimmt wird, verantwortlich, denn er „hätte ein anderer seyn können“ (ebd.): „Daß aber er, wie es sich aus der Handlung ergiebt, ein Solcher und kein Anderer ist, – das ist es, wofür er sich verantwortlich fühlt“ (Schopenhauer 1840, 76). Schopenhauer macht allerdings nicht deutlich, worauf sich die Verantwortung für den eigenen Charakter nach Kant gründet. Schopenhauer meint, dass Platon im Wesentlichen eine ähnliche Idee wie Kant hatte, und deshalb liegt es nahe zu glauben, dass Schopenhauer Kant auch die These zuschreibt, dass der Charakter vor der Geburt selbst gewählt wird (vgl. Schopenhauer 1840, 78). Diese Charakterwahl erscheint mindestens genauso mysteriös wie Kants „intelligibele Tat“, mit der er die Wahl des intelligiblen Charakters beschreibt.
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
(2) Es ist einer Person nur das zurechenbar, was auf ihre freie Entscheidung zurückgeht: Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden (6:44).
Aus diesen beiden Prämissen folgt, dass Handlungen nur zurechenbar sind, wenn auch der Charakter auf die eigene freie Wahl zurückgeht. Diese These hat in neuerer Zeit Galen Strawson vertreten und anhand seines Basic Arguments dafür argumentiert, dass niemand für seine Handlungen wirklich („truly“) verantwortlich sei, weil niemand für seinen Charakter (bzw. für sich selbst „in certain crucial mental respects“) verantwortlich sei – niemand sei causa sui, seine eigene Ursache (vgl. Strawson 1994). Die Verantwortung für den eigenen Charakter scheitert nach Strawson an einem unendlichen Regress (vgl. Strawson 1994, 220): Die Wahl des eigenen Charakters müsste ebenfalls auf Kriterien der Wahl zurückgehen und damit einen Charakter voraussetzen, der seinerseits wieder frei gewählt sein müsste etc. Möchte man einen unendlichen Regress vermeiden und dennoch die Zurechenbarkeit von Handlungen aufgrund der Zurechenbarkeit des Charakters nicht aufgeben, steht man einem Problem gegenüber, das Strawson für unlösbar hält. Es ist Kant zugute zu halten, dass er angesichts dieses Problems nicht leichtfertig aufgibt. Allerdings beruht die von ihm vorgeschlagene Lösung auf einer Erweiterung des Begriffs der freien Wahl bzw. freien Handlung („Tat“), die nicht ohne weiteres verständlich ist. Unter den Begriff der „That überhaupt“ (6:31) fasst Kant nun die intelligible und die sensible Tat: Erstere bezeichnet die freie Handlung, „wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“ wird,während sensible bzw. empirische Taten solche sind, „da die Handlungen selbst […] jener Maxime gemäß ausgeübt werden“ (ebd.). Doch wie soll man sich eine intelligible Tat, „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingungen erkennbar“ (ebd.), vorstellen? Kant erläutert eine solche Charakterwahl näher, wenn er beschreibt, wie ein böser Mensch, d. h. einer, der „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht“ (6:36), zu einem guten Menschen werden kann. Kant beschreibt die Umkehr vom moralisch Bösen zum Guten mit den Begriffen „Revolution“ und „Reform“ (6:47): Die Revolution betrifft die Gesinnung, die „Denkungsart“, den „intelligiblen Charakter“, und Kant beschreibt diese „Herzensänderung“ in religiösen Begriffen als „eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung“ (6:47). Diese Revolution ist eine „intelligible Tat“, während die „allmählige Reform“ sich aus empirischen
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Taten zusammensetzt: Sie betrifft die „Sinnesart“, den empirischen Charakter, und damit eine schrittweise „Änderung der Sitten“ (6:47). Es ist nicht leicht zu sehen, wie die intelligible Revolution und die empirische Reform zueinander stehen. Zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich, wenn man die beiden oben erwähnten Möglichkeiten berücksichtigt, wie sich intelligibler und empirischer Charakter zueinander verhalten: Erstens das Modell, in welchem der intelligible dem empirischen Charakter zugrunde liegt, insofern er dessen transzendentale Ursache ist, und zweitens die Interpretation der beiden Charaktere als zwei Beschreibungsweisen bzw. Perspektiven auf Personen und ihr Handeln. Im ersten Modell, das Kant an einigen Stellen nahelegt, lässt sich die Revolution der Gesinnung als einmalige Tat eines „noumenalen Akteurs“ auffassen. Dieses Bild ist deshalb problematisch, weil auf diese Weise nur eine einzige freie (nämlich intelligible) Tat stattfinden würde, aus der alle anderen Handlungen folgen, ohne selbst frei gewählt zu sein.¹¹⁶ Im zweiten Modell lassen sich Revolution und Reform als zwei Seiten einer Medaille sehen, die sich aus verschiedenen epistemischen Perspektiven zeigen. In diesem Sinne sagt Kant, dass die allmähliche Verbesserung des Verhaltens für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel [ist], als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch zu sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurtheilung der Menschen aber […] ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen (6:48).
Die Reform, die in empirischen Handlungen besteht, entspricht aus einer nichtzeitlichen, intelligiblen Perspektive (die Kant mit der Perspektive Gottes identifiziert), einer Revolution. In diesem Bild ist das Verhältnis von freien Handlungen in der empirischen Welt und der intelligiblen Tat, durch die der intelligible Charakter gewählt wird, also kein kausales Verhältnis: Man kann nicht fragen, wie durch die Revolution eine Reform bewirkt wird, oder ob durch empirische Reform eine
Für diese Interpretation spricht allerdings, wie Wimmer bemerkt, dass eine „Brücke“ zwischen Revolution und Reform nur von der Revolution aus zu bestehen scheint (vgl. Wimmer 1990, 151): Eine Revolution zieht die Reform nach sich, während die empirische Änderung des Verhaltens keine Revolution bewirken kann. Dies entspricht Kants These, dass der intelligible Charakter die Ursache des empirischen ist, aber der empirische keinen Einfluss auf den intelligiblen nimmt.
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
Revolution der Gesinnung herbeigeführt werden kann.¹¹⁷ Vielmehr zeigen sich beide aus unterschiedlichen Perspektiven; und entsprechend ließe sich der intelligible Charakter als vernünftiger Aspekt der Gesamtheit der zurechenbaren Handlungen einer Person verstehen. In dieser Darstellung hat die Frage nach dem Verhältnis der Zurechenbarkeit von Handlungen und Charakter eine elegante Lösung: Dass moralische Akteure für ihren Charakter verantwortlich sind, heißt nichts anderes, als dass sie für ihre Handlungen verantwortlich sind. Aus einer Perspektive, die die Gesamtheit der Handlungen in den Blick nimmt, wird jede einzelne Handlung nicht durch den intelligiblen Charakter festgelegt, weil dieser nur der relationale Aspekt, die rationale Einheit der Handlungen ist. Doch nimmt man eine zeitliche Perspektive ein, stellt sich die Frage, wie jede einzelne Handlungsentscheidung frei sein kann. Dies ist nur möglich, wenn sie dem intelligiblen Charakter auch entgegenstehen kann. Jede einzelne Handlungsentscheidung ist frei, nicht deshalb, weil in der Vergangenheit irgendwann der intelligible Charakter frei gewählt wurde, sondern weil kein feststehender, gegebener Charakter vorliegt, der die Handlungen determiniert. Dass kein gegebener Charakter die einzelnen Handlungen festlegt, ist gleichbedeutend damit, dass die autonome Person bei jeder Handlung die Fähigkeit hat, unabhängig von allen Gegebenheiten dem kategorischen Imperativ zu gehorchen.
8. Sind wir „wirklich“ transzendental frei und zurechnungsfähig? Das Ergebnis der Auflösung der Antinomie lautet, dass es in theoretischer Hinsicht unentscheidbar bleibt, ob wir frei sind oder nicht, aber die Annahme transzendentaler Freiheit zumindest denkmöglich ist. Die Frage, ob Menschen wirklich frei und damit auch zurechnungsfähig sind, lässt Kant in der ersten Kritik unbeantwortet. In der zweiten Kritik vertritt Kant die These, dass wir uns unserer Freiheit nicht unmittelbar bewusst werden, sondern nur vermittelt über das Bewusstsein
Letzteres legt Kant allerdings nahe, wenn er sagt: „Diese Anlage zum Guten wird dadurch, daß man das Beispiel selbst von guten Menschen […] anführt und seine moralischen Lehrlinge die Unlauterkeit mancher Maximen aus den wirklichen Triebfedern ihrer Handlungen beurtheilen läßt, unvergleichlich cultivirt und geht allmählig in die Denkungsart über“ (6:48). Es ist jedoch nicht klar, wie Kant überhaupt dem Empirischen einen Einfluss auf das Intelligible einräumen könnte. Auch wie Kant sagen kann, dass man „von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen müsse“ (6:48), scheint irreführender Weise zu implizieren, dass man empirischen Zugriff auf die Denkungsart hätte (das kritisiert auch Wimmer 1990, 151).
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des Sittengesetzes:¹¹⁸ Das Sittengesetz ist die „ratio cognoscendi“ der Freiheit (d. h. die Weise, wie wir einen epistemischen Zugang zu unserer Freiheit haben), und die Freiheit die „ratio essendi“ des Sittengesetzes (d. h. der Grund, warum das Sittengesetz Gültigkeit besitzt). Auf welche Weise das Bewusstsein des Sittengesetzes ein Bewusstsein der Freiheit ermöglicht, erläutert Kant durch das „Faktum der Vernunft“. Mit der Einführung des Faktums in der Anmerkung zu §7 der Kritik der praktischen Vernunft will Kant zeigen, dass reine Vernunft praktisch ist und somit das unbedingte praktische Gesetz (das Kant kurz darauf mit dem Sittengesetz identifiziert) für den menschlichen Willen gilt, sodass gleichzeitig auch die Annahme der Freiheit des menschlichen Willens gerechtfertigt wird (vgl. Kleingeld 2010, 58). Kant bezeichnet unter anderem¹¹⁹ das Bewusstsein des unbedingten praktischen Gesetzes, also des Sittengesetzes, als ein „Factum der Vernunft“ (5:31). Genau genommen meint Kant nicht nur ein Bewusstsein davon, was das moralische Gesetz fordert, sondern insbesondere das Bewusstsein, dass das Sittengesetz ein motivierender Handlungsgrund für den Akteur selbst ist. In bestimmten Situationen – in Situationen, in denen Forderungen der Selbstliebe mit denen der Moral konfligieren oder ganz allgemein dann, wenn „wir uns Maximen des Willens entwerfen“ (5:29) – wird uns klar, wie wir handeln sollen und dass wir dies auch gegen all unsere empirische Neigungen tun können. Als eindrückliches Beispiel führt Kant die Situation an, in der ein Untertan von seinem Fürst unter Androhung der Todesstrafe aufgefordert wird, „falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann“ abzulegen (5:30). Kant fragt, ob der Untertan „da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte“ (ebd.) und unter Einsatz seines Lebens doch das moralisch Richtige tun könne. Seine Antwort lautet: Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre (5:30).
Wie bereits diskutiert, besteht für Kant ab der Grundlegung transzendentale Freiheit in der Fähigkeit, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, d. h. in Autonomie. Doch der Beweis der Gültigkeit des kategorischen Imperativs ist natürlich ein Beweis der Existenz transzendentaler Freiheit im weiten Sinn, da diese eine notwendige Bedingung für Autonomie ist. An anderen Stellen identifiziert Kant das Faktum auch mit dem moralischen Gesetz selbst (5:47, 5:91), mit der „Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit“ (5:42), sowie mit „dem Bewußtsein der Freiheit des Willens“ (5:42) (vgl. dazu Kleingeld 2010, 60).
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Dieses Bewusstsein, das moralisch Gute tun zu können, weil man es tun soll, ist nach Kant das Faktum der Vernunft. Kant erklärt diese Bezeichnung damit, dass dieses Bewusstsein zum einen eine „Tatsache“ ist, weil man es nicht ableiten, oder wie Kant sagt: „nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann“ (5:31). Zum anderen ist es aber keine empirische Tatsache, die in der Anschauung gegeben ist, sondern von der Vernunft hervorgebracht und insofern ein Faktum der Vernunft. Es ist dieses Bewusstsein der moralischen Verpflichtung, das auch Zugang zur transzendentalen Freiheit ermöglicht: Wenn wir uns in einer Situation wie der des mit der Todesstrafe bedrohten Untertans befinden, werden wir uns bewusst, was wir in moralischer Hinsicht tun sollen. Insofern wir diese Verpflichtung als für uns gültig anerkennen, müssen wir auch urteilen, dass wir sie befolgen können. Dies ist gleichbedeutend mit dem Urteil, dass wir nicht nach unmittelbaren Neigungen handeln müssen (negative Freiheit), dass wir sogar all unsere Neigungen zurückstellen können (unbedingte negative Freiheit) und uns nur nach dem richten können, was die Vernunft uns vorschreibt (positiver Aspekt der Freiheit). Das Bewusstsein der Freiheit, das durch das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung geschaffen wird, ist aufs engste mit dem Bewusstsein der prinzipiellen Zurechenbarkeit unserer Handlungen verknüpft. Diesen Zusammenhang macht Kant in der Religionsschrift explizit: [Das Sittengesetz ist das einzige,] was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unserer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht“ (6:26).
Das Faktum der Vernunft rechtfertigt also die Annahme, dass wir frei und zurechnungsfähig sind. Doch könnte das Bewusstsein der eigenen moralischen Verpflichtung eine bloße Illusion sein? Hat Kant mit dem Verweis auf dieses Bewusstsein gezeigt, dass wir tatsächlich frei sind?¹²⁰
Diese Frage stellt auch Kleingeld (Kleingeld 2010, 71 f.), an deren Antwort meine angelehnt ist. Allerdings betont Kleingeld darüber hinaus, dass Kants Argument für jeden gilt, der sich überhaupt als rationalen Akteur sieht, der nach Maximen handelt. Kants Ausgangspunkt ist der Akteur, der überlegt, welche Maximen er wählen soll (Kleingeld 2010, 68). Nach der Argumentation in den ersten sechs Paragraphen der Kritik der praktischen Vernunft gelangt Kant zu dem Schluss, dass ein rationaler Akteur das unbedingte praktische Gesetz als Maßstab seiner Maximen akzeptieren muss. Andererseits sagt Kleingeld auch, dass es nur moralische Konfliktsituationen wie die des erzwungenen falschen Zeugnisses sind (und nicht bloß zweckrationales Überlegen), die die Annahme der Willensfreiheit rechtfertigen (Kleingeld 2010, 71). Meines Erachtens ist es schwer, diese beiden Thesen (erstens: nach Kant gilt das Faktum der Vernunft allgemein für jeden Überlegenden und zweitens: nur Bewusstsein der moralischen
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Sicherlich kann man nicht aus dem moralischen Bewusstsein und dem damit verbundenen Glauben an die eigene Freiheit schließen, dass man wirklich die Fähigkeit hat, nach dem Sittengesetz gegen alle Neigungen zu handeln. Doch Kant vertritt die fast ebenso radikale These, dass man auf Grundlage dieses Bewusstseins urteilen muss, dass man diese Fähigkeit hat: „Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll“ (5:30). Dieses Urteil aus der Perspektive der ersten Person ist nicht gleichbedeutend mit der theoretischen Erkenntnis der Freiheit – diese Art von Erkenntnis war in der ersten Kritik als unmöglich ausgewiesen worden. Doch da theoretische Erkenntnis ausgeschlossen ist, gibt es nach Kant auch keinen Standpunkt, von dem aus eine dritte Person das Urteil des Handelnden, er sei frei, als illusionär kritisieren könnte. Das Urteil, man sei frei, ist vielmehr eine Art von praktischer Erkenntnis, die daraus folgt, dass man ein vernünftiges Prinzip, das Sittengesetz, als verbindlichen Handlungsgrund anerkennt. Die Zurechnungspraxis ist allerdings – wenn sie sich nicht auf die Selbstzurechnung vor dem Gewissen (Kapitel 4) beschränken soll – eine intersubjektive Praxis. Um sich wechselseitig Handlungen zurechnen zu können, reicht es nicht, sich selbst als moralisch verpflichtet und zurechnungsfähig zu sehen. Vielmehr muss einer anderen Person, der eine Handlung zugerechnet werden soll, ebenfalls Freiheit und Zurechnungsfähigkeit zugesprochen werden. Bereits die Annahme der eigenen Freiheit, die durch das Faktum der Vernunft begründet wird, ist keines theoretischen Beweises fähig. Umso weniger ist es die Annahme, dass ein anderer Mensch, zu dessen Bewusstsein kein unmittelbarer Zugang aus der Außenperspektive besteht, frei und zurechnungsfähig ist. Korsgaard bezeichnet die Annahme, dass eine andere Person zurechnungsfähig ist, als Postulat (Korsgaard 1996b, 208). Schon Kant selbst zählt die Freiheitsannahme, neben der Annahme, es gäbe einen Gott und eine unsterbliche Seele, in der Dialektik der zweiten Kritik (5:132) zu den Postulaten. Dabei meint er zwar nicht die Annahme, eine andere Person sei frei, aber dennoch erfüllt diese Annahme die Kriterien eines Postulats: Unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft versteht Kant einen „theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (5:122). Drei Bedingungen müssen demnach erfüllt sein, um einem Satz den Status eines praktischen Postulats zu verleihen: Erstens muss es ein theoretischer Satz sein, d. h. ein solcher, der aussagt „nicht, was sein soll, sondern was
Verpflichtung rechtfertigt die Annahme der Willensfreiheit) zusammen zu vertreten, da man zumindest die Möglichkeit zugestehen muss, dass es auch rationale Akteure gibt, die nur zweckrational nachdenken (vgl. 6:26 Anm.).
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3. Kapitel: Die Freiheitsantinomie und ihre Auflösung
ist“ (9:86). Zweitens gibt es keine empirische oder apriorische Evidenz für die Wahrheit des Satzes, sodass er als „theoretisch unentscheidbar“ bezeichnet werden kann. Drittens gilt, dass ein Wesen, für das das Sittengesetz Gültigkeit hat, diesen Satz notwendigerweise für wahr halten muss, sodass dem Satz „praktische Notwendigkeit“ bescheinigt werden kann.¹²¹ Die Annahme, dass man selbst und auch andere Menschen frei sind, erfüllt tatsächlich alle Bedingungen eines Postulats, denn sie sagt, erstens, „was ist“, und ist damit eine theoretische Aussage. Zweitens hatte Kant in der Antinomie gezeigt, dass die Frage, ob es Kausalität aus Freiheit wirklich gebe, „theoretisch unentscheidbar“ ist, insofern die Annahme der Freiheit weder beweisbar noch widerlegbar ist. Schließlich ist auch die dritte Bedingung erfüllt, dass die Freiheitsannahme untrennbar mit der Anerkennung des unbedingt geltenden Sittengesetzes verknüpft ist und es deshalb irrational wäre, diese Annahme aufzugeben. Demnach steht und fällt die Praxis der Zurechnung mit unserer Praxis, unbedingte moralische Gesetze als gültig anzuerkennen. Moralische Zurechnungsurteile sind mithin nicht auf empirische, naturwissenschaftliche oder physikalische Fakten reduzierbar, sondern beruhen auf der Annahme, dass wir uns wechselseitig für moralische Wesen halten. Wenn wir uns wechselseitig als Personen begreifen, für die das Sittengesetz gilt, muss damit die Annahme einhergehen, dass wir transzendental frei und zurechnungsfähig sind.
Vgl. zur Rolle von Postulaten bei Kant auch Willaschek 2010.
4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung Wir kommen nun zu Kants Konzeption des Gewissens in Hinblick auf dessen Funktion für Zurechnung. Die Perspektive der Zurechnung bietet einen erhellenden Blick auf Kants Gewissensbegriff, da die Aufgabe, Handlungen zuzurechnen, eine der wesentlichen Funktionen des Gewissens darstellt – Kant bezeichnet das Gewissen auch als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ (6:437 ff.) und damit als Ort der inneren Zurechnung der eigenen Handlungen, im Folgenden auch „Selbstzurechnung“ genannt. Im Rahmen einer Untersuchung des Zurechnungsbegriffs bei Kant kann die Konzeption des Gewissens vor allem dazu dienen, die Perspektive der handelnden Person auf sich selbst zu thematisieren, denn das Gewissen wird von Kant als notwendig dafür gesehen, dass sich eine Person selbst ihre eigenen Handlungen moralisch zurechnen kann: Hätte der Mensch kein Gewissen, „so würde er sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig vorwerfen […] können“ (6:400 f.). Dieses Kapitel gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil wird die Funktionsweise des Gewissens bei der Selbstzurechnung analysiert, im zweiten die Rolle der Selbstzurechnung für Fremdzurechnung, d. h. der Zurechnung durch andere, geklärt. Stellt man sich die Frage, was das Gewissen (für Kant) eigentlich ist, so bildet eine Betrachtung der Urteile, die dem Gewissen zugeschrieben werden, einen geeigneten Ausgangspunkt (Abschnitt 1.1). Es wird daran anschließend die Gerichtshofmetapher beleuchtet und dargestellt, warum das Gewissen von Kant als „göttlicher“ Gerichtshof konzipiert wird (Abschnitt 1.2). Schließlich wird die zeitliche Beziehung der Gewissensurteile zur Handlung thematisiert (Abschnitt 1.3). Der erste Teil macht deutlich, dass das Gewissen nach Kant keine eigenständige Quelle moralischer Gesetze oder gar eine „göttliche Stimme“ ist, sondern ein praktisches Selbstverhältnis des Subjekts bezeichnet, das die Zurechnung der eigenen Handlung anhand der Maßstäbe ermöglicht, die das Subjekt für sich als gültig anerkennt. Die Konzeption des Gewissens eröffnet in Bezug auf Zurechnung die Problematik, wie die Perspektive der ersten Person zur Perspektive anderer Personen steht: Ist die Möglichkeit der Selbstzurechnung eine notwendige Bedingung für die Zurechnung derselben Handlung durch andere? Dieser Frage gehe ich im zweiten Teil in zwei Schritten nach: Zunächst wird Kants These diskutiert, dass das Gewissen notwendig ist, um überhaupt Pflichten haben und damit ein zurechnungsfähiges Subjekt sein zu können (Abschnitt 2.1). Kant drückt die Notwendigkeit des Gewissens dafür, ein moralischer Akteur zu sein, so aus, dass er es als einen der „ästhetischen Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Pflichtbegriffe überhaupt“ (6:399) bezeichnet. Die Erläuterung dieser These zeigt, dass Kants Konzeption des Gewissens Vernunft und Sinnlichkeit mit einbezieht und daher Selbstzurechnung mit emotionalen Reaktionen einhergeht. Schließlich gehe ich der Frage nach, ob die Möglichkeit der Selbstzurechnung auch im Einzelfall notwendig ist, damit Handlungen durch andere zugerechnet werden können (Abschnitt 2.2). Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ob Kant mit seiner These des unfehlbaren Gewissens der handelnden Person eine große Autorität bezüglich der Zurechenbarkeit ihrer Handlungen einräumt, zeigt die genauere Untersuchung, dass Kant von einer Übereinstimmung der individuellen und allgemeinen Perspektive ausgeht: Das individuelle Gewissen kann nach Kant normalerweise nicht zur Entschuldigung herangezogen werden.
1. Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs Kant charakterisiert das Gewissen im zweiten Hauptstück der ethischen Elementarlehre der Tugendlehre (6:437– 440) als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes“ (6:438). Das Urteil, das vor dem inneren Gerichtshof gefällt wird, beschreibt er nach der Gliederung des „syllogismus practicus“ (19:12), und schließt sich damit in dieser Passage dem traditionellen, von Baumgarten und anderen geteilten Verständnis des Gewissens an (vgl. Esser 2013, 274, Knappik/ Mayr 2013). Zwar charakterisiert Kant in anderen Passagen der Tugendlehre, aber auch der Religionsschrift und dem Theodizee-Aufsatz das Gewissen auf andere Weise, doch wähle ich die Beschreibung des inneren Gerichtshofes als Ausgangspunkt, da sich in ihr die Struktur des Zurechnungsurteils am deutlichsten zeigt. Die anderen Charakterisierungen berücksichtige ich im weiteren Verlauf des Kapitels, wobei ich davon ausgehe, dass es sich dabei um eher um unterschiedliche Aspekte als um andere Konzeptionen des Gewissens handelt.¹²²
Anders Knappik/Mayr (2013), die dafür argumentieren, dass der Gewissensbegriff im Theodizee-Aufsatz und der Religionsschrift, der die Pflicht zur Sorgfalt und Aufrichtigkeit in den Mittelpunkt stellt, radikal verschiedenen gegenüber der Gewissenskonzeption als innerem Gerichtshof ist. Mein Vorgehen deckt sich eher mit dem von Thomas Hill, der die verschiedenen Urteile in einer Gewissenskonzeption zusammenführt (vgl. Hill 2000, 240).
1. Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs
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1.1 Die Urteile des Gewissens Der innere Gerichtsprozess wird von Kant als ein Schluss nach der Gliederung eines Syllogismus beschrieben. Es ist hilfreich, die gesamte Passage zu zitieren, in der Kant das komplexe Urteil aufführt: Ein jeder Pflichtbegriff enthält objective Nöthigung durchs Gesetz […] und gehört dem praktischen Verstande zu, der die Regel gibt; die innere Zurechnung aber einer That, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles (in meritum aut demeritum) gehört zur Urtheilskraft (iudicium), welche als das subjective Princip der Zurechnung der Handlung, ob sie als That (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urtheilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d.i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurtheilung oder Lossprechung), folgt: welches alles vor Gericht […] als einer dem Gesetz Effect verschaffenden moralischen Person, Gerichtshof (forum) genannt, geschieht. – Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen („vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen“) ist das Gewissen (6:437 f.).
Bevor die einzelnen Schritte des Urteils nachvollzogen werden, stellt sich die Frage, was nun das Gewissen ausmacht. Bemerkenswert ist, dass Kant das Gewissen als ein Bewusstsein bezeichnet, und zwar als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes. Kant beschreibt den Gerichtshof als den Rahmen, in dem sich die verschiedenen Urteile vollziehen. Kants Aussage, das Gewissen sei das Bewusstsein eines solchen Rahmens, interpretiere ich so, dass das Gewissen das Vermögen zu den Urteilen in genau diesem Zusammenhang ist. Kant ordnet die einzelnen Schritte des gesamten Urteilsprozesses den Vermögen Verstand, Urteilskraft und Vernunft zu. Das Gewissen ist also eine Art „Vermögen zweiter Ordnung“, das das Zusammenspiel der einzelnen Urteile, die auf die drei anderen Vermögen zurückgehen, in der Form der Selbstzurechnung ermöglicht. Das Gewissen als Vermögen aktualisiert ein Urteil über das (tatsächliche oder antizipierte) Handeln der Person, sodass das „Handeln nach Gewissen“ als ein Handeln nach diesem Urteil verstanden werden kann. Wir betrachten nun die einzelnen Schritte des Urteilsprozesses, den Kant in Form eines Schlusses präsentiert. Die erste Prämisse ist die „Regel“, die einen moralischen Imperativ formuliert, und, so heißt es hier, durch den Verstand gegeben wird. An anderer Stelle macht Kant jedoch darauf aufmerksam, dass man den Verstand darüber „aufzuklären“ hat, „was Pflicht ist oder nicht“ (6:401), dass es also die Vernunft ist, die Gesetze gibt. Das Gewissen ist nach Kant demnach keine eigenständige Instanz moralischer Gesetzgebung, wie z. B. Crusius (vgl. Schneewind 1998, 450) oder Rousseau meinen (vgl. Rousseau 1762, 585), sondern setzt voraus, dass es objektive moralische Regeln gibt, die als Bewertungsmaßstäbe eingesetzt werden.
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Alle moralischen Pflichten, die aus dem kategorischen Imperativ folgen, d. h. auch moralisch legitime Rechtsgesetze, können als normativer Maßstab der Zurechnung vor dem Gewissen dienen.¹²³ Es kann durchaus einen Konflikt zwischen dem Gewissen und – moralisch illegitimen – positiven Rechtsgesetzen geben; ein Konflikt zwischen dem Gewissen und dem Moralgesetz ist nach Kant jedoch streng genommen ausgeschlossen (Inwiefern ein Gewissensurteil möglicherweise doch dem Moralgesetz widersprechen kann, diskutiere ich in Abschnitt 2.2, wenn die Frage des Irrtums thematisiert wird). Insofern ist der Begriff des Gewissens ein für Kants Moralphilosophie ebenso sekundärer Begriff wie der der Zurechnung: Beide setzen voraus, dass es moralische Pflichten gibt. Im zweiten Schritt stellt die Urteilskraft fest, ob die betrachtete Handlung unter dieser Regel steht, d. h. nach ihrem Maßstab bewertet werden kann. Kant führt hier die zwei Stufen der Zurechnung – Zurechnung zur Tat und Zurechnung zu Schuld oder Verdienst – stillschweigend zusammen: Erstens wird beurteilt, ob die Handlung „als That (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht“, d. h. ob die Handlung frei war oder nicht. Wenn dies bejaht wird, kommt das der Zurechnung der Handlung auf erster Stufe gleich. Doch Kant erwähnt – im Klammerausdruck – auch die Zurechnung zu Schuld und Verdienst („in meritum aut demeritum“). Dieses Urteil setzt einen weiteren Schritt voraus, den Kant hier nicht eigens aufführt: Das Urteil darüber, wie die Handlung nach Maßgabe eines Gesetzes zu bewerten ist. Damit ist das eigentliche Zurechnungsurteil abgeschlossen, doch Kant fügt noch einen weiteren Schritt hinzu: den „Schluß der Vernunft (die Sentenz), d.i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurtheilung oder Lossprechung)“. Die „rechtliche Wirkung“ der Zurechnung, so hatte Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten gesagt, ist bei einer schuldhaften Handlung die Strafe und bei einer verdienstlichen die Belohnung (vgl. 6:227). Die enge Analogie zwischen der inneren und der rechtlichen Zurechnung legt es nahe, die „rechtliche Wirkung“ in einem Pendant der Strafe zu sehen, etwa in Gewissensbissen. So überrascht es, dass Kant als rechtliche Wirkung die „Verurtheilung oder Lossprechung“ nennt, von welchen man vermuten würde, dass sie logisch und zeitlich vor der „rechtlichen Wirkung“ in Form von Strafe oder Belohnung liegen müssten.Vielleicht hat Kant hier im Sinn, dass die Verurteilung oder Lossprechung bereits als „Wirkung“ des Urteils, ob die Handlung zur Schuld zugerechnet wird, gesehen werden könnte: „Ein Richter“, so heißt es in der Moralphilosophie Collins, „muß nicht nur urtheilen, sondern auch entweder verurtheilen oder loslassen“ (27:351, H.v.m.).
Es trifft demnach nicht zu, anders als Heidbrink sagt, dass die Gewissensprüfung auf die „Pflichten, die der Einzelne sich selbst gegenüber hat“ beschränkt ist (Heidbrink 2003, 64).
1. Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs
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Indem Kant das Urteilsergebnis als „Verurtheilung oder Lossprechung“ charakterisiert, macht er klar, dass das Gewissen nur über Schuld und Unschuld urteilt, nicht aber über Verdienstlichkeit. Betrachten wir zunächst die Ausklammerung der Verdienstlichkeit und anschließend die Zurechnung zur Schuld. Dass das Gewissen keine Urteile über Verdienstlichkeit trifft, bekräftigt Kant, wenn er sagt, dass „der rechtskräftige Spruch des Gewissens über den Menschen, ihn loszusprechen oder zu verdammen“ nie eine Belohnung (praemium), als Gewinn von etwas, was vorher nicht sein war, beschließen kann, sondern nur ein Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein, enthalte und daher die Seligkeit in dem trostreichen Zuspruch seines Gewissens nicht positiv (als Freude), sondern nur negativ (Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit) ist (6:440).
Es ist aus zwei Gründen überraschend, dass Urteile über Verdienstlichkeit keine Rolle für das Gewissen spielen. Erstens spricht Kant von der „innere[n] Zurechnung“ einer Handlung „in meritum aut demeritum“ (6:438, H.v.m.), also zu Verdienst oder Schuld, wenn er die Aufgabe der Urteilskraft im Gewissen beschreibt. Zweitens wird das Gewissen im Rahmen der Tugendlehre diskutiert, sodass die moralischen Gesetze, anhand derer die Handlungen vor dem Gewissen geprüft werden, sicherlich auch ethische Gesetze sind. Da die Erfüllung einer weiten Tugendpflicht verdienstlich ist (6:390; vgl. Kapitel 1), wäre es nur folgerichtig, wenn das Gewissen in einem solchen Fall die Handlung auch zum Verdienst zurechnen würde. Ein Grund, der Kant davon abgehalten haben könnte, das Gewissen auch Urteile über Verdienst aussprechen zu lassen, ist die epistemische Unsicherheit hinsichtlich des Pflichtmotivs. Im ersten Kapitel wurde die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Leistungsverdienst erläutert: Leistungsverdienst liegt bereits vor, wenn eine weite Tugendpflicht bloß pflichtmäßig (d. h. aus Neigung) erfüllt wird. Gesinnungsverdienst erfordert darüber hinaus, dass die Handlung aus Pflicht ausgeführt wurde. Nach Kant ist es jedoch niemals sicher, ob wir eine Handlung aus Pflicht ausgeführt haben, oder nicht doch ein „geheimer Antrieb der Selbstliebe“ der hinreichende Handlungsgrund war (4:407). Die Zurechnung einer Handlung im Sinn des Gesinnungsverdienstes ist uns aufgrund der Opazität des Pflichtmotivs streng genommen unmöglich. Doch in Bezug auf Leistungsverdienst gibt es keine epistemischen Schwierigkeiten, und es wäre problemlos denkbar, dass das Gewissen zu dem Schluss kommt, dass eine Handlung die weite Pflicht erfüllt und deshalb zum (Leistungs‐) Verdienst zugerechnet werden kann. Kant spielt an anderer Stelle selbst mit der Idee, dass Verdienst einer „ethischen Belohnung“ fähig ist, „nämlich einer moralischen Lust, die über die bloße Zufriedenheit mit sich selbst (die blos negativ
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
sein kann) hinaus geht“ (6:391). Der Kontext dieser These legt nahe, dass sie sich sowohl auf die Gründung der moralisch wertvollen Gesinnung (d. h. Gesinnungsverdienst) als auch auf die Erfüllung weiter Pflichten (d. h. Leistungsverdienst) bezieht. Doch wo sollte über diese „ethische Belohnung“ geurteilt werden, wenn nicht vor dem Gewissen? So lässt sich bezüglich des Verdienstes das Fazit ziehen, dass Kant die Zurechnung zum Verdienst vernachlässigt, was jedoch – zumindest für Leistungsverdienst – unbegründet zu sein scheint. Die Zurechnung zur Schuld ist in Bezug auf äußere Handlungen nur bei der Verletzung enger Pflichten, d. h. Rechtspflichten und enger ethischer Pflichten, möglich (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 6). Ob das Gewissen nach Kant auch Schuldurteile in Bezug auf die Verletzung weiter Tugendpflichten oder das falsche Handlungsmotiv fällen kann, hängt davon ab, ob nicht nur Handlungen, sondern auch Maximen und Motive (bzw. die Gesinnung) Gegenstand der Prüfung durch das Gewissen sein können. Dafür spricht, dass Kant unter dem Titel „Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als den angebornen Richter über sich selbst“ (6:437) – eine Pflicht zur Erforschung der eigenen Motive – „ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter“ ist (6:441) – formuliert. Das Gewissen macht sich demnach auch die Prüfung der eigenen Motive und Maximen zur Aufgabe.¹²⁴ Der Maßstab der Beurteilung ist in Bezug auf das Handlungsmotiv das „ethische Gebot[]: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht“ (6:391).¹²⁵ Die Prüfung von Maximen kann zu dem Ergebnis kommen, dass die Annahme einer Maxime schuldhaft ist. Sowohl die Zurechnung von Maximen als auch von Motiven ist allerdings mit epistemischen Schwierigkeiten behaftet, da beide nach Kant der Person selbst nicht zweifelsfrei bekannt sind. Allerdings lassen sich Fälle denken, in denen die Person von sich selbst sagt, dass sie aus eigennützigen Motiven bzw. einer unmoralischen Maxime handelt, in denen es äußerst unwahrscheinlich ist,
Hoffmann meint hingegen, dass vor dem Gewissen keine Maximen geprüft werden, und zieht dies als Erklärung dafür heran, warum das Gewissen in den praktischen Grundlegungsschriften bei Kant kaum eine Rolle spielt: Der kategorische Imperativ als Grundgesetz der Moral beschäftigt sich eben mit der Prüfung von Maximen und nicht mit Handlungen (Hoffmann 2002, 435). Im Gegensatz dazu kommt Paton zu dem Schluss, dass die Pflicht zur Selbsterkenntnis doch nahelegt, dass Kant auch die Prüfung von Motiven als Aufgabe des Gewissens gesehen hat: „If we take this [self-examination], as we reasonably may, to be the work of conscience, conscience would seem to be concerned with our motives as well as with our own judgements about the rightness or wrongness of our actions“ (Paton 1979, 243). Timmermann erwähnt beiläufig, dass das Gewissen nach Kant auch Motive (Timmermann 2006, 295) und Maximen (Timmermann 2006, 304) prüft, thematisiert dies jedoch nicht explizit. Wie im ersten Kapitel ausgeführt, ist es auch möglich, die Forderung des Pflichtmotivs schon als integralen Bestandteil des kategorischen Imperativs, und nicht erst des gesonderten ethischen Gebots, zu sehen.
1. Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs
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dass sich auf einer tieferen Ebene das Motiv bzw. die Maxime doch als moralisch herausstellt. In diesen Fällen scheint es unproblematisch, das Motiv bzw. die Maxime zur ethischen Schuld zuzurechnen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Gewissen nach Kants Beschreibung in der Metaphysik der Sitten das Bewusstsein von drei Arten von Urteilen umfasst. Ihnen ist gemeinsam, dass es keine abstrakten moralischen Urteile über irgendwelche Handlungen sind, sondern über die eigenen Handlungen des Gewissensträgers: Erstens rechnet das Gewissen Handlungen als eigene, freie Handlungen zu (ob die Handlung „als That […] geschehen sei“ – Zurechnung erster Stufe), zweitens fällt es ein Urteil darüber, ob unsere eigene Handlung mit unserem eigenen Urteil darüber übereinstimmt, was wir als moralische Regel annehmen, und drittens spricht das Gewissen ein Urteil über Schuld oder Unschuld (Zurechnung zweiter Stufe) der Person aus, entweder aufgrund äußerer Handlungen, oder – mit größerer Vorsicht – aufgrund der Maximen bzw. Motive.
1.2 Das Gewissen als „göttlicher“ Gerichtshof Im Anschluss an die Beschreibung des Schlusses, der das Urteil der Vernunft über Schuld oder Unschuld begründet, baut Kant die Gerichtshofmetapher noch weiter aus, indem er die Figur des „inneren Richter[s]“ (6:438), aber auch des „Angeklagte[n]“ (ebd.) und des Verteidigers, des „rechtliche[n] Beistand[s]“ (6:439, Anm.), einführt. Die verschiedenen moralischen Personen des Gerichtsverfahrens lassen sich als verschiedene Perspektiven des Individuums auf sich selbst bzw. seine eigenen Handlungen verstehen, die alle für innere Zurechnung notwendig sind. Die Idee, dass mehrere moralische Personen in einer natürlichen Person zusammenkommen, ist im Rahmen der Kantischen Philosophie eine bekannte Denkfigur. Auch die Idee der Selbstgesetzgebung bzw. Selbstverpflichtung muss auf die Vorstellung von zwei Personen zurückgreifen, denn „[w]enn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff“ (6:417). Trotz einiger Fragen, die Kants Ausführungen an dieser Stelle aufwerfen,¹²⁶ ist klar, dass er
Beispielsweise scheint es so, als ob der Widerspruch, den Kant hier in Bezug auf Pflichten gegen sich selbst beschreibt, in Bezug auf jede Verpflichtung gilt, bei dem die Verpflichtung nicht auf einen externen Gesetzgeber zurückgeht, sondern auf das autonome Subjekt selbst. Ferner ist nicht ganz klar, wie die beiden „Personen“ zu charakterisieren sind, die Kant zur Auflösung des Widerspruchs anführt. In jedem Fall meint Kant, dass die Person, die die Pflicht auferlegt (der Verpflichtende, der moralische Gesetzgeber) nicht dieselbe moralische Person ist wie das Subjekt der Verpflichtung (der Verpflichtete).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
verschiedene Aspekte eines moralischen Akteurs unterscheiden möchte, um die Idee der Selbstverpflichtung zu artikulieren. Kants Theorie des Gewissens ist ein Sonderfall derselben Idee (so auch Wood 2008, 185).¹²⁷ Auch in diesem Fall meint Kant, dass es eine „ungereimte Vorstellungsart“ wäre, wenn die verschiedenen Parteien (der Angeklagte und der Richter) „als eine und dieselbe Person“ vorgestellt werden, „denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren“ (6:438). Aus der Annahme, dass Angeklagter und Richter nicht ein und dieselbe Person sein dürfen, schließt Kant: Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen a n d e r e n (als den Menschen überhaupt), d.i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Diese andere mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft (6:438 f.).
Bevor die Rolle des Richters im Gewissen charakterisiert wird, verdient die Gerichtshof-Metapher noch genauere Beachtung. Selbst wenn Kant die Unterscheidung verschiedener Personen heranziehen möchte, um die verschiedenen Aspekte der Zurechnung abzubilden, erklärt dies noch nicht vollständig, warum er ausgerechnet den Gerichtshof als Modell wählt. Diese Wahl wird durch verschiedene Überlegungen unterstützt. Zum einen entstammt der Begriff der Zurechnung ursprünglich dem juristischen Kontext, und die Analogie zwischen Gewissen und (weltlichem oder geistlichem) Gerichtshof ist ein klassischer Topos (vgl. Reiner 1974). Darüber hinaus hat Kant ohnehin eine Vorliebe für Metaphern und Analogien aus der Rechtpraxis, die er nicht nur in der praktischen, sondern auch in der theoretischen Philosophie gerne einsetzt, nicht zuletzt um das Projekt der Vernunftkritik als ein Gerichtsverfahren, in dem die Vernunft über sich selbst richtet, zu charakterisieren (vgl. A XI-XII). Kants Bezug auf die rechtliche Metapher des Gerichtshofes lässt sich so verstehen, dass er den Wert des unparteilichen, intersubjektiv rechtfertigbaren und insofern „objektiven“ Verfahrens betonen möchte (so auch Wood 2008, 185). Der Streit vor dem Gewissen wird nicht „gütlich
So auch Wood 2008, 184. Besonders deutlich wird diese Idee auch in der Anmerkung: „Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er sich selbst giebt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus) […] zu betrachten“ (6:439, Anm.).
1. Das Gewissen als Bewusstsein eines inneren Gerichtshofs
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[…] abgemacht“, ist nicht der Willkür des Einzelnen überlassen, sondern wird „nach der Strenge des Rechts entschieden“ (6:440). Die Person selbst soll nach objektiven Gesetzen urteilen und dabei weder dem Fehler zu harter Selbstkritik noch der Tendenz, sich selbst Ausnahmen von moralischen Gesetzen zu erlauben, nachgeben, und um diese Aufgabe zu erfüllen, stellt sie sich einen unparteiischen Richter vor. Diesen unabhängigen Richter charakterisiert Kant als „Gott“ und schlägt damit zumindest formal einen Bogen zur traditionellen Moraltheologie.¹²⁸ Von der Idee einer unparteilichen Instanz als innerem Richter kommt Kant folgendermaßen zu seiner Idee, dass der Richter als „Gott“ zu denken sei: Kant formuliert die Annahme, dass der gedachte Richter sowohl „allverpflichtend“ (d. h. jede Pflicht vorschreibend, sodass alle Handlungen beurteilt werden können) als auch allmächtig (d. h. in der Lage, alle Gesetze durchzusetzen) sein muss. Aufgrund dieser Attribute, die traditionell Gott zugesprochen werden, nennt Kant dieses „moralische Wesen“ Gott und schließt: „[S]o wird das Gewissen als subjectives Prinzip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen“ (6:439).¹²⁹ Doch Kant denkt nicht an eine wirkliche göttliche Stimme, die durch das Gewissen spricht. Dass Gott als oberster Richter angenommen wird, will nun nicht so viel sagen als: der Mensch, durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe verbunden ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen: denn sie wird ihm nicht objectiv, durch theoretische, sondern blos subjectiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft ihr angemessen zu handeln gegeben; und der Mensch erhält vermittelst dieser nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit […] als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen (6:440).
Vgl. Hoffmann 2002, 436. Das Gewissen wird u. a. von Cicero, Paulus und Augustinus als „Stimme Gottes“ verstanden (vgl. Reiner 1974, 575). Schon in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie bezeichnet Kant das Gewissen als „forum divinum“: „Das Forum ist zweyerlei, Forum externum, welches das forum humanum ist, und Forum internum; welches das forum conscientiae ist, mit diesem Foro interno verbinden wir zugleich das forum divinum; denn unsere facta können in diesem Lesen nicht anders vor dem Göttlichen foro imputiret werden als per conscientiam, demnach ist das forum internum in diesem Leben ein forum divinum“ (Kähler, 101). „Das Gewissen stellt den göttlichen Gerichtshof in uns vor, erstlich, weil es unsere Gesinnungen und Handlungen nach der Heiligkeit und Reinigkeit des Gesetzes beurtheilt, zweytens, weil wir es nicht betrügen können; indem es uns eben so als die göttliche Allgegenwart gegenwärtig ist“ (Kähler, 195).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Kant warnt ausdrücklich davor, die Identifikation des Gewissensrichters mit Gott als Aussage über die „objektive“ Existenz eines göttlichen Wesens misszuverstehen. Die Annahme Gottes ist für Kant keine These der theoretischen Vernunft, die Gegenstände in der Welt erkennt, sondern der praktischen Vernunft. Gemeint ist damit offenbar, dass die Vorstellung Gottes moralische Verpflichtung und Verantwortlichkeit verdeutlichen bzw. in einer pädagogisch besser greifbaren Art und Weise darstellen kann. Ähnlich äußert Kant im „Beschluß der ganzen Ethik“ die Ansicht, die Idee Gottes würde uns unsere moralische Verpflichtung „anschaulich“ machen (6:487). Auch wenn „anschaulich“ hier sicher nicht im terminologischen Sinn verwendet wird, da von Gott keine sinnliche Anschauung möglich ist, ist nicht ganz einsichtig, inwiefern ausgerechnet der Gedanke eines göttlichen Wesens, von dem selbst keine Anschauung möglich ist, dazu dienen kann, moralische Verpflichtung zu verdeutlichen bzw. besser vorstellbar zu machen. Die Verwendung des Gottesbegriffs wird verständlicher, wenn man die Perspektive Gottes als epistemisches und moralisches Ideal auffasst. Gott als „Herzenskündiger“ (6:99, 6:439) steht für die von Einschränkungen freie epistemische Perspektive, aus der es möglich ist, das „Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen“ (6:99). Wie bereits im dritten Kapitel ausgeführt (Abschnitt 4), können die Zurechnungen aus menschlicher Perspektive immer „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“, sodass nach Kant die „eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) […] uns […], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen“ bleibt (A551/B579, Anm.). Im Gegensatz dazu steht Gott für den epistemischen Zugang, dem eine intellektuelle Anschauung zur Verfügung steht und dem daher der intelligible Charakter des Menschen bekannt ist. In Bezug auf das Gewissen ist insbesondere die Bedeutung des intelligiblen Charakters als Gesinnung einschlägig. Das epistemische Ideal des göttlichen Gerichtshofes liefert damit einen weiteren Hinweis für den im vorigen Abschnitt angesprochenen Punkt, dass Kant auch Maximen und Motive als Gegenstand der Prüfung vor dem Gewissen vorsieht. Sich vor dem Gewissen Handlungen zuzurechnen, impliziert demnach die genaue Prüfung der zugrundeliegenden moralischen Einstellung. Dass das göttliche Zurechnungsideal unerreichbar ist, ist ein Ausdruck dafür, dass die Fallibilität der eigenen Zurechnungsurteile immer anerkannt werden muss. Auch in moralischer Hinsicht kann der Begriff Gottes als Ideal für Zurechnung dienen, insofern Gott für die perfekte Unparteilichkeit steht, da er als nichtsinnliches Wesen keine unmoralischen Interessen hat. Somit geht Kant mit der Einführung des Gottesbegriffs über die bloße Idee eines internalisierten Richters hinaus und legt die Idee nahe, dass sich Selbstzurechnung an einem epistemischen und moralischen Ideal orientiert.
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1.3 Die zeitliche Beziehung des Gewissensurteils zur Handlung Das Gewissen hat nach Kant sowohl eine prospektive als auch eine retrospektive Funktion: Es warnt uns, bevor wir handeln, und es spricht ein Urteil über Schuld oder Unschuld, nachdem wir gehandelt haben (6:440). Die Metapher des Gewissens als Gerichtshof legt nahe, dass es primär um die retrospektive Funktion geht. Doch die prospektive Funktion lässt sich als Antizipation des retrospektiven Urteils verstehen: Dass das Gewissen warnt, heißt, dass es die in Frage stehende Handlung so beurteilt, als sei sie schon geschehen, indem es sie moralisch bewertet und verurteilt oder von Schuld losspricht.¹³⁰ Über die Idee der Antizipation hinaus macht die erweiterte Konzeption in der Religionsschrift ganz deutlich, dass Kant auch eine prospektive Funktion des Gewissens im Blick hatte, denn dort bezeichnet er es als „Postulat des Gewissens“, dass man von der Handlung, „die ich unternehmen will“ (6:186), gewiss sein muss, dass sie nicht unrecht ist (vgl. dazu Abschnitt 2.2). In der Kritik der praktischen Vernunft ändert Kant die Konzeption des Gewissens dahingehend, dass er gerade die zeitliche Unabhängigkeit des Gewissensurteils hervorhebt. Dort meint Kant, dass die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt und nur frägt, ob die Begebenheit mir als That angehöre, alsdann aber immer dieselbe Empfindung damit moralisch verknüpft, sie mag jetzt geschehen oder vorlängst geschehen sein (5:99).
In seinen Vorlesungen nennt Kant neben dem Gewissen „vor“ und „nach der That“ auch das Gewissen „in der That“ und schreibt dem verschiedenen zeitlichen Auftreten des Gewissens unterschiedliche Stärke zu: „vor der That ist das Gewissen zwar noch kräfftig den Menschen von der That abzuführen, in der That aber noch stärker und nach der That am stärksten; vor der That kann das Gewissen noch nicht so stark seyn weil die That noch nicht geschehen und der Mensch sich alsdenn nicht so sträflich findet, und weil die Neigung noch nicht befriedigt ist, welche also noch stark genug ist dem Gewissen zu wiederstehen; in der That da würkt es schon kräfftiger, aber nach der That findet sich der Mensch erst recht sträflich und weil denn schon die Neigung befriedigt ist, so ist sie schon zu schwach und zu schlap dem Gewissen zu wiederstehen, folglich ist es denn am stärksten“ (Kähler, 196). Die verschiedene Stärke des Gewissens zu verschiedenen Zeitpunkten ist zwar ein psychologisch interessantes Phänomen, aber nicht unmittelbar relevant für die Frage der Zurechnung. Erschwert wird eine Betrachtung dieses Phänomens dadurch, dass die verschiedenen Mitschriften der Kantischen Vorlesungen über Moralphilosophie nicht übereinstimmen. Anders als bei Kähler heißt es in der Herder-Mitschrift: „Das Gewissen urteilt von schlimmen Handlungen weit stärker und richtiger nach der Handlung als vor, und vor stärker als in der Handlung“ (27:43).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Diese beiden Beschreibungen des Gewissens, d. h. einerseits seine zeitliche und andererseits seine zeitunabhängige Beziehung zur Handlung, spiegeln das Verhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter wider (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 4): Während der intelligible Charakter „unter keinen Zeitbedingungen“ steht (A539/B567), umfasst der empirische Charakter die beobachtbaren Handlungen, die in der Zeit geschehen. Wie im dritten Kapitel erläutert, können alle zurechenbaren Handlungen dem intelligiblen Charakter „beigemessen“ werden (A555/B583). Das Gewissensurteil ist gerade eine Weise, wie die zeitunabhängige Betrachtung einer Handlung vollzogen werden kann. Wird eine Handlung, wann immer sie geschehen ist, vor dem Gewissen der Person zugerechnet, ist die Person einer entsprechenden Empfindung – im paradigmatischen negativen Fall: der Reue – ausgesetzt. Auf diese Weise ist das Gewissensurteil für die Person ein Hinweis auf ihren eigenen intelligiblen Charakter. Im Gewissen kommen gleichsam beide Aspekte einer Person, der intelligible, aber auch der empirische, zum Tragen. In empirischer Hinsicht sind Handlungen zeitliche Phänomene: Die Person erlebt sich als zeitliches Wesen, das Handlungen plant, ausführt und retrospektiv beurteilt. Insofern unsere Zurechnungen „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ können (A551/B579, Anm.), nimmt auch das Gewissen auf Handlungen in der Zeit Bezug: Es spricht zeitlich vor und nach der Tat. Die beiden Beschreibungen des Gewissens, die Kant in der Metaphysik der Sitten und der zweiten Kritik gibt, die zeitliche und die zeitunabhängige, sind demnach in Analogie zu den beiden Aspekten des Charakters zwei Seiten einer Medaille.
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung Die Möglichkeit der Selbstzurechnung einer Handlung vor dem Gewissen wirft die Frage auf, wie diese sich zur Zurechnung derselben Handlung durch andere verhält. In einem ersten Schritt soll erläutert werden, warum nach Kant der Besitz eines Gewissen notwendig ist, um überhaupt Adressat von moralischen Pflichten und damit erst ein moralisch zurechnungsfähiges Wesen zu sein. Der zweite Schritt betrachtet das Verhältnis von Selbst- und Fremdzurechnung im Einzelfall. Ist es dafür, dass einer Person ihre Handlung zur Schuld zugerechnet werden kann, notwendig, dass die Person sich diese Handlung selbst zur Schuld zurechnet bzw. zurechnen kann?
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung
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2.1 Das Gewissen als notwendige Voraussetzung dafür, ein Zurechnungssubjekt zu sein Um jemand zu sein, dem man seine Handlungen prinzipiell moralisch zurechnen kann, muss das Subjekt frei sein, und das heißt auch: ein Adressat von moralischen Pflichten sein. Genau dafür sieht Kant das Gewissen als Voraussetzung. Neben dem moralischen Gefühl, der Menschenliebe und der Achtung zählt Kant das Gewissen in der Einleitung zur Tugendlehre zu den „ästhetische[n] Vorbegriffe[n] der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (6:399). Diese ästhetischen Begriffe stellen die sinnlichen („ästhetischen“) Voraussetzungen dafür dar, dass ein Mensch als verpflichtet gelten kann.¹³¹ Die bisherige Betrachtung des Gewissens als Gerichtshof macht noch nicht deutlich, inwiefern sinnliche Aspekte im Gewissen eine Rolle spielen.¹³² In Anbetracht der Struktur des inneren Gerichtshofes scheint es wenig plausibel, das Gewissen im Ganzen als „Gefühl“ zu verstehen.¹³³ Vielmehr bezeichnet Kant das Gewissen selbst in dem Abschnitt, in dem er es „ästhetischen Vorbegriff“ nennt, als „die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft“ (6:400, H.v.m.). Wie das Gewissen trotzdem zu den „ästhetischen“, also sinnlichen, Vorbegriffen gehören kann, erläutert Kant in einem Klammereinschub: „Seine Beziehung [die des Gewissens, CB] also ist nicht die auf ein Object, sondern blos aufs Subject (das moralische Gefühl durch ihren Act [d. h. den Akt der Vernunft, CB] zu afficiren)“ (6:400). Der „Akt der Vernunft“ bewirkt also bestimmte Gefühle. Da Kant, genau wie in der zuvor diskutierten Passage (6:438), auch an dieser Stelle vom „Lossprechen oder Verurtheilen“ spricht, lässt sich dieses Lossprechen oder Verurteilen als Akt der Vernunft sehen, der gewisse Gefühle auslöst. Im negativen Fall, wenn die vergangene Handlung als gesetzwidrig eingestuft und der Handelnde deshalb verurteilt wird, löst das Urteil „Gewissensbisse“ (6:305) oder „Reue“ aus, die Kant als eine „schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfin Vgl. zu den „ästhetischen Vorbegriffen“ als apriorische, sinnliche Voraussetzungen der Tugend Goy 2013. Die Unterschiede zwischen Kants Beschreibung des Gewissens in den beiden Passagen der Tugendlehre – einmal als Gerichtshof und einmal als sinnlichen Vorbegriff – sind so groß, dass die Vermutung naheliegt, Kant habe zwei verschiedene, in der Tradition vorfindliche Gewissenskonzeptionen verwendet: Die Konzeption des Gewissens als sinnlicher Vorbegriff stamme aus der moral-sense-Theorie, die des Gewissens als Urteil nach der Syllogismus-Struktur aus der Wolff-Baumgartenschen Tradition (vgl. Esser 2013, 275). Wood hingegen identifiziert das Gewissen mit einem Gefühl: „[C]onscience is a feeling of pleasure and displeasure associated with myself, in view of some action I am either contemplating or which I have already performed“ (Wood 2008, 183).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
dung“ beschreibt (5:98). Im positiven Fall bewirkt das Lossprechen „Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein“ und „Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit“ (6:440). Für diese Gefühle ist der Mensch empfänglich, weil er das Moralgesetz als gültig anerkennt und ein Gewissen hat, das Urteile über seine Handlungen fällt. Man kann daher sagen, dass das Gewissen eine Disposition ist (so auch Paton 1979, 240), die genannten Gefühle zu erleben: Wenn das Gewissen ausgeübt wird, dann ist der Träger des Gewissens diesen Gefühlen ausgesetzt. Daher ist Selbstzurechnung, die eine Ausübung des Gewissens darstellt, nach Kant immer mit bestimmten Gefühlen verbunden. Die untrennbare Verbindung zwischen (Zurechnungs‐)Urteilen und Gefühlen erklärt auch, warum Kant das Gewissen einerseits als „ästhetischen“ Vorbegriff, also als zur Sinnlichkeit gehörig, und andererseits als „intellectuelle […] Anlage“ (6:438) bezeichnet. Urteile der Selbstzurechnung gehen mit Emotionen (vornehmlich mit dem Gefühl der Reue) einher. Andersherum verweisen die relevanten Gefühle immer auf Urteile: Reue ist nach Kant ein Gefühl mit dem propositionalen Gehalt, dass die mir zurechenbare Handlung eine von mir akzeptierte Pflicht verletzt hat. Es ist zwar möglich, Zurechnungsurteile in Abstraktion der entsprechenden Gefühle zu betrachten – so spielen Gefühle in der Definition der Zurechnung (6:227) keine Rolle –, aber im Fall des Gewissensurteils scheint Kant von einer untrennbaren Verbindung auszugehen. Möchte man diese Verbindung deutlich machen, lassen sich die Gefühle als Ausdrucksform der Selbstzurechnung bezeichnen.¹³⁴ Nun ist deutlich geworden, inwiefern das Gewissen zu den sinnlichen Vorbegriffen gehört – aber warum ist es notwendig dafür, um überhaupt ein moralisch verpflichtetes Wesen zu sein? Die Funktion der Gefühle, die mit dem Gewissensurteil einhergehen, ist nicht leicht erkennbar. Den Gefühlen, die mit dem Gewissensurteil vor der Tat verknüpft sind, kann – ähnlich der Achtung – eine Rolle für die Handlungsmotivation zugestanden werden. Antizipierte Gewissensbisse lassen sich als negatives Pendant zum positiven Gefühl der Achtung verstehen: Gewissensbisse hindern an der schlechten Handlung, Achtung moti-
Darin besteht eine Parallele zur Dankbarkeit, die ebenfalls eine emotional gefärbte Folge bzw. Ausdrucksform der Zurechnung ist (vgl. Kapitel 5). Während es jedoch nach Kant eine Pflicht zur Dankbarkeit gibt, d. h. die entsprechenden Gefühle normativ gefordert sind, kann nach Kant „[n]ach Gewissen zu handeln […] selbst nicht Pflicht sein“ (6:401). Vielmehr „spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich“ (ebd.), d. h. auch die entsprechenden Gefühle stellen sich automatisch ein. Die Eigenschaft des Gewissens, ohne Kontrolle des Handelnden zu urteilen, schlägt sich auch in Kants Bezeichnung des Gewissens als „Instinkt“ nieder (27:297).
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung
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viert zur guten.¹³⁵ Doch die Gewissensbisse, die nach der Tat entstehen, können keine motivierende Funktion übernehmen, da die Handlung in der Vergangenheit liegt. Die Notwendigkeit des Gewissens dafür, ein moralischer Akteur zu sein, lässt sich möglicherweise besser einsehen, wenn die Gemeinsamkeit der Gewissensurteile in verschiedener zeitlicher Beziehung zur Tat bzw. in der überzeitlichen Perspektive in den Blick genommen wird: Das Gewissen ermöglicht es, die eigenen moralischen Urteile darüber, was zu tun gut ist, auf die eigenen Handlungen zu beziehen und sich selbst als moralischen Handelnden zu begreifen. Eine Person mit Vernunft aber ohne Gewissen würde zwar Handlungen abstrakt als gut oder böse beurteilen, aber diese Urteile nicht auf sich selbst als Handlungssubjekt beziehen (vgl. auch Timmermann 2006, 296, Anm. 13; Hill 2002, 305). Wenn Kant also sagt, dass jemand, der kein Gewissen hat, „sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig vorwerfen“ könnte (6:400 f.), dann liegt die Betonung auf „sich“: Erst das Gewissen ermöglicht es, sich selbst in Hinsicht auf Pflichtmäßigkeit bzw. Pflichtwidrigkeit zu beurteilen. Diesen Punkt macht Kant auch deutlich in der Religionsschrift, wenn er das Urteil des Verstandes, „[o]b eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei“ (6:186, H.v.m.), von dem Urteil über die Handlung abgrenzt, „die ich unternehmen will“ (ebd., H.v.m.). Während ich nicht „von allen möglichen Handlungen zu wissen [brauche], ob sie recht oder unrecht sind“ (ebd.), muss ich es von meinen eigenen Handlungen sehr wohl wissen, und genau dieser Bezug des Urteils auf die eigenen Handlungen geschieht vor dem Gewissen. Dass die Möglichkeit der Selbstzurechnung eine Voraussetzung dafür ist, ein moralisch verpflichtetes Wesen zu sein, lässt sich durch die Überlegung stützen, dass andernfalls moralische Urteile ohne Auswirkung auf das eigene Handeln bleiben würden. Ein moralisches Wesen zu sein, bedeutet nicht nur, das Moralgesetz zu kennen, sondern auch, es als Maßstab für seine eigenen Handlungen sehen zu können.
Thomas Hill diskutiert, inwiefern diese negative Motivation durch Gewissensbisse „heteronomen“ Charakter haben könnte (vgl. Hill 2000). Er kommt zu dem Schluss, dass nur in dem Fall, in dem ausschließlich die Vermeidung unangenehmer Gewissenbisse angestrebt wird, die moralisch gute Handlung heteronom ist. Doch nicht in allen Fällen, in denen das Gewissensurteil Einfluss auf die Motivation nimmt, liegt Heteronomie vor. Wenn Gewissensbisse bei der Antizipation unmoralischer Handlungen als Signal wirken, das uns auf unsere moralische Verpflichtung aufmerksam macht, tut das dem moralischen Wert der daraus folgenden Handlung keinen Abbruch. Im besten Fall gilt nach Hill: „[T]he hurting conscience […] alerts us and makes us more vividly aware of our respect for the moral law and its requirements“ (Hill 2000, 249). Mir scheint der Heteronomie-Verdacht von vorneherein verfehlt, weil Gewissensbisse zwar zur sinnlichen Natur des Menschen gehören, aber wie die Achtung die moralische Verpflichtung als Grund haben.
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Dieser Punkt wäre damit vereinbar, dass die affektiven Elemente des Gewissens – das Gefühl der Reue und die Erleichterung bei Unschuld – keine zentrale Rolle dafür spielen, eine moralische Person zu sein. Doch weil menschliche Personen nicht nur vernünftige, sondern auch sinnliche Wesen sind, ist es angemessen, dass ihre Sinnlichkeit nicht unberührt von ihren vernünftigen Urteilen bleibt. Wenn eine sinnlich-vernünftige Person ein negatives moralisches Urteil über ihre eigene Handlung nicht mit Gefühlen begleitet, hätten wir Zweifel, ob sie überhaupt wirklich ein moralisches Urteil über ihre Handlung getroffen hat. In solch einem Fall würde man wahrscheinlich davon sprechen, dass die Person ihre vernünftige Einsicht nicht „verinnerlicht“ hat. Es ist eine interessante Frage, der hier leider nicht nachgegangen werden kann, ob Kant den notwendigen Zusammenhang von Gewissensurteilen und Gefühlen weiter begründen kann. Eine zweite Frage wäre, ob der Zusammenhang von Gewissensurteilen und bestimmten Gefühlen (insbesondere Reue) nach Kant notwendig, oder kulturell vermittelt und veränderbar ist.¹³⁶ Doch auch wenn diese Fragen unbeantwortet bleiben, ist deutlich, dass das Gewissen einer Person ermöglicht, ihre moralischen Urteile auf ihre eigenen Handlungen zu beziehen und dies in einer „umfassenden“ Weise zu tun, die die Einheit der Person im Blick hat und die ihre Sinnlichkeit und Vernunft mit einbezieht.
2.2 Ein reines Gewissen als Entschuldigungsgrund? Wie sieht das Verhältnis von Selbst- und Fremdzurechnung im Einzelfall aus? Folgende These legt nahe, dass nach Kant ein reines Gewissen entschuldigt: Wenn aber jemand sich bewusst ist nach Gewissen gehandelt zu haben, so kann von ihm,was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden (6:401).
Wenn eine Person ihr Gewissensurteil ernst nimmt und ihre Handlung vom Gewissen als erlaubt beurteilt wurde, kann von dieser Person „was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“. Dies lässt sich so verstehen, dass niemand von der Person fordern kann, sie hätte etwas anderes überlegen oder tun sollen, um ihre „Schuld oder Unschuld“ festzustellen und entsprechend nicht schuldig zu werden. Eine moralisch schlechte Handlung, die aber in Überein-
Bittner stellt die grundlegende Frage, ob Reue über vergangene Handlungen überhaupt rational ist (Bittner 1992). Seine Alternative ist, die vergangene schlechte Handlung klar als etwas Schlechtes zu sehen, das man selbst getan hat, doch ohne dies mit einem negativen Gefühl zu begleiten.
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung
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stimmung mit dem eigenen Gewissen ausgeführt wurde – also unter der Annahme, sie sei moralisch erlaubt – wäre demnach nicht zur Schuld zurechenbar. So wäre letztlich die Frage, ob bzw. wie sehr sich eine Person moralisch schuldig gemacht hat,vom Gewissensurteil der Person selbst abhängig. Die Möglichkeit der Selbstzurechnung wäre dann auch im Einzelfall der Zurechnung zur Schuld eine notwendige Bedingung für Fremdzurechnung. Genau so versteht Moyar die These: „If I cannot, despite my best efforts, make a better moral judgment, you cannot blame me for not having done otherwise. […] [C]onscience defines the limits of what can be imputed to me as a moral agent“ (Moyar, 2008, 353). Die These, dass ein reines Gewissen von Schuld freispricht, steht prima facie in Spannung zu Kants Ansicht, im Moralgesetz ein allgemeines, unpersönliches Kriterium für das moralisch Gute und Schlechte zu haben, das Gut und Böse – und damit vermeintlich auch Schuld und Unschuld – unabhängig von individuellen, möglicherweise divergierenden Gewissensurteilen festlegt. Diese Spannung ist als Hinweis darauf gelesen worden, dass sich Kant mit der Theorie des Gewissens einer Moralkonzeption nähert, die dem individuellem Subjekt und dessen situativen Anforderungen mehr Autorität gegenüber dem objektiven, unpersönlichen Moralgesetz einräumt (vgl. Moyar 2008, 330, 353 f.).Von anderen Interpreten ist sie als „fatale Konsequenz“ eines zu individualistischen Verständnisses von Moral kritisiert worden (vgl. Esser 2013, 285 f.). Die Idee, dass der Verweis auf das eigene Gewissen entschuldigt („Tadle mich nicht, ich habe nach bestem Gewissen gehandelt!“), hat einerseits einen plausiblen Kern: Wenn eine Person alles getan hat, was vernünftigerweise von ihr verlangt werden kann, um zu einem moralischen Urteil zu gelangen, und sich dieses als falsch herausstellt, sollte ihr kein Vorwurf gemacht werden. Andererseits ist der Verweis auf das eigene Gewissen als Entschuldigung problematisch, weil es denkbar ist, dass sich das Gewissen irrt und der Irrtum selbst vorwerfbar ist. Ich werde auf die Frage zurückkommen, ob Kant der plausiblen Lesart der Entschuldigungsthese Raum lassen kann. Die problematische Lesart schließt Kant durch eine weitere These aus, die allerdings auf den ersten Blick kaum Plausibilität für sich beanspruchen kann: Kant behauptet, dass „ein irrendes Gewissen ein Unding sei“ (6:401). Diese These wirft zwei Fragen auf: Erstens scheint es falsch, dass Irrtümer beim Urteilen ausgeschlossen sind. Falls jedoch ein Irrtum des Gewissens tatsächlich ausgeschlossen wäre, stellt sich die zweite Frage, ob auf dieser Grundlage überhaupt unmoralische Handlungen möglich sind, sodass die Frage nach Entschuldigungen relevant wird. Ich werde im Folgenden zum einen zeigen, wie Kant in der Metaphysik der Sitten und der Religionsschrift das Gewissen gegen Irrtum immunisiert. Zum anderen wird deutlich, dass sich Kants Antwort auf die zweite Frage in der Metaphysik der Sitten und der Religionsschrift unterscheidet: Während Kant in der Metaphysik der Sitten meint, auf Basis eines reinen
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Gewissens könnten sehr wohl unmoralische Handlungen vollzogen werden, scheint er dies in der Religionsschrift auszuschließen, da er hier den Skopus dessen, worüber das Gewissen urteilt, weiter fasst. In der Metaphysik der Sitten räumt Kant eine Art von Irrtümern explizit ein: „[I]n dem objectiven Urtheile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren“ (6:401). Wenn sich jemand darüber irrt, was seine Pflicht in einer bestimmten Situation ist, kann es sein, dass er deshalb eine unmoralische Handlung ausführt. Kant meint nun, dass es sich dabei nicht um einen Irrtum des Gewissens handelt, sondern um einen Fehler des Verstandes. Gewissensurteile muss man nach Kant also als Urteile darüber verstehen, ob eine eigene Handlung eine moralische Pflicht verletzt, die man für sich selbst akzeptiert hat. Doch worin besteht dann die Gewissheit des Gewissens? Kant fährt fort: [I]n dem objectiven Urtheile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren; aber im subjectiven, ob ich es mit meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes Urtheils verglichen habe, kann ich nicht irren, weil ich alsdann praktisch gar nicht geurtheilt haben würde (6:401).
Kant ist offenbar der Ansicht, dass dem urteilenden Subjekt das eigene Urteilen so weit transparent ist, dass es sich der Tatsache sicher sein kann, dass es geurteilt hat. Diese Charakterisierung der Irrtumsimmunität des Gewissens stimmt mit der Beschreibung Kants im Theodizee-Aufsatz weitgehend überein. Auch dort gesteht Kant die Möglichkeit von Pflichtenirrtümern zu, die er dem Verstand zuschreibt. Er geht jedoch in der Charakterisierung der Gewissheit einen Schritt weiter, indem er nicht nur die Tatsache des Urteilens als gewiss beschreibt, sondern auch das Ergebnis des Urteils: [E]in irrendes Gewissen ist ein Unding […]. Ich kann zwar in dem Urtheile irren, in welchem ich glaube Recht zu haben: denn das gehört dem Verstande zu, der allein (wahr oder falsch) objectiv urtheilt; aber in dem Bewußtsein: ob ich in der That glaube Recht zu haben (oder es bloß vorgebe), kann ich schlechterdings nicht irren, weil dieses Urtheil oder vielmehr dieser Satz bloß sagt: daß ich den Gegenstand so beurtheile (8:268, H.v.m.)
Die Gewissheit des Gewissens betrifft demnach weniger die Sicherheit über die moralische Qualität unserer Handlung, als die Sicherheit über einen wesentlichen Aspekt unserer eigenen moralischen Haltung, nämlich unsere eigene Aufrichtigkeit. Die systematisch interessante Frage, ob es nach Kant entschuldbare Pflichtenirrtümer gibt (auch wenn diese nach der Metaphysik der Sitten keinen Irrtum des Gewissens darstellen), wird weiter unten aufgenommen. Für die Interpretation der vermeintlichen Entschuldigungsthese, dass von einer Person, die nach ihrem
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Gewissen handelt, „was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“ kann (6:401), ist relevant, dass Kant hier davon auszugehen scheint, dass die Person ihre Pflicht richtig erkannt hat. Denn Kant fährt direkt im Anschluss fort: „Es liegt ihm nur ob, seinen Verstand über das, was Pflicht ist oder nicht, aufzuklären“ (ebd.). Zwar formuliert Kant es als eine Aufgabe, seine Pflicht zu erkennen, anstatt die Erfüllung dieser Aufgabe explizit als vorausgesetzt anzunehmen. Allerdings heißt es zuerst, dass „nichts mehr verlangt werden“ kann, wenn nach Gewissen gehandelt wurde – wieso wird im Anschluss doch die Erfüllung einer weiteren Aufgabe verlangt? Die Aussage, dass „nichts mehr verlangt werden“ kann, ist meines Erachtens nur verständlich, wenn man in ihr die Erfüllung der danach genannten Aufgabe bereits voraussetzt. Dass von einer Person „was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“ kann, wenn sie nach ihrem Gewissen handelt, sollte hier demnach nicht als Entschuldigung verstanden werden, sondern steht unter der Bedingung, dass die Person ihren Verstand aufgeklärt, d. h. die richtige Pflicht erkannt hat und nicht unmoralisch handelt. Wie ist Kants Aussage, dass von einer Person, die „sich bewußt ist, nach Gewissen gehandelt zu haben […] was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“ kann, dann zu verstehen? Einen Hinweis darauf gibt der vorige Satz: „Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang sich an dessen Urtheil nicht zu kehren“. Im Lichte des vorigen meint Kant hier mit „Mangel des Gewissens“ zweierlei: Erstens, dass das Gewissen selbst nicht fehlt, denn „wenn man […] sagt: dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit: er kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben“ (6:400). Zweitens gibt es keinen Mangel des Gewissens, weil das Gewissen selbst nicht mangelhaft urteilt, d. h. nicht irrt. Vor diesem Hintergrund liest sich die in Frage stehende Aussage als die These, dass eine Person, die nach ihren Gewissen handelt, unschuldig ist, da sie nichts weiter tun muss, als sich an den unvermeidlichen Spruch ihres Gewissens zu halten, vorausgesetzt sie hat die Pflicht richtig erkannt.¹³⁷ Sind diese Bedingungen erfüllt, handelt sie nicht unmoralisch, sodass es nichts gäbe, wofür das reine Gewissen entschuldigen könnte. In der Religionsschrift vertritt Kant eine veränderte bzw. erweiterte Konzeption des Gewissens, derzufolge die erfolgreiche Ausübung des Gewissens mit der Gewissheit einhergeht, die über die diejenige bezüglich der eigenen Aufrichtigkeit
Man könnte die These auch so verstehen, dass von einer Person nicht verlangt werden kann, dass sie mehr tut, als ihr Gewissen ihr sagt, d. h. dass sie keine „supererogatorischen“ bzw. – in Kants Termini – „überverdienstlichen“ (5:155) Handlungen ausführen braucht. Doch dann würde die These nicht über die triviale Aussage hinausgehen, dass man nicht zu mehr verpflichtet sein kann, als was die Pflicht vorschreibt.
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
hinausgeht: die Gewissheit, dass die Handlung nicht schlecht ist. Diese These lässt die obengenannte zweite Frage, ob auf Grundlage eines reinen Gewissens überhaupt unmoralische Handlungen möglich sind, noch deutlicher hervortreten. Tatsächlich impliziert die Konzeption des Gewissens in der Religionsschrift, dass eine gewissenhafte Handlung im Normalfall nicht unmoralisch ist, sodass es nichts gäbe, was ein reines Gewissen entschuldigen könnte. Kant illustriert seine erweiterte Konzeption des Gewissens am Beispiel eines Ketzerrichters, der einen „sonst guten Bürger“ aufgrund seines vermeintlichen Unglaubens richten soll. Wenn der Ketzerrichter den Mann zum Tode verurteilt, meint Kant, man könne ihm „Gewissenlosigkeit“ vorwerfen, er mag geirrt oder mit Bewußtsein unrecht gethan haben; weil man es ihm auf den Kopf zusagen kann, daß er in einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er thue hierunter nicht vielleicht unrecht (6:186).
Angenommen, es trifft der erste Fall zu, dass der Ketzerrichter „geirrt“ – und nicht „mit Bewußtsein unrecht gethan“ – hat. Sein Irrtum lässt sich als Irrtum über seine objektiven Pflichten verstehen: Der Ketzerrichter ist „des festen Glaubens, daß ein übernatürlich-geoffenbarter göttlicher Wille […] es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusammt den Ungläubigen auszurotten“ (6:186, H.v.m.). Kant zufolge kann dem Ketzerrichter mangelnde Sorgfalt in der Prüfung seiner Pflichten und damit Gewissenlosigkeit vorgeworfen werden, weil er „nie ganz gewiß sein konnte, er thue hierunter nicht vielleicht unrecht“ (6:186). „Gewissenlosigkeit“ wird hier als Handeln trotz mangelnder Gewissheit über die moralische Erlaubtheit der Handlung verstanden, während sie in der Metaphysik der Sitten als „Hang“, sich an das Gewissensurteil „nicht zu kehren“ (6:401) bestimmt wird. Dieses Beispiel provoziert zwei Fragen: Erstens, wie steht Kants Aussage aus der Metaphysik der Sitten, dass der Pflichtenirrtum kein Irrtum des Gewissens ist, zu seiner These in der Religionsschrift, dass man dem Ketzerrichter aufgrund seines Pflichtenirrtums Gewissenlosigkeit vorwerfen kann? Zweitens, ist eine Unsicherheit wie die des Ketzerrichters, dass er nicht „ganz gewiß“ sein kann, dass er nicht „vielleicht unrecht“ tut, nicht bloß ein Ausdruck der Fallibilität unserer praktischen Urteile in komplexen Situationen und somit völlig normal? Kann man jedem, der unter dieser normalen Unsicherheit handelt, Gewissenlosigkeit vorwerfen? Wenden wir uns der ersten Frage zu, die auf eine Erweiterung in Kants Konzeption des Gewissens aufmerksam macht: In der Religionsschrift verortet Kant das Gewissen auf einer höheren Reflexionsebene als in der Metaphysik der Sitten, da er meint, im Gewissen „richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch
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wirklich jene Beurtheilung der Handlung mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (6:186, H.v.m.). Hier sieht Kant das Gewissen also nicht primär als Prüfungsinstanz der Handlungen, sondern als Prüfungsinstanz der Prüfung der Handlungen. So kommt Kant zu der Definition des Gewissens als „die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft“ bzw. Vernunft (6:186). In dieser Definition kommt zum Ausdruck, dass das moralische Urteil über Handlungen selbst noch einmal beurteilt werden kann. Die Pflicht zur Beurteilung „zweiter Ordnung“ lässt sich als Sorgfaltspflicht bezeichnen. So kommt Kant dazu, es als ein „Postulat des Gewissens“ zu bezeichnen, dass man von der Handlung, „die ich unternehmen will, […] nicht allein urtheilen und meinen, sondern auch gewiß sein [muss], daß sie nicht unrecht sei“ (6:186, H.v.m.). Man kann an dieser Stelle fragen, ob Kant im Kontext des Gewissens eigentlich nur von Sorgfalt bezüglich der Prüfung von Handlungen oder auch von Pflichten spricht. Offenbar setzt die „Behutsamkeit“ bei der „Beurtheilung der Handlungen […] (ob sie recht oder unrecht sind)“ (6:186, H.v.m.) die sorgfältige Prüfung der Pflichten voraus. Das Beispiel des Ketzerrichters macht deutlich, dass die mangelnde Sorgfalt bei der Prüfung der Handlung letztlich darauf zurückgeht, dass er seine Pflichten nicht sorgfältig genug geprüft hat. Doch nicht jede Fahrlässigkeit in Bezug auf die Prüfung einer Handlung liegt an der mangelnden Sorgfalt bei der Prüfung der Pflichten: Es ist auch möglich, dass jemand keinen Pflichtenirrtum begeht, aber seine Handlung nicht gut genug auf ihre Pflichtmäßigkeit prüft, beispielsweise weil er die relevanten Eigenschaften seiner Handlungssituation nicht genau genug in Augenschein genommen hat. Festzuhalten ist hier, dass Kant dem Ketzerrichter zwar „festen Glauben“, das Richtige zu tun, zugesteht, aber kein reines Gewissen, da er die Sorgfältigkeit in der Prüfung der Handlungen als eine notwendige Bedingung dafür sieht, dass die entsprechende Handlung in Einklang mit dem Gewissen ist. Dies führt zu der zweiten Frage, ob es nicht oft zutrifft, dass man nicht „ganz gewiß“ sein kann, ob die eigene Handlung richtig oder falsch ist. Betrachten wir Kants Gründe für den Vorwurf an den Ketzerrichter: Kant betrachtet es als „gewiß“, dass „einem Menschen seines Religionsglaubens wegen das Leben zu nehmen unrecht sei“ (6:186). Er räumt – hypothetisch – nur die Ausnahme ein, dass „ein göttlicher […] Wille es anders verordnet hat“ (6:187). Nach Kant kann man sich jedoch nie sicher sein, dass tatsächlich ein solcher göttlicher Wille vorliegt, denn alles, was man über Gottes Willen weiß, „beruht auf Geschichtsdocumenten und ist nie apodiktisch gewiß“ (6:187). Der Ketzerrichter hätte wissen müssen, dass „die Möglichkeit immer übrig bleibt, es sei darin [in seinem geschichtlich überlieferten Glauben, CB] ein Irrthum anzutreffen“ (6:187). Es ist dem Ketzerrichter also vorzuwerfen, dass er sich über die epistemischen Grundlagen seines Glaubens und seiner Überzeugung, dass er die Pflicht habe, den Ungläu-
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bigen umzubringen, nicht im Klaren ist. Es ist nach Kant ein Spezifikum des Glaubens, „daß nämlich die Möglichkeit immer übrig bleibt, es sei darin ein Irrthum anzutreffen“ (6:187), das dem Ketzerrichter eigentlich bekannt sein müsste. Kant nimmt also die Verallgemeinerung, jeder Pflichtenirrtum beruhe auf mangelnder Sorgfalt, nicht vor. Es ist systematisch von Interesse, ob es nach Kant entschuldbare Pflichtenirrtümer gibt, die nicht auf mangelnder Sorgfalt beruhen. Darauf gründet sich die oben erwähnte plausible Lesart der These, ein reines Gewissen könne entschuldigen: Einer Person, die sich bezüglich ihrer Pflichten irrt und „nach bestem Gewissen“ geurteilt hat, d. h. es nicht hätte besser wissen können, kann nichts vorgeworfen werden. In seinen veröffentlichten Werken diskutiert Kant die Frage von entschuldbaren und nicht entschuldbaren Irrtümern in Bezug auf Gesetze nicht explizit, aber in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie ist ihm das Problem bewusst.¹³⁸ In Hinblick auf die Möglichkeit, dass Irrtum entschuldigt, unterscheidet Kant in den Vorlesungen zwischen „natürlichen“ und „positiven“ Gesetzen: Es giebt errores culpabiles et inculpabiles; in Ansehung der natürlichen Verbindlichkeit kann keiner im Irthum seyn, denn die natürliche moralische Gesetze können keinem unbekannt seyn, indem sie in jedes seiner Vernunfft liegen, also ist da keiner in solchem Irthum unschuldig; aber in Ansehung eines positiven Gesetzes sind errores inculpabiles, da kann man gemäß einer conscientia erronea unschuldig handeln (Kähler, 194).
Auch wenn Kant in seinen späteren Schriften die Rede von „natürlichen“ Gesetzen fallen gelassen hat, bleibt der hier beschriebene Unterschied zwischen Vernunftgesetzen und positiven Gesetzen bestehen: Die moralischen Gesetze sind nach Kant Gesetze, die aus der Vernunft jedes Menschen stammen, während positive Rechtsgesetze der Willkür des jeweiligen Gesetzgebers unterstehen. Daraus resultieren verschiedene epistemische Zugänge zu den Gesetzen: Bürger müssen über die positive Gesetzgebung einerseits in Kenntnis gesetzt werden und andererseits sich selbst darüber informieren,welche Gesetze gelten. Dabei kann es zu Fehlern kommen, die in einigen Fällen einen Irrtum bezüglich des Gesetzes und die darauf zurückgehende Handlung entschuldigen können. Kant betont in seinen Vorlesungen, dass im Allgemeinen die Beweislast bei der Person liegt, die sich irrt:
Kant bezeichnet den Irrtum in Bezug auf Gesetze in den Vorlesungen noch als Fall eines „irrenden Gewissens“, was aber für den fraglichen Punkt nicht ausschlaggebend ist, denn so stellt sich die Frage, ob ein Irrtum bezüglich der Pflichten entschuldigen kann, eben in der Form, ob ein irrendes Gewissen entschuldigen kann, falls sich der Irrtum auf die moralischen Pflichten bezieht.
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Es ist eine üble Sache sich mit dem irrenden Gewissen zu entschuldigen, es kann vieles auf diese Rechnung geschrieben werden, allein man muß auch von den Irthümern Rechenschafft geben (Kähler, 194 f.).
Damit ein Irrtum bezüglich positiver Gesetze entschuldigen kann, muss die Person also „Rechenschafft“ von ihm – vermutlich von seinem Zustandekommen bzw. seiner Unvermeidbarkeit – geben können. Bei Vernunftgesetzen ist die epistemische Situation grundsätzlich anders als bei positiven Gesetzen. In Bezug auf Vernunftgesetze kann Kant annehmen, dass sie jeder Mensch durch eigenes Nachdenken erkennen kann, sodass die moralischen Gesetze „keinem unbekannt seyn“ können. Doch möchte Kant mit dem Hinweis darauf, ein Irrtum bezüglich der moralischen Gesetze sei unmöglich, sagen, dass dieser Irrtum faktisch nicht vorkommen kann? Diese These würde zu seiner Grundüberzeugung passen, bereits die „gemeine Menschenvernunft“ wüsste, was moralische Pflicht ist. Nach Kant ist es gerade ein Vorteil der moralischen Prinzipien, dass zu ihrer Erkenntnis „gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit“ notwendig ist (4:403). So hat nach Kant die gemeine Menschenvernunft „ihr“ Prinzip, wie Kant den kategorischen Imperativ nennt (vgl. 4:403), „zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form“ zur Verfügung, „aber doch jederzeit wirklich vor Augen“ und gebraucht es „zum Richtmaße ihrer Beurtheilung“ (4:403).¹³⁹ Weil das „moralische Gesetz jedermann, und zwar die pünktlichste, Befolgung“ gebietet, muss die „Beurtheilung dessen, was nach ihm zu thun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüsste“ (5:36). Die paradigmatischen Fälle, von denen Kant ausgeht, sind „einfach“ in dem Sinn, dass jeder die moralisch relevanten Eigenschaften der Situation erkennen und moralisch urteilen kann. Kants Annahme, dass moralische Urteile im Normalfall eindeutig und leicht zu fällen sind, ist für die moralische Zurechnung von Handlungen von zentraler Bedeutung, da die Erkenntnis des moralisch Richtigen eine notwendige Bedingung für moralische Zurechnung ist. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass Kant in der Metaphysik der Sitten überhaupt die Möglichkeit des Irrtums „in dem objectiven Urtheile, ob etwas Pflicht sei oder nicht“ (6:401) einräumt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er hier nur positive Rechtsgesetze meint. Doch ist eine weitere Möglichkeit denkbar, wie ein Irrtum bezüglich der objektiven Pflichten verstanden werden kann: Der Irrtum kann darauf zurückgehen, dass der kategorische Imperativ in konkreten Situa-
Zur Bedeutung der gemeinen Menschenvernunft für Kants praktische Philosophie vgl. z. B. Sticker (ersch. 2014 und ersch. 2015).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
tionen falsch angewendet wird und so ein falsches Urteil darüber, was zu tun ist, zustande kommt.¹⁴⁰ Wenn in einer bestimmten Situation eine Maxime durch den kategorischen Imperativ geprüft werden soll, müssen zuvor zum einen die moralisch relevanten Eigenschaften der Handlungen, Maximen und der konkreten Situation erkannt, und zum anderen zentrale moralische Begriffe angemessen interpretiert werden. Barbara Herman nennt die Regeln, die diese beiden Elemente berücksichtigen, „rules of moral salience“ (Herman 1993, 77). „Rules of moral salience“ stellen eine Interpretation des Moralgesetzes dar, die ausbuchstabiert, was z. B. „Achtung vor der Person“ in einer gegebenen Situation bedeutet (vgl. Herman 1993, 86). Bei dieser situationsbezogenen Interpretation des Moralgesetzes kann es zu Fehlern kommen, sodass falsche Auffassungen darüber, was Pflicht ist, und entsprechend unmoralische Handlungen resultieren. Laut Barbara Herman repräsentieren die „rules of moral salience“ das moralische Selbstverständnis einer Gemeinschaft (vgl. Herman 1993, 83). So sind Situationen denkbar, in denen eine gesellschaftlich umfassende Ideologie das Urteilsvermögen des Einzelnen so zu trüben vermag, dass nicht er allein als Individuum für sein moralisch schlechtes Verhalten verantwortlich gemacht werden kann. Folgt man allerdings Kant in seinem Optimismus, dass man auch unter widrigen Umständen das moralisch Gute erkennen und tun kann, sind solche Personen nicht vollständig zu entschuldigen. Angesichts dessen scheint es sinnvoll, von teilweiser oder gradueller Schuldminderung zu sprechen (vgl. Kapitel 9). Um Kants eigene Position zu entschuldbaren Irrtümern in komplexen Situationen einschätzen zu können, müssen zwei weitere Elemente berücksichtigt
Für eine weitere Möglichkeit argumentiert Timmermann: Kant könnte meinen, man könne sich in dem, was das beste Mittel für die Realisierung eines moralischen Zwecks ist, irren (vgl. Timmermann 2006, 307). Selbst wenn man wüsste, was seine Pflicht ist (z. B. einem Ertrinkenden zu helfen), könnte man sich noch darin irren, welche Handlung diese Pflicht am besten erfüllt (z. B. selbst ins Wasser zu springen oder den Rettungsdienst zu rufen). Ein Irrtum in dieser Hinsicht kann auf falsche oder unvollständige Information zurückgehen. Meines Erachtens benennt Timmermann hiermit zwar in der Tat eine Irrtumsmöglichkeit hinsichtlich der Frage, wie man handeln soll, aber diese bezieht sich streng genommen nicht auf die moralischen Pflichten, sondern auf die hypothetischen Imperative und damit auf technisch-praktisches Wissen, das der Person fehlt. Insofern hypothetische Imperative auch objektive Zusammenhänge formulieren, könnte Kant mit seiner Aussage, man könne sich im „objectiven Urtheile“ (6:401) irren, auch auf hypothetische Imperative bezogen haben. Allerdings muss man beachten, dass der Irrtum dabei auf einer anderen Ebene stattfindet, nämlich in Bezug auf empirisches, theoretisches Wissen, als wenn es um den Irrtum geht, was die „moralische[n] Gesetze“ (Kähler, 194) sind.
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung
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werden: Zum einen Kants Gebot „moralischer Risikoscheu“ (Schüssler 2012, 78), zum anderen seine kasuistischen Fragen. Kants Warnung vor Handlungen, deren moralische Qualität unsicher ist, ist eindeutig: „Es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.)“ (6:185).¹⁴¹ Kant scheint also der Auffassung zu sein, dass man nur handeln darf, wenn man sich sicher ist, nichts Falsches zu tun. Alles andere wäre Gewissenlosigkeit im Sinne der Verletzung der Sorgfaltspflicht. Das Gebot der Vermeidung moralischer Risiken ist ein weiteres Indiz dafür, dass (nach der Religionsschrift) ein reines Gewissen nicht mit unmoralischen Handlungen verträglich ist und es nichts gibt, was ein reines Gewissen entschuldigen könnte. Gegen eine solche Position lässt sich einwenden, dass sie die Komplexität der Situationen, in denen Personen handeln müssen, unterschätzt: In einer moralisch schwer zu beurteilenden Lage kann sich eine Person nicht immer darauf zurückziehen, alle Handlungen zu unterlassen, die mit dem Risiko eines moralischen Fehlers einhergehen. Es sind Situationen denkbar, in denen sowohl eine Handlung als auch ihre Unterlassung mit einem solchen Risiko behaftet sind. Man könnte die Relevanz des Gewissens und die Möglichkeit einer Entschuldigung gerade in solch schwierigen Situationen sehen, in denen der kategorische Imperativ keine eindeutige Handlungsanweisung gibt oder zumindest schwer anzuwenden ist (vgl. Moyar 2008, 359). In den Abschnitten zu den „kasuistischen Fragen“ in der Tugendlehre lässt Kant scheinbar selbst Raum für schwierige Fragen bezüglich unserer Pflichten, wie etwa, ob man „dem Wein […] einen Gebrauch verstatten [kann], der bis nahe an die Berauschung reicht: weil er doch die Gesellschaft zur Gesprächigkeit belebt und damit Offenherzigkeit verbindet?“ (6:428). Kant gibt auf diese und ähnliche Fragen keine Antwort – zumindest keine, die leicht ersichtlich wäre. Manche Interpreten meinen, dass es kasuistische Fragen gibt (wie die bezüglich des Weins), die aufgrund der Komplexität empirischer Umstände äußerst schwer zu beantworten sind (vgl. James 1992). Andere Interpreten argumentieren dafür, dass Kant eine Kasuistik für weite Pflichten zwar ankündigt, aber an keiner Stelle in der Tugendlehre einlöst, sondern mit den kasuistischen Fragen bezüglich enger Pflichten nur didaktische Zwecke verfolgt: Bei genauerem Hinsehen ließen sich alle Fragen beantworten (vgl. Schüssler 2012).
Ähnlich schon in der Kritik der reinen Vernunft: „Daher ist es ungereimt, in der reinen Mathematik zu meinen; man muß wissen, oder sich alles Urtheilens enthalten. Ebenso ist es mit Grundsätzen der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf, sondern dieses wissen muß“ (A823/B851).
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4. Kapitel: Das Gewissen und seine Rolle für Selbstzurechnung
Kant ist sicherlich der Ansicht, dass der kategorische Imperativ ein Kriterium der Erlaubtheit für alle Handlungen liefert und die kasuistischen Fälle in dieser Hinsicht keine Ausnahme bilden. Doch auch wenn es in diesem Sinne keine objektive Schwierigkeit in der Subsumption der kasuistischen Fälle unter die Pflicht gibt, lässt sich die subjektive Schwierigkeit betonen, denen die handelnde Person in solchen komplexen Situationen gegenüber steht.¹⁴² Mein Vorschlag lautet, dass in solchen Fällen das Handeln nach Gewissen als Entschuldigung oder Schuldminderungsgrund herangezogen werden kann: Wenn eine Person ihre Pflicht mit Sorgfalt bestimmt hat, aber dies aufgrund der Komplexität der Situationen sehr schwierig war, könnten wir die Person für eine moralisch schlechte Handlung (teilweise) entschuldigen.¹⁴³
2.3 Fazit Das Gewissen übernimmt in Kants Theorie die Aufgabe der Selbstzurechnung, d. h. die Zurechnung der eigenen Handlungen unter der Maßgabe einer Pflicht, die die handelnde Person anerkannt hat. Es wurde gezeigt, warum die Möglichkeit der Selbstzurechnung nach Kant eine Voraussetzung dafür ist, überhaupt ein moralisches Wesen zu sein: Das Gewissen ermöglicht die Prüfung eigener Handlungen am Maßstab der Pflicht, wobei dies auch eine affektive Dimension hat. Obgleich das Gewissen eine individuelle Perspektive eröffnet, insofern es die Perspektive des Individuums auf seine eigenen Handlungen bedeutet, ist mit dem Gewissen zumindest dem Anspruch nach gleichzeitig eine allgemeine Perspektive verknüpft: Die Maßstäbe, die vor dem Gewissen zur Bewertung der Handlungen herangezogen werden, sind einerseits solche, die das Individuum für sich akzeptiert hat (individuelle Perspektive) und andererseits solche, die für alle moralischen Wesen gelten (allgemeine Perspektive).
Ich denke, dass Moyar zu weit geht, indem er Situationen für denkbar hält, in denen gilt: „[T]he form of universality itself cannot serve as a principle of judgment […]“ (Moyar 2008, 359). David James scheint hingegen nicht auf eine so starke These festgelegt. Er betont den Umstand, dass kasuistische Fragen schwierig zu beantworten sind (James 1992, 70). Die Interpretation der Schwierigkeit als subjektiv erlaubt es, an die Passage in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten anzuknüpfen, in der Kant sagt, dass „[s]ubjectiv […] der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen [ist], die dabei haben überwunden werden müssen“ (6:228). In dieser Passage spricht Kant zwar nicht von der Schwierigkeit, seine Pflicht zu bestimmen, doch er zeigt ein Bewusstsein dafür, dass Schwierigkeit ein relevanter Faktor für den Grad der Zurechnung zur Schuld ist. Vgl. dazu ausführlich Kapitel 9.
2. Selbstzurechnung und Fremdzurechnung
143
Es ist nicht leicht zu sehen, wie Kant das Verhältnis von Selbst- und Fremdzurechnung auffasst. Die These, dass von einer Person, die „sich bewußt ist, nach Gewissen gehandelt zu haben […] was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“ kann, sollte nicht einfachhin so verstanden werden, als sei der Verweis auf ein reines Gewissen ein Entschuldigungsgrund. Obgleich ein gegen Irrtum immunisiertes Gewissen auf den ersten Blick als Hinweis auf den Vorrang der Selbstzurechnung vor Fremdzurechnung verstanden werden könnte, zeigt diese Untersuchung im Gegenteil, dass Kant der individuellen Situation des handelnden Subjekts wenig Gewicht verleiht und letztlich von einer Übereinstimmung von individueller und allgemeiner Perspektive bzw. von Selbst- und Fremdzurechnung ausgeht. Um die Annahme einer solchen Übereinstimmung in Frage zu stellen, ließen sich zwei Fälle betrachten: Erstens könnten sich die anderen Personen hinsichtlich der geltenden Pflicht oder der Zurechnung der Handlung irren, sodass die Fremdzurechnung fehlgeht. Diese Möglichkeit habe ich in meiner Untersuchung nicht betrachtet, doch lässt sie sich offenbar als eine Situation verstehen, in der die Selbstzurechnung der ersten Person den Vorrang im Sinne eines Korrektivs gegenüber der Fremdzurechnung hat. Zweitens könnte aufgrund der epistemischen Beschränkungen in einer komplexen Situation die handelnde Person zu einer falschen Auffassung ihrer Pflicht oder der Erlaubtheit ihrer Handlung gelangen. Kants skizzenhafte Aussagen zu schwierigen Situationen in den Passagen zu den kausistischen Fragen in der Tugendlehre lassen Raum für Interpretation. Mein Vorschlag ist, dass der Verweis auf das eigene Gewissen – insbesondere auf die eigene Sorgfalt – als Entschuldigung oder Schuldminderungsgrund gelten könnte, insofern einer Person, die alles getan hat, was von ihr vernünftigerweise erwartet werden kann, um zu einem richtigen moralischen Urteil zu gelangen, nichts vorgeworfen werden kann. Solche Schuldminderungsgründe gelten zu lassen, heißt, die Schwierigkeiten eines Subjekts bei der Anwendung des kategorischen Imperativs – d. h. bei der Erkenntnis dessen, was konkret zu tun ist – als relevant für den Grad der Zurechnung anzuerkennen.
5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst In diesem Kapitel wird Dankbarkeit als eine Ausdrucksform der Zurechnung untersucht. Während es bei der Zurechnung von Handlungen vor dem Gewissen (dem „inneren Gerichtshof“) um Zurechnung der eigenen Handlungen durch sich selbst geht, und bei der Zurechnung von Handlungen vor dem (äußeren) Gerichtshof um die Zurechnung von Handlungen durch andere nach Maßgabe von Rechtsgesetzen (vgl. Kapitel 6), soll es hier um die Zurechnung von Handlungen durch andere nach ethischen Gesetzen gehen. In dieser Kategorie möchte ich die Zurechnung einer „Wohltat“ als einer verdienstlichen Tat betrachten, wobei die Zurechnung durch die Person erfolgt, die Empfängerin der Wohltat ist. Diese Zurechnung drückt sich in einer bestimmten Einstellung der zurechnenden Person, nämlich Dankbarkeit, aus. Kants Äußerungen über Dankbarkeit in der Tugendlehre (§§32– 33) wurden bislang relativ wenig beachtet¹⁴⁴ und insbesondere der Bezug zur Zurechnungsthematik nicht explizit hergestellt. Der Fokus auf den Zusammenhang von Dankbarkeit und Zurechnung erlaubt vor allem, einen Aspekt der praktischen Relevanz von Zurechnung greifbar zu machen. Wenn Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten Zurechnung als eine bestimmte Art von Urteil charakterisiert, ist noch nicht ersichtlich, welche Rolle Zurechnung in unserer intersubjektiven Praxis spielt. Schließlich wird in den seltensten Fällen ein solches Urteil verbal vorgebracht. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass das Zurechnungsurteil zum Verdienst sich nach Kant in Dankbarkeit als einer emotional gefärbten Haltung ausdrückt bzw. ausdrücken sollte. Diese Beschreibung macht eine bislang unbeachtete Ähnlichkeit zwischen dem Kantischen Zugang und dem von Peter Strawson deutlich: Letzterer hat in seinem bedeutenden Aufsatz „Freedom and Resentment“ die These vertreten, dass sogenannte „reaktive Einstellungen“ wie Groll, Übelnehmen und auch Dankbarkeit, mit denen wir auf das Handeln anderer reagieren, emotional gefärbte Einstellungen sind, die implizite Verantwortungszuschreibungen für Handlungen enthalten (vgl. Strawson 1963, im Anschluss daran Wallace 1994). Der Bezug zwischen Dankbarkeit und Zurechnung wird von Kant allerdings nicht explizit gemacht, sodass die Aufgabe des vorliegenden Kapitels darin besteht, diesen Zusammenhang zu rekonstruieren. Zunächst soll aufgezeigt werden,
Neue Beiträge dazu sind Smit/Timmons 2011, Bacin (unveröffentlichtes Manuskript), Herman 2012.
1. Dankbarkeit als Ausdruck eines Zurechnungsurteils
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dass Dankbarkeit auf einer Zurechnung zum Verdienst beruht (Abschnitt 1). Neben dem engen Bezug auf ein solches Urteil ist Dankbarkeit jedoch wesentlich eine gefühlsmäßige Einstellung, nämlich „Achtung“ vor dem Wohltäter (Abschnitt 2). Ist durch diese beiden Elemente – Urteil und Gefühl – der Kern der Dankbarkeit ausgemacht, wird die Frage beantwortet, warum Dankbarkeit nach Kant keine natürliche, unvermeidliche Reaktion auf eine Wohltat, sondern eine Pflicht ist (Abschnitt 3). Abschließend werden Kants Aussagen zum Grad der Pflicht zur Dankbarkeit dargestellt, die einen weiteren Aspekt des Zusammenhangs zu Zurechnung deutlich machen (Abschnitt 4).
1. Dankbarkeit als Ausdruck eines Zurechnungsurteils Kant definiert Dankbarkeit als die Verehrung einer Person wegen einer uns erwiesenen Wohlthat. Das Gefühl, das mit dieser Beurtheilung verbunden ist, ist das der Achtung gegen den (ihn verpflichtenden) Wohlthäter (6:454).
Hier werden die wesentlichen Elemente der Dankbarkeit benannt: Dankbarkeit ist, erstens, „Verehrung“, zweitens, Verehrung einer bestimmten Person und, drittens, Verehrung dieser Person aus einem bestimmten Grund, nämlich „wegen einer uns erwiesenen Wohlthat“. Darüber hinaus heißt es, dass ein Gefühl, nämlich Achtung gegenüber dem Wohltäter, mit einer „Beurtheilung“ verknüpft ist. Kant bezieht sich zur Charakterisierung des Urteils auf etwas zuvor Gesagtes („mit dieser Beurtheilung“). Dieses Urteil möchte ich in diesem Abschnitt genauer betrachten, um dann im zweiten Abschnitt auf das Gefühl der Achtung bzw. die Haltung der Verehrung einzugehen. Der Inhalt des Urteils, mit dem das Gefühl der Achtung verbunden ist, ist offenbar der im Satz vorher Genannte: dass uns die Person eine Wohltat erwiesen hat. Dieses Urteil, so wird im Folgenden gezeigt, impliziert die Zurechnung zum Verdienst. In dem Maße wie Dankbarkeit nach Kant die angemessene (ja sogar die geforderte) Reaktion auf das Urteil ist, dass eine Person mir wohlgetan hat, ist deshalb Dankbarkeit auch eine angemessene Reaktion auf die Zurechnung zum Verdienst.¹⁴⁵ Wenn man die drei notwendigen Bedingungen beachtet, unter denen
Man muss hier allerdings zwei Fälle von Zurechnung zum Verdienst unterscheiden: erstens den Fall, in dem der zurechnenden Person selbst eine Wohltat erwiesen wird, und zweitens den Fall, in dem die zurechnende Person eine unbeteiligte Dritte ist. Dankbarkeit ist die angemessene Reaktion auf die Zurechnung zum Verdienst im ersten, aber nicht im zweiten Fall.
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
eine Handlung als Wohltat gilt, wird deutlich, dass die Anerkennung einer Handlung als Wohltat ein Zurechnungsurteil zum Verdienst impliziert. Erstens muss die Handlung freiwillig geschehen sein, um als Wohltat zu gelten. Kant sagt dies zwar nicht explizit, aber man kann annehmen, dass eine Handlung unter Zwang bestenfalls nur als willkommenes Ereignis zählt, das aber aufgrund seiner Zufälligkeit nicht als Wohltat durch einen anderen Menschen aufgefasst wird und damit keine Dankbarkeit hervorruft (vgl. Smit/Timmons 2011, 298). Dies bedeutet, dass die Beurteilung einer Handlung als Wohltat impliziert, dass die Handlung auf erster Stufe zurechenbar sein muss. Zweitens ist eine Wohltat eine Handlung, die die Pflicht der Wohltätigkeit erfüllt: Wohlthätig, d.i. anderen Menschen in Nöthen zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht (6:453).
Eine Handlung ist also nur dann eine Wohltat, wenn sie der Glückseligkeit anderer zuträglich ist. Diese Bedingung wird von verschiedenartigen Handlungen erfüllt: Von solchen, die der anderen Person nur eine Gefälligkeit erweisen (wobei allerdings in diesem Fall der Begriff der Not, in der sich die Person befindet, sehr schwach verstanden wird) bis hin zu Handlungen, die der Person das Leben retten. In all diesen Fällen handelt es sich um eine Wohltat, für die die empfangende Person dankbar sein soll. Der Unterschiedlichkeit dieser Handlungen trägt Kant Rechnung, indem er ihnen verschiedene Grade der Dankbarkeit zuordnet (vgl. Abschnitt 4). Bereits diese beiden notwendigen Bedingungen, die für das Vorliegen einer Wohltat erfüllt sein müssen, geben Aufschluss über die Verbindung von Dankbarkeit und Zurechnung zum Verdienst. Die Pflicht zur Wohltätigkeit ist für Kant der paradigmatische Fall einer weiten Tugendpflicht, die einen Spielraum offen lässt, mit welcher Handlung bzw. „wie und wie viel“ die Pflicht erfüllt wird (6:390). Wie bereits im ersten Kapitel dargestellt, ist nach Kant eine Handlung, die eine weite Tugendpflicht erfüllt, verdienstlich (6:390). Die wohltätige Handlung ist als konkrete Handlung nicht geschuldet. Folglich impliziert das Urteil, dass mir jemand durch seine zurechenbare Handlung eine Wohltat erwiesen hat, das Urteil, dass diese Handlung verdienstlich und meinem Wohltäter zum Verdienst zuzurechnen ist. Als dritte Bedingung, die für eine Wohltat erfüllt sein muss, nennt Kant eine Forderung an das Motiv des Handelnden: Seine Handlung gilt nur dann als Wohltat, wenn sie ausgeführt wird, „ohne dafür etwas zu hoffen“ (6:453). Diese Bedingung ist schwächer als die Bedingung, dass aus Pflicht gehandelt werden muss, denn der Wohltäter könnte durchaus aus Zuneigung zu der Person helfen.
2. Dankbarkeit als Gefühl: Achtung gegenüber dem Wohltäter
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Ausgeschlossen wird allerdings, dass jemand, der durch das egoistische Interesse, etwas zurückzubekommen, angetrieben wird, als Wohltäter bezeichnet werden kann. Kant führt hier gleichsam eine dritte Kategorie von Motiv ein, die „zwischen“ dem Pflichtmotiv und dem bloß pflichtmäßigen Handeln liegt: Das Wohltun wird altruistisch verstanden in dem Sinn, dass es mehr erfordert als bloß äußerliches Helfen, aber es wird nicht gefordert, dass das reine Pflichtmotiv die Handlung motivieren soll. Im ersten Kapitel wurde die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Leistungsverdienst eingeführt, um zwischen verschiedenen Arten des Verdienstes zu unterscheiden. Eine Handlung, die nach allen drei Kriterien als Wohltat zählt, fällt offenbar noch nicht unter Gesinnungsverdienst (dazu müsste sie zudem noch aus Pflicht ausgeführt werden). Leistungsverdienst liegt auch dann vor, wenn die Tugendpflicht nicht aus Pflicht befolgt wurde. Die Betrachtung der Wohltat zeigt, dass so verstandener Leistungsverdienst nicht rein äußerlich verstanden werden kann – es reicht nicht, zu beobachten, dass eine Person einer anderen hilft, um dem Helfer Leistungsverdienst zuzuschreiben. Darüber hinaus ist es bereits zur Charakterisierung der Handlung als Wohltat notwendig, auf das Motiv der Handlung Rücksicht zu nehmen. Dem Helfer kommt nur dann Leistungsverdienst aufgrund einer Wohltat zu, wenn er sie nicht aus egoistischen Motiven heraus getan hat. Die drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung als Wohltat gilt, zeigen, dass das Urteil, dass uns die Person eine Wohltat erwiesen hat, das Urteil impliziert, dass die Handlung der Person zum Verdienst zurechenbar ist. Kant charakterisiert Dankbarkeit als Verehrung „wegen einer uns erwiesenen Wohltat“ (H.v.m.). Dankbarkeit ist also auf dieses Urteil gegründet, und damit auch auf das Zurechnungsurteil zum Verdienst. Der Zusammenhang zwischen Dankbarkeit und dem Zurechnungsurteil zum Verdienst ist damit etabliert: Dankbarkeit beruht auf dem Urteil, dass eine Person eine (bestimmte, nämlich uns gegenüber wohltätige) verdienstliche Handlung ausgeführt hat. Dementsprechend lässt sich Dankbarkeit als Ausdrucksform der Zurechnung zum Verdienst verstehen.
2. Dankbarkeit als Gefühl: Achtung gegenüber dem Wohltäter Der Zusammenhang zwischen Wohltat, Zurechnung zum Verdienst und Dankbarkeit als Ausdrucksform lässt sich formulieren, ohne detailliert auf die inhaltliche Füllung des Begriffs der Dankbarkeit Bezug zu nehmen. Um zu verstehen,wie sich ein Zurechnungsurteil zum Verdienst praktisch auswirkt, ist es jedoch unerlässlich, die Erscheinungsformen der Dankbarkeit zu betrachten. Es wird deutlich, dass nach Kant Dankbarkeit eine Ausdrucksform der Zurechnung ist, die
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
wesentlich in einer emotionalen Einstellung besteht, die zu bestimmten Handlungen disponiert. Während der vorige Abschnitt den Zusammenhang von Dankbarkeit und Urteil deutlich gemacht hat, wird in diesem Abschnitt die emotionale Komponente der Dankbarkeit mit einbezogen. In der oben bereits genannten Definition von Dankbarkeit weist Kant darauf hin, dass mit dem Urteil, dass eine Person uns eine Wohltat erwiesen hat, ein „Gefühl“ der „Achtung gegen den […] Wohlthäter“ (6:454) verbunden ist. Besteht Achtung nun gerade in diesem Gefühl? Im Satz zuvor bezeichnet Kant Dankbarkeit als „Verehrung“ wegen der Wohltat, d. h. als Verehrung, die sich auf das Urteil gründet. Sind „Verehrung des Wohltäters“ und „Achtung gegenüber dem Wohltäter“ dasselbe? Wenig später vereindeutigt Kant den Zusammenhang von Dankbarkeit und Achtung, indem er sagt, Dankbarkeit sei „nicht Gegenliebe des Verpflichteten gegen den Wohlthäter, sondern Achtung vor demselben“ (6:458, H.v.m.).¹⁴⁶ Dankbarkeit ist also eine gefühlsmäßige Einstellung, die Kant als Achtung oder Verehrung bezeichnet. Es stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei der Achtung, die Dankbarkeit charakterisiert, um dieselbe Achtung handelt, die jeder Person als moralischem Wesen geschuldet ist. Ein Hinweis darauf, dass Kant verschiedene Ausprägungen von Achtung¹⁴⁷ im Sinn hat, ist, dass die Pflicht zur Dankbarkeit zu den Liebesund nicht zu den Achtungspflichten gehört. Die Achtungspflichten gründen sich auf die „nothwendige Achtung für jeden Menschen“ (6:448, H.v.m.), während die Pflicht zur Dankbarkeit und die damit verbundene Achtung allein gegenüber Wohltätern besteht.¹⁴⁸ Die erstere Art der Achtung, die jeder Person geschuldet ist, bezieht sich auf die Eigenschaft der Person, ein moralisches Wesen mit einer besonderen Würde zu sein. Sie besteht deshalb in Bezug auf alle Personen gleichermaßen, unabhängig von ihren Handlungen. Im Gegensatz dazu soll die Achtung der Dankbarkeit einer Person entgegengebracht werden, weil sie an uns eine moralisch verdienstliche Handlung vollzogen hat. Die Frage, worin Dankbarkeit besteht, kann nun reformuliert werden als die Frage, worin Achtung gegenüber dem Wohltäter besteht bzw. ob Kant bestimmte Ausdrucksformen dieser Achtung vorsieht. Kant bezeichnet Achtung ja zunächst als „Gefühl“, doch unterscheidet er kurz darauf zwischen einer „thätigen“ und
Bacin betont, dass dies der Kern der Kantischen Position zu Dankbarkeit im Gegensatz zu traditionellen Positionen (Descartes, Spinoza, Wolff) sei und nennt es „respect thesis“ (Bacin, unveröffentlichtes Manuskript). Diese beiden Arten der Achtung entsprechen dem, was Darwall „recognition respect“ und „appraisal respect“ genannt hat (Darwall 1977). Reath nennt die Achtung, die sich auf Verdienst bezieht, „honorific respect“ (Reath 2006, 10, 27). Vgl. auch Bacin (Bacin, unveröffentlichtes Manuskript, 5).
2. Dankbarkeit als Gefühl: Achtung gegenüber dem Wohltäter
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einer „blos affectionellen“ Dankbarkeit (6:455). Insofern beide unter den Begriff der Dankbarkeit fallen, und Dankbarkeit das Gefühl der Achtung ist, muss – zumindest für tätige Dankbarkeit – ein enger Bezug des Gefühls der Achtung zu bestimmten Tätigkeiten bestehen. Deshalb möchte ich Dankbarkeit als emotional gefärbte Haltung gegenüber dem Wohltäter charakterisieren, die zu bestimmten Tätigkeiten disponiert. Die genauere Charakterisierung der beiden Elemente – des Gefühls und der Tätigkeit – wirft einige Schwierigkeiten auf. Kant führt den Unterschied zwischen tätiger und „blos affectionelle[r]“ Dankbarkeit ein, um einen entsprechenden Unterschied auf Seiten des Wohltäters abzubilden: Der Wohltäter kann Kant zufolge durch Taten, aber auch bloß durch „herzliches Wohlwollen […] ohne physische Folgen“ (ebd.) die Tugendpflicht erfüllen. Letzteres, das selbst keine Tätigkeit impliziert, erfordert auch keine tätige Dankbarkeit, sondern eine dankbare gefühlsmäßige Einstellung. Kants These, dass bloßes Wohlwollen bereits eine Erfüllung der Tugendpflicht ist, ist jedoch sowohl sachlich problematisch als auch in Bezug auf Kants Theorie nicht ohne Schwierigkeiten. Der Sache nach scheint es unmöglich, bloßes Wohlwollen „ohne physische Folgen“ überhaupt wahrzunehmen und entsprechend mit Dankbarkeit zu reagieren. Zudem grenzt Kant das „Wohlwollen des Wunsches“, das uns deshalb „nichts kostet“, weil wir nichts tun, vom „Wohlthun“ ab, um die Pflicht zur Wohltätigkeit zu charakterisieren (6:452). Auch unter dieser Rücksicht scheint Wohlwollen „ohne physische Folgen“ nichts, das eine Erfüllung der Tugendpflicht ist, die uns zu Dankbarkeit verpflichtet. Eine weitere Frage, die sich in Bezug auf die „affectionelle[]“ Dankbarkeit bzw. die Charakterisierung von Dankbarkeit als Gefühl der Achtung stellt, ist, ob Kant überhaupt eine Pflicht formulieren kann, die die Annahme emotionaler Einstellungen fordert. Dagegen spricht, dass nach Kant Gefühle nicht unter der direkten Kontrolle der Person stehen und die Person deshalb prima facie für die An- oder Abwesenheit der Gefühle nicht verantwortlich ist, sodass sie in Bezug auf Gefühle auch nicht verpflichtet werden kann. Doch im Kontext der Pflicht zur „Theilnehmenden Empfindung“ findet man einen Hinweis darauf, wie Kant zumindest eine indirekte Pflicht¹⁴⁹ in Bezug auf Gefühle formulieren kann: Obzwar aber Mitleid (und so auch Mitfreude) mit Anderen zu haben an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch thätige Theilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirecte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu cultiviren und sie als so viele Mittel zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen (6:457, H.v.m.).
Vgl. zu Kants Konzeption der indirekten Pflicht auch Timmermann (2006). Auch die Kultivierung des Gewissens ist nach Kant indirekte Pflicht (vgl. 6:401).
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
In dieser Passage gesteht Kant zu, dass Gefühle zwar nicht direkt vorgeschrieben, aber doch so kultiviert und kanalisiert werden können, dass sie die Ausführung moralischer Grundsätze unterstützen.¹⁵⁰ Nicht nur der emotionale Aspekt der Dankbarkeit, sondern auch der der Tätigkeit wirft Fragen auf, da Kant die charakteristischen Tätigkeiten der Dankbarkeit nicht genauer charakterisiert. Kant erwähnt nur beiläufig, dass Dankbarkeit mindestens darin bestehen sollte, „gleiche Dienstleistungen dem Wohlthäter […] zu erweisen“ (6:456). Ob man dieser Forderung zustimmen kann, soll hier offen bleiben – es ist zumindest problematisch, von der empfangenden Person zu fordern, sie solle das Gleiche für ihren Wohltäter tun. Eine solche Auffassung würde nahelegen, dass die empfangene Wohltat „vergolten“ werden und ein „Ausgleich“ zwischen Wohltäter und Empfänger hergestellt werden soll. Doch diese These stünde in Spannung zu Kants Aussage, Dankbarkeit sei eine „heilige Pflicht“, die sich dadurch auszeichnet, dass „die Verbindlichkeit durch keinen ihr gemäßen Act völlig getilgt werden kann (wobei der Verpflichtete immer noch verpflichtet bleibt)“ (6:455). Es gibt demzufolge keine Handlung des Dankbaren, mit der er einen „Ausgleich“ dergestalt schaffen könnte, dass seine Dankbarkeit damit abgegolten wäre.¹⁵¹ Kant begründet die These, dass Dankbarkeit nicht „getilgt“ werden kann, damit, dass der Wohltäter immer den „Vorzug des Verdienstes“ hat, „der Erste im Wohlwollen gewesen zu sein“ (6:455). Diese zeitliche Reihenfolge – erst die verdienstliche Handlung durch den Wohltäter, dann die durch den Dankbaren – kann nie umgekehrt werden. Durch die Wohltat wird ein moralisches Verhältnis zwischen Geber und Empfänger hergestellt, das laut Kant dauerhaften Bestand hat. Die Tätigkeiten, die Dankbarkeit ausmachen, müssen mit dieser Auffassung verträglich sein, d. h. sie sollten einerseits nicht als Mittel zur Vergeltung der Wohltat aufgefasst werden und andererseits die dankbare Person angesichts der Unabschließbarkeit der Dankbarkeit nicht überfordern. Die These der Unabschließbarkeit der Dankbarkeit gewinnt an Plausibilität, wenn der Fokus weniger auf dem Aspekt der Tätigkeit des Dankbaren liegt, sondern mehr auf dessen emotionaler Haltung. Mit der Wohltat wird ein moralisches Verhältnis zwischen Wohltäter und Empfänger begründet, das die emotional gefärbte Haltung der Achtung beim Empfänger hervorrufen soll. Diese Haltung, so ließe sich der Bogen zurück zur Tätigkeit schlagen, findet in entsprechenden Situationen ihren Ausdruck in Tätigkeiten. Sprachlich oder perfor-
So auch Smit/Timmons 2011, 306. Vgl auch Bacin, unveröffentlichtes Manuskript.
3. Dankbarkeit als natürliche Reaktion oder als Pflicht?
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mativ ist der Empfänger angehalten, die Leistung seines Wohltäters zu würdigen, der sich ansonsten zu Recht ausgenutzt fühlen könnte.¹⁵² Eine Reformulierung der Kantischen Idee, Dankbarkeit könne nicht „völlig getilgt“ werden, wäre folgende: Insofern das Zurechnungsurteil zum Verdienst beliebig oft „wiederholt“ werden kann (z. B. in der Erinnerung oder durch Erzählung über die empfangene Wohltat), ist es auch angemessen, Dankbarkeit immer wieder zu aktualisieren. Es wäre unangemessen für den Empfänger der Wohltat, die Zurechnung zum Verdienst bei wiederholter Gelegenheit nicht mehr mit Achtung gegenüber dem Wohltäter zu begleiten, nur weil er sich ihm gegenüber bereits erkenntlich gezeigt hat.
3. Dankbarkeit als natürliche Reaktion oder als Pflicht? Die bisherige Charakterisierung der Dankbarkeit als emotional gefärbte Haltung gegenüber dem Wohltäter lässt offen, ob es sich dabei um eine natürliche und unvermeidliche Reaktion auf eine empfangene Wohltat (und damit die entsprechende Zurechnung zum Verdienst) handelt, oder ob es eine normative Ausdrucksform der Zurechnung ist, d. h. ob sie gefordert werden muss. Kant vertritt letztere Auffassung: Er sieht Dankbarkeit als Pflicht. Um Kants Begründung dafür zu verstehen, warum Dankbarkeit keine natürliche, unvermeidliche Reaktion auf eine Wohltat darstellt, betrachten wir zunächst eine Bemerkung in der zweiten Kritik, die dieser Sichtweise zu widersprechen scheint: „Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden“ (5:77, H.v.m.). Diese Bemerkung stellt die emotionale Reaktion auf Verdienst – Achtung – als unwillkürliche Reaktion dar, zu der es deshalb auch keine Pflicht geben dürfte, da sie ja ohnehin auftritt. Betrachtet man allerdings den Kontext des Zitats aus der zweiten Kritik, wird klar, dass es dort nicht um die Achtung geht, die der Dankbare gegenüber dem Wohltäter hat, sondern um die Achtung, die eine Person gegenüber einer anderen hat, die ihr ein Beispiel der „Rechtschaffenheit des Charakters“ (ebd.) gibt. Es handelt sich hierbei also um die Reaktion, die mit der Zurechnung zum Gesinnungsverdienst verbunden ist, auch wenn die Handlung der anderen Person nicht notwendigerweise eine Wohltat gegenüber einem selbst ist. Die übliche Vorsicht und Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob die andere Person tatsächlich aus Pflicht gehandelt hat, berücksichtigt Kant zwar auch, aber er
Vgl. zu diesem Punkt Esser 2004, 378.
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
macht hier die Annahme, dass zur Zurechnung zum Gesinnungsverdienst die Vermutung – nicht das Wissen – hinreichend ist, dass der Andere aus Pflicht gehandelt hat. Diese Vermutung mag auf der epistemischen Einschränkung beruhen, dass die „Unlauterkeit“ des anderen, „die ihm immer noch anhängen mag, mir nicht so wie mir die meinige bekannt ist“ (5:77). Nichtsdestotrotz bildet sie die Basis dafür, dass die Handlung zum Verdienst zugerechnet wird und Achtung die unwillkürliche, gleichsam natürliche Reaktion ist. Es stellt sich jedoch die Frage, warum sich die Achtung im Fall der Zurechnung zum (Gesinnungs‐)Verdienst, wenn keine Dankbarkeit im Spiel ist, von der Achtung der Dankbarkeit dadurch unterscheiden sollte, dass erstere eine Reaktion ist, die wir „nicht verhüten können, […] innerlich zu empfinden“, während Dankbarkeit nach Kant gefordert werden muss, obgleich sie ebenfalls eine Reaktion auf Verdienst ist. Kant legt die Erklärung nahe, dass Dankbarkeit in Spannung zum Selbstwert der dankbaren Person steht und diese deshalb eine Tendenz zur Undankbarkeit hat. Weil der „Begünstigte gegen seinen Gönner eine Stufe niedriger steht“ (6:456), kann es dazu kommen, dass sich der Empfänger der Wohltat in seinem Stolz gekränkt fühlt und die empfangene Wohltat als „Last“ (ebd.) sieht, sodass er sich zu Dankbarkeit nicht durchringen kann. Nach Kant ist die Tendenz zur Undankbarkeit demnach psychologisch verständlich. Interessanterweise schlägt Kant vor, Undankbarkeit nicht nur dadurch zu begegnen, dass er dem Empfänger der Wohltat die Pflicht zur Dankbarkeit vorhält, sondern auch dadurch, dass er den Wohltäter auffordert, die Bedrohung des Selbstwerts der empfangenden Person abzumildern, indem er es als Pflicht formuliert, „dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohlthätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demüthigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten“ (6:448 f.). Da die Tendenz zur Undankbarkeit in einigen Fällen die Achtung untergräbt, kann Dankbarkeit mithin auch nicht als natürliche Reaktion auf Wohltaten gesehen werden. Darin unterscheidet sie sich vom negativen Fall, dem Gewissensurteil über schuldhafte Handlungen, das – offenbar wie die damit einhergehenden Gefühle – „unwillkürlich und unvermeidlich“ ist (6:401). Nachdem gezeigt wurde, warum Dankbarkeit keine unvermeidliche, natürliche Reaktion ist, steht die Frage im Raum, warum sie nach Kant normativ gefordert ist. Kant-Interpreten haben auf verschiedene Weise versucht, mögliche Begründungen dieser Pflicht zu rekonstruieren. Ein solcher Vorschlag versucht, die Pflicht zur Dankbarkeit auf die Pflicht zur Wohltätigkeit und die Annahme zurückzuführen, dass Wohltätigkeit ihren Adressaten zu einer Reaktion verpflichtet. Kant bestimmt die Liebespflichten, zu denen die Pflicht der Wohltätigkeit gehört, auch als „Pflichten gegen Andere, so fern du sie durch Leistung derselben zugleich verbindest“ (6:448). Das bedeutet, dass der Wohltäter durch seine Handlung der
3. Dankbarkeit als natürliche Reaktion oder als Pflicht?
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empfangenden Person bereits eine Pflicht auferlegt, die eben in der Pflicht zur Dankbarkeit bestehen könnte.¹⁵³ Aber das kann nicht die ganze Begründung sein: Denn selbst wenn man zugestehen würde, dass das Wohltun der empfangenden Person irgendeine Pflicht auferlegt, heißt das noch nicht, dass diese Pflicht in Dankbarkeit bestehen muss. Ein vielversprechender Hinweis zur Rekonstruktion der Kantischen Begründung der Dankbarkeitspflicht scheint mir in Kants Bemerkung zu liegen, mit der er die These, Dankbarkeit sei „unmittelbare Nöthigung durchs moralische Gesetz, d.i. Pflicht“ (6:455) einleitet. Kants Punkt am Anfang des Paragraphen 32 ist ein negativer: Er möchte Dankbarkeit von bloßer Klugheit abgrenzen. Dankbarkeit kann nicht Inhalt einer bloßen „Klugheitsmaxime“ sein, die wohltätige Person „zu mehrerem Wohlthun zu bewegen“ (6:455), weil man den Wohltäter dann „blos als Mittel zu [s]einen anderweitigen Absichten“ gebrauchen würde. Dieser Punkt entspricht einer weit verbreiteten Intuition bezüglich Dankbarkeit: Echte Dankbarkeit wird als rückwärtsgewandte Einstellung, als Reaktion auf eine Wohltat verstanden und nicht als Einstellung mit primär zukunftsgerichtetem (und eigennützigem) Fokus. In Kants negativer Bemerkung liegt der Hinweis, dass die Person, die mir hilft, als „Mittel zu meinen […] Absichten“ dient. Dies ist genau dann moralisch verwerflich, wenn man den Wohltäter „blos“ als ein solches Mittel gebraucht. Kants Bemerkung lässt sich dergestalt verallgemeinern, dass nicht nur vermeintliche Dankbarkeit, die bloß zukunftsgerichteten Klugheitscharakter mit dem Ziel der Ausbeutung des Wohltäters hat, den Wohltäter zum bloßen Mittel degradiert, sondern dass auch Undankbarkeit eine Weise ist, den Wohltäter nur als Mittel zu behandeln.¹⁵⁴ In diesem Lichte ließe sich auch Kants These interpretieren, mangelnde Dankbarkeit könne „die moralische Triebfeder zum Wohlthun in dem Grundsatze selbst vernichten […] (als skandalöses Beispiel)“ (6:455). Diese Aussage scheint auf den ersten Blick nicht zu Kants grundlegender These zu passen, dass es eine moralische Triebfeder gibt, Achtung vor dem Gesetz, die jede Person unabhängig von empirischen Einflüssen wie dem Verhalten anderer besitzt. Insofern darf Kant nicht behaupten, mangelnde Dankbarkeit könne die moralische Triebfeder zum Wohltun ganz vernichten. Doch die Pflicht zur Wohltätigkeit ist eine weite Pflicht, bei deren Erfüllung der Einzelne einen Spielraum hat.Wie umfassend die Pflicht erfüllt wird, liegt also auch im Ermessen des Handelnden. Kant macht darauf aufmerksam, dass mangelnde Dankbarkeit die Motivation einer Person schwächt, die Pflicht zur Wohltätigkeit so umfassend So beispielsweise Gregor: „Kant offers no formal argument establishing the duty of gratitude, since this is already contained in his description of duties of love as those in which one lays an obligation on another“ (Gregor 1963, 196). So auch Esser 2004, 378.
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
wie möglich zu erfüllen. Dies wiederum lässt sich mit der Interpretation erklären, Undankbarkeit degradiere den Wohltäter zum bloßen Mittel: Wenn dem so ist, wird verständlich, dass die gebende Person bei der nächsten Gelegenheit (zumindest gegenüber der undankbaren Person) nicht wieder helfen wird – denn wer möchte sich (wiederholt) in die Situation begeben, in der er als bloßes Mittel behandelt wird? Wenn Undankbarkeit bedeutet, dass der Wohltäter als bloßes Mittel behandelt wird, lässt sich umgekehrt der Schluss ziehen, dass die Pflicht zur Dankbarkeit aus der allgemeinen Forderung des kategorischen Imperativs folgt, andere immer auch als Zwecke an sich zu behandeln.¹⁵⁵ Diese Interpretation hat den Vorteil, dass sie auch erlaubt, die Tätigkeiten, die mit Dankbarkeit verbunden sein sollten, genauer zu bestimmen. Jemanden als Zweck an sich zu behandeln, schließt ein, dessen Glückseligkeit – genauer: dessen erlaubte Zwecke – zu befördern. Problematisch an dieser Interpretation ist, dass nicht alle Formen von Dankbarkeit die Glückseligkeit des Wohltäters fördern, beispielsweise diejenigen Formen nicht, die die dankbare Person gar nicht gegenüber dem Wohltäter ausdrückt (z. B. die oben erwähnte „blos affectionelle“ Dankbarkeit) bzw. nicht ausdrücken kann, weil der Wohltäter bereits verstorben ist – Kant ist der Auffassung, dass man bereits verstorbenen Vorfahren gegenüber dankbar sein sollte (vgl. 6:455). Dieses Problem könnte man mit einer Unterscheidung von paradigmatischen Formen der Dankbarkeit und Randfällen lösen: Während paradigmatische Formen darin begründet sind, den Wohltäter als Zweck an sich zu behandeln, sind Ausnahme- bzw. Randfälle durch diese Überlegung nur teilweise zu begründen. Doch selbst im Fall des verstorbenen Wohltäters bleibt die Idee leitend, durch Dankbarkeit sein Verdienst zu würdigen und ihn damit als mehr als ein Mittel anzuerkennen. Die normative Forderung der Dankbarkeit als Ausdruck der Zurechnung zum Verdienst, so ließe sich zusammenfassen, ist darin begründet, den Wohltäter nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck an sich zu behandeln. Diese Überlegung führt auch auf ein interessantes Ergebnis für das Verständnis von Zurechnung: Ein Zurechnungsurteil kann mit einer Verpflichtung einhergehen, bestimmte emotionale bzw. handlungsbezogene Konsequenzen daraus zu ziehen.
So auch Smit/Timmons, 319.
4. Der Grad der Pflicht zur Dankbarkeit
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4. Der Grad der Pflicht zur Dankbarkeit Ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Dankbarkeit und Zurechnung wird deutlich, wenn man Kants Aussagen zum „Grad der Verbindlichkeit“ zur Dankbarkeit (6:456) betrachtet. Hier zeigt sich eine direkte Entsprechung zu den Graden der Zurechnung, die Kant am Ende der Einleitung der Metaphysik der Sitten diskutiert. Bezüglich des Grades der angemessenen Dankbarkeit sagt Kant: Was aber […] den Grad der Verbindlichkeit zu dieser Tugend, betrifft, so ist er nach dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohlthat gezogen hat, und der Uneigennützigkeit, mit der ihm diese ertheilt worden, zu schätzen (6:456, H.v.m.).
Es gibt demnach zwei Faktoren, denen der Grad der Dankbarkeit proportional sein soll: Dem Nutzen als Eigenschaft der Handlung und der Uneigennützigkeit des Wohltäters als Eigenschaft des Handelnden. Unter der Annahme, dass der Nutzen für die empfangende Person intersubjektiv festgestellt werden kann, könnte man diesen als „objektiven“ Faktor zur Bestimmung des Grades der Dankbarkeit sehen, während die Einstellung des Wohltäters ein „subjektiver“ Faktor ist, insofern sie eine Eigenschaft des handelnden Subjekts ist. In dieser Hinsicht ist eine Parallele zwischen Strafe und Dankbarkeit hervorzuheben: Analog dazu, dass Dankbarkeit proportional zu einem objektiven Faktor (Nutzen) und einem subjektiven Faktor (Uneigennützigkeit) sein sollte, bemisst sich Strafe in objektiver Hinsicht proportional zum Schaden, den das Verbrechen angerichtet hat und subjektiv zur „inneren Bösartigkeit“ des Täters (6:333). Kant zufolge entspricht der Grad der Verpflichtung zur Dankbarkeit dem Grad der Zurechenbarkeit der Handlung zum Verdienst. Deutlich wird dies bei Betrachtung der Passage zu den Graden der Zurechnung am Ende der Einleitung der Metaphysik der Sitten. Dort dient Kant die wohltätige Handlung als Beispiel, um Grade der Zurechnung zum Verdienst zu illustrieren: Subjectiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen. – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hinderniß (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet; z.B: wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette (6:228, H.v.m.).
Kants These zu den Graden der Zurechnung wird im neunten Kapitel ausführlich diskutiert, wo deutlich wird, was unter den verschiedenen Arten von Hindernissen zu verstehen ist. Hier soll es nur um die Parallele zu den Graden der Dankbarkeit gehen. Zu diesem Zweck betrachten wir die Elemente, die nach Kant den Grad der Zurechnung zum Verdienst bestimmen und beziehen sie auf die beiden Elemente –
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5. Kapitel: Dankbarkeit als Folge der ethischen Zurechnung zum Verdienst
„Uneigennützigkeit“ und „Nutzen“ – die den Grad der Dankbarkeit festlegen. Die mangelnde persönliche Nähe zur geretteten Person und die Opfer, die der Wohltäter bringt, erhöhen auf der einen Seite den Grad seines Verdienstes und können auf der anderen Seite als Beweis der besonderen Uneigennützigkeit gelten. Ein anderer relevanter Faktor, der den Verdienst steigert, ist die „große Not“, aus der die empfangende Person gerettet wird – und dies ist nun gerade der Nutzen, den die Empfängerin aus der Wohltat hat. Kants Beispiel, mit dem er den höheren Grad der Zurechnung zum Verdienst illustriert, entspricht also genau seiner Bestimmung des Grades der Dankbarkeit: Sowohl Verdienst des Wohltäters als auch die Pflicht zur Dankbarkeit sind proportional zur Uneigennützigkeit des Helfers und zur Größe des Nutzens der Handlung. Diese Entsprechung ist ein weiterer Beleg dafür, wie eng Dankbarkeit und Zurechnung verknüpft sind: Dass sich Dankbarkeit als Ausdruck der Zurechnung zum Verdienst verstehen lässt, zeigt sich auch daran, dass beide in Abhängigkeit von denselben Faktoren in ihrem Grad variieren. Fassen wir die Ergebnisse dieses Kapitels zusammen. Dankbarkeit beruht auf dem Urteil, dass mir eine Person wohlgetan hat. Da dieses Urteil impliziert, dass die Wohltat dem Geber zum Verdienst zurechenbar ist, kann Dankbarkeit als Ausdruck eines Zurechnungsurteils zum Verdienst verstanden werden. Dankbarkeit wurde ferner als eine emotionale Haltung der Achtung gegenüber dem Wohltäter charakterisiert, die zu bestimmten Tätigkeiten disponiert. Als Haltung ist Dankbarkeit dauerhaft, d. h. nicht durch bestimmte Tätigkeiten „abzuarbeiten“. Die Tätigkeiten, die die dankbare Person ausführen sollte, sollten die Zwecke des Wohltäters befördern. Dies ergibt sich aus der Begründung der Pflicht zur Dankbarkeit. Diese Begründung, die Kant nicht explizit liefert, wurde als Anwendung der allgemeinen Forderung, andere Menschen als Zwecke an sich zu behandeln, auf die besondere Situation von Geber und Empfänger bezogen. Damit ist Dankbarkeit als normative, wesentlich emotionale Ausdrucksform eines Zurechnungsurteils charakterisiert. Dieser enge Zusammenhang von Dankbarkeit und Zurechnung wurde durch die Entsprechung der Grade von Dankbarkeit und Zurechnung untermauert. Durch die Betrachtung von Dankbarkeit ist eine Weise deutlich geworden, wie sich Zurechnungsurteile in unserer intersubjektiven Praxis auswirken: Zurechnungsurteile können mit der Verpflichtung einhergehen, ihnen normativ angemessenen Ausdruck in Bezug auf Gefühl und Handlung zu verleihen.
6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld Ethische und rechtliche Zurechnung unterscheiden sich unter anderem dadurch, dass rechtliche Zurechnung auch „die rechtlichen Folgen“ der zugerechneten Handlung „bei sich führt“ (6:227). Die rechtliche Folge bzw. der „rechtliche Effect“ der Zurechnung zur Schuld ist die Strafe (6:227). Für ein Verständnis des rechtlichen Zurechnungsbegriffs ist es mithin notwendig, einen Blick auf Kants Strafbegriff zu werfen. Die Verknüpfung von Straf- und Zurechnungsbegriff ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen muss geklärt werden, inwiefern Kants Straftheorie seine Theorie der Zurechnung voraussetzt, zum anderen stellt sich die Frage, ob Kants Straftheorie auch etwas über seinen Zurechnungsbegriff verrät. In der ersten Hinsicht gibt die Aussage, dass Strafe der „rechtliche Effect einer Verschuldung“ (6:227) sei, einen Hinweis darauf, was Kant unter Strafe versteht und wie er die Zufügung von Strafe rechtfertigt. Doch es liegt nicht auf der Hand, warum nach Kant Strafe der rechtliche Effekt der Zurechnung zur Schuld ist: Es müssen außer den Regeln der Zurechnung noch andere Prinzipien herangezogen werden, um Strafe als Folge der Zurechnung zu legitimieren. Hinsichtlich der zweiten Frage zeigt sich, dass Strafe die Praxis der rechtlichen Zurechnung entscheidend prägt. Kant geht davon aus, dass rechtliche Zurechnung zur Schuld sich nicht darauf beschränkt, die Person zu kennzeichnen, die ein Gesetz übertreten hat, sondern dass diese Zurechnung mit Strafe untrennbar verknüpft ist, die deshalb als Ausdruck der rechtlichen Zurechnung zur Schuld bezeichnet werden kann. Die Praxis, dass Strafe eine zentrale praktische Konsequenz der rechtlichen Zurechnung ist, motiviert die genauere Ausarbeitung der Zurechnungsregeln im Strafrecht. Kant selbst stellt zwar keine differenzierte rechtliche Zurechnungsdogmatik vor, aber seine Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen (vgl. Kapitel 7) können als Beispiel für eine solche gelten. Traditionell gilt Kant als einer der Hauptvertreter einer Vergeltungstheorie, die nicht viel Zuspruch gefunden hat. Das liegt zum einen daran, dass Kant anderen Strafzwecken wie der präventiven Abschreckung von Verbrechen oder Besserung des Täters keinen Raum zu lassen, sondern einer Vergeltungsidee im Sinne von „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“ anzuhängen scheint, und zum anderen an seiner Rechtfertigung der Todesstrafe als vermeintlicher Konsequenz des Wiedervergeltungsrechts. Es stellt sich die Frage, ob die Aspekte, die an Kants Straftheorie kritisiert werden, auf ebenso umstrittene Aspekte seines Zurechnungsbegriffs schließen lassen. Doch wie die folgenden Ausführungen zeigen, werden aus der Perspektive der Zurechnung vielmehr die plausiblen Aspekte der Straftheorie deutlich: Dass nur die Täter bestraft werden dürfen, denen die Straftat zur Schuld
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
zuzurechnen ist, dass die Art und Höhe der Strafe der Schuld angemessen sein müssen, und dass Zurechnung zur Schuld – vor dem Hintergrund eines im Ganzen legitimen Strafrechts – auch hinreichend für die Verhängung von Strafe ist, d. h. dass alle Straftäter (ohne Ansehen der Person) zu bestrafen sind. Bevor es um die Rechtfertigung der Strafe selbst geht, soll vorab geklärt werden, was für Kant überhaupt als strafwürdige Tat, als „Verbrechen“, gilt. Danach wenden wir uns der zentralen Frage zu, der Rechtfertigung der Strafe. Kant selbst betont: „[I]n jeder Strafe als solcher muß zuerst Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses Begriffs aus“ (5:37). Doch worin besteht die Gerechtigkeit der Strafe? Es lassen sich zwei Hinsichten unterscheiden, in denen Strafe gerechtfertigt werden muss:¹⁵⁶ Erstens gilt es, die Existenz von Strafe überhaupt zu begründen: Welche Gründe hat Kant für seine These, dass die „bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen […] schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich [führt], welche der obersten Gewalt zusteht“ (6:362)? Bei dieser Frage geht es darum, warum überhaupt irgendeine Handlung bestraft werden sollte. Ist einmal die Existenz der Strafe begründet, muss auch Gerechtigkeit bezüglich der zweiten Frage herrschen, wie die Strafe im konkreten Einzelfall aussehen soll, d. h. wer bestraft werden soll und welche Art und Höhe der Strafe angemessen ist. Es wird sich zeigen, dass ein Zusammenhang zum Zurechnungsbegriff in Bezug auf folgende Punkte besteht: Die Rechtfertigung des Strafrechts in Bezug auf beide Fragen hat Konsequenzen für die Frage, welche Art der Zurechnungsfähigkeit bei den Personen vorausgesetzt werden muss, für die das Strafrecht gilt. Hinsichtlich der zweiten Frage, die die Strafe im Einzelfall betrifft, muss der Begriff der Zurechnung herangezogen werden, um Strafe zu rechtfertigen: Sowohl das Subjekt als auch die Höhe der Strafe sind ohne Rückgriff auf den Zurechnungsbegriff nicht bestimmbar.
1. Was gilt nach Kant als „strafwürdiges“ Verbrechen? Strafe ist zwar die rechtliche Folge von Schuld, doch gelten nicht alle schuldhaften Handlungen als strafbare Verbrechen. In der Einleitung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwei Arten von „Übertretungen“, d. h. „pflichtwidrige[n] That[en]“: die „unvorsetzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann“ und eine „bloße Verschuldung (culpa)“ ist und die „vorsetzliche […] welche
Diese Unterscheidung entspricht H.L.A. Harts Unterscheidung zwischen „general justifying aim“ und „distribution“ (vgl. Hart 1968 und auch Scheid 1983).
1. Was gilt nach Kant als „strafwürdiges“ Verbrechen?
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mit dem Bewußtsein, daß sie Übertretung sei, verbunden ist“ und die ein „Verbrechen (dolus)“¹⁵⁷ darstellt (6:224). Alle (wenngleich auch nur die) vorsätzlichen Verschuldungen sind also Verbrechen,¹⁵⁸ und das „Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ (6:331). Dieser weite Begriff des Verbrechens legt die Frage nahe, ob nur eine Teilmenge von Verbrechen strafbar ist. Tatsächlich unterscheidet Kant zwei Arten von Verbrechen, nämlich „Privatverbrechen“ und „öffentliche Verbrechen“, wovon das „erstere (das Privatverbrechen) vor die Civil-, das andere vor die Criminalgerechtigkeit gezogen wird“ (6:331).¹⁵⁹ Die Unterscheidung zwischen Privatverbrechen und öffentlichen Verbrechen wird von Kant nicht genauer ausgeführt, doch er gibt den Hinweis, dass „Veruntreuung, d.i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waaren, Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des Anderen […] Privatverbrechen“ sind, während „falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub u. dergl. öffentliche Verbrechen“ sind, „weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird“ (6:331). Diese Charakterisierung scheint dafür zu sprechen, dass bei Privatverbrechen ein Vertrag zwischen Privatpersonen verletzt wird (vgl. auch Höffe 1999, 219), während öffentliche Verbrechen Rechte verletzen, die ohne besondere Verträge zwischen Personen bestehen. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob nur „öffentliche Verbrechen“ nach Kant strafbar sind. Zwar vertritt Höffe die These, dass es „[i]n der Rechtslehre […] nur um die Kriminalstrafe“ (Höffe 1999, 221), um die „gravierendsten Formen von Rechtsverletzung“ gehe (Höffe 1999, 218), doch Kant selbst nimmt eine solche Einschränkung nicht vor. Daher erscheint Steigleders Vorschlag plausibel, bei Kant zwischen Strafrecht im weiteren und engeren Sinn zu unterscheiden: Im weiteren Sinn betrifft es die Befugnis, „eine zurechnungsfähige Person, die im Staat vorsätzlich die Rechte anderer verletzt hat, […] zu bestrafen“, z. B. durch Vertragsstrafen oder Bußgelder; in engerem Sinn hat das Strafrecht als Kriminalstrafrecht „mit besonders schwerwiegenden Formen der Rechtsverletzung zu „Dolus“ ist nicht das lateinische Wort für „Verbrechen“, sondern für Vorsatz. Kant erläutert mit dem Klammereinschub also nicht „Verbrechen“, sondern erinnert an das vorher Gesagte, dass nur vorsätzliche Verschuldungen Verbrechen sind. Dies ist ein sehr weiter Begriff von „Verbrechen“, der sich nicht nur auf vorsätzliche Verschuldungen im rechtlichen Kontext beschränkt. Im Wortlaut ist der Satz, in dem allerdings ein Teil zu fehlen scheint: „Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen), aber auch ein öffentliches Verbrechen (crimen publicum); daher das erstere (das Privatverbrechen) vor die Civil-, das andere vor die Criminalgerechtigkeit gezogen wird“ (6:331).
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
tun, nämlich solchen, welche die Grundlagen des öffentlichen Rechts und somit die Rechtsordnung als solche bedrohen“ (Steigleder 2002, 225).¹⁶⁰ Im Folgenden werde ich zwar nicht zwischen verschiedenen Verbrechen unterscheiden, aber die behandelten Punkte scheinen eher auf das Kriminalstrafrecht und damit auf das, was Kant „öffentliche Verbrechen“ nennt, zuzutreffen.
2. Kants Theorie zwischen Wiedervergeltung und Abschreckung Kants unterschiedliche Äußerungen zum Strafrecht veranlassen manche Interpreten dazu, Kant eine kohärente Theorie der Strafe abzusprechen (vgl. Murphy 1987). Traditionell wird Kant jedoch als einer der Hauptvertreter einer Vergeltungsbzw. Retributionstheorie der Strafe angesehen.¹⁶¹ Unter einer Vergeltungstheorie versteht man in einem ersten Zugriff eine auf folgender These beruhende Rechtfertigung der Strafe: Der Verbrecher verdiene für seine vergangene Handlung Strafe, und das unabhängig von möglichen Folgen der Strafe, die in der Zukunft liegen (wie z. B. Besserung des Täters). Dieses Prinzip kann auf verschiedene Weise weiter begründet werden: Retributivisten verweisen beispielsweise darauf, dass Personen, die Leid verursachen, selbst verdienen zu leiden, dass eine Proportionalität zwischen Tugend- bzw. Lasterhaftigkeit und Glückseligkeit bzw. Leiden hergestellt werden muss, oder dass durch Strafe soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, da der Verbrecher seines Vorteils benommen wird, den er durch den Gesetzesbruch erlangt hat (vgl. Scheid 1983, 263). Auf irgendeine dieser Weisen, so meint der Retributivist, verdient der Gesetzesbrecher die Strafe.¹⁶² Da Kant sagt, dass „Gleiches mit Gleichem gehörig vergolten“ (6:333) werden soll und Strafe deshalb einem Verbrecher zukommt, „weil er verbrochen hat“ (6:331), liegt es in der Tat nahe, ihn als Vergeltungstheoretiker zu sehen.¹⁶³ In neuerer Zeit werden jedoch verstärkt die Aspekte in Kants Theorie wahrgenom-
Steigleder macht darüber hinaus den Vorschlag, Privatverbrechen als solche zu verstehen, die bestraft werden können und öffentliche Verbrechen als solche, die bestraft werden müssen (Steigleder 2002, 225, Anm. 59). Das hängt damit zusammen, dass letztere einen Angriff auf die Rechtsordnung als solche darstellen, während erstere voraussetzen, dass eine Person freiwillig ein Rechtsverhältnis mit einer anderen eingegangen ist und prinzipiell die Möglichkeit hat, die Einhaltung des Vertrags zu kontrollieren (sich nicht betrügen zu lassen). Auch Joerden stellt Kant in seinem Handbuchartikel „Strafe“ als solchen dar (Joerden 2011). Zu Varianten der Vergeltungstheorie vgl. auch Hörnle 2011, 15 ff. So z. B. Fleischacker 1988; Steigleder 2002, 226 ff. Hill und Scheid nennen Retributivisten, die diese Begründung vertreten, „deep“ bzw. „thoroughgoing“, während Kant von ihnen als „derivative“ bzw. „partial retributivist“ klassifiziert wird (vgl. Hill 1999, Scheid 1983).
2. Kants Theorie zwischen Wiedervergeltung und Abschreckung
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men, die weniger die vergeltende, als vielmehr die abschreckende Funktion der Strafe betreffen: Die Androhung der Strafe sei demnach notwendig, um potentielle Gesetzesbrecher von der illegalen Handlung abzuschrecken und auf diese Weise die Einhaltung der Rechtsgesetze zu unterstützen. Generell lassen sich zwei Varianten der Abschreckungstheorie unterscheiden: Theorien der Spezialprävention sehen den Zweck der Strafe darin, dass der betreffende Straftäter von der künftigen Begehung von Straftaten abgeschreckt werden soll, während es Theorien der Generalprävention um die Abschreckung anderer potentieller Straftäter geht.¹⁶⁴ Auch wenn Kant selbst nicht explizit eine Abschreckungstheorie formuliert, kann man diese anhand der Grundzüge seiner Rechtslehre rekonstruieren. Es wird sich zeigen (vgl. Abschnitt 4), das sich bei Kant Elemente einer Theorie der Generalprävention finden lassen. Offenbar spielen beide Aspekte, der der Abschreckung und der Vergeltung, bei Kant eine wichtige Rolle, sodass „Mischtheorien“ vielversprechend sind, um die verschiedenen Züge in einer Theorie zu integrieren.¹⁶⁵ Im Folgenden schließe ich mich der These an, dass Kants Äußerungen zur Strafe am besten mit einer Mischtheorie zu erklären sind, und werde diese in Bezug zum Zurechnungsbegriff setzen. In einem ersten Schritt (Abschnitt 3) möchte ich untersuchen, inwiefern Kant eine Vergeltungstheorie zur allgemeinen Rechtfertigung der Strafe heranziehen könnte. Dabei komme ich zu dem Ergebnis, dass der Vergeltungsgedanke als „Hintergrundidee“ bei Kant zwar eine Rolle spielen mag, dass Kant darauf jedoch nicht primär die allgemeine Rechtfertigung des Strafrechts stützt. In einem zweiten Schritt werde ich den Interpreten zustimmen, die bei Kant eine Abschreckungstheorie als zentrale generelle Rechtfertigung des Strafrechts sehen (Abschnitt 4). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Vergeltungsgedanke eine wichtige Rolle bei Kant spielt, wenn es um die Frage geht, wer auf welche Weise bestraft werden soll: Im fünften Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass ein für Kant relevanter Aspekt der Vergeltungstheorie darin besteht, dass Zurechnung zur Schuld notwendig für Strafe ist und sich der Vergeltungsgedanke darüber hinaus als zentral bei der Bestimmung der Art und Höhe der Strafe erweist (Abschnitt 6). Zum Schluss werde ich die Konsequenzen der Mischtheorie für die Frage diskutieren, wie die Zurechnungsfähigkeit der Personen verstanden werden muss, für die das Strafrecht gilt (Abschnitt 7).
Vgl. dazu Hörnle (2011, 20 – 29). Vgl. Scheid 1982/83; Byrd 1989; Hill 1999; Byrd/Hruschka 2010.
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
3. Spielt der Vergeltungsgedanke in Kants allgemeiner Rechtfertigung der Strafe eine Rolle? Kant wird traditionell zu den Vergeltungstheoretikern gezählt, und selbst diejenigen, die seine Theorie nicht als reine Vergeltungstheorie verstanden wissen wollen, stimmen darin überein, dass einige Züge seiner Theorie diese Einordnung rechtfertigen. In diesem Abschnitt soll es darum gehen, inwiefern Kant in der prinzipiellen Rechtfertigung der Strafe auf Vergeltungsideen zurückgreift, d. h. die Strafe dadurch rechtfertigt, dass Verbrecher nur aufgrund ihres Verbrechens Strafe verdienen. Dazu werden drei Weisen unterschieden, wie Verdienst von Strafe verstanden werden kann: Intrinsisches Verdienst, soziales Verdienst und Verdienst im Sinne der angemessenen Folge nach Regeln.
3.1 Intrinsisches Verdienst Dass eine Person für ihre gesetzeswidrige Handlung Strafe verdient, lässt sich so verstehen, dass schlechte Handlungen (bzw. die Person, die sie ausführt) allein aufgrund ihrer intrinsischen Qualität, also nur weil sie böse sind, Strafe verdienen. Bei Kant finden sich zwei miteinander verwandte Ideen, die darauf hindeuten, dass er dieser These zustimmt: Die Idee der Glückswürdigkeit und die des höchsten Guts. In der Grundlegung bezeichnet Kant den guten Willen als „die unerlässliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein“ und meint, dass „ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann“ (4:393). Kant argumentiert, dass es zwar empirisch möglich ist, dass eine Person, die keinen guten Willen hat, glücklich ist, dass Tugend bzw. der gute Wille jedoch moralisch notwendig für Glückseligkeit ist: Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet, sollen nur die Tugendhaften glücklich sein. Wenn eine Person also eine gesetzeswidrige Handlung vollzieht, mindert das ihre Würdigkeit, glücklich zu sein. Das scheint zu implizieren, dass sie für eine schlechte Handlung keine Glückseligkeit, sondern „Übel“ verdient. Die Überlegungen zum höchsten Gut verlaufen ganz ähnlich: Während Kant in der Grundlegung betont, dass ein guter Wille im Urteil einer unparteiischen Vernunft moralisch notwendig für verdiente Glückseligkeit ist, kommt es ihm in der zweiten Kritik darauf an, dass Tugend auch empirisch hinreichend für verdiente Glückseligkeit sein sollte, d. h. dass nur die Tugendhaften und alle Tugendhaften glücklich sein sollen: „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens,welches zugleich
3 Spielt der Vergeltungsgedanke eine Rolle?
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alle Gewalt hätte […] gar nicht zusammen bestehen“ (5:110). In diesem Sinne beschreibt Kant das höchste Gut einer Person als den Besitz von „Tugend und Glückseligkeit zusammen“, und das „höchste Gut einer möglichen Welt“ als „Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit […] ausgetheilt“ (5:110). Aus dieser Proportionalitätsthese folgt, dass weniger tugendhafte Menschen auch weniger glücklich sein sollten. Kants Proportionalitätsthese von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit impliziert offenbar, dass moralische Verfehlung mit einem Weniger an Glückseligkeit einhergehen sollte und somit „strafwürdig“ (5:37)¹⁶⁶ ist. Dennoch besagt die These nicht, dass Menschen befugt sind, diese Proportionalität herzustellen, indem sie andere Menschen für ihre Verfehlungen bestrafen. Hill unterscheidet in diesem Zusammenhang zutreffend zwischen „handlungsleitenden“ und „glaubensleitenden“ Prinzipien: Auch wenn die Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit es erlaubt, an ein göttliches Wesen zu glauben, das diese Proportionalität herstellt, heißt das noch nicht, dass Menschen befugt sind, so zu handeln: „The crucial point is that the belief that ›God has reasons to make the wicked suffer‹ does not license us to ›help‹ in the project“ (Hill 1999, 413, Anm. 16).¹⁶⁷ Die Frage der Strafbefugnis in moralischer Hinsicht thematisiert Kant in der Tugendlehre. Zunächst bestätigt er die These, dass jede unrechtmäßige Tat Strafe „verdient“, „wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte Schade ersetzt) wird“ (6:460). Bis auf die Tatsache, dass hier der Begriff der „Rache“ auftaucht (der im nächsten Abschnitt über „sozialen Verdienst“ diskutiert wird), ist dies das bekannte Ergebnis, dass Verbrechen strafwürdig sind. Nun differenziert Kant zwischen der Bewertung „nach bloßen Vernunftgesetzen“ und „nach bürgerlichen“. Im Folgenden diskutiert er einerseits die bürgerliche, d. h. positive, Gesetzgebung, nicht weiter, und vertritt andererseits die These, dass in Hinblick auf moralische Gesetzgebung nur Gott als „der oberste moralische Gesetzgeber“ Verbrechen bestrafen kann. Das deutet darauf hin, dass Verbrechen nur in moralischer Hinsicht Strafe intrinsisch verdienen, aber dass gerade in dieser Hinsicht Menschen keine Strafe verhängen dürfen. Die Begründung dafür ist in dieser Passage kurz: Menschen dürfen dies nicht, „theils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, theils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf“ (6:460 f.).
„Endlich ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit“ (5:37). So auch Goldman: „Certainly that someone deserves to be harmed in some way, does not in itself entail that the state ought to take it upon itself to harm him“ (Goldman 1979, 47).
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
Diese Begründung vermag nicht ganz einzuleuchten: Erstens ist nicht klar, wieso rächende Strafen von Menschen immer mit Hass einhergehen sollten. Schließlich ist es durchaus denkbar, dass Strafen zwar deshalb verhängt werden, weil es der Verbrecher moralisch verdient, aber ohne dass dabei von Seiten der Strafenden, insbesondere der Gerichtsbarkeit, Gefühle eine tragende Rolle spielen. Insbesondere Hassgefühle scheinen nicht der Normalfall zu sein. Der andere Teil der Begründung wird ebenfalls zu wenig ausgeführt. In Anerkennung ihrer eigenen moralischen Fehlbarkeit sollten Menschen nicht über andere strafend moralisch richten. Sicherlich trifft Kant damit einen wahren Kern: Wenn Menschen über andere Menschen richten, sollten sie dabei nicht der Illusion verfallen, sie selbst seien fehlerfrei, könnten nicht ebenfalls Versuchungen erliegen oder handelten unter allen widrigen Umständen moralisch gut. Doch die ungerechtfertigte Annahme der eigenen moralischen Unfehlbarkeit muss einer Strafe, die aufgrund der intrinsischen moralischen Qualität der Handlung verhängt wird, nicht zugrunde liegen. Neben Kants Abneigung, das Strafen im moralischen Sinn in menschliche Hände geben zu wollen, stellt sich darüber hinaus für das Recht die Frage, ob es überhaupt auf solch eine moralische Begründung des Strafens zurückgreifen darf. Doch da das Recht nach Kant Teil der Moral ist, liegt im Fall des Verstoßes gegen moralisch legitime rechtliche Gesetze auch immer gleichzeitig ein moralischer Verstoß vor. Diese Überlegung rechtfertigt zwar noch keine moralisch-vergeltende Strafe im Recht, aber sie ist eine Hintergrundannahme, die es nahelegt, dass für Kant eine moralische Rechtfertigung der Strafe auch im Recht eine Rolle spielt. Zusammengefasst lautet das Ergebnis bezüglich der Frage, ob die Idee des „intrinsischen Verdienstes“ zur Rechtfertigung der Strafe im Recht nach Kant herangezogen werden kann: Sie kann höchstens implizit, als „Hintergrundidee“, eine Rolle spielen, da Kant die Ansicht vertritt, böse Taten seien in moralischer Hinsicht intrinsisch strafwürdig. Die Argumente, warum diese These nach Kant nicht „handlungsleitend“ sein darf, können nicht ganz überzeugen und schließen deshalb nicht aus, dass Kant intrinsische moralische Strafwürdigkeit als Hintergrundannahme für das Strafrecht erwogen hat, selbst wenn er diese Rechtfertigung letztlich verworfen hat. Möglicherweise erklärt sich dadurch, dass Kant in einzelnen Passagen so spricht, als wolle er doch die These des intrinsischen Verdienstes zur Rechtfertigung der Strafe heranziehen, vor allem in dem Beispiel des sich auflösenden Inselstaates, in dem Kant betont, dass auch der letzte Mörder in jedem Fall hingerichtet werden soll,
3 Spielt der Vergeltungsgedanke eine Rolle?
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damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Theilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann (6:333, H.v.m.).¹⁶⁸
Dennoch hat Kant ausdrücklich die Idee abgelehnt, dass Menschen moralisch vergeltende Strafen verhängen sollen. Die Idee des intrinsischen Verdienstes kann deshalb nach Kant keine gültige Rechtfertigung des Strafrechts darstellen.¹⁶⁹
3.2 Soziales Verdienst Die Überlegung, dass eine Person für ihre gesetzeswidrige Handlung Strafe „verdiene“, lässt sich zweitens so verstehen, dass Strafe die soziale Gerechtigkeit wiederherstellt, die durch die schlechte Handlung verletzt wurde. Ein Verbrecher verletzt demnach die fundamentale Gleichheit der Personen im Staat, indem er sich durch den Gesetzesübertritt ungebührliche Vorteile verschafft. Um diesen Zustand der sozialen Ungerechtigkeit aufzuheben, kann man es als nötig erachten, nicht nur den entstandenen Schaden auszugleichen, sondern den Verbrecher seines Vorteils zu benehmen, „indem ihm ein Schaden bzw. Übel zugefügt wird, der dem entspricht, was er angerichtet hat“ (Steigleder 2002, 228). Wieso jedoch die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit mehr erfordert als den Ausgleich des entstandenen Schadens, ist weiter begründungsbedürftig. Zudem findet sich kein Hinweis darauf, dass Kant diese Ansicht berücksichtigt hätte. Es lässt sich jedoch eine weitere Hinsicht denken, in der Strafe als sozial verdient gelten kann, und zwar insofern sie als Ausdruck der Empörung über eine Rechtsverletzung verstanden wird (vgl. Hill 1997, 293). Indem durch Strafe der Empörung öffentlicher Ausdruck verliehen wird, wird gleichsam demonstriert, dass Manche Interpreten verstehen die Passage auch im Sinne der Abschreckungstheorie: Der Staat muss, so lange er existiert, seine Pflichten erfüllen und kann sich nicht am Ende Ausnahmen erlauben – wenn er Strafe zur Abschreckung von Verbrechen angedroht hat, muss er sie auch ausführen (vgl. Byrd, 1989, 199, Byrd/Hruschka 2010, 269 f.) Das mag in anderen Fällen als der Todesstrafe (z. B. der Bezahlung von Schulden) noch plausibler erscheinen. Obwohl ich die Interpretation der Sache nach überzeugend finde, ist es doch nicht zu leugnen, dass Kants zitierter Wortlaut eine Vergeltungstheorie sehr nahelegt. Das einzige Argument, das die Idee des intrinsischen Verdienstes doch als Grundlage des Strafrechts verteidigen könnte, wäre, die „göttliche“ Gerechtigkeit als leitendes Ideal für menschliche Gerichtshöfe zu verstehen (vgl. Fleischacker 1988). So könnte man der Ansicht sein, dass die Rechtsordnung die göttliche Ordnung insofern „symbolisiert“, als sie nach den entsprechenden Gerechtigkeitsprinzipien funktioniert (d. h. dass Verbrechen intrinsisch Strafe verdienen und deshalb bestraft werden). Da sich Kant dazu jedoch meines Wissens nicht äußert, bleibt diese Idee eine bloße Vermutung.
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
in der Rechtsgemeinschaft Gerechtigkeit etwas zählt und verteidigt wird.¹⁷⁰ Ein Hinweis darauf, dass auch Kant der Strafe diese soziale Funktion zuschreibt, ist in seiner Charakterisierung der „Rechtsbegierde“ in der Anthropologie zu finden. „Rechtsbegierde“ besteht in dem Bestreben, „in einem Zustande mit seinen Mitmenschen und in Verhältniß zu ihnen zu sein, da jedem das zu Theil werden kann, was das Recht will“ (7:270). Man kann das heute ungebräuchliche Wort „Rechtsbegierde“ auch als „Gerechtigkeitsgefühl“ bezeichnen,¹⁷¹ da es um Verteilungsgerechtigkeit geht, nämlich darum, wem welcher „Theil“ von Rechts wegen zukommt. Wenn diese Rechtsbegierde in Leidenschaft umschlägt, wird sie zur „Rachbegierde“, d. h. zum „Haß aus dem erlittenen Unrecht“ (ebd.). Diese sieht Kant als Leidenschaft, die „aus der Natur des Menschen unwiderstehlich hervorgeht“, die jedoch klarerweise „bösartig“ und moralisch verwerflich ist und deshalb nicht zur Grundlage des Handelns gemacht werden sollte. Die Strafpraxis lässt sich als moralisch erlaubtes Analogon zu persönlichen Racheakten sehen: Durch die Strafe wird moralische Empörung darüber ausgedrückt, dass der Verbrecher das Ge-
Vgl. zu sogenannten „expressiven Straftheorien“ Hörnle (2011, 29 – 43), die einen Überblick darüber gibt, welche kommunikativen Botschaften in Strafe gesehen können: Normorientierte expressive Straftheorien sehen die expressive Funktion der Strafe darin, die Geltung der übertretenen moralischen oder rechtlichen Normen zu bekräftigen; personenorientierte expressive Theorien können Strafe erstens als Kommunikation mit dem Täter sehen, die zu seiner Selbsterkenntnis und Besserung beitragen soll. Zweitens können sie Strafe als „Auffangen von Gefühlen der Empörung“ begreifen (Hörnle 2011, 35) – eine Funktion, die ich im Folgenden auch anhand des Kantischen Texts beschreibe. Drittens können expressive Theorien auch die Kommunikation mit dem Opfer in den Mittelpunkt rücken, insofern Strafe zeigt, dass das Opfer es dem Staat wert ist, dass er sich um dessen Belange kümmert. Auch Günther geht der symbolisch-expressiven Bedeutung der Strafe nach (Günther 2002) und schließt sogar mit der Überlegung, dass Strafe ein „konventionelles Symbol“ sei, und nichts „gegen das Abschaffen des Strafens und seine Ersetzung durch andere Reaktionen [spräche], die aber neben einem Schadensausgleich auch für einen angemessenen Ausdruck des symbolisch-expressiven Gehalts sorgen müssten“ (Günther 2002, 219). Kants Text kann nicht dafür dienen, solche Alternativen zur Strafe zu finden, doch sind seine Ausführungen damit vereinbar, Strafe eine expressive Funktion zuzusprechen, die ich im Haupttext andeute, die allerdings genauer bestimmt werden müsste. Dabei muss natürlich beachtet werden, dass „Begierde“ und „Gefühl“ von Kant unterschieden werden: Begierden gehören zum Begehrungsvermögen, und zielen darauf ab, mit Lust vorgestellte Objekte handelnd zu verwirklichen. Im Gegensatz dazu ist das „Gefühl“ ein eigenes Vermögen, das es erlaubt, Lust und Unlust in Bezug auf Vorstellungen zu empfinden. Wenn ich die „Rechtsbegierde“ mit „Gerechtigkeitsgefühl“ bezeichne, lasse ich diese Unterscheidung außer Acht zugunsten einer modernen Terminologie, die das Emotionale bzw. „Sinnliche“ oft mit dem Oberbegriff „Gefühl“ belegt. Allerdings geht bei dieser Ersetzung verloren, dass „Begierde“ evtl. stärker als ein „Gefühl“ ist, was ein Grund dafür sein könnte, dass Kant das Umschlagen in Rachbegierde, nicht Rachegefühl, nahelegt.
3 Spielt der Vergeltungsgedanke eine Rolle?
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rechtigkeitsgefühl seiner Mitbürger verletzt, indem er sich eine Ausnahme davon erlaubt hat, „was das Recht will“. Im Gegensatz zur Rachbegierde ist die Strafe in die moralische Rechtspraxis eingebettet, wird nicht durch (Hass‐)Gefühle begründet, sondern durch moralische Urteile, und sie ist durch eine „Gesetzgebung für jedermann“ (7:271) geregelt und deshalb moralisch legitim.
3.3 Verdienst als angemessene Folge nach Regeln Dass eine Person für ihre gesetzeswidrige Handlung Strafe verdient, lässt sich drittens so verstehen, dass das Urteil, dass die Person eine Handlung vollzogen hat, die nach geltenden Regeln strafbar ist, korrekt ist. Dieser anspruchslose Sinn von Verdienst setzt voraus, dass es ein gültiges Regelsystem gibt, das eine Strafe für die Art der vollzogenen Handlung ankündigt. In diesem Sinn kann man für das deutsche Strafrecht (und für die meisten anderen) beispielsweise sagen, dass ein Verbrecher Strafe verdient, ein Unschuldiger jedoch nicht (vgl. Abschnitt 5). Ob eine Person Strafe verdient oder nicht, bemisst sich demnach allein daran, ob ihr nach den geltenden Regeln Strafe zukommt. Ob es jedoch gerechtfertigt ist, Personen überhaupt zu bestrafen, hängt jedoch davon ab, ob es eine philosophische Begründung der Strafe gibt. Diese Art des Verdienstes setzt also die gesuchte allgemeine philosophische Rechtfertigung des Strafrechts bereits voraus. Das kurze Fazit zur Rolle der Vergeltung in Kants prinzipieller Rechtfertigung der Strafe lautet: Eine gesetzwidrige Handlung verdient nach Kant in moralischer Hinsicht Strafe, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass sie moralisch böse ist. Doch diese These kann nicht das Strafrecht prinzipiell rechtfertigen, da es nach Kant Menschen nicht zusteht, diese Art der Strafe zu verhängen. Es lässt sich in der Anthropologie der Hinweis finden, dass Verbrechen das Gerechtigkeitsgefühl verletzen und deshalb Strafe als Ausdruck der Empörung in sozialer Hinsicht verdient ist. Doch mit dieser Auffassung scheint Kant nicht das gesamte Strafrecht zu rechtfertigen, denn schließlich wird sie im Abschnitt über das Strafrecht in der Rechtslehre gar nicht erwähnt. Strafe lässt sich in dem minimalen Sinn als verdient bezeichnen, dass nach einem Regelsystem Strafe auf die betrachtete Handlung folgt. Die Rechtfertigung dieser Regeln steht jedoch noch aus und wird im folgenden Abschnitt betrachtet.
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
4. Kants Rechtfertigung der Strafe nach der Abschreckungstheorie Im Folgenden möchte ich mich der These anschließen, dass Kants prinzipielle Begründung des Strafrechts auf der Idee der Abschreckung bzw. Prävention von Verbrechen beruht (z. B. Byrd/Hruschka 2010, 261 ff.). Es wird sich zeigen, dass Kant eine Theorie der Generalprävention vertritt, die jedoch nicht primär die Strafe selbst, sondern die Androhung von Strafe als Mittel dafür sieht, potentielle Straftäter abzuschrecken. Das Gerüst von Kants Begründung des Strafrechts lässt sich folgendermaßen skizzieren: Der Zweck des Rechtssystems ist, die Rechte der Staatsbürger zu sichern. Die Garantie der Rechte geschieht durch „Zwang“, der ausgeübt wird, damit die Gesetze eingehalten werden. Dieser Zwang besteht (unter anderem) in der Androhung von Strafe. Die tatsächliche Bestrafung ist eine Folge der Androhung von Strafe, genau dann wenn eine Person ein strafbares Verbrechen begangen hat. Der Titel „Abschreckungstheorie“ ist also insofern berechtigt, als die Einhaltung der Gesetze durch Abschreckung von Verbrechen erreicht bzw. unterstützt werden soll, und diese Abschreckung durch Strafandrohung erfolgt. Betrachten wir die einzelnen Schritte des Arguments genauer. Kant sieht es als wichtigste Aufgabe des Staates an, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen. Der Übergang vom Naturzustand in den Rechtsstaat ist für Kant eine rationale Forderung. Denn der Naturzustand gilt ihm als einer, in dem „vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt“ (6:312). Dieser wird durch einen Zustand ersetzt, in dem die eigenen und fremden Rechte durch den Staat gesichert werden, d. h. durch einen Zustand, „darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird“ (6:312). Rechtliche Gesetze zeichnen sich nach Kant im Gegensatz zu ethischen Gesetzen dadurch aus, dass ihre Einhaltung durch äußeren Zwang gestützt wird: „Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei“ (6:232). Die Interpretation, Kant als Abschreckungstheoretiker zu verstehen, stößt hier an eine Schwierigkeit: Kant äußert sich nicht eindeutig zu der Frage, wie der Zwang zur Durchsetzung der Rechtsgesetze aussieht. Allgemein charakterisiert Kant den rechtlichen Zwang als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ (6:231): Wenn jemand ein Recht, das die äußere Freiheit der Bürger schützen soll, verletzt (d. h. durch seine rechtswidrige Handlung ein „Hindernis der Freiheit“ darstellt), dann „ist mit dem Recht zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen“ verbunden (6:231). Wie und zu was der Verbrecher gezwungen werden
4. Kants Rechtfertigung der Strafe nach der Abschreckungstheorie
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darf, wird bei Kant jedoch nicht festgelegt. Es liegt zwar nahe, den äußeren Zwang als Androhung von Strafe zu sehen, aber diese Gleichsetzung ist nicht alternativlos. Offenbar fällt unter den Zwang, der zur Sicherung der Rechte eingesetzt werden darf, Notwehr als direkte Verteidigung der eigenen Rechte. Man könnte sich auch vorstellen, dass der Zwang, der der Durchsetzung von Rechten dient, in Störung bzw. Verhinderung des Verbrechens besteht – zum Beispiel darin, den Eindringling aus dem Grundstück eines anderen gewaltsam herauszubringen oder einem Dieb das Diebesgut wegzunehmen und seinem rechtmäßigen Besitzer zurück zu geben (vgl. Steigleder 2002, 237). Auch Kants eigene Beispiele sprechen nicht eindeutig für eine Identifizierung von äußerem Zwang und Strafandrohung. Zumindest könnte man sich vorstellen, dass ein Gläubiger „von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld“ fordert (6:232), ohne ihm Strafe anzudrohen. Es gibt demnach kein zwingendes Argument in der Kantischen Theorie dafür, dass die Rechtsgesetze mit der Androhung von Strafe einhergehen müssen. Vielmehr ist „Zwang“ der weitere Begriff und „Androhung von Strafe“ nur eine spezifische Form des Zwangs. Kants These, dass rechtliche Gesetze mit Zwang einhergehen, rechtfertigt also nicht, dass jeder Staat ein Strafrecht besitzen muss. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Androhung von Strafe faktisch eine der wichtigsten Maßnahmen ist, den nach Kant nötigen äußeren Zwang zur Einhaltung der Gesetze auszuüben.¹⁷² Strafe (bzw. deren Androhung) ist auch in Kants Text das einzige systematisch diskutierte Mittel, das für rechtlichen Zwang in Frage kommt. Kant versteht die Strafe sogar als notwendig zur „Idee einer Staatsverfassung“ gehörig und weist sie als Mittel dazu aus, „das Verbrechen (als Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des Seinen eines jeden) zu entfernen“ (6:362, H.v.m.). In diesem Satz steckt nicht nur der Hinweis darauf, dass es bei der Strafe um die Verhinderung von Verbrechen geht, sondern auch die Charakterisierung des Verbrechens als „Verletzung der Staatssicherheit“. Das Verbrechen wird dieser Äußerung zufolge im Strafrecht nicht primär als Verletzung der Gerechtigkeit verstanden, die durch Strafe wieder ausgeglichen werden muss.Vielmehr interessiert im Strafrecht das Verbrechen in erster Linie als Gefährdung der Sicherheit, die durch Androhung von Strafe gewährleistet werden soll. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Kant die Funktion der Strafe (bzw. deren Androhung) in der Abschreckung sieht, findet sich in der Diskussion des Notrechts. Im Rahmen des Beispiels wird deutlich, dass die „beabsichtigte Wirkung“ der „durch Gesetz angedrohte[n] Strafe“ (6:235) ist, das Verbrechen zu verhindern, indem eine Strafe angekündigt wird, sodass der Wunsch nach deren Vermeidung
So auch Byrd/Hruschka 2010, 265.
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
die Neigung zu dem Verbrechen überwiegt. Kant greift als Beispiel das bereits in der Antike diskutierte Gedankenexperiment vom „Brett des Karneades“ auf. Es stellt den Fall eines Schiffbruchs dar, in dem ein Mensch einen anderen von einem schwimmenden Brett wegstößt und ertrinken lässt, um sich selbst zu retten. Die Frage, ob diese Tat unter Strafe stehen sollte, verneint Kant: Da die angedrohte Strafe nicht von der Ausführung der Tat abhalten kann (weil sie die „Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch)“ darstellt, die gegenüber dem „Übel, was gewiß ist (nämlich dem Ersaufen)“ das kleinere Übel ist), macht Strafe nach Kant keinen Sinn, sodass die Tat als „unstrafbar“ gilt (6:236). Diese Überlegung ist ein Hinweis darauf, dass Kant eine Abschreckungstheorie der Strafe vertritt, da für eine Vergeltungstheorie die Frage irrelevant ist, ob die Strafandrohung effektiv vom Verbrechen abhalten kann. Der letzte Schritt der Argumentation besteht darin, nicht nur die Androhung von Strafe, sondern auch ihre Vollstreckung zu rechtfertigen. Die Begründung dafür beruht auf einer Konsistenzforderung: Eine rechtliche Ordnung wäre unglaubwürdig, wenn sie Strafe nur androhen und niemals unter den entsprechenden Bedingungen ausführen würde.¹⁷³ In seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie diskutiert Kant die Möglichkeit, dass Androhung ohne tatsächliche Ausführung der Strafe ausreichen könnte und lehnt sie ab: Ob es wohl Strafen gäbe, die ohne Ernst vom Gesetzgeber angedroht werden konnten, es würde alsdann die Androhung der Strafen, wie z.E. die Theologen bei den aeternis divinis poenis annehmen, das Mittel seyn, den Menschen vom Verbrechen abzuhalten; zugleich würde aber auch die Strafe selbst, da deren wöllige Vollziehung damit nicht verbunden ist, zugleich ein Blendwerk seyn, welches man nie annehmen kann (27:554).
Bei der Frage, welche Personen bestraft werden sollen, muss Kant allerdings über den Rahmen der Abschreckungstheorie hinausgehen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als liefere die Konsistenzforderung ein hinreichendes Kriterium dafür, wer bestraft werden soll, nämlich jede Person, die ein rechtliches Gesetz übertreten hat. Kant bringt diese Idee in dem Satz zum Ausdruck: „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ“ (6:331). Dieser Imperativ richtet sich an die Organe der Strafgerechtigkeit (nicht an den Verbrecher¹⁷⁴) und besagt, dass Strafe gefordert ist, wenn ein Rechtsgesetz verletzt wird (Byrd/Hruschka 2010, 267).
Die Unterscheidung zwischen Androhung und Ausführung der Strafe wurde direkt vor Kant von Achenwall und auch nach Kant von Feuerbach, dem die Urheberschaft der Unterscheidung oft zugeschrieben wird, gemacht (vgl. Byrd 1989, 184). Vgl. dazu Byrd (1989, 196); anders Bojanowski (2006, 44, Anm. 8).
5. Wer soll bestraft werden?
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Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Kant nicht alle Gesetzesübertretungen für strafbar hält, sondern nur die zurechenbaren unter ihnen. Denn schließlich betont er in der Anthropologie, dass man geisteskranke Straftäter „bedauren und curiren, aber nicht bestrafen“ soll (7:214, Anm.). Die Subjekte, an die sich das Strafrecht richtet, müssen demnach zurechnungsfähig sein. Das „Begnadigungsrecht“ (6:337) scheint eine Ausnahme zum kategorischen Strafgesetz zu sein, da es zur „Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe“ berechtigt. Und doch erkennt man in Kants Diskussion des Begnadigungsrechts gerade eine Bestätigung der Idee, dass Verbrechen bestraft werden müssen. Der Souverän hat nach Kant nicht das Recht, Verbrecher straffrei ausgehen zu lassen, die anderen Bürgern geschadet haben. Nur, wenn das Verbrechen den Souverän selbst betrifft, d. h. bei so genannten „Majestätsverbrechen“, worunter zu Kants Zeit noch Rebellion und Hochverrat fallen (vgl. Höffe 1999, 229), kann er eine Begnadigung in Erwägung ziehen, „[a]ber auch da nicht einmal, wenn durch Ungestraftheit dem Volk selbst in Ansehung seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte“ (6:337). Diese Skrupel gegenüber dem Begnadigungsrecht zeigen einmal mehr, wie wichtig für Kant die These ist, dass jede Gesetzesübertretung bestraft werden muss – dass also Zurechnung zur Schuld (außer in großen Ausnahmefällen der Begnadigung) hinreichend für Bestrafung ist. Mithin lässt sich bei Kant eine zweistufige Begründung der Strafe finden: Erstens wird Strafe überhaupt dadurch gerechtfertigt, dass prospektiv Androhung der Strafe von Verbrechen abschrecken soll und zweitens wird Strafe vor diesem Hintergrund verhängt, weil der Verbrecher die Bedingungen verwirklicht hat (nämlich eine zurechenbare Handlung zu vollziehen, die das Gesetz verletzt), unter denen die Androhung umgesetzt werden muss.
5. Wer soll bestraft werden? Nun soll Kants These diskutiert werden, dass rechtliche Zurechnung zur Schuld notwendig für Strafe ist, d. h. dass nur Schuldige bestraft werden dürfen. Viele Äußerungen, die zu Kants Rechtfertigung der Strafe nach der Vergeltungstheorie gezählt werden, lassen sich dahingehend verstehen, dass Zurechnung eine notwendige Bedingung für Strafe ist. Eine solche Formulierung ist, dass der Verbrecher deshalb bestraft werden soll, „weil er verbrochen hat“ (6:331).¹⁷⁵ Diese Äußerung kann leicht als Beweis
Eine ähnliche Formulierung findet sich in der Definition des Strafrechts, wo Kant sagt, dass der Verbrecher „wegen seines Verbrechens“ (6:331) bestraft wird.
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
dafür verstanden werden, dass Kant eine Theorie des intrinsischen Verdienstes vertreten hat. Doch der Kontext der Stelle legt etwas anderes nahe: Richterliche Strafe (poena forensis) […] kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt […] werden (6:331, H.v.m.).
Die Begründung der Strafe darf nach Kant nicht darin liegen, bloß als Mittel für einen in der Zukunft liegenden Zweck zu dienen. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, die Strafe unter anderem als ein solches Mittel zu verstehen, wie es im vorigen Abschnitt zur Abschreckungstheorie vorgeschlagen wurde. In diesem Sinn sagt Kant, der Akteur muss „vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen“ (6:331, H.v.m.). Doch in dieser Passage geht es Kant darum auszuschließen, dass die Strafe als bloßes Mittel verwendet wird. Grund dafür ist, dass ansonsten auch der Verbrecher als bloßes Mittel behandelt würde, da er es ist, der unter der Strafe leidet. Für Kant ist die Einsicht zentral, dass ein Mensch Zweck an sich ist und nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, und diese These erweist sich auch in der Straftheorie als relevant. Eine in diesem Sinne fragwürdige Begründung der Strafe wäre beispielsweise, dass ein Verbrecher nur deshalb bestraft werden soll, um anderen Menschen vor Augen zu führen, dass Gesetzesübertretungen mit negativen Konsequenzen quittiert werden. Nützlichkeitserwägungen könnten schlimmstenfalls dazu führen, dass Personen bestraft werden, die keine Straftat begangen haben, um sie selbst oder andere von Straftaten abzuschrecken. Gegen solcherlei Begründungen der Strafe wendet sich Kant, und insofern kann man seinen Hinweis, dass der Verbrecher bestraft werden soll, „weil er verbrochen hat“, rein negativ, also als Ablehnung bloß utilitaristischer Begründungen, verstehen. Diese negative These lässt sich insofern als vergeltungstheoretisches Element auffassen, als Vergeltung eine Reaktion auf ein geschehenes Ereignis ist. Dieser retributive Aspekt in Kants Theorie lässt sich mit Hilfe des Zurechnungsbegriffs auf den Punkt bringen: Kern des Vergeltungsgedankens in der Begründung, warum ein bestimmtes Subjekt bestraft werden soll, ist für Kant, dass die rechtliche Zurechnung der Handlung zur Schuld notwendige Bedingung für Strafe sein muss. Die Person muss der freie Urheber einer Handlung sein, die das Gesetz verletzt hat. Indem Kant Strafe an die Zurechnung zur Schuld bindet, drückt er die Überzeugung aus, dass nur Schuldige bestraft werden sollen – eine Überzeugung, die aus einem moralisch legitimen Strafgesetz nicht wegzudenken ist.¹⁷⁶ So auch Byrd/Hruschka: „Kant’s requirement that the offender be punished only because
6. Wie wird die „Qualität und Quantität“ der Strafe bestimmt?
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6. Wie wird die „Qualität und Quantität“ der Strafe bestimmt? Eine für Kant unumstritten wichtige Funktion des Vergeltungsgedankens wurde bisher nicht thematisiert: Er spielt eine zentrale Rolle bei der Frage, welche Art von Strafe verhängt werden soll und wie hoch diese zu sein hat. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen,vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturtheil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten (6:332, H.v.m.).
Der Grund dafür, warum Kant nur dem Wiedervergeltungsrecht zutraut, Qualität und Quantität der Strafe festzulegen, ist, dass es auf dem Prinzip der Gleichheit beruht und somit keinen willkürlichen Bestimmungen ausgesetzt ist. Die Idee, dass „Gleiches mit Gleichem gehörig vergolten würde“ (6:333), erachtet Kant für die Bestimmung des Strafmaßes als ein Prinzip der Gerechtigkeit, das jedem einleuchten kann.¹⁷⁷ Die Gleichheit von Strafe und Verbrechen garantiert sowohl, dass die Strafe nicht zu hoch ist, als auch, dass sie nicht zu niedrig ausfällt: Das Vergeltungsprinzip begrenzt die Höhe der Strafe, insofern es verbietet, aus Nützlichkeitserwägungen sehr hohe Strafen festzulegen, beispielsweise Gefängnisstrafe auf Schwarzfahren zu verhängen. Auf der anderen Seite fällt nach dem Prinzip der Wiedervergeltung die Strafe auch nicht zu niedrig aus. Hier spielt das Vergeltungs- dem Abschreckungsprinzip in die Hände: Am Beispiel des Schiffbrüchigen zeigt Kant, dass eine Strafe, die niedriger ist als die erwarteten Vorteile aus dem Verbrechen, nicht abschrecken würde und somit sinnlos ist. Dass Vergeltungs- und Abschreckungstheorie jedoch auch zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich des Strafmaßes kommen können, wird im Abschnitt 7 diskutiert. Kant hält das Wiedervergeltungsrecht lediglich „der Form nach“ (6:363) für das Prinzip, das das Strafmaß bestimmen kann. Es ist nicht offensichtlich, was „der Form nach“ bedeutet, auch weil Kant dies nicht von der Bestimmung ›der Materie nach‹ oder Ähnlichem abgrenzt. Diese Charakterisierung lässt sich einerseits als Abgrenzung von der Bestimmung „dem Buchstaben nach“ (6:332, vgl. auch 6:363) und andererseits als Ausdruck für Angemessenheit der Strafe verstehen. Die Vergeltung „dem Buchstaben nach“ würde bedeuten, dass dem
he has committed a criminal offense accords with the fundamental rights of the criminally accused; it does not indicate that Kant is a pure retributivist“ (Byrd/Hruschka 2010, 272). Dies illustriert er ausgerechnet am Beispiel eines zum Tode verurteilten Mörders: „Überdem hat man nie gehört, daß ein wegen Mordes zum Tode Verurtheilter sich beschwert hätte, daß ihm damit zu viel und also unrecht geschehe […]“ (6:334).
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
Übeltäter genau dasselbe zugefügt wird, was er einem anderen angetan hat. Diese Methode lehnt Kant als allgemeines Prinzip ab. Sie ist insbesondere ungeeignet im Fall von grausamen Verbrechen, in deren Fall es „selbst ein strafbares Verbrechen an der Menschheit überhaupt“ (6:363) sein würde, den Verbrecher mit demselben Übel zu bestrafen, das er anderen zugefügt hat.¹⁷⁸ Die menschliche Würde begrenzt nach Kant das Strafmaß und setzt damit dem Vergeltungsprinzip Schranken. Ob Kants Alternativen dann überzeugen können – er schlägt beispielsweise als Strafe für Sexualverbrechen Kastration vor – sei dahingestellt. Doch es gibt auch Fälle, in denen Bestrafung „dem Buchstaben nach“ nicht zu einer Würdeverletzung des Verbrechers führen würde, und Kant dennoch andere Strafen für angemessener hält. Er räumt ein, dass die Bestimmung der Strafe oft schwierig ist und erläutert anhand von Beispielen, wie er sich vorstellt, dass die Strafe dem Verbrechen angemessen sein kann, ohne dem Buchstaben nach der Straftat gleichzukommen. Eines davon beschreibt den Fall, dass „der gewaltthätige Vornehme für die Schläge, die er dem niederen, aber schuldlosen Staatsbürger zumisst“ zu einem „einsamen und beschwerlichen Arrest verurtheilt würde“ (6:332), sodass die „Eitelkeit des Thäters schmerzhaft angegriffen und so durch Beschämung Gleiches mit Gleichem gehörig vergolten“ wird (6:333). Der „Vornehme“ wird also nicht durch ähnliche Schläge bestraft, die er selbst zuvor ausgeteilt hatte; vielmehr betont Kant die Gleichheit von Straftat und Strafe „der Wirkung nach respective auf die Empfindungsart“ (6:332). Diese Überlegung ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie zeigt, dass die Strafart (und vermutlich auch das Strafmaß) nicht nur von Eigenschaften der Tat, sondern auch von Eigenschaften des Täters (hier: seiner Empfindungsart) abhängig gemacht werden kann. Dass Kant tatsächlich die Strafe auch nach Eigenschaften des Verbrechers bemessen möchte, zeigt sich noch deutlicher in seiner Aussage, die Strafe solle „proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher“ (6:333) sein. Dies macht darauf aufmerksam, dass zwei Arten von Vergeltungsprinzip unterschieden werden müssen: Die erste Variante des Vergeltungsprinzips, das Talionsprinzip, setzt die Strafe lediglich in Beziehung zum Schaden, den der Verbrecher angerichtet hat. Bereits in dieser Form des alttestamentarischen „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“ (Exodus 21) erfüllt das Vergeltungsprinzip die genannte Funktion, Strafe zu begrenzen, da es fordert, Strafe nicht nach willkürlichen Rachebedürfnissen zu verhängen, sondern dem Schaden
Die Ablehnung der Strafe „dem Buchstaben nach“ eröffnet auch Kant die Möglichkeit der Ablehnung der Todesstrafe. Obwohl Kant selbst die Todesstrafe für unverzichtbar hält (vgl. 6:333), ist sein Wiedervergeltungsrecht „der Form nach“ nicht notwendig darauf festgelegt, die Hinrichtung für Mörder zu fordern, sondern prinzipiell offen dafür, Argumente gegen die Todesstrafe anzuerkennen.
6. Wie wird die „Qualität und Quantität“ der Strafe bestimmt?
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angemessen zu wählen. Doch es gibt eine zweite Variante des Vergeltungsprinzips, die die Strafe von der Schuld des Täters abhängig macht. Schuld setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen ist die Schuld proportional zum objektiven Schaden, der durch den Täter verursacht wurde, und zum anderen hängt sie von subjektiven Eigenschaften des Täters ab, wie beispielsweise seiner Schuldfähigkeit und seinen Motiven für die Tat (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 6). Wenn Kant sagt, dass die Strafe „proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit“ sein soll, dann schließt er sich der Ansicht an, Strafe richte sich nicht nur nach dem „Erfolg“ der Tat – wie der Schaden durch das Verbrechen in der Strafrechtswissenschaft genannt wird –, sondern auch nach inneren, subjektiven Faktoren des Täters.¹⁷⁹ Das mag auf den ersten Blick verwundern, da es in der Rechtslehre im Gegensatz zur Ethik gerade nicht um „innere“ Einstellungen der Personen, sondern nur um ihre äußeren Handlungen geht. Doch in dieser Allgemeinheit ist das offenbar nicht Kants Position. Kant meint zwar, dass es im Recht nicht darauf ankommt, aus welchen Gründen die Gesetze befolgt werden, aber er hält es durchaus für einen relevanten Faktor in der Bestimmung des Strafmaßes, aus welchen Gründen ein Gesetz verletzt wird. Dass die innere Verfassung eines Verbrechens nach Kant für die Strafe relevant ist, zeigt sich auch in Kants Passage über die „Grade der Zurechnungsfähigkeit“ (6:228), wo er die These vertritt, dass es einen Unterschied für das Strafmaß macht, ob eine Tat im Affekt oder mit ruhiger Überlegung ausgeführt wurde.¹⁸⁰ Kant räumt „Grade“ der Zurechnung zu Schuld und Verdienst ein, die sich „nach der Größe der Hindernisse“ bemessen, die für die Ausführung der Handlung überwunden werden mussten (6:228) (vgl. dazu ausführlich Kapitel 9). Beispielsweise heißt es: [J]e kleiner das Naturhinderniß, je größer das Hinderniß aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet. – Daher der Gemüthszustand, ob das Subject die That im Affect, oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat (6:228).
Indem Kant Strafe an die Zurechnung zur Schuld bindet, weist er auf einen Zusammenhang hin, der bis heute für das deutsche Strafrecht von fundamentaler Bedeutung ist. § 46 des StGB besagt, dass sich die Höhe der Strafe an der Schwere der Schuld bemisst, was den sogenannten Schuldgrundsatz impliziert: keine Strafe ohne Schuld (nulla poena sine culpa). Vgl. zur historischen Entwicklung des Schuldstrafrechts aus der Erfolgshaftung z. B. Bader (Bader 1964). Interessanterweise decken sich die Diagnosen bezüglich der verminderten Strafhöhe bei Affekthandlungen bei Vergeltungstheorien, die Schuldhaftung zugrunde legen, und bei Abschreckungstheorien. Denn Abschreckungstheorien müssen davon ausgehen, dass die Strafandrohung in die Überlegung mit einbezogen wird, ob die Handlung ausgeführt werden soll oder nicht. Bei Affekthandlungen geht jedoch keine Überlegung voraus: „threats are wasted for crimes of passion“ (Goldman 1979, 50).
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
Diese Unterschiede in den Folgen, die der unterschiedliche Grad der Zurechnung hat, lassen sich als unterschiedliche Grade des Strafmaßes verstehen. Die Strafe ist die „rechtliche Folge“ der Zurechnung zur Schuld, und deshalb müssen sich unterschiedliche Grade der Zurechnung auch in der Strafe niederschlagen. Die Bestimmung des Strafmaßes setzt demnach für Kant eine Theorie über Regeln der Zurechnung voraus. Fassen wir den Zusammenhang zwischen Zurechnung und Strafe zusammen. Zurechnung zur Schuld ist notwendig und hinreichend für Strafe. Diese Aussage gründet sich auf Elemente der Vergeltungs- und der Abschreckungstheorie, die man beide in Kants Rechtfertigung der Strafe finden kann. Dass Zurechnung zur Schuld notwendig für Strafe ist, drückt den vergeltungstheoretischen Kerngedanken aus, dass ein bestimmter Mensch bestraft wird, nur „weil er verbrochen hat“. Aus der Abschreckungstheorie folgt, dass die Androhung der Strafe auch zur Ausführung kommen muss, wenn jemand auf zurechenbare Weise ein Gesetz übertreten hat, das mit Strafandrohung belegt war. Das bedeutet, dass Zurechnung zur Schuld vor diesem Hintergrund hinreichend für Strafe ist. In diesen Hinsichten setzt Kants Straftheorie seine Zurechnungstheorie voraus. Dies zeigt sich auch daran, dass nach Kant verschiedene Grade der Zurechnung zur Schuld auch unterschiedliche Grade der Strafe rechtfertigen.
7. Das „Paradox“ der Strafe und der Zurechnungsfähigkeit In seinem Artikel „The Paradox of Punishment“ (1979) wirft Alan Goldman ein grundsätzliches Problem auf, dem Theorien der Strafe ausgesetzt sind, die auf einer „Mischung“ von Abschreckungs- und Vergeltungstheorie beruhen. Dieses Problem stellt sich auch für Kants Theorie, auch wenn Goldman selbst Kant nicht zu den „Mischtheoretikern“ zählt, sondern ihn zusammen mit Hegel den klassischen Retributivisten zuordnet (Goldman 1979, 43). Goldman geht von einer Rechtfertigung der Strafe aus, die genau wie die hier vorgestellte Interpretation zweistufig ist: Die Rechtfertigung der „Institution Strafe“ beruht auf der Idee der Abschreckung, wobei Goldman betont, dass es sich hierbei um eine utilitaristische Begründung handelt. Einzelne Akte der Bestrafung müssen jedoch durch ein retributivistisches Prinzip gerechtfertigt werden, welches das Strafmaß bestimmt. Das Paradox, oder besser gesagt: das „Dilemma“ (Goldman 1979, 49), das Goldman letztlich nicht auflöst, zeigt sich am Problem der Bestimmung des Strafmaßes: Wenn der abschreckende Effekt der Strafe erreicht werden soll, ist es nötig, die Schuldigen härter zu bestrafen, als sie es nach dem Vergeltungsprinzip verdient hätten (Goldman 1979, 48). Der Hauptgrund für die härtere Bestrafung nach dem Abschreckungsprinzip ist, dass die Chance, dass
7. Das „Paradox“ der Strafe und der Zurechnungsfähigkeit
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Verbrechen aufgedeckt werden, relativ gering ist – Goldman geht von nur ungefähr fünfzig Prozent aus (Goldman, ebd.). Daraus folgt, dass die angedrohte Strafe so schwer sein muss, dass potentielle Verbrecher trotz der Chance, straffrei zu entkommen, das Risiko nicht eingehen wollen. Einerseits ist nach Goldman also die Strafe notwendig, um Verbrechen zu minimieren, aber andererseits ist sie moralisch nicht gerechtfertigt, wenn sie so hoch ist, dass sie ihren Zweck erfüllen kann. Kant diskutiert dieses Problem nicht explizit, und auf den ersten Blick ist auch nicht ersichtlich, wie es im Rahmen seiner Theorie gelöst werden könnte. Lediglich seine Äußerung im Fall des Schiffbrüchigen macht deutlich, dass er sich des Problems bewusst ist, dass eine Strafe hoch genug sein muss, um vom Verbrechen abzuschrecken. In diesem Fall sieht Kant, dass auch die höchste angedrohte Strafe, die Todesstrafe, den ertrinkenden Menschen nicht davon abhalten kann, einen anderen vom rettenden Brett zu stoßen, weil die „Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch)“ gegenüber dem „Übel, was gewiß ist (nämlich dem Ersaufen)“ das kleinere Übel ist (6:236). Die angedrohte Strafe muss demnach für ein größeres Übel gehalten werden als die Unterlassung des Verbrechens. Kant geht sogar auf die Entdeckungswahrscheinlichkeit des Verbrechens ein, indem er sagt, dass der Eintritt der Strafe „noch ungewiß“ (6:235) ist, was ebenfalls in die Abwägung, die Tat zu vollziehen, mit eingeht. Doch bis auf den Extremfall des Brett des Karneades, der zum „Notrecht“ und damit gar nicht in die eigentliche Rechtslehre gehört, diskutiert Kant das Problem, das Goldmans Dilemma aufzeigt, nicht. Meines Erachtens steht Kant eine Lösungsmöglichkeit des Dilemmas zur Verfügung, die Goldman zwar erwägt, dann aber zurückweist. Der Lösungsvorschlag setzt an dem Horn des Dilemmas an, welches besagt, dass Strafen sehr hoch sein müssen, um abschreckend zu wirken. Diese These kann Kant mit dem Argument zurückweisen, dass die Strafen milder ausfallen können, da sich der Abschreckungseffekt der Strafe zu den internen moralischen Sanktionen („Gewissensbissen“) hinzu addiert. Die Androhung der Strafe würde somit das ohnehin schon vorhandene Motiv, moralisch zu handeln, bloß unterstützen und wäre nicht allein für die Rechtsbefolgung zuständig. Goldman weist diese These als Lösung des Dilemmas zurück, da sie seiner Meinung nach nicht auf den durchschnittlichen Kriminellen zutrifft, der sich in einer verzweifelten Lage befindet und deshalb bereit ist, hohe Risiken einzugehen (Goldman 1979, 49 f.). Doch für Kant, der jedem gesunden Erwachsenen ein moralisches Gewissen und Achtung vor dem Gesetz zuspricht, ist der Ausweg aus dem Dilemma prinzipiell denkbar. Um diesen Lösungsvorschlag als kantischen auszuweisen, muss jedoch geklärt werden, ob Kant wirklich moralisch autonome Subjekte als Rechtssubjekte annimmt. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, die Vorausset-
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6. Kapitel: Strafe als Folge der rechtlichen Zurechnung zur Schuld
zung der Zurechnungsfähigkeit im Recht zu bestimmen: Entweder wird vorausgesetzt, dass die Subjekte in der Lage sind, sich aufgrund ihrer Autonomie nach genuin moralischen Überlegungen zu richten, oder es wird angenommen, dass die Subjekte bloß zweckrational handeln können. Die erste Möglichkeit impliziert nach Kant, dass die Personen von all ihren sinnlichen Motiven absehen und das Gesetz aus Pflicht befolgen können, d. h. nur weil sie einsehen, was moralisch gefordert ist. Diese Frage nach der für rechtliche Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzten Fähigkeit wirft für die Kantische Mischtheorie der Strafe sprechbar sind.in ganz ähnliches Paradox auf wie dasjenige von Goldman, das ich als „Paradox der Zurechnungsfähigkeit“ bezeichnen möchte: Die Rechtfertigung der Institution Strafe durch die Abschreckungstheorie setzt eine andere Konzeption des zurechnungsfähigen Subjekts voraus, als es die Rechtfertigung des Strafmaßes anhand der Proportionalität zur Schuld tut. Betrachten wir zunächst, welche Fähigkeiten bei Subjekten vorausgesetzt werden müssen, um als rechtlich zurechnungs- und damit schuldfähig zu gelten, wenn die Abschreckungstheorie der Strafe vorausgesetzt wird. Damit Abschreckung funktioniert, reicht es offenbar, wenn die Rechtssubjekte bloß zweckrational sind, d. h. wenn sie verschiedene (empirische) Motive in Hinsicht auf ihre eigene Glückseligkeit gegeneinander abwägen können – eines dieser Motive ist der Wunsch nach Vermeidung von Strafe. Die Abschreckungstheorie kann so verstanden werden, dass die Strafe genau deshalb angedroht wird, damit sie in die zweckrationale Kalkulation der Rechtssubjekte eingeht und auf diese Weise abschreckend wirkt. Damit diese Rechtfertigung der Strafe stichhaltig ist, muss sie sich an Subjekte richten, die für solche zweckrationalen Überlegungen ansprechbar sind. Doch diese Konzeption der Person scheint nicht auszureichen, wenn das Strafmaß an das Maß der Schuld des Täters gekoppelt werden soll, wie es Kant tut. Wenn Kant sagt, dass die Strafe „proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit“ (6:333) verhängt werden soll, dann nimmt er offenbar ein Subjekt an, das in den moralischen Kategorien von Gut und Böse zu bewerten ist. Bösartig kann nur eine Person sein, die böse Maximen wählt, und das kann sie nur dann tun, wenn sie auch in der Lage ist, moralisch gute Maximen zu wählen – was nach Kant wiederum Autonomie voraussetzt. Das „Paradox der Zurechnungsfähigkeit“ sieht demnach folgendermaßen aus: Die allgemeine Rechtfertigung nach der Abschreckungstheorie kommt mit der Annahme bloß zweckrationaler Rechtssubjekte aus, während für die Bestimmung des Strafmaßes nach dem Vergeltungsprinzip, das sich an persönlicher Schuld orientiert, autonome Subjekte vorausgesetzt werden müssen. Es sprechen zwei Gründe dafür, das Paradox dadurch aufzulösen, dass das moralisch autonome
7. Das „Paradox“ der Strafe und der Zurechnungsfähigkeit
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Subjekt als Bezugspunkt für Kants Straftheorie gewählt wird. Moralisch autonome Subjekte sind sicherlich auch zweckrational, denn das ist die weniger anspruchsvolle Fähigkeit. Wenn man den anspruchsvolleren Begriff des autonomen Rechtssubjekts als Bezugspunkt wählt, hat man sichergestellt, dass die Rechtssubjekte sowohl die Voraussetzungen für das abschreckungstheoretische als auch das vergeltungstheoretische Element der Theorie erfüllen. Goldmans Paradox liefert einen weiteren Grund für diese Wahl: Nur unter der Annahme, dass die potentiellen Kriminellen, die durch Strafe abgeschreckt werden sollen, auch moralische Motive haben, die Rechtsgesetze zu befolgen, kann die Abschreckung durch Strafe so funktionieren, dass sie ohne exzessives Strafmaß auskommt. Diese Lösung des Paradoxes setzt natürlich voraus, dass es sich um moralisch legitime Rechtsgesetze handelt und nicht um Gesetze eines bloß positiv geltenden Rechts, die autonome Personen aus moralischen Gründen ablehnen müssten.
7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen Im Anschluss an die Definition des Zurechnungsbegriffs in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten nennt Kant vier Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen. Das Problem der Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen ist der Gegenstand dieses Kapitels. Ein Ereignis ist dann eine Handlungsfolge, wenn es kausal auf die Handlung zurückgeht, wenn also die Handlung eine Ursache des Ereignisses ist. Was eine Ursache ist, lässt sich in einer ersten Annäherung durch ein kontrafaktisches Konditional ausdrücken: Ein Ereignis ist eine Ursache einer Wirkung, wenn es nicht eingetreten wäre, falls die Ursache nicht aufgetreten wäre. Übertragen auf die Frage, was eine Handlungsfolge ist, bedeutet dies: Ein Ereignis ist Folge einer Handlung, wenn das Ereignis nicht eingetreten wäre, wenn die Handlung nicht stattgefunden hätte. Das Ereignis, dass ein Fußgänger überfahren wurde, ist eine Folge der Handlung des Autofahrers, bei Rot über die Ampel gefahren zu sein, wenn der Fußgänger bei ansonsten gleichen Bedingungen lebend die Straße überquert hätte, falls der Fahrer nicht bei Rot über die Ampel gefahren wäre. Die Frage, welche Handlungsfolgen zurechenbar sind, hängt mit verschiedenen Fragen zusammen: Wie sind „Folgen“ überhaupt zu identifizieren, d. h. was zählt noch als Handlung und was bereits als deren Folge? Ist es relevant für die Zurechenbarkeit einer Handlungsfolge, dass sie intendiert oder vorhersehbar war? Im Rahmen der Philosophie Kants stellt sich darüber hinaus die Frage, wie die Zurechenbarkeit von Folgen mit dem deontologischen Charakter der Kantischen Ethik vereinbar ist. Es ist einer der Grundpfeiler der Kantischen Moralphilosophie, dass der gute Wille „nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut“ ist (4:394). Die Unabhängigkeit des guten Willens von seinem Erfolg, d. h. von dem Erreichen der gewollten Zwecke, garantiert, dass jede Person ein moralisch guter Mensch sein kann, denn ihr eigener Wille steht vollständig in ihrer Macht, auch wenn kontingente Ereignisse in der Welt den Erfolg ihres guten Willens vereiteln. Diese Grundthese spiegelt sich in der zentralen notwendigen Bedingung für die Zurechenbarkeit von Handlungen wieder: Die Handlung muss auf den transzendental freien Willen der Person zurückzuführen sein. Doch heißt dies, dass nach Kant gar keine Handlungsfolgen zurechenbar sind? Eine „Gesinnungsethik“, die Handlungsfolgen als irrelevant für moralische Überlegungen sieht, hatte Max Weber von einer „verantwortungsethischen“ Orientierung unterschieden:
7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
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[E]s ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: „der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim“, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm [dem Gesinnungsethiker, CB] nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten des Menschen, er hat […] gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, so weit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet (Weber 1919, 79 f.).
Sieht man von der religiösen Formulierung der gesinnungsethischen Position ab und betrachtet als deren Kern, dass „die Welt“ – nicht der Handelnde – für die Folgen des Handelns „verantwortlich“ gemacht wird, ist es naheliegend, an Kant als Repräsentanten zu denken. Kants Ethik lässt sich insofern als „Gesinnungsethik“ bezeichnen, als sie den Gegenstand der moralischen Prüfung in der Maxime sieht, die der Handlung zugrunde liegt, „der Erfolg mag sein welcher er wolle“ (4:416). Doch Max Weber nennt Kant zu Recht nicht als Beispiel für einen Gesinnungsethiker:¹⁸¹ Dass die Gesinnung bei Kant eine wichtige Rolle spielt, schließt nicht aus, dass „die (vorhersehbaren) Folgen“ des Handelns doch zugerechnet werden können. Überraschender Weise geht Kant sogar so weit zu behaupten, dass selbst die nicht-intendierten, unvorhersehbaren Folgen des Handelns in zwei Fällen zurechenbar sind: Wenn nämlich die Handlung zur Schuld oder zum Verdienst zugerechnet werden kann, sind Kant zufolge auch alle Folgen zurechenbar. In Bezug auf schuldhafte Handlungen illustriert Kant diese These in seinem berühmt-berüchtigten Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (8:423 – 430). Dort reagiert Kant auf ein von Benjamin Constant entworfenes Szenario: Ein Mörder fragt an meiner Haustür, ob sich mein Freund, den er verfolgt, bei mir im Haus befindet. Wenn ich meinen Freund zu schützen versuche, indem ich fälschlicher Weise behaupte, dass er sich nicht bei mir versteckt, verletze ich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Nicht genug, dass Kant der Ansicht ist, man müsse auch in diesem Fall dem Mörder die Wahrheit sagen – darüber hinaus vertritt er die Ansicht, dass mir auch alle schlechten Folgen meiner Lüge zurechenbar sind: [H]ast du […] gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen,wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. […]
Dies tun erst spätere Kommentatoren, vgl. z. B. Köhl 1990.
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7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
Wer also lügt, so gutmüthig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe,verantworten und dafür büßen, so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen (8:427).
Das Beispiel fordert in zweierlei Hinsicht Kritik heraus. Erstens sind sich die meisten Kant-Interpreten einig, dass das Lügenverbot Ausnahmen erlauben sollte, und dass dies auch vereinbar mit den Grundzügen der Kantischen Theorie ist (vgl. z. B. Herman 1993, 156 f.; Korsgaard 1996d; Schapiro 2006).¹⁸² Der zweite Einwand richtet sich gegen die These, dass alle Konsequenzen einer unrechtmäßigen Handlung zurechenbar sein sollen, auch wenn sie unvorhersehbar sind. Der erste Einwand ist eine Kritik an Kants Konzeption der Pflichten, das zweite Problem eine Kritik an seinen Zurechnungsregeln. Ich nehme im Folgenden an, dass die Zurechnungsregeln weitgehend unabhängig von der Diskussion um das absolute Lügenverbot untersucht werden können. Um die Zurechnungsregeln für Folgen beurteilen zu können, wird zunächst ihre Relevanz für Recht und Ethik herausgearbeitet. Danach wende ich mich der Frage zu, welches Prinzip Kants Zurechnungsregeln zugrunde liegt (Abschnitt 2). Ich diskutiere die Frage, warum die Zurechnung von Folgen für Kant der Normalfall ist (Abschnitt 3) und erläutere in den Abschnitten 4 bis 6 Einschränkungen dieses Prinzips, die teils Kant selbst vornimmt und die zum anderen Teil als Ergänzung seiner Regeln verstanden werden können.
1. Vier Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen Kants Zurechnungsregeln für Handlungsfolgen orientieren sich laut Byrd und Hruschka an der „versari-Regel“ (versanti in re illicita imputantur omnia quae sequuntur ex delicto) (vgl. Byrd/Hruschka 2010, 301 f., vgl. auch Anm. 17): Diese
Korsgaard vertritt die Ansicht, dass das absolute Lügenverbot nicht aus der Universalisierungsformel des kategorischen Imperativs folgt (Korsgaard 1996d, 134). Zwar folge es aus der Menschheitsformel, aber Korsgaard argumentiert, dass diese nur für „ideale“ moralische Umstände gilt, die im Fall des Mörders an der Tür nicht gegeben sind (vgl. Korsgaard 1996d). Schapiro argumentiert, dass Ehrlichkeit eine Form der Interaktion ist, die vor dem Hintergrund von reziproken Beziehungen gilt. Wenn dieser normativ strukturierte Hintergrund gestört ist (z. B. durch die Absichten des Mörders), muss man sein Bestes tun, um die moralischen Beziehungen (das „Reich der Zwecke“) zu retten, und dies kann z. B. erfordern, dass man die Unwahrheit sagt (vgl. Schapiro 2006). Mein eigener Vorschlag, den ich in Abschnitt 3 skizziere, beruht darauf, die wahrscheinlichen Folgen der Handlung in die Handlungsbeschreibung mit aufzunehmen und deshalb zu einer anderen Bewertung der Handlung zu kommen.
1. Vier Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen
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Regel, die aus dem mittelalterlichen kanonischen Recht stammt,¹⁸³ erklärt alle Folgen einer unrechtmäßigen Handlung ungeachtet ihrer Vorhersehbarkeit als zurechenbar. Kant nimmt diese Regel offenbar auf, ergänzt sie jedoch um drei weitere Regeln: Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Handlung – imgleichen die Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen – können dem Subject nicht zugerechnet werden (modus imputationis tollens). Die guten Folgen einer verdienstlichen – imgleichen die schlimmen Folgen einer unrechtmäßigen Handlung können dem Subject zugerechnet werden (modus imputationis ponens) (6:228).
Zur besseren Übersicht ist es hilfreich, die Regeln zu ordnen: Zunächst werden die beiden Fälle genannt, in denen Folgen nicht zugerechnet werden, und dann die anderen beiden Fälle, in denen Folgen zugerechnet werden: 1) Gute oder „schlimme“ (im Folgenden auch: schlechte) Folgen einer schuldigen (d. h. geschuldeten) Handlung, d. h. der Erfüllung einer Pflicht, werden nicht zugerechnet. 2) Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen Handlung werden nicht zugerechnet. 3) Schlechte Folgen einer unrechtmäßigen Handlung werden zugerechnet. 4) Gute Folgen einer verdienstlichen Handlung werden zugerechnet. Betrachten wir zunächst den Geltungsbereich der Zurechnungsregeln. Die für die Zurechnungsregeln relevanten Pflichten sind offenbar rechtlicher und ethischer Art, denn die Zurechnungsregeln werden in der gemeinsamen Einleitung zur Rechts- und Tugendlehre aufgeführt.¹⁸⁴ Doch auch wenn Kant mit den vier Regeln die Folgenzurechnung für beide Bereiche der Moral abdecken möchte, gelten die
Byrd und Hruschka (Byrd/Hruschka 2010, 302) nennen Kuttner als Quelle (Kuttner 1935, 185 – 247). Andrews Reath diskutiert die Gültigkeit dieses Prinzips nur für enge ethische und rechtliche Pflichten. Diese Beschränkung scheint daher zu rühren, dass er zum einen nicht von Kants Definition in der Metaphysik der Sitten, sondern von seinen Beispielen ausgeht, in denen es um die Verletzung enger Pflichten geht (8:427, 6:431), zum anderen von den Vorlesungen zur Moralphilosophie, in denen Kant explizit die Verletzung legaler Pflichten diskutiert (vgl. 27:1438). Tatsächlich stellen weite Pflichten insofern einen schwierigen Fall für die Zurechnung zur Schuld dar, als sie einen Spielraum in ihrer Ausführung erlauben, sodass im Einzelfall nicht ganz klar ist, was als eine Verletzung einer weiten Pflicht gilt: Eine einzelne Handlung, die die Pflicht nicht erfüllt, ist „nicht sofort Verschuldung“ (6:390). Doch für die Zurechnungsregeln, die die Folgen von verdienstlichen Handlungen betreffen, müssen weite Pflichten vorausgesetzt werden, weil nur Handlungen, die weite Pflichten erfüllen, zum Verdienst zurechenbar sind.
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7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
Regeln für verschiedene Arten von Pflichten. Geschuldete (oder in Kants Terminologie: „schuldige“) Handlungen gibt es nur im Recht und in Bezug auf die engen ethischen Pflichten, unrechtmäßige Handlungen kommen nur im Recht und verdienstliche Handlungen nur in der Ethik bei weiten Tugendpflichten vor (vgl. Kapitel 1): Da weite Pflichten keine konkreten Handlungen vorschreiben, gibt es diesbezüglich keine Handlungen, die bloß eine geschuldete Pflichterfüllung darstellen; vielmehr ist jede Handlung, die eine weite Tugendpflicht erfüllt, nach Kant verdienstlich. Kant meint, dass die guten Folgen solcher verdienstlichen Handlungen zurechenbar sind, z. B. wäre die Verbesserung der Lebenssituation einer zuvor in Not geratenen Person, die als Folge einer Hilfeleistung eintritt, der helfenden Person zurechenbar. Ein Beispiel aus Kants Vorlesungen ist: „Ein Vorschuß den ich jemandem gethan habe, und wodurch er ein großes Glück erlanget hat, kann mir mit allen Folgen imputirt werden, weil ich mehr gethan habe als ich schuldig war“ (27:1438). Die Zurechnungsregel, die die schlechten Folgen unrechtmäßiger Handlungen formuliert, scheint sich in erster Linie auf Handlungen zu beziehen, die gegen Rechtspflichten verstoßen. Ein Beispiel aus Kants Vorlesungen (Moral Mongrovius) lautet: „[W]enn ich meine Schuld nicht gleich abtrage, und der andere daher Banquerotte macht, so können mir die Folgen imputirt werden“ (27:1438). Doch die Zurechnungsregel kann auch auf die Verletzung enger ethischer Pflichten gegen sich selbst zutreffen, sodass „unrechtmäßig“ in einem weiteren Sinn als „gesetzoder pflichtwidrig“ verstanden werden könnte.¹⁸⁵ Dass Kant diesem Vorschlag zustimmen würde, zeigt ein Beispiel aus der Tugendlehre: Z.B. ein Hausherr hat befohlen: dass, wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen würde, er ihn verläugnen solle. Der Dienstbote thut dieses: veranlasst aber dadurch, dass jener entwischt und ein großes Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld (nach ethischen Grundsätzen)? Allerdings auch auf den letzteren, welcher hier eine Pflicht gegen sich selbst durch eine Lüge verletzte; deren Folgen ihm nun durch sein eigen Gewissen zugerechnet werden (6:431).
Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass Kant selbst hier nur die rechtlichen Gesetze im Blick hatte. Denn wie auch eine Überschrift in der Tugendlehre bestätigt: „Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit“ (6:390), fasst er unter die ethischen Pflichten oft nur die weiten Pflichten. Abgesehen von der Frage nach dem problematischen Status der engen ethischen Pflichten innerhalb von Kants System scheint es jedoch unproblematisch, die dritte Zurechnungsregel auch auf enge ethische Pflichten zu beziehen (so auch Reath 2006, 265, Anm. 1). Timmermann meint hingegen, Kant hätte die engen Pflichten mit gutem Grund auf rechtliche Pflichten beschränkt (vgl. Timmermann 2008, 119 f.).
1. Vier Regeln zur Zurechnung von Handlungsfolgen
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Diese Passage macht deutlich, dass das Verbrechen in unterschiedlichen Hinsichten zurechenbar ist: Dem Hausherr ist das Verbrechen als Handlung rechtlich zurechenbar, während es dem Dienstboten als Handlungsfolge ethisch (durch sein eigenes Gewissen) zugerechnet werden kann. Über diese Ergänzung der Zurechnungsregeln hinaus, die mit Kants eigener Äußerung in der Tugendlehre übereinstimmt, lässt sich fragen, ob es Ergänzungen der Zurechnungsregeln geben sollte, weil Kants System der Pflichten lückenhaft ist. In dieser Hinsicht ist insbesondere die Frage zu nennen, ob es als Versäumnis gelten kann, dass Kant keine engen Hilfspflichten gegen andere einräumt.¹⁸⁶ Für Kant ist die Hilfspflicht ein paradigmatischer Fall einer weiten Pflicht, die einen Spielraum hinsichtlich der Frage erlaubt, wann, wie viel und wem eine Person hilft (vgl. 6:452 f.). Demnach wäre die Hilfeleistung verdienstlich, und die Folgen einer unterlassenen Hilfeleistung könnten nicht zugerechnet werden: „[D]ie Folgen aber, die aus der Unterlaßung einer ethischen Handlung entspringen, können nicht imputirt werden, weil es nicht als eine Handlung angesehn werden kann, da ich das unterlaße, was ich nicht schuldig war zu thun“ (27:290). Doch es scheint Situationen zu geben, in denen die Hilfspflicht als enge Pflicht, also als unbedingte Verpflichtung, ausgelegt werden muss: Wenn ich als einzige Person beobachte, wie ein Kind in einem Teich zu ertrinken droht und ich in der Lage bin es zu retten, dann scheint es doch eine unbedingte Verpflichtung zu geben, ins Wasser zu springen und zu versuchen, das Kind zu retten. Wenn ich dies unterlasse, kann mir das zur Schuld zugerechnet werden, und auch die Folge, dass das Kind stirbt, ist mir zurechenbar – so lautet zumindest eine starke Intuition, die jedoch nicht mit Kants These vereinbar ist, dass jede Hilfeleistung eine verdienstliche Handlung ist, deren Unterlassung nicht zugerechnet werden kann. Die fehlende Möglichkeit, unterlassene Hilfeleistung zur Schuld zuzurechnen, wird allerdings nicht erst auf der Ebene der Folgenzurechnung relevant, sondern betrifft bereits sein System von Pflichten, und daher auch bereits die Zurechnung von Handlungen bzw. Unterlassungen zur Schuld. Es kann bereits die Unterlassung einer verdienstlichen Handlung nicht zugerechnet werden (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4.3), und schon allein deshalb auch ihre Folgen nicht. Die Kritik an dieser (vermeintlichen) Lücke in Kants Zurechnungsregeln für Folgen muss daher an
Zu den Vertretern der Ansicht, dass es solche engen Hilfspflichten geben sollte, gehören Hill (Hill 1994, 161, Anm. 4) und Reath (Reath 2006, 255). Vgl. für diese Position im Kontext einer systematischen Untersuchung positiver Pflichten (Mieth 2012). Gegen diese Position argumentiert Timmermann (Timmermann 2008, 120 f.). Seines Erachtens entspricht Kants These, dass es keine engen Hilfspflichten gibt und somit entsprechende Unterlassungen nicht zur Schuld zugerechnet werden, unseren intuitiven Urteilen, da nur so die Unterscheidung zwischen Töten und unterlassener Hilfeleistung aufrecht erhalten werden kann (vgl. Timmermann 2008, 122).
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7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
einer anderen Stelle in seiner Moralphilosophie, der Konzeption von Hilfspflichten als weiter Pflichten, ansetzen. So lässt sich zusammenfassen: Kant zählt in der genannten Passage die Regeln für die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen auf, die für Recht und Ethik gelten. Die erste Regel, die sich auf schuldige Handlungen bezieht, betrifft das Recht und den Teil der Ethik, der sich mit vollkommenen Pflichten befasst. Schlimme Folgen betrachtet Kant nur für unrechtmäßige Handlungen, d. h. in Bezug auf die Verletzung enger (insbesondere Rechts‐) Pflichten, während gute Folgen verdienstlicher Handlungen, die weite Tugendpflichten erfüllen, nur in der Ethik zugerechnet werden können.
2. Das zugrundeliegende Prinzip der Folgenzurechnung Im Folgenden sollen die Bedingungen, unter denen Folgen nach Kant zurechenbar sind, aus den Regeln ermittelt werden, und es soll gezeigt werden, dass die vier Regeln auf ein zugrundeliegendes Prinzip zurückgeführt werden können. Rekapitulieren wir die vier Regeln: 1) Gute oder schlechte Folgen einer schuldigen (d. h. geschuldeten) Handlung, d. h. der Erfüllung einer Pflicht, werden nicht zugerechnet. 2) Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen Handlung werden nicht zugerechnet. 3) Schlechte Folgen einer unrechtmäßigen Handlung werden zugerechnet. 4) Gute Folgen einer verdienstlichen Handlung werden zugerechnet. Es lassen sich zwei Bedingungen für die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen ablesen: Als erste notwendige Bedingung gilt offenbar, dass die Handlung zur Tat zurechenbar sein muss, d. h. als transzendental freie Handlung einer Person gelten kann. Die Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen Handlung sind deshalb nicht zurechenbar, weil bereits die Unterlassung einer verdienstlichen Handlung nicht zurechenbar ist (vgl. Kapitel 1). Diese notwendige Bedingung ist unmittelbar einleuchtend: wenn die Handlung bzw. Unterlassung nicht zurechenbar ist, sind es erst recht nicht ihre Folgen. Die zweite notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit von Folgen, die sich extrahieren lässt, lautet: Es sind nur die Folgen solcher Handlungen zurechenbar, die zu Schuld oder Verdienst zugerechnet wurden. Da für die Zurechnung zu Schuld und Verdienst vorausgesetzt gesetzt werden muss, dass die Handlung zur Tat zurechenbar ist, impliziert die zweite notwendige Bedingung die erste. Dass nach Kant diese Bedingung erfüllt sein muss, ist daran erkennbar, dass die Folgen einer geschuldeten Handlung nicht als zurechenbar gelten. Doch diese Bedingung
2. Das zugrundeliegende Prinzip der Folgenzurechnung
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ist nicht so leicht einsichtig wie die erste: An Max Webers Einwand erkennt man, dass es erklärungsbedürftig ist, warum die Folgen einer geschuldeten Handlung nicht zurechenbar sein sollten (vgl. Abschnitt 5). Hier lässt sich festhalten, dass für Kant die Zurechenbarkeit der Handlung zu Schuld und Verdienst nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend dafür ist, dass überhaupt Folgen zugerechnet werden können, wobei allerdings die Unterscheidung zwischen guten und „schlimmen“ Folgen beachtet werden muss: Es sind nur die Folgen mit dem gleichen „moralischen Vorzeichen“ wie dem der Handlung zurechenbar, d. h. nur die negativen Folgen negativ bewerteter Handlungen und die positiven Folgen positiv bewerteter Handlungen. Die beiden notwendigen Bedingungen für die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen lauten also: (1) Die Handlung muss zu Schuld oder Verdienst zurechenbar sein. (2) Die Folgen müssen dasselbe „moralische Vorzeichen“ wie die Handlung besitzen. Diese beiden Bedingungen führen zu dem zugrundeliegenden Prinzip: Alle Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen einer zurechenbaren Handlung sind zurechenbar, es sei denn, die Handlung war obligatorisch. Überraschend ist, dass dieses Prinzip ohne den Verweis auf Vorhersehbarkeit oder Beabsichtigung der Folgen auskommt. Dass Kant Vorhersehbarkeit bewusst nicht als Kriterium genannt hat, wird auch in einer Reflexion zu Baumgartens Initia deutlich: „Die Gute folgen des Verdienstes, die wir auch nicht vorhersehn, und der Schuld können imputirt werden“ (R 6543, 19:63, H.v.m.). Kants Prinzip lässt sich als normatives Kriterium zur Bestimmung der Zurechenbarkeit von Folgen bezeichnen, denn die Zurechenbarkeit von Folgen hängt dem Prinzip zufolge allein vom normativen Status der Handlung ab.¹⁸⁷ Damit ist die Frage, welche Folgen zurechenbar sind, nur zu beantworten, nachdem bestimmt wurde, was die morali-
Das bemerken auch Byrd und Hruschka (Byrd/Hruschka 2010, 305), die in ihrer Analyse der Regeln zur Folgenzurechnung vor allem die Bezeichnungen „modus imputationis tollens“ und „modus imputationis ponens“ ernst nehmen. Sie meinen, dass dies nicht nur Namen sind, die Kant den Regeln gibt, sondern Aufforderungen, entsprechende Schlüsse zu vollziehen (Byrd/ Hruschka 2010, 303). Anhand der Schlüsse kommen sie zu dem Ergebnis, dass eine notwendige Bedingung für die Folgenzurechnung ist, dass die Handlung entweder schuldhaft oder verdienstlich ist. Zusammen mit der Einschränkung, dass bei schuldhaften Handlungen nur schlechte, bei verdienstlichen Handlungen nur gute Folgen zurechenbar sind, ergeben sich die hinreichenden Bedingungen für Folgenzurechnung (Byrd/Hruschka 2010, 305).
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7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
schen Verpflichtungen des Handelnden sind und wie die Handlung moralisch zu bewerten ist. Möchte man das Prinzip weiter erläutern und auf seine Plausibilität hin prüfen, stellen sich mehrere Fragen: Erstens: Kann es tatsächlich der Normalfall sein, dass Handlungsfolgen zurechenbar sind? Wie erklärt sich die weitere Einschränkung, dass nur Folgen mit dem gleichen moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zurechenbar sind? Es fragt sich in Bezug auf die dritte und vierte Regel, die alle Folgen pflichtwidriger und verdienstlicher Handlungen mit demselben moralischen Vorzeichen für zurechenbar erklären, ob hier nicht zu viele Folgen zurechenbar sind. Das Beispiel des menschenfreundlichen Lügners legt den Einwand nahe, dass man nicht für alle unvorhergesehenen schlechten Folgen pflichtwidriger Handlungen verantwortlich gemacht werden sollte. Zweitens: Warum bilden die Folgen obligatorischer Handlungen eine Ausnahme hinsichtlich der Zurechenbarkeit? In Bezug auf die erste Zurechnungsregel, die besagt, dass die Folgen obligatorischer Handlungen nicht zurechenbar sind, stellt sich die Frage, ob nach Kant hier nicht zu wenige Folgen zurechenbar sind. In Anlehnung an Max Webers Kritik der Gesinnungsethik besteht die Vermutung, dass die vorhersehbaren (und erst recht die intendierten) Folgen obligatorischer Handlungen zurechenbar sein müssten.
3. Die Zurechenbarkeit von Folgen als Normalfall In diesem Abschnitt soll nach einer Begründung dafür gefragt werden, warum die Zurechenbarkeit aller Folgen der Normalfall sein sollte. Dazu betrachten wir zunächst Kants berühmt-berüchtigtes Beispiel aus dem Menschenliebe-Aufsatz, das die Zurechenbarkeit aller schlechten Folgen gesetzwidriger Handlungen illustriert. Es wird sich zeigen, dass Kant auch in diesem Aufsatz keine Begründung für die Zurechenbarkeit von Folgen liefert. Im Anschluss werde ich Reaths Begründung kritisch diskutieren und schließlich einen eigenen Vorschlag unterbreiten. Dieser erfordert es, die Rolle des moralischen Zufalls bei der moralischen Bewertung der Person genauer zu betrachten. Im Menschenliebe-Aufsatz erklärt Kant Folgen für zurechenbar, die das Handeln Dritter (in Kants Beispiel: des Mörders) voraussetzen, das den eigenen Intentionen zuwider läuft.¹⁸⁸ Sucht man an der entsprechenden Stelle, wo Kant
Dies veranlasst Reath dazu, sogar an der Notwendigkeit der Bedingung zu zweifeln, dass zurechenbare Folgen immer kausal mit der Handlung zusammenhängen: „[O]utcomes may be
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behauptet, der Lügner könne als „Urheber des Todes“ angesehen werden (8:427), nach einer Begründung, warum diese unvorhersehbaren Folgen zugerechnet werden sollen, so findet man nur folgendes: „Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wusstest, gesagt: So wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die That verhindert worden“ (8:427). Diese Begründung erweckt den Anschein, als sollte der Verweis auf die Folgen vom Befolgen der Pflicht überzeugen – so, als wolle Kant sagen: Wenn du die Wahrheit sagst, kann es zu den von dir gewünschten Folgen kommen, deshalb solltest du die Wahrheit sagen. Daran irritiert, dass es nach einer konsequentialistischen Begründung der Pflicht klingt – als ergäbe die Abschätzung der möglichen Folgen, dass es in diesem Fall günstig wäre, die Wahrheit zu sagen. Doch dies ist nicht der Fall. Im Verlauf des Beispiels wird klar, dass Kant nur deswegen auf die möglichen guten Folgen der wahrhaftigen Aussage verweist, weil er sich auf die Perspektive eines solchen Akteurs einlässt, der glaubt, durch Abschätzung der Folgen zu seiner Handlungsentscheidung (der Lüge) kommen zu können. Die möglichen guten Folgen der wahrhaftigen Handlung sind genauso denkbar wie mögliche schlechte Folgen der Wahrhaftigkeit – Kant erwägt nämlich ebenfalls die Möglichkeit, dass die Wahrhaftigkeit zum Tod des Freundes führt, den er dann gleichermaßen als Zufall bezeichnet: „Es war bloß ein Zufall (casus), daß die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des Hauses schadete“ (8:428). Kant ist der Ansicht, dass die Folgen der betrachteten Handlung in jedem Fall – ob man der Pflicht nachkommt oder sie verletzt – nicht gewiss sind. Durch das Konstruieren von drei möglichen Ausgängen der Geschichte illustriert er, dass der Handelnde zwar über mögliche Folgen nachdenken, aber letztlich nicht wissen kann, was passiert. Er meint also nicht (wie es die oben genannte Begründung der Folgenzurechnung auf den ersten Blick nahelegt), dass die Befolgung der Pflicht vermutlich zu besseren Folgen führt, sondern möchte vielmehr plausibel machen, dass die Folgen sowohl mit der pflichtmäßigen als auch mit der pflichtwidrigen Handlung in ungewissem Zusammenhang stehen. Über Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Ausgänge denkt Kant jedoch nicht weiter nach. Gerade die Vernachlässigung der Wahrscheinlichkeitsüberlegung könnte man Kant als Versäumnis vorwerfen: Kant unterscheidet innerhalb der denkbaren Folgen nicht zwischen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Folgen. Deshalb kann er nicht berücksichtigen, dass der Tod des Freundes im Fall der
imputed of which one is not the cause (or the primary cause) in any ordinary sense“ (Reath 2006, 256). Doch die Bedingung, dass die Handlung eine Ursache des Ereignisses ist, muss notwendig erfüllt sein, damit man überhaupt von einer Folge sprechen kann.
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wahrhaftigen Aussage wahrscheinlich ist. Dies ist meines Erachtens ein Problem, da eine wahrscheinliche und deshalb erwartbare Folge in der normativ adäquaten Handlungsbeschreibung berücksichtigt werden müsste. Die wahrhaftige Aussage des Freundes ließe sich unter Berücksichtigung der erwartbaren Folge beschreiben als „die Verfolger des Freundes in ihrem Vorhaben unterstützen, den Freund zu töten“. Entsprechend würde sich die normative Bewertung der Handlung ändern. Die gegenteilige Handlung, „die Verfolger des Freundes in ihrem Vorhaben behindern, den Freund zu töten“, wäre erlaubt oder sogar geboten, sodass die (unwahrscheinlichen) schlechten Folgen nicht zurechenbar wären. Was Kants Ausklammerung der Wahrscheinlichkeitsabschätzung deutlich macht, ist seine deontologische Grundidee: Das einzige hinreichende Handlungskriterium liefern die moralischen Pflichten, die unabhängig von den Handlungsfolgen gelten, die in einer konkreten Situation denkbar sind. Da die Pflichten Kant zufolge a priori bestimmt werden können, gelten sie unabhängig von empirischen Zufälligkeiten unter allen Umständen. Keine Überlegung hinsichtlich möglicher Folgen kann eine notwendig geltende Handlungsanweisung durch die Pflicht in Frage stellen. Entsprechend unterscheidet Kant „(zufälligerweise) zu schaden“ und „überhaupt Unrecht zu thun“ (8:429): Durch die zufälligen Folgen entsteht entsprechend nur zufälliger Schaden, während durch die Verletzung der Pflicht (notwendigerweise) Unrecht getan wird. Von diesen beiden Möglichkeiten liegt nach Kant aber nur eine in der Macht der handelnden Person: Unrecht zu tun bzw. es zu vermeiden. Doch selbst wenn klar ist, dass die Person Unrecht getan hat, folgt daraus nicht ohne Weiteres, dass sie auch für die nicht-intendierten Folgen verantwortlich ist. Es stünde prinzipiell offen, diese Folgen als kontingent und nicht zurechenbar zu klassifizieren. Kant wählt jedoch nicht diesen Weg, sondern vertritt die Ansicht, dass bei pflichtwidrigen (ebenso wie bei verdienstlichen) freien Handlungen keine weitere Begründung erforderlich ist, um die Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen zurechnen zu können. So sagt er in der Religionsschrift: Man sagt zwar mit Recht: dem Menschen werden auch die aus seinen ehemaligen freien, aber gesetzwidrigen Handlungen entspringenden Folgen zugerechnet; dadurch aber will man nur sagen: man habe nicht nöthig, sich auf diese Ausflucht einzulassen und auszumachen, ob die letztern frei sein mögen, oder nicht, weil schon in der geständlich freien Handlung, die ihre Ursache war, hinreichender Grund der Zurechnung vorhanden ist (6:41, H.v.m.).
Hier betont Kant, dass die Freiheit der gesetzeswidrigen Handlung schon hinreichend dafür ist, Folgen zuzurechnen, und dass eine weitere Prüfung der Folgen hinsichtlich ihrer Kontingenz oder Vorhersehbarkeit einer „Ausflucht“ gleichkäme. Wenn die Person, wie Kant in der ersten Kritik sagt, als Urheber einer freien Handlung „ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen“ (A450/
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B478) ist, dann ist sie für die gesamte Reihe der Erscheinungen verantwortlich, wenn ihre Handlung schuldhaft oder verdienstlich war. Offenkundig meint Kant, dass keine weitere Begründung für die Zurechenbarkeit der Folgen angeführt werden muss, wenn die Handlung gesetzwidrig war. Doch die Frage, warum alle Folgen guter und schlechter Handlungen zurechenbar sein sollten, stellt sich durchaus. Im Folgenden möchte ich die Antwort von Reath darauf diskutieren und im Anschluss einen eigenen Vorschlag unterbreiten. Reath fragt nach dem „underlying rationale“ (Reath 2006, 257) von Kants Zurechnungsregeln und argumentiert dafür, dass die Zurechenbarkeit von Folgen davon abhängt, ob die Person auf eigene Verantwortung bzw. kraft „eigener Autorität“ gehandelt hat (Reath 2006, 258). Was Reath unter einer Handlung in „eigener Autorität“ versteht, wird klarer, wenn er erläutert, wann dies nicht der Fall ist: „The primary case of an agent who does not act freely is an agent who is subject to, and complies with, an authoritative requirement that leaves no latitude or discretion in how to act“ (ebd., H.v.m.). Als Beispiele für Handlungen, die keinen Spielraum lassen, nennt Reath Handlungen, die durch vollkommene moralische Pflichten, rechtliche Verträge oder legitime Befehle einer fremden Autorität vorgeschrieben werden. In diesen Fällen besitzt die Person keinen eigenen Ermessensspielraum, sondern ist verpflichtet, eine bestimmte Handlung auszuführen. Meines Erachtens ist die positive Begründung der Zurechenbarkeit von Folgen durch die Autorität des Handelnden oder seinen Spielraum beim Handeln irreführend, während das Fehlen eines Spielraums herangezogen werden kann, um die mangelnde Zurechenbarkeit der Folgen obligatorischer Handlungen zu erklären. Dass Reaths Rede von der Autorität des Handelnden mit anderen Annahmen in Kants Theorie konfligiert, erkennt man daran, dass nach Reath ein Akteur seine eigene Autorität nicht ausübt, wenn er nach dem Moralgesetz handelt. Reath bemerkt selbst, dass diese Konsequenz unpassend ist,wenn man Kants Begründung der moralischen Pflichten durch die Autonomie der Person bedenkt. Da nach Kant das Moralgesetz und damit die moralischen Pflichten als „selbstgegeben“ gelten, muss man auch sagen können, dass die Person eigene Autorität ausübt, indem sie dem selbstgegebenen Gesetz folgt. Reath meint, nach dem Moralgesetz zu handeln hieße, nicht aus eigener Autorität zu handeln, weil das Moralgesetz nicht durch die Akteure als Individuen gegeben sei. Daraus zieht er den Schluss, dass die Verantwortung für Folgen geschuldeter Handlungen entweder von allen moralischen Akteuren geteilt oder von gar keinem getragen werden muss (vgl. Reath 2006, 259, Anm. 16). Doch ist es zum einen unklar, was es heißen sollte, dass alle vernünftigen Wesen die Verantwortung für die Folgen meiner geschuldeten Handlung tragen sollten; zum anderen müsste dies konsequenter Weise auch für die Handlungen, die nach dem Moralgesetz geschehen, gelten. Doch dies ist sicher nicht der Fall: Wenn eine Person nach dem Moralgesetz
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handelt, ist sie selbst (und nicht entweder alle vernünftigen Wesen oder niemand) für die Handlung verantwortlich. Ebenfalls fraglich ist, ob der Spielraum, so wie Reath ihn versteht, die Zurechenbarkeit von Folgen begründen kann. Laut Reath gibt es zwei Arten von Handlungen, die in dem Sinn frei sind, dass die Person einen Spielraum besitzt, nämlich Handlungen gegen eine vollkommene moralische Pflicht und verdienstliche Handlungen (vgl. Reath 2006, 259). Tatsächlich sind dies Fälle, bei denen Kant die Folgen für zurechenbar hält. Doch der normative Spielraum ist bei pflichtwidrigen Handlungen ein anderer als bei verdienstlichen: Bei verdienstlichen Handlung hat die Person insofern einen normativen Spielraum („latitudo“, 6:390), als sie die Handlung unter bestimmten Umständen ausführen kann oder unterlassen darf. Doch im Fall von pflichtwidrigen Handlungen nimmt sich die Person faktisch einen Spielraum, der ihr normativ nicht zusteht: sie hätte die pflichtwidrige Handlung unterlassen sollen. Für verdienstliche Handlungen gilt, dass die Person die Handlung ausführen oder unterlassen darf, während sie eine pflichtwidrige Handlung unterlassen muss. Demnach besitzt also die Person in Bezug auf die pflichtwidrige Handlung keinen normativen Spielraum, weil ihr ja eindeutig vorgeschrieben ist, dass sie die Handlung unterlassen muss. Darin unterscheidet sich die pflichtwidrige nicht von der geschuldeten Handlung, die die Person ausführen muss und insofern ebenfalls keinen normativen Spielraum hat. Allerdings stellt sich die Situation retrospektiv für pflichtwidrige und pflichtmäßige Handlung anders dar: Nur in Bezug auf die pflichtwidrige Handlung lässt sich sagen, dass die Person anders hätte handeln dürfen (weil sie die Handlung hätte unterlassen müssen) – sie hat sich faktisch einen Spielraum genommen, der ihr normativ nicht zustand. Reath scheint den Spielraum bei der verdienstlichen und der pflichtwidrigen Handlung als gleich zu betrachten, lässt dann jedoch in seinem weiteren Vorgehen die Zurechnungsregeln für Folgen verdienstlicher Handlungen außer Betracht (vgl. Reath 2006, 265, Anm. 2). Der beschriebene Unterschied des Spielraums bei verdienstlichen und pflichtwidrigen Handlungen lässt es fraglich scheinen, ob der Verweis auf einen Spielraum wirklich die Zurechenbarkeit der Folgen begründen kann. Vielmehr scheint es so, dass nur im Fall obligatorischer Handlungen der Verweis auf den mangelnden normativen Spielraum erklärt, warum die Folgen nicht zurechenbar sind – die Person hätte sie nicht vermeiden können, da sie die Handlung ausführen musste. Meines Erachtens lässt sich Kants Schweigen zur Begründung für die Zurechenbarkeit von Folgen ernst nehmen: Dahinter steckt die Überzeugung, dass Zurechenbarkeit von Folgen der Normalfall sein sollte. Dies lässt sich als Ausdruck der Tatsache verstehen, dass wir als Handelnde zu den Folgen unseres Handelns in einem anderen Verhältnis stehen, als zu Ereignissen, die nichts mit unserem
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Handeln zu tun haben. Die Verantwortung für nicht-intendierte Folgen ist eine Anerkennung des Umstands, dass unser Handeln ein Bewirken in der empirischen Welt ist, und damit Ereignisse in Gang setzt, die nach Naturgesetzen ablaufen. Handeln zieht notwendigerweise Ereignisse nach sich, die nicht durch unsere Intentionen kontrolliert werden und in diesem Sinne zufällig sind. Die Grundidee (die Kant allerdings durch weitere Einschränkung erst plausibel werden lässt) ist, dass unbeabsichtigte Handlungsfolgen Ausdruck unserer Handlungsfähigkeit sind, wenn auch ein weniger direkter Ausdruck als beabsichtigte Folgen. Mit dem absichtlichen Handeln entstehen unvermeidlich auch nicht-absichtliche Folgen. Diese als zurechenbar zu betrachten, ist eine Weise, den vollen Umfang der eigenen Wirkungsweise in der Welt anzuerkennen. Diese Grundidee liegt Bernhard Williams’ These in seinem Aufsatz „Moral Luck“ zugrunde, dass es eine Art von „Wahnsinn“ wäre, wenn wir uns ganz von den nicht beabsichtigten Konsequenzen unseres Handelns distanzieren würden (vgl. Williams 1981, 29). Als Grund dafür nennt er, dass die Geschichte jedes Handelnden ein Netz ist, in dem jeder Ausdruck des Willens umgeben, gestützt und teilweise geformt wird von unwillentlichen Ereignissen. Wir stehen vor der Alternative, die Reichweite von Verantwortung (und Zurechnung) entweder eng zu fassen und nur auf absichtliche Handlungen zu beziehen (dann wäre Verantwortung nach Williams jedoch nur ein „oberflächlicher Begriff“), oder weiter zu verstehen, indem wir Verantwortung nicht ganz von Zufall zu „reinigen“ versuchen: [I]f one attaches importance to the sense of what one is in terms of what one has done and what in the world one is responsible for, one must accept much that makes its claim on that sense solely in virtue of its being actual (Williams 1981, 29 f.).
Williams’ Überlegung, die dazu führt, Verantwortung auf nicht-absichtliche Folgen auszudehnen, kann zwar helfen, eine Grundidee von Kants Regeln zur Folgenzurechnung auszubuchstabieren. Allerdings trifft sie auf Kants Regeln nur unter Einschränkungen zu: Erstens hält Kant nur Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung für zurechenbar, d. h. nur die guten Folgen guter und die schlechten Folgen schlechter Handlungen. Diese Einschränkung verlangt nach einer Erklärung, die ich im Folgenden mit der Frage verknüpfen möchte, inwieweit Kants Zurechnungsregeln implizieren, dass die moralische Bewertung des Handelnden vom Zufall abhängt. Dieser Diskussion muss die Behandlung einer grundlegenden Frage vorausgehen: Geht es bei den Zurechnungsregeln für Folgen überhaupt um die Zurechnung zu Schuld und Verdienst? Zweitens hält Kant die Zurechnung nicht-intendierter Folgen nur dann für zurechenbar, wenn die Handlung verdienstlich oder schuldhaft war. Die Diskus-
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sion in Abschnitt 5 wird zeigen, dass die Folgen obligatorischer Handlungen eine Ausnahme der Zurechenbarkeit darstellen, weil der Handelnde sie nicht durch die Unterlassung der Handlung hätte vermeiden können. Dadurch ist ausgeschlossen, dass ein guter Wille durch unbeabsichtigte schlechte Folgen als schlecht bewertet werden könnte.
4. Schuld, Täterbedauern und die Rolle des moralischen Zufalls Ein Motiv dafür, die Zurechnung von Folgen nicht als Normalfall zu sehen, wäre, die Zurechnung zu Schuld und Verdienst von Zufall frei halten zu wollen. Doch haben Kants Zurechnungsregeln überhaupt Implikationen für Schuld oder Verdienst der handelnden Person? Wenn man dies bejaht, hätte dies die überraschende Konsequenz, dass der moralische Wert der Akteure nach Kant nicht nur von ihrer Gesinnung, sondern auch von den – teils unvorhergesehenen – Folgen ihrer Handlungen abhängt. Diese These lehnt Hill ab (vgl. Hill 1994, 163) und führt dafür ein Beispiel zur Illustration an: Angenommen, zwei Personen werfen beide je einen Felsblock von einer Autobahnbrücke, beide mit der Intention, Autofahrer umzubringen, doch nur der Fels der zweiten Person trifft tatsächlich ein Auto und tötet den Fahrer. Rechtlich befinden sich die beiden Personen in unterschiedlichen Situationen, denn nur die zweite kann wegen Mordes angeklagt werden. Die ethische Zurechnung vor dem Gewissen jeder Person sollte jedoch in beiden Fällen dasselbe Ergebnis liefern: unerachtet der tatsächlichen Folgen der Handlung sind beide schuldig; der relevante Beurteilungsgegenstand sind ihre Maximen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass man zwischen den tatsächlichen und den intendierten Handlungsfolgen unterscheiden muss. Tatsächliche und intendierte Folgen können auf zwei Weisen auseinanderfallen: Intendierte Folgen können nicht eintreten (wie in dem Beispiel) oder tatsächliche Folgen können nicht-intendiert sein. Hill weist zu Recht darauf hin, dass die Maximen der beiden Personen dieselbe moralische Qualität besitzen. Dies liegt daran, dass die Maxime auch Auskunft über die intendierten Handlungsfolgen gibt, hier die Intention, Autofahrer zu töten. Ob diese Folgen dann auch tatsächlich eintreten, ist insofern kontingent, als sich die Welt nicht notwendig nach den Absichten der Handelnden richtet. In unserem Beispiel ist es Zufall – in dem Sinn, dass die gelungene oder fehlende Übereinstimmung des Ereignisses mit der Intention des Handelnden seiner Kontrolle entzogen ist¹⁸⁹ – dass der Fels der ersten Person ein Auto trifft,
Nimmt man die Perspektive der naturkausalen Erklärung nach deterministischen Naturgesetzen ein, ist das Ereignis nicht zufällig. Den Begriff des Zufalls verstehe ich demnach als
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während der Fels der zweiten sein Ziel verfehlt. Der schlechte Wille der zweiten Person wird jedoch nicht dadurch gut oder besser, dass die intendierte Handlungsfolge zufällig nicht eintritt. Hills Beispiel lässt jedoch noch offen, wie mit tatsächlich eingetretenen, nicht-intendierten Handlungsfolgen umzugehen ist. Thomas Hill möchte zwischen schlimmen Konsequenzen der eigenen Handlungen unterscheiden, die zurechenbar sind, und solchen, für die man überdies Tadel verdient (Hill 1994, 163 f.). Dass eine Folge einer Person zurechenbar ist, heißt ihm zufolge nur, dass die Person für die Folgen ihrer Tat haften, d. h. für den Schaden aufkommen muss. Der Kantische Text lässt insofern diese Interpretation zu, als Kant nicht ausdrücklich von der Zurechnung der Folgen „zu Schuld und Verdienst“ spricht und die Unterscheidung zwischen Zurechnung zur Tat und Zurechnung zu Schuld und Verdienst (vgl. Kapitel 1) die Möglichkeit offen hält, dass die Zurechnung von Folgen nicht automatisch bedeutet, dass die Person für die Folgen auch moralisch getadelt oder gelobt werden kann. Allerdings legt der Kontext der Passage – Überlegungen zu Schuld und Verdienst – nahe, dass es auch bei der Folgenzurechnung um Schuld und Verdienst geht (vgl. 6:227 f.). Zudem zeigt Kants Beispiel in der Metaphysik der Sitten, dass er die Handlungsfolgen für moralisch zur Schuld zurechenbar hält: Dort stellt er fest, dass „die Schuld (nach ethischen Grundsätzen)“ für die Folgen auf den Handelnden fällt (6:431). Doch auch wenn es Kants Ansicht sein sollte, dass Folgen zu Schuld und Verdienst zurechenbar sind, ist diese These mit Blick auf andere Annahmen in Kants Theorie problematisch. Im Folgenden werde ich diese Schwierigkeiten darstellen und zum Ergebnis kommen, dass Folgen nach Kant in einem anderen bzw. schwächeren Sinn zur Schuld (und zu Verdienst) zurechenbar sein müssten. Der Handelnde trägt für sie mehr Verantwortung als für natürliche Ereignisse, die keine Folgen seiner Handlungen sind, aber weniger Verantwortung als für seine absichtlichen Handlungen. Wenn diese Überlegung zutrifft, müsste eine zweite (schwächere) Art von moralischer Schuld eingeführt werden, was Kant zwar nicht explizit tut, jedoch auch nicht ausschließt. Ein Hinweis darauf, dass Handlungsfolgen anders zu bewerten sind als absichtliche Handlungen, liegt bereits darin, dass es nach Kantischen Kategorien nicht klar ist, wonach sich bemisst, ob etwas eine „gute“ oder „schlimme“ Folge ist.¹⁹⁰ In der Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet Kant die Kategorien „Gut
kontextabhängig: Was aus der einen Perspektive (der Naturerklärung) nicht zufällig ist, kann aus der Perspektive des Handelnden und seiner Intentionen zufällig sein. Der einzige Interpret, der sich mit dieser Frage auseinandersetzt, ist Hill, der die Möglichkeit betrachtet, dass gute oder schlechte Folgen solche sind, die eine Person begrüßt oder als unerwünscht bezeichnet, doch er verwirft diesen Vorschlag als zu sehr von persönlichem Geschmack abhängig (Hill 1994, 165). Er schlägt vor, schlechte Folgen als solche zu verstehen, die
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und Böse“ von denen des „Wohl oder Übel“ (vgl. 5:59 f.). Gut und böse sind Kategorien, mit denen Handlungen in ihrer „Beziehung auf den Willen“ (5:60) bewertet werden. Schlechthin gut oder böse kann „nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein“ (5:60). Doch wenn die in Frage stehende Folge nicht aufgrund einer Maxime geschieht, sondern ein nicht-intendiertes Ereignis ist, das durch die Handlung verursacht wird, kann das Bewertungskriterium der Maxime auf die Handlungsfolgen nicht angewendet werden. In diesem Fall bleibt nur die zweite Bewertungskategorie: Wohl oder Übel bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, des Vergnügens und Schmerzens, und wenn wir darum ein Object begehren oder verabscheuen, so geschieht es nur, so fern es auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird (5:60).
Gemäß dieser Kategorien wären Folgen gut oder schlimm, insofern sie einem Subjekt Lust oder Schmerz bereiteten. Wenn es allerdings um die rechtliche Zurechnung zur Schuld gehen soll, die möglicherweise Strafe nach sich zieht, dürfen die schlechten Folgen nicht rein subjektiv bestimmt werden, sondern müssen es solche sein, die ein einklagbares Recht einer Person verletzen und intersubjektiv feststellbar sind (z. B. Körperverletzung, Geldschaden). Gute Folgen einer ethisch verdienstlichen Handlung könnten analog dazu als solche bestimmt werden, die eine ethische Pflicht erfüllen, z. B. die Glückseligkeit anderer befördern. Damit wäre zwar die positive Bewertung der Folgen an den Lustgewinn einer Person gebunden, aber zum einen nicht auf unmittelbaren Lustgewinn beschränkt (es kann sich auch um die Beförderung eines rationalen Interesses handeln, welches erst auf lange Sicht Befriedigung verschafft) und zum anderen dadurch beschränkt, dass die Folgen nur dann als „gut“ gelten können, wenn sie ein moralisch erlaubtes Ziel befördern. Auf diese Weise lässt sich zwar die Frage beantworten, was als gute und schlimme Folge zählt, aber es wird auch deutlich, dass nicht-intendierte Folgen, anders als gute oder böse Handlungen, nicht „auf den Willen“ (5:60) bezogen sind und deshalb ihre Bewertung streng genommen keine Bewertung der Person impliziert – und daraus ließe sich schließen: auch nicht zu Schuld oder Verdienst zurechenbar sind.
dem erlaubten Interesse eines rationalen Akteurs widersprechen, wobei es sich jedoch auch um ein Interesse handeln kann, das ganz individuell ist und von keinem sonstigen rationalen Akteur geteilt wird.
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Ich möchte einem Hinweis von Reath folgen, der die Ansicht äußert, dass nach Kant die Zurechnung von Folgen Schuld oder Verdienst, die der Person bereits aufgrund der Handlung zukommen,vergrößert (vgl. auch Timmermann 2008, 122). Reath schreibt: „[I] will assume that he [Kant, CB] has in mind a kind of evaluative judgment that attributes either actions or their consequences to an agent in a way that is to the agent’s credit or demerit“ (Reath 2006, 253). Reath unterscheidet allerdings insofern zwischen der Zurechnung von Handlungen und Folgen, als erstere die Bewertung des Charakters der Person bedeutet, während letztere eine Bewertung des Unterschieds ist, die man durch seine Entscheidungen im Weltlauf verursacht hat (vgl. Reath 2006, ebd.). Kant selbst steht es offen, zwischen einer zurechenbaren absichtlichen und einer zurechenbaren unabsichtlichen Folge zu unterscheiden. Dies ist im unmittelbaren Kontext der Regeln für Folgenzurechnung zwar nicht ersichtlich, doch nur wenige Seiten zuvor in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant eine „unvorsetzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann“, die er „bloße Verschuldung (culpa)“ nennt, von einer „vorsetzliche[n] […], welche mit dem Bewußtsein, daß sie Übertretung sei, verbunden ist)“, die er als „Verbrechen (dolus)“ bezeichnet (6:224). Diese Charakterisierung trifft streng genommen nicht auf Folgen zu, da eine Übertretung eine „pflichtwidrige That“ (6:224), also eine freie Handlung, ist. Wenn zwischen vorsätzlichen und unvorsätzlichen Handlungen hinsichtlich der Zurechnung unterschieden werden kann, gilt dies jedoch plausibler Weise auch für Folgen: Beabsichtigte Folgen sind in anderer Weise zurechenbar als unbeabsichtigte. Der Unterschied in der Zurechnung ist bei vorsätzlichen und unvorsätzlichen Handlungen groß, denn nur erstere können bestraft werden. Zwar sagt Kant, dass „[d]er rechtliche Effekt einer Verschuldung […] die Strafe (poena)“ ist (6:227), doch nur für Verbrechen, also vorsätzliche Übertretungen (nicht „bloße“ Verschuldungen) gilt, dass ein „Recht des Befehlshabers“ besteht, den Übeltäter „wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz [nämlich Strafe, CB] zu belegen“ (6:331). An die Überlegung, dass sich vorsätzliche und unvorsätzliche schlechte Folgen hinsichtlich ihrer Zurechnung bzw. der Folgen der Zurechnung unterscheiden, schließt sich natürlich die Frage an, wie sich dieser Unterschied ausdrückt. Was heißt es, dass eine schlechte Folge zurechenbar ist, wenn nicht, dass sie in rechtlicher Hinsicht strafbar bzw. in ethischer Hinsicht, wie eine böse Handlung, tadelnswert ist? Kant äußert sich zu diesem Unterschied leider nicht. Wenn es einen solchen Unterschied gibt, dann sollte der Grad der Zurechnung für unabsichtliche Folgen in irgendeiner Weise geringer sein als der für absichtliche. In ethischer Hinsicht wäre meines Erachtens Williams’ Konzeption von „agent-regret“ oder „Täterbedauern“ ein vielversprechender Kandidat (Williams 1981, 27 f.), um den Ausdruck der Zurechnung zu charakterisieren. Diese Art des
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Bedauerns enthält nach Williams im Kern den Gedanken „es wäre besser gewesen, wäre das nicht passiert“, und ist wesentlich auf eigene Handlungen bezogen bzw. auf Folgen eigener Handlungen: „It can extend far beyond what one intentionally did to almost anything for which one was causally responsible in virtue of something one intentionally did“ (Williams 1981, 28). In Williams’ bekanntem Beispiel ist Täterbedauern die angemessene Reaktion eines Lastwagenfahrers, der ohne eigenes Verschulden ein Kind überfährt. Kant fasst den Skopus des angemessenen Bedauerns, wie gesagt, enger, indem er nur die Folgen von Verschuldungen, und nicht von erlaubten Handlungen, betrachtet. Um beim Beispiel des Lastwagenfahrers zu bleiben: Wenn der Lastwagenfahrer zu schnell gefahren wäre und (unbeabsichtigt) ein Kind überfahren hätte, wäre ihm die Folge (der Tod des Kindes) zurechenbar und dies würde in ethischer Hinsicht heißen: wäre Täterbedauern eine normativ angemessene Reaktion. In Verbindung mit Reaths Vorschlag ließe sich sagen: Objekt der Bewertung bei der Zurechnung von unbeabsichtigten Folgen ist nicht der Charakter der Person, sondern die Ereignisse (die aber als Handlungsfolgen, nicht als bloß natürliche Ereignisse betrachtet werden); die Zurechnung erfolgt nicht im vollen Sinne zur Schuld, sodass nicht dieselben Schuldgefühle wie bei freien, unmoralischen Handlungen angemessen sind, sondern eine schwächere Form, die man mit Williams „Täterbedauern“ nennen könnte. Während Täterbedauern eine emotionale Reaktion als Folge einer Selbstzurechnung ist, ließen sich auch intersubjektive Ausdrucksformen der Zurechnung unbeabsichtigter Folgen denken, wie moralische „Haftung“ im Sinne des Versuchs einer Wiedergutmachung, Ausdruck des Bedauerns, Linderung der Verletzung oder Ähnlichem.¹⁹¹ Bei diesem Vorschlag muss allerdings beachtet werden, dass Kant selbst neben der moralischen Schuld keine Bewertungskategorie einführt, die dem Täterbedauern entsprechen würde, sondern ansgesichts seiner Beispiele die Annahme naheliegt, dass die Zurechnung von Folgen tatsächlich zu Schuld und Verdienst erfolgt. Dies untergräbt seine deontologische Grundidee zumindest ein Stück weit: Die Bewertung der Person hinge dann nicht nur von ihren Maximen ab, sondern auch teilweise von kontingenten Handlungsfolgen.
Vgl. zu solch intersubjektiven Ausdrucksformen (allerdings nicht in Bezug auf die Kantische Theorie) Lotter 2012, 139 ff. Diese Überlegungen sind nicht leicht auf rechtliche Zurechnung zu übertragen, wie Williams selbst bemerkt (vgl. Williams 1981, 30, Fußnote 2). Das Recht sieht differenzierte Regeln für die Zurechnung von Folgen vor, die mit unterschiedlichem Strafmaß einhergehen. Sicherlich ist die rechtliche Zurechnung von Folgen aufgrund der – verglichen mit dem Ausdruck ethischer Zurechnung wie Täterbedauern – gravierenden Auswirkungen mit mehr Vorsicht vorzunehmen als die Zurechnung im ethischen Kontext.
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Bislang ist die Frage offen geblieben, warum nach Kants Zurechnungsregeln nur Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zurechenbar sind. Kant spricht in seiner dritten Zurechnungsregel nur von „schlimmen“ Folgen und lässt daher die Frage offen, wie mit den (unerwarteten) guten Folgen einer unrechtmäßigen Handlung umzugehen ist. Bereits Pufendorf kritisiert die Idee, einer Person die nicht-intendierten guten Folgen einer unrechtmäßigen Handlung zuzurechnen: In seinem Beispiel möchte ein Mann einen anderen durch einen Schuss töten. Unerwarteter Weise dringt jedoch die Kugel so in den Körper des Opfers ein, dass dadurch (nur) ein lebensbedrohlicher Tumor zerstört wird und das Opfer nicht nur den Schuss überlebt, sondern ihm sogar dadurch das Leben gerettet wird.¹⁹² Nach Pufendorf wäre es unplausibel, dem Handelnden die guten Folgen – die Rettung des Mannes – zuzurechnen. Im Fall der verdienstlichen Handlung stellt sich die analoge Frage: Auch hier spricht Kant ausdrücklich nur von der Zurechnung der guten Folgen und erwähnt mögliche schlimme Nebenfolgen nicht. Wenn beispielsweise eine Person eine andere vor dem Ertrinken rettet, und die gerettete Person später zum Massenmörder wird – lässt sich dann diese schlimme Folge dem Retter zurechnen? Dies erscheint unplausibel (vgl. zu diesem Beispiel Byrd/Hruschka 2010, 305 f.).¹⁹³ Wenn das zutrifft, weist das darauf hin, dass nur die Folgen mit demselben „moralischen Vorzeichen“ wie die zugrundeliegende Handlung zugerechnet werden, d. h. die schlimmen Folgen der unrechtmäßigen und die guten Folgen der verdienstlichen Handlung. Tatsächlich scheint es einen Grund zu geben, warum Kant nur von schlimmen Folgen schuldhafter Handlungen und von guten Folgen verdienstlicher Handlungen spricht: Würden auch die (nicht-intendierten) Folgen mit entgegengesetztem Vorzeichen zugerechnet, hinge die Zurechnung zu sehr vom Zufall ab. Wenn man davon ausgeht, dass nach Kant die Handlungsfolgen zu Schuld oder Verdienst zurechenbar sind, bedeutet dies, wie gesagt, eine Schwächung der deontologischen Grundidee, dass die Bewertung der Person nur von ihren Maximen, nicht dem zufälligen Erfolg in der Welt abhängt: Schuld oder Verdienst können gemäß der Zurechnungsregeln durch Zurechnung von Folgen „vermehrt“ werden. Das bedeutet, dass Kant den Einfluss einer bestimmten Art von moralischem Zufallsglück bei der Bewertung der Person zulässt (so auch Timmermann 2008, 123): Die Folgen unserer Handlungen unterstehen oft nicht der eigenen
Das Beispiel führen Byrd und Hruschka an (Byrd/Hruschka 2010, 302) und nennen als Quelle Pufendorf (Pufendorf: De Jure Naturae et Gentium I/IX/§4). Auch Hill und Timmermann haben die Intuition, dass schlimme Folgen verdienstlicher Handlungen nicht zurechenbar sind (Hill 1994, 166, Anm. 12, Timmermann 2008, 122).
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Kontrolle und entsprechen nicht den eigenen Absichten.¹⁹⁴ Doch auch die Folgen mit entgegengesetztem Vorzeichen für zurechenbar zu erklären, hieße, dem Zufall einen weit größeren Einfluss auf die Bewertung der Person zuzugestehen: Wären gute Folgen einer schlechten Handlung zurechenbar, könnte auf diese Weise eine negative Bewertung der Person durch eine positive Folge ausgeglichen werden und umgekehrt. Nur dann, wenn lediglich die Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zugerechnet werden dürfen, ist zumindest ein solcher fragwürdiger „Ausgleich“ bei der Bewertung der Person garantiert. Es ergibt sich also einerseits, dass Kant eine Art von Zufallsglück bei der Bewertung der Person zulässt, indem Schuld und Verdienst durch Zurechnung der Folgen vergrößert werden können, dass aber andererseits der Einfluss des Zufalls dadurch beschränkt wird, dass nur Folgen mit gleichem moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zurechenbar sind, sodass Schuld und Verdienst nicht ausgeglichen werden können.¹⁹⁵
5. Die Nicht-Zurechenbarkeit von Folgen obligatorischer Handlungen Im letzten Abschnitt wurden Einschränkungen des Prinzips diskutiert, das die Zurechenbarkeit von Folgen zum Normalfall erklärt: Zum einen könnte man Kant so verstehen, dass die Zurechnung von Folgen keine Aussage über Schuld und die Bewertung des Charakters macht, sondern die Handlungsfolgen als unvorsätzliche Folgen der Handlung zurechnet, sodass nur „Täterbedauern“ angemessen ist.
Nagel unterscheidet in seinem Aufsatz „Moral Luck“ (Deutsch: „Glück gehabt! Zufall als moralisches Problem“) zwischen vier Arten von moralischem Zufall: Konstitutiver Zufall hinsichtlich der Frage, welchen Charakter und Fähigkeiten man hat, Zufall in Bezug auf die Umstände, in denen man sich befindet, Zufall hinsichtlich der Ursachen und Zufall hinsichtlich der Wirkungen von Handlungen (vgl. Nagel 1984, 42 f.). Während Kant meint, dass eine Person unabhängig von ihrem Charakter, den Handlungsumständen und der Vorgeschichte der Handlung immer moralisch handeln kann und insofern ihr Wille unabhängig von diesen Faktoren gut oder böse ist, lässt er hinsichtlich der letzten Kategorie, des Zufalls in den Handlungsfolgen, zu, dass die moralische Bewertung der Person dadurch verändert wird. Unerwähnt lässt Kant die guten oder schlimmen Folgen bloß erlaubter Handlungen. Werden nur die Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zugerechnet, ergibt sich daraus, dass gute und schlechte Folgen erlaubter Handlungen nicht zurechenbar sind, „neutrale“ Folgen jedoch schon. Hill vermutet zwar, dass Kant die schlimmen Folgen einer bloß erlaubten Handlung wie Eis zu essen, mit Freunden ein Spiel zu spielen oder ein Buch zu lesen nicht für zurechenbar halten würde, aber es ist unklar, worauf sich diese Vermutung gründet (Hill 1994, 161, Anm. 5). In Abschnitt 5 nehme ich diesen Punkt kurz wieder auf.
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Selbst wenn Kants eigene These wahrscheinlich stärker verstanden werden muss, begrenzt er die Rolle moralischen Zufalls bei der Zurechnung zu Schuld und Verdienst dadurch, dass er nur Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung für zurechenbar hält. In diesem Abschnitt soll eine weitere Einschränkung diskutiert werden: Die erste Zurechnungsregel besagt, dass die Folgen geschuldeter, d. h. obligatorischer Handlungen ein Ausnahmefall von der Zurechenbarkeit sind. Gegen diese Regel lässt sich einwenden, dass sie eine zu leichte Entschuldigung bietet: Eine Person könnte behaupten, nur ihre Pflicht getan zu haben und auf diese Weise die Verantwortung für schlechte Folgen von sich weisen. Das ist in den Fällen unbefriedigend, in denen vom Akteur verlangt werden kann, dass er die schlechten Folgen bei seiner Handlungsentscheidung hätte mit bedenken und die Entscheidung auch im Lichte dieser Folgen hätte treffen müssen. Der Person ist in einer solchen Situation vorwerfbar, dass sie ihre Handlung unangemessener Weise als eine geschuldete Handlung darstellt, da die Handlungsbeschreibung schon auf die schlechten Folgen Bezug nehmen müsste. Wenn er intendierte oder vorhersehbare negative Folgen bei der Handlungsbeschreibung nicht beachtet, kann ihm vorgeworfen werden, dass er seine Handlung normativ inadäquat beschreibt. Die erste Zurechnungsregel ist demnach nicht dem Einwand der zu leichten Entschuldigung ausgesetzt, aber ihre Anwendung erfordert eine normativ adäquate Handlungsbeschreibung. Die normativ adäquate Abgrenzung der Handlung von ihren Folgen ist nicht trivial, wenn man bedenkt, dass in jede Handlungsbeschreibung grundsätzlich immer weitere kausale Folgen mit einbezogen werden können. Ein und dieselbe Handlung kann beispielsweise als Anzünden eines Streichholzes, Anzünden eines Holzbalkens oder als Brandstiftung beschrieben werden. In Abhängigkeit von der Beschreibung wird das Brennen des Hauses als Teil der Handlung selbst (des Brandstiftens) oder als deren (möglicherweise unintendierte) Folge (der Handlung des Streichholzanzündens) gesehen. Eine naheliegende Möglichkeit, zu einer normativ adäquaten Handlungsbeschreibung zu gelangen, ist, auf die Absicht des Handelnden Bezug zu nehmen: Intendierte Folgen müssen in die Handlungsbeschreibung aufgenommen werden, nicht beabsichtigte Folgen jedoch nicht. Nach Kant lässt sich die intendierte Folge einer Handlung als ihr verwirklichter Zweck verstehen. Ein Zweck ist „ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck“ (6:384 f.). Eine Person entscheidet sich demgemäß zu einer Handlung, um einen bestimmten Gegenstand, den Zweck, zu realisieren. Es ist also sinnvoll, den Zweck der Handlung in der Handlungsbeschreibung zu nennen (z. B. die Handlung
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„Brotbacken“ zu nennen, insofern sie zum Zweck hat, ein Brot zu verwirklichen), da durch den Zweck die Handlung wesentlich charakterisiert wird. Es stellt sich die Frage, ob die Handlungsbeschreibung, die Bezug auf den Zweck als intendierte Folge nimmt, in dem Sinn normativ adäquat ist, dass die erste Zurechnungsregel dadurch plausibel wird. Tatsächlich ist es einleuchtend, dass intendierte Handlungen und intendierte Folgen zurechenbar sind. Intendierte Handlungen und Folgen sind insofern die „eigenen“ der Person, als sie diese gewollt hat, während dies für nicht-intendierte Folgen nicht gilt. So darf die Zurechenbarkeit von intendierten Folgen nicht durch die erste Zurechnungsregel ausgeschlossen werden. Dies wiederum bedeutet, dass intendierte Folgen mit in die Handlungsbeschreibung aufgenommen werden müssen. Doch ist es nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung für eine adäquate Handlungsbeschreibung, dass in sie die Intention eingeht? Das erscheint fraglich, wenn man bedenkt, dass Folgen erwartbar sein und in Kauf genommen werden können, auch wenn der Akteur die Handlung nicht mit der positiven Absicht ausführt, die Folgen zu verwirklichen. Um ein Beispiel von Anscombe aufzugreifen:Wenn ein Mann vergiftetes Wasser in ein Haus pumpt, das den Bewohnern als Trinkwasser dient und weiß, dass das Wasser vergiftet ist, würde man ihn kaum für schuldfrei erklären, wenn er behauptete, er habe doch nur seine Pflicht getan, das Wasser zu pumpen – dabei habe er zwar gewusst, dass das Wasser vergiftet war und somit zum Tod der Bewohner führen würde, aber es sei ihm egal gewesen, ob das Wasser jemanden vergiftet oder nicht (vgl. Anscombe 1957, 70). Die normativ adäquate Handlungsbeschreibung lautet in dem Fall nicht „Wasser pumpen“, sondern „die Bewohner vergiften“. Dieses Beispiel macht deutlich, dass nicht nur die intendierten, sondern auch die erwarteten – eventuell sogar die erwartbaren –, normativ relevanten Folgen einer Handlung mit in die Handlungsbeschreibung aufgenommen werden müssen – eine Frage, zu der sich Kant nicht äußert. Welche Handlungsfolgen neben den intendierten Folgen mit in die Handlungsbeschreibung aufgenommen werden müssen, damit diese adäquat ist, lässt sich nicht anhand eines objektiven Kriteriums beantworten.Vielmehr ist es für die Urteilskraft eine ebenso schwierige Aufgabe, die normativ adäquate Handlungsbeschreibung zu finden, wie das Bestimmen der normativ adäquaten Formulierung der Maxime, die durch den kategorischen Imperativ geprüft werden soll.¹⁹⁶ Nicht nur die Berücksichtigung der normativ relevanten Handlungsfolgen ist für Das Problem der normativ adäquaten Beschreibung von Handlungen und Maximen diskutiert Herman (Herman 1993, v. a. 73 – 93). Ihr zufolge braucht man „rules of moral salience“ als Regeln, die es erlauben, die moralisch relevanten Eigenschaften einer Situation zu erkennen (vgl. Herman 1993, 77).
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die adäquate Handlungsbeschreibung bzw. Formulierung der Maxime wichtig, sondern auch die Berücksichtigung von Handlungsmotiven und der „Art und Weise“ des Handelns. Wenn ein Lehrer einen schlechten Schüler zu Recht tadelt, lässt sich das als erlaubte (oder sogar geforderte) Handlung sehen, aber wenn er dies in einer demütigenden Weise tut, kann man nicht mehr sagen, dass es dem entspricht, was die „Pflicht“ fordert.¹⁹⁷ Die vorangegangenen Überlegungen zeigen einen Weg auf, wie Kant Max Webers Vorwurf an die Gesinnungsethiker zurückweisen könnte, der im Kern lautete, dass sich Gesinnungsethiker mit dem Hinweis darauf, doch recht getan zu haben, von aller Folgenverantwortung lossagen wollen. Kant kann dem Vorwurf entgegnen, dass normativ relevante Folgen – insbesondere die intendierten Folgen – in die Handlungsbeschreibung aufgenommen werden müssen, und sie deshalb auch zurechenbar sind. Auch Folgen, die vorhersehbar und erwartbar sind, so könnte eine Kantische Position lauten, müssen bereits bei der Handlungsbeschreibung berücksichtigt werden, um eine Handlung überhaupt als obligatorisch zu charakterisieren. Eine gesinnungsethische Grundintuition gibt Kant jedoch nicht auf: Wenn ein Akteur die normativ relevanten Folgen bei seiner Handlungsentscheidung mitbedacht hat und diese Handlung auch angesichts dieser Folgen als obligatorisch gelten kann, dann hat er alles getan, was in seiner Verantwortung steht, und es wäre ungerecht, ihn für die weiteren, nicht beabsichtigten und nicht erwartbaren Folgen dieser Handlung zur Verantwortung zu ziehen. Als Begründung dieser These lässt sich eine Überlegung heranziehen, die Kant im Menschenliebe-Aufsatz äußert. Dort erläutert er, warum die nicht-intendierten Folgen einer schuldigen Handlung – im dort behandelten Beispiel der wahrhaftigen Aussage – nicht zurechenbar sind: „Denn Jener [der Handelnde, CB] ist hierin [in der wahrhaftigen Aussage, CB] gar nicht frei, um zu wählen: weil die Wahrhaftigkeit (wenn er einmal sprechen muß) unbedingte Pflicht ist“ (8:428, H.v.m.). Es fehlt der Person bei obligatorischen Handlungen eine Wahlfreiheit, die sich als normativer Spielraum verstehen lässt, die die Zurechenbarkeit der Folgen ausschließt: Sie durfte die Handlung nicht unterlassen. In Bezug auf schlechte Folgen beruht diese Begründung auf der Idee der Vermeidbarkeit: Man kann nur dann für etwas Schlechtes verantwortlich gemacht werden, wenn man es hätte vermeiden können. Diese Idee nennt Kant in Bezug auf pflichtwidrige Handlungen in der Kritik der praktischen Vernunft, wo er es als
Dieses Beispiel stammt von Hill, der ebenfalls darauf hinweist, dass die Plausibilität von Kants erster Zurechnungsregel davon abhängt, dass die entsprechende Handlung bzw. Maxime adäquat beschrieben wird (Hill 1994, 169).
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Voraussetzung für ihre Zurechenbarkeit bezeichnet, „daß sie hat unterbleiben können“ (5:95). Es liegt die Annahme nahe, dass für schlechte Folgen dasselbe gilt. Da die Folgen nicht direkt unter der Kontrolle des Handelnden stehen, können sie nur indirekt beeinflusst werden: Der Handelnde kann die Folge vermeiden, indem er die Handlung unterlässt.¹⁹⁸ Notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit einer schlechten Folge ist demnach, dass die Person die Handlung hätte unterlassen dürfen.¹⁹⁹ Diese Bedingung ist für Folgen obligatorischer Handlungen nicht erfüllt, und dies ist der Grund, warum sie nach Kant nicht zurechenbar sind. Die Nicht-Zurechenbarkeit der Folgen obligatorischer Handlungen ist in Einklang mit der eingangs thematisierten deontologischen Grundidee Kants, dass der gute Wille „allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut“ ist (4:394). Die Zurechnung von Folgen kann nach Kant niemals dazu führen, dass ein Wille, der durch sein Wollen gut ist, durch negative Folgen im Nachhinein schlechter bewertet wird.²⁰⁰ Die erste Zurechnungsregel ist insbesondere in Fällen einleuchtend, in denen ein Handelnder tatsächlich alles in seiner Macht Stehende getan hat, um das Gute zu erreichen, und trotzdem ein schlechtes Ergebnis erzielt. Die Regel dient demnach dem Schutz des Akteurs, der auf der Basis der verfügbaren Informationen nach dem Moralgesetz als hinreichendem Handlungsgrund ge Betrachtet man das entsprechende Ereignis nicht als Handlungsfolge, sondern als bloßes Ereignis (z. B. den Tod einer Person auf der Straße), ist ein Szenario denkbar, in dem die Handlung nicht notwendig für sein Eintreten war, z. B. wenn es sich um einen Herzinfarktpatienten handelt, bei dem sich just in dem Moment ein Infarkt anbahnte, als das Auto ihn anfuhr. Man kann demnach nicht im allgemeinen sagen, dass eine Person ein bestimmtes Ereignis, das eine Folge ihrer Handlung ist, vermeiden könnte, indem sie die Handlung unterlässt. Doch sie kann durch Unterlassen der Handlung vermeiden, dass das Ereignis eine Handlungsfolge ist, sodass es ihr nicht zugerechnet werden kann. Natürlich muss auch die Bedingung erfüllt sein, dass die Person die Handlung hätte unterlassen können, d. h., dass sie von den faktischen, nicht den normativen, Bedingungen nicht daran gehindert wird. Diese Bedingung sehe ich jedoch als bereits erfüllt an, insofern die Handlung zur Tat zurechenbar, d. h. frei ist. Insofern eine Person handlungsfähig war, hätte sie – zumindest faktisch – die Handlung auch unterlassen können. Reath nennt eine ähnliche Bedingung der Vermeidbarkeit der Folgen: „We commonly hold that a basic condition of holding an agent accountable, either for an action or for its consequences, is that the agent have the ability in the relevant circumstances to refrain from that action (or the action that leads to the undesirable consequences)“ (Reath 2006, 262). Reath geht es allerdings um die Fähigkeit des Handelnden, die Handlung zu unterlassen (bzw. seine Fähigkeit zu erkennen, dass es moralische Gründe gegen die Handlung gibt und dementsprechend zu handeln), während ich mich auf die normative Eigenschaft der Handlung beziehe, dass jemand ihre Ausführung hätte unterlassen dürfen. Dazu muss natürlich gelten, dass nicht nur die (schlechten) Folgen obligatorischer Handlungen und die schlechten Folgen guter Handlungen nicht zurechenbar sind, sondern auch nicht die schlechten Folgen erlaubter Handlungen.
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handelt hat. Wenn man jedoch die Perspektive des Akteurs verlässt und den entstandenen Schaden betrachtet, stellt sich die Frage, wie mit diesem umgegangen werden sollte. Nach Kants erster Zurechnungsregel entsteht eine „Zurechnungslücke“, sodass niemand für einen so entstandenen Schaden verantwortlich zu machen ist. In der Realität ist jedoch oft die Behebung des Schadens praktisch notwendig. Da liegt es nahe, zunächst an den Verursacher zu denken: Wer den Schaden durch sein Handeln verursacht hat, auch wenn das Handeln nicht schuldhaft war, ist in besonderer Weise für dessen Beseitigung verantwortlich – sicherlich stärker als ein Dritter, der mit der Entstehung des Schadens nichts zu tun hat.²⁰¹ Doch Kants Regel lässt sich insofern verteidigen, als dem Verursacher kein moralischer Vorwurf gemacht werden kann, d. h. der Schaden ihm nicht moralisch zurechenbar ist, weil er die Handlung nicht hätte unterlassen dürfen und er somit keinen Einfluss darauf hatte, die Folgen zu vermeiden.
6. Eine weitere Einschränkung: Der normative Zusammenhang von Folge und Handlung Einige Interpreten plädieren dafür, dass die Menge der zurechenbaren Folgen über die bisher diskutierten Vorschläge hinaus eingeschränkt werden sollte. Es erscheint ihnen unhaltbar, dass völlig unvorhersehbare Folgen oder solche Folgen, die vom unbeeinflussbaren Handeln Dritter abhängen, zurechenbar sein sollen. Timmermann liefert folgendes Beispiel für diese Intuition: „[I]f I rescue someone who twenty years later develops a drug that cures thousands, can I really be said to have any share in that, and should these patients be grateful to me as a result?“ (Timmermann 2008, 123) In dem Beispiel ist es das Handeln Dritter (die Entwicklung eines Medikaments), das für die Folgen (die Rettung tausender Patienten),verantwortlich zu sein scheint. Gleichwohl ist es richtig, dass es sich bei der positiven Folge auch um eine Folge der Handlung (der Rettung des Forschers) handelt, denn: Wäre der Forscher nicht gerettet worden, hätte er nicht das Medikament entwickelt, und dann wären die Patienten nicht geheilt worden. Angezweifelt werden kann lediglich, dass die Rettung tausender Patienten zum Verdienst der Person zurechnen lässt, die viele Jahre zuvor dem Forscher das Leben gerettet hat. So fasst Hill zusammen:
In diesem Sinne macht Hill den Vorschlag ein „moralisches Analogon“ zur „strict liability“ einzuführen: Der Verursacher würde zwar für den Schaden haften, aber diese Haftung müsse man von Schuldvorwürfen trennen (Hill 1994, 172).
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When an effect is completely unintended and unforeseeable, utterly beyond what any reasonable person could anticipate, and when in addition it depends on the voluntary choices of other responsible agents, it may be too incidental and remote for moral sensibility to count it as the agent’s fault or responsibility (Hill 1994, 173).²⁰²
Folgt man meiner auf Williams’ Beitrag beruhenden Interpretation, ist es nicht per se unplausibel, unvorhersehbare Folgen absichtlicher Handlungen für zurechenbar zu halten, da dies die Tatsache anerkennt, dass mit absichtlichem Handeln notwendigerweise unbeabsichtigte Effekte eintreten, die jedoch mit dem Handelnden in einem engeren Zusammenhang stehen, als Ereignisse, die keine Wirkung eigener absichtlicher Handlung sind. Dennoch könnte man den Punkt, den Hill und Timmermann problematisch finden, mit einem Vorschlag zu klären versuchen, der von Reath unterbreitet wurde und den ich im Folgenden etwas weiterführen möchte. Es lässt sich zwischen solchen unvorhersehbaren Folgen unterscheiden, die bloß aufgrund der epistemischen Beschränkungen der handelnden Person nicht vorhersehbar waren und solchen, die darüber hinaus in keinem normativen Zusammenhang mit der Pflicht stehen, die durch die Handlung verletzt wird. Kant würde wohl in Bezug auf beide auf deren Zurechenbarkeit bestehen, doch lässt sich meines Erachtens eine Einschränkung der Kantischen Zurechnungsregeln in Bezug auf letztere besser verteidigen. Unvorhersehbare Folgen, die der ersten Klasse angehören, liegen im folgenden Beispiel eines Autounfalls vor. Angenommen, ein Autofahrer fährt in einer vermeintlich menschenleeren Gegend mitten in der Nacht viel zu schnell. Plötzlich läuft ihm eine Person vor das Auto, die ihn wegen schlechter Sichtverhältnisse nicht hatte kommen sehen. Nehmen wir weiterhin an, dass sehr viele, für sich genommen unwahrscheinliche notwendige Bedingungen zusammenkommen mussten, damit der Unfall passiert: Die schlechten Sichtverhältnisse, die Anwesenheit des Fußgängers mitten in der Nacht in einer menschenleeren Gegend etc. Insbesondere letzteres hatte der Autofahrer nicht vorhersehen können. Dann sind die Handlungsfolgen, der Unfall und der Tod der Person, für ihn aufgrund seiner epistemischen Beschränkungen unvorhersehbar. Doch kann er sich mit der Un Auch Reath stellt in Frage, dass unvorhersehbare Konsequenzen einer Handlung zurechenbar sein sollen, doch er verteidigt dies auch ein Stück weit: „Had I acted as I ought, the bad outcome would not have occurred. But since the bad outcome was a consequence of my choice – a choice which in the circumstances I had compelling reason to and was able to refrain from – I must view it as part of the difference that my exercise of my agency has made to the world.“ (Reath 2006, 261, H.v.m.) Das kritisiert Timmermann: „Even if there is always a decisive reason to refrain from an immoral act, this reason is – ex hypothesi – not connected with the unforeseen consequences of the wrongful action“ (Timmermann 2008, 123).
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wahrscheinlichkeit und Unvorhersehbarkeit des Unfalls nicht herausreden: Weil er zu schnell gefahren ist, werden ihm der Unfall und der Tod der Person zugerechnet. Wäre er innerhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung geblieben und wäre es gleichwohl zum Unfall gekommen, sähe die Lage anders aus: der Autofahrer hätte alles normativ von ihm Verlangte getan, um keinen Unfall zu verursachen, sodass dieser nur dem unglücklichen Zufall anzulasten wäre. Entscheidend in diesem Beispiel ist, dass das zu schnelle Fahren eine Ursache des Unfalls ist, die in normativer Hinsicht besonders relevant ist. Im Gegensatz zu den anderen notwendigen Bedingungen ist die Handlung eine, die der Akteur vollständig unter Kontrolle hatte: Er hätte sie unterlassen können und sollen. So wird die Plausibilität der Kantischen Idee deutlich: Egal, was es sonst noch für notwendige Bedingungen gab – der Akteur hat durch seine Handlung eine Ursache als notwendige Bedingung des Ereignisses hinzugefügt, die er hätte unterlassen sollen. Man sieht, dass Kants Rigorismus – die These, dass es absolute Pflichten gibt, die keine Ausnahmen dulden – und die Regel von der Zurechenbarkeit aller Folgen unrechtmäßiger Handlungen Hand in Hand gehen. Durch das Beispiel wird die Plausibilität der Zurechnungsregel für unvorhersehbare Folgen verdeutlicht, aber es ist kein Zufall, dass in dem Beispiel eine Handlung (die Straßenverkehrsordnung zu verletzen) mit einer Folge (einem Unfall) verknüpft ist, die in einem engen normativen Zusammenhang stehen: Die Straßenverkehrsordnung und die entsprechenden Pflichten existieren, um Unfälle zu vermeiden. Die Handlung des Autofahrers, zu schnell zu fahren, ist nicht nur die einzige normativ relevante Bedingung im Sinne einer normativ als schlecht bewerteten Bedingung. Darüber hinaus ist sie auch in besonderer Weise für das Eintreten dieser Folge normativ relevant. Die Straßenverkehrsordnung sollte gerade deshalb eingehalten werden, um Unfälle zu vermeiden. Genau dieser Zusammenhang fehlt im Beispiel der menschenfreundlichen Lüge. Zwar ist die Lüge insofern ein normativ relevantes Glied in einer Reihe von notwendigen Bedingungen, die zum Mord an dem Freund führen, als sie ein normativ bewertbares Verhalten ist (das Weglaufen des Freundes beispielsweise ist das nicht). Doch eine Lüge ist keine Handlung, die deshalb unterlassen werden sollte, weil sonst Folgen dieser Art, nämlich Morde, passieren können. Das ist es, was das Beispiel der menschenfreundlichen Lüge in Hinsicht auf die Zurechnungsregel (wobei der Rigorismus bezüglich der Wahrhaftigkeitspflicht ausgeklammert wird) unplausibel macht. Im Anschluss an diese Überlegungen ließe sich verallgemeinern: Es sind diejenigen (unvorhersehbaren) Handlungsfolgen zurechenbar, die mit der ver-
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letzten Pflicht in einem normativ relevanten Zusammenhang stehen, z. B. weil die Pflicht darin begründet ist, Ereignisse diesen Typs zu vermeiden.²⁰³ Es stellt sich die Frage, ob Kant diesen Zusatz akzeptieren könnte. Steht die Begründung der Pflichten bei Kant in Zusammenhang mit typischen Ereignissen, die durch das Einhalten der Pflicht vermieden werden sollen? Klar ist, dass Kants oberstes Prinzip der Moral, der kategorische Imperativ, „nicht bloß unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen, sondern schlechterdings nothwendig gelten müsse“ (4:408). Um die Gültigkeit des kategorischen Imperativs einzusehen, bedarf es Kant zufolge überhaupt keiner empirischen Überlegungen und somit auch keiner Überlegungen bezüglich möglicher Folgen. Der kategorische Imperativ schreibt ein Prüfkriterium für Handlungen vor, das die Verallgemeinerbarkeit der zugrundeliegenden Maxime verlangt, ohne dabei auf mögliche Folgen Bezug zu nehmen. Doch wie gelangt Kant zur Begründung konkreter Pflichten? Spielt auf dieser Ebene der Bezug auf typische Folgen von Handlungen eine Rolle? Um den Inhalt der Pflichten aufzufinden, betrachtet Kant nicht einzelne Handlungen und deren typische Folgen. Vielmehr erweist sich eine Handlung als pflichtwidrig und die gegenteilige Handlung bzw. Unterlassung entsprechend als geboten, wenn die Maxime in ihrer verallgemeinerten Form kein allgemeines Gesetz abgeben könnte, weil dies zu einem Widerspruch führt. Um die Rolle von möglichen Folgen einschätzen zu können, müssen die beiden Weisen betrachtet werden, wie nach Kant ein Widerspruch zustande kommen kann: Weil die Maxime nicht als allgemeines Gesetz gedacht oder gewollt werden kann (vgl. 4:424). Nach Kant zeigt der Widerspruch im Denken, dass eine enge Pflicht verletzt wurde, während der Widerspruch im Wollen darauf hinweist, dass eine weite Pflicht übertreten wurde (ebd.). Das bedeutet, dass nur der Widerspruch im Denken relevant ist, wenn wir uns fragen, ob typische Folgen eine Rolle bei der Pflichtbegründung spielen, denn Kants Zurechnungsregel bezieht sich auf die Verletzung enger Pflichten. Doch bei der Begründung enger Pflichten verfolgt Kant offenbar nicht die Idee, typische Folgen zu bedenken und daraus eine Pflicht abzuleiten. Der Widerspruch im Denken hat – zumindest Kants Anspruch nach – nichts mit der Betrachtung typischer Folgen zu tun. So führt er den Denkwiderspruch im Falle der Lüge bzw. des falschen Versprechens folgendermaßen vor:
So schlägt auch Reath vor: „It would seem that the imputation of bad consequences by Kant’s principles should be limited along the following lines: an outcome resulting from a violation of duty is imputable to an agent when the requirement under which the agent stands provides a reason to act in ways that will standardly, or under normal circumstances, prevent or avoid (not result in) outcomes of that general kind“ (Reath 2006, 264).
7. Fazit
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Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne,was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten,würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde (4:422).
Kant spielt hier auf einen Widerspruch an, der nicht durch typische Folgen eines falschen Versprechens (z. B. Nachteile desjenigen, dem man das Versprechen gegeben hat, darauf folgender Vertrauensverlust etc.) zustande kommt. Vielmehr geht es darum, sich die Folgen vor Augen zu halten, die eintreten würden,wenn die Maxime universelles Gesetz wäre; in diesem Fall also die Vernichtung des Kommunikationsakts des Versprechens, weil niemandem mehr Glauben geschenkt werden könnte. Das sind jedoch Folgen, die bei einem einzelnen gebrochenen Versprechen niemals eintreten würden. So können wir nun die Ausgangsfrage – ob Kant sagen kann, es seien die Folgen einer pflichtwidrigen Handlung zurechenbar, die zur Begründung der übertretenen Pflicht herangezogen werden können – beantworten: Kant steht diese These nicht zur Verfügung, weil seine Begründung enger Pflichten nicht auf mögliche Folgen einer pflichtwidrigen Handlung Bezug nimmt, sondern auf die Folgen der Annahme, die Maxime sei ein allgemeines Naturgesetz.
7. Fazit Das zentrale Problem der Zurechenbarkeit der Handlungsfolgen im Rahmen der Theorie Kants besteht darin, dass moralische Zurechenbarkeit nach Kant transzendentale Freiheit notwendig voraussetzt. Nicht-intendierte Handlungsfolgen gehen jedoch nicht direkt auf den freien Willen der Person zurück und sollten deshalb nach Kant nicht moralisch zurechenbar sein – Kant formuliert aber sehr wohl Zurechnungsregeln für nicht-intendierte Folgen. Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, ist, Kants Regeln zur Folgenzurechnung lediglich als Regeln für rechtliche Zurechenbarkeit zu verstehen. Damit ließe sich zwar einerseits das genannte Problem umgehen, doch andererseits würde es Kants Anspruch nicht gerecht werden, die Zurechnungsregeln in der gemeinsamen Einleitung zu Rechts- und Tugendlehre für beide Bereiche zu etablieren, wie auch an seinen Beispielen – wie der Zurechnung von Schuld für nicht-intendierte Folgen vor dem eigenen Gewissen (vgl. 6:431) – deutlich wird. Deshalb sollten meines Erachtens Kants Zurechnungsregeln auch als Regeln für ethische Zurechnung verstanden werden. Das Prinzip, das Kants Zurechnungsregeln zugrunde liegt, lautet: Alle
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7. Kapitel: Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen
Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen einer zurechenbaren Handlung sind zurechenbar, es sei denn, die Handlung war obligatorisch. Nach Kant ist die Zurechenbarkeit von Folgen freier Handlungen der Normalfall („Alle Folgen … sind zurechenbar …“). Kant rückt insofern nicht von der Position ab, transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechenbarkeit zu sehen, als die Handlung, deren Folgen betrachtet werden, transzendental frei sein muss: Wenn die Person als transzendental freier Urheber einer Handlung „ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen“ (A450/B478) ist, dann ist sie normalerweise für die gesamte Reihe der Erscheinungen verantwortlich. Hier stellt sich die Frage, ob es um Zurechenbarkeit zu Schuld oder Verdienst oder um eine schwächere Art der Zurechenbarkeit geht. Kant selbst scheint die erste, stärkere Alternative im Blick gehabt zu haben. Unter anderem auf der Basis von Bernhard Williams’ Beitrag in „Moral Luck“ argumentiere ich für die schwächere Variante, derzufolge bei nicht-intendierten Folgen schlechter Handlungen nicht dieselben Schuldgefühle angemessen sind, wie bei freien bösen Handlungen, sondern nur „Täterbedauern“. Intersubjektiv ließe sich eine solche Zurechnung als moralische „Haftung“ im Sinne des Versuchs einer Wiedergutmachung, Ausdruck des Bedauerns, Linderung der Verletzung oder Ähnlichem verstehen. Die Unterschiede in der angemessenen Reaktion (Schuldgefühle versus Täterbedauern) entsprechen der unterschiedlichen Zurechnung: Eine vorsätzliche Handlung bzw. Handlungsfolge wird anders (stärker) zur Schuld zugerechnet als eine unvorsätzliche. Diese Abschwächung der Zurechnung zur Schuld macht es plausibler, die Zurechenbarkeit von Folgen als Normalfall zu sehen. Darüber hinaus gewinnt die Regel durch die Berücksichtigung von Ausnahmen an Überzeugungskraft: Zum einen sind nur die Folgen mit demselben moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zurechenbar, zum anderen sind die Folgen obligatorischer Handlungen nicht zurechenbar, da die Handlung nicht unterlassen werden durfte und somit die Folgen nicht verhindert werden konnten.
8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt In diesem Kapitel soll die Kantische Konzeption der Person als Zurechnungssubjekt rekonstruiert und entwickelt werden. Kant lässt in der Definition der Zurechnung offen, welche Wesen als Zurechnungssubjekte gelten. Es heißt, „Zurechung (imputatio) in moralischer Bedeutung“ sei „das Urtheil, wodurch jemand als Urheber“ einer Handlung angesehen werde (6:227, H.v.m.). Anhand von Kants Definition der Person in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten wird deutlich, dass mit „jemand“ insbesondere eine Person gemeint ist, denn Kant bezeichnet die Person als „dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ (6:223). Zurechnungsfähigkeit ist damit für Kant nicht nur eine beliebige Eigenschaft, sondern definierendes Merkmal einer Person, das diese von einer „Sache“ unterscheidet, die „keiner Zurechnung fähig ist“ (6:223). Der Begriff der Person lässt sich in Hinblick auf verschiedene Fragestellungen untersuchen: Erstens kann der moralische Status von Personen im Mittelpunkt des Interesses stehen – Personen sind Träger von Rechten und Pflichten und zeichnen sich nach Kant durch eine spezielle Würde aus. Zweitens stellt sich die Frage nach den Bedingungen von Personalität: Was sind die wesentlichen Merkmale von Personen und welche Wesen gehören zum Kreis der Personen? Schließlich lässt sich fragen, inwiefern wir es mit einem einheitlichen Zurechnungssubjekt zu tun haben. Diese Frage kann sich sowohl auf synchrone als auch auf diachone Einheit beziehen: Eine Person besitzt eine sinnliche und eine vernünftige Seite. Auf welche Weise werden diese verschiedenen Aspekte zu einer Einheit verbunden, sodass die Person zum Zeitpunkt der Handlung oder der Zurechnung eine Einheit bildet? Das ist die Frage nach der Einheit der Person zu einem Zeitpunkt, d. h. ihrer synchronen Einheit. Die Frage nach der diachronen Identität ist die Frage, was eine Person zu derselben durch die Zeit hindurch macht. Im Folgenden klammere ich die Diskussion des moralischen Status von Personen aus, um die anderen Fragen mit Blick auf die Zurechnungsproblematik zu beantworten. Kant äußert sich in seiner praktischen Philosophie nicht ausdrücklich zu diesen Themen. Deshalb besteht die Herausforderung, eine Antwort zu rekonstruieren, die implizit in Kants praktischer Philosophie enthalten bzw. mit dieser vereinbar ist. Zwei Überlegungen lassen sich vorausschicken, die diese Untersuchung leiten und motivieren. Die erste betrifft die synchrone Einheit der Person. Es ist bereits eine notwendige Bedingung deutlich geworden, die ein Zurechnungssubjekt erfüllen muss: Da eine zurechenbare Handlung eine solche ist, die „unter Gesetzen steht“ (6:227), und Kant damit moralische Gesetze meint, müssen Personen Wesen sein, für die moralische Gesetze gelten. Hand in Hand damit geht, dass Personen einen autonomen Willen besitzen: Autonomie ist gerade die Fähigkeit, nach dem
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
selbstgegebenen Moralgesetz handeln zu können, das heißt, zurechnungsfähige Personen müssen moralischen Gesetzen folgen können und insofern unbedingt frei sein. Diese Eigenschaften machen (im engeren Sinn)²⁰⁴ den „intelligiblen“ oder „noumenalen“ Aspekt von Personen aus. Doch menschliche Personen sind auch empirische, sinnliche Wesen, die auch pflichtwidrige Handlungen vollziehen. Diese moralisch schlechten Handlungen können wir nun weder dem Menschen als bloß empirisch-sinnlichem Wesen zurechnen (denn ein solches wäre nicht zurechnungsfähig), noch der rein vernünftigen Person, da diese keine moralisch schlechte Handlung ausgeführt hätte. Man muss demnach das Zurechnungssubjekt als Wesen sehen, das beide Aspekte, den vernünftigen und den sinnlichen, integriert, d. h. zum Zeitpunkt einer Handlung (also „synchron“) eine Einheit bildet. Die zweite Überlegung soll die Relevanz der diachronen Identität für Zurechnung verdeutlichen, indem sie auf den retrospektiven Charakter der Zurechnung hinweist. Zugerechnet werden können nur Handlungen, die schon geschehen sind. Daher müssen wir die Person zum Zeitpunkt, zu dem wir ihr die Handlung zurechnen wollen, als dieselbe Person wie diejenige betrachten, die die Handlung in der Vergangenheit vollzogen hat. Hierbei scheint nicht nur die körperliche Identität der Person eine Rolle zu spielen. Vielmehr setzt ein moralisches Zurechnungsurteil (zumindest implizit) voraus, dass wir die vergangene Handlung als Ausdruck von etwas ansehen, das in der Gegenwart noch vorhanden ist. Andernfalls wäre die gegenwärtige Person gar nicht der richtige Adressat, um auf die vergangene Handlung angesprochen zu werden. Es liegt die Annahme nahe, dass Handlungen etwas über die praktischen Einstellungen der Person verraten, die zeitlich relativ stabil sind. Diese praktischen Einstellungen schlagen sich laut Kant in den Maximen einer Person nieder: Maximen sind Handlungsregeln, die das Subjekt wählt, um festzulegen, wie es in Situationen bestimmten Typs generell – und das heißt auch: wenn solche Situationen zukünftig wiederkehren – handeln möchte. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass Maximen eine zentrale Rolle bei der Konzeption des Zurechnungssubjekts und seiner diachronen Identität spielen.
Vgl. dazu Kapitel 2, wo argumentiert wird, dass transzendentale Freiheit im weiteren Sinn auch eine Eigenschaft bloß zweckrationaler Wesen sein könnte. Doch um ein moralisches Zurechnungssubjekt sein zu können, muss die Person nach moralischen Gesetzen – und das heißt bei Kant: dem kategorischen Imperativ – handeln können und insofern autonom sein.
1. Mensch und Menschheit, Person und Persönlichkeit
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1. Mensch und Menschheit, Person und Persönlichkeit Kant differenziert zwischen „Mensch“ und „Menschheit“ einerseits, und zwischen „Person“ und „Persönlichkeit“ andererseits. Die Betrachtung dieser begrifflichen Unterscheidungen soll im Folgenden als erste Annäherung dazu dienen, verschiedene Aspekte der Person zu beleuchten. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Kant die beiden Begriffspaare – Person und Persönlichkeit, Mensch und Menschheit – analog zueinander verwendet: Der erste Begriff bezeichnet das „Ganze“, das eine Person bzw. ein Mensch ist, ohne zwischen verschiedenen Aspekten, wie Sinnlichkeit oder Vernunft, zu unterscheiden. Der zweite Begriff greift nur einen bestimmten Aspekt heraus, und zwar den der Vernünftigkeit des Menschen bzw. der Person. Kant identifiziert die Vernünftigkeit, die „Intelligenz“ mit dem „eigentlichen Selbst“ des Menschen (vgl. 4:457 und 4:461). Dementsprechend ist es zutreffend zu sagen, dass die Menschheit das ist, was den Menschen „eigentlich“ zum Menschen macht, und Persönlichkeit das, was die Person „eigentlich“ zur Person macht. Kants Anthropologie ist eine reiche Quelle, um etwas über seinen Begriff des Menschen zu erfahren. Er wird dort charakterisiert als ein „seiner Species nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen“ (7:119), d. h. sowohl als ein natürliches Wesen („Erdwesen“), auch auch als Wesen mit Vernunftbegabung und Freiheit. Es bleibt hier jedoch offen, wie Kant die Vernunftbegabung des Menschen versteht: Ist der Mensch als Gegenstand der Anthropologie ein Wesen mit reiner praktischer oder bloß empirisch praktischer Vernunft? Die Schwierigkeit dieser Frage spiegelt den problematischen Status der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wider:²⁰⁵ Einerseits ist sie im Wesentlichen eine empirische Untersuchung, die die menschlichen Vermögen (Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen) und natürliche Eigenschaften (Naturell, Temperament und Geschlecht) auf Grundlage der empirischen Psychologie erklärt. Die daraus folgenden Erkenntnisse sollen pragmatischen Wert haben, indem sie dem klugen Umgang mit sich selbst und anderen Menschen zuträglich sind. Die Vernunftbegabung bräuchte für diese Zwecke also nur empirisch-praktisch verstanden zu werden. Doch die Anthropologie schließt mit einer Betrachtung der moralischen Anlage des Menschen und dessen „Bestimmung“ durch seine Vernunft, sich „zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch sein thierischer Hang sein mag“ (7:324). Demnach scheint Kant in der Anthropologie dem Menschen über Frierson diskutiert verschiedene mögliche Bedeutungen von „pragmatisch“ und die damit verbundene Frage, ob Kants Anthropologie nur empirisch oder auch moralisch relevant ist (vgl. Frierson 2003, 50 ff.). Er kommt zu dem Schluss, dass Kants pragmatische Anthropologie sich zwar nicht auf moralische Aspekte beschränkt, diese jedoch umfasst.
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die empirisch-praktische Vernunft hinaus noch ein moralisch-praktisches Vernunftvermögen zuzusprechen, und verweist in diesem Zusammenhang auf die Begriffe der Menschheit und der Person (vgl. 7:324). Kants in der Anthropologie nur an wenigen Stellen explizite Annahme, dass der Mensch neben der empirischpraktischen auch reine praktische Vernunft besitzt, steht in der Kritik der praktischen Vernunft im Mittelpunkt: Dort bezeichnet Kant den Menschen einerseits als „bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört“ (5:61), dessen Vernunft für die zweckrationale Befriedigung der Neigungen sorgt, und andererseits auch als Wesen, das „reine, sinnlich gar nicht interessirte Vernunft“ (5:62) besitzt, dank derer er weiß, „was an sich gut oder böse ist“ und hält ihn für ein Wesen, das dieses Wissen um das Gute „zur obersten Bedingung“ seines Handelns machen soll (5:62). Wenn Kant die Eigenschaften, Naturwesen zu sein und reine, moralischpraktische Vernunft zu besitzen, kontrastieren möchte, verwendet er den Begriff des Menschen auch in einem engeren Sinn, nämlich bloß als biologisches Gattungswesen. So zum Beispiel in der Metaphysik der Sitten, wenn er sagt, man könne den Menschen auf zwei Weisen betrachten, „erstlich als Sinnenwesen, d.i. als Mensch (zu einer der Thierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen […], welches […] sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen […] erkennen läßt“ (6:418). Der Begriff der Menschheit bezieht sich im Gegensatz zum Begriff des Menschen (in der engeren und weiteren Bedeutung) ausschließlich auf den Aspekt der Vernünftigkeit. Kant bezeichnet damit, anders als im heutigen Alltagssprachgebrauch üblich, nur sehr selten die Gesamtheit aller Menschen, die gegenwärtig leben oder gelebt haben (vgl. zu diesem Gebrauch z. B. 9:36). In der Hauptsache identifiziert Kant die Menschheit vielmehr im Allgemeinen mit „vernünftiger Natur“ (4:439) des menschlichen Wesens, oder auch mit dem „Vermögen sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, das die Menschheit von der „Thierheit“ unterscheidet (6:392). Die Begriffe der Menschheit und Persönlichkeit werden von Kant oft gleichgesetzt, so wenn er in der Metaphysik der Sitten sagt, die „Menschheit“ sei die „von physischen Bestimmungen unabhängige[ ] Persönlichkeit (homo noumenon)“ (6:239). An dieser Stelle dienen die Begriffe der Menschheit und Persönlichkeit zur Abgrenzung vom engeren Begriff des „Menschen“, der das „mit jenen [physischen] Bestimmungen behaftete[] Subject“ (ebd.) bezeichnet. Zur Beantwortung der Frage, ob Menschheit und Persönlichkeit das Vernunftvermögen im weiteren Sinn umfasst, oder nur das reine, moralisch-praktische Vernunftvermögen, muss geklärt werden, was mit „physischen Bestimmungen“ gemeint ist, von denen Menschheit und Persönlichkeit frei sind. Die erste Interpretation wäre zwar möglich, aber im Ganzen spricht doch mehr dafür, dass Kant das spezifisch
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moralisch-praktische Vernunftvermögen im Blick hat, denn an anderen Stellen in der Metaphysik der Sitten bezieht er sich mit dem Begriff „homo noumenon“ auf den „Mensch[en] als moralisches Wesen“ (6:430) oder auf die „reine rechtlichgesetzgebende Vernunft“ (6:335). Die synonyme Verwendung von „Menschheit“ und „Persönlichkeit“ wird von Kant allerdings in Passagen aufgegeben, in denen er Aspekte des Vernunftvermögens differenzieren möchte. In der Religionsschrift unterscheidet Kant verschiedene Anlagen „zum Guten in der menschlichen Natur“ (6:26), und bezeichnet mit „Menschheit“ die Vernunftbegabung im zweckrationalen Sinn, während „Persönlichkeit“ für das reine, moralisch-praktische Vernunftvermögen – „die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ (6:27) – steht.²⁰⁶ Bis hierhin lässt sich sagen, dass der „Mensch“ in seiner weiteren Bedeutung von Kant als natürliches, sinnlich-vernünftiges Wesen verstanden wird, dessen Vernunftvermögen sowohl empirisch-praktische als auch reine, moralisch-praktische Vernunft umfasst. In seiner engeren Bedeutung bezieht sich „Mensch“ nur auf das natürliche Vernunftwesen ohne reine praktische Vernunft („homo phaenomenon“). Der Begriff „Menschheit“ bezeichnet das Vernunftvermögen und wird von Kant vielfach gleichbedeutend mit „Persönlichkeit“ verwendet. In diesem Fall verweisen beide auf das reine Vernunftvermögen, d. h. den Menschen bzw. die Person als „homo noumenon“. Zuweilen unterscheidet Kant jedoch Menschheit von Persönlichkeit, um durch erstere das empirisch-praktische, und erst durch letztere das reine, moralisch-praktische Vernunftvermögen zu bezeichnen. Der Begriff der Person verhält sich zum Begriff der Persönlichkeit wie Mensch zu Menschheit: „Person“ ist das ganze Wesen, zu dem auch seine Sinnlichkeit gehört, während „Persönlichkeit“ den rein vernünftigen Aspekt bezeichnet. Den
Diese Differenzierung taucht meines Wissens erst in der Religionsschrift auf, während Kant zuvor den Begriff der Menschheit als gleichbedeutend mit „Persönlichkeit“ – oder zumindest als die Persönlichkeit umfassend – verwendet. Nur so ist verständlich, dass die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs auf die „Menschheit“ – und nicht die „Persönlichkeit“ – in der Person Bezug nimmt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals blos als Mittel brauchst“ (4:429). In der zweiten Kritik spricht Kant ähnlich: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein“ (5:87). Noch in der Metaphysik der Sitten ist diese Verwendungsweise in den wichtigen Wendungen „Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“ (z. B. 6:236, 240), „Zwecke der Menschheit (in unserer Person)“ (z. B. 6:392) oder „die Menschheit in seiner Person“ (z. B. 6:418) vorherrschend. Vgl. dazu auch Wimmer, der in seinem Exkurs über „Kants Verwendung des Wortes ‚Menschheit‘“ ebenfalls betont, dass sich „Menschheit“ meistens auf den „homo noumenon“ bezieht und die erwähnte Stelle in der Religionsschrift eine Ausnahme zu Kants bevorzugtem Gebrauch darstellt (Wimmer 1990, 126).
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Zusammenhang von Persönlichkeit und Person thematisiert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft: ²⁰⁷ [Der Ursprung der Pflicht] ist nichts anderes als die P e r s ö n l i c h k e i t , d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört (5:87).
In diesem verschachtelten Satz wird die Person sowohl „als zur Sinnenwelt gehörig“ als auch als Träger der Persönlichkeit und damit vernünftiges Wesen („ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen“) verstanden. Die Persönlichkeit ist dagegen ein besonderer Aspekt der Person, nämlich „ein Vermögen eines Wesens […], welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen […] unterworfen ist“. Kant setzt hier Persönlichkeit mit moralischer Autonomie gleich, d. h. mit der Fähigkeit, nach selbstgegebenen moralischen Gesetzen zu handeln. Eine generelle Identifikation des Begriffs der Persönlichkeit mit dem der moralischen Autonomie wäre allerdings voreilig: Kant unterscheidet in der Metaphysik der Sitten die moralische von der psychologischen Persönlichkeit (vgl. 6:223). Nur erstere ist mit moralischer Autonomie gleichzusetzen, während letztere „bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden“ bezeichnet (6:223). Das Bewusstsein der eigenen diachronen Identität, das durch die psychologische Persönlichkeit ermöglicht wird, thematisiert Kant im Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft (vgl. Abschnitt 3.2). An dieser Stelle soll lediglich festgehalten werden, dass Kant einen moralischen und einen psychologischen Begriff der Persönlichkeit unterscheidet. Einen Hinweis auf die Rolle des Begriffs der Persönlichkeit für
Die Begriffe der Person und Persönlichkeit tauchen in der zweiten Kritik schon früher auf, und zwar erstmals im zweiten Hauptstück in der Tafel der Kategorien der Freiheit. Da diese Tafel sehr schwer zu interpretieren ist, ziehe ich es vor, darauf kein Verständnis des Personbegriffs stützen. Georg Mohr stützt auf diese Tafel die folgende Interpretation: „Person“, so Mohr, „scheint hier das menschliche Individuum zu bezeichnen, so wie es sich in der alltäglichen Welt präsentiert“ (Mohr 2001b, 112 f.), während „Persönlichkeit“ einen bestimmten Aspekt der Person bezeichnet. Persönlichkeit könne entweder in einem allgemeinen, moralneutralen Sinn als das Vermögen der Selbstbestimmung im Handeln verstanden werden, oder in einem spezifischen, moralphilosophischen Sinn das Bewusstsein vom Pflichtcharakter des Sittengesetzes bezeichnen (vgl. Mohr 2001a, 32). Die moralisch neutrale Bedeutung von Persönlichkeit kann ich allerdings nicht eindeutig am Kantischen Text festmachen.
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die Person als Zurechnungssubjekt gibt die Definition der Person in der Einleitung der Metaphysik der Sitten: P e r s o n ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie […] sich selbst gibt, unterworfen ist (6:223).
Diese Stelle lässt zwei Fragen offen: Erstens sagt Kant nicht explizit, ob hier moralische Zurechnung gemeint ist, und zweitens, was „also“ im zweiten Satz bedeutet:Warum folgt daraus, dass die Person das Subjekt ist, dessen Handlungen einer Zurechung fähig sind, dass die moralische Persönlichkeit „also“ in der Freiheit eines vernünftigen, moralischen Wesens besteht? Dieser Übergang ergibt nur unter der Annahme einen Sinn, dass Kant hier von moralischer Zurechnung und entsprechend von der Person als moralischem Zurechnungssubjekt spricht. Da moralische Autonomie eine notwendige Bedingung dafür ist, moralisches Zurechnungssubjekt zu sein, kann Kant daraus, dass die Person das moralische Zurechnungssubjekt ist, schließen, dass sie moralische Autonomie besitzt. Diese Eigenschaft nennt Kant dann die „moralische Persönlichkeit“, da es die Eigenschaft ist, die die moralische Dimension des Personbegriffs konstituiert. Kant legt sich hier nicht auf ein bestimmtes Verhältnis von moralischer und psychologischer Persönlichkeit fest. Die Stelle schließt jedoch nicht aus, dass auch die psychologische Persönlichkeit notwendig für die Person als moralisches Zurechnungssubjekt ist (vgl. Abschnitt 3.2). Zusammengefasst lässt sich eine Person als sinnlich-vernünftiges Wesen verstehen. Das, was dieses Wesen wirklich zu einer Person macht, ist nach Kant ihre „Persönlichkeit“, die ihre nicht-sinnlichen Anteile umfasst. Diese Persönlichkeit ist zum einen „psychologisch“ und besteht im Vermögen, sich der eigenen diachronen Identität bewusst zu sein. Zum andere ist sie „moralisch“ und als solche gleichbedeutend mit moralischer Autonomie. Sie ist notwendige Bedingung dafür, eine Person im Sinne eines moralischen Zurechnungssubjekts zu sein.
1.1 Sind alle Menschen Personen? Die Verhältnisbestimmung der Begriffe Mensch und Person hat noch nicht die Frage beantwortet, ob die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch nach Kant schon hinreichend dafür ist, eine zurechnungsfähige Person zu sein. Im nächsten Abschnitt (Abschnitt 1.2) geht es darum, ob das Menschsein notwendig für das Per-
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
sonsein ist. Kant geht offenbar davon aus, dass alle Menschen normalerweise Personen sind. Die Passage in der Religionsschrift „Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“ gibt Aufschluss darüber, dass Kant die Anlage zur Menschheit (als Vermögen der praktischen, zweckrationalen Vernunft) sowie auch die Anlage zur Persönlichkeit (als Vermögen reiner praktischer Vernunft) als „ursprünglich“ und „unverlierbar“, d. h. „zur Möglichkeit der menschlichen Natur gehörig“ verstanden hat (6:28). Demnach ist also jeder Mensch zumindest der Anlage nach auch Person, weil er die Anlage zur Persönlichkeit besitzt.²⁰⁸ Es ist bemerkenswert, dass Kant es hier sogar zu den definierenden Merkmalen des Menschen zählt, (die Anlage zur) Persönlichkeit zu besitzen.²⁰⁹ Das steht in gewisser Spannung zu der bereits erwähnten Tatsache, dass Kant mit „Mensch“ an anderen Stellen auch lediglich das biologische Gattungswesen bezeichnet, das „zu einer der Thierarten gehörig“ (6:418) ist. Die oben getroffene Unterscheidung hilft, die Spannung aufzulösen: Der Mensch in engerer Bedeutung bezeichnet das biologische Gattungswesen und besitzt als solches noch keine Persönlichkeit. In seiner weiteren Bedeutung wird der Mensch bei Kant als natürliches, sinnlich-vernünftiges Wesen verstanden, dessen Vernunftvermögen sowohl empirisch-praktische als auch reine, moralisch-praktische Vernunft umfasst und eine Anlage zur Persönlichkeit besitzt. Auch wenn die Anlage zur Persönlichkeit zum Menschen notwendig gehört, scheint die Persönlichkeit selbst doch eine Eigenschaft zu sein, die der Mensch erst durch richtigen Gebrauch der Anlage erwerben muss. Zu der Frage, ob der Mensch seine Persönlichkeit verlieren kann, äußert sich Kant in unterschiedlicher Weise. So sagt er einerseits, dass der Mensch Zeit seines Lebens eine Person ist, weil die Persönlichkeit unveräußerlich ist (vgl. 6:422). Andererseits weist er im Zusammenhang mit der Lüge darauf hin, dass diese Verletzung der Pflichten gegen sich selbst eine „Verzichtthuung auf seine Persönlichkeit“ (6:429) bedeutet und der Mensch „seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgiebt“ (6:425). Diese Aussagen müssen allerdings nicht so verstanden werden, dass sich der Mensch Kant formuliert etwas umständlich, was er unter einer „Anlage“ versteht. Während die „Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung“ die „Persönlichkeit selbst“ ist, kann der „subjective Grund“ dafür, dass man die Achtung als Triebfeder in seine Maximen aufnehmen kann, als „Anlage“ bezeichnet werden (6:28). Dieser subjektive Grund ist die „Empfänglichkeit“ für das moralische Gesetz (6:27). Eine Anlage ließe sich demnach als „Fähigkeit zweiter Stufe“ verstehen, d. h. als „Fähigkeit, eine entsprechende Fähigkeit zu erwerben“, so wie es Birnbacher (nicht in Bezug auf Kant) erläutert (Birnbacher 2006, 63 f.). Das betont Aichele (2004, 258). Er weist auf die problematischen ethischen Konsequenzen hin, die mit dieser Kantischen These verbunden sind, da das Personsein mit besonderen Rechten verbunden ist. Diesen Themenkomplex, der den moralischen Status von Personen betrifft, werde ich, wie zuvor angekündigt, hier ausklammern.
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durch seine Handlung seiner Persönlichkeit vollständig entledigt,²¹⁰ sondern können als Hinweis darauf dienen, dass Kant den Begriff der Persönlichkeit auch in normativer Bedeutung verwendet. Insofern die Persönlichkeit mit moralischer Autonomie und der „Idee des moralischen Gesetzes“ (6:28) gleichgesetzt wird, hat sie normativen Charakter und stellt einen Maßstab für das Handeln der Person dar, den diese auch verfehlen kann. „Verzichtthuung auf seine Persönlichkeit“ kann heißen, dass der Mensch sie nicht genügend beachtet und gegen sie „verstößt“. Dabei tritt ein interessantes Verhältnis von Konstitutivität und Normativität zutage: Es ist konstitutiv für eine Person, Persönlichkeit zu besitzen – eine Person wäre gar keine Person, wenn sie keine Persönlichkeit besäße –, aber gleichzeitig ist die Persönlichkeit ein normatives und damit verfehlbares Ideal.
1.2 Sind alle Personen Menschen? Kommen wir zu der umgekehrten Frage, ob Menschsein nach Kant eine notwendige Bedingung dafür ist, eine Person und damit Zurechnungssubjekt zu sein. Die notwendigen Bedingungen für das Personsein lassen sich wie folgt rekapitulieren: Wir hatten gesehen, dass eine Person von Kant als „zur Sinnenwelt gehörig“ bezeichnet wird (5:87), und dass sie Persönlichkeit besitzen muss, welche auf zwei Ebenen – auf moralischer und psychologischer – besteht. Prinzipiell können nicht nur Menschen, sondern alle Wesen, die diese Bedingungen erfüllen, Personen und damit Zurechnungssubjekte sein. Ich möchte skizzieren, inwiefern Kant auch in Bezug auf nicht-menschliche Entitäten von Personen spricht, um mich schließlich im Rahmen dieser Arbeit auf die Betrachtung menschlicher Personen zu beschränken. Kant bezeichnet nicht nur menschliche Wesen als Personen. So trifft er beispielsweise zur Beschreibung der Struktur des Gerichtshofes die Unterscheidung zwischen physischer, moralischer und idealischer Person. Die physische Person, die zur rechtlichen Zurechnung befugt ist, ist eine menschliche Person – der Richter –, während der Gerichtshof als moralische Person bezeichnet wird (vgl. 6:227 und 6:297).²¹¹ Ähnlich wie der Staat, den Kant als weiteres Beispiel einer
Die stärkste Aussage in dieser Richtung macht Kant in der Rechtslehre, wo er sagt, dass ein Mensch seine Persönlichkeit durch ein Verbrechen „einbüßen“ kann, sodass es sich lediglich noch um einen „Menschen“ handelt (6:358). Diese Unterscheidung wird in ähnlicher Weise im heutigen Bürgerlichen Gesetzbuch getroffen, wo Rechtssubjekte „natürliche“ oder „juristische“ Person sein können. Eine natürliche Person ist ein Mensch, während eine juristische Person eine Gruppe natürlicher Personen ist, der Rechtsfähigkeit zugesprochen wird, wie z. B. Vereine, Stiftungen oder Aktiengesellschaften.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
moralischen Person anführt (vgl. 6:343), ist der Gerichtshof keine menschliche, natürliche Person, aber sie setzt sich aus solchen zusammen und setzt diese demnach voraus. Anders liegt der Fall bei der „idealischen“ Person, die Kant im Kontext der Diskussion des Gewissens als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ (6:438) einführt. Die idealische Person ist der Richter im Gewissen als einem gedachten, internalisierten Gerichtshof, vor dem sich der Gewissensträger die eigenen Handlungen selbst zurechnen kann (vgl. Kapitel 4). Kant nennt sie wegen ihrer Eigenschaften, allwissend und „allverpflichtend“ (d. h. alle Pflichten vorschreibend) zu sein, Gott. Zugleich räumt er jedoch ein, dass von dieser Konzeption des Gewissens nicht auf die Existenz Gottes geschlossen werden kann, sondern Gott nur „nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen“ (6:440) vorgestellt wird und identifiziert die Vorstellung Gottes hier auch mit der „moralisch-gesetzgebenden Vernunft“ (6:440). Daraus lässt sich schließen, dass die idealische Person keineswegs ein nicht-menschliches Zurechnungssubjekt ist, sondern als „personifizierte“ reine Vernunft die Instanz darstellt, die den Gewissensträger allererst zum Zurechnungssubjekt macht – denn schließlich ist der Besitz der moralisch-gesetzgebenden Vernunft notwendige Bedingung für Zurechnungsfähigkeit. Insbesondere hat die personifizierte Vernunft in der Konzeption des Gewissens die Funktion, eine bestimmte Art der Zurechnung, die innere Zurechnung der eigenen Handlungen, zu ermöglichen. Kants Anspruch, dass das Moralgesetz für den Menschen „und überhaupt jedes vernünftige Wesen“ (4:428) gilt, legt die Vermutung nahe, dass er doch die Möglichkeit von nicht-menschlichen Personen annimmt, die Kandidaten für Zurechnungssubjekte wären. Beispiele für solche Wesen sind Gott und die Engel, die er zumindest als „persönliche, aber schlechterdings unsichtbare (den äußeren Sinnen nicht darzustellende) Gegenstände“ (6:442) bezeichnet. Diese Wesen werden „persönliche“ Wesen – meines Wissens nicht: Personen – genannt, da sie als solche gedacht werden, die den für Personen wesentlichen Aspekt, die Persönlichkeit bzw.Vernünftigkeit, besitzen oder sogar ausschließlich repräsentieren. Doch falls man Gott oder die Engel als Zurechnungssubjekte bezeichnen wollte, muss man sich der Unterschiede zu menschlichen Zurechnungssubjekten bewusst sein. Erstens kann nach Kant ein rein vernünftiges Wesen wie Gott nicht vom Moralgesetz abweichen. Dies hat Auswirkungen für die zweite Zurechnungsstufe (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 7): Gott wird niemals eine Handlung zur Schuld zugerechnet, weil er nicht gegen Gesetze verstößt. Zweitens gehören Gott und die Engel anders als menschliche Personen nicht „zur Sinnenwelt“. Das Zurechnungsurteil auf erster Stufe ist mithin problematisch, weil die Existenz des Zurechnungssubjekts fraglich ist: Es könnte nach Kant zwar nicht-empirische Wesen geben, doch können wir dies nicht wissen. Allerdings haben wir nach Kants Postula-
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tenlehre zumindest bei Gott Grund zu glauben, dass er existiert (vgl. 5:124 f.). In diesem Sinn kann ein gläubiger Mensch Gott bestimmte Handlungen zurechnen, z. B. die Erschaffung der Welt oder die Heilung von Krankheiten. Diese Überlegungen schließen nicht aus, dass es prinzipiell nicht-menschliche Zurechnungssubjekte geben kann, die Persönlichkeit besitzen und in der Erfahrung gegeben sind („zur Sinnenwelt gehören“). Ob es jedoch tatsächlich solche Wesen gibt, ist eine empirische Frage. Ich werde mich im Folgenden auf menschliche Personen als Zurechnungssubjekte beschränken, da erstens kollektive Personen als Zurechnungssubjekte (z. B. der Staat) menschliche Personen voraussetzen, und da zweitens keine anderen individuellen Personen als Zurechnungssubjekte bekannt sind. Wenn ich im Folgenden von Personen spreche, meine ich also menschliche Personen.
2. Drei Aspekte der menschlichen Person: Körper, Bewusstsein und moralische Autonomie Die menschliche Person ist, soweit können wir bis hierher zusammenfassen, dadurch charakterisiert, dass sie als Mensch „zu einer der Thierarten gehörig“ (6:418) und mit einem Körper ausgestattet ist, und dass sie Persönlichkeit in psychologischer und moralischer Hinsicht besitzt. Im Folgenden werden diese drei Aspekte nacheinander betrachtet und es wird diskutiert, welche Rolle sie für die Person als moralisches Zurechnungssubjekt und für dessen synchrone oder diachrone Einheit spielen.
2.1 Die menschliche Person als verkörpertes Wesen Menschliche Personen sind körperliche Wesen. Ist der Körper jedoch auch ein Aspekt, der für die Person als moralisches Zurechnungssubjekt notwendig oder hinreichend ist und der seine Identität in der Zeit konstituiert? Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass ein Körper notwendig für die Person als Zurechnungssubjekt ist. Da Menschen normalerweise Personen sind, ist der menschliche Körper normalerweise auch ein hinreichendes epistemisches Kriterium dafür, dass es sich um eine Person handelt. Man darf jedoch nicht aus dem Blick verlieren, dass der Körper nicht das ist, was die menschliche Person als Person wesentlich ausmacht – das ist ihre Persönlichkeit. Die Notwendigkeit eines Körpers für ein Zurechnungssubjekt ergibt sich aus zwei Überlegungen. Erstens ist der Körper notwendig, um Handlungen ausführen zu können, die Ereignisse in Raum und Zeit sind. Der Körper ist das Instrument,
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
das ein Subjekt dazu befähigt, durch seine Handlung einen „Wechsel der Erscheinungen“ (A205/B250) herbeizuführen. Selbst Handlungen, die bloß sprachliche Äußerungen darstellen, wie zum Beispiel die von Kant besprochene „bösartige Lüge“ (A554/B582), setzen die Sprachorgane des Körpers voraus. Ein Sonderfall sind innere Handlungen, die nur im Geiste der Person stattfinden – bloße „Denkhandlungen“ wie das Ziehen von logischen Schlüssen. Um jedoch ein handelndes Subjekt im vollen Sinn zu sein, benötigt das Zurechnungssubjekt einen Körper, da dieser eine notwendige Bedingung für äußere Handlungsfähigkeit ist. Insofern gehört der Körper zu synchronen Einheit des Zurechnungssubjekts, d. h. die Einheit, die eine menschliche Person zu einem Zeitpunkt bildet, umfasst einen Körper. Ein zweiter Grund, warum ein Zurechnungssubjekt einen Körper besitzen muss, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Zurechnung ein intersubjektiver Vorgang ist. Zugerechnet wird – die Zurechnung vor dem Gewissen einmal ausgeklammert – durch andere Personen. Zwar ist Zurechnung das Urteil, durch das eine Handlung auf den freien Willen einer Person bezogen wird, doch dieser ist nicht für andere sichtbar. Es ist der Körper, in dessen Gestalt sich Personen begegnen und der unmittelbarer Ansatzpunkt der Identifizierung einer Person ist. Das ist eine Weise, Kants Aussage zu verstehen, dass unsere Zurechnungen „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ können (A552/B580, Anm.), auch wenn die Handlungen dem „intelligibelen Charakter beigemessen“ werden (A555/ B583).²¹² Es wurde die Möglichkeit erwogen, Gott als einem körperlosen Wesen Handlungen zuzurechnen. Auf der Grundlage eines praktischen Postulats kann zwar an Gott geglaubt werden, doch ist intersubjektiv nicht eindeutig zu klären, ob bzw. welche empirisch wahrnehmbaren Handlungen dem körperlosen Wesen zurechenbar sind. Ein Körper ist mithin notwendiges epistemisches Kriterium der Bezugnahme auf ein Zurechnungssubjekt. Diese beiden Punkte, äußere Handlungsfähigkeit und Wahrnehmbarkeit für andere, sind freilich lediglich Argumente dafür, dass irgendein Körper für Zurechnungssubjekte notwendig ist, nicht zwingend der menschliche. Im Anschluss an Korsgaard lässt sich das Kriterium, ein Zurechnungssubjekt müsse einen menschlichen Körper haben, konditional formulieren: „Given the technology we
Eine enge Lesart des Begriffs des empirischen Charakters scheint es auszuschließen, den Körper als Teil des empirischen Charakters zu verstehen, da Kant sagt, dass der empirische Charakter „selbst aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß“ (A549/B577, H.v.m.), der Körper aber unmittelbar sichtbar ist und nicht erschlossen werden muss. In einer weiteren Lesart, die zum empirischen Charakter der Person ihre gesamte empirische Erscheinung zählt, ist es jedoch unproblematisch, dem empirischen Charakter auch den menschlichen Körper zuzuordnen.
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have now, the unit of action is a human body“ (Korsgaard 1996c, 373). Es gibt heutzutage keine „Technologie“, die es erlauben würde, als Zurechnungssubjekt einen anderen als menschlichen Körper anzunehmen. So, wie individuelle Zurechnungssubjekte heute beschaffen sind, ist es nicht nur irgendein Körper, sondern der menschliche, der notwendig für Zurechnungsfähigkeit ist. Ist der Körper auch ein hinreichendes Kriterium für die menschliche Person als Zurechnungssubjekt? Da Menschen normalerweise Personen sind, ist der menschliche Körper einerseits ein normalerweise hinreichendes epistemisches Kriterium dafür, dass wir es mit einer Person zu tun haben. Andererseits ist das konstitutive Merkmal einer Person ihre Persönlichkeit und nicht ihr Körper. Die Ausnahmen, bei denen der menschliche Körper kein hinreichendes Kriterium für Personalität ist, sind deshalb Ausnahmen, weil diesen Subjekten die relevanten geistigen Fähigkeiten, die von Kant mit „Persönlichkeit“ bezeichnet werden, fehlen. Der Körper ist demnach kein hinreichendes konstitutives Kriterium dafür, eine menschliche Person zu sein. Die genannten Punkte haben Konsequenzen für die Frage, welche Rolle der Körper für die diachrone Identität einer Person spielt. Das Körperkriterium für diachrone Identität besagt im Kern, ein Wesen X sei dieselbe Person wie Person Y zu einem anderen Zeitpunkt, wenn X’s Körper derselbe ist wie Y’s, bzw. genauer gesagt: wenn X’s und Y’s Körper in einem kontinuierlichen Zusammenhang stehen. Das Kriterium des kontinuierlichen Zusammenhangs ersetzt das der strikten Gleichheit, weil so der Tatsache Rechnung getragen werden kann, dass sich einzelne Teile des Körpers erneuern und ausgetauscht werden, ohne dass deshalb von einem anderen Körper gesprochen werden muss. Kant diskutiert diesen Punkt zwar nicht explizit, sagt jedoch in der Kritik der Urteilskraft im Zusammenhang mit Wachstum und Selbsterhaltung lebendiger Organismen, dass diese „von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung“ sind (5:370). Auch wenn diese Aussage, wie Kant selbst sagt, „ein etwas uneigentlicher und unbestimmter Ausdruck ist“ (5:372), so ist die Grundidee, dass lebendige Organismen durch eine Selbstorganisation ihrer Teile gekennzeichnet sind, die sie von unbelebten Gegenständen unterscheidet (vgl. 5:374). Ein lebendiger Körper wächst und „bessert sich […] selbst aus“, sodass seine Identität nicht durch die Gleichheit seiner Teile charakterisiert werden kann, sondern vielmehr – so kann man im Anschluss an Locke vorschlagen²¹³ – durch die Kontinuität des Organisationszusammenhangs. Bei einer Eiche, so Lockes Beispiel, können Blätter wachsen und wieder fallen, und trotzdem handelt es sich um dieselbe Eiche. Es kommt im Fall von Lebewesen darauf an, dass die Teile einem kontinuierlichen Organisationszusammenhang angehören (Locke 1694, An Essay concerning human understanding, Book II, Chapter XXVII, §4, 331). Die Identität des Menschen ist
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Es ist mit den obigen Argumenten dafür, dass der Körper notwendig für die äußere Handlungsfähigkeit und notwendig für die Wahrnehmbarkeit anderer Personen ist, verträglich, dass die Person zwar immer einen Körper, aber zu jedem Zeitpunkt einen veränderten Körper besitzt: Auch dann wäre sie äußerlich handlungsfähig und könnte – zumindest zum Zeitpunkt der Handlung – auch von anderen Personen als Zurechnungssubjekt identifiziert werden. Bereits Locke argumentiert, das Körperkriterium sei nicht notwendig für diachrone Identität der Person. Dazu bedient er sich eines Gedankenexperiments, das an die Intuition appelliert, dass moralische Verantwortung für vergangene Handlungen an psychologische Kontinuität – Erinnerungen, Überzeugungen, Charaktereigenschaften – gebunden ist. Protagonisten von Lockes klassischem Gedankenexperiment des „Körpertauschs“ sind ein Prinz und ein Schuster. Verlässt die Schusterseele den Körper des Schusters und beseelt das Bewusstsein des Prinzen stattdessen den Schusterkörper, wird laut Locke jeder schließen, dass diesem neuen Wesen die Handlungen des Prinzen zuzurechnen sind (Locke 1694, §15, 340). Die Verwendung von Gedankenexperimenten aus dem Bereich der Science Fiction – wie etwa Seelenwanderungen, Verdoppelungen des Körpers durch Teletransportation oder Teilungen des Gehirns (vgl. z. B. Parfit 1984) – ist in der Debatte um personale Identität in Anschluss an Locke zwar sehr verbreitet, jedoch auch kritisiert worden. Die Gedankenexperimente beschreiben oft Unmögliches, zu dem unsere Intuitionen in vielen Fällen keine eindeutige Antwort liefern.²¹⁴ Doch auch unabhängig von Gedankenexperimenten spricht in Kants Theorie nichts dafür, die Kontinuität des Körpers als notwendige Bedingung diachroner Identität der Person zu sehen. Es könnte nach allem, was bisher gesagt wurde, auch sein, dass die menschliche Person ihren Körper wechselt und hinsichtlich ihrer moralischen und psychologischen Persönlichkeit dieselbe bleibt. Wiederum lässt sich nur ein konditionales Körperkriterium formulieren: Auf Grundlage der heutigen Technologie, die keine Körperwechsel bei gleichbleibender Persönlichkeit gestattet, ist die Kontinuität des Körpers notwendiges Kriterium der diachronen Identität einer menschlichen Person. Es steht prinzipiell die Möglichkeit offen, für die diachrone Identität des Zurechnungssubjekts nur die diachrone Identität des Menschen (nicht der Person) zu fordern und damit nur an die Kontinuität des Körpers zu knüpfen, d. h. das Körperkriterium als hinreichendes Kriterium diachroner Identität zu sehen. Einer
ein Sonderfall der Identität des Organismus und ergibt sich ebenfalls aus dem Zusammenhang eines lebendigen Körpers, sodass man von einem Embryo und einem älteren Menschen sagen kann, es handele sich um denselben Menschen (vgl. Locke 1694, §6, 332). Eine kritische Untersuchung zum Status von Gedankenexperimenten liefert Brand (2010, v. a. 45 – 53).
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Person könnte dann eine vergangene Handlung moralisch zugerechnet werden, insofern sie zum Zeitpunkt der Handlung und zum Zeitpunkt der Zurechnung alle notwendigen Bedingungen für Zurechnungsfähigkeit erfüllte (insbesondere moralische Autonomie besitzt). Ob zwischen diesen beiden Zeitpunkten die Bedingungen für Personalität erfüllt sind, wäre irrelevant. Für diachrone Identität wäre nur wichtig, dass das Zurechnungssubjekt als Mensch dasselbe ist, d. h. dass die Körper zu den beiden Zeitpunkten in einem kontinuierlichen Zusammenhang stehen.²¹⁵ Gerade im rechtlichen Kontext ist es üblich, anhand des Körperkriteriums – durch DNA-Analyse, Fingerabdrücke o. ä. – die Identität des Angeklagten mit dem Täter festzustellen und dann nur noch Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat und der Anklage zu prüfen. Doch es gibt einen guten Grund, das Körperkriterium nur als epistemisches, nicht aber als hinreichendes konstitutives Kriterium für die diachrone Identität des Zurechnungssubjekts zu sehen: Der Körper nur für die menschliche Person als Mensch und nicht als Person konstitutiv. Als Hypothese möchte ich annehmen, dass die Kriterien diachroner Identität der Person dieselben sind wie die Kriterien, die die Person als Zurechnungssubjekt auszeichnen. Aus dieser Annahme folgt, dass die diachrone Identität des Zurechnungssubjekts auf die diachrone Identität seiner Persönlichkeit, nicht aber seines Menschseins, zurückzuführen ist. Analog zu der obigen Analyse der Rolle des Körpers als normalerweise hinreichendes epistemisches Kriterium für Personalität lässt sich die Kontinuität des Körpers ein normalerweise hinreichendes epistemisches Kriterium für die diachrone Identität der Person als Zurechnungssubjekt verstehen.²¹⁶ Fassen wir die Ergebnisse bezüglich der Frage zusammen, ob der menschliche Körper notwendig oder hinreichend für die Person als Zurechnungssubjekt und ihre diachrone Identität ist: Ein Körper ist notwendig für Zurechnungssubjekte, damit sie äußere Handlungen vollziehen und von anderen wahrgenommen werden können. Normalerweise ist der Körper ein hinreichendes epistemisches, aber kein hinreichendes konstitutives Kriterium für Personalität. Für die diachrone Quante vertritt die These, die diachrone Identität der menschlichen Person an den Begriff des Menschen zu binden. Er kündigt an, „für die Analyse der Persistenz auf den Begriff der Person zu verzichten und statt dessen denjenigen Sortalbegriff heranzuziehen, der die natürliche Art der jeweiligen Entität benennt. Im Falle menschlicher Individuen ist dies der biologische Begriff des Menschen“ (Quante 2002, 56). Einige Interpreten nehmen an, der Körper sei gar kein Kriterium für die Person, sondern nur für den Menschen. Diese Differenzierung zwischen der menschlichen und der personalen Identität wird in der modernen Debatte z. B. von Quante vorgenommen (Quante 2002, siehe auch Brand 2010, 31). Da ich mich jedoch auf menschliche Personen konzentriere, muss der Körper mit berücksichtigt werden. Es ist der Mensch qua Autonomie eine Person, der Mensch hat die Anlage zur Persönlichkeit und deshalb ist auch der Körper ein Aspekt der menschlichen Person.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Identität des Zurechnungssubjekts ist die Kontinuität des Körpers eine konditionale notwendige Bedingung: Unter den heutigen Umständen sind keine Körperwechsel der Personen möglich, sodass die Kontinuität des Körpers ein normalerweise hinreichendes epistemisches Kriterium für diachrone Identität der Person ist. Aber sie ist kein hinreichendes konstitutives Kriterium dafür, wenn man diachrone Identität an die Kontinuität der Bedingungen der Personalität binden möchte.
2.2 Die Person als ein Wesen mit Selbstbewusstsein Gegenstand dieses Abschnitts ist die psychologische Persönlichkeit, die nach Kant in dem „Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden“ besteht (6:223). Die Notwendigkeit psychologischer Tatsachen wie Selbstbewusstsein und Bewusstsein der diachronen Identität dafür, ein Zurechnungssubjekt sein zu können, leuchtet unmittelbar ein: In der Diskussion des Gewissens als „Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ (6:438) (vgl. Kapitel 4) ist deutlich geworden, dass die Möglichkeit der Selbstzurechnung notwendig dafür ist, ein Zurechnungssubjekt zu sein. Dafür muss sich eine Person bewusst sein können, dass sie es ist, die eine Handlung ausführt. Auch Strafe setzt voraus, dass sich die bestrafte Person die Handlung selbst zurechnen kann: Kant lässt es als relevante Überlegung gelten, dass sich ein Verbrecher nicht „beschwert“, „daß ihm […] zu viel und also unrecht geschehe“ (6:334). Strafe kann nur dann als verdient angesehen werden, wenn sich der Verbrecher bewusst ist, dass sie die Folge seiner eigenen Handlung ist. In der Anfangspassage der Anthropologie präsentiert Kant das Selbstbewusstsein als zentrales Merkmal von Personen: Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d.i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen (7:127).
Kant macht hier drei Aussagen: Erstens sagt er, dass es ein wesentliches Charakteristikum von Personen ist, in ihrer „Vorstellung das Ich“ zu haben, zweitens weist er die „Einheit des Bewußtseins“ als notwendig für diachrone Identität aus. Drittens grenzt er Personen anhand dieser beiden Merkmale von „vernunftlosen“ Tieren bzw. Sachen ab. Zum Schluss betont er die besondere Würde von Personen, die sie von Sachen unterscheidet. Diesen letzten Punkt werde ich hier ausklam-
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mern, da der moralische Status von Personen nicht Gegenstand dieses Kapitels ist.²¹⁷ Hier ergibt sich die Frage, wie die psychologische Persönlichkeit – „das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden“ – zu den ersten beiden in der zitierten Passage genannten Eigenschaften steht. Dass ein Mensch „in seiner Vorstellung das Ich“ haben kann, lässt sich auf zwei Weisen verstehen: Erstens könnte es heißen, dass ein Mensch Urteile fällen kann, an deren Subjektstelle die Vorstellung „Ich“ steht, d. h. Gedanken über sich selbst haben kann. Diese Fähigkeit ließe sich bereits als Selbstbewusstsein verstehen.²¹⁸ Doch zweitens könnte sich Kant auch auf seine Argumentation in der Transzendentalen Deduktion beziehen, derzufolge sich die eigenen Vorstellungen einer Person dadurch auszeichnen, dass sie durch das „Ich denke“ begleitet werden können (vgl. B131). Auch in diesem Sinne ließe sich sagen, dass die Person das „Ich“ in seiner Vorstellung hat. Kant bezeichnet ferner die „Einheit des Bewußtseins“ als das, „vermöge“ dessen die diachrone Identität der Person möglich wird. Um eine Ahnung davon zu bekommen, worin nach Kant die Einheit des Bewusstseins besteht, ist der Verweis auf die Transzendentale Deduktion nötig. Die Grundidee ist, dass Einheit des Bewusstseins hergestellt wird, indem die mannigfaltigen Vorstellungen durch eine geistige Aktivität, die Synthesis, verbunden werden:²¹⁹ [D]as empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle (B133, H.v.m.).
An anderen Stellen bezeichnet Kant die Moralfähigkeit der Person, d. h. deren Autonomie, als „Grund der Würde“ (4:436). Die zitierte Passage in der Anthropologie sollte demnach nicht so verstanden werden, als wolle Kant das Ich-Bewusstsein als hinreichend für die spezielle Würde von Personen bezeichnen. Damit die Passage konsistent mit Kants Aussagen zur moralischen Autonomie als Grund der Würde ist, sollte Kant dort so verstanden werden, dass er Ich-Bewusstsein als ein hinreichendes Unterscheidungskriterium zwischen Tieren und Personen sieht, und er Personen eine spezielle Würde zuspricht, ohne sich darauf festzulegen, was hinreichendes Kriterium für diese Würde ist. Vgl. Rosefeldt 2000, 9. Kants schwierige Konzeption der Synthesis und der Einheit des Selbstbewusstseins kann ich hier nicht erläutern. Vgl. dazu z. B. Kitcher 1990 und Longuenesse 1998.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Die Bedingung dafür, dass man von der Einheit bzw. Identität des Bewusstseins einer Person sprechen kann, ist also, dass die verschiedenen Vorstellungen der Person durch Synthesis miteinander verbunden werden. In der Passage aus der Anthropologie sagt Kant nun, dass die Einheit des Bewusstseins (die laut Transzendentaler Deduktion durch das Verbinden von Vorstellungen hergestellt wird), die Person zu derselben über die Zeit hinweg macht. Die so hergestellte diachrone Einheit impliziert auch das Bewusstsein dieser Einheit („daß ich mir die Identität des Bewusstseins […] selbst vorstelle“). Die psychologische Persönlichkeit ist gerade das Vermögen, sich seiner diachronen Identität bewusst zu werden. Insofern sie dies ermöglicht, gleicht sie der „Einheit des Bewusstseins“, und deshalb liegt es nahe, die psychologische Persönlichkeit mit der „Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen“ zu identifizieren. Zusammengefasst lautet Kants These in der Anthropologie dass die Einheit des Bewusstseins bzw. die psychologische Persönlichkeit eine notwendige Bedingung für die diachrone Identität der Person ist. Der dritte Punkt, die Abgrenzung von Personen und Sachen auf der Grundlage des Ich-Bewusstseins, macht deutlich, dass nach Kant die Fähigkeit, „in seiner Vorstellung das Ich [zu] haben“, eng mit rationalen Fähigkeiten verbunden ist. In praktischer Hinsicht wird die Verbindung von rationalen Fähigkeiten und IchBewusstsein deutlich, wenn man die Bildung von Maximen betrachtet. Nach Kant äußert sich in der Wahl von und dem Handeln nach Maximen die Freiheit des Subjekts: Die Person ist im Handeln nach Maximen nicht direkt von Neigungen zu Handlungen genötigt, sondern entscheidet selbst, welche Neigungen handlungswirksam werden sollen, indem sie sie in ihre Maximen aufnimmt (vgl. 6:24). Dieser Vorgang erfordert offenbar ein Bewusstsein seiner eigenen Neigungen und Zwecke. Nur wenn man sich dieser Tatsachen über sich selbst bewusst ist, können Maximen bewusst gewählt und auch befolgt werden. In Kapitel 2 wurde gezeigt, dass nur Handlungen nach Maximen zurechenbar sind. Wenn die Wahl von und das Handeln nach Maximen Selbstbewusstsein voraussetzt, ist Selbstbewusstsein eine notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit.
2.2.1 Grenzen der theoretischen Bestimmbarkeit des Personbegriffs Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Bewusstsein seiner Selbst bzw. dem Bewusstsein seiner Identität in der Zeit legitimer Weise ziehen? Besitzt man ein Bewusstsein von einem „Kern“ der eigenen Person, dem die eigenen Handlungen zurechenbar sind? Diesen Fragen geht Kant in der Kritik der reinen Vernunft nach. Der kurze Exkurs in die theoretische Philosophie soll deutlich machen, wo Kant die Grenzen der theoretischen Bestimmbarkeit des Personbegriffs sieht. Das Fazit der theoretischen Untersuchung des Personbegriffs ist negativ, insofern Kant
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die Möglichkeit verneint, Erkenntnis über die Person als Substanz im Sinne eines Dings an sich zu erlangen. Daneben argumentiert Kant für die positiven Thesen, dass die Person bzw. das Ich in theoretischer Hinsicht bloß logisch zu verstehen ist, und dass dem Begriff der Person als „Substanz in der Idee“ (A351) praktische Bedeutung zukommt.²²⁰ Eine zentrale Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft besteht darin zu zeigen, dass Menschen die Dinge nur erkennen können, wie sie in der Erfahrung erscheinen und keine theoretische Erkenntnis von denselben haben können, wie sie „an sich“ sind. In der Transzendentalen Dialektik argumentiert Kant gegen die traditionellen Argumente für metaphysische Aussagen, die über die Erfahrung und somit die Erkenntnis der Erscheinungen hinausgehen. Im ParalogismusKapitel richtet sich diese kritische Untersuchung auf die Argumente, die vermeintlich Erkenntnis der menschlichen Seele liefern sollen: Kant übt hier Kritik an der sogenannten „rationalen Psychologie“, deren Gegenstand das „Ich, als ein denkend Wesen“ ist. Die rationale Psychologie beansprucht a priori gültiges Wissen zu erlangen, indem sie untersucht, „was unabhängig von aller Erfahrung […] aus diesem Begriffe Ich, so fern er bei allem Denken vorkommt, geschlossen werden kann“ (A342/B400). Kant sieht die Cartesianische Philosophie als paradigmatischen Fall der rationalen Psychologie. Descartes folgert aus dem Urteil „Ich denke“, dass es die „Wahrnehmung von einem Dasein enthalten mag, (das Cartesianische cogito, ergo sum)“ (A347/B405). Cartesianer sind der Ansicht, dass das Ich, auf dessen Existenz aus dem Cogito (aus dem Bewusstsein seiner selbst im Denken) geschlossen wird, ein „denkendes Ding“ ist, eine substantielle res cogitans. Die Eigenschaften einer solchen res cogitans werden von der rationalen Psychologie durch Schlüsse begründet, die Kant nacheinander kritisiert: Dass es sich bei dem denkenden Ich um eine Substanz handelt (1. Paralogismus), dass diese einfach ist (2. Paralogismus), dass sie Personalität, d. h. diachrone Identität besitzt (3. Paralogismus) und immateriell ist (4. Paralogismus).
Eine Bemerkung bezüglich der Terminologie ist an dieser Stelle angebracht: Kant verwendet in der Kritik der reinen Vernunft selten den Begriff „Person“, sondern spricht meist vom „Ich“, dem „Selbst“ oder dem „Subjekt“. Nur im dritten Paralogismus der Personalität geht es Kant ausdrücklich um den Begriff der Person und ihrer Identität in der Zeit. Dennoch können Kants Aussagen zu den verwandten Begriffen des Ichs, Selbst etc. auf den Begriff der Person bezogen werden. Eine Untersuchung des kantischen Personbegriffs im Zusammenhang mit seinen Thesen des Selbst und des Selbstbewusstseins kann sich deshalb auf die Transzendentale Deduktion und die Paralogismen stützen, doch eine solche Aufgabe würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Kant meint, durch einen Cartesisch verstandenen Begriff der Substanz würde „ein Ding an sich selbst vorgestellt“ (A344/B402). Ein solcher Versuch, sich selbst als Substanz im Sinne eines Dings an sich zu erkennen, muss nach Kant scheitern. Kant möchte jedoch nicht zugleich behaupten, dass es keine Substanzen gibt oder dass der Begriff der Substanz sinnlos wäre. Für Kant ist der Begriff der Substanz eine Kategorie, die auf Anschauung angewendet werden kann, und zwar auf eine solche, die etwas „Beharrliche[s]“ aufweist, sodass sie als das bezeichnet werden kann, „was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt“ (A182/B225). Der Begriff der Substanz muss sich, so wie die anderen Kategorien bzw. Begriffe im Allgemeinen, „immer auf Anschauungen [beziehen, um Menschen Erkenntnis zu ermöglichen, CB], die […] [beim Menschen, CB] nicht anders als sinnlich sein können“ (B408, siehe auch B422). Kant verneint also nur, dass wir ohne die Grundlage der Anschauung Substanzen als existent annehmen sollten, die ich als „metaphysische Substanz“ bezeichnen möchte. Betrachten wir nun exemplarisch den dritten Paralogismus, in dem Kant folgendes Argument in Bezug auf die diachrone Identität der Person kritisiert: Was sich der numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine Person: Nun ist die Seele etc. Also ist sie eine Person (A361).
Bevor Kant die Schlussfolgerung der rationalen Psychologie kritisiert, stimmt er dem Untersatz zu, der ihm zufolge ein analytischer Satz ist und ausformuliert heißen kann: „Ich, als denkendes Wesen, bin mir der numerischen Identität meiner selbst in Bezug auf alle meine Vorstellungen (mentalen Zustände) bewusst“.²²¹ Dieses Urteil ist deshalb analytisch wahr, da „meine“ Vorstellungen nach Kants Ausführungen in der Transzendentalen Deduktion dadurch gekennzeichnet sind, dass ich sie stets durch ein „Ich denke“ begleiten kann.²²² Verschiedene Vorstellungen wechseln in der Zeit, und indem das Subjekt jede ein Hier wurde das Bewusstsein seiner selbst „in verschiedenen Zeiten“ durch „in bezug auf alle meine mentalen Zustände“ ersetzt, weil nach Kant Zeit „nichts anders als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unseres innern Zustandes“ ist (A33/B50). Dass es Zeit gibt, heißt, dass ich mir verschiedene innere Zustände (Vorstellungen, mentale Zustände) als aufeinander folgend vorstelle. Die Identität des Subjekts in der Zeit ist gleichbedeutend mit der Identität des Subjekts in verschiedenen mentalen Zuständen (vgl. Rosefeldt 2000, 97). Vgl. z. B. „Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen; […] d.i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen“ (B134). Kant meint mit „Vereinigung in einem Selbstbewußtsein“, dass man sich der Vorstellungen bewusst ist und sie mit dem „Ich denke“ begleiten kann.
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zelne dieser wechselnden Vorstellungen auf das „Ich denke“ bezieht bzw. beziehen kann, nimmt es sie immer als seine eigenen wahr – insofern besitzt es ein Bewusstsein der eigenen diachronen Identität (vgl. B133 ff.). Die Pointe von Kants Argument ist, dass das Ich des „Ich denke“ nicht als Ich im Sinne einer Substanz zu verstehen ist, da dieser Vorstellung keine sinnliche Anschauung korrespondiert: [Die] Identität des Subjects, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, betrifft nicht die Anschauung desselben, dadurch es als Object gegeben ist, kann also auch nicht die Identität der Person bedeuten, wodurch das Bewußtsein der Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände verstanden wird (B408, H.v.m.).
Im Bewusstsein der eigenen diachronen Identität zeigt sich demnach nicht die Identität einer Substanz. Es ist nicht möglich, die Kategorie der Substanz so anzuwenden, dass empirische Erkenntnis entsteht, da es im inneren Sinn keine Anschauung eines beharrlichen Ich gibt. Nach dem Grundsatz des Transzendentalen Idealismus, dass menschliche Erkenntnis neben Begriffen auch sinnliche Anschauung erfordert, ist es schon gar nicht möglich, Erkenntnis vom Ich als „Ding an sich“ zu erlangen. Wir können aus unserem Ich-Bewusstsein im Denken also weder empirische noch „übersinnliche“ Erkenntnis erlangen. Kants Argumentation ist an dieser Stelle so aufgefasst worden, dass er zwar erstens verneint, dass man aus dem Identitätsbewusstsein auf die Identität einer Substanz schließen kann, dass er aber zweitens die These vertritt, die Identität einer solchen Substanz sei für die Identität der Person notwendig (vgl. Rosefeldt 2000, 127). Doch dagegen, Kant diese zweite These zuzuschreiben, spricht, dass er in seiner Paralogismus-Kritik nicht verneint, dass man sich einer richtig verstandenen Identität im Denken bewusst wird, nämlich „der logischen Identität des Ich“ (A363). Das logische Ich lässt sich als der „logische[] Gegenstand von ‚ich‘Urteilen“ bezeichnen, der nur „Gegenstand eines nicht-widersprüchlichen Begriffs ist, nicht aber ein Gegenstand der Anschauung“ (Rosefeldt 2000, 81). Es ist das logische Ich, auf das wir uns beziehen, wenn wir mit einem „Ich denke“ eine Vorstellung begleiten und sie uns damit als eine eigene Vorstellung zuschreiben. Dieses „Ich“ ist jedoch „ein bloßer Gedanke“ (A364), dem in der sinnlichen Anschauung kein realer Gegenstand korrespondiert.²²³
Rosefeldt unterscheidet zwischen dem realen und dem logischen Umfang eines Begriffs. Während das logische Ich zwar keinen realen Umfang hat, d. h. ihm keine realen Gegenstände der Anschauung korrespondieren, kann man ihm einen logischen Umfang nicht absprechen, der den Gehalt des Begriffs umfasst, z. B. dass es ein „logisch einfache[s] Subjekt“ (B407) ist (vgl. Rosefeldt 2000, 81 f.).
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Der grundlegende Fehler der rationalen Psychologie besteht also nach Kant darin, die „logische Erörterung des Denkens überhaupt“ fälschlicher Weise „für eine metaphysische Bestimmung des Objects“ zu halten (B409). Kant möchte bestreiten, dass wir unser Ich als eine einfache, die Zeit überdauernde Substanz erkennen können – allerdings nicht, dass wir uns unser Ich (und dessen Gleichheit in der Zeit) im logischen Sinne vorstellen können und müssen. Was folgt aus Kants Paralogismuskritik für die Frage, was nach Kant eine Person ist und wie ihre diachrone Identität zu verstehen ist? Diese Frage soll im Folgenden beantwortet werden, indem drei Begriffe der Person unterschieden werden: Erstens die Person als Erscheinung, zweitens das logische Ich, und drittens die Person als Ding an sich (oder das noumenale Ich). Je nachdem, von welcher dieser Personen die Rede ist, ist auch die Frage danach, worin ihre Identität über die Zeit hinweg besteht, unterschiedlich zu beantworten. Erstens: Die Person als Erscheinung Über die Person als Erscheinung, d. h. als Menschen mit Körper und Anschauung seiner selbst durch den inneren Sinn, findet sich in den Paralogismen nicht viel, weil im Mittelpunkt der kritisierten Fehlschlüsse die vermeintliche Erkenntnis steht, die wir von uns als Personen haben können, wenn wir von allem Empirischen absehen. Doch die in der Erfahrung erscheinende Person dient Kant als Kontrastbegriff zum „denkenden Ich“ der rationalen Psychologie: Der Grundsatz, dass wir neben Begriffen auch Anschauungen für unsere Erkenntnis benötigen, impliziert, „daß wir […] die Beharrlichkeit eines gegebenen Gegenstandes aus der Erfahrung zum Grunde legen müssen, wenn wir auf ihn den empirischbrauchbaren Begriff einer Substanz anwenden wollen“ (A349, H.v.m.). Kant schließt also aus, dass die Person als metaphysische Substanz erkannt werden kann, aber er verneint nicht, dass die Person als empirisches Wesen als Substanz bezeichnet werden könnte. Genauso steht es auch um ihre diachrone Identität: Während die diachrone Identität der bloß denkenden Person nicht aus ihrem Identitätsbewusstsein geschlossen werden kann, ist die diachrone Identität der empirischen Person nicht problematisch: Also bleibt die Beharrlichkeit der Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen, und selbst unerweislich, obgleich ihre Beharrlichkeit im Leben, da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich klar ist (B415, H.v.m.).
Offenbar spielt Kant hier auf die Tatsache an, dass wir die zeitliche Identität („Beharrlichkeit“), d. h. die Substantialität, der empirischen Person (als Mensch), die „ein Gegenstand äußerer Sinne“ ist, feststellen können. Die erste, nahelie-
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gende Vermutung ist, dass Kant damit meint, dass wir die Identität des Menschen anhand seines Körpers, der ein Gegenstand der Sinne ist, empirisch erkennen können. Einen zweiten Hinweis darauf, inwiefern uns Beharrlichkeit des Menschen in der Erfahrung zugänglich sein kann, finden wir in der zweiten Analogie, wo Kant dafür argumentiert, dass wir den Begriff einer „Substanz als Erscheinung“ (A206/B251) bilden, weil wir von den Handlungen eines Gegenstandes auf ein zugrundeliegendes beharrliches Handlungssubjekt schließen: Wo Handlung, mithin Thätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz […]. Handlung bedeutet schon das Verhältnis des Subjects der Causalität zur Wirkung. Weil nun alle Wirkung in dem besteht, was da geschieht, mithin im Wandelbaren, was die Zeit der Succzession nach bezeichnet: so ist das letzte Subject desselben das Beharrliche als das Substratum alles Wechselnden, d.i. die Substanz. Denn nach dem Grundsatze der Causalität sind Handlungen immer der erste Grund von allem Wechsel der Erscheinungen, und können also nicht in einem Subject liegen, was selbst wechselt, weil sonst andere Handlungen und ein anderes Subject, welches diesen Wechsel bestimmete, erforderlich wären. Kraft dessen beweiset nun Handlung, als ein hinreichendes empirisches Kriterium, die Substantialität (A204 f./B250).
In dieser Passage verwendet Kant seinen Handlungsbegriff in weiter Bedeutung, der sowohl menschliche Handlungen als auch die Handlungen unbelebter Gegenstände umfasst. Wenn wir eine Veränderung als Handlung eines Subjekts auffassen, dann stellen wir uns das Handlungssubjekt, so Kant, als Substanz vor, die die Veränderung bewirkt, aber nicht selbst der Veränderung unterliegt. Die Paralogismuskritik lässt demnach die These gelten, dass die Person in der Erscheinung als Substanz angesehen werden kann. Der Vorschlag, die Substantialität und Identität der Person über ihre Handlungen zu erschließen, liegt letztlich auch meiner Auffassung von der Identität der Person als moralischem Zurechnungssubjekt zugrunde (vgl. Abschnitt 3.3). Die These hingegen, dass die Identität der Person anhand der Identität ihres Körpers bestimmt werden könnte, ist in Hinblick auf die Person als Zurechnungssubjekt nicht überzeugend, da, wie im letzten Abschnitt argumentiert wurde, die diachrone Identität des Körpers nicht hinreichend für die diachrone Identität der Person als Zurechnungssubjekt ist. Zweitens: Das logische Ich Kant hat in seiner Paralogismus-Kritik gezeigt, dass wir uns im Bewusstsein unserer Identität in verschiedenen Vorstellungen nur auf das logische Ich beziehen, dem kein realer Gegenstand in der Anschauung korrespondiert und das insofern „ein bloßer Gedanke“ ist (A364). Die psychologische Persönlichkeit als das „Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden“ (6:223) bezieht sich also nur auf das logische Ich, das in allen unseren Vorstellungen gleich bleibt.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Es ist nun die Frage, ob eine Konzeption der Person als logisches Ich hinreichend ist, um die Person als Zurechnungssubjekt auszuweisen. Dagegen spricht, dass die Person als Zurechnungssubjekt auch moralische Autonomie besitzen muss, und diese nicht aus dem bloßen Selbstbewusstsein im Denken folgt bzw. nicht zum Gehalt des Begriffs vom logischen Ich gehört. Die moralische Person zeichnet sich dadurch aus, dass ihr Bewusstsein einen bestimmten Inhalt aufweist, und zudem praktisches Bewusstsein ist, insofern es Motivation zum Handeln impliziert: Das Bewusstsein des Sittengesetzes. Dass das Bewusstsein diesen Inhalt besitzt, lässt sich nicht aus der Tatsache des Selbstbewusstseins als solchem folgern. Und wenn die moralische Persönlichkeit nicht auf die psychologische Persönlichkeit zurückzuführen ist, ist auch die diachrone Identität des Zurechnungssubjekts nicht schon durch die diachrone Identität des logischen Ichs gegeben. Kant selbst macht allerdings in der ersten Fassung des Paralogismus-Kapitels eine Bemerkung, die man so verstehen könnte, dass tatsächlich der logische Begriff der Person hinreichend für den praktischen Gebrauch des Personbegriffs sei. Er schreibt, dass „der Begriff der Substanz […], eben so auch der Begriff der Persönlichkeit (so fern er bloß transzendental ist, d.i. Einheit des Subjects, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperception ist) bleiben“ kann (A365). Der „transzendentale“ Begriff der Persönlichkeit, so würde ich sagen, ist identisch mit dem der „logischen“ Persönlichkeit bzw. des logischen Ich, da auch er als die Einheit des Subjekts verstanden wird, die durch die Einheit des Bewusstseins im Denken hergestellt wird. Dieser Begriff der Persönlichkeit sei, so sagt Kant im Anschluss an die eben zitierte Passage, „zum praktischen Gebrauche nötig und hinreichend“. Meines Erachtens möchte Kant an dieser Stelle deutlich machen, dass wir keine theoretische Erkenntnis unserer selbst auf der Grundlage des Bewusstseins im Denken erlangen können, dass aber auch keine weitere theoretische Bestimmung des Ichs notwendig ist (und der transzendentale Begriff insofern in theoretischer Hinsicht hinreichend ist), um den Begriff der Persönlichkeit in praktischer Hinsicht zu bestimmen. Drittens: Die Person als Ding an sich (das noumenale Ich) Kants Paralogismuskritik hat gezeigt, dass Personen auf der Basis ihres Selbstbewusstseins im Denken keine theoretische Erkenntnis über sich selbst als Ding an sich bzw. metaphysische Substanz besitzen. Somit hat auch die Frage nach der diachronen Identität einer so verstandenen Person keinen Sinn bzw. kann von uns in theoretischer Hinsicht nicht beantwortet werden. Allerdings müssen wir Kant zufolge den Begriff der (metaphysischen) Substanz doch nicht ganz aus dem Vokabular der theoretischen Philosophie streichen, sondern ihm nur den richtigen
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Status einräumen: Man könne den „Satz: die Seele ist Substanz, gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet: […] daß er also nur eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realität bezeichne“ (A350 f., H.v.m.). Nach Kant ist eine Idee ein Begriff der reinen Vernunft, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ihm erstens „kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann“ (A327/ B383), d. h. dass ihm kein Gegenstand der Erfahrung entspricht, dass er zweitens nichtsdestotrotz „nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ ist (A328/B384), d. h. dass wir nicht anders können, als Vernunftideen zu bilden, und dass er drittens sich auf das „Unbedingte“ bezieht (A322 f./B379 f.). Zu Beginn der Transzendentalen Dialektik deutet Kant an, dass der Status der Ideen im „speculativen Gebrauch“ ein anderer ist als im „praktischen Gebrauch“ (A328/B384 f.): Während man über die empirische Wirklichkeit der Ideen nichts sagen kann, und es deshalb im spekulativen Gebrauch so ist, „als ob der Begriff ganz und gar verfehlet würde“, „so kann die Idee der praktischen Vernunft jederzeit wirklich […] gegeben werden“ (A328/B384 f.). Die These, dass die Ideen im praktischen Gebrauch fruchtbarer angewendet werden könnten als im theoretischen, greift Kant in der zweiten Fassung des Paralogismus-Kapitels in Bezug auf die Person als Substanz auf, indem er dazu auffordert, [die] Weigerung unserer Vernunft, den neugierigen über dieses Leben hinaus reichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben, als einen Wink derselben anzusehen, unser Selbsterkenntniß von der fruchtlosen überschwänglichen Speculation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden (B421).
Der praktische Kontext zeichnet sich dadurch aus, dass die in ihm relevanten Prinzipien nicht aus der Erfahrung stammen. Diesen Punkt führt Kant wenig später genauer aus: Gesetzt aber, es fände sich in der Folge, nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen […] a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen: so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligibele (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann (B430 f.).
Falls es Gesetze der reinen Vernunft gibt, so Kant, könnten wir unsere Existenz a priori bestimmen. Im Anschluss an das Zitat macht er explizit, dass er das Mo-
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
ralgesetz als dieses Gesetz der reinen Vernunft sieht. Durch das Moralgesetz ist etwas möglich, was in theoretischer Hinsicht unmöglich ist: Kant hatte dafür argumentiert, dass wir die Wirklichkeit durch reine Vernunft unabhängig von aller Erfahrung theoretisch nicht „bestimmen“ können. Das Moralgesetz ist im Gegensatz dazu tatsächlich „ein Princip der Bestimmung meiner Existenz, welches rein intellectuell ist“ (B431). Bei diesem Übergang von der theoretischen zur praktischen Bestimmung entsteht jedoch der Eindruck, Kant habe dabei eine Zweideutigkeit von „bestimmen“ ausgenutzt. In theoretischer Hinsicht bedeutet „bestimmen“ so viel wie: Eigenschaften zu erkennen und zu benennen, oder „einem Gegenstand ein Prädikat unter Ausschließung seines Gegenteils zuzuschreiben (vgl. AA I 391)“ (Rosefeldt 2007, 208). Dies ist in Bezug auf das noumenale Ich nicht möglich – wir können seine Eigenschaften nicht kennen. In praktischer Hinsicht wird „bestimmen“ von Kant im Zusammenhang mit Selbst- oder Willensbestimmung (z. B. 5:13) verwendet und bedeutet: Sich für eine Maxime oder Handlung entscheiden. Es geht in praktischer Hinsicht nicht um die Erkenntnis und Bezeichnung von Eigenschaften, sondern um das Hervorbringen von etwas: Die Person bestimmt sich zu Handlungen und bringt dadurch Wirkungen hervor, die ihren Zweckvorstellungen entsprechen.²²⁴ Doch auch wenn die Zweideutigkeit des Begriffs der Bestimmung nicht übergangen werden sollte,²²⁵ bleibt Kants Grundidee für den Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie erkennbar: In theoretischer Hinsicht können wir kein Wissen über die Person erlangen, wie sie unabhängig von der Erfahrung ist. Doch in praktischer Hinsicht können wir sehr
In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant die theoretische und die praktische Erkenntnis der Vernunft gerade dadurch, dass erstere dazu dient, Gegenstände (bzw. ihre Begriffe) zu „bestimmen“, während letztere darauf aus ist, Gegenstände „wirklich zu machen“: „[I]hre Erkenntnis [die Erkenntnis der Vernunft, CB] kann auf zweierlei Art auf ihren Gegenstand bezogen werden, entweder diesen und seinen Begriff […] bloß zu bestimmen, oder ihn auch wirklich zu machen. Die erste ist theoretische, die andere praktische Erkenntniß der Vernunft“ (BIXf.). Obwohl diese Passage es nahelegt, die Aufgabe der theoretischen Vernunft im Bestimmen und die der praktischen Vernunft im Verwirklichen von Gegenständen zu sehen, ist sie auch damit vereinbar, dass praktische Vernunft den Gegenstand sowohl bestimmt als „auch“ wirklich macht. Heiner Klemme betont den Zusammenhang der rationalen Psychologie mit der praktischen Selbstbestimmung über die „Bestimmung unseres Daseins“ durch Vernunft (Klemme 1996, 398). Er thematisiert die Zweideutigkeit von „Bestimmen“ dort jedoch nicht. In einem neueren Aufsatz diskutiert er den Zusammenhang zwischen empirischer Bestimmung von Gegenständen der Erfahrung und „Bestimmung des Gebrauchs, den ich von meiner freien Willkür mache“ (Klemme 2012, 212). Klemmes Analyse legt nahe, dass es sich in beiden Fällen um ein Bestimmen handelt, weil in beiden Fällen die logischen Formen des Urteils angewendet werden.
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wohl etwas über die nicht-empirische Person wissen: Sie ist dadurch ausgezeichnet, dass sie sich nach dem a priori geltenden Moralgesetz richten kann. Kant zieht in Bezug auf die Person als „metaphysische Substanz“, als Ding an sich, in der Paralogismus-Kritik eine klare Grenze der theoretischen Bestimmbarkeit: Man kann keine objektive Erkenntnis über die Person in dieser Hinsicht erlangen und demnach auch die Frage nach ihrer diachronen Identität nicht sinnvoll stellen. Doch in praktischer Hinsicht sieht es anders aus: Die moralische Person – und damit die Person als Zurechnungssubjekt – kann sich als nichtempirische Person auffassen, da sie sich das Moralgesetz aus reiner Vernunft gibt und somit ihr Dasein auf nicht-empirische Weise „bestimmt“.
2.3 Die Person als moralisch autonomes Wesen Die Person ist Zurechnungssubjekt aufgrund ihrer moralischen Persönlichkeit, das heißt, weil sie moralisch autonom ist. Wie kann ihre diachrone Identität verstanden werden? Genauer gesagt: Wie kann Autonomie herangezogen werden, um die Kriterien für die diachrone Identität der Person als moralisches Zurechnungssubjekt zu finden? Ich möchte zwei Alternativvorschläge darstellen und schließlich eine Vermittlung der beiden vornehmen. Der erste Vorschlag kann die metaphysische Konzeption des Zurechnungssubjekts, der zweite die empirischpraktische Konzeption genannt werden.
2.3.1 Die metaphysische Konzeption des Zurechnungssubjekts Die metaphysische Konzeption der Person als Zurechnungssubjekt greift die Konzeption der Person als metaphysischer Substanz auf, die Kant im Paralogismus-Kapitel in theoretischer Hinsicht kritisiert hatte. Diese Interpretation der Person geht davon aus, dass die Person in praktischer Hinsicht als nicht-empirische, intelligible Entität, als Noumenon in positiver Bedeutung, aufgefasst werden muss. Ein bekannter Vertreter dieser Ansicht ist Karl Ameriks, der meint: [I]t must be noted that in some contexts for Kant there is no getting around thinking of a thing in itself that is transcendent in a strong sense, one that involves existence clearly separate from the whole realm of sensible appearances and human theoretical knowledge. It is evident from the results of Kant’s work, and especially the implications of his practical doctrines, that he holds that there are a number of different kinds of such transcendent things in themselves […]. God, as the coordinator of the highest good, is taken to be properly thought of as a thing in itself […]. Finite selves, such as the moral persons that human beings take themselves to be, have a closer relation to the empirical domain. […] [T]he thing in itself that is a finite self’s
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
soul and free will might need some sensible being to affect and to ‚attach‘ to at some point (Ameriks 2003, 22).
Auch wenn Ameriks sagt, dass Personen als endliche Wesen eine „engere Beziehung“ zum Empirischen haben als Gott, der ausschließlich „Ding an sich“ ist, wird doch deutlich, dass er die moralische Person als ein selbständiges „Ding an sich“ sieht, das auf irgend eine Weise an die empirische Person „andocken“ („attach“) muss.²²⁶ Aus einer solchen metaphysischen Lesart folgt, dass die Frage nach der diachronen Identität des moralischen Subjekts eine eindeutige Antwort findet, denn als Ding an sich steht die Person nicht unter Zeitbedingungen – genauso gut kann man sagen, sie bleibe über alle Zeiten hinweg dieselbe. In dieser Interpretation ist irrelevant, ob eine Handlung in der Vergangenheit liegt: Die Handlung wird dem zeitunabhängigen, metaphysischen Kern der Person zugerechnet, der sich nie ändert.²²⁷ Es ist möglich, Kant eine solche Konzeption der diachronen Identität einer Person zuzuschreiben, und Kant selbst legt eine solche Interpretation unter anderem in seiner Behandlung des Gewissens nahe, wenn er sagt, dass „Reue über eine längst begangene That bei jeder Erinnerung derselben“ angemessen sei, obgleich man die Tat nicht ungeschehen machen könne, „weil die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt“ (5:99). Hieraus könnte man schließen, dass man in Bezug auf die Person als Zurechnungssubjekt nicht beachten muss, wann die Handlung geschehen ist. Doch genau besehen sagt Kant nur, dass die mora Diese Lesart verteidigt Ameriks auch gegen Allison, der eine nicht-metaphysische Interpretation vertritt (vgl. Ameriks 2003, 212 ff.). Eric Watkins teils Ameriks Skepsis gegenüber der anti-metaphysischen Lesart (vgl. Watkins 2004, 737), jedoch benennt er auch einige schwierige Fragen, die mit der metaphysischen Interpretation des freien Subjekts verbunden sind, beispielsweise ob das autonome, nicht-empirische Selbst ein einziges allgemeines Selbst ist, das hinter allen individuellen, empirischen Personen steht und ob dies das platonische Modell impliziert, dass empirische Wesen an ewigen Formen partizipieren (vgl. Watkins 2004, 738). In der aktuellen Debatte um personale Identität ist dieser Vorschlag als nicht-reduktionistische Theorie einzustufen (vgl. Parfit 1984, 210). Nicht-Reduktionisten lehnen die These ab, dass die diachrone Identität einer Person in der Gegebenheit anderer, speziellerer Tatsachen, wie z. B. Bewusstsein oder Körper, besteht. Sie vertreten hingegen die Ansicht, dass die personale Identität in einer unabhängigen Tatsache, einem „further fact“ (Parfit 1984, 210) besteht. Einige Vertreter dieser Ansicht, wie z. B. Reid, vertreten darüber hinaus die These, dass eine so verstandene personale Identität die Grundlage der Moral ist und wir solch eine Identität voraussetzen müssen, um uns für zurechnungsfähig zu halten: „[I]dentity, when applied to persons, has no ambiguity, and admits not of degrees, or of more or less. It is the foundation of all rights and obligations, and of all accountableness“ (zitiert nach Parfit 1984, 323).
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lische Bewertung einer Handlung nicht zeitabhängig ist. Dass die Handlung der gegenwärtigen Person zurechenbar ist, muss vorausgesetzt werden: Die Vernunft fragt nur, „ob die Begebenheit mir als That angehöre, [verknüpft moralisch] alsdann aber immer dieselbe Empfindung damit, sie mag jetzt geschehen oder vorlängst geschehen sein“ (ebd., H.v.m.). Das heißt: Genau dann wenn mir die Tat „angehört“, d. h. mir zurechenbar ist, ist es für die moralische Bewertung gleichgültig, wann sie geschehen ist. Die Handlung ist mir aber nur zurechenbar, wenn meine diachrone Identität vorausgesetzt werden kann. Zudem ist zu beachten, dass es in dieser Passage nur um die innere Zurechnung vor dem eigenen Gewissen geht. Da diese Art der Zurechnung nur im Bewusstsein der ersten Person stattfindet – das Gewissen wird von Kant auch das „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes“ (6:438, H.v.m.) bezeichnet –, liegt die Vermutung nahe, dass auch die diachrone Identität seiner selbst für innere Zurechnung schon gegeben ist, wenn ein kontinuierliches Bewusstsein vorliegt. Man könnte versucht sein, dieses Bewusstsein mit dem logischen Bewusstsein der eigenen diachronen Identität im Denken zu identifizieren. Doch wie bereits im letzten Abschnitt argumentiert, ginge dadurch der Bezug zur Autonomie als Bedingung der Zurechnungsfähigkeit verloren. Kant selbst unterscheidet das Bewusstsein, das das Gewissen ausmacht, von dem „Bewußtsein aller unserer Vorstellungen nur in logischer Absicht, […] wenn wir unsere Vorstellung klar machen wollen“ (6:185). Es muss sich beim Bewusstsein des Gewissens um ein spezifisch praktisches Bewusstsein seiner selbst als autonomes Subjekt handeln.²²⁸ Man könnte hier den Bogen zurück zur Interpretation des Zurechnungssubjekts als metaphysischer Substanz schlagen und dieses Bewusstsein als praktisches Bewusstsein seiner selbst als Ding an sich deuten und somit annehmen, eine metaphysische Substanz sei das eigentliche Zurechnungssubjekt. Doch diese rein metaphysische Konzeption der Person lässt die Frage offen, wie die Person als metaphysische Substanz mit der empirischen Welt vermittelt werden kann, in der sie als handelndes Subjekt auftritt. Auf diese Weise stellt sich die Frage nach der synchronen Einheit des „homo noumenon“ und des „homo phaenomenon“ besonders dringlich und scheint keine Antwort zu haben. Selbst ein Vertreter der metaphysischen Interpretation der Person wie Ameriks macht darauf aufmerksam, dass das intelligible Subjekt an ein empirisches Wesen
In diesem Sinne macht Hoffmann den Vorschlag, das Gewissen bei Kant als „praktische“ oder „moralische Apperzeption“ (Hoffmann 2002, 440) zu verstehen. So, wie man durch den Bezug auf das „Ich denke“ alle seine Vorstellungen als die seinen verstehen kann, so habe das Gewissen die Funktion, „sich jederzeit zu seinen Handlungen noch einmal reflexiv zu verhalten, d. h. sie sich gerade dadurch zu appropriieren bzw. zu imputieren, daß ich sie auf den Anspruch ihrer Pflichtmäßigkeit und somit meiner moralischen Personidentität beziehe“ (ebd.).
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
„andocken“ muss. Eine solche Formulierung zeigt, dass die Trennung von „homo noumenon“ und „homo phaenomenon“ zu weit getrieben wurde. Ich werde im Folgenden vorschlagen, das Verhältnis von „homo noumenon“ und „homo phaenomenon“ als Ausdrucksrelation analog zum Verhältnis von intelligiblem und empirischem Charakter (vgl. Kapitel 3) zu verstehen: Der intelligible Aspekt der Person, ihr autonomer Wille, ist eine Fähigkeit, die sich in der Wahl von Maximen und entsprechenden Handlungen realisiert bzw. ausdrückt. Insofern lässt sich sagen, dass Maximen und die dadurch hergestellten Handlungszusammenhänge die Person als moralisches Zurechnungssubjekt im Empirischen konstituieren. Auf diese Weise hat die Kantische Theorie die Möglichkeit, das Zurechnungssubjekt darzustellen, ohne eine Kluft zwischen dem autonomen Subjekt und der empirischen Welt entstehen zu lassen. Eine Konzeption, die die Person jedoch nur über empirisch sichtbare Handlungen zu begreifen versucht, greift ebenso zu kurz wie die in diesem Abschnitt dargestellte metaphysische Konzeption. Eine empirisch-praktische Konzeption der Person als Zurechnungssubjekt soll nun vorgestellt werden, um sie im Anschluss daran auf die metaphysische Konzeption zu beziehen und mit ihr zu vermitteln.
2.3.2 Die empirisch-praktische Konzeption des Zurechnungssubjekts Um eine „praktische“ Konzeption diachroner Identität zu entwickeln, lässt sich an Arbeiten von Christine Korsgaard und Marcus Willaschek anknüpfen, die sich allerdings mit einer Konzeption der Person im allgemeinen beschäftigen und ihre Ergebnisse nur nebenbei auf die Zurechnungsproblematik anwenden. Korsgaards These ist, dass die diachrone Identität einer Person nicht von vorneherein gegeben ist, sondern von der Person selbst durch ihre Handlungen, durch ihre „Lebensführung“, konstruiert wird: In choosing our careers, and pursuing our friendships and family lives, we both presuppose and construct a continuity of identity and of agency. […] In order to carry out a rational plan of life, you need to be one continuing person. You normally think you lead one continuing life because you are one person, but according to this argument the truth is the reverse. You are one continuing person because you have one life to lead (Korsgaard 1996c, 371 f., H.v.m.).
Durch ihre Handlungen manifestiert sich, wer die Person sein will. Und nicht nur das: Durch den kontinuierlichen Zusammenhang ihrer Handlungen erschafft die Person ihre eigene Identität durch die Zeit hinweg. Indem eine Person zum Beispiel ein Medizinstudium aufnimmt, erschafft sie sich als eine Person, die Ärztin werden will und nach diesem Plan in der Zukunft handeln wird. Das Leben dieser Medizinstudentin und späteren Ärztin besitzt einen Zusammenhang, der es ihr erlaubt, sich als eine zeitlich kontinuierliche Person zu sehen. Korsgaards Vor-
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schlag lässt sich deshalb als empirisch-praktische Konzeption bezeichnen, weil es ihr zufolge die empirisch sichtbaren Handlungen sind, durch eine Person ihre Identität konstruiert bzw. konstituiert.²²⁹ Allerdings ist nicht leicht zu sehen, auf welches „Argument“ Korsgaard in dem Zitat anspielt, um ihre These zu begründen. Willaschek erläutert dieselbe These mit einer Analogie: Wie oben (vgl. Abschnitt 2.2.1) gesehen, betrachtet Kant Handlungen als hinreichendes Kriterium dafür, ein Handlungssubjekt als Substanz in der Erscheinung bezeichnen zu können. Da jedoch Personen als Zurechnungssubjekte von anderen, unbelebten Gegenständen, die im weiten Sinn handeln, unterschieden werden sollen, ist es offenbar nicht hinreichend, ihre Handlungen im weiten Sinn zu betrachten. Willaschek schlägt deshalb die folgende Analogie vor: Wie die Kontinuität der empirischen Veränderungen es erlaubt, einen im Zeitablauf identischen, sich verändernden „Gegenstand“ anzunehmen, dessen Identität in der Kontinuität der Veränderungen sozusagen aufgeht, so könnte auch die „Kontinuität“ in den zuschreibbaren²³⁰ Handlungen eines Menschen seine Identität als Person vollständig festlegen. Danach wäre die Identität der handelnden Person eine Funktion des Zusammenhangs ihrer „Thaten“ (Willaschek 1992, 268).
Nach Willascheks Vorschlag wird die Identität einer Person dadurch konstituiert, dass man eine Menge von Ereignissen als freie, zurechenbare Handlungen einer Person interpretiert. Da zurechenbare Handlungen immer nach Maximen geschehen, lässt sich der Vorschlag auf Maximen ausdehnen: Die Identität des Zurechnungssubjekts wird durch die Menge seiner Handlungen und den Zusammenhang seiner Maximen konstituiert. Dass dieser Vorschlag bereits keine rein empirisch-praktische Konzeption ist, ist daraus ersichtlich, dass die Handlungen, die die Identität der Person konstituieren, nicht bloß als empirische Ereignisse, sondern als zurechenbare und damit freie, intelligible Handlungen interpretiert werden müssen.²³¹ Die Notwendigkeit, bei der Identitätskonstruktion über die rein empirisch gegebenen Handlungen
„Konstituiert“ scheint stärker als „konstruiert“, da etwas Konstruiertes oft mit Unwirklichem assoziiert wird (Man kann „ein Beispiel konstruieren“, das in Wirklichkeit nicht vorkommt). Die personale Identität besteht hingegen nach der empirisch-praktischen Konzeption in Handlungen und wird insofern aus diesen „erbaut“ bzw. konstituiert. Wenn man, wie im ersten Kapitel vorgeschlagen, einen Unterschied zwischen zuschreibbaren und zurechenbaren Handlungen machen möchte (erstere gehen nur in einem kausalen, nicht-moralischen Sinn auf die Person zurück), müsste es entsprechend heißen: die Kontinuität in den zurechenbaren Handlungen eines Menschen legt seine Identität als Person fest. Vgl. Willaschek 1992, 267.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
hinaus zu gehen, wird im Rahmen des Vermittlungsvorschlags der metaphysischen und der empirisch-praktischen Konzeption noch deutlicher werden. Der Zirkeleinwand Ein naheliegender Zirkeleinwand gegen den Vorschlag, die Identität der Person als durch ihre Handlungen und Maximen konstituiert zu verstehen, lautet: Muss man nicht bereits eine Person sein, um Handlungen und Maximen wählen zu können? Wenn Handlungen die Objekte der Zurechnung sind, wie können sie dann gleichzeitig auch konstitutiv für das Subjekt der Zurechnung sein? Die Frage, wie Handlungen eine Person konstituieren können, wenn eine Person bereits existieren muss, um die Handlungen zu wählen, nennt Korsgaard das „Paradox der Selbstkonstitution“ und meint, das Problem mithilfe einer Analogie lösen zu können: So wie sich eine Giraffe durch (biologische) Aktivität selbst konstituiert, so konstituiert sich eine Person durch (rationale) Aktivität. Allerdings ist es schwer zu sehen, warum das Paradox im Fall der Giraffe nicht existieren sollte.²³² In einem ersten Zugriff lässt sich das Paradox folgendermaßen abmildern: Die Person konstituiert sich nicht selbst aus dem Nichts, sondern die allgemeine Person – der Mensch samt Autonomie, mit der Fähigkeit zur Wahl von Maximen – konstituiert sich als besondere, individuelle Person. Bezogen auf den intelligiblen Charakter der Person, den man einerseits als Vermögen und andererseits als individuelles Resultat des Vermögens auffassen kann (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 4), heißt das: Aufgrund ihres intelligiblen Charakters als Vermögen konstituiert die Person ihren persönlichen, individuellen Charakter. Doch dies kann noch nicht die ganze Antwort auf den Zirkeleinwand sein. Denn betrachtet man die zeitliche Entwicklung einer Person, ist es schwer vorstellbar, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt ein Bündel von Fähigkeiten gibt, das dann Maximen wählt und fortan eine Person ist. Die Annahme ist plausibler, dass ein Kind zu einer Person mit den entsprechenden Fähigkeiten wird, aber zunächst bloß anerzogene Maximen besitzt, die es unreflektiert übernommen hat. Diese Person, die immer schon aus Fähigkeiten und Maximen besteht, kann schließlich ihre eigenen Maximen wählen. Der Übergang von einer Menge von übernommenen Maximen zu einer Menge von selbst gewählten Maximen scheint in empirischer Hinsicht graduell zu sein (vgl. dazu Kapitel 9). Kant beschreibt diesen Übergang jedoch nicht explizit, sondern geht von Personen aus, von denen man bereits sagen kann, sie hätten sich ihren Charakter „selbst verschafft“ (5:98). Korsgaard schreibt: „No one is tempted to say: ‚how can the giraffe make itself into itself unless it is already there?‘ […] The picture here is of the self-constitutive process that is the essence of life. The paradox of self-constitution, in this context, is no paradox at all“ (Korsgaard 2009, 42).
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Nimmt man eine Person an, die bereits nach eigenen Maximen handelt, stellt sich in Bezug auf jede einzelne Handlung der genannte Zirkeleinwand: Wie kann eine Handlung Objekt der Zurechnung sein, wenn die Identität der Person, der die Handlung zugerechnet werden soll, aus Handlungen konstituiert ist? Hier sollte beachtet werden, dass eine Handlung, um deren Zurechenbarkeit es zu einem Zeitpunkt geht, noch nicht zu der Person gezählt werden kann, so wie sich diese bis dahin konstituiert hat. Das Paradox bezüglich einzelner Handlungen löst sich also in einer zeitlichen Perspektive auf, da eine bestimmte Handlung von einer Person vollzogen wird, deren Identität sich aus anderen Handlungen zusammensetzt. Diese Überlegungen haben Konsequenzen für den Zusammenhang zwischen Person und Handlung, der sich im Zurechnungsurteil ausdrückt: Dieser Zusammenhang besteht nicht nur darin, dass die Person retrospektiv verantwortlich für die zugerechnete Handlung ist und dies die beschriebenen Konsequenzen vor ihrem Gewissen oder in intersubjektiven Kontexten (z. B. Dankbarkeit und Strafe) nach sich ziehen kann. Darüber hinaus drückt das Zurechnungsurteil aus, dass das zurechenbare Handeln als eine Aktivität aufgefasst wird, durch die sich die Person selbst konstituiert. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Handlungen nur den empirischen Aspekt der Person ausmachen. Im folgenden Abschnitt wird dieser empirische mit dem intelligiblen Aspekt der Person, ihrer Autonomie, in Beziehung gesetzt.
2.3.3 Die Person als moralisch-praktisches Zurechnungssubjekt Alle Elemente für einen Vermittlungsvorschlag zwischen der metaphysischen und der empirisch-praktischen Konzeption der Person sind nun genannt. Der metaphysische Vorschlag besagt, dass die Person in praktischer Hinsicht ein Ding an sich ist, während die empirisch-praktische Konzeption die Person als konstituiert durch ihre Handlungen und Maximen versteht. Der Vermittlungsvorschlag beruht darauf, Maximen und daraus folgende Handlungen als Ausdruck der Person als Ding an sich – die als solche unerkennbar ist – aufzufassen. Kant versteht den intelligiblen Charakter bzw. die transzendentale Freiheit als Eigenschaft eines Dings an sich (vgl. Kapitel 2). Insofern Handlungen und Maximen Ausdruck des intelligiblen Charakters bzw. der transzendentalen Freiheit sind, sind sie auch Ausdruck der Person im Sinne eines Dings an sich. Eine Maxime ist Ausdruck der Autonomie und damit des intelligiblen Charakters der Person, wenn die Person die Maxime unter dem Anspruch des Moralgesetzes zu wählen in der Lage ist. Kant meint, dass wir als autonome Personen uns des moralischen Gesetzes „unmittelbar bewußt werden, […] so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen“ (5:29). Die Maximen einer Person können also als Ausdruck ihrer Autonomie gelten, weil
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
die Bildung von Maximen bei autonomen Personen immer unter moralischem Anspruch steht. Dies gilt auch für ihre zurechenbaren Handlungen, weil diese nach autonom gewählten Maximen geschehen. Auf der Grundlage dieser Ausdrucksrelation lautet der Vorschlag, dass das Zurechnungssubjekt nicht entweder der „homo noumenon“ oder der „homo phaenomenon“ ist, sondern der „homo noumenon“, das autonome Subjekt, wie es sich empirisch ausdrückt. Es ist deshalb möglich, dass unsere Zurechnungen auf den empirischen Charakter – die Maximen und Handlungen der Person „bezogen“ (A552/B580, Anm.), und dabei gleichzeitig dem intelligiblen Charakter „beigemessen“ werden (ebd.). Dieser Vorschlag ist ein vermittelnder Vorschlag: Auf der einen Seite macht die metaphysische Konzeption, derzufolge die Person als autonomes Wesen ein „Noumenon“ ist, die Maximenkonzeption verständlich, denn nur durch den Verweis auf die Autonomie der Person ist einsichtig, warum ausgerechnet Maximen und Handlungen die Elemente sein sollen, die die Identität der Person als Zurechnungssubjekt ausmachen, und nicht beliebige psychologische Zustände wie Erinnerungen oder andere Arten von Überzeugungen. Maximen und entsprechende Handlungen konstituieren den empirischen Aspekt der Identität der Person, insofern sie Ausdruck dessen sind, was die Person wesentlich ausmacht, und zwar ihrer Autonomie. Auf der anderen Seite wird die metaphysische Konzeption durch die praktische Konzeption entmystifiziert und gewinnt einen spezifisch praktischen Sinn, da erst die praktische Konzeption deutlich macht, wie sich die „Idee“ der Person als Noumenon in der Erfahrung zeigt.²³³
Der Vermittlungsvorschlag entspricht im Kern dem, wofür Willaschek und Korsgaard argumentieren. Willaschek sieht seine Konzeption ebenfalls als Vermittlungsvorschlag. Der Unterschied zu der hier vorgeschlagenen Interpretation besteht darin, dass es nach Willaschek schon ausreichen würde, das Verhalten als Ausdruck der Zweckrationalität zu interpretieren: Solange wir überhaupt Gründe für das Verhalten finden, interpretieren wir das Verhalten als zurechenbare Handlungen einer Person (vgl. Willaschek 1992, 275). Wenn man jedoch beachtet, dass Kant moralische Autonomie als notwendig für das Personensein sieht, dann muss das Verhalten immer schon auch im Hinblick auf spezifisch moralische Gründe interpretiert werden. Doch in einem zweiten Schritt erkennt auch Willaschek an, dass es sich bei der Person um ein moralisches Wesen handeln muss, nämlich insofern man (wie Kant) voraussetzt, dass sie sich ihren Charakter „selbst verschafft“ (5:98). So kommt auch Willaschek zu dem Schluss, dass man nach Kant mit „jeder Handlungszuschreibung […] die Autonomie oder „Persönlichkeit“ des Handelnden und die Geltung moralischer Gebote, unter denen sein Handeln steht, voraus[setzt]“ (Willaschek 1992, 282). Nach Korsgaard wird Identität durch bestimmte psychologische Verbindungen hergestellt. Korsgaard will die Überzeugungen und Wünsche auszeichnen, die auf die Aktivität der Person zurückgehen: „This is because beliefs and desires you have actively arrived at are more truly your own than those which have simply arisen in you“ (Korsgaard 1996c, 379, H.v.m.). In dieser Beschreibung fehlt der direkte Bezug zur Autonomie der Person, obgleich es nahe liegt, dass die
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An dieser Stelle wird die Frage relevant, die bereits in Kapitel 3 (Abschnitt 4) angesprochen wurde: Ob die Maximen einer Person überhaupt zu ihrem empirischen, und nicht viel eher zu ihrem intelligiblen Charakter gehören. Wie bereits angesprochen, ist Kants eigene Darstellung von Maximen zweideutig bezüglich der Frage, ob sie empirisch zugänglich sind. Als Teil einer „empirischen Seelenlehre“ (4:427) könnten sie ohne Weiteres dem empirischen Charakter zugeschrieben werden, doch andererseits behauptet Kant, Maximen könne man „nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst“ (6:20). Für den hier beschriebenen Vermittlungsvorschlag ist es jedoch nicht notwendig, dass alle Maximen einer Person auf empirischer Grundlage zu erschließen sind. Da nach Kant eine Maxime ein Prinzip ist, „nach welchem das Subject handelt“ (4:420, Anm. 2), drücken sich Maximen normalerweise auch im Handeln aus.Wenn eine Person wiederholt Geld nicht zurückbezahlt, das sie sich geliehen hat, wird sie sich wohl Kants Beispielmaxime zu eigen gemacht haben: „[W]enn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen“ (4:422). Es ist für eine solche Einschätzung der Person jedoch eine gute Kenntnis ihrer Handlungsmuster notwendig, die oft nicht vorhanden ist, und selbst wenn diese Kenntnis bestünde, bliebe das beobachtbare Verhalten einer Person verschiedenen Interpretationen, welche Maximen zugrunde liegen mögen, offen. Der Schluss vom empirischen Verhalten auf die Maximen der Person ist also immer mit Unsicherheiten behaftet. Diese Unsicherheit lässt sich als ein Aspekt der Fallibilität von Zurechnungsurteilen verstehen, die darauf beruht, dass der intelligible Charakter einer Person nicht zweifelsfrei erkennbar ist. Er ist nur über seinen empirischen Ausdruck zugänglich, d. h. unsere Zurechnungen können „nur auf den empirischen Charakter bezogen werden“ (A552/B580, Anm.). Beachtet man Kants Aussage, dass auch der empirische Charakter nicht einfach gegeben ist, sondern „selbst aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß“ (A549/B577, H.v.m.), wird deutlich, dass auch die Zurechnung, die sich auf den empirischen Charakter bezieht, eine Interpretation eines holistischen Zusammenhangs auf der Grundlage empirischer Beobachtung
„Aktivität“ der Person als autonome Aktivität zu verstehen ist. Doch der fehlende Bezug zur Autonomie verdeckt die Möglichkeit, diesen Vorschlag als Interpretation von Kants Sicht stark zu machen. Denn Kant geht es nicht explizit darum, was die Überzeugungen und Wünsche „more truly“, also mehr oder weniger authentisch, die eigenen sein lässt. Nur dann, wenn man die Authentizität der praktischen Einstellungen damit erklärt, dass diese der Autonomie der Person entspringen, wird der Bezug zu Kant und die Übereinstimmung mit dem vorgestellten Vermittlungsvorschlag sichtbar.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
ist. Genausowenig wie transzendentale Freiheit als Bedingung für Zurechnung empirisch erkennbar ist, sondern postuliert werden muss, ist also auch die Identität der Person kein Gegenstand empirischer Erkenntnis. Nichtsdestotrotz hat die personale Identität neben dem intelligiblen auch einen empirischen Aspekt, der in Maximen und Handlungen besteht. Dieser Vorschlag wird nun auf die Frage nach synchroner und diachroner Identität der Person bezogen.
3. Synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen Es lassen sich verschiedene Hinsichten unterscheiden, in denen sich die Frage nach der synchronen Einheit stellt. Man kann zunächst ins Auge fassen, dass eine Person sinnliche Neigungen hat, die zu widersprüchlichen Handlungszielen motivieren können. Die erste Einheitsfrage wäre dann, wie widersprüchliche Neigungen so vereinheitlicht werden können, dass sich die Person aus einer Menge von sich ausschließenden Handlungsalternativen für eine Handlung entscheidet. Zweitens kann man in den Blick nehmen, dass die Person nach empirischen Prinzipien der Glückseligkeit handelt, die der Moral widersprechen können, und die Frage stellen, wie die Person als autonome, selbst gesetzgebende Person („homo noumenon“) eine Einheit mit der Person bildet, die ihre Glückseligkeit – auf eventuell unmoralische Weise – verfolgt („homo phaenomenon“).²³⁴
Korsgaard fasst in einem Verweis auf Aristoteles beide Einheitsfragen zusammen, wobei sie der ersten Einheitsfrage – auch im weiteren Verlauf ihres Aufsatzes – mehr Gewicht einräumt: „Aristotle says that the practical faculty of the soul must be one thing. We think of it as having parts, of course, because we sometimes have appetites that are contrary to practical reason [damit meint Korsgaard wahrscheinlich „pure practical reason“, d. h. die zweite Einheitsfrage, denn sonst wäre diese erste Fassung der Frage nicht von der nächsten zu unterscheiden, CB], or experience conflict among our various desires [erste Einheitsfrage, CB]. Still, the faculty that originates motion must be regarded as a single thing, because we do act. Somehow, the conflicts are resolved, and no matter how many different things you want to do, you in fact do one rather than another“ (Korsgaard 1996c, 369). Korsgaard erklärt die Notwendigkeit der Vereinheitlichung dadurch, dass man handeln muss und nur einen Körper hat, um handeln zu können (vgl. Korsgaard 1996c, 370). Zweifellos begründet die Tatsache, dass eine Person nur einen Körper hat, die Notwendigkeit, nur eine Handlung (und nicht mehrere an verschiedenen Orten gleichzeitig) auszuführen. Doch die Ausführung einer Handlung könnte auch schlicht auf der zufälligen Auswahl einer Neigung, die diese Handlung motiviert, beruhen. Mit dem Verweis auf den einen Körper der Person ist nur eine Rahmenbedingung genannt, die der Entscheidung der Person äußerlich ist. Korsgaard nennt noch eine zweite Weise, wieso und auf welche Weise die Person eine synchrone Einheit herstellen muss, die meinem Vorschlag näher kommt (vgl. folgende Anmerkung).
3. Synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen
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Zur ersten Frage, wie verschiedene Neigungen vereinheitlicht werden können, lässt sich durch den Verweis auf Maximen Folgendes sagen: Nach Kant besteht Freiheit darin, dass sich eine Person nicht von sinnlichen Neigungen unmittelbar in ihrem Handeln bestimmen lässt, sondern dass Neigungen nur handlungswirksam werden, wenn die Person sie in ihre Maximen aufgenommen hat. Durch die Wahl von Maximen stellt die Person eine zweckrationale Ordnung ihrer verschiedenen Zwecke her, zunächst einmal nach dem Kriterium der Beförderung ihrer Glückseligkeit. Dies lässt sich als eine Vereinheitlichung der zunächst womöglich widersprüchlichen Neigungen verstehen.²³⁵ Die zweite Einheitsfrage berührt eine weitere Ebene: Autonome Personen streben einerseits als empirische Wesen nach Glückseligkeit und können entsprechend nach Maximen der Selbstliebe handeln, die möglicherweise unmoralisch sind; andererseits sind sie als vernünftige Wesen in der Lage, nach dem selbstgegebenen Moralgesetz zu handeln. Nach Kant gilt sowohl, „daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als ein Stück der Natur, dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten“ (4:456), als auch, dass diese beiden Aspekte „als nothwendig vereinigt“ (ebd.) in einem Subjekt gedacht werden müssen. Kant sagt allerdings nicht genau, wie diese notwendige Vereinigung genau gedacht werden soll. Die Zwei-Aspekte-Lesart (vgl. Kapitel 3) ergibt, dass es sich nicht um zwei Wesen handelt, die in „zwei Welten“ zuhause sind, sondern um zwei Aspekte eines handelnden Subjekts, das sich „in zwiefacher Qualität“ „betrachte[n]“ kann (6:418). Doch auch wenn sich die zweite Einheitsfrage somit nicht in Bezug auf zwei ontologisch getrennte Personen stellt, bleibt doch die Frage, wie die beiden Aspekte einer Person zueinander stehen: Insofern das Streben nach Glückseligkeit
Ähnlich sieht es Korsgaard in ihrem zweiten Vorschlag, wieso und auf welche Weise synchrone Einheit hergestellt wird. Sie meint, dass die Identifikation mit einem Handlungsprinzip eine Annahme ist, die wir (implizit) beim vernünftigen Überlegen, was wir tun sollen, machen: „The strength of a desire may be counted by you as a reason for acting on it; but this is different from its simply winning. This means that there is some principle or way of choosing that you regard as expressive of yourself […]. To identify with such a principle or way of choosing is to be „a law to yourself,“ and to be unified as such“ (Korsgaard 1996c, 370). Korsgaards Vorschlag ist meinem ähnlich, insofern sie betont, dass Personen nicht einfach von Neigungen zum Handeln getrieben werden, sondern nach Prinzipien – Maximen – handeln, die sie sich selbst geben. Ich stimme mit Korsgaards Vorschlag überein, bin jedoch im Gegensatz zu ihr nicht der Ansicht, dass damit die Einheitsfrage vollständig beantwortet ist: Erstens stellt sich hier natürlich die Frage, wer dieses „Ich“ ist, das Korsgaard zufolge die Maximen wählt („counted by you as a reason for acting“). Zweitens wird die Einheit des moralischen, rein vernünftigen und des empirisch-praktisch vernünftigen Teils der Person nicht erklärt, d. h. die zweite Einheitsfrage nicht beantwortet.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
mit dem moralischen Anspruch konfligieren kann, bilden die beiden Aspekte keine unverbrüchliche Einheit. Eine mögliche Antwort lässt sich in der Idee der Selbstverpflichtung finden. In den Anfangspassagen der Tugendlehre (§§1– 3) geht es Kant um die Möglichkeit der Selbstverpflichtung, die nach Kant – anders als es der Kontext der Stelle nahelegt, in dem es nur um Pflichten gegen sich selbst geht – jeder Art der moralischen Verpflichtung zugrunde liegt. Selbstverpflichtung setzt nach Kant zunächst einmal die Trennung der beiden Aspekte der Person (einerseits „Sinnenwesen“ und andererseits „Vernunftwesen“) voraus, denn Kant meint, dass der Verbindende und der Verbundene als zwei verschiedene Personen gedacht werden müssen, da sonst der erstere den letzteren „jederzeit von der Verbindlichkeit […] lossprechen“ könne (6:417). Die Verbindung der beiden Aspekte wird durch „Nöthigung“ (6:417) bzw. Selbstverpflichtung ermöglicht, die Kant – auf geradezu bildliche Weise – auch als „[V]erbinden[]“ (6:417) bezeichnet. Es wird an dieser Stelle nicht ganz deutlich, wie die Idee der Selbstverpflichtung auf der Basis der Unterscheidung zwischen „homo noumenon“ und „phaenomenon“ ausbuchstabiert werden kann, doch die Grundidee scheint zu sein, dass der Mensch als „homo noumenon“ sich selbst „als eine andere Person (homo phaenomenon) […] unterwirft“ (6:335, H.v.m.). Durch diese „Unterwerfung“, so lautet der Vorschlag, wird eine Einheit im Sinne einer eindeutigen Hierarchie hergestellt. Konkret drückt sich die Hierarchie der verschiedenen Aspekte der Person dadurch aus, dass sich die Person bei der Wahl ihrer Maximen am Sittengesetz orientiert. Die sinnliche Seite wird auf diese Weise mit der vernünftigen in Einklang gebracht, weil in den vernünftig gewählten Maximen der Person auch ihre sinnlichen Neigungen berücksichtigt werden. Da Maximen aus „Begierden und Neigungen“ einerseits und der „Mitwirkung der Vernunft“ andererseits „entspringen“ (4:427), werden in Maximen einerseits Neigungen und andererseits – bei autonomen Personen – der moralische Anspruch der Vernunft vermittelt. Diese Hierarchie- bzw. Einheitsbildung der Person in ihrer Maximenwahl passiert allerdings faktisch nicht immer, sondern ist eine normative Forderung, die auch verfehlt werden kann. Gerade bei moralisch schlechten Maximen und Handlungen ist dies der Fall, denn dann hat sich der „homo phaenomenon“ nicht „unterworfen“. Die Einheit ist also gerade nicht hergestellt worden. Offenbar kommt man nicht umhin zu sagen, dass die Einheit der Person im Fall der moralisch schlechten Handlung ein Stück weit gebrochen ist. Die Person begreift sich als „Verbrecher […] als eine andere Person“ (6:335) als die, die sich das Moralgesetz gibt. Für den Fall der unmoralischen Handlung ergeben sich diverse Probleme, von denen einige im Kontext der Diskussion zur Sprache kamen, ob eine unmoralische Handlung frei sein kann (vgl. Kapitel 2.7). Eine andere Frage ist, wer die unmoralische Handlung zu verantworten hat: Der Mensch als Vernunftwesen
3. Synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen
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„verantwortet“ nicht die Neigungen selbst, „wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte“ (4:458). Es ist dafür argumentiert worden, dass Kant keine Antwort darauf bieten kann, wer diese Nachsicht ausübt (vgl. Schönecker 2012). Diese Frage ist eng mit der hier interessierenden verknüpft, ob die gebrochene Einheit ausreicht, um die Handlung einer Person zurechnen zu können. Hier möchte ich vorschlagen, auf die Fähigkeitsinterpretation zurückzugreifen, die ich bereits herangezogen hatte, um die Möglichkeit zurechenbarer böser Handlungen zu erklären: Insofern die Person die Fähigkeit besitzt, nach moralischen Maximen zu handeln, sieht sie ihre sinnliche Seite als prinzipiell der vernünftigen untergeordnet. Die „eine“ Person, der die moralisch schlechte Handlung zugerechnet wird, ist die Person, die ihre sinnliche Seite prinzipiell als der vernünftigen untergeordnet anerkennt, auch wenn sie dies nicht immer durch die Wahl ihrer Maximen bzw. Handlungen einlöst.²³⁶ Die Einheit der autonomen Person ist nach dieser Darstellung nur aufgrund der Orientierung am Moralgesetz möglich. Doch ist es ausgeschlossen, dass eine Person eine „unmoralische Einheit“ bildet, indem sie auf bloß zweckrationale Weise Ordnung in ihre Maximen bringt? Kant erwägt in der Religionsschrift die Möglichkeit, dass „die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt […] bloß dazu braucht, um in die Triebfedern der Neigung unter dem Namen Glückseligkeit Einheit der Maximen […] hinein zu bringen“ (6:36 f.). In dem Fall wäre nach Kant „der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse“ (6:37). Kant vertritt die These, dass eine solche zweckrationale Einheit nicht stabil sei, da das Böse „Widerstreit mit sich selbst bei sich führt und kein bleibendes Princip in sich selbst verstattet“ (7:329). Das mag auf den ersten Blick verwundern, denn es scheint ein Bösewicht denkbar, der völlig konsistent nur seinen persönlichen Vorteil zu maximieren versucht. Kants Idee scheint zu sein: Wenn man ausschließlich seine Neigungen als Handlungsgrundlage annimmt, wäre eine Vermeidung von Widersprüchen nur dem Zufall zu verdanken. Erstens kommt es vor, dass man sich zu einem Zeitpunkt verschiedene, widersprüchliche Dinge wünscht. Zweitens wird in einer zeitlichen Perspektive deutlich, dass sich Neigungen über die Zeit hinweg ändern. Die Auflösung der auf Neigung basierenden Widersprüche ist nur aus einer Perspektive möglich, die von den Neigungen selbst unabhängig ist.
Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Handlung der Person als Menschen zuzurechnen, der ein Einziger ist, insofern er nur einen Körper hat. Diese Möglichkeit legt Kant nahe, wenn er in der oben zitierten Passage sagt: „Ich […] bin eben derselbe Mensch (numero idem)“, der unter verschiedenen Hinsichten betrachtet werden kann (6:439, Anm.). Der Nachteil dieses Vorschlags ist, dass ihm zufolge das, was es rechtfertigt, von einem Zurechnungssubjekt zu sprechen, der Mensch, und nicht wirklich die Person ist.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
Der kategorische Imperativ ist laut Kant das neutrale Kriterium, das Eindeutigkeit und (zeitunabhängige) Konsistenz in die Maximenwahl und das Handeln bringt.²³⁷ Allerdings kann ein moralisches Kriterium zur widerspruchsfreien Ordnung der Maximen nicht hinreichend sein, da Widersprüche zwischen moralisch erlaubten Handlungen bzw. Maximen möglich sind. Kant scheint der Moral allerdings zuzutrauen, dass sie „Einheit der die Maximen“ herstellen kann, „die ihnen sonst nicht zukommen kann“ (6:37). Als Beispiel führt Kant die „Wahrhaftigkeit“ an, die „uns der Ängstlichkeit überhebt, unseren Lügen die Übereinstimmung zu erhalten und uns nicht in den Schlangenwindungen derselben selbst zu verwickeln“ (6:37). Auch wenn Kant die Möglichkeit eines besonders schlauen Verbrechers, der geschickt alle Widersprüche seiner Lügen vermeidet, eventuell unterschätzt hat, wird an diesem Beispiel gut deutlich, wie Kant sich die Widersprüchlichkeit böser Maximen und die Herstellung von Konsistenz durch das Moralgesetz vorstellt – auch wenn er an dieser Stelle annimmt, dass das Moralgesetz nur „unter dem Namen der Glückseligkeit“ zur Vermeidung der praktischen Widersprüche eingesetzt wird und somit der intelligible Charakter der Person noch böse ist; eine vollständige Einheit also noch nicht hergestellt wurde. In Bezug auf die Einheit der Person ist nach dem Gesagten ein Zusammentreffen von Konstitutivität und Normativität anzutreffen, das bereits mit Blick auf das Verhältnis von Person und Persönlichkeit benannt wurde: Die Einheit der intelligiblen, moralischen und der sinnlichen, nach Glückseligkeit strebenden Seite der Person ist eine normative Forderung, insofern die sinnliche der vernünftigen Seite untergeordnet werden soll. Diese Forderung nach Einheit ist allerdings nicht unabhängig von der Forderung, dem Moralgesetz zu gehorchen. Wenn die Person immer nach dem Moralgesetz handelt, bildet sie eine Einheit, insofern sie ihre sinnliche Seite der vernünftigen konsistent untergeordnet hat. Obwohl die Einheit im Fall einer unmoralischen Handlung nicht vollständig hergestellt wird, bleibt bei einer autonomen Person nichtsdestotrotz der moralische Anspruch, die Anerkennung des Sittengesetzes, erhalten, und insofern be Diese Idee deutet Henrich in seiner Untersuchung über den dritten Abschnitt der Grundlegung an. Dort macht er auf die Parallele aufmerksam, die sich zwischen der „Deduktion des imperativen Charakters des Sittengesetzes“ und der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der ersten Kritik herstellen lässt (Henrich 1975, 97 f.). Analog dazu, dass die Geltung der Kategorien dadurch gezeigt ist, dass „sie sich auf in der Sinnlichkeit gegebene Empfindungen als Einheitsprinzipien von deren Synthesis anwenden lassen“ (ebd.), ermöglicht das Sittengesetz eine Vereinheitlichung des durch sinnliche Begierden affizierten Willens: „Durch die bewußte Annahme sittlicher Grundsätze wird die Möglichkeit zur weitesten und einheitlichsten Deutung menschlicher Lebensmöglichkeiten erreicht, die überhaupt gedacht werden kann“. Erst durch die Annahme moralischer Gesetze gelange ich „zu einem einheitlichen Gedanken von mir selber […] [und] meiner Stellung in zwei Welten“ (Henrich 1975, 103).
3. Synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen
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steht auch die Einheit in Form der prinzipiellen Rangordnung von Sinnlichkeit und Vernunft. Diese Einheit ist konstitutiv für die autonome Person.²³⁸ Allerdings ist eine so verstandene synchrone Einheit nicht empirisch erkennbar. Doch sie ist als Voraussetzung für Zurechnung notwendig, denn die Untersuchung hat gezeigt, dass weder nur der „homo noumenon“ noch der „homo phaenomenon“ Subjekt der Zurechnung sein kann. Im Zurechnungsurteil wird demnach die Einheit des Zurechnungssubjekts vorausgesetzt oder postuliert. Die ersten beiden Kriterien für Postulate (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 8) sind klarer Weise erfüllt: Es handelt sich um einen theoretischen Satz, der die Existenz von etwas, nämlich einheitlichen Personen, betrifft. Ferner ist die Wahrheit des Satzes theoretisch unentscheidbar, da der „homo noumenon“ kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis ist. Das dritte Kriterium, die praktische Notwendigkeit der Annahme, ist erfüllt, weil die synchrone Einheit der Person, die in der Unterordnung ihrer sinnlichen unter ihre vernünftige Seite besteht, und die Gültigkeit des Sittengesetzes für die Person zwei Seiten einer Medaille sind.
Diese Interpretation ist im Wesentlichen mit der von Korsgaard verträglich, die ebenfalls verneint, dass man eine Handlung nur dann zurechnen kann, wenn die Person eine einheitliche Identität hergestellt hat. Korsgaards Begründung ist, dass die Person für das Fehlen ihrer praktischen Einheit – und damit auch für die Handlung, die keine Einheit herzustellen vermochte – im Sinne einer Unterlassung verantwortlich ist. Sie hätte ihrer Aufgabe nachkommen und die Einheit herstellen müssen und kann deshalb für die Unterlassung und die schlechte Handlung getadelt werden (vgl. Korsgaard 2009, 175). Korsgaard macht allerdings nicht ausreichend klar, in welchem Sinn wir dazu verpflichtet sind, uns zu vereinheitlichen. Ihr Argument geht von der Prämisse aus, dass wir nicht anders können als zu handeln (vgl. Korsgaard 2009, 26). Zweitens erfordert eine Handlung einen Handelnden, und zwar – drittens – einen einheitlichen Handlenden: „[I]f it is correct that agency requires unity, then the necessity of being a unified agent comes down to the necessity of being an agent“ (Korsgaard 2009, 25 f.). In einem letzten Schritt möchte Korsgaard dafür argumentieren, dass Kants Prinzipien der praktischen Vernunft – der hypothetische und der kategorische Imperativ – diese Einheit herstellen, und diese Prinzipien deshalb für uns normativ verbindlich sind. Ohne auf diesen letzten Schritt einzugehen, lässt sich die dritte Prämisse in Frage stellen. Wie Korsgaard selbst einräumt, sind auch Handlungen möglich, die im Widerspruch zu anderen Maximen des Handelnden stehen und somit die vereinheitlichende Aufgabe nicht erfüllen (d. h. in Korsgaards Terminologie nur zu schwächerem Grad überhaupt eine Handlung sind). Deshalb folgt aus der Notwendigkeit des Handelns nicht zwingend die Notwendigkeit der Einheit des Handelnden. Korsgaard müsste demnach die normative Forderung begründen, dass im besten Sinn – nicht bloß „überhaupt“ – gehandelt werden soll.
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
4. Diachrone Identität als Zusammenhang von Maximen durch die Zeit hinweg Daran, dass die synchrone Einheit als Konsistenz der Maximen einer Person verstanden wird, sieht man, dass die „Momentaufnahme“ der Person schon einen Verweis auf die Zukunft in sich trägt: Denn schließlich sind Maximen Handlungsregeln, die das Verhalten einer Person generell, d. h. auch in zukünftigen Situationen, leiten. Es ist nicht möglich, dass eine Person zu einem Zeitpunkt eine synchrone Einheit aus bestimmten Maximen bildet, und sehr kurz danach ebenfalls eine synchrone Einheit bildet, die aber aus ganz anderen Maximen besteht. In diesem Fall könnte man von der Person zum ersten Zeitpunkt kaum behaupten, dass sie die Maximen wirklich hätte – dafür müsste sie laut Kant auch nach ihnen handeln, was Zeit erfordert (auch wenn eine Änderung der Maximen natürlich prinzipiell möglich ist). Betrachtet man die synchrone Einheit, abstrahiert man von der Bedingung der Zeit. Es geht bei der synchronen Einheit nur um die Bedingungen, unter denen Maximen eine konsistente Einheit bilden, und nicht um ihre Wahl, die Herstellung von Einheit oder anderen Prozessen, die zeitlich verfasst sind. Die diachrone Identität einer Person ergibt sich nach dem Gesagten durch Berücksichtigung der zeitlichen Dimension: Diachrone Identität der Person wird durch den Zusammenhang ihrer Maximen und Handlungen durch die Zeit hinweg hergestellt. Da Maximen ein Ausdruck der Freiheit einer Person sind, und die Annahme, wir seien frei, als Postulat verstanden wird, bietet sich an, die Annahme der diachronen Identität genau wie die Annahme synchroner Einheit als Postulat zu verstehen.²³⁹ Wie im Fall synchroner Einheit sind die ersten beiden Kriterien für Postulate erfüllt: Es handelt sich um einen theoretischen Satz, dessen Wahrheit theoretisch unentscheidbar ist. Die praktische Notwendigkeit der Annahme ergibt sich daraus, dass man sich als über die Zeit hinweg identisch annehmen muss, um überhaupt Handlungen planen und ausführen zu können. In diesem Sinne geht Teichert formuliert ebenfalls die Idee, dass diachrone Identität bei Kant vorausgesetzt werden muss, aber geht nicht der Idee nach, dass es sich um ein Postulat handeln könnte: „Die Identität des Handelnden für die Dauer des Handelns, bedarf nach Kantischer Auffassung in den paradigmatischen Fällen keines Beweises. Vielmehr stellt diese Identität eine Voraussetzung der Rede über Handlungen und handelnde Subjekte dar“ (Teichert 2000, 205). Dass die Annahme diachroner Identität als Postulat verstanden werden könnte, deutet Willaschek an: „[T]here are other candidates for relevant ontological commitments besides freedom: diachronic personal identity, for instance, or the existence of other minds. Both may plausibly be considered to be theoretically undecidable, but practically necessary in the Kantian sense“ (Willaschek 2010, 193).
4. Diachrone Identität als Zusammenhang von Maximen durch die Zeit hinweg
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Korsgaard davon aus, dass wir unsere Identität nicht nur konstruieren, sondern auch voraussetzen: „In choosing our careers, and pursuing our friendships and family lives, we […] presuppose […] a continuity of identity and of agency“ (Korsgaard 1996c, 371, H.v.m.). Gilt die Voraussetzung diachroner Identität für Handlungen, ist sie erst recht für die Wahl von Maximen unerlässlich, deren Generalität gerade darin besteht, in verschiedenen Situationen anwendbar zu sein.Wenn eine Person die Maxime wählt, ihr „Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern“ (5:27), so macht diese Maxime nur Sinn, wenn die Person annimmt, dass sie ein und dieselbe Person bleibt, während sich ihr Vermögen vergrößert. Kant kann darauf verzichten, das Postulat der Identität der Person (in synchroner und diachroner Hinsicht) eigens als Postulat aufzuführen, da es im Wesentlichen aus dem Postulat der transzendentalen Freiheit folgt. Wenn wir unsere transzendentale Freiheit (im engeren Sinn, vgl. Kapitel 2) postulieren, postulieren wir damit auch unsere Autonomie und somit unsere moralische Persönlichkeit. Nimmt man eine zeitliche Perspektive hinzu, postulieren wir damit auch unsere diachrone Identität als moralische Personen, da sich unsere transzendentale Freiheit als Autonomie in freien Handlungen und Maximen ausdrückt. Wenn die diachrone Identität einer Person postuliert werden kann, heißt dass, dass im Normalfall keine detaillierte inhaltliche Kenntnis der konkreten Maximen erforderlich ist, um von der Identität des Zurechnungssubjekts sprechen zu können. Doch genauso, wie transzendentale Freiheit nur im Normalfall postuliert werden kann, zu dem es Ausnahmen gibt (Kinder und Geisteskranke besitzen nach Kant keine freie Willkür), kann auch nicht in allen Fällen diachrone Identität vorausgesetzt werden. Es stellt sich die Frage, welche Veränderungen der Maximen möglich sind, ohne dass die diachrone Identität des Zurechnungssubjekts zerbricht. Eine mögliche Antwort lautet, dass die Veränderungen der Maximen mit der Autonomie der Person verträglich sein müssen, da die Maximen einer Person deshalb ihre Identität konstituieren, weil sie Ausdruck ihrer Autonomie sind. Zum Bruch der Identität führen Veränderungen, die manipulativ sind, die von der Person selbst nicht gutgeheißen werden oder nicht auf ihre eigene Entscheidung zurückgehen.²⁴⁰ Entsprechend lautet das „Maximenkriterium“ diachroner Iden-
Ähnlich meint Korsgaard, Identität sei mit charakterlicher Veränderung vereinbar, „provided those changes are the result of actions by the person herself or reactions for which she is responsible“ (Korsgaard 1996c, 380). Um genauere Kriterien dafür zu erhalten, welche Veränderungen mit Autonomie vereinbar sind, lässt sich auf die neuere Debatte zu Autonomie zurückgreifen. Quante bestimmt z. B. folgender Maßen die notwendigen Bedingungen dafür, wann eine Person P gegenüber einer mentalen Einstellung M autonom ist: „(i) wenn P entweder auf den Prozess der Herausbildung von M in ihrer Persönlichkeit aufmerksam wird und keinen Widerspruch gegen diese Herausbildungen leistet, oder wenn P keinen Widerstand geleistet
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8. Kapitel: Die Person als Zurechnungssubjekt
tität: Es kann die diachrone Identität einer Person in moralisch-praktischer Hinsicht postuliert werden, es sei denn ihre Maximen wurden solchen Veränderungen unterzogen, die mit der Autonomie der Person nicht verträglich sind. Das Maximenkriterium ist sogar mit inhaltlich drastischen Änderungen der Maximen vereinbar. Wenn eine Person auf autonome Weise ihre Maximen ins Gegenteil verkehrt hat – früher glaubte sie beispielsweise, andere Menschen ihren eigenen Zwecken opfern zu können, doch heute findet sie diese Ansicht abscheulich und würde nie mehr nach ihr handeln –, hat sie sich in fundamentaler Weise geändert. Auch Kant meint, dass durch eine solche „Revolution“ der Gesinnung ein „neuer Mensch“ (6:47) entsteht. Wenn diese Revolution Ausdruck der Autonomie der Person ist, lassen sich nach dem Maximenkriterium diesem „neuen“ Menschen die Taten des „alten“ zurechnen. In den Fällen, in denen das zutrifft, wird allerdings die Annahme untergraben, dass das Zurechnungsurteil auf eine Einstellung aufmerksam macht, die sowohl bei der vergangenen Handlung als auch in der Gegenwart vorliegt. Diese Annahme erweist sich mithin als eine heuristische Hypothese, die in vielen Fällen zutrifft, da Maximen zeitlich relativ stabil sind, aber nicht ausnahmslos gilt. Doch auch wenn eine Person, die sich stark verändert hat, für eine vergangene Handlung verantwortlich ist, ist sie bei Erfüllung des Maximenkriteriums in für Zurechnung relevanter Hinsicht dieselbe: Zu jedem Zeitpunkt war sie zurechnungsfähig und alle Änderungen ihrer Maximen gingen auf ihre eigene Entscheidung zurück.
hätte, falls sie auf den Prozess der Herausbildung von M aufmerksam geworden wäre; und (ii) wenn der Widerstand von P gegen die Herausbildung von M nicht deshalb ausbleibt (oder ausgeblieben wäre), weil dabei Einflussfaktoren wirken (würden), die eine reflexive Identifikation unmöglich machen; und (iii) wenn die in (i) unterstellte faktische oder kontrafaktische reflexive Identifikation (minimal) rational und frei von Selbsttäuschung ist“ (Quante 2002, 180).
9. Kapitel: Grade der Zurechnung In diesem Kapitel diskutiere ich die Frage, ob Kants Theorie Grade der Zurechnung von Handlungen zulässt.²⁴¹ Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung scheint notwendig, um speziellen Handlungssituationen, in denen ein Akteur mit Hindernissen konfrontiert wird, gerecht werden zu können. Bestimmte Gründe, etwa ein Handeln aus starkem Affekt, gelten in unserer Praxis der Verantwortungszuschreibung als Entschuldigungs- bzw. Schuldminderungsgründe, die dazu führen, dass ein Tadel teilweise oder ganz zurückgenommen wird, ein Strafmaß vermindert wird. Dieser Möglichkeit scheint Kant in seiner Theorie keinen Platz einzuräumen. Eine wichtige Vertreterin dieser Interpretation ist Christine Korsgaard, die in ihrem Aufsatz „Creating the Kingdom of Ends: Reciprocity and Responsibility in Personal Relations“ davon ausgeht, dass wir Kant zufolge entweder voll verantwortlich für jede unserer Handlungen sind, unter welchen Schwierigkeiten auch immer sie vollzogen wurden, oder eben gar nicht zum Kreis der verantwortungsfähigen Akteure gehören, so wie Kinder oder Geisteskranke (Korsgaard 1996b). Doch diese Ansicht erscheint – so sehr sie dem Klischee des Kantischen Rigorismus entspricht – arg kompromisslos. Es wäre für eine Moraltheorie problematisch, könnte sie solch eine wichtige Eigenschaft unserer moralischen Alltagsund Rechtspraxis, wie es die Möglichkeit von Entschuldigungen ist, nicht zulassen. Zudem stünde die Unmöglichkeit von Entschuldigungen in Spannung zu Kants bemerkenswerter Aussage in der Metaphysik der Sitten, die besagt, dass der „Grad der Zurechnungsfähigkeit“ von der „Größe der Hindernisse“ abhängt, die für die Ausführung der Handlung überwunden werden mussten (6:228). Indessen ist es vorderhand nicht ausgemacht, ob diese Aussage mit Kants Moralphilosophie vereinbar ist. Zunächst werde ich das Problem darstellen, wie es Korsgaard beschreibt, und zeigen, dass Kants Begriff der transzendentalen Freiheit zu dem Problem gradueller Zurechnung durchaus Anlass gibt. Im Anschluss daran wird Korsgaards Lösungsansatz vorgestellt, der sich jedoch nicht als ausreichend erweist. Ausgehend von Kants Passage zu den Zurechnungsgraden aus der Metaphysik der Sitten argumentiere ich für eine Lösung, wie Grade der Zurechnung mit Kants Theorie vereinbart werden können. Diese Lösung – soviel sei vorweggenommen – beruht auf der Unterscheidung zweier Stufen von Zurechnung und dementsprechend zweier Arten von Gründen, die die Zurechnung von Handlun-
Wesentliche Punkte dieses Kapitels habe ich in einem englischen Aufsatz zusammengefasst, der unter dem Titel „Degrees of Responsibility in Kant’s Practical Philosophy“ in Kantian Review 2015 erscheint.
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
gen anfechten können. Mein Vorschlag ist, dass die Unterscheidung zweier Aspekte von Verantwortung (die den beiden Stufen der Zurechnung – der Zurechnung zur Tat und der Zurechnung zu Schuld oder Verdienst – entsprechen) es Kant erlaubt, von Graden in Bezug auf einen Aspekt, nämlich das Verdienst von Lob und Tadel, zu sprechen, während der andere Aspekt, Zurechnungsfähigkeit, ein klares Entweder-Oder ist.
1. Kants „Kompromisslosigkeit“ und ihre Quellen In Kants Theorie scheint die Einräumung der Möglichkeit von Graden der Zurechnung problematisch. Christine Korsgaards Formulierung des Problems eignet sich als Ausgangspunkt, um die Quelle der vermeintlichen Kompromisslosigkeit Kants genauer zu betrachten: [W]on’t Kant’s view be intransigent? For if we do regard people as free agents, fellow citizens in the Kingdom of Ends, then it seems as if we must treat them as transcendentally free and so as completely responsible for each and every action, no matter what sorts of pressures they may be under (Korsgaard 1996b, 205).
Korsgaard spricht hier das Problem der Grade der Verantwortung an, indem sie es als fraglich darstellt, ob wir vollständig („completely“) verantwortlich für all unsere Handlungen sind.²⁴² Korsgaard selbst bezieht sich auf die Frage nach Entschuldigungen: Das Problem der Kompromisslosigkeit stellt sich, „when we are making judgments about responsibility: when we must decide whether, for instance, someone is to be exonerated, excused, forgiven, blamed, or not held responsible for a bad action at all“ (Korsgaard 1996: 205, H.v.m.). Korsgaard zufolge ist es die Konzeption transzendentaler Freiheit, die die Kantische Kompromisslosigkeit begründet: Transzendental freie Wesen seien vollständig verantwortlich für jede ihrer Handlungen. In der Tat bezeichnet transzendentale Freiheit – oder auch: absolute Spontaneität – im Unterschied zur bloß „comparativen“ nicht nur die Unabhängigkeit von manchen empirischen Umständen wie z. B. äußerem Zwang, sondern die völlige Unabhängigkeit „von
In anderen Formulierungen scheint Korsgaard das davon verschiedene Problem zu adressieren, ob wir für manche Handlungen vollständig (nicht nur graduell) entschuldigt werden sollten: „[I]t seems as if holding someone responsible in general amounts to holding her responsible for everything she does“ (Korsgaard 1996 209, H.v.m.). In diesem Kapitel bin ich jedoch vor allem an der Frage nach Graden der Verantwortung interessiert, d. h. daran ob es nach Kant Gründe gibt, die teilweise entschuldigen.
1. Kants „Kompromisslosigkeit“ und ihre Quellen
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allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ (A803/B831, H.v.m.). Wie im zweiten Kapitel ausgeführt wurde, lässt sich die Unabhängigkeit von natürlichen Bedingungen und damit der Begriff transzendentaler Freiheit auf zwei Weisen interpretieren. Erstens kann transzendentale Freiheit – insbesondere auf der Grundlage der ersten Kritik – als die Fähigkeit verstanden werden, seine Handlungen nach vernünftigen Gründen im allgemeinen bzw. kategorischen und hypothetischen Imperativen auszurichten. Dass eine Handlung transzendental frei ist, heißt gemäß dieser ersten Interpretation, dass sie als vernunftbestimmtes Verhalten, als ein Handeln aus Gründen, beschrieben werden kann. Transzendentale Freiheit wird dann als absolute Unabhängigkeit von Naturursachen verstanden, insofern die Überzeugung, dass die Handlung vernünftig (moralisch oder zweckrational) ist, für den Vollzug der Handlung notwendig und hinreichend ist und darüber hinaus keine natürlichen Ursachen mehr angeführt werden müssen. Die andere Weise, transzendentale Freiheit zu verstehen, ist, sie als Fähigkeit zu denken, nach dem Moralgesetz aus Pflicht zu handeln, d. h. als Autonomie. Transzendentale Freiheit besteht demnach in der absoluten Unabhängigkeit von Naturursachen, insofern transzendental freie Handelnde nach einem nicht-empirischen Motiv handeln können: Sie können eine Handlung wählen, bloß weil diese moralisch gut ist, d. h. aus Pflicht handeln, ohne dabei eine sinnliche Neigung befriedigen zu wollen. Die Frage nach der Möglichkeit von Graden der Zurechnung stellt sich in Bezug auf beide Interpretationen transzendentaler Freiheit.²⁴³ Korsgaard selbst stellt das Problem der Zurechnungsgrade anhand der Auflösung der dritten Antinomie dar, und scheint dabei die erste Interpretation transzendentaler Freiheit zugrunde zu legen. Die Auflösung der Antinomie soll zeigen, wie die Bestimmung einer Handlung durch Naturgesetze kompatibel damit ist, dass diese Handlung zugleich transzendental frei, d. h. vernunftbestimmt, ist. Der Schlüssel zu Kants Lösung ist die Unterscheidung zwischen Erscheinungen, die Naturgesetzen gehorchen, und Dingen an sich, die als transzendental frei gedacht werden können. Einer Zwei-Aspekte-Interpretation zufolge ist diese Unterscheidung so zu verste-
Korsgaard selbst hält sich bedeckt bezüglich der Frage, wie sie transzendentale Freiheit versteht: Ihre Darstellung des Problems passt, wie gleich deutlich wird, besser zur ersten Interpretation transzendentaler Freiheit, jedoch spricht sie in ihrer Lösung nur von moralischer Motivation oder dem guten Willen, wenn sie die transzendentale Freiheit von Personen beschreibt (vgl. Korsgaard 1996b, 210, 211). In den Fußnoten 21 und 31 nimmt sie Stellung dazu, dass ihr Begriff der Freiheit nicht deutlich zwischen Kants Zugängen in der Grundlegung und der zweiten Kritik unterscheidet. Dabei hat sie jedoch wahrscheinlich andere Interpretationsalternativen der Freiheit im Sinn als ich, nämlich die Freiheit unserer selbst als denkende versus handelnde Wesen (vgl. Korsgaard 1996b, 217, Anm. 21; 219, Anm. 31).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
hen, dass Objekte und ihre Handlungen aus zwei Perspektiven betrachtet werden können (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 5): Nimmt man die theoretische, empirische Perspektive ein, so betrachtet man Handlungen als Erscheinungen und fragt nach einer Erklärung durch natürliche Ursachen. Aus einer praktischen, intelligiblen Perspektive – der Perspektive der „Dinge an sich“ – lässt sich nach einer vernünftigen Begründung der Handlung fragen. Diesen Standpunkt nehmen wir ein, wenn wir uns als Personen betrachten, denen ihre Handlungen moralisch zurechenbar sind. Das Problem der Zurechnungsgrade entsteht, so lässt sich in Anschluss an Korsgaard sagen, wenn man bedenkt, dass die beiden Perspektiven nicht „vermischt“ werden können. Wenn die Handlung zugerechnet werden soll, muss man die intelligible Perspektive einnehmen, in der empirische Erklärungen irrelevant sind und die Handlung als vernünftig begründbares Verhalten interpretiert wird. Im Fall von Entschuldigungen scheint jedoch eine Vereinigung der Perspektiven vorgenommen werden zu müssen: „The very idea of an action’s being excusable or understandable seems to bring together explanatory and justificatory thoughts. The doctrine of the two standpoints seems to keep such thoughts resolutely apart“ (Korsgaard 1996b, 206). Das Problem verschärft sich noch, wenn man einen weiteren Aspekt der Kantischen Theorie beachtet, den Korsgaard nicht erwähnt. Anders als es die Zwei-Aspekte-Interpretation nahelegt, sind die phänomenale und noumenale Beschreibung der Welt für Kant nicht vollständig unabhängig voneinander. Wenn man sagt, dass eine Handlung einerseits durch natürliche (phänomenale) Ursachen und andererseits durch vernünftige (noumenale) Gründe bestimmt ist, stellt sich die Frage der Überdetermination von Handlungen: Wenn beide Arten der Handlungserklärung jeweils hinreichend und unabhängig voneinander wären, wären freie Handlungen überdeterminiert. Für Kant stellt sich dieses Problem deshalb nicht, da er die Unabhängigkeitsthese nicht vertritt, sondern stattdessen eine Asymmetrie annimmt: Wenn es transzendental freie Ursachen gibt, dann begründen sie die empirische Welt, während das Empirische keinen kausalen Einfluss auf freie Ursachen hat.²⁴⁴ Diese metaphysische Annahme eines vernünftigen Grundes der empirischen Welt kann heute nicht mehr recht überzeugen. Deshalb scheint Korsgaards Alternative, die noumenale und phänomenale Sicht auf Handlungen als zwei voneinander unabhängige Perspektiven anzunehmen, als vielversprechende Modifikation der Kantischen Sichtweise (vgl. Kapitel 3). Auf dieser Grundlage stellt sich
Diese Asymmetrie wird von Patrick Frierson betont (Frierson 2003, 17).
1. Kants „Kompromisslosigkeit“ und ihre Quellen
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das Problem der Zurechnungsgrade bzw. der Entschuldigungen folgendermaßen dar: 1. Personen können einerseits aus einer praktischen, begründungsorientierten Perspektive betrachtet werden, in der sie als transzendental freie, zurechenbare Wesen gelten, und andererseits aus einer empirischen Perspektive, die sie als bestimmt durch Naturgesetze beschreibt. Handlungen sind entsprechend Ereignisse, die einerseits durch die vernünftige Überlegung einer Person begründet und andererseits durch natürliche Ursachen erklärt werden können. 2. Diese beiden Perspektiven können nicht ohne weiteres gemischt werden. Wenn die Handlung zugerechnet werden soll, muss man die intelligible Perspektive einnehmen, in der von allen empirischen Umständen abstrahiert und die Handlung als vernünftig begründbares Verhalten interpretiert wird. 3. Entschuldigungen verweisen auf empirische Umstände (z. B. „ich habe aus Wut gehandelt ohne nachzudenken“), die nur in den Blick rücken, wenn man die empirische Perspektive einnimmt. Damit hat man jedoch die Perspektive der Zurechnung verlassen – wie können dann Entschuldigungen Einfluss auf das Zurechnungsurteil haben? Das Problem lässt sich – leicht abgewandelt – auch formulieren, wenn man die zweite Interpretation transzendentaler Freiheit heranzieht, die transzendentale Freiheit als Autonomie versteht: Wenn ein autonomes Subjekt die Fähigkeit besitzt, unabhängig von allen empirischen Motiven und Faktoren nach dem Gesetz zu handeln, warum sollten dann empirische Entschuldigungsgründe für es gelten? Anlässlich des Urteils über einen Lügner zieht Kant bei seiner Antinomieauflösung den Schluss, dass man diesem „gänzlich Schuld“ zusprechen müsse und keine der genannten empirischen Faktoren als Entschuldigungsgründe gelten können: [Man tadelt] den Thäter, und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturells, nicht wegen der auf ihn einfließenden Umstände, ja sogar nicht wegen seines vorhergeführten Lebenswandels; denn man setzt voraus, man könne es gänzlich bei Seite setzen, wie dieser beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten der Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar sieht man die Causalität der Vernunft nicht bloß wie Conkurrenz, sondern an sich selbst als vollständig an, wenn gleich die sinnlichen Triebfedern gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären; die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der That, völlig frei (A555/B583, H.v.m.).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Hier scheint Kant wirklich so kompromisslos zu sein, wie es von Korsgaard problematisiert wird: Der Lügner hat „gänzlich Schuld“, unerachtet aller empirischer Faktoren, die ihn beeinflusst haben. Wenn man versucht, aus der Passage den Grund für die vollständige Schuldzuschreibung herauszulesen, findet man: Um den Lügner zu tadeln, muss man eine bestimmte Perspektive einnehmen, in der vorausgesetzt wird, dass der Täter frei und durch seine Vernunft bestimmbar ist (erste Interpretation transzendentaler Freiheit). Darüber hinaus wird angenommen, dass die Vernunft die Handlung hätte bestimmen können, auch wenn man annimmt, dass die (vermutlich meint Kant: alle) sinnlichen Triebfedern gegen die moralisch gute Handlung gesprochen haben, das heißt: Der Lügner wird als autonome und deshalb voll verantwortliche Person betrachtet.
2. Korsgaards Vorschlag Korsgaard stellt zwei Ansätze vor, wie das beschriebene Problem abgemildert werden kann. Ihr erster Vorschlag beruht auf dem, was sie Kants „praktischen Kompatibilismus“ nennt. Dieser besteht darin, dass Kant anerkennt, dass Tugend empirisch beeinflusst werden kann, obgleich Tugend ein moralisches Phänomen ist. Korsgaards Argument ist: Wenn Kant empirischen Faktoren Einfluss auf das moralische Phänomen der Tugend einräumt, dann kann er dasselbe auch für das moralische Phänomen der Zurechnung annehmen.²⁴⁵ Allerdings zeigt der Tugendbegriff nur, dass Kant empirische Faktoren als relevant für das moralische Phänomen der Tugend ansieht, aber nicht, auf welche Weise das mit seiner Moralund Freiheitstheorie vereinbar ist. In Bezug auf Tugend stellt sich das Problem der Grade nämlich ganz analog: Einerseits vertritt Kant die These, dass eine Person „entweder sittlich gut oder sittlich böse“ (6:22), nichts ‚Mittleres‘, ist, d. h. die tugendhafte Gesinnung entweder ganz oder gar nicht vorliegt. Andererseits räumt Kant selbst ein, dass moralische Verbesserung des Charakters graduell möglich ist und somit eine Person als mehr oder weniger tugendhaft bezeichnet werden kann (z. B. 5:123). Der Zusammenhang zwischen Tugend und Zurechnung lässt sich auf zwei Ebenen darstellen. Auf der ersten Ebene geht es um eine Analogie: Tugend erlaubt ebenso wie Zurechnung Grade, und das scheint aufgrund bestimmter Züge in der
So schreibt Korsgaard: „To the extent, or in the sense, that Kant believes that virtue can be taught, or made to flower by a good constitution, he must believe that it can be caused.“ Sie schließt: „Kant’s practical compatibilism suggests that it may be reasonable, when we are deciding whether and when to hold people responsible, to take into account such things as upbringing and education“ (Korsgaard 1996b, 210).
3. Kant über Grade der Zurechnungsfähigkeit in der Metaphysik der Sitten
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Kantischen Theorie problematisch. Auf der zweiten Ebene geht es um einen direkten inhaltlichen Zusammenhang, nämlich den der graduellen Zurechnung von einzelnen Tugendhandlungen bzw. der Tugend selbst zum Verdienst. Auf beide Berührungspunkte werde ich später eingehen (Abschnitt 5). Korsgaards zweiter Vorschlag beruft sich auf Kants Aufruf zur Großzügigkeit in Bezug auf die Beurteilung anderer Menschen: „Es ist also Tugendpflicht, […] den Schleier der Menschenliebe nicht blos durch Milderung unserer Urtheile, sondern auch durch Verschweigung derselben über die Fehler Anderer zu werfen“ (6:466). Es ist nicht leicht zu sehen, was Kant unter „Milderung unserer Urteile“ versteht. Der Kontext der Textstelle legt nahe, dass es Kant hier nicht um Entschuldigungen geht. Die Passage befindet sich im Abschnitt über das „Afterreden“, das üble Nachreden, das zu den „die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern“ gehört (6:465 f.). Dort plädiert Kant dafür, nicht über die Fehler anderer zu sprechen und die „Verbreitung […] desjenigen die Ehre eines Andern schmälernden“ zu vermeiden (6:466), aber nicht deshalb, weil eventuell Entschuldigungsgründe vorliegen. Vielmehr soll in jedem Fall das Urteil abgemildert oder verschwiegen werden, „es mag übrigens auch wahr sein“ (6:466), dass der andere etwas zurechenbar Schlechtes getan hat. Kant geht es an dieser Stelle nicht darum, dass wir durch harte Urteile anderen Menschen nicht gerecht werden, weil Entschuldigungen zutreffen könnten, sondern darum, dass wahre Urteile über die Fehler der anderen zur „Verringerung der Achtung für die Menschheit überhaupt“ verleiten und dazu führen, „auf unsere Gattung selbst den Schatten der Nichtswürdigkeit zu werfen“ (ebd.). Der Aufruf zur Milderung der Urteile scheint ein Mittel zu sein, um die Moralität der Gemeinschaft zu stärken bzw. wenigstens nicht zu schwächen. Selbst wenn Korsgaard Recht haben sollte und die Milderung unserer Urteile verminderte Zurechnung der Handlung aufgrund von empirischen Umständen reflektiert, müsste noch erklärt werden, inwiefern das Urteil durch empirische Umstände beeinflusst werden kann. Die eigentliche Frage, warum und auf welche Weise empirische Faktoren Zurechnungsurteile verändern können, ist so noch nicht geklärt.
3. Kant über Grade der Zurechnungsfähigkeit in der Metaphysik der Sitten Es wird oft übersehen, dass Kant selbst Grade der Zurechnung anerkennt, da er dies in seinen veröffentlichten Schriften nur in einer Passage ausdrücklich erwähnt. Der Kontext macht jedoch klar, dass es sich um eine wichtige Passage handelt: Sie steht unmittelbar nach der Definition des Zurechnungsbegriffs und beschließt die gesamte Einleitung in die Metaphysik der Sitten:
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
S u b j e c t i v ist der Grad der Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hinderniß (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet; z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette. Dagegen: je kleiner das Naturhinderniß, je größer das Hinderniß aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet. – Daher der Gemüthszustand, ob das Subject die That im Affect, oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat (6:228).
Was Kant hier benennt, entspricht einer weit verbreiteten Ansicht: Wir loben eine Person umso mehr für eine gute Tat, je mehr sie sich dafür anstrengen musste. Analog dazu tadeln wir eine Person für eine schlechte Handlung umso mehr, je leichter es für sie gewesen wäre, die gute Handlung zu tun und die schlechte zu unterlassen. Man muss jedoch etwas genauer hinsehen, um zu verstehen, worauf sich verschiedenen „Hindernisse“ beziehen. Dafür ist es hilfreich, die Situation zu skizzieren, in der sich die Hindernisse zeigen. Eine Person steht vor der Alternative, eine Handlung auszuführen, die geboten ist, oder sie zu unterlassen bzw. stattdessen eine andere Handlung zu vollziehen, zu der sie aus Selbstliebe geneigt ist. Bei beiden Möglichkeiten muss die Person laut Kant Hindernisse überwinden. Die „Naturhindernisse (der Sinnlichkeit)“ sind die Hindernisse, die für die Handlung aus Selbstliebe und gegen die pflichtmäßige Handlung, d. h. für deren Unterlassung, sprechen. Dies kann man sich an Kants Beispiel für die verdienstliche Handlung – „wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette“ – veranschaulichen: Der guten Tat stehen „Naturhindernisse (der Sinnlichkeit)“ entgegen, da es die sinnliche Neigung gibt, „beträchtliche Aufopferung“ zu vermeiden. Das paradigmatische Beispiel für Naturhindernisse, das Kant wählt, sind Affekte, die die Unterlassung einer pflichtwidrigen Handlung erschweren. Das moralische Hindernis muss man als eines verstehen, das die Unterlassung der pflichtmäßigen Handlung bzw. den Vollzug einer der Pflicht widersprechenden Handlung aus Selbstliebe behindert. Kant zufolge ist sich jeder Mensch der Verbindlichkeit des Sittengesetzes bewusst und hat ein Motiv, die Achtung vor dem Gesetz, dieses zu befolgen. Entsprechend fühlt auch jeder Mensch einen Widerstand, das Gesetz zugunsten einer Handlung aus Selbstliebe zu übertreten. Das moralische Hindernis der Pflicht wäre also ein Hindernis, das gleichsam von der Pflicht in den Weg gelegt würde – analog dazu, dass ein Hindernis der Sinnlichkeit von der Sinnlichkeit in den Weg gelegt wird – und dieses Hindernis muss über-
3. Kant über Grade der Zurechnungsfähigkeit in der Metaphysik der Sitten
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wunden werden, wenn man nicht das tut, was die Pflicht vorschreibt.²⁴⁶ Kants Formulierung – „Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hinderniß (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet“ – ist also insofern verkürzt, als die Naturhindernisse die Ausführung der guten Tat behindern, während das moralische Hindernis die Unterlassung der betrachteten Handlung (bzw. die alternative Ausführung einer Handlung aus Selbstliebe) erschwert (so auch Joerden 1991, 527– 531). Dasselbe gilt auch für die Formulierung, die die Zurechnung zur Schuld betrifft: „Dagegen: je kleiner das Naturhinderniß, je größer das Hinderniß aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet“. Auch hier muss man bedenken, dass Naturhindernisse die Ausführung der pflichtmäßigen Handlung behindern, und dass das moralische Hindernis eines ist, das der pflichtwidrigen Handlung entgegensteht. Da die betrachtete Handlung in diesem Fall eine schuldhafte ist, gilt, dass die Naturhindernisse der Unterlassung der pflichtwidrigen Handlung entgegenstehen und das moralische Hindernis ihrer Ausführung. Daraus folgt Kants Auffassung zur Schuldminderung von Affekthandlungen: Beim Handeln aus Affekt müsste ein größeres Naturhindernis (nämlich der Affekt) überwunden werden, um die pflichtwidrige Handlung zu unterlassen, als bei „kühlem Kopf“.²⁴⁷ Die gesamte Passage zu den Zurechnungsgraden wird also nur verständlich, wenn man bedenkt, dass mit „Hindernis“ nicht immer ein Hindernis gemeint ist, das bei der Ausführung der betrachteten Handlung überwunden werden musste. Das „moralische Hindernis der Pflicht“ steht immer der Unterlassung der pflichtmäßigen Handlung bzw. der Ausführung der pflichtwidrigen Handlung entgegen, während die „Naturhindernisse (der Sinnlichkeit)“ die Ausführung der pflichtmäßigen Handlung bzw. die Unterlassung der pflichtwidrigen Handlung behindern.²⁴⁸
Einen Hinweis darauf, dass dies Kants Ansicht war, findet man in der Vigilantius-Nachschrift, wo es heißt: „Je größer das physische Hinderniß, oder von seiten der Naturtriebe, – desgleichen je kleiner das moralische Hinderniß, d.i. die Handlung in Verhältniß gegen das Gesetz der Pflicht beurtheilt ist, das der Handlung entgegenstand, je mehr wird die dem moralischen Gesetz gemäß erfolgte Handlung dem autori zum Verdienst angerechnet“ (27:2.1, 567). Trotz des schwierigen Satzbaus wird deutlich, dass ein moralisches Hindernis vorliegt, wenn das „Gesetz der Pflicht […] der Handlung entgegenstand“ (H.v.m.) (vgl. auch Joerden 1991, 528). Dass eine Handlung bei vollem Bewusstsein des Unrechts und klarem Vorsatz stärker zur Schuld zugerechnet werden sollte, als wenn sie ohne Überlegung geschieht, meint Kant auch in der Vigilantius-Nachschrift: „daß eine Handlung mit Vorsatz, d.i. mit Bewußtsein des Verbotsgesetzes nach vorgängiger Ueberlegung unternommen, weit mehr, als wenn sie nicht deliberato animo erfolgt, imputirt werden müsse“ (27.2.1, 568). Diese Interpretation entspricht der von Joerden (1991, 530).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Kant vertritt die These, dass beide Arten von Hindernissen in verschiedenen Größen auftreten können. Es ist problemlos vorstellbar, dass es unterschiedlich große sinnliche Hindernisse, wie verschiedene Stärken von Neigungen oder Affekten, geben kann. Auffällig ist, dass Kant sowohl in Bezug auf Verdienst als auch auf Schuld nur von einem „Mehr“ spricht, das durch den Einfluss von Hindernissen möglich ist. Die empirischen Faktoren, die Verdienst oder Schuld vergrößern, können als „positive Gegenstücke“ zu Entschuldigungen, die Schuld vermindern,verstanden werden. Allerdings ist Gradualität in Bezug auf ein „Weniger“ logisch impliziert: „Je größer, desto mehr“ impliziert „je kleiner, desto weniger“. Exemplarisch lässt sich das an der Verschuldung verdeutlichen. Kant sagt: „je kleiner das Naturhinderniß, […] desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet“. Dies impliziert: „je größer das Naturhindernis, desto weniger wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet“, und dies ist gleichbedeutend damit, dass das Naturhindernis als Entschuldigungsgrund aufgefasst wird. Dazu liefert Kant ein Beispiel in den Vorlesungen zur Moralphilosophie: Diejenige Handlung zu der ich mich zwingen soll wo ich so viel Hindernisse zu überwinden habe, wird mehr imputiert, je williger sie ausgeübt wird und desto weniger ihre Unterlassung zE. Wenn ein Hungriger aus der Speisekammer was entwendet, so wird ihm das nicht so imputirt, weil er sich da [d. h. zur guten Handlung, nichts zu stehlen] sehr zwingen muste (Kähler, 94).
Der Hungrige wird für seinen Diebstahl aus der Speisekammer ein Stück weit entschuldigt, da sein Hunger ein großes Hindernis ist, das moralisch Richtige zu tun. Der Hunger ist ein Beispiel für ein Naturhindernis „der Sinnlichkeit“, ein „natürlicher“ Affekt.²⁴⁹ Im Gegensatz zu den Graden der Naturhindernisse sind Grade des moralischen Hindernisses schwerer zu fassen. Es gibt zwei Möglichkeiten, das moralische Hindernis und die entsprechenden Grade zu verstehen: Erstens als Stärke der Verpflichtung und zweitens als „Gefühle, welche die nöthigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten“ (6:406). Beide lassen sich als moralisches Hindernis verstehen, insofern sie der unmoralischen Handlungsweise entgegenstehen, doch die zweite Möglichkeit wird sich als geeigneter zur Interpretation der Passage in der Metaphysik der Sitten erweisen. Die erste Möglichkeit, das moralische Hindernis als moralische Verpflichtung zu verstehen, erscheint auf den ersten Blick problematisch, weil Pflichten „die Kant unterscheidet zwischen „Appetiten der Natur“ und „der Lüsternheit: „Die Lüsternheit kann ausgerottet werden und muß nicht eingewurtzelt werden, so kann einem das nicht so imputiert werden, wenn er was thut, wozu ihn der Hunger treibt, als wozu ihn die Wollust treibt“ (Kähler, 94).
3. Kant über Grade der Zurechnungsfähigkeit in der Metaphysik der Sitten
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objective praktische Nothwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken“ (6:224). Es ist schwer vorstellbar, wie eine Pflicht stärker als eine andere sein könnte, da Handlungen nicht mehr oder weniger notwendig sein können. Für diese Schwierigkeit gibt es einen Lösungsvorschlag. Kant gesteht zu, dass sich zwar nicht Pflichten, wohl aber „Gründe der Verbindlichkeit“ widerstreiten können, und der „stärkere Verpflichtungsgrund“ dann den Ausschlag geben müsse (6:224). Kant erläutert dies zwar nicht genauer²⁵⁰, aber man kann vermuten, dass er weite Pflichten als solche versteht, die Verpflichtungsgründe geben, die aber keine hinreichenden Handlungsgründe sind: Er räumt die Möglichkeit ein, dass eine Pflichtmaxime durch eine andere eingeschränkt werden könnte, „z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe“ (6:390). Die Stärke des Verpflichtungsgrundes kann also, erstens, davon abhängen, wem die Pflicht geschuldet ist (hier: den Eltern oder Fremden). Zweitens könnten weite Pflichten in Abhängigkeit des involvierten Gutes verschieden stark sein: So gibt es offenbar eine stärkere Pflicht zu helfen, wenn die Person in Lebensgefahr schwebt, als wenn sie nur eine Gefälligkeit erbittet. Ein Hinweis darauf gibt Kant, wenn er den „Grad der Verbindlichkeit“ zu Dankbarkeit (als Reaktion auf die Ausübung einer wohltätigen, verdienstlichen Handlung) als proportional zu „dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohlthat gezogen hat“ (6:456, H.v.m.) sieht, das heißt, proportional zu dem involvierten Gut bzw. dessen Nutzen für den Empfänger. Drittens sind weite Pflichten generell als schwächer als enge Pflichten (vgl. 8:300, Anm.). Dies sagt Kant in der Metaphysik der Sitten nicht explizit, er vergleicht aber in der Vigilantius-Nachschrift das Verdienst einer Person, die „einen Bedürftigen unterstützt“ mit dem einer Person, die ihre „Schulden prompt bezahlt“. Das Verdienst der ersteren sei höher, weil das Wohltun eine „weit geringere Pflicht“ sei als die Rechtspflicht, die Schulden zu bezahlen (vgl. 27.2,1:568). Doch es gibt einen Grund dafür anzunehmen, dass Kant in der Passage aus der Metaphysik der Sitten mit dem größeren oder kleineren moralischen Hindernis nicht die Stärke von Pflichten meint. Kant leitet die Passage mit der Einschränkung ein, Grade der Zurechnungsfähigkeit in subjektiver Hinsicht zu betrachten. Er erwähnt den Gegenbegriff der Zurechnungsfähigkeit in objektiver Hinsicht nicht, doch eine Reflexion gibt Aufschluss über subjektive und objektive Faktoren, die Zurechenbarkeit beeinflussen: Die größe der imputabilität kann objectiv nach dem Grad der Verbindlichkeit oder subjectiv der Schwierigkeit beurtheilt werden (R 6812, 19:169, H.v.m.).
Vgl. zum Kantischen Begriff des Verpflichtungsgrundes Timmermann (2013).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Hier bezeichnet Kant das moralische Hindernis, das durch die Stärke der Verpflichtung entsteht, als objektiven Faktor, von dem Zurechenbarkeit abhängig ist. Die Schwierigkeit hingegen wird als subjektiver Umstand gesehen. Es ist auch sachlich angemessen, moralische Hindernisse, die auf dem Grad der Verpflichtung beruhen, in eine andere Kategorie von Gründen einzuordnen, die das Zurechnungsurteil verändern können.²⁵¹ Im nächsten Abschnitt wird deutlich, dass sie nicht direkt das Zurechnungsurteil beeinflussen, sondern die Bewertung der Handlung als schuldhaft oder verdienstlich betreffen. Damit kommen wir zum zweiten Vorschlag, wie das moralische Hindernis verstanden werden könnte. Es lässt sich mit dem Gefühl bzw. den Gefühlen identifizieren, die „die nöthigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten“ (6:406). Kant nennt als Beispiele „Ekel“ und „Grauen“ (ebd.). Dass solche Gefühle als moralische Hindernisse wirken, drückt Kant aus, indem er ihnen die Funktion zuschreibt, „den moralischen Widerwillen zu versinnlichen“ (ebd.). Auch die Konkurrenz zu den sinnlichen Faktoren, die als Naturhindernisse gegen die gute Handlung sprechen, hat Kant im Blick: Gefühle wie Ekel oder Grauen machen die „Wirksamkeit“ des moralischen Gesetzes „empfindbar“, „um der blos-sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen“ (6:406). Während das moralische Hindernis, das sich aus der Stärke der Verpflichtung ergibt, auf der Ebene der objektiven Pflicht zu verorten ist, ist das moralische Hindernis der Gefühle auf der subjektiven Ebene der Sinnlichkeit anzutreffen. In diesem Sinne bezeichnet Kant eine „Ästhetik der Sitten“ – und damit die Darstellung der genannten Gefühle wie Ekel oder Grauen – als „eine subjective Darstellung der Metaphysik derselben“ (6:406, H.v.m.). Auch das Gefühl der Achtung könnte als ein Kandidat für ein subjektives moralisches Hindernis in Erwägung gezogen werden, weil Achtung die unmoralische Handlung behindert und der „subjective Bestimmungsgrund“ des Willens (5:72) ist, der mit dem Sittengesetz als dem „objective[n] Bestimmungsgrund“ (ebd.) einhergeht. Allerdings ist fraglich, ob Kant Grade der Achtung zulassen würde, da diese direkt auf die Wirkung reiner praktischer Vernunft zurückgeht, die bei allen Personen die gleiche ist. Die Stärke der angesprochenen Gefühle wie Ekel und Grauen kann sich jedoch von Person zu Person und in verschiedenen Situationen ändern. Die Interpretation, das moralische Hindernis als Gefühl und nicht als Stärke der Verpflichtung zu verstehen, kann auch erklären, warum Kant Naturhindernis und moralisches Hindernis als gleichsam umgekehrt proportional zueinander
Zu diesem Ergebnis kommt auch Joerden, der deshalb meint, Kant habe fälschlicherweise moralische und damit objektive Hindernisse neben den Naturhindernissen berücksichtigt (vgl. Joerden 1991).
4. Zwei Stufen der Zurechnung
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sieht. Die Fälle „kleines Naturhindernis, kleines moralisches Hindernis“ und „großes Naturhindernis, großes moralisches Hindernis“ werden nämlich nicht berücksichtigt, was jedoch nötig wäre, wenn das moralische Hindernis die Stärke der Verpflichtung bezeichnete und somit unabhängig von der Größe des Naturhindernisses angebbar wäre. Beide Hindernisse im Verhältnis einer umgekehrten Proportionalität zu einander zu verstehen, meint hingegen, dass es sich um zwei Seiten einer Medaille handelt: Eine Person, die ein großes Naturhindernis erfährt, z. B. einen starken Affekt, hat ein geringeres Gefühl, das sie von der schlechten Handlung abhält – wenn sie dennoch die gute Tat vollzieht, ist sie umso lobenswerter. Dass dies überhaupt möglich ist, und die Person nicht von ihrem großen Antrieb zur schlechten Handlung unweigerlich bestimmt wird, besagt die These vom Faktum der Vernunft: Wie Kant in seinem Galgen-Beispiel in der zweiten Kritik illustriert (5:30), kann sich auch eine Person, die unter Androhung der Todesstrafe zur Verleumdung gezwungen werden soll, trotz großer „Liebe zum Leben“ (die in diesem besonderen Fall als Naturhindernis zählt) für moralische Handlung, die wahrhaftige Aussage, entscheiden. Im Folgenden wird die genaue Interpretation des moralischen Hindernisses neben der zentralen Frage in den Hintergrund treten, inwiefern Naturhindernisse als Entschuldigungen gelten können. Was die Überlegungen dieses Abschnitts jedenfalls deutlich gemacht haben, ist, dass Kant in der Passage der Metaphysik der Sitten Grade der Zurechnung zu Schuld und Verdienst einräumt, von denen Korsgaard glaubt, dass Kant sie nicht konsistent in seine Theorie integrieren kann. Ich möchte einen Vorschlag machen, wie dies doch gelingen kann, indem ich zwei Stufen von Zurechnung bzw. zwei Aspekte von Verantwortung unterscheide.
4. Zwei Stufen der Zurechnung Ein Hinweis in Kants Passage zu den Graden der Zurechnungsfähigkeit kann als Ausgangspunkt für eine Interpretation der Möglichkeit von Zurechnungsgraden dienen: Kant spricht von Zurechnung „zum Verdienst“ und „als Verschuldung“. Diese Bemerkungen machen darauf aufmerksam, dass es nicht Zurechnung überhaupt ist, die in Graden vorkommen kann, sondern dass das Zurechnungsurteil selbst verschiedene Aspekte besitzt, für die in unterschiedlicher Weise Gradualität möglich sein könnte. Im ersten Kapitel wurde die Unterscheidung zweier Stufen der Zurechnung dargestellt, die in der praktischen Philosophie des 18. Jahrhunderts getroffen wurde: Die Zurechnung zur Tat („imputatio facti“) und die Zurechnung zu Schuld und Verdienst („imputatio iuris“ bzw. „imputatio legis“). Zwischen diesen beiden
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Stufen steht die Bewertung der Handlung anhand von Gesetzen („adplicatio legis ad factum“), die selbst kein Akt der Zurechnung ist. Auf der Basis dieser Unterscheidung lässt sich genauer lokalisieren, inwiefern Kant Grade der Zurechnung einräumt. In der zitierten Passage spricht er von Graden der Zurechnung zu Schuld und Verdienst, und nicht von Graden der Zurechnung zur Tat. Dadurch ist zwar nicht ausgeschlossen, dass es auch in Bezug auf die erste Stufe der Zurechnung Grade gibt (diese Frage wird im 7. Abschnitt wieder aufgenommen), aber es ist doch ein Hinweis darauf, dass Schuldminderungsgründe vornehmlich auf das Zurechnungsurteil der zweiten Stufe Einfluss nehmen. Nun lässt sich auch das „moralische Hindernis (der Pflicht)“, das auf die Stärke der Verpflichtung zurückgeht, genauer verorten: Es muss auf der Ebene der Gesetze berücksichtigt werden und ist demnach nicht erst bei der zweiten Zurechnungsstufe, sondern bereits bei der Bewertung der Handlung relevant: Bei einem größeren Grad der Verpflichtung würde die negative oder positive Bewertung der Handlung stärker ausfallen. Anhand der Unterscheidung zwischen der Zurechnung zur Tat, der Anwendung des Gesetzes und der Zurechnung zu Schuld und Verdienst wird deutlich, dass Schuldminderungsgründe auf der zweiten Zurechnungsstufe nur dann möglich sind, wenn man die Anwendung des Gesetzes (d. h. die Bewertung der Handlung) von der Zurechnung zu Schuld und Verdienst logisch trennt. Nur wenn die Bewertung der Handlung anhand von Gesetzen noch nicht hinreichend für die genaue Bestimmung der Zurechnung von Schuld und Verdienst ist, kann sich die Zurechnung von Schuld und Verdienst noch nach anderen Faktoren (wie z. B. dem Einfluss starker Affekte) richten. Es ist Kants Definition von Schuld und Verdienst vorgeworfen worden, dass sie keine deutliche Unterscheidung zwischen der Anwendung des Gesetzes und der zweiten Zurechnungsstufe erlaubt (vgl. Hruschka 1986, 679; Joerden 1991, 536).Wenn Kant sagt, dass „Verschuldung“ vorliegt, wenn der Handelnde „endlich weniger thut“, als das Gesetz vorschreibt (6:227), dann scheint kein Raum für Entschuldigungen zu sein – Analoges gilt für Verdienst. Widerspricht diese Ansicht nicht Kants eigenen Ausführungen zu den Graden der Zurechnung zu Schuld und Verdienst? Tatsächlich besteht zwischen diesen verschiedenen Aussagen eine Spannung, die jedoch weitgehend aufgelöst werden kann: Dass die Nichtbefolgung des Gesetzes hinreichend für Schuld ist, muss nicht mehr heißen, als dass es einen „Schwellenwert“ für Schuld gibt, der nicht unterschritten werden kann. Nichtbefolgung des Gesetzes durch eine zurechnungsfähige Person ist Verschuldung, aber es ist noch nicht ausgemacht, wie groß diese ist. Kants Aussagen zu Verdienst und Schuld schließen lediglich aus, dass aufgrund empirischer Faktoren die Schuld völlig getilgt wird. Man kann folgendermaßen erklären, dass es einen Schwellenwert der Schuld und des Verdienstes
5. Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung
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geben muss:²⁵² Dass die erste Stufe der Zurechnung vorgenommen werden kann, heißt eben, dass die Person mit Blick auf diese Handlung zurechnungsfähig ist. Das heißt, dass die Person eine freie Willkür besitzt und die Handlung der freien Willkür entstammt, d. h. auf eine freie Entscheidung der Person zurückgeht. Im Fall der Schuld gilt dann: Eine schuldfähige Person hat eine als schlecht bewertete Handlung vollzogen. Die situative Schuldfähigkeit, die mit der ersten Zurechnungsstufe etabliert wurde, impliziert, dass die Schuld nicht völlig verschwinden kann. Dies hat in neuerer Zeit Austin bildlich so ausgedrückt: „the average excuse, in a poor situation, gets us only out of the fire into the frying pan – but still, of course, any frying pan in a fire“ (Austin 1961, [orig. 1956], 125). Es scheint jedoch Entschuldigungen zu geben (etwa physischer Zwang), die eine Person ganz von Schuld befreien, und deshalb kann Kants Annahme eines Schwellenwerts nicht in allen Fällen überzeugen. Offenbar muss man zwischen verschiedenen Klassen oder Typen von Entschuldigungen unterscheiden (vgl. Abschnitt 6).
5. Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung angesichts der Voraussetzung transzendentaler Freiheit beruht auf der Unterscheidung der beiden Stufen von Zurechnung. Auf der ersten Stufe der Zurechnung wird die Handlung einer Person mit einem transzendental freien Willen zugerechnet. Im Folgenden wird die Lösung für das Problem der Zurechnungsgrade für beide Interpretationen transzendentaler Freiheit vorgestellt. Betrachten wir zunächst transzendentale Freiheit als Fähigkeit, Handlungen durch vernünftige Überlegung zu bestimmen. Für die Zurechnung zur Tat muss vorausgesetzt werden, dass wir die Handlung einer Person aus einer praktischen, begründungsorientierten Perspektive betrachten können. Wir nehmen damit einen prinzipiell anderen Standpunkt ein, als wenn wir die Handlung des Menschen nur als Ereignis in der Natur betrachten, das durch Naturgesetze erklärbar ist. Dass wir diese Sichtweise auf die Handlung der Person einnehmen, ist notwendig dafür, dass wir das Ereignis überhaupt als Handlung (bzw. als „Tat“ in Kants Terminologie, siehe Kapitel 1) auffassen. In dieser Hinsicht hat Korsgaard recht: Es hat keinen Sinn, von einer „Mischung“ der Standpunkte zu sprechen, solange es um
Es bliebe dann zu überlegen, ob neben einem „Schwellenwert“ auch einen „Normalwert“ von Schuld angenommen werden muss, da ja sonst nichts von der Schuld „abgezogen“ werden kann.
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
die Frage geht, ob wir es überhaupt mit einer Handlung zu tun haben. Die Einnahme des praktischen Standpunkts heißt: Das Ereignis wird als Handlung einer Person gesehen, die in Bezug auf die Handlung frei war, d. h. sich in ihrem Handeln nach vernünftigen Überlegungen richten konnte. Korsgaards Verdacht lautete, dass man vom praktischen Standpunkt aus gar keine empirischen Faktoren in den Blick nehmen könnte, da dies unvermeidlich einen Wechsel des Standpunkts bedeuten würde. Dies wäre der Fall, wenn das betrachtete Ereignis bei der Berücksichtigung des empirischen Faktors nicht mehr als Handlung, sondern nunmehr als bloßes Naturereignis gelten würde – dann hätte man den Standpunkt gewechselt. Die Frage ist, ob jede Art von empirischem Einfluss zur Folge hat, dass ein Ereignis nicht mehr als Handlung zählen kann. Kant scheint das zu verneinen, und es ist auch plausibel, dass der praktische Standpunkt es nicht erfordert, von allen empirischen Faktoren zu abstrahieren. Der praktische Standpunkt muss nur dann zugunsten eines theoretischen Standpunkts aufgegeben werden, wenn die empirischen Einflüsse derart sind, dass die Handlung nicht mehr unter der „Macht der Vernunft“ (A556/B584) steht. Wenn beispielsweise ein Affekt vernünftige Reflexion nur „schwerer“, nicht „unmöglich“ macht (6:407), ist sein Einfluss damit verträglich, die Handlung von einem praktischen Standpunkt aus zu betrachten. Es ist auch sachlich angemessen, den praktischen Standpunkt als verträglich mit empirischen Einflüssen zu sehen: Personen üben ihren freien Willen in der empirischen Welt aus und müssen deshalb immer mit empirischen Einflüssen umgehen. Nur, wenn der empirische Einfluss die „Macht der Vernunft“ untergräbt, z. B. wenn die Person durch physische Gewalt einen von ihr ungewolltes Ereignis verursacht, wird der praktische Standpunkt samt der Überzeugung, dass wir es mit der Handlung einer Person zu tun haben, verlassen. Wenn jedoch der Status des Ereignisses als Handlung nicht bezweifelt wird, spricht nichts dagegen, auf der zweiten Stufe der Zurechnung empirische Faktoren zu berücksichtigen und diese möglicherweise als Entschuldigungen gelten zu lassen. Anders stellt sich die Lösung dar, wenn man die Interpretation von transzendentaler Freiheit als Autonomie betrachtet. Gehen wir davon aus, dass eine Handlung einer Person zur Tat zugerechnet wird, weil die Person mit Blick auf diese Handlung autonom war. Die Person hatte also die Fähigkeit, sich unabhängig von allen empirischen Faktoren für die moralisch gute Handlung zu entscheiden. Betrachten wir nun den Fall, dass sie eine pflichtwidrige Handlung ausführt: Wieso sollten für sie empirische Schuldminderungsgründe gelten, wenn sie doch die Fähigkeit hat, sich trotz all dieser Gründe für die gute Handlung zu entscheiden? Der Schlüssel zur Lösung liegt darin, dass es sich bei transzendentaler Freiheit als Autonomie um eine Fähigkeit empirischer Wesen handelt. Die Fähigkeit selbst
5. Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung
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ist zwar nicht-empirisch, insofern sie darin besteht, sich durch nicht-empirische Faktoren (das Moralgesetz bzw. das Gefühl der Achtung) bestimmen zu lassen. Die Motivation durch das Sittengesetz konkurriert bei Personen – die eine Einheit aus „homo noumenon“ und „homo phaenomenon“ bilden – jedoch mit empirischen Motiven. Personen haben als sinnliche Subjekte auch empirische Handlungsmotive, können sich jedoch als transzendental freie Wesen auch nach einem nichtempirischen Motiv entscheiden. Genau deshalb tritt das Sittengesetz als Gebot auf und ist für Menschen – im Gegensatz zu rein vernünftigen Wesen – eine Nötigung des Willens (4:413). Auf der ersten Stufe der Zurechnung wird die Person als vernünftiges Wesen betrachtet, das die Fähigkeit hat, sich nach dem Sittengesetz zu entscheiden. Auf der zweiten Stufe der Zurechnung kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der Mensch auch ein sinnliches Wesen ist, bei dem empirische Motive und Faktoren mit den vernünftigen Motiven in Konflikt geraten können, sodass die Realisierung der Fähigkeit defizient sein kann. Dass die erste Stufe der Zurechnung dadurch unangetastet bleibt, erkennt man daran, dass der Person (generell und mit Blick auf die Handlung) trotzdem die Fähigkeit zum moralisch guten Handeln zugesprochen wird, auch wenn sie mangelhaft ausgeübt wurde. An dieser Stelle bietet es sich an, auf Korsgaards Hinweis zurückzukommen, dass auch Tugend nach Kant Grade zulässt. Anhand der Zweistufigkeit, die in Bezug auf Zurechnung beschrieben wurde, lässt sich auch die Möglichkeit der Gradualität der Tugend darstellen. Tugend weist zwar im Gegensatz zu Zurechnung nicht zwei verschiedene Stufen auf, doch unterscheidet Kant verschiedene Aspekte der Tugend.²⁵³ Der erste ist die tugendhafte Gesinnung, „daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse“ (6:383). Zweitens charakterisiert Kant Tugend als eine bestimmte Art der Stärke: „Nun ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu thun die Tapferkeit […] und in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns Tugend“ (6:380). Dieser zweite Aspekt der Tugend lässt sich noch weiter differenzieren: Einerseits muss Tugend als „Vermögen (facultas)“, als Fähigkeit zur Überwindung von Neigungen, vorausgesetzt werden, aber andererseits ist das „Vermögen als Stärke (robur) etwas, was erworben werden muß“ (6:397, H.v.m.). Während Kants Rigorismus in Bezug auf den ersten Aspekt, die tugendhafte Gesinnung, Gradualität ausschließt (vgl. 6:22), hält Kant Grade der Tugend als Stärke für plausibel: diese können wir „nur durch die Größe der Hindernisse, die der Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen“ (6:405).
Vgl. dazu auch Guyer (2000, 303 f).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Analog zur Frage nach den Graden der Zurechnung stellt sich auch folgende Frage: Angenommen, die Tugendgesinnung ist ganz oder gar nicht in einer Person gegeben, wieso kann der Grad der Tugend als Stärke noch über die Zeit variieren? Oder anders formuliert: Hinsichtlich der Gesinnung ist ein Mensch entweder gut oder böse – wie kann es dann noch Grade in der moralischen Bewertung geben, deren Kriterium die Tugend als Stärke ist?²⁵⁴ Der Schlüssel zur Vereinbarkeit des Rigorismus und der graduellen Tugendstärke liegt nach Kant in der Unterscheidung zweier Perspektiven, die der Zweistufigkeit der Zurechnung entspricht: In der „intellectuellen Beurtheilung des Menschen“, so Kant, gilt der „Grundsatz der Ausschließung des Mittleren zwischen Gut und Böse“, d. h. das rigoristische Beurteilungsprinzip (vgl. 6:39, Anm.). Bei der „empirischen Beurtheilung des Menschen aus sensibler That“ gilt hingegen, „daß es ein Mittleres zwischen diesen Extremen gebe“ (ebd.).²⁵⁵ Aus der intellektuellen Perspektive kann die oberste Maxime eines Menschen nur entweder gut oder böse sein, denn es wird von den empirischen Faktoren abstrahiert, von denen graduelle Abstufungen abhängen könnten. Aus der intelligiblen Perspektive zeigt sich aber nicht nur die oberste Maxime, sondern gelangen auch die intelligiblen, d. h. vernünftigen Fähigkeiten des Menschen in den Blick. So kann nun eine Beziehung zu der ersten Zurechnungsstufe hergestellt werden: Bei der Zurechnung zur Tat, genauso wie bei der Beurteilung der Gesinnung, wird die Person nur als vernünftiges, zurechnungsfähiges Wesen betrachtet. In einem zweiten Schritt – d.h. auf der zweiten Zurechnungsstufe bzw. bei der „empirischen Beurtheilung“ des Menschen – wird zwar kein vollständiger Perspektivwechsel vorgenommen, d.h. der Mensch und seine Handlungen werden nicht nur als empirische, naturwissenschaftlich erklärbare Phänomene aufgefasst, aber es werden doch bestimmte empirische Faktoren berücksichtigt. Tugend als Stärke und Zurechnung zu Schuld und Verdienst betreffen die Frage, wie sich unsere vernünftigen Fähigkeiten in der empirischen Welt ausdrücken, in der
Engstrom zufolge sind Rigorismus und Gradualität nicht miteinander vereinbar. Seine zentrale Kritik am Rigorismus ist, dass er mit einer zu idealisierten Sichtweise auf Akteure einhergeht: „[Kants] rigoristic division of character into good and evil […] is connected with a very idealized conception of a finite rational agent. If agents are viewed as having rendered all of their specific maxims consistent with a single, unifying highest maxim in which some determinate, ordered relationship between the two abstract principles is worked out, then rigorism may seem quite plausible. But when our question is about characters of actual human beings, such idealization seems out of place“ (Engstrom 1988, 443). Eine direkte Antwort auf Engstrom findet sich in (Blöser 2013). Kant merkt in der entsprechenden Fußnote an: Man muss eine Beurteilung „nach empirischem Maßstabe (von einem menschlichen Richter)“ von einer Beurteilung der „reinen Vernunft (vor einem göttlichen Gericht)“ unterscheiden (6:25Anm.).
5. Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung
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unsere vernünftigen Gründe mit empirischen Motiven konkurrieren. Der Unterschied zwischen der Beurteilung eines Charakters als tugendhaft und der Zurechnung einer Handlung zu Schuld oder Verdienst ist im Kern, dass Zurechnung einzelne Handlungen zum Gegenstand hat, während Tugend zwar nach Kant auch Handlungen auszeichnet, in der Hauptsache aber eine Eigenschaft des Charakters ist, der die Gesamtheit von Handlungen umfasst (vgl. dazu Kapitel 3, Abschnitt 7). Nach dieser Skizze der Analogie von Tugend und Zurechnung richten wir den Fokus wieder auf Zurechnung und wenden uns der Frage zu, welchen Stellenwert die Berücksichtigung von empirischen Hindernissen für Kant hat. Bislang wurde nur dafür argumentiert, dass es nicht ausgeschlossen ist, empirische Hindernisse als Entschuldigungen zu berücksichtigen. Gibt es jedoch auch einen positiven Grund dafür, diese Zweistufigkeit anzunehmen und Grade auf der zweiten Stufe zuzulassen? Ich werde zwei mögliche Gründe diskutieren: Die Übereinstimmung mit dem generellen Aufbau von Kants Moralphilosophie und den Umgang mit Zufall. Die Zweistufigkeit der Zurechnung ist mit der Kantischen Moralphilosophie systematisch gut vereinbar. Apriorische und empirische Untersuchungen müssen nach Kant strikt getrennt werden – auch insofern plädiert er für eine Zweistufigkeit und gegen die Vermischung beider Ebenen. Die apriorische Ebene hat dabei Vorrang: In der Hauptsache geht es Kant darum, was Menschen als freie Wesen auszeichnet und welche Pflichten wir haben. Die Bedingung, die für die erste Stufe der Zurechnung erfüllt sein muss – dass das Zurechnungssubjekt einen transzendental freien Willen besitzt –, muss gleichermaßen erfüllt sein, damit Menschen überhaupt moralische Pflichten haben können. Empirische Umstände zählen deshalb normalerweise auf der ersten Stufe der Zurechnung nicht, da Zurechnungsfähigkeit gerade die Eigenschaft ist, die Menschen zu Adressaten moralischer Gesetze a priori macht. Dennoch beschreibt Kant die empirische Ebene als unentbehrliches „Gegenstück“ zur Metaphysik der Sitten: Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das andere Glied der Eintheilung der praktischen Philosophie überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein, welche, aber nur die subjective, hindernde sowohl als begünstigende Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muß (6:217, H.v.m.).
Diese Passage zeigt, dass Kant den empirischen Teil als notwendig erachtet, um ein vollständiges Bild der moralischen Praxis zu liefern. Ein Moralphilosoph sollte sich nach Kant nicht nur für die Begründung des Moralgesetzes interessieren,
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
sondern auch für die „Ausführung“, d. h. die Realisierung der Moral in der empirischen Welt. Die Unverzichtbarkeit des empirischen Teils der Moralphilosophie ist mithin darin begründet, dass Personen als empirische Wesen immer in der empirischen Welt handeln. Grade der Zurechnung bzw. Entschuldigungen spiegeln dieselbe Einsicht wider: In der konkreten moralischen Praxis haben wir es nicht mit idealen rationalen Wesen zu tun, sondern mit empirisch realisierten Personen, die mit Faktoren konfrontiert sind, die ihre Moralität behindern oder erleichtern. Die beiden Zurechnungsstufen spiegeln demnach Kants zweistufigen Aufbau seiner Moralphilosophie wider: Die Zurechnung zur Tat setzt eine nichtempirische Fähigkeit (nach Vernunftgesetzen bzw. dem Moralgesetz zu handeln) voraus. Auf der zweiten Stufe der Zurechnung geht es darum, wie die Realisierung dieser Fähigkeit gelungen ist und welche „subjective, hindernde sowohl als begünstigende Bedingungen“ der Akteur angetroffen hat.²⁵⁶ Wir können nun die Analogie zwischen Tugend und Zurechnung zu Schuld und Verdienst, auf die Korsgaard aufmerksam gemacht hatte, erklären: Sowohl Tugend als auch Zurechnung zu Schuld und Verdienst erlaubt Grade, weil sie die Realisierung der (nicht-empirischen) Fähigkeit, nach dem Moralgesetz zu handeln, in der empirischen Welt betreffen. Grade der Zurechnung von Schuld und Verdienst kommen der Person aufgrund einer einzelnen Handlung zu, Grade der Tugend aufgrund ihres gesamten Charakters. Ein zweiter Grund, weshalb Grade der Zurechnung im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie eine Rolle spielen, wird deutlich, wenn man graduelle Zurechnung als einen Umgang mit dem Zufall in der Moral versteht. Für Kant ist gerade dasjenige zurechenbar, was der Person nicht zufällig zustößt, sondern auf ihren freien Willen zurückgeht. Eine leitende Idee bei den Graden der Zurechnung ist, den „Eigenanteil“ der Person an der Handlung zu würdigen: Von der Schuld wird etwas „abgezogen“,wenn die Person mit Naturhindernissen konfrontiert war, deren An- oder Abwesenheit sie nicht kontrollieren konnte. Was für größeren Verdienst bei größerer Anstrengung spricht, ist, dass die Überwindung von Hindernissen deutlich machen, dass der gute Wille der Person besonders stark war. Stephen Engstrom wendet die beschriebene Idee der Zweistufigkeit auf den Begriff der Autonomie an. Er unterscheidet zwischen einer objektiven und einer subjektiven Bedeutung von Autonomie, wobei sich letztere auf den Erfolg eines empirischen Wesens bezieht, ob bzw. wie gut es das objektive Gesetz zu seiner Maxime macht (vgl. Engstrom 188, 439). Engstrom zufolge ist subjektive Autonomie bedingt und liegt graduell vor, je nach der Fähigkeit der Person, moralisch gute Handlungen im Lichte von Hindernissen auszuführen (vgl. Engstrom 1988, 449). Anders als Engstrom würde ich den Begriff der Autonomie für die Fähigkeit reservieren, nach dem selbstgegebenen Gesetz zu handeln und Kants eigene Begriff zur Beschreibung von gradueller Realisierung dieser Fähigkeit in der empirischen Welt verwenden: Eine Person, die größere Hindernisse überwinden kann, ist tugendhafter bzw. hat größeres Verdienst.
5. Die Möglichkeit von Graden der Zurechnung
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Damit kommen wir zum zweiten Zusammenhang von Zurechnung von Tugend: Der Zurechnung von Tugendhandlungen zum Verdienst. Ein Aspekt der Tugend besteht gerade in der „Stärke“ bei der „Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe“ (6:397). Dass es verdienstlicher ist, das Gute unter Anstrengung zu tun, als es mit Leichtigkeit zu tun, scheint eine grundlegende Annahme Kants zu sein. So sagt er in der Anthropologie: „Das, was leicht ist, zu thun, ist verdienstlos“ (7:148). Dies gilt nicht nur für einzelne Handlungen, sondern für die Tugend als Ganze, wie Kant in den Vorlesungen zur Moralphilosophie anmerkt: Aber von der natürlichen Neigung ist zu merken: Ie mehr ein Mensch mit seiner natürlichen Neigung kämpft, desto mehr ist es [der Kontext legt nahe: die gute Tat, CB] ihm zu imputiren. Dahero uns die Tugend mehr zu imputiren ist als den Engeln, die nicht so viel Hindernisse haben (Kähler, 94).
Kants Auffassung könnte folgendermaßen begründet werden: Nach Kant hat die Person die Existenz seiner Neigungen als rein natürlichen Phänomenen nicht zu verantworten, „wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen, zum Nachtheil der Vernunftgesetze des Willens Einfluß auf seine Maximen einräumte“ (4:458). Wenn der Mensch für den Einfluss der Neigungen auf sein Handeln verantwortlich ist, dann lässt sich ihm auch zurechnen, dass er den schädlichen Einfluss nicht zugelassen hat. Ein Mensch, der sich gegen größere Hindernisse, d. h. gegen stärkere Neigungen, gewehrt hat, musste demnach mehr leisten als jemand, der durch den natürlichen Zufall weniger Hindernisse zu überwinden hatte.²⁵⁷ Die Überwindung von Hindernissen zeigt, dass sich die menschliche Freiheit und damit eine vernünftige Ordnung in der empirischen Welt durchsetzen können, und dies honoriert Kant damit, dass er stärkere Durchsetzungskraft des guten Willens als verdienstlicher auszeichnet.²⁵⁸
Es handelt sich um einen bestimmten Umgang mit Zufall, nicht um die Immunisierung der moralischen Bewertung gegen Zufall: Lässt sich die zufällige Anwesenheit von Hindernissen in einer Hinsicht als Pech bezeichnen (da die Person Anstrengungen der Überwindung auf sich nehmen musste), ist sie in anderer Hinsicht Glück, denn nur dadurch hatte die Person überhaupt die Chance, mehr Verdienst zu erwerben. Es scheint noch eine zusätzliche Möglichkeit von Gradualität des Verdienstes ins Spiel zu kommen, da Tugendpflichten weite Pflichten sind, die einen „Spielraum“ bezüglich des „wie und wie viel“ in ihrer Ausführung erlauben (vgl. 6:390). Bereits aus dem ersten Kapitel ist bekannt: Jede einzelne Handlung, die eine Tugendpflicht erfüllt, ist verdienstlich, weil man zu genau dieser Handlung nicht verpflichtet ist und der Akteur somit „mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann“ (6:227). Je nachdem, wie der Spielraum bei der Erfüllung der weiten Pflichten genutzt wird, lässt sich von Graden des Verdienstes bei Tugendhandlungen
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Es ist verwunderlich, dass Kant trotz der Möglichkeit von Schuldminderungsgründen diese kaum berücksichtigt. Er vertritt die These, dass jede Person in Bezug auf ihre eigenen Handlungen so streng wie möglich sein soll, während sie in Bezug auf die Handlungen anderer durchaus Entschuldigungen gelten lassen soll. So sagt Kant in seiner Vorlesung zur Moralphilosophie: Die Fragilitas und infirmitas humana kann nur in Betracht gezogen werden blos um anderer Menschen Handlungen zu beurtheilen. Ich selbst muß aber in Ansehung meiner Handlung nicht auf die Fragilitate et infirmate rechnung machen und die Handlung dadurch entschuldigen (Kähler, 100).
Ein schönes Beispiel zur Illustration ist folgendes: Man hat einen mit einem Wort aus Uebereilung beleidigt, kommt man nach Hause, so geht das einem im Kopf herum, man wünscht Gelegenheit zu haben, es gut zu machen, man kann sich auf keine Weise der Vorwürfe entledigen, wenn man auch noch solche scheinbare Ausreden hat, die gewiß für allen irdischen Richter gelten müssen; man ist doch ein Mensch, wie bald kann einem nicht ein Wort entfahren, allein dieses gilt nichts für den innern Richter, er sieht gar nicht auf die Fragilitaet der Natur, sondern auf die Handlung selbst wie sie ist (Kähler, 99).
Doch warum diese Asymmetrie in der Beurteilung eigener und fremder Handlungen? Der Grund scheint zu sein, dass aus der Perspektive der ersten Person eine Spannung zwischen dem Versuch, sich zu entschuldigen, und dem Ziel der moralischen Vervollkommnung (6:446) besteht. Um sich in moralischer Hinsicht zu verbessern, ist es wichtig, die eigenen vernünftigen Gestaltungsmöglichkeiten zu sehen und sich nicht als Spielball von unbeherrschbaren Faktoren zu verstehen, die man dann als Entschuldigungsgründe anführen könnte. In der Tat ist es bei Entschuldigungen oft – wenn auch nicht immer – so, dass man bei genauerem Hinsehen doch Möglichkeiten gehabt hätte, die Situation zu verbessern und nicht schuldig zu werden. Diese Annahme verhilft besser dazu, für die Zukunft zu lernen, als die Abwälzung der Verantwortung auf unkontrollierbare, entschuldigende Umstände. In Bezug auf andere Menschen ist die Situation jedoch eine sprechen. Wenn eine Person den Spielraum der weiten Pflichten nicht zu ihrem eigenen Vorteil so weit wie möglich auslegt, sondern versucht, die Tugendpflicht so oft wie möglich und so umfassend wie möglich zu erfüllen, dann wird die Tugendhandlung mehr zum Verdienst zugerechnet. Offenbar können zwei Faktoren den Verdienst vergrößern: Zum einen die Tatsache, dass eine Person eine Tugendpflicht umfassender erfüllt, und zum anderen die Tatsache, dass sie dabei viele Hindernisse zu überwinden hatte. In der Praxis fallen diese beiden Möglichkeiten sicherlich oft zusammen, da eine umfassendere Ausübung der Pflicht wohl meist auch mehr Anstrengung erfordert als eine minimale Pflichterfüllung.
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen
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andere, da jeder selbst nur für seine eigene moralische Verbesserung verantwortlich sein kann. Kants Argument dafür ist nicht, dass es paternalistisch wäre, andere Menschen perfektionieren zu wollen, sondern dass es unmöglich wäre: Eben so ist es ein Widerspruch: eines anderen Vollkommenheit mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung für verpflichtet zu halten. Denn darin besteht eben die Vollkommenheit eines andern Menschen, als einer Person, daß er selbst vermögend ist sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas thun soll, was kein anderer als er selbst thun kann (6:386).
Deshalb kann hinsichtlich anderer Menschen die Einsicht ausschlaggebend sein, „daß es doch Menschen sind“ (Kähler, 100) – nur Menschen, und keine rein vernünftigen Wesen. Durch die graduelle Zurechnung trägt man der Tatsache Rechnung, dass sich die Person in der Handlung nicht nur als vernünftiges, sondern auch als sinnliches Wesen gezeigt hat. Sollte Kant also sein strenges Urteil über den Lügner aus der ersten Kritik, dieser hätte – auch angesichts schwieriger Umstände – „gänzlich Schuld“, revidieren? Das kommt darauf an, welche Faktoren nun genauer zu denen zählen, die nach Kant Schuld mindern können. Im Lügner-Beispiel geht es zumindest nicht um den Einfluss von Affekten, und nur dieser war von Kant explizit als Schuldminderungsgrund genannt worden. Wenden wir uns nun einer genaueren Klassifikation von Gründen zu, die Zurechnung anfechten können.
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen Das Zwischenfazit lautet, dass sich Gründe, die Zurechnung zu Schuld und Verdienst graduell vergrößern oder vermindern, auf der zweiten Stufe der Zurechnung lokalisieren lassen. Die Zurechnung zur Tat ist das Urteil, das ein Geschehen als freie Handlung einer Person auszeichnet. Die Person wird dabei nur als Vernunftwesen mit einem transzendental freien Willen, nicht mit Rücksicht auf ihre individuelle Beschaffenheit betrachtet. Erst bei der Zurechnung zu Schuld und Verdienst spielen subjektive, insbesondere sinnliche Faktoren eine Rolle, die die Ausübung des Willens beeinflussen, sodass eine Handlung mehr oder weniger zu Schuld oder Verdienst zugerechnet werden kann. Wenn Kant von Graden der Zurechnungsfähigkeit in subjektiver Hinsicht spricht, dann bezieht er sich auf die zweite Stufe der Zurechnung. Das gesamte Zurechnungsurteil, das Zurechnung zur Tat, Anwendung des Gesetzes und Zurechnung zu Schuld oder Verdienst umfasst, kann entsprechend der verschiedenen Stufen durch verschiedene Arten von Gründen an-
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gefochten werden. Diese lassen sich in einem ersten Zugriff in drei Klassen einteilen: Rechtfertigungen (die auf der Ebene der Gesetzesanwendung wirksam sind) (Abschnitt 6.1), Entschuldigungen (die Zurechnung zur Schuld anfechten) (Abschnitt 6.2) und Ausnahmen (die Zurechnung zur Tat betreffen) (Abschnitt 6.3).²⁵⁹ Rechtfertigungen sind Gründe dafür, dass die Handlung bzw. Unterlassung entgegen dem ersten Anschein doch nicht schlecht bzw. gesetzeswidrig war, während Entschuldigungen nicht in Zweifel ziehen, dass die Handlung verboten war.²⁶⁰ Ausnahmen lassen sich dahingehend von Entschuldigungen unterscheiden, dass sich Entschuldigungsgründe auf die Umstände einer einzelnen Handlung beziehen, während Ausnahmegründe (relativ) dauerhafte Eigenschaften der handelnden Person betreffen, die darauf hinweisen, dass die Person kein volles Mitglied unserer moralischen Gemeinschaft ist, wie zum Beispiel Kinder oder Geisteskranke.
6.1 Rechtfertigungen Rechtfertigungsgründe sind nicht auf der Ebene der Zurechnungsregeln angesiedelt, sondern auf der Ebene der Gesetze. Rechtfertigungen verweisen auf Umstände, in denen eine normalerweise unrechte (bzw. unmoralische oder unkluge) Handlung nicht unrecht (bzw. unmoralisch oder unklug) ist. Diese Umstände stellen Ausnahmen zum ansonsten gültigen Verbot dar, zum Beispiel: „Töten ist unrecht, es sei denn es handelt sich um Notwehr“. Das Töten kann im Fall der Notwehr auf erster Stufe zur Tat zugerechnet werden, da es die Handlung einer zurechnungsfähigen Person war (und nicht bloß ein natürliches, zufälliges Geschehen), aber diese Handlung ist der Person nicht zur Schuld zuzurechnen, da sie nicht durch ein Gesetz verboten wird.²⁶¹
Vgl. zu diesen Unterscheidungen in der neueren Debatte um Verantwortung J.L. Austin (1961, 124), G. Watson (1987, 260), R.J. Wallace (1994, 118) und P.F. Strawson (1963, 77 ff.). Zum genaueren Bezug auf die aktuelle Debatte vgl. Kapitel 10, Abschnitt 3.3. J.L. Austin zufolge dienen Rechtfertigungen dazu „to argue that it was a good thing to do [the action], either in general or at least in the special circumstances of the occasion“ (Austin 1961, 124). Wenn wir eine Entschuldigung geben, sieht es anders aus: „[W]e admit that it was bad but don’t accept full, or even any, responsibility“ (ebd.). Kant nennt dieses Beispiel in einer Reflexion (R 7297): „Eine Mordthat konnte ich unterlassen, auch nach dem Gesetze. Also ist das Begehen davon imputabel. Aber meine Gegenwehr durfte ich nicht unterlassen; also kann mir der tod des Angreifers nicht imputirt werden“ (19:305). Hier klingt es auf den ersten Blick so, als sei die Notwehr selbst noch nicht einmal zur
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen
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Kant selbst behandelt Rechtfertigungen nicht systematisch, doch geben seine Ausführungen zu Erlaubnisgesetzen im Ewigen Frieden Aufschluss darüber, dass er die Existenz von Rechtfertigungen in dem eben beschriebenen Sinn annimmt. Kant versteht dort eine Erlaubnis als Ausnahme von einem „vorausgesetze[n] Verbot“ (8:348), die dann im Verbotsgesetz „unter die Ausnahmen geworfen wird. – Da heißt es dann: dies oder jenes wird verboten: es sei denn Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3 und so weiter ins Unabsehliche“ (8:348). Diese Ausnahmen können gerade als Rechtfertigungsgründe gelten, die eine ansonsten verbotene Handlung erlaubt werden lassen.²⁶² Es ist insofern überraschend, dass Kant die Möglichkeit von Rechtfertigungen annimmt, als er von Gesetzen verlangt, sie sollen universell und ausnahmslos gelten. Tatsächlich beschreibt die eben genannte „es sei denn“-Formel nach Kants eigener Darstellung nur die Art und Weise, wie Erlaubnisgesetze gängiger Weise formuliert werden. Kant kritisiert jedoch diese Praxis, in der Ausnahmen „nur zufälliger Weise, nicht nach einem Princip, sondern durch Herumtappen unter vorkommenden Fällen, zum Gesetz hinzukommen“ (ebd.). Kant zufolge solle man eher versuchen, die Rechtfertigungsgründe „als einschränkende Bedingung […] in jenes Gesetz [das Verbotsgesetz, CB] mit hinein“ zu bringen. Könne man nicht die zufällige und unabschließbare Reihe von Ausnahmegründen in „einem Princip“ zusammenfassen, „wird man bloß generale Gesetze […], aber keine universale […] haben, wie es doch der Begriff eines Gesetzes zu erfordern scheint“ (ebd.). So lässt sich zusammenfassend sagen, dass Kant die Existenz von Rechtfertigungen, die eine ansonsten verbotene Handlung erlaubt machen, zwar annimmt, aber es für ein Desideratum hält, diese Rechtfertigungen nicht als zufällige Ansammlung von Gründen stehen zu lassen, sondern nach Prinzipien zu ordnen, damit universale Gesetze möglich sind. In Hinblick auf weite Tugendpflichten kann man die Möglichkeit „der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere“ (6:390) als Möglichkeit von Rechtfertigung sehen. In Kants eigenem Beispiel würde das heißen: Wenn ich die Pflicht nicht erfülle, meinem Nächsten zu helfen, dann könnte ich mich damit rechtfertigen, dass dies unvereinbar damit war, dass ich meinen Eltern helfe. Allerdings ist in diesen Fällen streng genommen gar keine Rechtfertigung not-
Tat zurechenbar. Wie im ersten Kapitel schon angesprochen, scheint Kant in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie und den entsprechenden Reflexionen moralisch erlaubte Handlungen nicht für zurechenbar zu halten. Allerdings lässt sich die Stelle auch anders lesen: Der Tod des Angreifers ist eine Handlungsfolge der Notwehr. Da Notwehr erlaubt ist, ist die Folge nicht (zur Schuld) zurechenbar (vgl. Kapitel 7). Vgl. dazu auch Byrd/Hruschka 2010, 99.
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
wendig, weil die Übertretung einer weiten Pflicht im Einzelfall ohnehin nicht zur Schuld zurechenbar ist (vgl. 6:390).
6.2 Entschuldigungen und Schuldminderungsgründe In diesem Abschnitt soll untersucht werden, was für Kant als Entschuldigungsgrund zählt. Zuerst wird untersucht, warum Kants Entschuldigungsgründe Verantwortung nur vermindern, anstatt sie ganz zu unterminieren, und deshalb genau genommen „Schuldminderungsgründe“ genannt werden sollten. In einem zweiten Schritt soll durch einen Vergleich von Affekten und Leidenschaften herausgearbeitet werden, dass ein empirischer Faktor als Entschuldigung gelten kann, wenn (a) die Person nicht für sein Vorliegen verantwortlich ist²⁶³ und (b) rationale Überlegung durch sein Vorliegen erheblich erschwert wird, (c) ohne sie völlig unmöglich zu machen. In der aktuellen Debatte hat R. Jay Wallace die Funktion von Entschuldigungen besonders klar herausgearbeitet. Ihm zufolge zeigen Entschuldigungen, dass die handelnde Person nicht die Intention hatte bzw. keine Entscheidung getroffen hatte, die die relevante moralische Norm verletzt (vgl.Wallace 1994, 149). Diese allgemeine Charakterisierung trifft Wallace zufolge auf vier Klassen von Entschuldigungen zu (vgl. Wallace 1994, 136 f.): Erstens nennt er Fälle von Unwissenheit, in denen zwar eine absichtliche Handlung vollzogen wird, jedoch im Zuge dessen eine andere Handlung ausgeführt wird, die man aus Unwissenheit nicht absichtlich vollzieht. Als Beispiel dafür wählt Wallace das Treten auf eine Hand, während man nur zum Kühlschrank gehen wollte, und die Hand gar nicht gesehen hat. Wenn die Unwissenheit nicht selbst als fahrlässig zuzurechnen ist, gilt sie als guter (und meist vollständiger) Entschuldigungsgrund, da die Handlung keine böswillige Haltung bzw. Absicht der Person ausdrückt. Zur zweiten Klasse zählt Wallace absichtslose Körperbewegungen wie Reflexe, bei denen ebenfalls keine Absichten vorliegen, die eine Norm verletzen. Drittens sind Fälle physischen Zwangs zu nennen: Wer gefesselt ist oder in einem Aufzug feststeckt, wird nicht für Unterlassungen verantwortlich gemacht, die auf den physischen Zwang zurückzuführen sind, da die Unterlassung nicht absichtlich vollzogen wird. Die vierte und letzte Klasse von Entschuldigungsgründen setzt sich aus solchen zusammen, die man als Nötigung bezeichnen kann. Dies sind Fälle, in denen eine
Ein Beleg findet sich in Kants Reflexionen: „Die größe der imputabilität kann subjectiv [nach] der Schwierigkeit beurtheilt werden. Doch muß die Schwierigkeit unverschuldet seyn“ (R 6812, 19:169, H.v.m.)
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Handlung ausgeführt wird, um ein größeres Übel zu vermeiden. Hierunter fällt sowohl der Bankangestellte, der unter vorgehaltener Pistole das Geld herausgibt, als auch der Seemann, der bei Sturm seine Fracht über Bord wirft, um das Kentern zu verhindern.²⁶⁴ In keine dieser Kategorien ist der bislang betrachtete Kantische Entschuldigungsgrund, das Handeln aus starkem Affekt, einzuordnen. Eine genauere Betrachtung der Entschuldigungsgründe bei Wallace erklärt, warum. Im Fall der Unwissenheit ist die Handlung unter der Beschreibung, unter der sie absichtlich ist, nicht die, unter der sie vorwerfbar ist. Kants Überlegungen zu den Affekten setzen jedoch voraus, dass die absichtlich vollzogene Handlung zur Tat zugerechnet wird und nun die Zurechnung dieser adäquat beschriebenen Handlung zu Schuld und Verdienst zur Debatte steht. Wallaces zweite Klasse von Entschuldigungsgründen, dass es sich um bloße Körperbewegungen handelt, bezieht sich auf eine Klasse von Ereignissen, die man schon auf der ersten Stufe nicht zurechnen kann, da es sich nicht um freie Handlungen, sondern bloße Körperbewegungen handelt. Diese Ereignisse fallen bei Kants Überlegungen zur Schuld heraus, weil die notwendige Bedingung nicht erfüllt ist, dass sich die Handlung zur Tat zurechnen lässt. Die dritte Klasse von Entschuldigungen, physischer Zwang, hat zur Folge, dass die Person (vorübergehend) gar nicht handlungsfähig und damit in Bezug auf diese Handlung bzw. Unterlassung auch nicht zurechnungsfähig ist. Auch diese Fälle betrachtet Kant nicht, wenn er die Zurechnung zur Schuld behandelt. Lediglich die letzte Gruppe von Entschuldigungen, Nötigung durch andere Personen oder durch äußere Umstände, scheint interessant zu sein, wenn man sich – wie Kant – für absichtliche Handlungen zurechnungsfähiger Personen interessiert, die eine gültige Norm verletzen. Es sind verschiedene Grade von Nötigung denkbar und nicht alle Fälle über einen Kamm zu scheren. Im Fall von Nötigung findet immer eine Abwägung statt, welches das kleinere Übel ist: Handlung X (z. B. das Aushändigen des Geldes) oder Handlung Y bzw. die Unterlassung von Handlung X (z. B. der eigene Tod). Im Fall des Bankangestellten liefert die Abwägung ein recht eindeutiges Ergebnis, aber das muss nicht in jedem Fall der Erpressung so sein. In diesem Sinne erwähnt Kant auch in den Vorlesungen zur Moralphilosophie: Ie mehr einer von aussen gezwungen wird zu einer Handlung desto weniger wird ihm die Handlung imputirt, überwindet er aber den Zwang und unterlässt er doch die Handlung, so wird es ihm desto mehr imputirt (Kähler, 94).
Das Beispiel geht auf Aristoteles zurück (Nikomachische Ethik, Buch 3, Kapitel 1).
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Nötigung durch andere kann demnach als „Naturhindernis“ zählen; allerdings als äußeres Naturhindernis, anders als die Affekte, die man als „innere“ Hindernisse bezeichnen könnte, da sie auf die Sinnlichkeit des Subjekts zurückgehen und dessen „innere Freiheit“ beschränken (vgl. Byrd/Hruschka 2010, 307). Alle Entschuldigungsarten, die Wallace anführt, weisen darauf hin, dass die der Person zunächst unterstellte Einstellung (z. B. der Böswilligkeit) gar nicht vorlag, denn die Person hat die Handlung unter der Beschreibung, unter der sie vorwerfbar ist, gar nicht gewollt. Im Gegensatz dazu betrachtet Kant absichtliche Handlungen zurechnungsfähiger Personen. Handelt eine Person im Affekt, hat sie die Handlung unter der Beschreibung, unter der sie vorwerfbar ist, gewollt – allerdings ist die Annahme, dass sie dies nur unter dem momentanen Einfluss der Affekte getan hat. Selbst wenn die Person eine moralisch gute Einstellung hatte (wie wir gleich sehen werden, können nach Kant Affekte mit einem guten Willen vereinbar sein), so kann bei pflichtwidrigem Handeln aus Affekt nach Kant die Person zumindest dafür getadelt werden, dass sie sich von ihren Affekten hat hinreißen lassen. Für Wallaces Entschuldigungen gilt, dass sie im Regelfall vollständig entschuldigen. Affekte wirken jedoch nur schuldmindernd, ohne die Schuld ganz zu tilgen. Dementsprechend ist die genauere terminologische Unterscheidung zwischen Entschuldigungen (die auch vollständig entschuldigen können) und mildernden Umständen bzw. Schuldminderungsgründen sinnvoll.
6.2.1 Affekte und Leidenschaften Eine genauere Betrachtung von Affekten bei Kant macht weitere Charakteristika von Schuldminderungsgründen deutlich. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass jeder empirische Umstand als Entschuldigung zählen könnte. Doch es gibt auch empirisch gegebene Faktoren, die dem Subjekt zwar nicht zugerechnet werden können, die aber auch nicht schuldmindernd wirken,wie zum Beispiel das „Naturell“ oder das „Temperament“, die Kant explizit als für moralische Zurechnung irrelevante Faktoren im Beispiel der bösartigen Lüge anführt (A554/ B582).²⁶⁵ Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Affekte und Leidenschaften in einer konkreten Handlungssituation stärkere motivierende Kraft besitzen als andere natürliche Umstände, die im Leben einer Person relativ dauerhaft bestehen. Natürlich kann es sein, dass bestimmte Handlungen durch das Naturell oder das Temperament nahe gelegt und anderen vorgezogen werden: Ein Phlegmatiker
In Bezug auf den Charakter ist es nach Kant ausgeschlossen, dass er als Entschuldigungsgrund wirken kann, denn er muss als selbst gewählt gedacht werden (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 7).
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wird aufgrund seines Temperaments schwerer zu einer Handlung zu bewegen sein als ein Choleriker. Doch Kant geht davon aus, dass Naturell und Temperament für sich genommen keine starken Antriebe für Handlungen sind, sondern jedes Naturell oder Temperament vernünftige Überlegung und Handlung ohne signifikante Erschwernis zulässt. Dies wird besonders deutlich anhand der Beispiele, die Kant in der Grundlegung (vgl. 4:398 f.) für Menschen gibt, deren Temperament das moralische Handeln nicht nahelegt, die aber dennoch aus Pflicht moralisch gut handeln können und sich dadurch „einen weit höhern Werth […] geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag“ (4:398). Temperamentseigenschaften stellen mithin nach Kant die Randbedingungen jeder moralischen Überlegung dar. Ein sinnlicher Schuldminderungsgrund, so ließe sich schließen, ist ein natürlicher Umstand, der eine starke motivierende Kraft in einer bestimmten Situation besitzt. Diese Beschreibung trifft sowohl auf Affekte als auch auf Leidenschaften zu. Doch Kant lässt Leidenschaften nicht als Entschuldigungen gelten. Eine Handlung aus Wut kann zu einem gewissen Grad entschuldigt werden, eine Handlung aus Hass jedoch nicht. Um Affekte und Leidenschaften in ihren Unterschieden zu charakterisieren, eignet sich eine Passage aus der Metaphysik der Sitten: Affecten und Leidenschaften sind wesentlich von einander unterschieden; die erstern gehören zum Gefühl, so fern es, vor der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer macht. Daher heißt der Affect jäh oder jach (animus praeceps), und die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Gemüthsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann und das einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. Ein Hang zum Affect (z. B. Zorn) verschwistert sich daher nicht so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z. B. der Haß im Gegensatz des Zorns). Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemüth sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; welches alsdann ein qualificirtes Böse, d. i. ein wahres Laster, ist (6:407 f.).
Der für Zurechnung wichtigste Unterschied zwischen Affekten und Leidenschaften ist, dass Affekte „mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen“ können und deshalb nur „Untugend“ und noch kein Laster sind (vgl. 6:384), während Leidenschaften selbst böse sind (vgl. auch 7:267) bzw. zu bösen Handlungen verleiten.²⁶⁶ Dieser Unterschied hat zwei Quellen: Erstens einen Unter-
Affekte hingegen müssen nicht immer zu bösen Handlungen führen. Kant räumt die Möglichkeit ein, dass auch Affekte „durch Vernunft“ angeregt werden. Ein Beispiel dafür ist der
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schied in der Genese; zweitens einen Unterschied in der Rolle von vernünftigen Überlegungen bzw. Prinzipien. Der Person kann ein aktiver Anteil bei der Genese von Leidenschaften unterstellt werden, während dies bei Affekten nicht der Fall ist. Affekte kommen, wie Kant in der oben zitierten Passage der Metaphysik der Sitten sagt, wie ein „Sturm“ – die Person wird von einem Affekt gleichsam überrollt, den sie kaum²⁶⁷ kontrollieren kann. Viel stärker liegt die Genese von Leidenschaften in der Gewalt des Subjekts, denn eine Leidenschaft ist kein Gefühl, sondern eine Neigung (7:251), und eine Neigung wiederum eine „habituelle sinnliche Begierde“ (7:251, H.v.m.). Das bedeutet, dass es wiederholte Situationen gegeben haben muss, in denen eine bestimmte Begierde aufgetreten ist. Da es in vielen Fällen möglich ist, Einfluss darauf zu nehmen, ob sich Situationen wiederholen, in denen sich die Begierden zu Neigungen verfestigen, unterliegt die Genese von Leidenschaften zu einem gewissen Grad der eigenen Kontrolle. Kant stimmt der These zu, dass Leidenschaften in gewisser Weise selbstgemacht sind, indem er sie mit „Blos-Leidende[m]“ kontrastiert (7:269). So lässt sich festhalten, dass aufgrund der Kontrollmöglichkeit bei der Genese dem Subjekt das Vorliegen einer Leidenschaft in größerem Maße zugerechnet werden kann als das eines Affekts. Der zweite Unterschied zwischen Affekten und Leidenschaften betrifft ihr Verhältnis zu vernünftiger Überlegung. Affekte machen Überlegung „unmöglich oder schwerer“, während es im Zustand der Leidenschaft möglich ist, sich „Grundsätze zu machen“. Die Umgehung der Vernunft bzw. des Willens beim Handeln im Affekt ist demnach umfassender als beim Handeln aus Leidenschaft. Dies zeigt sich auch an der praktischen Folge, dass die handelnde Person die Tat aus Affekt im Nachhinein anders bewertet als die Handlung aus Leidenschaft. In Bezug auf den Zorn sagt Kant, dass ein Mensch „zu einer Heftigkeit im Gebrauche seiner Gewalt hingerissen“ wird, „die ihn nachher reuen möchte“ (7:260). Affekte können deshalb schuldmindernd wirken, weil die Möglichkeit besteht, dass ein eigentlich guter Wille sich nur zu etwas hat „hinreißen“ lassen. Hier zeigt sich die Nähe des Handelns aus Affekt und Handeln aus Willensschwäche bzw. „Gebrechlichkeit“ (vgl. 6:29 und Kapitel 2, Abschnitt 8). Auch Willensschwäche kann nach Kant „mit einem im Allgemeinen guten Willen zu-
Mut: „Der Muth als Affect (mithin einerseits zur Sinnlichkeit gehörend) kann aber auch durch Vernunft erweckt und so wahre Tapferkeit (Tugendstärke) sein“ (7:257, H.v.m.). Aufgrund seines Ursprungs in der Vernunft hat der Mut als Affekt Ähnlichkeit mit dem Gefühl der Achtung. Handlungen aus Mut können offenkundig zu moralisch guten Handlungen führen. Die Affekte sind der Kontrolle der Person allerdings nicht vollständig entzogen, denn sonst könnte Kant nicht das Gebot Apathie, d. h. das Verbot, sich „von seinen Gefühlen und Neigungen […] beherrschen zu lassen“ (6:408), als Pflicht sehen.
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen
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sammen bestehen“ (6:37). Bei willensschwachem Handeln besitzt ein Subjekt eine moralisch gute Maxime, nach der es jedoch aus Schwäche nicht handelt. Ein Unterschied zwischen Affekthandlungen und Handlungen aus Willensschwäche ist, dass bei Affekten keine Neigung der Anlass für die unmoralische Handlung sein muss: Affekte gehören zum Gefühl (6:407 f.), das der Ausbildung einer Neigung vorgängig ist. Doch wenn der Anlass zur willensschwachen Handlung etwas weiter gefasst wird, so lassen sich Affekthandlungen als willensschwache Handlungen verstehen: Es sind Handlungen, denen zwar ein guter Wille zugrunde liegt, die aber aufgrund eines sinnlichen Einflusses entgegen diesem guten Willen ausgeführt werden. Insofern sie auf erster Stufe zurechenbar sein sollen, muss ihnen, genauso wie willensschwachen Handlungen, eine Maxime zugrunde liegen. Affekthandlungen wären damit eine Art von willensschwachen Handlungen. Willensschwäche umfasst darüber hinaus z. B. auch Fälle, in denen aus einer Neigung und mit „kühlem Kopf“ – ohne das Vorliegen eines starken Affekts – gegen das beste Urteil gehandelt wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kant auch Willensschwäche als schuldmindernden Grund gelten lassen würde.²⁶⁸ Während Handlungen aus Affekt oder Willensschwäche dem zuwider laufen, was die Person „wirklich“, d. h. auf Basis ihrer vernünftigen Überlegung, will, führen Leidenschaften zur Bildung unmoralischer Maximen und damit zu vorsätzlichem Bösen. Leidenschaften erlauben es im Gegensatz zu Affekten, sich Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen (6:408).
Kant meint, Leidenschaften seien ohne Ausnahme böse, und die gutartigste Begierde, wenn sie auch auf das geht, was (der Materie nach) zur Tugend, z. B. der Wohlthätigkeit, gehörte, ist doch (der Form nach), so bald sie in Leidenschaft ausschlägt, nicht blos pragmatisch verderblich, sondern auch moralisch verwerflich (7:267).
Ein weiterer Schuldminderungsgrund, den Kant in einer Reflexion erwähnt, ist der Kampf gegen eine Gewohnheit: „Den, der aus Gewohnheit was Gutes thut, ist die Gewohnheit, nicht die Handlung zu imputiren, eben so beym bösen. Wenn er also wieder die Gewonheit kämpft, so ist ihm die Handlung weniger zu imputiren“ (R 6559, 19:76). Hier ist der Kampf gegen die Gewohnheit, nicht gegen einen Affekt, ein Grund, die Person teilweise zu entschuldigen. Dies überrascht deshalb, weil die Genese einer Gewohnheit, wie auch einer Leidenschaft, der Kontrolle einer Person nicht ganz entzogen sind und diese deshalb auch für die Gewohnheit verantwortlich gemacht werden kann. Allerdings beschreibt Kant hier ja nicht einfach eine Handlung aus Gewohnheit, sondern eine Handlung, bei der die Person gegen ihre Gewohnheit kämpft. Diesen Kampf könnte Kant als Zeichen dafür sehen, dass ein guter Wille vorliegt.
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Es ist also die „Form“ der leidenschaftlichen Begierde, die „moralisch verwerflich“ ist. Eine Leidenschaft wäre selbst dann moralisch böse, wenn sie darin bestünde, eine leidenschaftliche Neigung zur Wohltätigkeit zu haben. Es liegt die Vermutung nahe, dass die moralisch verwerfliche Form der Leidenschaften gerade darin besteht, dass sie Vernunft in einer derart reduzierten Weise beanspruchen, die der „wahren Bestimmung“ (4:396) der Vernunft nicht gerecht wird. Die defiziente Weise, in der vernünftiges Überlegen unter Einfluss der Leidenschaften möglich ist, beschreibt Kant als „Vernünfteln“ (7:265) oder als die Tendenz, seinen Entscheidungen den „Anstrich der Vernunft“ (7:270) zu geben. Dass Vernunft gebraucht wird, um vorsätzlich eine moralisch böse Maxime zu verfolgen, ist moralisch böse. Deshalb kann eine Leidenschaft auch nicht als schuldmindernder Grund angesehen werden: Die gesetzeswidrige Handlung führt zu einer negativen Bewertung der Person, und die Leidenschaft kann dieses Urteil nicht abmildern, sondern nur bestätigen. Während Affekthandlungen zu den willensschwachen Handlungen gehören, sind Handlungen aus Leidenschaft ein Beispiel für die dritte „Stufe“ des Bösen (6:29), die „Bösartigkeit“ (6:30), denn Handeln aus Leidenschaft ist eine Weise, vorsätzlich gegen das moralisch Gute zu handeln. Diese Vorsätzlichkeit weist die Handlung aus Leidenschaft als eine Art der Bösartigkeit aus: Die „Schuld […] kann in ihren zwei ersten Stufen (der Gebrechlichkeit und der Unlauterkeit) als unvorsätzlich (culpa), in der dritten aber als vorsätzliche Schuld (dolus) beurtheilt werden“ (6:38, H.v.m.).²⁶⁹ Im Gegensatz zu Leidenschaften erfüllen Affekte demnach ein wichtiges Kriterium dafür, ein Schuldminderungsgrund sein zu können: nicht selbst zurechenbar böse zu sein und somit auf einen bösen Willen schließen zu lassen. Ferner erschweren Affekte vernünftige Überlegung: ein Affekt lässt die „Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm [dem Gefühl einer Lust oder Unlust, CB] überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen“ (7:251). Es ist also gerade die negative Freiheit des Subjekts,von Gefühlen der Lust und Unlust Abstand nehmen zu können, die durch Affekte beeinträchtigt wird. Die Überlegung, die durch den Affekt erschwert wird, beschreibt Kant genauer als „Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen“ (7:254). Diese Beschreibung macht deutlich, dass der Affekt nicht nur moralische Überlegung unterläuft, sondern – ähnlich wie Leidenschaften
Wood hingegen sieht eine Parallele zwischen Leidenschaft und dem „radikalen Bösen“: „The concept of radical evil shows a great similarity to Kant’s conception of a ‚passion‘ (Leidenschaft)“ (Wood 1970, 218). Allerdings ist Leidenschaft eine Neigung, während Kant den Hang zum Bösen als „subjectiven Grund der Möglichkeit einer Neigung“ (6:28, H.v.m.) versteht, d. h. als eine Disposition, die „wenn das Subject die Erfahrung davon [bezieht sich auf „Genuss“, CB] gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt“ (6:28, Anm.).
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(vgl. 7:265)²⁷⁰ – auch zweckrationale: Es findet keine Abwägung mehr statt, wie das Gefühl in Hinblick auf alle anderen Gefühle zu bewerten ist. Vernünftige Überlegung wird durch Affekte zwar erschwert, aber nicht vollständig unmöglich gemacht, denn sonst wären Affekthandlungen keine auf erster Stufe zurechenbaren Handlungen. Genauer gesagt ist dieses Kriterium bei einigen Affekthandlungen erfüllt, denn Kant scheint durchaus die Möglichkeit einzuräumen, dass manche Affekthandlungen nicht zurechenbar sind. Kant scheint beide Fälle – die zurechenbare und die unzurechenbare Affekthandlung – im Blick gehabt zu haben, wenn er sagt, dass Affekte die Überlegung „unmöglich oder schwerer“ (6:407) machen. Nur wenn vernünftige Überlegung durch die Anwesenheit von Affekten nur „schwerer“ ist, ist Zurechenbarkeit auf erster Stufe gegeben. Wenn Kant die Anwesenheit von Affekten (wie auch von Leidenschaften) als Gemütszustand beschreibt, der die „Herrschaft der Vernunft ausschließt“ (7:251, H.v.m.), scheint er unzurechenbare Affekthandlungen im Sinn zu haben. Doch Kants Charakterisierung der Affekte als „eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches“ (6:408) legt nahe, dass das Subjekt weiterhin prinzipiell in der Lage ist, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, dass ihm das jedoch durch die „Stärke der Gemüthsbewegung“ stark erschwert wird. In diesen Fällen ist die Affekthandlung zur Tat zurechenbar, aber das Vorliegen des Affekts wirkt als Schuldminderungsgrund.
6.3 Ausnahmen Während sich Entschuldigungen und Schuldminderungsgründe auf die Umstände einer einzelnen Handlung beziehen, die eine zurechnungsfähige Person vollzieht, gelten Ausnahmegründe, wenn ein Akteur zeitweise oder dauerhaft aus dem Kreis der zurechnungsfähigen Personen ausgeschlossen ist.
Die Beschreibung der Beeinträchtigung der Zweckrationalität bei Affekten und Leidenschaften ist allerdings nicht identisch: Im Fall von Affekten wird ein Gefühl nicht mit der Summe der anderen Gefühle verglichen, im Fall von Leidenschaften wird eine Neigung nicht in Beziehung zur Summe der anderen Neigungen gesetzt. An dieser Beschreibung sieht man, dass Affekte und Leidenschaften einerseits an verschiedenen Stellen im Entscheidungsprozess wirken, aber andererseits eine ganz ähnliche Wirkungsweise haben: Die Affekte setzen „früher“ im Entscheidungsprozess an, nämlich beim Gefühl der Lust und Unlust, während Leidenschaften erst auf der Ebene der Neigungen wirksam werden, d. h. wenn sich aus dem Gefühl der Lust und Unlust eine Begierde formiert hat, die zudem noch habituell geworden ist. Die Wirkungsweise ist dennoch dieselbe: Affekte und Leidenschaften stören als sinnliche Faktoren die zweckrationale Abwägung.
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Kant geht davon aus, dass der Mensch normalerweise eine freie Willkür besitzt und deshalb zurechnungsfähig ist, dass es jedoch Ausnahmen gibt: Der Mensch hat also eine freie Willkühr […]. Nur in einigen Fällen hat er keine freie Willkühr; z.E. in der zartesten Kindheit, oder wenn er wahnsinnig ist, und in der hohen Traurigkeit, welches aber auch eine Art von Wahnsinn ist (Metaphysik L(1), 28:255).²⁷¹
Da eine freie Willkür notwendige Voraussetzung für die Zurechnung zur Tat ist, ist es offenbar so, dass Kinder und Geisteskranke Ausnahmen darstellen, denen man Handlungen noch nicht einmal auf erster Stufe zurechnen kann. Im Folgenden möchte ich die beiden Klassen von Ausnahmen, Geisteskranke und Kinder, nacheinander betrachten.
6.3.1 Geisteskrankheit als Ausnahmegrund Zurechnungsurteile werden durch den Hinweis darauf, dass der Handelnde geisteskrank ist, untergraben. So sagt Kant, dass wenn „jemand vorsetzlich ein Unglück angerichtet hat“, herausgefunden werden muss, „ob er damals verrückt gewesen sei oder nicht“, damit man sagen könne, „ob und welche Schuld deswegen auf ihm hafte“ (7:213). Wenn Geisteskrankheit festgestellt wird, ist die Konsequenz, dass man den Verbrecher „bedauren und curiren, aber nicht bestrafen“ soll (7:214, Anm.). Kant behandelt geistige Störungen sowohl in seinem frühen Aufsatz Versuch über die Krankheiten des Kopfes (2:259 – 271) als auch in der Anthropologie im Kapitel „Von den Schwächen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnisvermögens“ (7:202 ff.). Zum Großteil stimmen die Ausführungen in den beiden Texten überein; allerdings ist Kant im Versuch noch optimistischer, eine „Onomastik der Gebrechen des Kopfes“ (2:260), d. h. eine Namenskunde bzw. Klassifikation der Geisteskrankheiten liefern zu können, während er in der Anthropologie die Schwierigkeit beklagt, „eine systematische Eintheilung in das zu bringen, was wesentliche und unheilbare Unordnung ist“ (7:214). In beiden Schriften teilt er die geistigen Störungen in schwerere „Gemüthskrankheiten“ (7:212) und weniger schwere „Gemüthsschwächen“ (7:204) ein, die er im Versuch dahingehend unterscheidet, welche Reaktion die Gesellschaft ihnen gegenüber einnimmt:
Kinder und Geisteskranke werden auch als Ausnahmen genannt, wenn in Frage steht, welche praktischen Haltungen gegenüber anderen Menschen angemessen sind: „Ich kann niemand nach m e i n e n Begriffen von Glückseligkeit wohl tun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach j e n e s seinen Begriffen“ (6:454, H.v.m.).
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Ich komme von den Gebrechen des Kopfes, welche verachtet und gehöhnt werden, zu denen, die man gemeiniglich mit Mitleiden ansieht, von denen, welche die freie bürgerliche Gesellschaft nicht aufheben, zu denjenigen, deren sich die obrigkeitliche Vorsorge annimmt und um welcher willen sie Verfügungen macht (2:263)
Die schwereren Gemütskrankheiten sind von Interesse, wenn es um Ausnahmen von der Zurechnungsfähigkeit geht, denn die „obrigkeitliche Vorsorge“ und die gesellschaftlichen „Verfügungen“ fassen unter sich die Maßnahmen, die die Gesellschaft gegenüber geisteskranken Verbrechern ergreift. Der Frage, wie Kant die einzelnen Krankheiten charakterisiert, kann hier nicht ausführlich nachgegangen werden (vgl. dazu Rauer 2007). Um die Gemütskrankheiten zu klassifizieren, versucht Kant, sie „auf so viel verschiedene Hauptgattungen bringen, als Gemüthsfähigkeiten sind, die dadurch angegriffen worden“ (2:264). Dem gestörten Verstand, der kranken Vernunft und der Urteilskraft entsprechen die Geisteskrankheiten Verrückung, Wahnsinn und Wahnwitz (vgl. 2:264).²⁷² Der Verrückte, der sich durch eine „Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe“ (2:264) auszeichnet, ist ein „Träumer im Wachen“, der daran leidet, „gewisse Dinge als klar empfunden sich vorzustellen,von denen gleichwohl nichts gegenwärtig ist“ (2:265). Während das Problem des Verrückten „eigentlich nur in den Begriffen“ (2:267) steckt, besteht der Wahnsinn darin, falsch zu urteilen, sodass er beispielsweise „das Betragen anderer Menschen durch einen ungereimten Wahn auf sich aus[deutet]“ (2:268). Der Wahnwitz ist „die in Unordnung gebrachte Vernunft, in so fern sie sich in eingebildeten feineren Urtheilen über allgemeine Begriffe auf eine ungereimte Art verirrt“ und folglich über „allerlei angemaßte überfeine Einsichten: die erfundene Länge des Meeres, die Auslegung von Prophezeiungen“ etc. spekuliert (2:268).²⁷³ Die skizzierten Geisteskrankheiten betreffen das Erkenntnis- und nicht direkt das Handlungsvermögen des Menschen – Kant unterscheidet im Versuch zwischen „Krankheiten des Kopfes und des Herzens“ (2:260), lässt aber letztere außen vor, und behandelt auch in der Anthropologie die Geisteskrankheiten im Buch über das Erkenntnisvermögen. Indem Kant Handlungen von Menschen, deren Erkenntnisvermögen gestört ist, für nicht zurechenbar erklärt, macht er darauf auf In der Anthropologie sieht die Klassifizierung im Detail etwas anders aus (vgl. dazu Rauer 2007, 139). Vgl. für einen schematischen Überblick über die von Kant aufgeführten Krankheiten Rauer (Rauer 2007, 135). Kants Charakterisierungen stimmen laut Rauer erstaunlich gut mit heutigen Klassifizierungen von Geisteskrankheiten überein: Die beiden Hauptgruppen der Gemütsschwächen und -krankheiten entsprechen den neurotischen und psychotischen Störungen, die drei Klassen der Gemütskrankheit bzw. der „Verkehrtheit“ (2:263) im Wesentlichen der Depression und Manie, der Paranoia und der Schizophrenie (vgl. Rauer 2007, 136 f.).
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
merksam, dass für Zurechnung kognitive Fähigkeiten notwendig sind.²⁷⁴ Es stellt sich jedoch sogleich die Frage, ob alle Geisteskranken in Bezug auf alle ihre Handlungen moralisch unzurechnungsfähig sind. Es ist nicht offensichtlich, inwiefern die von Kant genannten Geisteskrankheiten die moralische Autonomie des Menschen beeinträchtigen. So könnte es sein, dass ein Verrückter Eingebildetes für wirklich hält, doch in Bezug auf moralisch relevante Situationen ein ausreichendes Urteilsvermögen besitzt. Kant diskutiert diese Möglichkeit nicht ausdrücklich, gibt aber den Hinweis, dass bei einem Verrückten noch ausgemacht werden muss, „ob und welche Schuld“ (7:214, Anm.) ihm zukommt. Geisteskranke scheinen nicht pauschal von aller moralischen Zurechnung ausgenommen zu sein (obgleich Kant dies nahe legt, wenn er ihnen eine freie Willkür gänzlich abspricht (vgl. 28:255)). Vielmehr muss ein Bezug der Störung auf die moralisch relevanten Eigenschaften der Situation bestehen: Wenn die pflichtwidrige Handlung auf die kognitive Störung zurückgeht, ist sie nicht zurechenbar, beispielsweise wenn sich ein „Wahnsinniger“ durch die falsche Beurteilung der Intentionen anderer „zur Wehr setzt“ und dabei andere schädigt. In diesem kurzen Exkurs zu Kants Behandlung der Geisteskrankheiten möchte ich nur noch zwei Punkte ansprechen: Kants Vermutung bezüglich des Ursprungs dieser Krankheiten und zur Grenzziehung zwischen dem Gesunden und dem Pathologischen. Kant lehnt die Ansicht ausdrücklich ab, der Geisteskranke sei an seiner Krankheit „selbst […] schuld“ (7:217) und bezeichnet die Auffassung, die Geisteskrankheit entspringe einem selbst verschuldeten „Mißbrauch der Seelenkräfte“ als „sehr lieblos“ und „durch einen gemeinen Irrthum veranlasst, nach welchem man Ursache und Wirkung zu verwechseln pflegt“ (2:270). Hinsichtlich der Frage, ob die Geisteskrankheiten körperliche Ursachen haben, ist Kant unentschieden: In der Anthropologie meint Kant, dass Verrücktheit keine „körperliche Krankheit“ sei (7:213) und möchte aus diesem Grund das Urteil über das Vorliegen von Verrücktheit nicht den Medizinern, sondern den Philosophen überlassen, die besser über die Frage entscheiden könnten, „ob der Angeklagte bei seiner That im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurtheilungsvermögens
Auch in der aktuellen Debatte geht man davon aus, dass Zurechnungsfähigkeit sowohl voluntative als auch kognitive Fähigkeiten umfasst. R. Jay Wallace nennt die für Zurechnung notwendige Fähigkeit „the power to grasp and apply moral reasons, and the power to control one’s behavior in light of such reasons“ (Wallace 1994, 7). Kant geht es in seiner Diskussion der Geisteskrankheiten nicht um den Aspekt der Kontrollfähigkeit. Er bezieht die Störung von kognitiven Fähigkeiten zwar nicht direkt auf die Erkenntnis von moralischen Gründen, doch ist offensichtlich, dass die von ihm diskutierten Störungen die Erkenntnis moralischer Gründe beeinträchtigen können.
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen
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gewesen sei“ (7:213 f.). Kant scheint allerdings prinzipiell durchaus körperliche Ursachen für Geisteskrankheit anzunehmen, doch von der Medizin seiner Zeit zu glauben, sie sei „nicht so weit, um das Maschinenwesen im Menschen so tief einzusehen“ (7:214). Im Gegensatz dazu lässt sich Kant im Versuch zu der Spekulation hinreißen, dass die „Wurzel“ der Geisteskrankheiten „eigentlich wohl im Körper liegt und zwar ihren Hauptsitz mehr in den Verdauungstheilen, als im Gehirne haben mag“ (2:270). Trotz einer möglichen körperlichen Ursache betrachtet Kant die Geisteskrankheiten im Versuch als „Zivilisationskrankheiten“ (vgl. auch Rauer 2007, 132). Auch wenn die Krankheiten in ihrer Anlage „von der Natur herrühren[]“ (7:214), finden sich nach Kant in „der bürgerlichen Verfassung […] die Gährungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößern dienen“ (2:269). Diese Beobachtung zeigt Kants Bewusstsein dafür, dass gesellschaftliche Bedingungen Einfluss auf die Verfassung der Subjekte und deren Zurechnungsfähigkeit haben können. Die jeweilige soziale Praxis ist auch gefragt, wenn es um die Grenzziehung zwischen Gesundheit und Pathologie geht. Kant bezeichnet die Freiheit als Eigenschaft des Menschen „im gesunden Zustande“, in dem „er seiner selbst mächtig (bei Sinnen) ist“ (6:384). Im gesunden Zustand ist der Mensch zurechnungsfähig, im kranken nicht. Die entsprechende Grenzziehung thematisiert Kant jedoch nicht explizit. Als das „einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit“ sieht Kant den „Verlust des Gemeinsinns (sensus communis)“, an dessen Stelle der „logische Eigensinn (sensus privatus)“ tritt (7:219). Da Kant kein objektives Kriterium für geistige Gesundheit oder Krankheit sieht, bleibt nur die Orientierung an der Idee, dass andere Personen den eigenen Urteilen (seien sie theoretisch oder praktisch) zustimmen können müssen: [E]s ist ein subjectiv-nothwendiger Probirstein der Richtigkeit unserer Urtheile überhaupt und also auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand Anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam öffentlich urtheilen (7:219).
Die Grenzziehung zwischen dem geistig Gesunden und Kranken ist also schwierig, und noch dazu ist der Übergang graduell. So beschreibt Kant den Phantasten (der unter die Verrückten fällt) als jemanden, der normale Arten der Einbildung nur in stärkerem Maße erlebt, ohne die Täuschung als solche zu entlarven: Wenn wir nach dem Erwachen in einer lässigen und sanften Zerstreuung liegen, so zeichnet unsere Einbildung die unregelmäßigen Figuren etwa der Bettvorhänge, oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten aus mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns
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auf eine nicht unangenehme Art unterhält, wovon wir aber das Blendwerk den Augenblick, wenn wir wollen, zerstreuen. Wir träumen alsdann nur zum Theil und haben die Chimäre in unserer Gewalt. Geschieht etwas dem Ähnliches in einem höheren Grade, ohne daß die Aufmerksamkeit des Wachenden das Blendwerk in der täuschenden Einbildung abzusondern vermag, so lässt diese Verkehrtheit einen Phantasten vermuthen (2:265, H.v.m.).
Die Tatsache, dass es schwerere und auch „mildere Grade“ (2:260) der geistigen Störung gibt, lässt vermuten, dass es auch Grade der Zurechnungsfähigkeit, d. h. auch der Zurechnung einer Handlung zur Tat, geben könnte. Dieser Problematik gilt der 7. Abschnitt dieses Kapitels.
6.3.2 Kindheit als Ausnahmegrund Es ist weithin anerkannt, Kinder zwar als Personen, aber nicht als vollwertige Personen anzusehen. Das äußert sich beispielsweise darin, dass Kinder Rechte haben, aber rechtlich (und meistens auch moralisch) nicht (voll) verantwortlich für ihre Handlungen gemacht werden. Lobt oder tadelt man Kinder für ihre Handlungen, lässt sich dies eher als zukunftsgerichtete, erzieherische Maßnahme, denn als eine rückwärtsgewandte Bewertung ihres Charakters verstehen.²⁷⁵ Auch Kant sieht beide Aspekte des Kindseins – den des Personseins und den des noch nicht voll entwickelten, abhängigen Menschen: Er betont den Status von Kindern „als Personen“ (6:280) in der Rechtslehre, wo er ihnen ein „Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern“ (ebd.) zuspricht. Doch insofern Kindern noch nicht vollwertige Personen sind, ist für Kant eine paternalistische Haltung gerechtfertigt: „Ich kann niemand nach m e i n e n Begriffen von Glückseligkeit wohl tun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen“ (6:454, H.v.m.). Es liegt nahe zu vermuten, dass die Rechtfertigung für diese Haltung auch einen Grund dafür darstellt, dass Kinder (und Geistesgestörte) nicht zurechnungsfähig sind. Im Fall von Kindern bezeichnet Kant die Vernunft nicht als krank, aber ein „an sich gesunder Verstand […] kann doch auch mit Schwächen in Ansehung seiner Ausübung begleitet sein“ (7:208, H.v.m.). Diese „(natürliche oder gesetzliche) Unfähigkeit eines übrigens gesunden Menschen zum eigenen Ge-
Schapiro beschreibt diese Haltung, meiner Ansicht nach sehr treffend, folgendermaßen: „The disciplinary response is […] a way of identifying a person with her action for the purpose of showing her that this is not the person she should become. As such, the disciplinary response is addressed to one who is on the way to being the source of her actions, but who is not there yet“ (Schapiro 2003, 590).
6. Verschiedene Arten von Anfechtungsgründen
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brauch seines Verstandes in bürgerlichen Geschäften heißt Unmündigkeit“, die bei Kindern „in der Unreife des Alters gegründet“ ist (ebd.). Der Mangel an Vernunft bzw. die Schwäche in ihrer Ausübung kann, wie Tamar Schapiro bemerkt hat, auf zwei Weisen verstanden werden: Nach der ersten Interpretation können Kinder keine (moralisch oder in Hinsicht auf die Verwirklichung ihrer eigenen Glückseligkeit) guten, der zweiten Interpretation zufolge keine eigenen Entscheidungen treffen (vgl. Schapiro 2003, 579).²⁷⁶ Versteht man eine eigene Entscheidung zu einer Handlung als eine solche, die die Zurechenbarkeit der Handlung impliziert, sieht man, dass beide Interpretationen bei Kant eng zusammenhängen: Zurechenbarkeit setzt voraus, dass sich der Akteur nach hypothetischen und kategorischen Imperativen richten und insofern auch gute Entscheidungen treffen kann. Kants Beschreibung in der Pädagogik gibt einen Hinweis darauf, inwiefern sich Kinder sowohl von Tieren als auch von vollwertigen, erwachsenen Personen unterscheiden: Ein Thier ist schon alles durch seinen Instinct; eine fremde Vernunft hat bereits Alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinct und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu thun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es Andere für ihn thun (9:441).
Dieser Passage zufolge unterscheiden sich Kinder von Tieren, insofern sie keine Instinkte besitzen, die ihr Verhalten determinieren. Somit versteht Kant Kinder als Wesen, die Vernunft notwendig brauchen, um sich einen „Plan des Verhaltens“ zu machen, der die vernünftige Reflexion über die eigenen sinnlichen Impulse erfordert. Es ist nach Kant offenbar keine Option, ein unreflektiertes Verhältnis zu den eigenen Impulsen beizubehalten und ein „Wanton“ zu bleiben, wie Harry Frankfurt Wesen nennt, die nicht im Lichte anderer Wünsche bzw. Überzeugungen Stellung dazu nehmen können, ob ihre Impulse handlungswirksam werden sollen.²⁷⁷ Diese Aufgabe kann die Vernunft jedoch nicht von Geburt an übernehmen. Die Abhängigkeit des Kindes von Erwachsenen beruht darauf, dass es „nicht sogleich im Stande“ ist, seine eigene Vernunft zu gebrauchen, sondern zunächst seinen sinnlichen Impulsen ausgeliefert ist. Kinder können als Wesen aufgefasst werden, deren Verhalten noch nach Naturgesetzen abläuft, nicht jedoch nach
Schapiro argumentiert dafür, dass die zweite These – dass Kinder keine eigenen Entscheidungen treffen können – vorausgesetzt werden muss, um paternalistische Haltungen zu rechtfertigen. Ich stimme ihr zu, glaube aber, dass die beiden Thesen untrennbar miteinander verknüpft sind. Vgl. Frankfurt 1971.
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vernünftigen Prinzipien. Ein Kind kann keine eigene Entscheidung treffen und keine eigene Handlung ausführen, weil es seine Vernunft noch nicht dazu gebrauchen kann, nach seinen eigenen Prinzipien – Maximen und Imperativen – zu handeln. Dass der Mensch als Kind sich noch keinen Plan seines Verhaltens machen kann, sondern „es Andere für ihn thun“ müssen, bedeutet, dass er zunächst von anderen abhängig und auf Hilfe angewiesen ist. Doch dies darf kein dauerhafter Zustand sein, vielmehr sollen Kinder zu freien, vernünftigen, zurechnungsfähigen Wesen erzogen werden. Nach Kant ist der Mensch „das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß“ (9:441), denn dafür müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Einerseits muss es sich um ein Wesen handeln, dass erzogen werden kann, und das ist beim Menschen der Fall, weil er die entsprechenden „Naturanlagen“ (9:445) bzw. „Anlagen zum Guten“ (9:446) besitzt. Andererseits muss gelten, dass sich die Anlagen nicht von alleine entwickeln, sondern dass es dazu der Erziehung bedarf. In der Tat vertritt Kant diese These in der Pädagogik: ²⁷⁸ „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (9:443). Erziehung ist laut Kant zum einen „physisch“ und zum anderen „praktisch“: Während erstere die Erziehung ist, „die der Mensch mit den Thieren gemein hat“ ist letztere die „moralische“, „durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein freihandelndes Wesen leben könne“ (9:455). Die praktische bzw. moralische Erziehung ist es demnach, die aus dem Menschen ein zurechnungsfähiges Wesen macht. Ein Mittel der Erziehung ist die Strafe. Die Strafe ist insbesondere deshalb interessant, weil sie in rechtlichen Kontexten eine Folge der Zurechnung zur Schuld ist, mithin Verantwortlichkeit voraussetzt (vgl. 6:227). Ist Kants Äußerung, dass „[a]lle Übertretung eines Gebotes bei einem Kinde […] eine Ermangelung des Gehorsams [ist], und diese […] Strafe nach sich [zieht]“ (9:482), ein Zeichen dafür,
Der Ursprung der Schrift Über Pädagogik ist problematisch, denn es ist kein von Kant als Buch konzipiertes Werk. Es handelt sich um eine Schrift, die vom Kant-Schüler Friedrich Theodor Rink herausgegeben wurde, der Notizen von Kant zusammengestellt und ein Jahr vor Kants Tod (ohne dass Kant es autorisiert hätte) veröffentlicht hat. Weisskopf (1970, 349) plädiert dafür, die Schrift aus der Akademie-Ausgabe zu entfernen. Anders bewertet Stark die Schrift, obgleich auch er meint, dass „die von Rink herausgegebene Pädagogik nicht im vollen Wortsinn als Werk des Königsberger Philosophen angesehen und benutzt werden darf“ (Stark 2000, 101). Allerdings sind die in der Pädagogik entwickelten Grundideen auch in veröffentlichten Werken Kants zu finden, wie die Erziehung als Verwirklichung von Naturanlagen und die Bildung des Charakters. Diese Themen werden in den Methodenlehren der Kritik der praktischen Vernunft und der Tugendlehre aufgegriffen. Deshalb lässt sich die Konzeption der Erziehung als Erziehung zur Moralität ohne Weiteres in die Kantische Philosophie einordnen (Dos Santos 2007, 18).
7. Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept
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dass er eine Übertretung eines Gebots durch ein Kind doch für zurechenbar hält? Dass dies nicht der Fall ist, erkennt man daran, dass Kant in Bezug auf Kinder die Funktion der Strafe bzw. deren „Endzweck“ als „Besserung“ beschreibt (9:483). Strafe ist also nicht immer eine Folge der Zurechnung zur Schuld, sondern kann auch andere Funktionen erfüllen, beispielsweise dem Kind deutlich zu machen, dass es ein solches Verhalten in Zukunft unterlassen soll. Allerdings warnt Kant davor, Strafen (oder Belohnungen) einzusetzen, wenn es um die Erziehung zu Moralität geht, da das Kind sonst dazu verleitet wird, sein Verhalten nach den erwartbaren Strafen und Belohnungen, statt nach der moralischen Einsicht, auszurichten (vgl. 9:480).
7. Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept Fassen wir zunächst zusammen, inwiefern sich die beiden Klassen von Anfechtungsgründen, also Entschuldigungen bzw. Schuldminderungsgründe und Ausnahmen, in Bezug auf die Anfechtung der Zurechnung unterscheiden (Rechtfertigungen werden im Folgenden ausgeklammert, weil sie auf der Ebene der Gesetze wirksam sind). Während Entschuldigungen und Schuldminderungsgründe Tadel vermindern, weisen Ausnahmegründe darauf hin, dass eine Person nicht oder nur vermindert zurechnungsfähig ist. Die beiden Arten von Anfechtungsgründen sind auf jeweils einer der Zurechnungsstufen wirksam: Nur einer Person, die zurechnungsfähig ist, kann man eine Handlung als ihre eigene zur Tat zurechnen. Notwendige Bedingung für die Zurechnung zur Tat ist eine transzendental freie Willkür. Ausnahmegründe, wie Kindheit oder Geisteskrankheit, verweisen auf das Fehlen einer freien Willkür und damit auf mangelnde Zurechnungsfähigkeit. Zurechnungsfähigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Lob und Tadel: Selbst wenn die Person zurechnungsfähig ist, können es Umstände der speziellen Handlungen rechtfertigen, Lob oder Tadel zu vermindern oder zu vergrößern. Bislang ist die Frage offen geblieben, ob es auch auf der ersten Stufe der Zurechnung Grade geben kann. Dies würde sich darin zeigen, dass die Ausnahmegründe, die die Zurechnung zur Tat anfechten, dies zu verschiedenen Graden tun können. Grade der Zurechnung zur Tat bzw. Zurechnungsfähigkeit sind schwieriger in Kants Theorie zu integrieren als Grade der Zurechnung zu Schuld und Verdienst, da Zurechnungsfähigkeit in transzendentaler Freiheit gründet, die anscheinend keine Grade zulässt. Zunächst einmal lässt sich Kants „Kompromisslosigkeit“ in dieser Hinsicht ein Stück weit verteidigen: Zurechnungsfähigkeit ist das zentrale Merkmal von Personen. Kant definiert die Person als „dasjenige Subject, dessen Handlungen einer
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
Zurechnung fähig sind“ (6:223), sodass der Verlust der Zurechnungsfähigkeit auch den Verlust des Personenstatus mit sich führt. Dieser Status ist jedoch so zentral für unser Selbstverständnis als handelnde Subjekte in einer Gemeinschaft von anderen Subjekten, dass wir ihn nicht leichtfertig aufgeben können und wollen. Kants Kompromisslosigkeit in Bezug auf Zurechnungsfähigkeit wäre also nicht unplausibel: Sie drückt die Überzeugung aus, dass der Status als vollwertiges Mitglied der moralischen Gemeinschaft nicht angesichts kontingenter empirischer Umstände zu verlieren ist. Was Kritiker wie Korsgaard zu Recht verlangen, ist die Berücksichtigung der Tatsache, dass Personen moralisch unvollkommen sind und Schwächen haben. Ihre Fehlbarkeit soll in der Anerkennung von Entschuldigungsgründen einen Niederschlag finden. Wie wir gesehen haben, kann dies jedoch geschehen, ohne die Zurechnungsfähigkeit der Person in Frage zu stellen. So wäre es durchaus möglich, die gewünschten Grade von Schuld und Verdienst zu gewährleisten, ohne Grade der Zurechnungsfähigkeit zuzulassen. Gegen Kants Kompromisslosigkeit spricht allerdings die unbestreitbare Tatsache, die Kant in der Pädagogik auch anerkennt, dass sich die für Zurechnung relevanten Fähigkeiten bei Kindern nach und nach entwickeln. Auch in Bezug auf Geisteskrankheiten vertritt Kant die oben erläuterte Auffassung, dass es verschiedene „Grade“ der Einschränkung gibt (vgl. 2:260, 265) und er gesteht die Möglichkeit zu, dass man Geisteskranke „curiren“ kann, was ein gradueller Prozess ist (7:214, Anm.). In diesen Fällen wird Freiheit als die Fähigkeit verstanden, nach vernünftigen Prinzipien auch angesichts von (Natur‐)Hindernissen zu handeln. Es ist jedoch fraglich, ob Kant diese graduell zu erwerbenden oder eingeschränkten Fähigkeiten als „transzendentale Freiheit“ bezeichnen würde. Im zweiten Kapitel wurde die Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, als „praktische Freiheit“ bezeichnet. Dort wurde dafür argumentiert, einen empirischen und einen transzendentalen Aspekt praktischer Freiheit zu unterscheiden. Der empirische Aspekt praktischer Freiheit ist gerade die Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, so wie sie sich in der Erfahrung zeigt. Es ist vorstellbar, dass (manche) Kinder und Geisteskranke durch Erfahrung feststellen können, dass sie auf bessere oder schlechtere Weise vernünftige Überlegungen anstellen und nach ihnen handeln können. Doch der transzendentale Aspekt praktischer Freiheit ist davon unberührt. Ob die vernünftigen Überlegungen selbst durch natürliche Ursachen bedingt sind (das wäre kein Fall transzendentaler Freiheit), oder ob sie wirklich der letzte Grund des Handelns sind, ist in der Erfahrung nicht festzustellen. Welche der beiden Möglichkeiten zutrifft, ist offenbar auch keine Sache des Grades: Entweder, eine vernünftige Überlegung ist letzter Grund bzw. erste Ursache des Handelns – oder nicht.
7. Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept
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Es ist mithin der Begriff der Erstursächlichkeit (bzw. des letzten Grundes), der keine Grade zulässt: Wenn die vernünftige Überlegung durch natürliche Ursachen bedingt ist, ist sie eben nicht zu einem „geringeren Grade“, sondern gar nicht erste Ursache des Handelns. Diese Überlegung kann nun zu der Idee der beiden Perspektiven auf Handlungen, der empirischen und der praktischen, in Beziehung gesetzt werden. Erstursächlichkeit ist aus einer empirischen Perspektive nicht zugänglich, da immer nach der Ursache der Ursache geforscht werden kann. Entsprechend kann auch nicht sinnvoll nach der ersten Ursache einer Handlung gefragt werden,wenn man nur die naturkausalen Zusammenhänge betrachtet. Die praktische Perspektive geht damit einher, die „transzendentale Idee“ der Freiheit als Erstursächlichkeit als denkbar anzunehmen. Entsprechend lassen sich Handlungen aus der praktischen Perspektive als solche betrachten, die in letzter Instanz durch vernünftige Prinzipien begründet sind. (Dies entspricht der ersten, weiteren Konzeption transzendentaler Freiheit.) Deshalb ist es nicht plausibel, von Graden der transzendentalen Freiheit zu sprechen, und es ist auch nicht notwendig, um das graduelle Erlernen oder Verlieren der Freiheit von Kindern und Geisteskranken zu beschreiben. Der transzendentale Aspekt der Freiheit ist gerade derjenige, der sich nicht in der Erfahrung zeigt, nämlich der der Erstursächlichkeit, die man entweder so verstehen kann, dass die im weiteren Sinn vernünftige Überlegung in letzter Instanz das Handeln bestimmt, oder so, dass die Handlung aus Pflicht geschieht. Doch wie hängen der empirische und der transzendentale Aspekt praktischer Freiheit zusammen? Wie kann die Zunahme der empirischen Freiheit bei Kindern dazu führen, sie als transzendental freie Wesen zu betrachten? Nach Kant ist diese Frage falsch gestellt bzw. kann prinzipiell nicht beantwortet werden: Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch nothwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit lastet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem Zustande zufrieden zu machen. – Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigenthum zerstören […] (6:280 f.).
Die Erschaffung einer freien Person „durch eine physische Operation“ ist nach Kants Auffassung „unmöglich“ vorstellbar. In der entsprechenden Anmerkung verneint Kant auch die These, dass das freie Wesen als von Gott erschaffen vorgestellt werden könnte (6:280, Anm.). Der Übergang vom Kind zur vollwertigen Person entzieht sich also einer vollständig empirischen Beschreibung. Eine Al-
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9. Kapitel: Grade der Zurechnung
ternative ist, die Unterscheidung zwischen Kind und erwachsener Person als normative Unterscheidung zu sehen.²⁷⁹ Dennoch scheint es eine empirische Basis für die Zuschreibung eines normativen Status zu geben – wie Kant in der ersten Kritik sagt, müssen wir einen „Grund“ finden, um „irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken“ (A546/B575). In der neueren Debatte um Verantwortung ist vorgeschlagen worden, Zurechnungsfähigkeit bzw. (entsprechend) Personalität als Schwellenwertkonzept aufzufassen.²⁸⁰ Dieser Ansatz lässt sich auf seine Tragfähigkeit zum Verständnis von Zurechnungsfähigkeit im Kantischen System erproben. Es ist plausibel, ein Subjekt dann als transzendental frei zu betrachten, wenn ein ausreichendes Maß (Schwellenwert) der empirischen Fähigkeit, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, erreicht ist. Wenn die obige Analyse zutrifft, dass der transzendentale Aspekt dieser Fähigkeit ganz oder gar nicht vorliegt, darf man sich den Schwellenwert nicht so vorstellen, dass die Vernunft bei jeder einzelnen Handlung mehr oder weniger letzte Ursache ist.Vielmehr ist es vorstellbar, dass Kinder immer öfter in der Lage sind, ihre Handlungen so durch Vernunft zu bestimmen, dass die vernünftige Überlegung in letzter Instanz Ursache der Handlung ist. Ein Kind verhält sich in seinen ersten Lebensjahren so, dass kein Grund besteht, ihm ein intelligibles Vermögen zuzusprechen. Je mehr sein Verhalten dazu Anlass gibt, es als geleitet durch vernünftige Überlegung zu verstehen, desto eher sind andere Personen bereit, ihm transzendentale Freiheit zuzuschreiben. Ab einem – philosophisch kaum zu bestimmenden – Schwellenwert des empirisch erkennbaren Vermögens, nach Imperativen zu handeln, wird das Subjekt nicht mehr als Kind, sondern als transzendental freie Person aufgefasst. Dieser Vorschlag ist in Einklang mit Kants Bemerkungen zu „Revolution“ und „Reform“ des Charakters. Auch die Wahl des eigenen intelligiblen Charakters ist ein Prozess, der nicht empirisch beschrieben werden kann. Kant sieht die Wahl der Gesinnung, der obersten Maxime, als „intelligibele That, bloß durch die Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (6:31). Die Wahl des intelligiblen Charakters Dafür argumentiert Schapiro (1999, 731). Beispiele für solche Ansätze finden sich bei R. J. Wallace und M. Quante. Wallace sagt in Bezug auf die „powers of reflective self control“, die Bedingung für Zurechnungsfähigkeit sind: „Whether a given person has the powers of reflective self-control will therefore not be an all-ornothing affair. Nevertheless it seems clear that a certain level of development of these powers (no doubt hard to specify exactly) is a[] […]condition of responsibility“ (Wallace 1994, 160, H.v.m.). Quante sieht Personalität als Schwellenwertkonzept und wendet sich damit auch gegen die Ansicht, man könne von einem „Mehr“ an Personalität oberhalb des Schwellenwerts sprechen: „Auch ist Personalität ein so genanntes ‚Schwellenwert-Konzept‘, d. h. dass alle Individuen, welche die geforderten Eigenschaften und Fähigkeiten in hinreichendem Maße aufweisen, im gleichen Sinne Personen sind“ (Quante 2002, 20).
7. Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept
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hat nach Kant zwei Aspekte: Was eine „Revolution für die Denkungsart“ ist, ist eine „allmählige Reform aber für die Sinnesart“ (6:47). Diese Aussage lässt sich so verstehen, dass das,was aus der intelligiblen Perspektive als eine „Entschließung“ (6:48) verstanden werden kann, in der empirischen Perspektive als „continuirliche[s] Wirken und Werden“ (ebd.) erscheint. Kant verwendet hier die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung im Empirischen, die einer Statusänderung – von böse zu gut – in intelligibler bzw. normativer Hinsicht entspricht. In Anlehnung an diese – leider von Kant nicht genauer ausgearbeitete – Idee ließe sich auch der Übergang vom Kind zur Person als normativ diskret, aber empirisch graduell auffassen. Analog ließe sich auch Zurechnungsfähigkeit als Schwellenwertkonzept verstehen. Ab einem Schwellenwert der Fähigkeit, das Vernünftige auch angesichts sinnlicher, mit der Vernunft konkurrierender Motive zu tun, gilt eine Person als transzendental frei und zurechnungsfähig. Sowohl ober- als auch unterhalb dieses Schwellenwertes ist empirische Freiheit graduierbar. Dass wir uns als zurechenbare Wesen verstehen können, heißt, dass wir in ausreichendem Maße in der Lage sind, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln. Diese Lösung trägt der Intuition Rechnung, dass die für Zurechnung notwendigen Fähigkeiten graduell vorliegen können. Gleichzeitig bewahrt sie Kants „Kompromisslosigkeit“ hinsichtlich der Frage, ob ein Subjekt eine zurechnungsfähige Person ist oder nicht. Wenn diese Überlegungen einleuchten, hat die Frage, ab welchem Schwellenwert empirischer Freiheit transzendentale Freiheit zugeschrieben werden kann, keine metaphysisch eindeutige Antwort. Empirische Kriterien sind weder hinreichend noch notwendig für Zurechnungsfähigkeit:²⁸¹ Sie sind nicht hinreichend, da transzendentale Freiheit der „eigentliche Grund“ (A448/B476), d. h. die zentrale notwendige Bedingung, für Zurechnung ist (vgl. Kapitel 2). Notwendig sind sie auch nicht, da die empirische Welt unterbestimmt ist hinsichtlich der Frage, wem transzendentale Freiheit zugeschrieben werden kann: Es steht prinzipiell die Möglichkeit offen, auch anderen Wesen transzendentale Freiheit zuzusprechen oder die Grenze zwischen zurechnungsfähigen und nicht zurechnungsfähigen Menschen zu verschieben. Kants Theorie lässt Raum dafür, dass die empirischen Kriterien letztlich in der jeweiligen moralischen Praxis ausgehandelt und festgelegt werden.²⁸²
So auch Frierson (2008). In diesem Punkt stimme ich mit Korsgaard überein, die die Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem und die zwischen geistig Gesunden und Kranken als „pragmatische“, nicht aber als metaphysische Unterscheidungen ansieht (vgl. Korsgaard 1996c, 341).
10. Schluss Ich bin von der Beobachtung ausgegangen, dass die Zurechnung von Handlungen einerseits ein fundamentales Phänomen unserer Rechts- und Alltagspraxis ist, dass sich Kant aber andererseits nur in wenigen Passagen seines Werks explizit zum Begriff der Zurechnung äußert, obwohl er Zurechnung als einen Grundbegriff seiner Metaphysik der Sitten benennt. Das Hauptziel dieser Untersuchung war daher, die Relevanz des Zurechnungsbegriffs für Kants praktische Philosophie herauszuarbeiten und die Umrisse einer Kantischen Theorie der Zurechnung sichtbar werden zu lassen. Die Zusammenfassung einiger zentraler Ergebnisse möchte ich – auch im Hinblick auf den systematischen Ertrag dieser primär exegetischen Untersuchung – anhand zweier Fragestellungen vornehmen. Erstens, was sind nach Kant die metaphysischen Voraussetzungen dafür, dass wir uns Handlungen zurechnen können? Zweitens, inwieweit gibt Kants praktische Philosophie Aufschluss darüber, wie die Praxis der Zurechnung zu gestalten ist? Genauer: In welchen Kontexten, nach welchen normativen Regeln und mit welchen Konsequenzen findet Zurechnung statt?
1. Die Zweistufigkeit der Zurechnung Um die Voraussetzungen und die Praxis der Zurechnung zusammenfassend darzustellen, sei zunächst an das zweistufige Modell der Zurechnung erinnert, das Kant von den Naturrechtslehrern des 18. Jahrhunderts übernimmt und in seine eigene Philosophie, insbesondere seine Freiheitstheorie, einbettet. Auf der ersten Stufe der „Zurechnung in moralischer Bedeutung“ (6:227), der Zurechnung zur Tat, wird eine Person als Urheber einer Handlung identifiziert und ihr die Handlung als eigene, freie Handlung zugerechnet. Diese Zurechnung geht bereits über die Beschreibung eines naturkausalen Zusammenhangs von Person und Handlung hinaus, denn für Kant ist der Begriff der Urheberschaft an den der freien Ursächlichkeit geknüpft: Urheber einer Handlung zu sein heißt, „causa libera“ der Handlung zu sein. Einer freien Person als Urheber der Handlung lässt sich ihre Handlung auf zweiter Stufe zu Schuld oder Verdienst zurechnen. Dazu muss vorausgesetzt werden, dass die Handlung nach Gesetzen bewertet wird. Die Bewertung durch Gesetze kann zu negativen und positiven (aber auch neutralen) Ergebnissen führen, auch wenn vor allem im rechtlichen Kontext die Frage der negativen Schuldzuschreibung meist im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei ist hervorzuheben, dass die Anwendung von Gesetzen nicht bloß eine Bewertung der
1. Die Zweistufigkeit der Zurechnung
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Handlung ergibt, sondern die Person selbst als Gegenstand der Bewertung in den Blick rückt, was gerade darauf zurückzuführen ist, dass sie auf der ersten Stufe der Zurechnung als freie Ursache der Handlung charakterisiert wurde. Diese zweistufige Struktur der Zurechnung bei Kant ist nicht nur von historischem Interesse, vielmehr wird damit ein Verständnis von Zurechnung und (retrospektiver) Verantwortung formuliert, das bis heute vorherrscht. Die Zweistufigkeit der Zurechnung wird in der aktuellen Verantwortungsdebatte durch die Unterscheidung zwischen Zurechnungsfähigkeit („accountability“) und dem Verdienst von Lob und Tadel („praise- or blameworthiness“) abgebildet (vgl. Wallace 1994). Auch wenn die Bedingungen für Zurechnungsfähigkeit in unterschiedlichen Theorien verschieden dargestellt werden, ist die grundlegende Gemeinsamkeit, dass auf der ersten Stufe Eigenschaften bzw. Fähigkeiten des handelnden Wesens identifiziert werden, die es prinzipiell als eine Person qualifizieren, der ihre Handlungen zugerechnet werden können. Die Erfüllung der auf der ersten Stufe formulierten Bedingungen ist notwendig dafür, auch Lob oder Tadel für eine bestimmte Handlung verdienen zu können. Dass sich deshalb Lob oder Tadel als Zurechnung zu Verdienst oder Schuld auf die Person – und nicht bloß auf die Handlung – richtet, findet sich wie schon bei Kant auch in neueren Theorien, beispielsweise bei Nagel: „[W]enn wir jemanden wegen seiner Handlungen tadeln, sagen wir nicht nur, daß es schlecht ist, daß sie sich ereignet haben […]: Wir urteilen über ihn und sagen, daß er schlecht ist (und das ist etwas anderes, als zu sagen, daß er ein schlechtes Ding ist)“ (Nagel 1984, 39).²⁸³
Nach Maria-Sibylla Lotter macht diese Auffassung von schuldhafter Verantwortung eine spezifisch moderne Sichtweise von (retrospektiver) Verantwortung aus: Einer Person wird Schuld für ihre Handlung zugeschrieben, da die Handlung auf den freien Willen der Person zurückgeführt wird. Ein solches Verständnis von Schuld und Verantwortung führt Lotter auf Theorien des freien Willens bei Augustinus und Kant zurück und grenzt es unter anderem von praxisbezogenen Konzeptionen der Verantwortung (ihrer Meinung nach z. B. die aristotelische Position) ab, die Verantwortung (bzw. Zurechnung) nicht an Letzturheberschaft knüpfen, sondern differenzierte, kontextabhängige Zuschreibungsregeln – womöglich ohne einheitlichen Begriff der Freiwilligkeit – zugrunde legen (vgl. Lotter 2012, v. a. 156 – 169). Lotters Studie ist unter anderem deshalb hier interessant, weil sie das „moderne“ Verständnis retrospektiver Verantwortung und Schuld als ein kantisch inspiriertes sieht und von anderen Verständnissen (z. B. auch in anderen Kulturen wie der buddhistischen) abgrenzt. Die in dieser Arbeit angedeutete Idee, die Kantische Theorie als an moderne Theorien der Verantwortung anschlussfähig zu erweisen, läge nach Lotter also ohnehin auf der Hand, da die „moderne“ Auffassung von Verantwortung letztlich eben eine kantianische ist.
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10. Schluss
2. Transzendentale Freiheit als Voraussetzung der Zurechnung Kant bezeichnet die Person, insofern sie Urheber ihrer Handlungen ist, als „causa libera“, und verweist damit auf Freiheit als Voraussetzung der Zurechnung. Im Rahmen von Kants Transzendentalphilosophie ist es transzendentale Freiheit, die der „eigentliche Grund“ (A448/B476) der Zurechnung ist (vgl. Kapitel 2). Das wesentliche Merkmal transzendentaler Freiheit ist in negativer Hinsicht die Unabhängigkeit von natürlichen Ursachen, in positiver Hinsicht „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (A533/B561). Die transzendentale Idee der Freiheit wird für das praktische Problem der Zurechnung nutzbar gemacht, indem sie als Eigenschaft des menschlichen Willens interpretiert wird: Dieser ist transzendental frei und die Person mit einem solchen Willen zurechnungsfähig, wenn der Wille durch vernünftiges „Sollen“, durch Imperative, bestimmt werden kann bzw. die Person nach Maximen handeln kann, die sie gemäß der Imperative gewählt hat. Willensfreiheit ist also, trotz Unabhängigkeit von empirischen Ursachen, nicht die Fähigkeit, vollkommen unbestimmt und damit zufällig zu entscheiden, sondern Handlungen nach Maßgabe der Vernunft zu wählen. Entsprechend der Kantischen Unterscheidung zwischen Imperativen der Zweckrationalität und der Moralität habe ich zwei Arten von Zurechnung unterschieden: Einerseits prudentielle Zurechnung nach Regeln der Klugheit bzw. hypothetischen Imperativen, und andererseits moralische Zurechnung nach dem Sittengesetz bzw. dem kategorischen Imperativ. Als allgemeiner Zusammenhang zwischen Gesetz und Zurechnung bzw. Freiheit wurde herausgearbeitet: Eine Person muss die Art von Freiheit besitzen, die notwendig ist, damit sie das Gesetz befolgen kann – nur dann kann der Person eine Handlung zugerechnet werden. Sowohl im Handeln nach kategorischen Imperativen als auch nach Klugheitsregeln kann sich die Person von (entweder einzelnen oder allen) empirischen Motiven distanzieren und entscheidet sich selbst aufgrund vernünftiger Überlegung für eine Handlung. Darin besteht die transzendentale Freiheit sowohl moralischer als auch zweckrationaler Handlungen. Bestätigend für die systematische Tragfähigkeit der Kantischen Position hinsichtlich dieser Voraussetzung für Zurechnung ist, dass viele moderne Ansätze die Kantische Grundidee in leichter Variation aufnehmen: Freiheit als Voraussetzung für Zurechnung bzw.Verantwortung wird als Bestimmung durch Vernunft (z. B. Wolf 1990), die Fähigkeit zur Distanzierung von unmittelbaren Neigungen und Entscheidung auf der Grundlage normativer Maßstäbe (Watson 1975) oder Fähigkeit zur reflexiven Selbstkontrolle im Lichte moralischer Prinzipien (Wallace 1994) verstanden. In Frage stellen lässt sich allerdings, ob eine Fähigkeit dieser Art als transzendentale und somit nicht-empirische Eigenschaft des Willens gesehen werden muss.
2. Transzendentale Freiheit als Voraussetzung der Zurechnung
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Kants Konzeption transzendentaler Freiheit erlaubt es, bestimmten Anforderungen gerecht zu werden, die nach wie vor als Bedingungen zurechenbarer Handlungen aufgefasst werden: Erstens muss im Fall einer unvernünftigen Handlung für deren Zurechenbarkeit gelten, dass sie hätte unterlassen werden können. Zweitens soll mit der Konzeption der „intelligiblen Tat“ die freie Wahl des eigenen intelligiblen Charakters, die kein empirischer Vorgang ist, erläutert werden. Beide Punkte, so habe ich in den Kapiteln 2 und 3 dargestellt, lassen sich als Antwort auf verantwortungsskeptische Argumente verstehen, die in der neueren Debatte um Willensfreiheit und Verantwortung vorgebracht werden: Peter van Inwagens Konsequenzargument soll zeigen, dass wir nie hätten anders handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben, wenn unsere Handlungen ausschließlich durch Naturgesetze bestimmt sind (vgl. van Inwagen 1983). Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen, für die Naturgesetze gelten, und Dingen an sich, die diesen nicht unterstehen, macht die prinzipielle Vereinbarkeit von Naturgesetzlichkeit und Freiheit denkbar – eine Unterscheidung, die im dritten Kapitel im Rahmen einer Zwei-Aspekte-Lesart interpretiert wurde. Die Bedingung des Andershandelnkönnens, so wurde im zweiten Kapitel gezeigt, ist jedoch nach Kant nicht per se eine Bedingung für Zurechnung, sondern nur für die Zurechenbarkeit der unvernünftigen Handlung.²⁸⁴ Bezüglich des zweiten Punktes soll Galen Strawsons „Basic Argument“ zeigen, dass „wahre“ Verantwortung für Handlungen unmöglich ist, da die notwendige Bedingung nicht erfüllbar ist, für seinen eigenen Charakter, aus dem die Handlungen resultieren, verantwortlich zu sein. Nach Galen Strawson kann niemand seinen Charakter selbst erschaffen, da es für jede eigene Wahl eine Entscheidungsbasis geben muss, die relativ zu der neuen Entscheidung etwas Gegebenes ist. Kant behauptet mit der Konzeption einer „intelligiblen Tat“ den metaphysisch anspruchsvollsten Sinn einer Verantwortung für den eigenen Charakter. Die Gegenüberstellung des Konsequenzarguments und des Basic Arguments mit Kants Position zeigt beispielhaft, dass Kant im Vergleich mit heutigen Autoren angesichts derselben argumentativen Ausgangslage den stärksten Sinn
Eine ähnliche These der Asymmetrie in Bezug auf das Andershandelnkönnen vertritt heute Susan Wolf: Eine Person, die das Richtige aus den richtigen Gründen tut, muss nicht die Möglichkeit gehabt haben, anders handeln zu können, sehr wohl aber eine Person, die das Falsche tut (vgl. Wolf 1990, 79 ff.). Das folgt aus ihrer Position, dass Bedingung für Verantwortung die Fähigkeit der Person ist, sich aus den richtigen Gründen (dem „Wahren“ und „Guten“) entscheiden und danach handeln zu können (vgl. Wolf 1990, 79). Wie Kant definiert sie Freiheit über die Möglichkeit der guten Handlung, sodass bei Realisierung der guten Handlung die Möglichkeit des Anderskönnens keine Freiheit bedeutet.
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10. Schluss
von Verantwortung bzw. Zurechnung nicht für unmöglich erklärt, sondern Lösungsvorschläge anbietet, die heute noch diskutabel sind.
3. Die Praxis der Zurechnung Nach Kant ist die zentrale Eigenschaft, die uns zu zurechnungsfähigen Personen macht, nicht empirischer Natur. Doch obgleich transzendentale Freiheit die metaphysische Bedingung der Zurechnung ist, lassen sich in Kants Theorie auch Hinweise auf konkrete Zurechnungspraktiken finden. In den Kapiteln 4, 5 und 6 habe ich drei Kontexte der Zurechnung untersucht: die individuelle Selbstzurechnung von Handlungen vor dem eigenen Gewissen; die intersubjektive, ethische Zurechnung zum Verdienst, die sich in Dankbarkeit ausdrückt; und die intersubjektive, rechtliche Zurechnung zur Schuld, die Strafe zur Folge hat. Dabei nimmt die Analyse des Gewissens eine Zwischenstellung zwischen den Überlegungen zu den Voraussetzungen und den Vollzugsformen der Zurechnung ein. Einerseits gehört das Gewissen zu den Voraussetzungen der Zurechnung, insofern nur Wesen mit Gewissen zurechnungsfähig sind. Dem Gewissen kommt nach Kant die Aufgabe zu, moralische Prinzipien nicht auf irgendwelche, sondern auf die eigenen Handlungen zu beziehen und sich die eigenen Handlungen zuzurechnen. Das Gewissen ist also neben einer Voraussetzung für Zurechnung auch eine Weise, wie Zurechnung praktiziert wird. Folgen einer Selbstzurechnung zur Schuld sind emotionale Reaktionen wie Gewissensbisse. Auch Dankbarkeit lässt sich als emotionale Ausdruckform der Zurechnung verstehen, was Kants Theorie in unvermutete Nähe zu Peter Strawsons Ansatz in „Freedom and Resentment“ (1963) rückt. Das Gewissen wird von Kant nach dem Modell eines Gerichtshofes konzipiert, woran die Bedeutung des rechtlichen Kontexts für Zurechnung deutlich wird. Rechtliche Zurechnung habe ich vor allem unter dem Gesichtspunkt der Strafe als Folge einer solchen Zurechnung betrachtet. In Anlehnung an Byrd und Hruschka (2010) konnten generalpräventive und vergeltungstheoretische Elemente von Kants Straftheorie herausgearbeitet werden. Aus der Vergeltungstheorie folgt, dass Zurechnung zur Schuld notwendig für Strafe ist, d. h. dass nur die Handlungssubjekte bestraft werden dürfen, denen die Straftat zur Schuld zuzurechnen ist. Auch die Art und Höhe der Strafe wird vergeltungstheoretisch begründet. Abschreckungstheoretische Überlegungen zeigen, dass Zurechnung zur Schuld auch hinreichend für die Verhängung von Strafe ist: Da die Strafandrohung, um glaubhaft zu sein, im Fall des Rechtsbruchs tatsächlich durchgesetzt werden muss, sind alle Straftäter (ohne Ansehen der Person) zu bestrafen. Die Kapitel zu Gewissen, Dankbarkeit und Strafe zeigen, dass Kant neben der transzendentalen Begründung der Zurechnung deren Praxis nicht vernachlässigt
3. Die Praxis der Zurechnung
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hat. Die Kapitel 7, 8 und 9 betreffen im weiteren Sinn die Frage, wie die Konzeption von Zurechnung, die auf einer transzendentalen Bedingung beruht, in der empirischen Praxis anwendbar ist. Sie untersuchen das Problem der Zurechenbarkeit unbeabsichtigter Handlungsfolgen, die Konzeption der Person als Zurechnungssubjekt und schließlich das Problem der empirischen Entschuldigungsgründe.
3.1 Die Zurechenbarkeit unbeabsichtigter Handlungsfolgen und moralischer Zufall Die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen, zumal wenn diese unbeabsichtigt waren, wirft für Kants Theorie Schwierigkeiten auf: Wenn moralische Zurechenbarkeit nach Kant transzendentale Freiheit notwendig voraussetzt, nicht-intendierte Handlungsfolgen jedoch per definitionem nicht von der Person gewollt sind, sollten sie deshalb konsequenterweise nicht moralisch zurechenbar sein. Kant formuliert indes sehr wohl Zurechnungsregeln für nicht-intendierte Folgen. Solche Folgen können auch als zufällige Folgen charakterisiert werden, insofern sie nicht von der handelnden Person beabsichtigt sind, sodass sich Kants Position auf die moderne Debatte um „moral luck“ (moralischen Zufall) beziehen lässt. Obgleich Kant in dieser Debatte als der paradigmatische Vertreter einer Philosophie gilt, die moralische Bewertungen ganz unabhängig von Zufall (z. B. Zufall der Handlungsumstände und des Charakters) machen möchte, wird an seinen Regeln zur Folgenzurechnung deutlich, dass er eine Art von Zufall als moralisch relevant anerkennt, die Thomas Nagel „consequential luck“, d. h. Zufall in Bezug auf die Wirkungen von Handlungen, nennt (vgl. Nagel 1984, 42 f.). Hier liegt eine Spannung innerhalb der Kantischen Position: Einerseits setzen Schuld und Verdienst transzendentale Freiheit voraus, die mit Blick auf unbeabsichtigte Folgen nicht gegeben ist, andererseits sollen alle Folgen moralisch bewerteter Handlungen zu Schuld und Verdienst zurechenbar sein. Diese Spannung habe ich, unter Rückgriff auf den Ansatz von Bernhard Williams, abzumildern versucht: Es ist eine Art der Zurechnung zur Schuld denkbar, die im Vergleich mit der Schuld für absichtliche Handlungen schwächer ist, die sich in der Selbstzurechnung emotional als „Täterbedauern“ ausdrückt und sich intersubjektiv als „moralische Haftbarkeit“ im Sinne eines Versuchs der Wiedergutmachung verstehen ließe. Die beschriebene Spannung ist ein Ausdruck der Schwierigkeit, eine metaphysische Konzeption der Zurechnung auf die empirische Zurechnungspraxis anzuwenden. Zwar rückt Kant mit seinen Regeln zur Folgenzurechnung insofern nicht davon ab, transzendentale Freiheit als Bedingung der Zurechenbarkeit zu sehen,weil die Handlung, um deren Folgen es geht, transzendental frei sein muss. Doch begrenzt Kant die Zurechenbarkeit nicht auf die Handlung (und damit auf Geschehnisse, die als solche
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10. Schluss
frei gewählt sind), sondern berücksichtigt darüber hinaus ein Erfordernis der empirischen Zurechnungspraxis – die Verantwortung für kontingente Handlungsfolgen.²⁸⁵ Damit wird einerseits der Tatsache Rechnung getragen, dass der Handelnde zu den Folgen seines eigenen Handelns (das ihm als transzendental freie Ursache entspringt) in anderem Verhältnis steht als zu rein natürlichen Ereignissen. Andererseits unterliegt die Zurechnung von Handlungsfolgen zwei Einschränkungen, die durch Kants Ethik begründet werden können: Erstens sind nur Folgen mit gleichem moralischen Vorzeichen wie dem der Handlung zurechenbar, sodass der Einfluss des Zufalls Schuld und Verdienst nicht ausgleichen kann – ein guter Wille kann nicht durch zufällige, schlechte Folgen schlechter werden. Zweitens sind die (schlechten) Folgen obligatorischer Handlungen nicht zurechenbar, da aufgrund der absolut geltenden Pflichten der Handelnde keine Möglichkeit hatte, die Folgen der Handlung zu unterlassen. So kann Kant einerseits der Tatsache gerecht werden, dass mit absichtlichem Handeln unvermeidlich auch nicht-absichtliche Folgen entstehen, deren Zurechenbarkeit seine Theorie davor bewahrt, der Zurechnung einen für die reale Praxis zu engen Skopus (nur Geschehnisse, die selbst frei gewählt sind) zuzugestehen.²⁸⁶ Andererseits formu-
Nach Lotters Analyse können wir das Phänomen der moralischen Verantwortungsübernahme für unbeabsichtigte Folgen „nicht mehr als genuine Probleme moralischer Verantwortung erkennen“ (Lotter 2012, 144), wenn wir (retrospektive) Verantwortung nur als moralische Schuld sehen, wie es Moralphilosophien im Kantischen Stil tun, d. h. solche, die retrospektive Verantwortung von freien Willen der handelnden Person abhängig machen. Daran, dass Kants Regeln für Folgenzurechnung als Spannung oder sogar Inkonsistenz in seiner Theorie wahrgenommen werden, sieht man, dass Lotter in gewisser Weise Recht hat. Interessant ist eben, dass Kant sehr wohl ein Problembewusstsein hinsichtlich solcher Handlungsfolgen hat. Mein Vorschlag zur Interpretation der „Schuld“, die eine Zurechnung unbeabsichtigter Folgen bedeutet, stimmt mit dem systematischen Vorschlag Lotters weitgehend überein. Auch sie meint, dass die Zurechnung unbeabsichtigter Folgen eine „moralische Haftbarkeit“ bedeutet, die auch „selbstbezügliche Formen emotionaler Betroffenheit“ wie „Täterbedauern“ umfasst (vgl. Lotter 2012, 144). Eine andere Interpretation des systematischen Problems des moralischen Zufalls schlägt Susan Wolf vor (2004): Obwohl eine Person für nicht-intendierte schlechte Handlungsfolgen keinen Tadel verdient (so weit die Position der von Wolf sogenannten „Rationalisten“), sollten solche Folgen zu einer entsprechenden Antwort des Handelnden führen. Der Handelnde sollte eine „namelose Tugend“ („nameless virtue“ (Wolf 2004, 123)) ausüben und sich selbst tadeln o. ä. (das ist ein Zugeständnis Wolfs an die von ihr sogenannte Position der „Irrationalisten“). Meines Erachtens ist es eine systematisch interessante Idee, die Verantwortung für nicht-intendierte Folgen als tugendhafte Übernahme von Verantwortung durch den Handelnden zu verstehen. Es müsste jedoch genauer geklärt werden, ob eine solche Übernahme eine Pflicht ist oder ob sie supererogatorisch ist. Wolf scheint es als normative Forderung zu sehen: „[H]ow good or bad a person should feel about herself […] is in part a function of how her actions turn out in ways that are beyond her control“ (Wolf 2004, 126). Die von mir vorgeschlagene Inter-
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liert Kant (im Gegensatz zu Williams) Einschränkungen, die ihn vor der unplausiblen These der pauschalen Zurechnung aller Handlungsfolgen bewahren.
3.2 Die Person als Zurechnungssubjekt Kapitel 8 hat die Frage der Vermittlung zwischen transzendentaler und empirischer Ebene nicht aus der Perspektive der Zurechnungspraxis und ihren Regeln untersucht, sondern das Zurechnungssubjekt selbst in den Blick genommen: Eine Person ist ein zurechnungsfähiges Wesen aufgrund eines transzendentalen Vermögens, was sich auch in Kants Formulierung zeigt, dass Handlungen dem „intelligiblen Charakter beigemessen“ (A555/B583) werden. Dennoch ist die empirische Person der Bezugspunkt der realen Zurechnung. Als Zurechnungssubjekt kommt nach meiner Interpretation weder allein der intelligible „homo noumenon“, noch der bloß empirische Mensch als „homo phaenomenon“ in Frage, sondern nur die Person als beide umfassende Einheit, genauer als Einheit von Körper, Selbstbewusstsein und transzendental freiem Willen. Ein Körper ist notwendig für Zurechnungssubjekte, damit sie äußere Handlungen vollziehen und von anderen wahrgenommen werden können. Damit ist der Körper eine notwendige Bedingung dafür, eine handelnde Person zu sein, und er ist auch ein normalerweise hinreichendes epistemisches Kriterium für moralische Personalität. Allerdings ist der Körper keine hinreichende konstitutive Bedingung, weil das, was die Person zum moralischen Zurechnungssubjekt macht, ihre moralische Autonomie ist. Diese nicht-empirische Fähigkeit der Person kann mit ihrer empirischen Seite vermittelt werden, wenn man Maximen und Handlungen als Ausdruck der Autonomie der Person versteht. Handlungen werden also dem autonomen Willen der Person zugerechnet, d. h. sie werden dem „intelligiblen Charakter beigemessen“ (A555/B583). Dieser metaphysische Aspekt der Person lässt sich ebenso wie transzendentale Freiheit (auf die er letztlich zurückgeht) als Postulat verstehen. Der autonome Wille der Person hat in zwei Hinsichten eine empirische Seite: Er ist erstens verkörpert, d. h. der Körper ist empirischer Bezugspunkt der Zurechnung, und er drückt sich zweitens in Maximen und Handlungen aus, die die synchrone und diachrone Einheit der Person in der Empirie konstituieren. Das sind zwei Hinsichten, in denen sich der empirische Charakter der Person zeigt, auf den allein unsere Zurechnungen „bezogen werden“ können pretation der Kantischen Sichtweise hat gegenüber Wolfs den Vorteil, dass sie keine Asymmetrie im Zurechnungsurteil von erster und dritter Person impliziert. Diese Asymmetrie halte ich für problematisch: Wieso sollte Selbsttadel angemessen sein, wenn man (im Urteil anderer Personen) keinen Tadel verdient?
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10. Schluss
(A552/B580, Anm.). Direkt empirisch beobachten lässt sich jedoch weder die synchrone noch die diachrone Einheit einer Person, sodass auch diese als Postulat gedacht werden müssen. Möchte man diesen Vorschlag auf die aktuelle Debatte um personale Identität beziehen, lässt sie sich auch als Vermittlungsvorschlag zwischen reduktionistischen und nicht-reduktionistischen Theorien auffassen (vgl. für einen Überblick über die verschiedenen Positionen Parfit 1984, 199 ff.). Nicht-Reduktionisten lehnen die These ab, dass die diachrone Identität einer Person in der Gegebenheit anderer, speziellerer Tatsachen, wie z. B. Kontinuität des Bewusstseins oder des Körpers, besteht. Sie vertreten hingegen die Ansicht, dass die personale Identität in einer unabhängigen Tatsache, einem „further fact“ (Parfit 1984, 210) besteht, was keine Grade zulässt, sondern entweder ganz oder gar nicht gegeben ist. Die berühmteste Variante dieser Position ist Descartes’ Theorie, derzufolge die Person eine rein geistige Substanz ist. Die metaphysische Konzeption der Person, die die Person ausschließlich mit ihrem autonomen Willen identifiziert, ist nicht-reduktionistisch, da sie davon ausgeht, dass die personale Identität in einer Tatsache – Autonomie – besteht, die entweder ganz oder gar nicht gegeben ist. Der Vermittlungsvorschlag zwischen metaphysischer und empirisch-praktischer Konzeption lässt sich insofern auch als Vermittlungsvorschlag zwischen reduktionistischen und nicht-reduktionistischen Theorien auffassen, als er einerseits die Person als Noumenon in positiver Bedeutung sieht, d. h. ihre Identität in nichtreduktionistischer Weise als unabhängige Tatsache anerkennt, und andererseits im Empirischen die Identität als durch Handlungen und Maximen konstituiert sieht, d. h. auf speziellere Tatsachen zurückführt, die einen psychologischen und einen empirischen Aspekt besitzen: Maximen sind psychologische Tatsachen, insofern sie von der Person gewählt werden, und sie drücken sich empirisch in Handlungen aus, die beobachtbar sind.
3.3 Anfechtungen der Zurechnung: Ausnahmen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Schuldminderungsgründe Die Untersuchung des Personbegriffs hat deutlich gemacht, dass das Zurechnungssubjekt in Kants Theorie kein ideales rationales Wesen ist, sondern eine empirisch realisierte Person. Als eine solche ist die Person in ihrem Handeln immer wieder mit Umständen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Autonomie behindern oder erleichtern. Durch den Verweis auf empirische Hindernisse, beispielsweise durch Verweis auf starke Affekte, lässt sich die Zurechnung zur Schuld in unserer Alltagspraxis, aber auch im Recht, abschwächen. Wie die Darstellung eines Einwands von Christine Korsgaard im 9. Kapitel deutlich gemacht hat, ist es
3. Die Praxis der Zurechnung
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nicht offensichtlich, wie eine Konzeption von Zurechnung, die auf einer transzendentalen Bedingung beruht, Grade der Zurechnung erlauben kann. Gründet Zurechnungsfähigkeit auf einer Fähigkeit wie transzendentaler Freiheit, liegt diese Fähigkeit entweder ganz vor oder gar nicht – zurechnungsfähige Personen müssten sich nach Kant unter allen empirischen Umständen moralisch richtig entscheiden und gut handeln können. Ich habe dafür argumentiert, dass Kants Theorie sehr wohl Grade der Zurechnung zur Schuld erlaubt, und Kants Äußerung am Ende der Einleitung in die Metaphysik der Sitten – dass der „Grad der Zurechnungsfähigkeit“ von der „Größe der Hindernisse“ abhängt, die für die Ausführung der Handlung überwunden werden mussten (6:228) – mit seinen sonstigen Annahmen vereinbar ist. Für meine Interpretation ist die zu Beginn vorgestellte Unterscheidung der beiden Stufen der Zurechnung zentral. Transzendentale Freiheit ist Bedingung der Zurechenbarkeit auf der ersten Stufe, wodurch der Kreis der zurechnungsfähigen Wesen festgelegt und die Klasse der moralisch bewertbaren Handlungen umgrenzt wird: Nur einem Wesen, das wir als transzendental frei verstehen (im Gegensatz zu Tieren oder unbelebten Objekten), können wir Handlungen als eigene, freie Taten zurechnen und diese gegebenenfalls moralisch bewerten. Auf der zweiten Stufe, der Zurechnung zu Schuld und Verdienst, kann darüber hinaus der Tatsache Rechnung getragen werden, dass menschliche Personen keine rein vernünftigen, sondern auch sinnliche Wesen sind, bei denen die empirische Realisierung der zuvor vorausgesetzten nicht-empirischen Fähigkeit defizient sein kann. Die Punkte, die in diesem Kapitel behandelt werden, betreffen eine Spannung in Kants Theorie, die im Rahmen einer Interpretation des Kantischen Zurechnungsbegriffs aufgelöst werden muss. Darüber hinaus verweisen sie jedoch auf eine systematische Frage: Das Problem stellt sich für jede Theorie der Zurechnung bzw. Verantwortung, die Verantwortung an eine nicht-graduelle, notwendige Bedingung knüpft.²⁸⁷ Ferner sind Theorien davon betroffen, die ein Schwellen-
O’Connor thematisiert das Problem der Grade von Freiheit ausdrücklich in seinem entsprechend betitelten Aufsatz „Degrees of freedom“ (2009): Sein Ansatz soll Grade der Freiheit erlauben, „even though it also has as a necessary condition the possession of a capacity that is all or nothing“ (O’Connor 2009, 119). O’Connor unterscheidet zu diesem Zweck eine metaphysische Dimension („In stark metaphysical terms, they [agents, CB] are free – they have a power of freedom“) von einer weiteren Dimension, in der Freiheitsgrade sichtbar werden: „But in thicker moral and cognitive terms, their freedom is quite attenuated“ (O’Connor 2009, 121). Dabei unterscheidet O’Connor verschiedene Faktoren, die Freiheit graduell einschränken; der wichtigste ist der Grad der Bewusstheit der eigenen Handlungsmotive (vgl. O’Connor 2009, 122) – ein Aspekt, den Kant nicht explizit als Einschränkung von Freiheit diskutiert. Dass Kant das Problem der unbewussten Handlungsmotivation anerkennt, sieht man schon daran, dass er eine Pflicht zur „moralische[n] Selbsterkenntniß“ formuliert (6:441). Insofern Kant Selbsterkenntnis
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10. Schluss
wertkonzept als Bedingung für Verantwortung sehen, z. B. ein ausreichendes Maß rationaler Fähigkeiten (vgl. Wallace 1994). In Bezug auf diese Theorien stellt sich die Frage, wie Grade der Verantwortung möglich sein können, wenn die Person den Schwellenwert der relevanten Fähigkeit besitzt. Mein Vorschlag ist, dass die Unterscheidung zweier Aspekte von Verantwortung (die den beiden Stufen der Zurechnung entsprechen) es erlaubt, von Graden in Bezug auf einen Aspekt, nämlich das Verdienst von Lob und Tadel, zu sprechen, während der andere Aspekt, Zurechnungsfähigkeit, ein klares Entweder-Oder ist. Vor dem Hintergrund des gesamten Zurechnungsurteils, das Zurechnung zur Tat, Anwendung des Gesetzes und Zurechnung zu Schuld oder Verdienst umfasst, lässt sich untersuchen, wie es durch verschiedene Arten von Gründen angefochten werden kann. Dabei wird deutlich, dass sich in Kants Theorie Hinweise auf Rechtfertigungen (die auf der Ebene der Gesetzesanwendung wirksam sind und zeigen, dass eine normalerweise schlechte Handlung nicht schlecht ist), Entschuldigungen (die Zurechnung zur Schuld anfechten) und Ausnahmen (die Zurechnung zur Tat betreffen) finden. Diese Klassifikation von Anfechtungsgründen ist in der neueren Verantwortungsdebatte anerkannt: Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungen und Entschuldigungen erläutert beispielsweise John Austin (Austin 1956, 124), während die Terminologie „Ausnahmen“ („exemptions“) und „Entschuldigungen“ („excuses“) von Gary Watson stammt (Watson 1987, 260). R. Jay Wallace nimmt diese Begrifflichkeit auf (vgl. Wallace 1994, 118); und P. F. Strawson trifft sachlich dieselbe Unterscheidung, ohne die Terminologie zu verwenden (Strawson 1963, 77 ff.). Die Wichtigkeit von Rechtfertigungen, Entschuldigungen und Ausnahmen ist heute also allgemein akzeptiert, und Kant hat auch in dieser Hinsicht den aktuellen Ansätzen etwas Eigenes hinzuzufügen. Aus dem systematischen Anspruch seiner Philosophie resultiert in Bezug auf Rechtfertigungen die Forderung, Rechtfertigungsgründe nicht als zufällige Ansammlung von Gründen stehen zu lassen, sondern nach Prinzipien zu ordnen, damit universale Gesetze möglich sind. Wallace’ Typologie der Entschuldigungsgründe kann durch Kants Klasse der „Schuldminderungsgründe“ ergänzt werden: Während nach Wallace Entschuldigungsgründe zeigen, dass die Person die Handlung nicht mit vorwerfbarer Absicht ausgeführt hat, nimmt Kant solche Faktoren in den Blick, die die Vorwerfbarkeit der Absicht nicht in Frage stellen. Solche Schuldminderungsgründe, so zeigt die Untersuchung der Affekte und Leidenschaften bei Kant, müssen die Kriterien erfüllen, dass (a) die Person nicht für ihr Vorliegen verantwortlich ist und (b) rationale Überlegung durch ihr Vorliegen erheblich erschwert wird, ohne (c) sie völlig unmöglich zu machen.
als Voraussetzung für die Entwicklung eines guten Willens sieht, ließe sich auch vermuten, dass er mangelnde Selbsterkenntnis als Einschränkung der inneren Freiheit verstehen würde.
3. Die Praxis der Zurechnung
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Kants Ansatz zeigt, dass die Zurechnungspraxis einer Struktur folgt, die Zurechnung als Normalfall sieht, dessen Vorliegen nur mit guten Gründen angefochten werden kann: dass die Bedingung transzendentaler Freiheit erfüllt ist, wird nach Kant für erwachsene Personen als Normalfall postuliert. Entsprechend gilt eine erwachsene Person als zurechnungsfähig, es sei denn, sie zählt aufgrund von Geisteskrankheit als eine Ausnahme. Einer zurechnungsfähigen Person sind ihre Handlungen voll zu Schuld oder Verdienst zurechenbar, es sei denn, es liegt ein Rechfertigungs- oder Schuldminderungsgrund vor.²⁸⁸ Kants Theorie lässt sich also mit neueren Ansätzen ins Gespräch bringen, und das, obwohl die genannten neueren Beiträge eine Analyse der Praxis der Zurechnung bzw.Verantwortung vornehmen, ohne dieser Praxis metaphysische oder transzendentale Voraussetzungen zu unterlegen. Der Bezug der Kantischen Theorie auf praxisorientierte Zugänge ist meines Erachtens möglich, weil Kant seine praktische Philosophie dem Anspruch unterstellt, der moralischen Praxis gerecht zu werden. Dies wird auch am Aufbau der Grundlegung sichtbar, in der Kant die Methode verfolgt, „von der gemeinen Erkenntnis zur Bestimmung des obersten Princips derselben […] und wiederum zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntnis“ (4:392) zu gehen. Bei der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ geht Kant von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ (4:392) aus. Obgleich die Geltung des kategorischen Imperativs nicht empirisch begründet ist, ist er nach Kant nicht bloß Transzendentalphilosophen zugänglich, sondern das moralische Prinzip „der gemeinen Menschenvernunft […], welches sie sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht“ (4:403). Insofern Kants Moralphilosophie als Aufklärung und Präzisierung des allgemeinen Moralverständnisses gelesen werden kann, lässt sich auch die wechselseitige Zuschreibung transzendentaler Freiheit und damit Zurechnungsfähigkeit als Bedingung unserer moralischen Praxis auffassen, da der kategorische Imperativ nur unter der Bedingung transzendentaler Freiheit gilt.
Eine solche Normalfall-Ausnahmefall-Struktur lässt sich als „anfechtbare“ Struktur von Zurechnungsurteilen bzw. Zuschreibungen retrospektiver Verantwortung verstehen. Für die systematische Herausarbeitung dieser Struktur unserer Zurechnungspraxis siehe (Blöser 2013a).
Zitierweise Kant-Zitate folgen dem Text der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Nur Texte aus Kants Vorlesung zur Moralphilosophie (Nachschrift Kähler) werden nach der von Werner Stark 2004 edierten Ausgabe zitiert (abgekürzt: Kähler). Alle Passagen, außer aus der Kritik der reinen Vernunft, werden nach Band- und Seitenzahl der Akademieausgabe ausgewiesen, z. B. 6:227 = Band 6, Seite 227. Auf die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der A- und B-Auflage verwiesen. Alle Hervorhebungen im Kant-Text werden gesperrt wiedergegeben. Weggelassene Hervorhebungen werden nicht kenntlich gemacht; eigene Hervorhebungen durch „H.v.m.“ („Hervorhebung von mir“) gekennzeichnet.
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Personenregister Aichele, Alexander 218 Allais, Lucy 103 Allison, Henry E. 50 f., 56 f., 60, 74, 84, 86, 92, 98, 101, 103, 238 Ameriks, Karl 237 – 239 Anscombe, G.E.M. 202 Aristoteles 1, 246, 281 Austin, John L. 10, 269, 278, 310
Gilabert, Pablo 22 Goldman, Alan H. 163, 175 – 179 Gosepath, Stefan 5 Goy, Ina 129 Gregor, Mary J. 153 Guevara, Daniel 36 Günther, Klaus 5, 166 Guyer, Paul 103, 271
Bacin, Stefano 144, 148, 150 Bader, Karl S. 175 Bayertz, Kurt 2 f., 45 Beck, Lewis White 8, 84, 93 Birnbacher, Dieter 15, 20 f., 218 Bittner, Rüdiger 132 Blackburn, Simon 54 Bojanowski, Jochen 28, 51, 73 – 75, 84, 87 f., 170 Brand, Cordula 224 f. Brandt, Reinhard 27 Buddeberg, Eva 3, 5 Byrd, Sharon B. 9, 23, 165, 168 – 170, 172 f., 182 f., 187, 199, 279, 282, 304
Hart, H.L.A. 44, 158 Heidbrink, Ludger 3, 5, 9, 120 Henrich, Dieter 250 Herman, Barbara 140, 144, 182, 202 Hill, Thomas 31 f., 36, 74, 118, 131, 160 f., 163, 165, 185, 194 f., 199 f., 203, 205 f. Höffe, Otfried 159, 171 Hoffmann, Thomas S. 122, 125, 239 Horn, Christoph 106 f., 177 Hörnle, Tatjana 160 f., 166 Hruschka, Joachim 1 f., 9, 11, 18, 23 f., 26 f., 40 f., 46, 161, 165, 168 – 170, 172 f., 182 f., 187, 199, 268, 279, 282, 304 Hume, David 54 f., 98
Chisholm, Roderick M.
James, David 141 f. Joerden, Jan C. 11, 29, 160, 263, 266, 268 Johnson, Robert N. 38 f., 42
83
Darwall, Stephen L. 148 Davidson, Donald 18 f., 78 f., 107 Dos Santos, Robinson 294
Fischer, John Martin 3 Fleischacker, Samuel 160, 165 Forst, Rainer 3, 5 Frankfurt, Harry G. 60, 83, 293 Frierson, Patrick R. 213, 258, 299 Fugate, Courtney D. 74 f.
Kane, Robert 55, 83 Kaufmann, Matthias 3 Keil, Geert 15, 28 Kersting, Wolfgang 36 Kitcher, Patricia 227 Kleingeld, Pauline 113 f. Klemme, Heiner F. 236 Knappik, Franz 118 Köhl, Harald 181 Korsgaard, Christine 10, 50, 56, 103, 105, 115, 182, 222 f., 240 – 242, 244, 246 f., 251, 253, 255 – 258, 260 f., 267, 269 – 271, 274, 296, 299, 308 Kuttner, Stephan 183
Gerhardt, Volker
Larenz, Karl
Echeñique, Javier 1 Eisenberg, Paul D. 36 Engstrom, Stephen 51, 74, 272, 274 Ertl, Wolfgang 85 Esser, Andrea 118, 129, 133, 151, 153
17
4
Personenregister
Lienemann, Béatrice 1 Locke, John 223 f. Loening, Richard 1 Löhrer, Guido 106 f. Longuenesse, Béatrice 227 Lotter, Maria-Sibylla 198, 301, 306 Ludwig, Bernd 19, 33, 45, 51, 94 Mayr, Erasmus 118 Meixner, Uwe 44 Meyer, Susan Sauvé 1 Mieth, Corinna 3, 22, 38, 61, 64, 75, 185 Mohr, Georg 216 Moore, G.E. 68 Moyar, Dean 133, 141 f. Murphy, Jeffrie G. 160 Nagel, Thomas 60, 200, 301, 305 Neuhäuser, Christian 3 O’Connor, Timothy
309
Parfit, Derek 224, 238, 308 Paton, H. J. 74, 122, 130 Prauss, Gerold 73, 75, 103 Pufendorf, Samuel 1, 199 Quante, Michael
225, 253 f., 298
Rang, Bernhard 73, 226 Rauer, Constantin 289, 291 Ravizza, Mark 3 Reath, Andrews 22 – 24, 28, 148, 183 – 185, 188 f., 191 f., 197 f., 204, 206, 208 Reiner, Hans 124 f. Reinhold, Carl Leonhard 73, 75 f. Renzikowski, Joachim 3 Riedel, Manfred 41 Rosefeldt, Tobias 88, 103 f., 227, 230 f., 236 Rosenthal, Jacob 61, 64, 75 Rousseau, Jean-Jaques 119 Schapiro, Tamar
182, 292 f., 298
323
Scheid, Don E. 158, 160 f. Schneewind, Jerome B. 119 Schönecker, Dieter 59, 61, 249 Schopenhauer, Arthur 109 Schüssler, Rudolf 141 Sidgwick, Henry 73 Smit, Houston 144, 146, 150, 154 Stark, Werner 14, 294, 312 Steigleder, Klaus 57, 159 f., 165, 169 Steinvorth, Ulrich 73 Sticker, Martin 139 Stockhammer, Morris 11 Strawson, Galen 10, 83, 103, 110, 144, 278, 304, 310 Strawson, Peter F. 10, 83, 103, 110, 144, 278, 304, 310 Teichert, Dieter 252 Timmermann, Jens 31 f., 36, 67, 84 f., 106, 122, 131, 140, 149, 184 f., 197, 199, 205 f., 265 Timmons, Mark 144, 146, 150, 154 Vaida, Iuliana Corina 50 f., 61, 69 f. Van Cleve, James 104 Van Inwagen, Peter 66, 303 Wallace, R. Jay 10, 29, 42, 83, 144, 278, 280 – 282, 290, 298, 301 f., 310 Walter, Henrik 103 Watkins, Eric 15, 238 Watson, Gary 60, 83, 278, 302, 310 Weber, Max 180 f., 187 f., 203 Weisskopf, Traugott 294 Werner, Micha 3 Willaschek, Marcus 8, 15, 17, 19, 28, 33 f., 50, 53, 60 – 62, 67, 84, 86, 90, 99, 101, 105 f., 116, 240 f., 244, 252 Williams, Bernhard 193, 197 f., 206, 210, 305, 307 Wimmer, Reiner 103, 111 f., 215 Wolf, Susan 302 f., 306 f. Wood, Allen 74, 84, 87, 98, 124, 129, 286
Sachregister Abschreckungstheorie 9, 161, 168, 170, 178 „accountability“ 42, 301 Achtung 9, 63, 80, 129 – 131, 140, 145, 147 – 153, 156, 177, 261 f., 266, 271, 284 Adiaphora 26 f. Affekt 10, 102, 175, 255, 262 – 264, 267 f., 270, 277, 280 – 287, 308, 310 Ausnahme(n) 10, 27, 31, 188, 194, 210, 253, 278, 279, 287 – 289, 295, 308, 310 f. Autonomie 7, 10, 50 – 53, 61 f., 73 – 75, 77, 86 f., 96, 178, 211, 216 f., 221, 234, 237, 239, 242 – 245, 253 f., 257, 259, 270, 290, 307 f. Begehrungsvermögen 15 f., 53 – 55, 166, 213 Belohnung 1, 39, 120 – 122, 295 Bösartigkeit 77, 80, 82, 155, 174 f., 178, 286 Böse 76, 178, 196 f., 272, 283, 285. Charakter 8, 54, 65, 81, 90, 110, 198, 222, 200, 303 – empirischer 8, 84, 90 – 101, 105, 111, 126, 128, 222, 240, 244 f. – intelligibler 8, 84, 95, 90 – 101, 109, 111 f., 126, 128, 240, 242, 244 f., 299 Dankbarkeit 8 f., 44 f., 130, 144 – 156, 243, 265, 304 Determinismus 68, 83 f., 88 Dinge an sich 8, 84, 89 – 91, 103 f., 257 f., 303 Disposition 54, 92 f., 130, 286 Einheit 9 f., 111 f., 132, 211 f., 221 f., 226 – 228, 234, 239, 246 – 252, 271, 307 f. Entschuldigung 3, 10, 107, 118, 133, 135, 141 – 143, 201, 255 f., 258 f., 264, 267 – 270, 273 f., 276, 280 – 283, 310 Erscheinung 8, 61, 89 – 93, 98 f., 103, 190 f., 210, 222, 232, 241, 257 Erstursächlichkeit 7, 16, 49, 61, 85, 297 Erziehung 108, 273, 294 f. Fähigkeitsinterpretation
9, 74, 76, 249
Faktum der Vernunft 113 – 115, 267 Freiheit – praktische 53, 55, 58 – 61, 98, 296 – transzendentale 7, 49, 58, 68, 83 f.,, 88, 243, 246, 256, 296, 299, 302, 307, 309 – transzendentale, im (ersten) weiteren Sinn 7, 50 – 52, 86, 87, 97, 257, 269 – transzendentale, im (zweiten) engeren Sinn 7, 50 – 52, 62, 86, 253, 257, 270 Geisteskrankheit 107, 288 – 291, 295 f., 311 Generalprävention 161, 168 Gerichtshof 4, 45, 117 – 119, 123 – 127, 129, 144, 182, 219 f., 226, 239, 304 Gesetze, moralische 13, 24, 116, 138, 211 Gesinnung 5, 34 f., 38 – 40, 95 – 100, 111 f., 121 f., 125 f., 147, 152, 194, 260, 271 f., 298 Gesinnungsethik 180 f., 188, 203 Gesinnungsverdienst 38 – 40, 102, 121 f., 147, 151 f. Gewissen 4, 19, 44 f., 104, 117 – 139, 141 – 143, 177, 184 f., 194, 220, 239, 243, 304 Glückseligkeit 5, 31, 34, 71 f., 95, 146, 154, 160, 162 f., 178, 246 f., 249 f. Gott 4, 111, 115, 125 f., 163, 181, 220 – 222, 238, 297 Grad – der Dankbarkeit 155 f., 265 – der Zurechnungsfähigkeit 10, 30, 102, 142, 155, 255, 309 – von Schuld und Verdienst 30, 101, 274, 296 Handlung 2, 12, 15, 17 – 20, 22 – erlaubte 25 – 29, 37, 198, 200, 203 f., 250, 279 – moralneutrale 25 f. – supererogatorische 36 – verdienstliche 9, 29, 36 – 39, 42, 120, 146 – 148, 183 – 188, 192, 196, 199, 262, 265 Handlungsbeschreibung 190, 201 – 203
Sachregister
Handlungsfolge 9, 180, 182, 185 – 188, 190, 193 – 196, 198 – 200, 202, 207, 305 f. Hilfspflicht 21 f., 185 f. Hindernis(se) 10, 37, 155, 168, 175, 256, 262 – 268, 27, 275, 296, 308 f. Identität der Person 99, 212, 224 – 228, 230 f., 233, 237, 241 – 244, 246, 252 f. Imperative 7, 20, 50, 52 – 56, 59, 67, 78, 97, 298, 302 – hypothetische 50, 52, 64, 70, 302 – kategorische 5, 7, 50, 65, 302 Inkompatibilismus 83 f. Irrtum 133 f., 136, 138 – 140, 143 Kausalität 14 – 16, 20, 84 f., 89 – 92, 116 Kindheit 288, 292, 295 Kompatibilismus 84, 260 Körper 221 – 226, 232 f., 307 f. Leidenschaften 280, 282 – 287, 310 Leistungsverdienst 38 f., 121 f., 147 Lob 1, 38, 42, 52, 256, 262, 295, 301, 310 Lüge 19, 39, 55, 73, 108 – 110, 181, 184, 207 f., 218, 250, 282 Maxime 5, 19 f., 31 f., 34, 40, 56 – 58, 72, 76 – 80, 99, 122, 181, 196, 208, 243, 245, 253, 285 Maximenkriterium 253 f. Mensch 14, 59, 74, 94, 110, 213 – 215, 217 – 221, 225, 232, 242, 293 f. Menschheit 63, 174, 213 – 215, 218 Moralität 26, 50, 62, 72, 77, 100 f., 126, 261, 274, 295, 302, 311 Motiv 7, 33 – 35, 79 f., 102, 122 f., 146 f., 177 – 179, 257, 262, 271, 273 Naturalismus 106 f. Naturgesetz 13, 15 f., 49, 58, 60, 76, 86 – 89, 193, 259, 293, 303 Neigung 4, 37 – 39, 62 – 65, 68 f., 76 f., 79, 81, 113 – 115, 214, 228, 246 – 249, 264, 271, 275, 283 – 286, 302
325
Noumenon 10, 214 f., 237, 239 f., 244, 248, 251, 271, 307 f. – in positiver/ negativer Bedeutung 90, 93, 104 Person 1 – 2, 9 f., 13, 16 f., 62, 124, 145, 215, 217 – 221, 226, 230, 240 f., 248, 270, 287, 292, 295, 297, 299, 300 – 302, 307 f. – als Ding an sich 234, 237 – 239, 243 – als Erscheinung 232 f., 258 Persönlichkeit 63, 99, 213 – 221, 223 – 228, 233 f., 237, 250, 253 – moralische 217, 234, 253 – psychologische 216 f., 226 – 228, 234 Pflicht 3 f., 33, 119, 129, 134, 146, 150 f., 216, 264 f. – enge bzw. vollkommene 5, 30, 35 f., 184 f., 208, 265 – weite bzw. unvollkommene 5, 21, 31 f., 35, 141, 153, 184, 208, 265 Postulat 115 f., 222, 252 – 253, 307 f. – der diachronen Einheit der Person 252 f. – der synchronen Einheit der Person 251 – des Gewissens 127, 137 141, 149, 220, 226, 238 f., 304 „praise- or blameworthiness“ 42, 301 Rechtfertigung, Rechtfertigungsgründe 3 f., 10, 278 f., 295, 308, 310 Reform (der Gesinnung) 99, 109 – 112, 298 f. Reue 8, 128 – 130, 132, 238, 284 Revolution (der Gesinnung) 99, 109 – 112, 254, 298 f. Schuld 1, 9, 29 – 35, 41, 100 f., 120 – 122, 132, 157, 161, 163, 175 f., 181, 186 f., 194, 259, 262, 267 f., 286, 300 f. Schuldminderungsgründe 10, 143, 255, 268, 270, 280, 282, 295, 308, 310 Schwellenwertkonzept 295, 298 f., 310 Selbstbewusstsein 48, 226 – 229, 234, 307 Selbsterkenntnis 122, 166, 309 f. Selbstverpflichtung 123 f., 248 Sittengesetz 5, 50 f., 75 f., 113 – 116, 216, 234, 248, 262, 266, 271, 302 Sorgfalt 136 – 138, 142 f.
326
Sachregister
Spezialprävention 161 Spielraum 5, 31 f., 36 f., 146, 153, 185, 191 f., 203, 275 f. Spontaneität 7, 57, 75, 85, 235, 256 Strafe 1, 9, 44 f., 53, 120, 155, 157 f., 160 – 179, 226, 243, 294 f., 304 Substanz 15, 229 – 235, 237, 239, 241, 308 Tadel 1, 42 f., 52, 68 f., 71, 108, 195, 255 f., 259 f., 262, 295, 301, 310 Tat 10, 14, 17 f., 40, 110 f. Täterbedauern 194, 197 f., 200, 210, 305 f. Tugend 26, 160, 162 f., 260 f., 271 – 275, 306 Unlauterkeit 77, 79 f., 112, 152, 286 Unterlassung 20 – 23, 31, 141, 183, 185 f., 262 – 264 unvernünftig 71 f., 76 f., 81, 105 f., 303 Urheber 1 – 4, 12 – 14, 16, 23, 25, 43, 48, 52, 62, 65, 181, 189 f., 210 f., 300, 302 Urheberschaft 3, 14, 16, 48, 64 f., 170, 300 Urteilskraft 36, 119 – 121, 202, 289 Verantwortung 2 – 5, 10, 65, 69, 110, 125, 144, 193 195, 201, 203, 256, 267, 280, 298, 301 – 304, 306, 309 – 311 – prospektive 3 – 5, 67 – 69 – retrospektive 3 – 5, 67 – 69, 301, 306 Verantwortungsethik 181 Verdienst 8 f., 10, 29, 35 – 40, 41, 100 f., 120 – 122, 144 – 148, 155, 162, 181, 186 f., 195, 210, 262, 267 f., 275, 300 f. Vergeltungstheorie 157, 160 – 162, 165, 170 f., 175 f., 304
Vermögen 7, 15 f., 49, 55, 58 f., 63, 74 f., 85, 90 f., 94 – 97, 119, 213, 216 – 218, 226, 233, 235, 271, 298, 302 vorsätzlich 159, 197, 210, 283, 285 f. Wille 15, 48, 53 f., 56, 81, 87 f., 240, 302 – freier 56, 73 – 75, 85, 269 f., 307 – guter 56, 74, 162, 180, 204, 274, 284, 306 Willensschwäche 72, 77 – 79, 82, 100, 284 f. Willensstärke 72 Willkür 15 – 17, 53 – 55, 73, 75, 88, 110, 269, 295 Wohltat 144 – 148, 150 – 153, 156 Wohltäter 9, 145 – 156 Würde 148, 174, 211, 226 Zufall 54, 189, 193 f., 199 – 201, 207, 249, 273 – 275, 305 f. Zurechnung – ethische 8, 44, 46, 52, 194, 209 – kausale 15, 52, 91, 103, 107, 112, 201, 241, 258 – prudentielle 7, 47, 52, 69, 302 – rechtliche 44, 46, 52 f., 102, 157, 171, 304 Zurechnungsfähigkeit 6, 8, 30, 37, 42 f., 48, 73, 114 f., 178, 211, 220, 223, 225, 256, 265, 273, 295 f., 298 f., 301, 309 – 311 Zurechnungspraxis 85, 107, 115, 305 – 307, 311 Zweck 16, 28, 32, 46, 56, 63 – 65, 68 – 72, 76, 161, 168, 172, 201 f., 214 Zweckrationalität 7, 50, 52, 62, 64, 72, 76, 96, 287, 302 Zwei-Aspekte-Lesart 8, 61, 84, 103 – 105, 247, 257 f., 303 Zwei-Welten-Lesart 103